Zyklisches Denken als Praxis

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Zyklisches Denken als Praxis
ZYKLIFIZIEREN:
ZYKLISCHES DENKEN IN DER
PSYCHOTHERAPEUTISCHEN PRAXIS UND FORSCHUNG
I. Zyklisches Denken als Praxis Das Leben im Therapieraum 2 Einschwingen 4 Körperlichkeit 6 Drehen und Wenden im lebenden Gewebe 9 Zyklisches Denken: eine erste Annäherung 14 Richtung, Ziel? Das Seufzen der Zellen 17 Gibt es ein notwendiges Zyklisches Denken? Rekurs 20 panta rei – und dann? 23 Freiraum 25 Grundzüge des Zyklischen Denkens 27 Wortbedeutung und Wahrheit 29 Erlernen des zyklischen Denkens – zyklisch 32 ... und nicht nur im Kopf! 38 Eine Perspektivumstülpung: das Beziehungslebewesen 42 Komplexitätsreduktion als Kunst oder als Selbsttäuschung 44 Mitten im Denken: eine Haltung 48 Ein Qualitätskriterium für professionelle Psychotherapie 50 1
I. Zyklisches Denken als Praxis Das Leben im Therapieraum
Was ist die Situation? Ein Klient zeigt oder beschreibt ein Symptom. Ihm gegenüber sitzt eine
Therapeutin, die nicht nur hören, sondern auch helfen und verändern soll. Ein kurzer Blick zu
den Voraussetzungen dieser Situation lässt erahnen, dass es unbeschreibbar viele Prozesse
gibt, die hierher geführt haben, die diese Situation stabilisieren und nach vorn tragen. Der
Klient hat eine Geschichte, z.B. eine Bindungsgeschichte, die ihm Grundvertrauen gibt und es
ihm überhaupt erst ermöglicht, hierher zu kommen. Die Therapeutin hat ihre Geschichte –
und ihre Erfahrungen mit dieser Situation. Beide sind eingebettet in eine gemeinsame
Sprachkultur, die vorgibt wie man über sich spricht, wie man über Leid spricht. Beide sind
eingebettet in gesellschaftliche Prozesse, die das Zustandekommen der Situation möglich
gemacht haben – etwa eine funktionierende Krankenversorgung. Es ist normativ ausgehandelt, wann man mit welchem Leid zu wem geht. Es gibt hoffentlich genügend
übereinstimmende Vorstellungen davon, wie sich beide zu verhalten haben, was man
erwarten kann.
Was zu verstehen ist: alles, was in diesem Moment wichtig und bestimmend ist, ist andernorts
und anderswann schon vorbestimmt und eingespurt. Der Sinn dieser Situation liegt nicht hier
im Raum, er liegt da draußen und da hinten – und da vorn, in der Hoffnung. Und gleichzeitig
beginnt hier alles von vorn, das Buch über die Geschichte, die sich hier abspulen wird, ist
noch nicht geschrieben. Alles vorbestimmt – und alles offen.1
Alles offen und gleichzeitig so viele Erwartungen! Es ist nur zu verständlich, dass hier beide
Halt suchen an vertrauten Denk- und Verhaltensmustern. Der Klient macht sich vielleicht ein
wenig klein, spricht brav und verständnisheischend über seine Symptome. Die Therapeutin ist
weder ratlos noch fühlt sich diesem Verhalten gegenüber allein: sie gehört zu einer
„Denkschule“, hinter ihr stehen Lehrer und Kolleginnen, die einverständig darüber sind, was
hier zu machen und zu sagen ist. Vor allem auch darüber, wie das Symptom einzuordnen und
zu verstehen ist. Handelt es sich um unerwünschtes, weil leidbringendes Verhalten oder
1
Diese a-logische Konstellation nennt man in der Systemtheorie Kontingenz: das was
geschieht ist nicht notwendig (zwingend vorbestimmt), aber auch nicht rein zufällig.
Kontingenzen muss man aushalten, da sie eine Spannung erzeugen. Eine Spannung, die nach
vorn trägt?
2
Denken, das einfach verändert gehört? Ist das Symptom tatsächlich ein „Zeichen“, das von
etwas anderem spricht: von inneren Konflikten oder Beschädigungen, die im Leiden ihren
Ausdruck finden? Kommt hier ein Mensch mit sich und seinem Erleben nicht mehr zurecht,
da er sich selbst oder etwas um ihn herum nicht verstehen kann? Oder ist das unerwünschte
Symptom eigentlich sehr verständlich und vernünftig innerhalb eines un-vernünftigen
Umfelds?2
Eine methodentreue Therapeutin, eine Anfängerin zumal, wird jetzt so mit dem Klienten
sprechen, dass bald das Leid und seine Herleitung in ihre Denkschule passt. Sie wird dazu
noch versuchen, das Gegenüber für ihre Art „Denke“ zu gewinnen, schließlich soll er ja
motiviert sein am Fortgehen des Gesprächs, soll aktiv an der Behandlung teilnehmen und
außerdem Veränderungen und Experimente mitmachen, die vielleicht mühsam sind.
Dieser Formierungsprozess kann leider auch schief gehen. Die Therapeutin kann uneindeutig
sein, den Horizont des Klienten verfehlen, der Klient kann Angst bekommen, sich wehren,
auf etwas beharren, was in der angebotenen Therapie-Denk-Schule nicht brauchbar oder dort
sogar destruktiv scheint. Da dies im Grunde nicht der Ernst- sondern der Regelfall ist, haben
nun alle Therapieschulen Denkweisen und Praxen dafür entwickelt, wie das zu verstehen und
zu handhaben sei. Keine verlässt dafür die Logik ihres Ansatzes, das schiene ja auch
widersprüchlich. So ist der „Widerstand“ des Patienten durchaus psychodynamisch, das
„Complianceproblem“ durchaus kognitionstheoretisch, das Verstummen oder Beharren des
Klienten durchaus inkongruenztheoretisch zu erklären. Leider führt diese Denk- und
Haltungskohärenz oft zu dem Problem des „Mehr-desselben“, zu einem Verstärken des
Bemühens, den Klienten für diese spezielle Therapie-Denke zu gewinnen. Die Rhetorik wird
spitzer, die Anstrengung größer, die Geduld wird strapaziert – auf beiden Seiten.
2
s. KRIZ, J.: Vielfalt in der Psychotherapie: Das Vier-Säulen-Modell. In: VPP aktuell, Heft
06, August 2009
3
Einschwingen
Zurück zum Beginn. Zu dieser schrecklich wunderbaren Situation, die gleichzeitig so offen
und so vorbedingt ist. Nicht vorbedingt in dem Sinne, dass hier zwei in sich abgeschlossene
Individuen mit ihren jeweiligen Prägungen aus der Vergangenheit aufeinander stoßen und
nun zusehen müssen, wie es zueinander passt. Es ist viel verzwickter. Zunächst hat ja jeder
von den Beiden immer auch eine Meinung von dem, was sie mitbringen, was sie sagen oder
tun. Eine innere Resonanz, sicher nicht ausformuliert, aber eine wie aus dem Hintergrund
stets in das Erleben hineinwirkende Kommentarspur, mal lauter, mal leiser. Und hier wird
nicht nur das eigene Tun und Lassen, nur das von mir Gezeigte kommentiert, auch das
Gegenüber wird ständig und immer schon mitgespürt, mitgedacht. Eigentlich schäme ich
mich, mit meiner Angst hier vorzusprechen, tönt es im Klienten. Und wahrscheinlich findet
die Therapeutin mich unmännlich damit.
Jetzt wird es sofort sehr kompliziert. Der Klient beginnt möglicherweise, ohne genau zu
wissen warum, seine Schilderungen etwas sachlicher, etwas nüchterner zu halten. Er hat
vielleicht die Erwartung, dass er damit seine Angstschilderungen etwas konterkarieren kann.
Weil er ja die Erwartung hat, dass die Therapeutin ihn - weil wenig männlich - vielleicht nicht
so ernst nehmen wird. Im Grunde die Erwartung, dass die Therapeutin bestimmte männliche
Züge an ihm erwartet. Eine Erwartungs-Erwartung3, die bis in die einzelne Wortwahl, bis in
kleinste Gesten, in kürzestes Schweigen hinein eine Klangfarbe in das Geschehen geben wird.
Und die Therapeutin? Für die könnte man selbstverständlich auf gleiche Weise Selbstwahrnehmungen und –kommentierungen sowie Erwartungs-Erwartungen mit den entsprechenden
Wirkungen beschreiben. Überhaupt gilt das meiste des Gesagten und dessen, was jetzt noch
kommt, für beide4! Das könnte niederschmetternd wirken: auf den Klienten, der ja vielleicht
davon ausgeht, dass seine Therapeutin anders funktioniert als er, irgendwie tüchtiger,
kompetenter, gesünder. Und auf die Therapeutin weil sie glaubt, sie müsse das tatsächlich
auch alles sein oder sie müsse zumindest in dieser Situation das Heft in der Hand haben. Von
der zyklischen Perspektive her gibt es allerdings mehr Gleichheiten als Unterschiede,
3
Dieses Begriffs - Ungetüm habe ich von S. Schmidt: Geschichten & Diskurse: Abschied
vom Konstruktivismus (2003) entlehnt.
4
Ich werde bei den beispielhaften Ausführungen weiterhin brav abwechseln...
4
vielleicht sogar nur EIN Geschehen, gar nicht so sehr eins plus eins gleich zwei. Doch dazu
später mehr.
Zunächst zurück zu dem Aspekt, dass ja beide auch Erwartungen an die Situation, an die
Atmosphäre haben – und eine Meinungsstimme dazu, wie diese gerade ist. Und von daher
auch versuchen könnten, sich hier wirksam einzubringen. Der Klient erwartet vielleicht, dass
ihm etwas beigebracht wird und nimmt von daher eine aufmerksame, lernbereite innere
Haltung ein. Die Therapeutin dagegen möchte eine angenehme, entspannte Atmosphäre
herstellen, so dass der Klient in Ruhe und ausführlich über sein Anliegen sprechen kann.
Werden jetzt beide unzufrieden und müssen auseinander? So schnell zum Glück nicht, es
findet statt dessen vom allerersten Moment an ein Abstimmungsprozess, ein Such- und
Findeprozess5 statt, in dem alle denkbaren Situations- und Kommunikationsmomente
versuchsweise abgeglichen werden: Nähe, Tempo, Sprache, Rhythmen von Schweigen und
Sprechen, von Zu- und Abgeneigt-Sein, von schnell und langsam, von Beieinander- und FürSich –Sein. Alles, und dies unterscheidet diese Situation von anderen Beieinander –
Situationen, in Hinblick auf das Leid des Klienten, gezogen von der geteilten Erwartung, dass
hier eine Veränderung geschehen soll.
Und was ist mit den Versuchen einer der Beiden (oder von beiden gleichzeitig!), auf das
„Einschwingen“ zu pfeifen und stattdessen der Situation und dem Gegenüber seinen Stempel
aufzudrücken? Der Versuch ist natürlich nicht strafbar, hat aber Folgen! Diese stellen
meistens eine enorme Verarmung der individuellen und der gemeinsamen Möglichkeiten dar,
die Situation produktiv zu gestalten, bis hin zum Scheitern. Doch dazu weiter unten mehr. Die
Atunement – Perspektive soll aber auch nicht meinen, dass es hier um die Herstellung von
Gleichheit geht. Ein Unterschied sollte weitgehend6 erhalten bleiben: Die Therapeutin ist
diejenige mit Erfahrung in dieser Situation, für diesen Sachverhalt, für die zu erwartenden
Prozesse. Sie sollte auch fachlich Auskunft darüber geben können, was gerade geschieht.
5
Atunement – Prozesse könnte man mit Blick auf die Konzepte bei D. STERN sagen
die Ausnahmen, Stichwort „Therapie als Begegnung“ oder auch ganz unkonzeptionell
„Verschwiemeln von Therapeutin und Klient“ müssen zumindest momentweise erlaubt sein,
sonst gibt es gerade die nächste Einengung durch Vermeidungsbemühungen...
6
5
Körperlichkeit
Zurück zum Einschwingen: auf die jeweils eigenen Möglichkeiten und Wünsche zu sprechen
und sich zu zeigen, auf die jeweilige Kommentarempfindung zu sich, zum Gegenüber, zur
Situation. Wenn es gut geht, wird mit diesen Bewegungen eine Situation erstellt, in der kaum
mehr unterschieden werden kann, was zuerst und was darauf folgend auftrat, wer Urheber von
was ist und ob es überhaupt noch einen Sinn macht von zwei „addierten“ Individuen zu
sprechen.
Gleichwohl bleibt unhintergehbar, dass hier zwei Menschen in ihrer je eigenen Sinnenwelt, in
ihrer je eigenen Körperlichkeit beieinander sitzen. Dieser Aspekt wird in beinahe allen
psychologischen Theorien zur Therapiesituation ausgeblendet, um umso dramatischer auf
Kongressen beschworen zu werden: der Mensch ist Leib, das muss berücksichtigt werden! Ja
gut, was heißt das aber für eine Allerwelts – Therapiesituation, die nicht von vornherein als
Körpertherapie angelegt ist?
Auf einer basalen Ebene heißt das, dass der Mensch leiblich versorgt sein muss, um mit
Erfolg an der Situation teilnehmen zu können. „Versorgt – Sein“ verweist auf elementare
Bedürfnisse, denen fortlaufend und immer neu Rechnung getragen werden muss, da sie sich
sonst mächtig in den Vordergrund des Geschehens drängen und alle Aufmerksamkeit auf sich
ziehen würden. Der Mensch braucht Luft zum Atmen, ausreichende Ernährung,
Bewegungsmöglichkeiten und ein Mindestmaß an Stimulierung. Ein gefesselter und
geknebelter, ein hungernder oder im Dunkeln verlassener Mensch ist kein guter Klient und
keine gute Therapeutin.
Wenn man nun denkt, dass es ausreicht, diese Bedürfnisse zu befriedigen, um dann zum
vermeintlich eigentlichen Therapiegeschehen übergehen zu können7, verkennt man die
fortdauernd prozesshafte Natur der leiblichen Bedürfnisregulation – und deren integraler
Charakter. Versorgt – Sein bedeutet nicht satt sein, auf dem Klo gewesen zu sein und vor der
Therapiestunde ein paar Kniebeugen am offenen Fenster gemacht zu haben. Es soll hier eher
eine umfassende Wertschätzung der leiblichen Bedingungen für Denken, Fühlen, Sprechen
bedeuten. Die Therapeutin könnte wissen, dass ein müder, hungriger, versteifter Klient andere
Dinge erkennen oder ausprobieren wird, als ein satter – oder gar überfütterter. Es geht hier
7
... und die Körperlichkeit auch theoretisch und methodisch „erledigen“ zu können ...
6
nicht um das Herstellen von guten Bedingungen. Vielleicht braucht es eine (zufällige)
Hungrigkeit beim Klienten, damit er auf eine für ihn wesentliche Einsicht kommen kann! Es
geht eher um ein Bewusstsein für die leiblichen Prozesse, so dass Therapeutin und Klient das
Geschehen möglicherweise vor diesem Hintergrund verstehen und verändern können.
Nochmal: die Therapeutin kann wissen, dass ein Klient, der die ganze Zeit fast bewegungslos
ihr gegenüber im Stuhl sitzt, damit sein Denken und Erleben elementar durchformt. Weiß das
der Klient auch? Was könnte daraus folgen, wenn er es nicht im Bewusstsein hat? Ihn zu
Bewegungen auffordern, oder ihm wie als Modell lebhaft – gestikulierend gegenüber sitzen?
Darüber sprechen?
Spannender ist natürlich, dass sich vermeintliche Ursache und vermeintliche Wirkung hier
mühelos austauschen lassen. Klienten sitzen nicht einfach steif und denken dann steif (obwohl
es das als Muster natürlich auch gibt). Klienten haben – um in diesem Bereich der
Leiblichkeit zu bleiben – eine bestimmte Bandbreite, ein Repertoire8 von lebendiger
Beweglichkeit zur Verfügung, und diese kann zum Beispiel durch eine bestimmte verengte
Art des Denkens und Fühlens auf ein Minimum zusammen schnüren. Oder auf ein exaltiertes
Maximum beinahe entgrenzen, wie z.B. bei einem Menschen, der vor Wut beinahe tobt. Noch
spannender, zumindest offener wird es, wenn man eine dritte Variable dazu nimmt:
Denken/Fühlen – Beweglichkeit/Ausdrucksfähigkeit und – Müdigkeit/Erschöpfung z.B.. Wie
bedingt sich das jeweils gegenseitig? Gäbe es hier Anregungen für Interventionen oder
Experimente von Therapeutin und Klient? Ein erfahrener Lehrer weiß z.B., dass er seine
Klasse auch mal eine Weile toben lassen muss, damit sie wieder frisch und konzentriert ans
Lernen gehen kann. Aber soll die Wut eines Klienten einfach weggetobt werden, damit er
dann „bessere“ Einsichten haben kann?
Bevor ich noch mehr Fragen aufhäufe, möchte ich lieber noch einen anderen Aspekt von
Leiblichkeit ansprechen. Vielleicht geht es dabei mehr um Körperlichkeit („der Leib, den man
hat“), weniger um Leiblichkeit („der Leib, der man ist“). Der Klient erlebt sein Symptom,
sein Leid, immer auch körperlich, selbst wenn es sich nicht als psychosomatisch im engeren
Sinne (als Funktionsstörung z.B.) zeigt. Um das Symptom herum ist das Denken lahm (oder
rast), das Fühlen ist bedrückt – bedrückend (oder euphorisiert), das Handeln ist gequält (oder
hektisch), es gibt kein rein kognitives Leiden. Das bedeutet, dass sich eine psychische
8
Aufmerksame LeserInnen haben natürlich schon im ersten Abschnitt dieses Kapitels
verstanden, dass auch so etwas kulturell tradiert wird...
7
Symptomatik an verschiedenen Orten und in verschiedenen Funktionszusammenhängen
immer auch körperlich organisiert. Der Klient, der von seinen Ängsten berichtet, oder diese
gerade im Gespräch erlebt, atmet auf eine speziell veränderte Weise, verändert seine
Körperhaltung und seine Bewegungen, organisiert einen Großteil seiner inneren
Wahrnehmung vielleicht um seine Missempfindungen herum. Und es gibt
Linderungsversuche, die möglicherweise direkt zum Problem beitragen: die Atmung flacher
machen, den Po zusammenkneifen, um nicht so viel Angst spüren zu müssen. Das führt
möglicherweise direkt in eine Angst – Unterversorgungs - Angstspirale hinein.
Will sagen: der ganze Mensch, Klient oder Therapeutin, ist immer auch körperlich
organisiert. Und das Leid, eine Symptomatik, ist es ebenso. Ein wichtiger Wesenszug dieser
„Organisation“ besteht darin, dass sie in Wiederholungen des Immergleichen besteht. So wie
immer weiter auf die gleiche Weise (nicht dieselbe Weise!) geatmet wird und sich der
Organismus durch diesen Ablauf in diesem und allen anderen immer gleichen Abläufen (z.B.
Blutkreislauf, Stoffwechsel, Verdauung) stabilisiert, so wird möglicherweise auch eine
bestehende Symptomatik immer weiter stabilisiert, aktiv und möglicherweise mit viel Mühe
und Aufwand.
Sprechen wir es aus: ein psychisches Leid, ein Symptom wird durch zyklische, auch
körperliche zyklische Prozesse „hergestellt“ und stabilisiert. Eine zentrale Frage auf dem
entstandenen Frageberg wäre, ob die Therapeutin nun in diese Zyklen „eingeschlauft“ wird,
also letztlich zur leidvollen Stabilisierung beiträgt, oder ob sie einen Unterschied machen
kann, der einen Unterschied macht. Aber dies ist noch nicht alles.
Da sitzen die beiden nun, beide atmen, bewegen sich, stimmen sich aufeinander ein, wenden
die Problematik oder die Ratlosigkeit hin und her. Für viele Menschen ist diese Situation in
ihrer Offenheit unerträglich, man sollte doch etwas verändern, zielstrebig. Wie viel
strategische und wissenschaftliche Raffinesse wurde und wird hier aufgebracht, um für
Therapeutin wie Klient ein Gefühl von Kontrolle und Effektivität zu ermöglichen! Um diese
Bemühungen und ihre Stärken und Schwächen genauer einschätzen zu können, muss ich in
meinen Erläuterungen allerdings zunächst noch eine Weile mit der Offenheit und Kontingenz
gehen. Ist es denn tatsächlich so, dass zu diesem Zeitpunkt beide nur mit der allgemeinen
Stange im allgemeinen Nebel herumstochern, einigermaßen ziel- und nutzlos? Es kommt
darauf an.
8
Drehen und Wenden im lebenden Gewebe
Zunächst einmal geschieht immer etwas. Nicht nur wird das Symptom laufend hergestellt,
wird das Beieinander – Sitzen körperlich und kulturell arrangiert und abgeglichen, werden im
Schweigen, Zuhören und Sprechen Rollen, Erwartungen und Werte ausgehandelt. Es ist auch
so, dass das Leiden und die ersehnte Veränderung ständig in den Raum hinein wirken. Das
schlechte So-Sein und die erwünschte Linderung oder Heilung, die in der Zukunft liegt, sind
dauernd präsent. Also bedeutet jedes Sprechen und jedes Schweigen immer auch etwas in
diesen Hinsichten9. Der Klient vermeidet es von seiner Scham zu sprechen, die doch mit
Händen zu greifen ist, konstatiert die Therapeutin. Warum sagt mir die Therapeutin nicht
endlich was ich machen kann, fragt sich der Klient. Stattdessen: drehen und wenden. Mit den
Hinsichten, die dauernd eine gewisse Spannung bewirken. Darum geht es, dahin soll es
gehen. Statt drehen und wenden könnte man auch sagen: es wird an Fädchen in einem
Gewebe gezupft. Nicht, wie man versucht durch feinfingriges Zupfen einen engen Knoten zu
lösen, dieses Bild wäre zu einfach. Denn eins sollte schon deutlich geworden sein: das
Gewebe lebt, wird immer schon und auch jetzt und hier hergestellt und verändert sich
fortlaufend.
Die Psychoanalytiker kennen den Begriff der „Übertragungsheilung“: schon nach wenigen
Sitzungen, noch bevor überhaupt eine gewisse Arbeitstiefe erreicht ist, kann die Symptomatik
sich stark bessern, ja verschwinden. Ohne jetzt auf die psychodynamische Erklärung für
dieses Phänomen einzugehen, kann man es auf jeden Fall als Beispiel für die obige These
anführen: es geschieht immer etwas! Auch wenn die beteiligten Personen möglicherweise
noch kein Packende, keine Richtung für ihre Arbeit gefunden haben. Offenbar berührt etwas
vom Geschehen im Raum die Prozesse, die zur Erstellung und Stabilisierung der
Symptomatik wichtig sind. Da sind wir wieder: das Leiden ist ein Prozess, die Symptomatik
wird „hergestellt“. Und sobald etwas in dieser Hinsicht verändert wird, sobald in diese
Prozesse hineingefingert wird, ist eine Veränderung, vielleicht sogar Linderung zu erleben.
Jetzt zupfen die beiden also noch am Gewebe, und die Veränderungen die sich einstellen sind
sozusagen zufällig, möglicherweise nur von kurzer Dauer, auf jeden Fall noch nicht zu fassen.
Nun gibt es ja die Veränderungsexperten vom Focusing, die an dieser Stelle gern anführen, es
komme gar nicht so darauf an, sich hier ein spezielles Fädchen mühevoll auszusuchen, gar
9
Der geneigte Leser wird hier mühelos eine Variante der „carried stoppage“ –Vorstellung
von GENDLIN wieder erkennen (G. Gendlin: A Process Model (1997)).
9
den Sinn des ganzen Gewebes erfassen oder die Logik des Symptoms begreifen zu wollen. Im
felt sense10 des Klienten (wie dem der Therapeutin) sei eh alles implizit enthalten, es komme
jetzt darauf an, diesem inneren Erleben zu seiner Symbolisierung zu verhelfen, es wirken und
„sprechen“ zu lassen, dann gäbe es unvermeidlich eine Veränderung in die notwendige
Richtung. Diese Auffassung hat viel für sich, gilt aber streng genommen nur für den Fall, dass
der Klient von sich aus, quasi als Naturtalent und ohne Schulung diesen Weg beschreitet.
Wenn die Therapeutin Focusing als „Übung“ vorschlägt, als eine Methode, dann stellen sich
sofort mehrere Fragen. Zunächst ganz einfach die, ob der Klient willens und in der Lage ist zu
folgen. Wie viel „Schulungsaufwand“ sollte die Therapeutin aufbringen, um den Klienten
zum gewünschten Umgang mit seinem inneren Erleben zu bringen? Wie gehen beide mit
einem Misserfolg bei diesen Bemühungen um? Und wann – und warum! – schlägt die
Therapeutin so etwas wie eine Übung überhaupt vor?11 Man kann auf jeden Fall festhalten,
dass eine Therapeutin, die Focusing vorschlägt und es dem Klienten „beibringt“, das
Beziehungs -geschehen im Raum deutlich akzentuiert, was möglicherweise wieder Kosten hat
– wie alle anderen Forcierungsbemühungen.
Halten wir also noch eine Weile die Spannung der Kontingenz, die Zumutung der
Ungewissheit, und wenden uns noch einmal den beiden Akteuren zu, die in Hinsicht auf eine
Symptomatik, auf ein Leiden und auf eine ersehnte Veränderung beieinander sitzen und
Fädchen ziehen. Das meint ja im Grunde nicht mehr, als dass alle möglichen Themen, die mit
dem Leid zu tun zu haben scheinen, angesprochen werden. Was der Klient schon alles
probiert hat, um weiter zu kommen! Was der Chef sagt, wenn er sich immer wieder krank
meldet! Welche Schonhaltungen sich der Klient schon zugelegt hat, um seine Situation
erträglich zu gestalten – und welche Vorteile das auch mit sich bringt! Welche Erklärungen er
sich für sein Schicksal zurechtgelegt hat – und welche seine Frau! Wie möchte er, dass die
Therapeutin mit ihm umgeht?
Könnte man diese Aufzählung eigentlich vollständig machen? Wohl kaum, zu viele Aspekte
des Lebens und Erlebens sind von einer wirklich bedrängenden Symptomatik berührt, es gäbe
10
Felt sense ist in der Focusing – Theorie der Ausdruck für das zentrale bedeutungshaltige
innere Erleben eines Menschen zu einer Situation oder einem Thema.
11
Diese Frage wird natürlich gern von tiefenpsychologisch arbeitenden Kollegen
aufgeworfen, die – mit Recht, weil theoriekonsistent – sich sofort ihrer
Gegenübertragungsprozesse vergewissern müssen, sobald sie so einschneidend aktiv werden
wollen. Aber auch von personzentrierter Seite her wird immer wieder Kritik am Aufgeben
einer rein verstehend-folgenden Haltung zugunsten einer „Übung“ formuliert.
10
hier eine tendenziell unendliche Anzahl von Themen. Genauer gesagt: eine unabschließbare
Liste von Prozessen, in denen das Leid eine Rolle spielt. Oder eben umgekehrt gesprochen:
eine unabschließbare Liste von Prozessen, die das Leid tragen. So besehen steht das Symptom
wie im Fadenkreuz, besser: Konvergenzbereich von unglaublich vielen Vorgängen, die es wie
zwangsläufig hervorrufen und stabilisieren. Es ist so besehen deutlich überdeterminiert.
Nun gibt es ja tatsächlich Klienten und Klientinnen, die nicht müde werden, in immer wieder
neuen Varianten neue Zusammenhänge ihres Leids zu besprechen. Diese möchte ich im
Moment als Spezialfall zur Seite stellen, interessant scheint mir vielmehr, dass die meisten
der Ratsuchenden im Grunde sehr wenig von dieser Vielfalt ansprechen. Oder bei denen sich
die beredten Schilderungen und Erwägungen im Grunde auf einige wenige Varianten
reduzieren lassen. Ich stehe an, in dieser Armut inmitten einer unglaublichen Vielfalt wenn
nicht das Problem, so doch zumindest einen Ansatzpunkt für eine Veränderungsarbeit zu
sehen. Gehen wir ein wenig näher ans Geschehen heran.
Der Klient spricht von Einschränkungen, die er durch Ängste erlebt. Der Therapeutin fallen
die Wertsetzungen auf, die in diesen Schilderungen verborgen sind: aha, der Klient möchte
immer und zu jeder Zeit tüchtig sein können!? Sollte man da nicht einmal anschauen, welche
möglicherweise überhöhten Ansprüche der Klient an sich stellt? Eruieren, wie es zu diesen
Ansprüchen gekommen ist, wie sein Selbstbild und sein Selbstwertgefühl daran hängt – und
ob er diese Zusammenhänge aus seiner heutigen Sicht vielleicht einer Neubewertung
unterziehen könnte.
Oder: der Therapeutin fällt auf, dass der Klient in seinen Schilderungen sehr appellativ wirkt,
von ihr womöglich eine bestimmte Art Antwort erwartet, Bedauern, Trost. Was geschieht,
wenn die Therapeutin dieses Erwartungen „bedient“ – oder vor allem: wenn sie sie nicht
bedient?
Oder: die Therapeutin greift auf, dass der Klient in seinen Schilderungen immer leiser wird.
Schlägt ihm vor, seine Ausführungen im Stehen, aufrecht, fortzusetzen. Oder unterbricht ihn
um mit ihm einige Atemübungen zu machen, bevor er weiter spricht.
Es ist schnell ersichtlich, dass in jeder Therapeut – Klient –Kombination hier ein anderer
Pfad eingeschlagen werden wird, und das meine ich sogar völlig unabhängig von Therapie–
11
schulenausrichtungen! Dies ist der Beginn einer noch nicht geschriebenen Therapie–
geschichte, dies ist der Beginn von Veränderung. Dem Anfänger stehen natürlich die Haare
zu Berge ob solcher Vielfalt und scheinbarer Willkür. Woran soll man sich da halten, wie
kann man auswählen in diesem Möglichkeitsraum? Zum Glück gibt es hier einigen Trost.
Zunächst einmal kann ja nicht jeder Therapeut alles, viele haben z.B. keinerlei Ausbildung
und Erfahrung in Körperarbeit. Die erste Einschränkung erfolgt also bereits durch die Person
der Therapeutin, durch deren Vorlieben, Ausbildungen, Stärken. Dann muss man sehen, dass
hier im Grunde ja kein rationaler Auswahlprozess vonstatten geht, auch wenn das von vielen
Praktikern gern so behauptet wird. Es handelt sich vielmehr um ein Fädchenziehen, bei dem
beide sehr bald merken, ob das ausgesuchte Fädchen irgendwo hin führt. In dieser
Behauptung stecken zumindest zwei Implikationen: zum einen die Annahme, dass es sich um
ein gemeinschaftliches Unternehmen handelt! Die Therapeutin muss nicht im vornherein
wissen, was weiter trägt. Und zum anderen, dass beide Beteiligte aktiv daran beteiligt sind,
einen gemeinsamen Pfad zu eröffnen: sie stellen das Fädchen mehr her, als dass sie eins
finden! Und beide merken, nicht unbedingt gleichzeitig, ob es bei einer Richtung, bei einem
Thema, einer Deutung oder bei einer Übung „schnackelt“ oder nicht.
12
Zyklisches Denken: eine erste Annäherung
Ich fasse noch einmal kurz zusammen: die Symptome sind verschlauft in eine Unzahl von
körperlichen, kognitiven, sinnstellenden, sozialen und kulturellen Prozessen, völlig
unabhängig davon, ob der Klient diese beschreiben könnte oder nicht. Es ist beinahe
unmöglich, von vornherein die Prozesse zu identifizieren, die hier die einschlägigsten, die
tragendsten12 sind, zumal ja sogar die Abwesenheit oder Unterentwicklung von Prozessen
bedeutsam sein kann. Zum Glück ist es aber möglich, dass Therapeutin und Klient
gemeinsam einen Prozess aufgreifen, und damit einen Weg eröffnen, der für beide erlebbar
eine hoffnungsvolle Veränderung ermöglicht.
Ganz praktisch könnte man sich nun „Zyklifizieren“ als eine Vorgehensweise vorstellen, in
der eine situationssouveräne Person (eine Therapeutin) gemeinsam mit einer hilfesuchenden
Person (einem Klienten) ausgehend von einem zunächst nur leidvollen Thema Bereiche
aufsucht, Themen entwickelt, Praxen erfindet, in denen dieses Thema eine Rolle spielt bzw.
die das Leid „tragen“. Beide eröffnen oder entwickeln gemeinsam Zyklen, in denen das
Symptom verwoben ist, um über eine Veränderung in einem oder mehrerer dieser Zyklen eine
Linderung des Leids zu erreichen. Der o.g. Klient hätte vorher nicht sagen können, dass er
seine Ängste deutlich reduziert erlebt, jetzt wo er noch einmal seine Ansprüche an sich selbst
überprüft hat und ihm klar geworden ist, dass er seinem längst verstorbenen Vater nichts mehr
beweisen muss. Weil er das Verwobensein, Eingeschlauftsein seiner Ängste in diesen
Themenkomplex sich allein nicht hätte erschließen können. Eine Stärkung der
Durchsetzungsfähigkeit über eine Körperertüchtigung hätte womöglich aber auch zum
gewünschten Ergebnis geführt, hier wäre einfach ein anderer Zyklus einschlägig geworden.
Läuft das jetzt auf ein umfassendes „anything goes“ für Therapieprozesse hinaus? Kann man
über alles reden, alle erdenklichen Übungen vorschlagen, Strategien und Tempi frei wählen?
Das geht selbstverständlich nicht, wir befinden uns aber immer noch in der Kontingenzspannung von „alles vorbestimmt – und alles offen“ (s.o.) und können jetzt dazu kommen, ein
Kriterium zu entwickeln, das die Beliebigkeit reduziert, ohne die Offenheit der Situation
einzuschränken. An dieser Stelle liegt die Versuchung nahe, wie zur Beruhigung eine ganze
Liste von Bedingungen zu formulieren, die die Möglichkeiten der Beteiligten und der
Situation einschränken, doch mir scheint ein anderer Weg sinnvoller, da es hier ja um die
12
Ich bin nicht sicher, ob man „tragend“ steigern kann...
13
lebendige, prozesshaft sich entwickelnde Therapiesituation geht, nicht um eine kulturwissenschaftliche Erwägung von „Bedingungen der Möglichkeiten“ und „Möglichkeiten der
Bedingungen“13. Also mag ich ganz einfach fragen: was wählen die beiden Akteure eigentlich
aus?, oder: WIE wählen sie eigentlich aus?
Es sei eine kleine Erinnerung daran erlaubt, dass sich Prozesse gern in Wiederholungen, in
Rekursionen stabilisieren. Kaum ein Gedanke, eine Deutung, eine Übung (...) wird direkt
verworfen, wenn es nicht zu greifen scheint. Beide probieren es dann einfach noch mal, der
Klient bringt seine (unerhörte?) Klage noch einmal vor, die Therapeutin formuliert noch
einmal von einer anderen Seite her eine Zusammenhangsvermutung, die ihr einleuchtend
erscheint. Manchmal bis zur Ermüdung oder zur gegenseitigen Verstimmung, doch oft genug
gibt es ja einen spürbaren Schritt nach vorn, etwas hat gegriffen, etwas hat „geschnackelt“14.
Aha, wir reden über Versagensängste – ja genau, das hat etwas! Ja genau, wir bleiben noch
eine Weile bei der Bauchatmung, das führt wohin....!
Wichtig ist hier, dass ES spürbar greift, und das muss noch lange nicht heissen, dass es hier
bereits eine Lösung gibt, geschweige denn eine Heilung. Aber es gibt einen Schritt, der
gleichzeitig einen Weg macht, zumindest anbahnt. Was geschieht hier? So viel ist schon
gesagt: etwas spürbar Selbstevidentes ist passiert, dem Erleben unmittelbar zugänglich, noch
bevor man es in Worte fassen kann. Konzeptionell kann man sagen, etwas ist wie eingerastet,
so dass ein Prozess, so dass Zyklen weiter gehen können, die bislang stockten, stagnierten
oder auf der anderen Seite vielleicht haltlos durchliefen. „Eingerastet“ zum „weiter gehen“
scheinen widersprüchliche Bilder zu sein, doch wir kennen das ja sogar von Funktionsabläufen in Maschinen: eine Kupplung muss greifen, so dass es los geht, ein Zahnrad muss
richtig gelagert sein, so dass das Getriebe läuft. Was heißt dann „einrasten“ in unserem
Zusammenhang, der sich ja nun so gar nicht mechanisch bebildern lässt? Im Focusing spricht
man ja von einer „stimmigen Symbolisierung“, wenn ein Gedanke, ein Wort, eine Geste den
Erlebensprozess spürbar weiter trägt. Doch wir können15 die Konzeption hier vielleicht etwas
breiter anlegen. Wenn wir wie oben beschrieben davon ausgehen, dass sich ein Symptom,
eine Blockade, ein Leid im Konvergenzbereich vieler möglicher Zyklen erstellt, besser
13
Ich erinnere hier an die mühevollen Debatten um „Beliebigkeit“ in der Auseinandersetzung
mit dem Konstruktivismus
14
Und das ist erlebbar anders als das „Überzeugen durch Ermüden“ – Phänomen, mit dem
sich schulenüberzeugte Kolleginnen und Kollegen schon mal zufrieden geben.
15
...durchaus mit GENDLIN!
14
gesagt: von Zyklen getragen wird, die sich im Leidgeschehen kreuzen, dann kann jede
Bewegung, jeder Schritt, jede Aktion, die in einem oder mehreren dieser Zyklen eine
Veränderung bewirken, in Hinsicht auf das Leiderleben einen spür- oder ahnbaren Sinn
ergeben, so dass es lohnend erscheint, diese Spur weiter zu verfolgen. So ist das Sprechen
über die Erwartungen des Vaters oder das Einüben einer Art Zwerchfellatmung keine
Symbolisierung im engeren (Focusing-) Sinne, gleichwohl gibt es eine Stimmigkeitsahnung,
die beide, Therapeutin wie Klient, bei der Stange halten. Die Stimmigkeit bezieht sich
konzeptionell auf die beteiligten Zyklen – irgend etwas scheint hier zu passen, zu verändern,
weiter zu tragen. Und sie macht sich erlebensmässig in einer Art Gängigkeitsgefühl für die
Beteiligten deutlich. Vielleicht allerdings zunächst nur im / beim Klienten. Dann sollte die
Therapeutin die Gnade haben, dem zu vertrauen, es noch eine Weile weiter zu probieren16.
Ich möchte noch einmal zusammenfassen, was mir bis hierher zentral erscheint. Es könnte
lohnend sein, sich symptomatisches Geschehen als getragen von einer Unzahl von vitalen und
sinnstellenden (kommunikativen) zyklischen Prozessen vorzustellen. Deshalb ist es durchaus
„sachangemessen“, das Leid nicht einfach beseitigen zu wollen, sondern zunächst einigen
dieser Prozesse hinterher zu steigen, an einigen der beteiligten Fäden im Gewebe zu ziehen.
Dies ist kein beliebiges Unterfangen, da es das Kriterium der Stimmigkeit gibt, des erlebbaren
Weiter-Kommens, möglichst geteilt von allen Beteiligten. Das Kriterium selbst ist auch
zyklischer Natur, nicht nur, weil es sich nur einstellt, wenn etwas Passendes in ein zyklisches
Geschehen gefügt wird, wie ein Puzzlestück an die richtige Stelle. Man kann es vielmehr so
sehen, dass ein kleines Lebewesen (zur Erinnerung: das war eine Deutung, eine Übung, eine
Auseinandersetzung...) in ein existierendes und (wenn auch leidvoll) funktionierendes
Ökosystem gesetzt wird – und sich vom ersten Moment an anpassen und bewähren, das heißt
auch: verändern muss, um auf Dauer dort wirksam zu bleiben.
16
Vielleicht schreibe ich dies ja für genau die Therapeutinnen und Therapeuten, die sich das
bislang noch nicht recht trauen, oder für die, die das immer wieder vergessen...
15
Richtung, Ziel? Das Seufzen der Zellen
Wenn man das oben Gesagte als eine Art evolutionistische Gedankenfigur versteht, soll es
mir recht sein. Nun hat die Evolution aber offensichtlich keinen „Grund“ und kein Ziel17, ihr
ist es egal, ob ein bestimmter Zweig der Entwicklung degeneriert oder ausstirbt. Im
vorliegenden Zusammenhang findet sich allerdings eine basale Vorstellung von so etwas wie
einer „Richtung“. Es soll spürbar weg vom Symptom, also hin zu .... ja zu was eigentlich? Ich
kann mir hier nur vorstellen, dass ein dauerhaft erlebtes Leid so viele beteiligte, tragende,
abhängige und benachbarte Zyklen beeinträchtigt, dass sich im Organismus ein
„Korrekturnot“ entwickelt, ein Zug in eine bestimmte Richtung. Dies geht weit über den
erlebten Kummer, über Ängste oder Schmerz hinaus. Die affizierten Prozesse möchten in
ihren verändert fortlaufenden Rekursionen zurück zu der Funktionsweise, für die sie erstellt
sind. Ein depressiver Mensch, der nicht genügend Mut und Kraft zusammen bekommt, um
vor die Tür zu gehen, verändert allein dadurch seinen Neurotransmitter – Umsatz. Im
Krankheitsfall ergibt das einen sich selbst verstärkenden Prozess, leider „abwärts“ in
Richtung Schwächung. Sobald nun aber – aus welchen Gründen auch immer – Bewegungen
im Freien wieder möglich werden, kann es wie ein Seufzer durch die Zellen gehen: ahh, das
tut gut. Bei aller Komplexität dieses Themas ist vielleicht erkennbar, was mit diesem „Zug“
gemeint sein könnte. Dieser ist die Referenz für das Erkennen einer „richtigen Richtung“, für
das Erleben eines Weiterkommens.18
Nun kann ich mir vorstellen, dass vielen Therapeutinnen und Therapeuten die skizzierte
Fortbewegung im therapeutischen Prozess zu unbestimmt, zu wenig zielführend erscheint,
obwohl sie möglicherweise der Beschreibung der Prozesshaftigkeit des Entstehens von
Symptomen zustimmen können. Es gibt ja auch genügend Versuche, hier eine Abkürzung zu
wählen, und das ist durchaus nicht immer nur dem Unbehagen der Kollegen geschuldet, die
hier die Erwartungen der Klienten an sie als Experten scheinbar nicht erfüllen können.
Ökonomie, also Zeit- und Kostenersparnis, ist zwar keine direkt psychotherapeutische
Variable, doch es ist legitim zu überlegen, ob der Klient nicht möglichst rasch Besserung
erfahren sollte. Am Beispiel vom „Lösungsorientierten Ansatz“ von WATZLAWICK kann
man solch einen Versuch exemplarisch anschauen.
17
Von metaphysischen Erwägungen sei hier abgesehen.
Ich unterstelle hier, dass „das Seufzen der Zellen“, soll heissen: das Erleben von Lust,
Lebendigkeit, von Pulsation ein zentrales Gesundungskriterium sein soll – also nicht nur
Leistungs- oder Selbstdarstellungsfähigkeit. Ich unterstelle auch, dass beide, Therapeutin und
Klient, darin hinreichend übereinstimmen.
18
16
Watzlawick hat sich, durchaus vor einem systemtheoretischen Hintergrund, folgende einfache
Logik erarbeitet: Probleme bzw. Symptome entstehen wodurch auch immer. Jeder Betroffene
versucht, mit diesem Leid umzugehen, eine Lösung zu finden. Offenbar hat dies aber nicht zu
einer nachhaltigen Veränderung geführt, also gilt: der bisherige Lösungsversuch stabilisiert
das Problem19! Die zu wählende Intervention besteht formelhaft gesagt darin, die bisher
gewählte Lösung umzukehren, das Gegenteil davon zu praktizieren. Unvergessen sein
Beispiel20 der geplagten Ehefrau eines Hypochonders, die sich nicht anders zu helfen wusste,
als möglichst alle Nachrichten von Erkrankungen von ihrem Mann fernzuhalten, alle
Beschwerden, die er in leidender Haltung vorbrachte, zu bagatellisieren bis hin zur
Beschönigung. Sein Rat nach nur einer Stunde Gespräch: sie möge sich doch bitte ein paar
Prospekte von Begräbnisinstituten sowie von Kreuzfahrtreisen besorgen und diese wie
absichtslos in der Garderobe herumliegen lassen. Diese Fallvignette schließt natürlich mit
einem höchst erfolgreichen Ergebnis: der Ehemann vermied es von Stund´ an, irgend welche
gesundheitlichen Klagen vorzubringen - and they lived happy ever after. Did they?
Gehen wir davon aus, dass es solch einen Erfolg tatsächlich nachhaltig gegeben hat. Was sind
eigentlich die Voraussetzungen, und was die Folgen solcherart Interventionen (die
„psychotherapeutisch“ ich nicht nennen möchte)? Zunächst ist vermutlich unmittelbar
einleuchtend, dass eine jüngere Kollegin der Ehefrau diesen Rat kaum hätte erfolgreich geben
können. Da hilft es vermutlich, dass ein graumelierter Herr Professor mit jahrzehntelanger
Berufserfahrung und zig Veröffentlichungen die Ehre einer Beratungsstunde gewährt. Und
wie rhetorisch geschickt muss man eigentlich sein, um solch eine Intervention „abzusetzen“,
genau spürend, wie groß das Ausmaß von Frust und Groll bei der Ratsuchenden ist, so dass
sie in den genau passenden Worten sozusagen die Erlaubnis bekommt, ihren Gatten einmal so
richtig auflaufen zu lassen, nach all ihrer Selbstverbiegung? Kurz: dieser Fall einer
blitzschnellen Wunderheilung ist hoch voraussetzungsreich, mehr ein Beispiel für
rhetorisches Geschick und gezieltem Einsatz von Autorität, als von einer selbsttragenden
Hilfe zur Veränderung.
19
Diese Kurzdarstellung kann man durchaus in die oben ausgeführte umfassendere
Beschreibung von verhängten zyklischen Abläufen, in deren Kreuzungspunkt das Symptom
entsteht resp. getragen wird, übersetzen!
20
Hier aus der Erinnerung erzählt. Möglicherweise in P. Watzlawick: Lösungen. Zur Theorie
und Praxis menschlichen Wandels (mit J. Weakland u. R. Fisch, 2008) oder: Wie wirklich ist
die Wirklichkeit?: Wahn, Täuschung, Verstehen (2005)
17
Und die Folgen einer solchen Art Problemlösung? Wir erfahren nichts über die
Dauerhaftigkeit der Veränderung für die Eheleute. Wir erfahren auch nichts über die
Folgeprozesse für den Ehemann und für die Beziehung. Immerhin muss man für denkbar
halten, dass der gewählte Schachzug das Gespenst der drohenden Erkrankung bzw. den
dauernden Tanz der Eheleute um dieses Thema den Garaus gemacht hat. Aber um welchen
Preis? Man muss kein Offenheitsfanatiker sein um es problematisch zu finden, dass es hier
eine einschneidende Beziehungs- Aktion der Frau gab, über die sie ihrem Mann kaum je wird
sprechen können. Man muss auch konstatieren, dass hier zumindest zwei Menschen zum
Objekt von Strategien gemacht wurden, denen sie unterliegen bzw. folgen, ohne wirklich
Auskunft darüber geben zu können, was da mit ihnen geschehen ist. Die Frau folgte den
wohlkalkulierten Erwägungen Watzlawicks ohne dessen Hintergründe zu verstehen, der
Mann verstand im Zweifelsfall gar nichts, fühlte sich aber zu einer Änderung seines
Verhaltens wie durch eine Drohung herausgefordert.
Also nicht nur die Voraussetzungen dieser Intervention sind speziell, auch die Folgen. Um es
wieder in der Vorstellung von miteinander verhängten Zyklen zu sagen: solche Therapieansätze wirken in bestimmte kultürliche Prozesse hinein, sie befördern ein bestimmtes
Menschenbild und einen bestimmten mitmenschlichen Umgang. Sogar Ärzte mit ihrem
beinahe ungebrochenen Expertenstatus als „Heiler“ sind dazu übergegangen, ihre Patienten
über Sinn und Risiko von Behandlungen (Operationen z.B.) aufzuklären, suchen den
aufgeklärten Patienten, der dann als Mitmensch auf Augenhöhe bleibt und als Patient besser
mithelfen kann. Ob man also die Unwissenheit oder sogar Manipulation von Patienten
tatsächlich in Kauf nehmen möchte, nur weil es ja funktioniert, bleibt bislang jedem
Behandler selbst überlassen. Aber diskursive Verantwortung wird er dafür übernehmen
müssen, jedenfalls im Sinne der „kybernetischen Ethik“21.
21
s. von Foerster
18
Gibt es ein notwendiges Zyklisches Denken? Rekurs
Nach dieser Darstellung all der schrecklich viel versprechenden Möglichkeiten der
psychotherapeutischen Situation ist es wohl an der Zeit, eine Bündelung der skizzierten
Phänomene unter der gestellten Eingangsfrage zu versuchen. Gibt es ein – sogar notwendiges
– psychotherapeutisches Denken, einen Stil der konzeptionellen Vergewisserung der hier
sachgerecht und zielführend wäre? Was die „Sache“ ist, der die Behandler „gerecht“ werden
sollten, ist hoffentlich hinreichend deutlich geworden, die Zusammenkunft von Klient und
Behandler ist ein zielgerichtetes Unterfangen, der Klient möchte gesunden, zumindest
weniger leiden. Alle Prozesse, die im Therapieraum wirksam werden, alle Handlungen und
Unterlassungen finden hier ihren Rahmen und sind in dieser Hinsicht zu bewerten22. Leider
scheint die Klarheit hier auch schon am Ende wenn man sich vergegenwärtigt, dass allein das
Verhandeln der Beteiligten darüber, was denn das Leid oder der Charakter des Leids
eigentlich ist, oftmals eine weite Strecke der Behandlung selber ausmacht.
Ich gehe davon aus, dass die Leserinnen oder Leser, die mir bis hierher geduldig gefolgt sind,
unterwegs oft genug eine bestimmte innere Ungeduld, eine ja-aber –Spannung gespürt haben.
Ja, aber man kann doch wissen, worunter der Patient leidet, dafür gibt es doch
Diagnoseschlüssel. Ja, aber es ist doch klar, was als erstes zu tun ist, dafür gibt es doch
Erfahrungswerte, Methoden – und außerdem kann man ja sogar mittlerweile mit
bildgebenden Verfahren im Gehirns messen, ob es funktioniert!
Hoffentlich ist aber gleichzeitig, neben dieser Ungedulds – Spannung, klar geworden, dass all
diese Reflexe bereits massive Komplexitätsreduktionen darstellen: das vorgebrachte Leid
wird in ein Diagnoseschema gepresst, was nicht passt, wird ignoriert oder passend gedacht.
Ich möchte auch daran erinnern, dass die Diagnosenkataloge selber Produkt von historischen
Prozessen sind – bis hin zu der Frage, was denn eigentlich überhaupt als „krank“ gelten darf
oder soll23. Und weiter: die Anamneseerhebungen folgen ausschließlich Konventionen,
professionell etablierten Gewohnheiten. Das ist nicht weiter schlimm, aber man muss wissen,
dass das Bild, das man sich auf Grundlage dieserart Erhebungen macht, dann eben auch ein
„konventionelles“ ist. Also: Komplexitätsreduktion allerorten, vermutlich in der Praxis
unvermeidlich, aber ich wollte ja über das notwendige Denken sprechen!
22
...wenn auch nicht in jeder Sekunde, das wäre der Terror der reinen Funktionalität!
Jeder in diesem Beruf sollte ganz sicher die einschlägigen Schriften von Foucault gelesen
haben, finde ich. Z.B. M. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft (1973)
23
19
Mein Wunsch oder meine Einladung, der Komplexität der Situation gerecht zu werden, indem
die unvermeidliche Kontingenzspannung eine Weile ausgehalten wird, ist ja sicher deutlich
geworden. Das ist sozusagen die Voraussetzung für das, was man „psychotherapeutisches
Denken“ nennen könnte. Dieser Appell richtet sich natürlich in erster Linie an die Behandler,
die ihre Profession reflektieren können möchten. Wer lediglich Routinen vollziehen,
möglichst schnell möglichst schematisch eine Besserung bewirken möchte, also als eine Art
„Heilhilfspersonal“ andernorts ausgedachtes Expertenwissen lediglich ein- oder umsetzen
möchte, wäre hier vielleicht nicht angesprochen. Genau so wenig wie die Behandler, die als
„Gläubige“ ihrer jeweiligen Schule in bemerkenswerter Selbstgewissheit eh keine Fragen
mehr haben24.
Oder doch: auch diese Behandler möchte ich ansprechen, vielleicht gerade diese! Es könnte
sich ja lohnen. Also weiter mit Komplexität und Kontingenz. Der erste Bissen ist ja vielleicht
schon geschluckt: die Idee, dass die Situation jederzeit auch anders beschrieben und anders
gehandhabt werden könnte. Der Begriff der Situation ist hier natürlich bewusst gewählt, da er
als solcher schon uneindeutig, schillernd und vielfältig ist25. Die Situation ist eben für jeden
Beteiligten eine andere, wechselt ständig, muss gegebenenfalls im Aushandeln einmal (kurz)
festgehalten werden: „Was ist eigentlich die Situation hier?“ Und er verweist darauf, dass wir
es hier nicht mit feststehenden Entitäten, mit Objekten, mit abgrenzbaren Gegenständen zu
tun haben, obwohl wir ja alle immer wieder gern so sprechen, wenn wir von „der“
Depression, „dem“ Widerstand, „der“ Charakterstruktur reden. Wir haben es in Situationen
mit momentflüchtigen Anmutungen, vagen Gewissheiten, ständigem Wandel, kurz: mit
Prozessen zu tun. Nehmen wir diesen Begriff auch auf unsere Liste: Komplexität,
Kontingenz, Situation, Prozess.
Wenn wir etwas näher treten, ein Licht aufstellen um einmal eines der Prozessphänomene, die
sich in der Situation zeigen, „dingfest“ zu machen, zeigt sich schnell: wir haben nichts in der
Hand! Genau so wenig, wie wir den Fluss in der Hand haben, wenn wir ins strömende Wasser
langen. Und doch können wir einiges sagen. In der gewählten Analogie wird unsere Hand
nass, erschreckend oder erfrischend. Wir spüren einen Zug oder einen Druck, müssen
24
Sie glauben, ich beschreibe Karikaturen? Leider nicht, wie jeder Besuch bei einem
psychotherapeutischen Fachkongress erweisen kann.
25
Für die vertiefte Beschäftigung mit dem Begriff der Situation kann man in der Philosophie
(Phänomenologie) und der Psychologie (z.B. Lewin) fündig werden.
20
Muskeln beanspruchen um zu bleiben, dies kann sich angenehm oder unangenehm anfühlen.
Kurz: wir haben den Fluss nicht „im Griff“, stattdessen kann man sagen: er macht etwas mit
uns. Und das „macht etwas mit uns“ geht immer weiter voran, ändert sich immer wieder ein
wenig. Jetzt wird es sogar schwierig zu unterscheiden: hat sich das Druckempfinden geändert,
weil die Strömung schwankt, oder haben wir die Handstellung ein wenig geändert? Hat sich
die Temperatur des Wassers geändert? Nein, vermutlich haben wir uns an das kalte Wasser
gewöhnt – was das physiologisch auch immer alles bedeuten mag!
Also: die Situation ändert (sich) ständig, wobei die Veränderung die Bedingung dafür ist, dass
es einigermaßen gleich bleibt. Es muss immer neues Wasser nachfließen, damit der Druck
bleibt. Unser Organismus muss sich adaptieren, damit wir eine Weile die Hand im kalten
Wasser halten können. Was haben wir hier: Stabilität durch Veränderung! Das, was bleibt,
muss ständig neu erstellt werden. Das, was stabil und sicher zu sein scheint, ist ein ewiges
Erstellen, ganz spezifisch menschlich gesprochen: macht ein dauerndes Tun erforderlich.
21
panta rei – und dann?
Man traut sich bei diesem ganzen panta rei schon kaum noch, nach einem Anfang und einem
Ende zu fragen, aber tun wir´s trotzdem. Der Fluss hat einen Anfang, oder? Na ja, wie man´s
sieht. Das gemauerte Becken, zu dem man wandern kann um einen traditionellen Schluck zu
nehmen, die so genannte Quelle, ist ja nun mal eindeutig „gemacht“ und wird mit der Zeit
durch die Kräfte der Natur geschliffen werden, wenn man nicht immer nachbessert. Aber gut,
lassen wir das Becken weg, dann wird es eine Kuhle sein, in der sich Sickerwasser sammelt.
Soll das Sickerwasser noch dazu gehören? Wie weit zurück in den Waldboden? Oder beginnt
es nicht eigentlich eh mit dem Regen, der hier gern fällt? Und überhaupt: wie viel von dem
Wasser, das da gegen die Hand drückt, stammt eigentlich aus dieser Quelle, oder nicht
vielmehr aus Nebenflüssen, die dazu gekommen sind? Es wird klar: die Anfangsfrage (genau
wie die Endfrage) kann nicht klar beantwortet werden, da muss man sich (handelnd, im
Gesprächsprozess) mal geeinigt haben, so dass der Kartograph weiß, wo er seinen blauen
Strich auf der Karte ansetzen darf. Aber ich rede hier nicht von Beliebigkeiten, die durch
Verhandlungen eingeschränkt werden. Ich möchte vielmehr darauf hinweisen, dass ich dort,
wo ich Gewissheiten, Abgrenzungen, Anfang und Ende suche, auf lauter Übergänge stoße,
alles verweist auf etwas Anderes. Der Fluss auf den Waldboden mit einer lehmigen Kuhle,
auf den Regen, der den Wald erst hat wachsen lassen – und der sicher dazu beiträgt, dass es
hier überhaupt so viel regnet.
Und wie ist es mit der Therapiestunde? Die hat doch einen Beginn, oder? Nach der Uhrzeit
schon, aber das ist in diesem Zusammenhang ja eher trivial. Der Klient muss gekommen sein,
überhaupt sich entschlossen haben, vielleicht gegen innere Bedenken. Für ihn liegt der
Beginn vielleicht in einer besonderen Situation, in der er sich aufgerafft hat, den Therapeuten
aufzusuchen, weil er es nicht mehr ausgehalten hat. Und in diesem Moment ist vielleicht
schon etwas Entscheidendes passiert, das die ganze Behandlung über tragen wird. Ein
Glasperlenspiel, diese Überlegungen? Im Gegenteil: es könnte über den stabilen Erfolg der
Therapie entscheiden, ob die Beteiligten einmal auf diesen speziellen Moment zu sprechen
kommen! 26
Die Liste wird länger, jetzt haben wir schon eine ausgemachte „Denkbewegung“ dazu
genommen, die Bewegung über den scheinbaren Anfangs- oder Endpunkt, über die
26
Von der Behandlerin wollen wir hier mal nicht reden, aber dessen Therapeutin – Sein
beginnt ja sicher auch nicht erst um Punkt 15 Uhr.
22
scheinbaren Grenzen einer vermeintlich klaren Gegebenheit hinaus. Und wir finden dort nicht
verwirrende Vielfältigkeit, haltlose Beliebigkeit, sondern können feststellen: nichts ist ein für
allemal gegeben, alles erstellt sich – durch das, wie sich „das Andere“ erstellt. Und viele
Erstellungsvorgänge weisen auf sich selbst zurück, wie der Wald auf den Regen auf den Fluss
auf den Wald..... Relative Stabilität ist offenbar nur in ständigem Wandel erdenklich vieler
verwobener Prozesse zu haben, die meistenteils eine zyklische, spiralige Form haben und
damit oft genug die Bedingungen ihrer eigenen Existenz re–produzieren.
Ein ermutigender Gedanke in einer Situation, in der es doch um eine Veränderung gehen soll:
man kann sich auch die therapeutische Situation, in der ein Leid verändert werden soll, als
durch eine erkleckliche Anzahl von tragenden Prozessen stabilisiert vorstellen. Nicht wenige
davon werden durch das Tun der Beteiligten erstellt. Schauen wir uns genauer an, was die
Möglichkeiten dieser Betrachtungsweise, dieser Art zu denken, „vor Ort“ sind.
23
Freiraum
Ich nehme mir die Freiheit, eine Art Idealtypus einer Therapiesituation vorzustellen, damit die
Bedingungen und Möglichkeiten des zyklischen Denkens in der Praxis deutlich werden
können. Weiter oben habe ich ja schon von den kulturellen Vorgaben gesprochen, die diese
Art des Beieinanders hat. Jetzt gehört noch eine weitere Vorbedingung benannt, ohne die es
nicht gut angehen kann. Die Therapeutin muss nämlich über genügend soziale und
kommunikative Fertigkeiten verfügen, um überhaupt hilfreich werden zu können27. Das
Grundrepertoire von Sprechen und Verstehen- sowie sich sozial adäquat verhalten –Können
wäre allerdings noch nicht ausreichend. Sie sollte darüber hinaus in der Lage sein, inwendig
ständig einen Freiraum28 halten zu können, in dem sie ihr eigenes Tun und Lassen, ihre
eigenen Gedanken und Empfindungen „mitlaufen lassen“ und beobachten kann. Und über die
Wahlmöglichkeit verfügen, ob sie darauf oder da heraus reagieren möchte. Sobald sie eine
Frage unbedingt stellen, eine Intervention auf jeden Fall anbringen muss, hat sie diesen
Freiraum verloren.
Warum ist das so wichtig? In der Therapiesituation hat sie einen Menschen gegenüber, der
über diese Fähigkeit innerhalb seines Symptombereichs gerade nicht verfügt! Dort muss er
bestimmte Dinge denken, bestimmte Gefühle drängen unbedingt herauf, da kann er kaum
anders als so handeln. Aber er ist eingeladen zu sprechen und kann seine Verengung
immerhin benennen und beschreiben (idealtypische Situation!). Und dann kann sich die
Therapeutin auf eine bestimmte Art dazu gesellen: sie sollte sehen und hören können, was
diese Beschreibungen in ihr auslösen, ohne gleich darauf reagieren zu müssen. Sie sollte nicht
gleich eine Antwort oder eine Lösung parat haben, sie sollte bestenfalls eine Ahnung
entstehen lassen. Aha, das riecht hier doch nach .... – und das dann im Hintergrund behalten.
Eine Antwort wie aus der Pistole geschossen hätte leider oft genau den Effekt einer Kugel, sie
würde abtöten, was hier gerade entstehen kann.
Entstehen kann zum einen ein Beziehungswesen zwischen den beiden: der eine spricht, der
andere hört achtsam und verstehen – wollend zu. Dann vielleicht umgekehrt. Es entstehen so
Rhythmen, Berührungen, Achtsamkeiten, es entsteht ein Vokabular, Signalsysteme, die
27
Ich schließe mich hier M. BUCHHOLZ an, der in „Psychotherapie als Profession“ (1999),
ausführlich dargestellt hat, warum sich Professionalität ohne basale soziale Fähigkeiten nicht
aneignen lässt.
28
Ein Begriff aus der Focusing – Theorie, s. E.T. Gendlin: Focusing (1998)
24
anzeigen, wann es ernst oder lustig wird und vieles mehr, das für dieses gemeinsam erstellte
Wesen charakteristisch sein wird. Keiner der beiden könnte dieses Wesen allein erstellen,
beide brauchen es. Das Gesamtunternehmen hängt davon ab, ob es lebendig und genügend
belastbar und anpassungsfähig sein wird! 29
Zum anderen – und nur, wenn das Beziehungswesen lebendig wird - kann die zyklische Welt
des Klienten um das Symptom oder Leid herum greifbar werden. Der Klient berichtet und
zeigt, lässt die Therapeutin vor allem auch erleben, was es alles mit dieser Crux auf sich hat.
Und noch in den Auslassungen, in den Nischen und Ritzen seiner Schilderungen und
Aktionen sind Abläufe und Prozesse zu ahnen, die das Leid tragen. Dafür muss die
Therapeutin nicht nur hören können. Sie muss sozusagen lernen, sich in der Landschaft des
Gegenüber einzufühlen und zu bewegen, wie eine Besucherin in einem fremden Land. Und
man weiß ja noch aus den trübsten Hollywood – Filmen, dass diejenigen, die auf einem
fremden Planeten erst einmal ein Feuer entzünden und sich dabei lautstark vernehmbar
machen, ganz sicher nicht weit kommen werden. Und wenn dort schon unbedingt etwas
geändert werden soll30, sollte man vielleicht erst mal eine Weile hier leben um eine Ahnung
zu bekommen, wie es an diesem Ort eigentlich zugeht.
29
30
An anderer Stelle in dieser Schrift finden Sie zum Thema Beziehungslebewesen mehr...
Die Anwesenheit der „Fremden“ ist ja eigentlich schon eine massive Veränderung!
25
Grundzüge des Zyklischen Denkens
Ich verlasse diese etwas spektakuläre Metaphorik und sage es konzeptionell: Zyklisches
Denken in der Therapie setzt inneren Freiraum voraus, der den Behandler die Mehrdeutigkeiten und Kontingenzspannungen aushalten lässt, so dass er bei genügend entstehender
Bindung mit einer gleitenden Achtsamkeit – wissend um die Verwobenheit des Leids in
unabsehbar vielen Zyklen – die Möglichkeit hat zu entscheiden, was hier jeweils der nächste
Schritt ist. Auszusuchen, worauf er reagieren, was er aufgreifen mag. Das ist häufig genug
nicht das Lauteste, das Mächtigste in der Gegend. Zyklisches Denken weiß um die
Verknüpfung der Prozesse und lenkt den Blick dorthin, wo mit den vorhandenen Mitteln die
möglicherweise hoffnungsreichsten Veränderungen möglich gemacht werden könnten. Das
kann an der vermeintlichen Peripherie passieren, die durch eine Frage, eine Bemerkung, eine
Übung plötzlich zum Zentrum wird – und das Symptom hängt irgendwie dran und muss oder
kann sich mit ändern.
Zyklisches Denken weiß, dass das Gegenteil des Gesagten genau so „wahr“ sein kann, dass
ein Perspektivenwechsel das Ganze in ein völlig anderes Licht stellen kann. Dass die
therapeutischen Schritte die bisher angenommenen Grenzen und Rahmungen vermutlich nicht
werden bestehen lassen können. Und auch nicht müssen, denn eine Grenze im einen ist ein
Halt in einem anderen Zusammenhang und wo bislang noch eine Wand ohne Tür den Weg zu
versperren scheint, muss es möglicherweise gar nicht zwingend lang gehen.
Zyklisches Denken weiß auch um die oben erwähnten „vorhandenen Mittel“, der innere
Freiraum des Behandlers ist eben auch wichtig, um im angemessenen Tempo einzuschätzen
zu können, welche Fertigkeit, welches Wissen, welche Routine hier einzusetzen wäre – und
mit welcher Reichweite. Hier läge die Ökonomie des zyklischen Denkens: seine
Möglichkeiten an einer gegebenen Stelle im Prozess nicht zu gering und nicht zu groß
einzuschätzen – und an der passenden Stelle hervorzubringen. Ob dieses Hervorbringen dann
eine originäre Leistung des Therapeuten oder ein gemeinsames Prozessprodukt ist, ist im
zyklischen Denken allenfalls eine Frage der gewählten Perspektive, kann nicht abschließend
geklärt werden.
Zyklisches Denken ist also gleitendes Denken – jederzeit bereit, seinen Fokus zu verändern,
zu verlassen, auf scheinbar Abseitiges zu achten. Aber auch jederzeit bereit, einen Ausschnitt,
einen Inhalt, eine Struktur, eine Ordnung wichtig zu nehmen – und dann wieder los zu lassen.
26
Halt findet dieses Denken wenn es auf invariante Formen stößt, auf Wiederholungen, Serien,
musterhafte Abläufe – und wenn dabei eine zyklische Verhängung mit dem Leid „ruchbar“
wird. Aha: es muss immer erst A und dann B erledigt werden, damit die Angst weniger wird.
Wieso diese Reihenfolge? Wieso gibt es hier etwas zu erledigen? Wieso muss – was denn,
wenn mal nicht? Wieso A und B statt C und X? Gibt es A überhaupt, muss das so aussehen?
Gibt es diese „Regel“ woanders auch, vielleicht bei einem Hobby, beim Lernen oder Lieben?
Halt gibt es also bei Invarianten und wenn es „riecht“. Dieses „riecht“ scheint wenig mit
Denken zu tun zu haben und doch steht diese auch sinnliche Erfahrungsqualität im
Hintergrund jeden lebendigen Denkens. Auch der Naturwissenschaftler „nimmt eine Spur
auf“, „hat ein Gespür für Zusammenhänge“, oder ihm „ist etwas nicht geheuer“31. Diese
Anmutungen sind natürlich unterschiedlich, je nach Erfahrung des Denkenden. Ein Anfänger
nimmt vielleicht schneller eine Spur auf, hat aber weniger Gespür für Zusammenhänge –
einfach, weil er noch weniger Überblick über das Terrain hat. Es kann aber auch umgekehrt
kommen; der Anfänger verknüpft Dinge, auf die ein „alter Hase“ nie gekommen wäre, weil
der immer in seiner Spur bleibt...
Wichtig ist mir noch zu sagen, dass es für die Wertschätzung dieser Anmutungsqualitäten,
überhaupt dieser „Wissensquelle“ wieder den oben schon beschworenen Freiraum braucht.
Sonst geht das manchmal leise Spüren und Ahnen, geht der feine Duft, der noch unklare
Geschmack von etwas Bedeutsamem bald vorbei, ungewürdigt und ungenutzt.
31
Wir befinden uns hier im Bereich des „impliziten Wissens“ (M. Polanyi: The tacit
Dimension (1966)) und des „experientiellen Wissens“, so wie Gendlin es seit: Experiencing
and the Creation of Meaning (1962) herausgearbeitet hat.
27
Wortbedeutung und Wahrheit
Möglicherweise ist jetzt bei dem einen oder anderen Leser die Frage aufgekommen, was denn
die vorgestellte Art zu Denken mit den „konkreten“ Themen, den Inhalten anfangen kann.
Der Klient wird doch von realen Begebenheiten, Personen, Gefühlen, Gedanken berichten, in
Worten, die ihm wirklich etwas bedeuten. In Form von Tatsachenbeschreibungen, die er
gewürdigt wissen will. Sitzt hier die Therapeutin mit nach innen gerichtetem Blick vor ihm,
sagt bestenfalls gelegentlich: „ja ja, schon gut, aber ....“? Na ja, möglichst nicht, auch wenn
das mal passieren mag. Ich erinnere hier stattdessen an das Bindungswesen, das erstellt und
belebt werden muss . Von der Therapeutin sicher auch in der Form, dass sie einerseits
interessiert bei den Worten und Themen ist. Gleichzeitig aber durch die Beschreibungen
„durchhört“ oder „durchsieht“ mit dieser speziellen Brille des zyklischen Denkens und dem
offenen Gespür für das noch nicht ganz greifbare „Bedeutsame“.
Aber ich möchte auch noch von einer anderen Seite her antworten, der geneigte Leser wird
sicher schon wissen (weil er durch die bisherigen Zeilen und Abschnitte auch „durchgehört“
hat), dass nun eine erneute Schlaufe kommt, die zum Zyklischen Denken zurück führt. Was
sind denn die Themen, die Inhalte eigentlich, wie formieren sie sich? Nicht mal dem Klienten
(idealtypisch!) ist es bedeutsam, auf welchem Turm genau er seine Höhenangst jeweils erlebt
hat. Er hat ebenfalls schon eine bestimmte Abstraktion vorgenommen, die ihn wissen lässt,
dass die Angst nicht an konkreten Steinen oder konkreten Höhenblicken hängt, selbst wenn
die gelegentlich mal einen Unterschied machen. Der Mensch ist ja ein theoriebildendes Tier,
und kann gar nicht anders, als sich auf sein Erleben einen Reim zu machen. Vor allem bei
bedrängenden oder leidvollen Geschehnissen hat jeder Klient bereits eine „Privattheorie“, die
seine Schilderungen prägen, die er von der Behandlerin bestätigt oder verworfen wissen will.
Jedes Thema, jeder „Inhalt“ entsteht somit in einem Feld von Erlebensmomenten die dann
immer schon durch den Prozess einer Symbolisierung und einer sinnstiftenden Anverwandlung gegangen sind, „all language is metaphor“, sagt GENDLIN. Wir haben es also bei
den vorgebrachten Worten und Sätzen mit ihren scheinbar konkreten Inhalten nicht mit
Rohdiamanten zu tun, die ihren Wert unveränderlich in sich tragen und entsprechend
gewürdigt werden müssen, sondern mit Prozessprodukten, die nun immer weiter – nun hier
im therapeutischen Geschehen – eine Veränderung erfahren. Wieso wählt der Klient diese Art
von Symbolisierung oder Metapher? Kann er hier variieren? Wohin gibt er „Energie“, was in
seinen Schilderungen klingt „fett“, was „dünn“ oder flüchtig? Oder kann er kaum
symbolisieren, muss sich tatsächlich in haarkleinen Schilderung ergehen, die auch ganz genau
28
so aufgenommen werden müssen. Welches Alter spricht denn dann? Welche Bindung wird
der Therapeutin hier angetragen? Da sind wir wieder: im Vordergrund klingen die
gesprochenen Worte, die im Hintergrund getragen und geformt werden von ach so vielen
Prozessen, die man gar nicht alle fassen kann, die aber doch (als das, was sich zeigt, sagt der
Phänomenologe) greifbar und riechbar werden können. Wie sagte BUCHHOLZ noch über
Psychotherapie als Profession: Im allgemeinen nicht zu beschreiben, im Einzelfall aber
gelingend!
Die Kunst besteht im Einzelfall wohl gerade darin, den Klienten auf der einen Seite wörtlich
zu nehmen, auf der anderen Seite „beim Wort zu nehmen“. Die geschilderte Situation war
schrecklich, keine Frage, aber zentraler ist doch, wie er hinein oder wieder heraus gekommen
ist. Oder was er mit seiner Situationsschilderung bei der Therapeutin auslösen möchte.
Welche Kräfte mobilisiert, welche blockiert wurden und so fort. Es wird klar: die Therapeutin
wird einen Weg finden müssen zwischen den Polen einerseits des „Konkreten“ (der Turm, die
Angst), das genügend gehört werden muss, und andrerseits des immer nur in Ausschnitten zu
erfassenden zyklischen Geflechts von Bedingungen (Motive, Kräfte, Charakter, Bindungen,
Sinn...) die das Leid erstellen und stabilisieren – und in denen die Möglichkeit von
Veränderungen zu suchen sind.
Das „Durchhören“ der Therapeutin auf das im Hintergrund Tragende führt allerdings kaum
zum zyklischen Denken, wenn zu bald wieder ein fester Kanon des dort Vorfindbarem
ausgemacht ist. Die Psychoanalyse hat z.B. viel zu viel Zeit und Energie damit verschwendet,
einen solchen Kanon auszuformulieren und zu verteidigen, ist an manchen Orten darüber
beinahe zu einer Sekte geworden. Nun waren z.B. die Diskussionen darüber, ob das „erste
Gesetz“ (Inzesttabu) tatsächlich historisch und kulturell ubiquitär ist, im kulturwissenschaftlichen Feld wohl recht anregend, aber die Versuche, möglichst jeden Patienten auf seine
ödipale Konfliktkonstellation zu reduzieren therapeutisch eher zweifelhaft, manchmal sogar
verstörend. Das Durchhören und Durchgreifen mit Hilfe des zyklischen Denkens führt nicht
zu einer „hinter“ etwas liegenden Wahrheit, die dann sogar gegen einen Klienten in Anschlag
gebracht werden kann. Das bloße Übersetzen von etwas vom Klienten Vorgebrachten in das
vermeintlich „Eigentliche“ seiner Rede ist nur ein Austausch seiner vielleicht naiven
Privattheorie gegen eine etwas elaboriertere Vorstellung von den Bedingungen seines Leids.
Damit ist selten schon etwas gewonnen, oft nur ein lineare Begründung (A bewirkt B) durch
eine andere ersetzt. Gleichwohl braucht es offenbar Vergegenständlichungen des Denkens, im
29
gepflegten Gleiten durch den Möglichkeitsraum wird man dem Zweck der Veranstaltung
nicht gerecht werden können. Es ist allerdings schon viel gewonnen, wenn der „Gegenstand“
nicht dinghaft, die in Frage kommenden Relationen nicht einbahnstraßige Bewirkungen sein
müssen. Die Angst sitzt nicht in den Schultern und der böse Vater hat sie dort nicht hinein
gesteckt. Und trotzdem kann es für einen Klienten eine veränderte Welt bedeuten, so zu
denken. An den Therapeutinnen und Therapeuten ist es allerdings, so etwas nicht zu glauben,
sondern als ein mögliches Selbstverstehen, ein Ausgangspunkt für Befreiungsbewegungen,
eine Symbolisierung für ein Bindungserleben zu verstehen. Um dann damit weiter zu
arbeiten, zu verstehen, zu üben...
30
Erlernen des zyklischen Denkens – zyklisch
Kann man das zyklische Denken, das Denken in Zyklen lernen? Was kann man einem
Anfänger sagen, einer möglicherweise an der Profession Psychotherapie Interessierten? Hier
wird es kaum Antworten geben, die für alle gleich gültig sind. Im Grunde handelt es sich ja
beim Eintritt in die Profession um ein Veränderungsprojekt, das dem der Therapie nicht ganz
unähnlich ist: es sollen Ressourcen, es soll Wissen, es sollen Erfahrungen mobilisiert werden,
um ein anvisiertes Ziel zu erreichen. Da wird jede einen eigenen Weg nehmen müssen, jeder
auf etwas anderem aufbauen können. Und doch lässt sich einiges beschreiben, das zum
zyklischen Denken führen kann. Nach einigen allgemeinen Aussagen möchte ich es so
konkret wie an dieser Stelle möglich ausformulieren.
Jedes professionelle Denken kann man als eine Art Handeln verstehen, nicht nur
metaphorisch wie in „Denkanstrengung“ oder „Denkbewegung“, sondern definitionsgemäß
als sinnhaftes, vielleicht zielgerichtetes, auf jeden Fall absichtsvolles Verhalten32. Die Absicht
organisiert das Handeln und gibt einen Maßstab dafür her, ob es zielführend ist. Ich verstehe
zyklisches Denken in diesem Zusammenhang als eine Art „teilnehmendes Denken“, das
Erkenntnisse und Orientierung bei komplexen, sich selbst organisierenden oder lebendigen
Gegebenheiten sucht. Ein objektiver Blick, eine skalpellhaft durchdringende Analyse,
beobachterunabhängige Wahrheiten sind hier nicht zu haben. Wer zyklisch denkt, muss sich
einlassen, verändert durch sein Dazu-Kommen immer schon das zu Verstehende. Das wäre
also der erste Schritt: sich einlassen auf eine Situation – und dabei um die prinzipielle
Wirkung eines solchen Schritts wissen.
Denken als Handeln zu verstehen öffnet Türen. Man kann zyklisches Denken beginnen zu
lernen (oder zu schulen), indem man konkret in eine Situation geht, in eine Gruppe z.B.,
immer wieder, oft. Die Gruppe beschäftigt sich mit was-auch-immer, und das Teilnehmen
wird weiter zum Denken, wenn ich einen Wahrnehmungsausschnitt wähle. Ich kann darauf
achten, wie es mit dem Gruppenthema weiter geht. Oder wie die Beziehungen der
Gruppenmitglieder untereinander sich gestalten. Kann auch versuchen heraus zu finden, ob es
ungeschriebene Regeln gibt: wer darf wie lange über was sprechen? Wer darf Witze machen?
Und nicht vergessen, ich verändere die Situation durch mein Dabei-Sein: wenn ich nur sitze
32
Kann man auch davon ausgehen, dass Denken phylogenetisch aus Verhalten erwächst?
Spuren davon sind leicht zu finden, z.B. in der Tatsache, dass Personen sich leicht nach vorn
beugen, wenn sie an die Zukunft denken, leicht nach hinten, wenn an die Vergangenheit...
31
und beobachte, mir vielleicht sogar Notizen mache, dann werde ich über kurz oder lang
auffallen, Fragen provozieren. Also sollte ich Erfahrungen machen: was passiert, wenn ich
mitrede? Was, wenn ich schweige? Was, wenn ich quer rede?
Solche Erfahrungen haben wir doch alle zur Genüge? Waren wir nicht alle in einer Familie,
im Kindergarten, in der Schule, im Freundeskreis...? Was soll ich hier neu lernen, wenn ich
das zyklische Denken üben will? Neu soll sein, dass ich nichts Bestimmtes erreichen muss,
ich darf eine Erfahrung machen. Und das gibt mir die Freiheit, nicht zu schnell mit Verstehen,
mit Erklärungen, mit Ursachenzuschreibungen zu sein. Stattdessen kann ich mehrere
Varianten von „verstehen“ ausprobieren. Ich kann zählen, wie oft die Einzelnen zu Wort
kommen, kann aber auch atmosphärisch spüren, wann es angenehm oder unangenehm ist,
dort zu sitzen. Kurz: ich kann verschiedene Beobachtungsbrillen aufsetzen. Diese könnte ich
mir willkürlich zurecht legen, um dann interessiert zur Kenntnis zu nehmen, wie verschieden
sich die gleiche Gruppe anschauen lässt. Ich kann aber auch etwas weniger akademisch, dafür
mehr mit-menschlich vorgehen. Kann ich doch von der Tatsache ausgehen, dass jedes
Gruppenmitglied seine eigene Perspektive, sein eigenes Erleben des Geschehens hat – und ich
viele verschiedene Brillen kennen lernen kann, wenn ich ihnen zuhöre und ihre Perspektive
für gleich gültig halte.
Zuhören und verstehen, Welten kennen lernen, wertschätzen. Das setzt voraus, die eigene
Perspektive eine Zeitlang suspendieren zu können. Das könnte der nächste Schritt im Lernen
sein: die eigenen Regungen, Bewertungen, Absichten nicht zu übergehen, aber doch für eine
Weile im Hintergrund halten, um „vorne“ sehen und zuhören zu können.
Nach einiger Übung kann ich dann bald das erleben, was im Focusing „Freiraum“ genannt
wird. Ich muss nicht agieren oder reagieren, ich kann offen in der Situation und für die
Situation sein. Und in dieser relativen Ruhe kann etwas wirklich Bemerkenswertes erlebbar
werden: eine spürbare Resonanz, eine bedeutungsvolle innere Regung, die ganz offensichtlich
mit all dem zu tun hat, was gerade vor sich geht. Mit dem, was „vorne“, „draußen“ in der
Gruppe geschieht, aber genau so getönt von dem, was ich mitbringe, vielleicht gerade zurück
gestellt habe. Auch das ist kein Wunder33, ist jedem bekannt, der z.B. schon mal als Fremder
einen Raum voller feiernder Menschen betreten hat. Wenn man eventuell aufkommende
33
Obschon es unglaublich aufwändig ist, dieses situationale Bedeutungserleben konzeptionell
zu erklären, dazu s. GENDLIN´s „A Process Model“
32
Verlegenheit zur Seite stellen (Freiraum!) und für das eigene innere Erleben achtsam sein
kann, bekommt man unmittelbar einen Eindruck von dem, was „hier gerade los ist“, wie die
Stimmung ist, vielleicht sogar, was als nächstes passieren kann.
Neu soll hier nur sein, dass der Lernende beginnt, auf diese innere Resonanz zu achten und
aus ihr heraus den nächsten Schritt zu machen. Um dann wieder sorgfältig aufzunehmen, was
dann weiter geschieht, drinnen wie draußen. Und sich die Situation dann spürbar ändert, was
ich wieder aufnehmen kann, mich anregen oder abstellen lassen kann, mittun oder einfach nur
mitspüren. Die Erfahrung wird sein, dass sich auf diese Weise komplexere Dinge aufnehmen
lassen (die Situation) und vor allem andere Prozesse beginnen, wenn ich aus diesen inneren
Resonanzen heraus handele. Ich aus solch einem Gespür heraus z.B. sage: „hier stinkt doch
etwas!“ – statt zu analysieren, was hier schief läuft, um mit einer „fertigen“ Erklärung
aufwarten zu können. Es wird etwas anderes passieren!34
Dann wird es wichtig werden, Bewertungskategorien für das durch meinen Beitrag veränderte
Geschehen zu entwickeln oder zu erlernen. Zunächst allerdings keine Kriterien, die das
Geschehen in Hinblick auf „Störung“, Problematik oder Gesundung beurteilen, sondern in
Hinblick auf die Dynamik des Geschehens. Wird der laufende Prozess, an dem ich beteiligt
bin, breiter / schmaler, tiefer / flacher, schneller / langsamer, reicher / ärmer ....? Hier können
auch Metaphern hilfreich sein, die meist hochkomplexen und überdeterminierten
Bewegungs- und Intensitätsveränderungen zu beschreiben: „Stromschnellen“, „mühsamer
Aufstieg“, „die Zügel schießen lassen“, „die Schleusen öffnen“ – oder auch „verknoten“,
„erlahmen“ ....
Solche Qualitätskriterien für dynamische Vorgänge sollten im weiteren unbedingt
ausgesprochen, ausgetauscht, abgeglichen werden. Das könnte zu der Erfahrung führen, dass
die Vorgänge an verschiedenen Orten im Raum sehr verschieden erlebt werden können. Und
dies wiederum könnte erhellend dafür sein, dass es sich an dieser Stelle nicht um eine
Objektivierung handelt, die als wahr oder falsch beurteilt werden könnte, sondern um
Erlebensmaterial und Symbolisierungen, die wiederum in den Prozess zurück geschlauft
werden können, um weiter zu sehen.
34
Es ist evident, dass bei diesem Vorgehen auf vermeintliche Genauigkeit („die Stimmung ist
schlecht, weil A nicht aufgenommen hat, was B gesagt hat“) und auf die damit verbundene
vermeintliche Expertenrolle verzichtet werden muss. Ein Verzicht der vielleicht zu
verschmerzen ist?
33
Was wäre denn aber für meine Wahrnehmungen und meine Symbolisierungen ein
Qualitätskriterium, wenn es nicht um wahr / falsch geht? Eine Teilantwort wurde schon weiter
oben gegeben: es geht um das innere Erleben von Stimmigkeit: ja, genau so kommt es mir
vor, „wie eine Stromschnelle“! Geht es darüber hinaus um reine Nützlichkeitserwägungen
(wie „bringt was / bringt nichts“)? Aber Nützlichkeit wofür? Auch dazu gab es oben im Text
schon eine Teilantwort: wir sitzen nicht von ungefähr zusammen, es gibt hier ein Leid, das
„zieht“, das eine Hinsicht und damit eine Abgleichsvorgabe für das Geschehen bildet.
Letztlich bleiben diese Antwortversuche aber zu kurz gegriffen, wenn hier nicht ein
Krankheits- und Menschenbild in Anschlag gebracht wird. Erst grundlegende Vorstellungen
von Gesundheit und Erkrankung, von menschlichen Entwicklungspotenzialen und deren
Einschränkung, letztlich von Lebenssinn und Lebensbedeutung geben die Grundmatrix ab,
von der her eine Evaluation des Geschehens möglich ist. Wie sonst könnte man Menschen
z.B. zumuten, sich durch bestimmte Situationen auch einmal hindurch quälen zu müssen35,
wenn nicht legitimiert durch solche wohlverstandenen und explizit gemachten (!)
Grundannahmen?
Die Klärung der therapeuten-eigenen Wertsetzungen kann nun kaum vor Ort, in der
jeweiligen Gruppe oder im Zweiersetting erfolgen. Es handelt sich ja um meta-praktische
Erwägungen und Klärungen, die den Rahmen des Geschehens sprengen oder in eine „ungute“
Richtung treiben kann. Nicht zuletzt brauchen ein Anfänger wie Fortgeschrittene sicher einen
eigenen Freiraum und auch Schutz für diese Vergegenwärtigungen, weil sie – der Leser ahnt
schon: verschlauft, verschlauft, verschlauft! – das existentielle So-Sein einer Person betreffen,
ganz sicher mit tiefen emotionalen Prozessen einher gehen müssen. Hier öffnet sich die
Perspektive auf die Notwendigkeit von Eigentherapie und Supervision. Für diese
Veranstaltungen darf nun allerdings nicht plötzlich ein anderer Standard gelten, hier soll nicht
festgelegt werden, was richtig / falsch, brauchbar / unbrauchbar, fortgeschritten / unreif sein
35
Diese Aussage gilt letztlich für alle therapeutischen und auch pädagogischen Verfahren: es
ist gleich, ob ein Patient in einer Reizkonfrontation „gequält“ wird, oder in einer
Auseinandersetzung mit Schuld, oder beim Erlernen eines Instruments. Um die
Menschenbildfrage kommt man nicht herum, auch wenn sich – ein großes Dilemma –
akademische Psychologie hinter ausschnitthaften „wenn – dann – Ergebnissen verstecken
muss (wenn Reizkonfrontation dann in 66% Besserung...). Das Elend liegt darin, dass sich die
Psychologie zunehmend als „naturwissenschaftlich“ selbst-missversteht. Die Folgen werden
zu besichtigen sein.
34
soll. Es braucht stattdessen einen erfahrenen Ausbilder, eine erfahrene Supervisorin die
haltungs- und prozesskongruent36 mit dem Erleben der jungen oder alten Kolleginnen
umgehen können!
Aber kehren wir zurück an den Ort des Geschehens und zu der Frage, wie man zyklisches
Denken vielleicht erlernen kann. Wenn die Grunderfahrung da ist, dass mein Dazutun das
Geschehen im Raum immer weiter verändert – und ich auch nur als bereits Veränderter in der
Gruppe, im Gegenüber zu einer Person sitzen kann, wenn ein Gespür für dieses ständige
wechselseitige Anverwandeln geschult ist, dann kann gelernt werden, mit welchen Mitteln der
Prozess vielleicht absichtsvoll verändert werden kann. Hier warten Überraschungen ganz
eigener Art auf den Anfänger! Was z.B. passieren kann, wenn man das Geschehen gern
zentrieren möchte: es kann gelingen („lassen Sie uns doch einmal bei diesem Thema
bleiben“), oder es kann gerade zum Gegenteil führen, es blühen die Nebenaspekte! Oder
umgekehrt, ein Thema soll ausgeweitet oder angereichert werden: wie sich das Gegenüber auf
einmal auf einem für ihn wichtigen speziellen Punkt geradezu versteift!
Zum Glück muss man diese und andere Erfahrungen nicht alle im trial-and-error Verfahren
heraus bekommen, es gibt viel Wissen um die Wirkung von Arten zu sprechen oder zu
intervenieren. Gesprächspsychotherapeutische Verbalisierungen, erprobte Anleitungs- oder
Deutungsformulierungen gehören dazu, wenn ich mich für das entsprechende Menschenbild
entscheiden kann. Oder strategische, suggestive, rhetorische Finessen, die allerdings ein etwas
anderes Beziehungs- und Veränderungsverständnis voraussetzen.
Jetzt könnte es wichtig werden, den Blick und das Verständnis auch für Muster zu schulen.
Der Prozess, das Hin- und Her der Rede, das sich-Entspinnen der Themen verläuft nicht
immer völlig offen und in den o.g. Hinsichten produktiv. Da zeigen sich hartnäckige
Erlebens-, Wahrnehmungs- und Verhaltensstereotypen, wiederkehrende, fast vorhersagbare
Muster im Geschehen. Nun ist auch das keine atemberaubende Entdeckung, schon Onkel
Franz wurde bei einem bestimmten Thema immer sehr streng, oder Oma Lise musste an
bestimmten Stellen immer weinen. Aber die Muster, um die es hier geht, sind ja in dieser
speziellen Hinsicht interessant: sind sie einer Veränderung hinderlich? Oder haben sie sogar
bestimmte Stärken, die genutzt werden können?
36
s. auch die Konzeption der „Selbstähnlichkeiten“ in selbstorganisierenden Prozessen
35
Muster kann man überall entdecken: individuelle Muster (Charakterstrukturen, states,
Schemata, KEV etc. genannt), Kommunikationsmuster, Bindungsmuster, Problemlösemuster
u.v.a.m.. Eine fundierte Auswahl von Mustern und Musterlogiken sollte der Lernende sich
sicher aneignen, was aber noch wichtiger wäre, ist eine Haltung zu solchen
Einordnungssystemen. Es geht sicher nicht um das „Glauben an...“37, sondern um das
handhaben Können von Einteilungssystemen – und das zeigt sich spätestens im humorvollen
Umgang damit, und im loslassen und sich von einer anderen Sicht einnehmen lassen Können!
37
Obwohl das durchaus auch schon förderlich sein kann. Es gibt viele Menschen, die z.B. in
der Orientierung an Sternzeichen sich ganz achtbar durchs Leben und zwischen den
Mitmenschen bewegen.
36
... und nicht nur im Kopf!
Ein letzter Aspekt einer denkbaren Schulung im zyklischen Denken sei aufgeführt. Die
Hinwendung zu und das Arbeiten mit körperlichen Vorgängen ist eine unerschöpfliche Quelle
für Erfahrungen. Beim Körper oder Leib haben wir es ja auch mit einem „Wesen“ zu tun, das
ständig in Umwandlung, ständig mit der Herstellung der eigenen Existenzbedingungen – bei
gleichzeitig erstaunlicher Konstanz – zu würdigen ist. Und er weist Lebensvollzüge
(Prozesse) auf, die teilautonom, d.h. kurzfristig und in Grenzen beeinflussbar sind, dann aber
wieder losgelassen werden müssen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Atmung (der
Ernährungszyklus, der Schlaf-Wach-Rhythmus ...), wie alle anderen lebendigen Prozesse
auch ein zyklisch verlaufendes Geschehen, an dem wir vieles beispielhaft lernen können. Wie
wir bei uns selbst Abläufe kurzfristig manipulieren können (kräftig durchatmen, um in eine
tätige, tüchtige Stimmung zu kommen), auch langfristig schulen, um andere Erlebens-,
Belastungs- und Ausdrucksmöglichkeiten zu haben, aber deren zyklische Grundform wir
nicht durchbrechen können. Zugleich kann man erleben, wie zyklische Vorgänge immer
verhängt sind mit anderen: die Atmung mit dem Kreislauf, der Nahrung, der Bewegung...,
nichts für sich allein steht, jede Veränderung Veränderungen an anderen Prozessen mit sich
zieht38. Und erst die Erfahrungen, die man machen kann, wenn man versucht, den Körper
eines anderen Menschen „hilfreich“ zu beeinflussen! Hier kommt dann zu den angedeuteten
Möglichkeit und Grenzen noch die gesamte Kontakt- und Bindungswelt dazu, die ihrerseits
zyklisch zu begreifen wäre.
Die Bereicherung durch systematische Erfahrungen mit dem eigenen und dem Körper von
anderen Menschen ist kaum zu unterschätzen, vor allem auch in Hinblick auf zyklisches
Denken. Das kann hier nur kurz angerissen werden, es sei aber erlaubt, eine bestimmte Szene
beispielhaft auszuleuchten, um auf eine beabsichtigte Quintessenz zu kommen.
Ein Mensch sitzt mit hängenden Schultern, die Atmung flach, die Stimmung gedrückt, die
Stimme tonlos. Ein Therapeut, ihm gegenüber, nimmt den Gesamteindruck auf, gerät beim
Einfühlen vielleicht auch in eine Art subtonische Verfassung, kann eine Art Dämpfung spüren
und gleichzeitig den Impuls registrieren, dem entgegen zu wirken. Indem er sich bewegt, den
Kontakt forciert, lauter spricht. Kann dieses Erleben aber auch in der Schwebe halten (s.o.)
und seine organismische Empathie oder Resonanz eher dazu nutzen genauer heraus zu finden,
38
Weiter oben wurde ja schon konzeptionell vertieft über zyklische Vorgänge und
Verhältnisse Auskunft gegeben.
37
wohin beim Klienten es seine Aufmerksamkeit besonders zieht und was es dort seiner
„somatischen Resonanz“39 nach wohl braucht. Ah, auf die Atmung. Kann, das Einverständnis
des Klienten vorausgesetzt, eine Hand auf dessen Stirn, die andere auf dessen Rücken legen,
wie um den Kopf etwas zu stützen, dem Oberkörper etwas Halt zu geben. Der Klient könnte
aufgefordert werden, gegen oder in die Hand auf dem Rücken zu atmen, es beginnen leicht
angestrengte Versuche mit tieferer Atmung, die bald wieder eingestellt werden. Stille. Der
Therapeut bleibt dort. Spürt nach einer Weile, dass der Kopf des Klienten in der Stirnhand
schwerer zu werden scheint und öffnet diese ganz feinspürig, kaum sichtbar. Die Stirn, der
Kopf kommt noch ein wenig mehr in die Hand, lehnt sich fast an. Bei der Atmung entsteht
eine Art Seufzen, die Schultern werden leicht gehoben und im Ausatmen wieder wie fallen
gelassen. Der Therapeut schiebt die Rückenhand weiter nach unten, Richtung unterer Rücken
– oben wird die Atmung wieder flacher, der Kopf scheint wie in der Hand inne zu halten. Der
Therapeut schiebt die Rückenhand wieder nach oben, noch Stille. Wiederholt dann die
Schiebebewegung, ganz leicht, an das Einatmen angehängt. Nach einer guten Weile rollen
sich die Schultern des Klienten ein wenig nach vorn ein, als würden sie die Bewegung der
Rückenhand aufnehmen und fortsetzen. Der Kopf wird wieder schwerer. Der Therapeut atmet
ein wenig mit, betont das Ausatmen, legt einen kleinen Seufzer hinein. Wieder ein kleines
Erstarren als Antwort, dann plötzlich ein kräftiges Heben der Schultern und ein deutliches
körperliches Fallen Lassen – und Schluchzen.
Später einige wenige Worte. Es ist zu viel. Es geht immer nicht. Gesenkter Blick, ein wenig
Verlegenheit, aber auch einverständige Ruhe.
Diese Szene hat etwas selbst – Evidentes, was für sich genommen keiner großen Erklärung
bedarf. Ich formuliere in Hinblick auf das Thema trotzdem einige konzeptionelle Gedanken.
Zunächst möchte ich das Augenmerk darauf richten, dass der Therapeut sich geirrt hat, wenn
man so will. Er hatte doch den Impuls, auf die Atmung des Klienten einzugehen. Man kann
aber nicht sagen, er habe eine atemtherapeutische Intervention gemacht, oder? Schon hier
wird deutlich, dass es vielleicht gar nicht um Interventionen im engeren Sinne geht, wenn der
Therapeut zum leidvollen Selbstorganisationsprozess des Klienten dazu kommt, um an einem
gemeinsamen Prozess teilzunehmen. Insofern darf die Absicht, die Idee des Dazukommens
auch falsch sein – wenn, ja wenn Offenheit für den folgenden Prozess vorhanden ist und im
39
im Sinne von S. Keleman, z.B. in: Bonding. A Somatic-emotional Approach to
Transference (1987)
38
erlebten gemeinsamen Geschehen alle neu aufkommenden Regungen und Veränderungen
aufgenommen und beantwortet40 werden können. Dazu gehört auch Stille, Innehalten,
Abwarten, Geschehen- oder Entstehenlassen. In dem Geschehen, das sich dann entfalten
kann, wird es darüber hinaus auf eine bestimmte Art unkenntlich und auch unbedeutend, was
Ursache und was Wirkung ist, da das Momentum für das jeweilig Nächste aus dem
gemeinsamen Prozess entsteht, der auf integrale Weise die Impulse und Bewegungen
aufnimmt und im nächsten Geschehen „ausdrückt“. Der Prozess entspinnt sich dann in
gewisser Weise aus sich selbst heraus, getragen von der Bezogenheit der Beteiligten
aufeinander. Alles, was dann geschieht, wird selbstreferentiell wirksam, ist Nahrung für den
nächsten Schritt. Der Weg entsteht hier tatsächlich beim Gehen, aber eben nicht beliebig,
sondern genährt von den Eingaben der Beteiligten und gerichtet durch den Zweck des
Unternehmens wie von der „Sehnsucht der Zellen“ nach Selbsterhaltung und Selbstentfaltung.
Sich diesem Prozess überlassen zu können, sich geradezu von ihm leiten zu lassen, erfordert
Vertrauen (das allerdings im gelingenden Fall sofort spürbar belohnt wird, auch ein
selbsttragender Prozess!) und erfordert: zyklisches Denken, ohne das solche Vorgänge nicht
kognitiv erfassbar und beschreibbar sind. Es ist ja vermutlich deutlich geworden, wie sehr die
engeren naturwissenschaftlichen (linear entwickelten) Kategorien von wahr / falsch, Ursache /
Wirkung oder subjektiv / objektiv hier nicht zielführend sind. Sie können sogar, wenn man
auf ihnen besteht, das Entstehen des Prozesses nachhaltig stören oder gar verunmöglichen.
Was zu verstehen wäre: wir sind lebendige und sinn- bzw. bedeutungsgeleitete Wesen, die
von Grund auf auch nicht allein lebensfähig wären, also bindungsangewiesen sind. Kurz: wir
brauchen eine psychotherapeutische Unterstützung, die unseren komplexen Existenzbedingungen gerecht werden muss und auch nur durch komplexe Verstehensbewegungen
erfasst werden kann. Diese sollten mit einbeziehen, dass es immer schon eine genutzte oder
verpasste Veränderung bedeutet, wenn ein Mensch zu einem anderen dazu kommt, wenn
etwas Gemeinsames entstehen darf. Das ist der Unterschied zum engeren (auch älteren!)
physikalischen Denken, das sich mit gegebenen, unverfügbaren Dingen beschäftigt. In der
Psychotherapie beschäftigen wir uns mit einem Mitmenschen, dessen Da-Sein mich immer
40
Mir gefällt die trennscharfe Aussage von P.F. Schmid immer wieder gut, die es so auf den
Punkt bringt: „In der personzentrierten Psychotherapie bekommt der Klient Antworten, keine
Interventionen!“ Siehe in P. Frenzel, P. Schmid, M. Winkler: Handbuch der
personenzentrierten Psychotherapie (1992)
39
schon verändert hat, bevor ich auch nur den ersten Gedanken gefasst und die erste Regung
gezeigt habe – und umgekehrt genau so.
40
41
Eine Perspektivumstülpung: das Beziehungslebewesen
Ich möchte versuchen diese Perspektive noch etwas zu radikalisieren. Sobald sich Menschen
mit einer gewissen Zuwendungsbereitschaft an einem Ort einfinden, kann metaphorisch
gesprochen ein Beziehungslebewesen entstehen, das sofort beginnt, seine eigenen Existenzund Entwicklungsmöglichkeiten zu organisieren. Diese Organisation kann im Grunde nur
durch die beteiligten Personen hindurch geschehen, diese bilden die existenznotwendige
Umwelt des Lebewesens. Hier kann es Ressourcen und Überlebensbedingungen finden - oder
eben nicht. Wenn man diese „umgestülpte“ Perspektive auf die oben beschriebene Szene
anwendet, dann kann man denken: der Existenzprozess des Beziehungslebewesens provoziert
und erfragt von den anhängenden Personen bestimmte Aktionen, Worte, Regungen. Wenn die
Umwelt diese Regungen dann mehr oder weniger passend hinein gibt (antwortet), sind durch
die folgenden Veränderungen im Prozesswesen hindurch alle anderen Umwelten unmittelbar
affiziert, werden sich einstellen oder sperren (verlangsamen oder beschleunigen ...), was
wiederum alle anderen implizierten Prozesse ohne Verzug41 verändert. Gehen wir davon aus,
dass die Form dieser Prozesse (die den Existenzprozess des Beziehungslebewesens
organisieren) eine zyklische Gestalt hat: durch bestimmte funktionale Erfordernisse wie
„Nahrung“, „Austausch“, „Anregung“ (...) wie durch die Eigenprozesse aller beteiligten
Elemente vorgegeben. Dadurch können diese Prozesse wiederum energetisch beschrieben
werden: die energetische Perspektive ist neutral gegenüber dem gewählten Ausschnitt oder
der gewählten „Stülpung“.
Zur Erleichterung ein paar Bilder: der Prozess des Beziehungslebewesens erfordert / erfragt in
der beschriebenen Szene die Hand auf den Rücken / an die Stirn. Er „verwertet“ die
Berührungen und bringt das Schluchzen in der „Klienten – Umwelt“ hervor. Er reagiert mit
einem „Totstellreflex“ auf eine nicht – passende Herausforderung von außen, wird dünner,
stiller usw.
Das Denken in dieser Perspektivumstülpung ist manchmal schwierig, das Erleben als beteiligt
an solchen Prozessen uns allen vertraut. Ich erinnere an die Feierszene (s.o.), die eine Person
betritt und sofort von dieser in einer bestimmten Weise angeregt und eingestimmt wird.
Vielleicht erzählt die dazugekommene Person dann bald einen Witz, „weil es hier so fade ist“,
und muss erleben, dass die Stimmung geradezu eisig wird, weil das „Gruppenlebewesen“, die
41
Diese Implizierungsprozesse brauchen keine Zeit, sind nicht sukzessiv.
42
„Atmosphäre“, der „Prozess“ diese Dreingabe nicht verwerten kann resp. mit einem „sich Zusammenziehen“ reagiert. Die ersterbende Stimmung nötigt dann vielleicht einen der
Beteiligten, mit der Witze – Person zu streiten, was den Prozess enorm beleben oder zu einer
weiteren Verengung führen kann ....
Es wird sicher deutlich, dass die zyklische Perspektive so besehen apersonal ist, ein weiteres
Hemmnis, sich auf sie einzulassen. Wir haben in unserer Entwicklung alle viel Mühe darauf
verwenden müssen, uns als originäre Person mit Selbstwirksamkeit zu erleben, können sogar
krank werden, wenn wir dieses Gefühl und diese Perspektive verlieren. Doch es sei daran
erinnert: diese Mühe hat niemand allein aufgebracht, wir sind alle bindungsangewiesen und
somit immer schon und immer weiter „Produkt“ von unzähligen zyklischen Austausch-,
Anregungs- und Begrenzungsprozessen, an denen wir beteiligt waren, die durch uns hindurch
gegangen sind. Und überall leben Prozesse weiter, die uns einmal geformt haben, die aber
auch unabhängig von uns weiter existieren können (Gruppen, Personen, Orte), in die wir uns
wieder hinein begeben können, die uns einholen – oder die uns links liegen lassen ....
Ich möchte jetzt die Überlegungen, ob und wie man zyklisches Denken lernen kann, bei aller
Vorläufigkeit beschließen. Sie waren hoffentlich anregend genug, so dass beim Lesen weitere
Ideen aufgekommen sind – oder auch deutlicher Widerspruch: dass es so gar nicht gehe, man
vielmehr von einer anderen Seite her...
43
Komplexitätsreduktion als Kunst oder als Selbsttäuschung
Vermutlich ist bis hierher klar geworden, dass man im zyklischen Denken mühelos die
Perspektiven ausweiten, die Richtungen ändern, das Terrain anreichern kann. Immer wieder
muss fast sogar betont werden, dass dabei keine Beliebigkeit entstehen soll - und was
vielleicht davor schützen kann. Wenn man Denken noch einmal (s.o.) als Handeln versteht,
geht es dabei immer wieder um Tätigkeiten oder Bewegungen des Ausweitens, des Öffnens,
des Wechselns, des Dazu – Nehmens. Hier scheint auf den ersten Blick die größte Potenz
dieses Denkstils zu liegen, die - einem lebendigen Prozess angemessen - ungeheure
Freiheitsgrade und Veränderungsmöglichkeiten eröffnet. Dies wirkt für ein Unterfangen wie
Psychotherapie, bei dem es oft genug um Wiederbelebung von Abgestorbenem, um Lösung
aus Zwängen und Einengungen, um das Übersteigen von eingefahrenen Wegen geht,
geradezu prädestiniert.
Es ist aber auch lohnend, ein Blick in die Gegenrichtung zu werfen. Oft genug scheint es ja
geradezu zwingend, die Verhältnisse zu vereinfachen, sich zu beschränken, einfach – kausale
Logiken zu benutzen (A kommt von B), oder einer unbegreiflichen Entwicklung nur erst mal
einen Namen zu geben. Selbst erfahrenen Praktikern, die eigentlich recht gut „mehrere Bälle
in der Luft halten können“, steht der Sinn recht schnell nach Einfachheit und Klarheit, wenn
ein Patient zum Beispiel in überwuchernden Schilderungen jede Orientierung verliert, wenn
assoziativ alles mit allem zusammen hängt, wenn das Selbsterleben keine Mitte und kein
Kriterium hat42. Aber muss man notwendiger Weise nicht-zyklisch denken, wenn man so
vorgeht? Ist das Vereinfachen, das bloße Sortieren, ist die kurzbogige lineare Logik oder das
fast willkürliche Auswählen eines Themas („schauen wir uns mal ihre Mutterbeziehung an!“)
aus der Komplexität der Vorgänge das Andere des Zyklischen Denkens?
Wie soll man sich das überhaupt vorstellen? Da wird in einer Psychotherapie in einer
vielleicht sogar mutwilligen Setzung ein Thema ins Zentrum genommen: alle heutigen
Beschwerden seien die Folge von frühkindlichen Mikro – Traumatisierungen (um eine derzeit
gängige Psycho - Währung zu benutzen). Diese Rekonstruktion des Leids stellt natürlich eine
starke Verkürzung dar, bedeutet das Ausblenden von unzähligen anderen Wirkfaktoren und
Zusammenhängen. Nur um einige wichtige zu nennen: der Patient wird zum Opfer seiner
Lebensumstände gemacht, gegenwärtige Bedingungen, die zum Ausbruch und zur
42
Warum ausgerechnet die akademische Psychotherapieforschung überwiegend nach
Vereinfachung strebt, soll weiter unten noch bedacht werden.
44
Stabilisierung des Leids führen, werden ausgeblendet, die akkumulierte Lern- , Verhaltensund Erlebensgeschichte, die es seit der Traumatisierungszeit gibt, wird als bloße „Folge
von...“ subsumiert und damit scheinbar nebensächlich43. Das Reduzieren der komplexen
Wirkstrukturen auf einen einzigen Ursachenzusammenhang oder ein einziges Thema stellt
also eine Wahl dar, die wie jede Auswahl Gewinne und Verluste zeitigt. Der Gewinn liegt
erkennbar in einer gewissen Überschaubarkeit und in einer eingängigen Einfachheit, die es
vermutlich erleichtert, dass der Patient sowohl eine Logik in der Konzeption erkennt als auch
einen Sinn für sein Leiden findet. Sie kann dem Therapeuten eine Handlungsorientierung
geben, für den Patienten sind die nächsten Schritte impliziert und gangbar. Wenn der
Zusammenhang so ist (A bewirkt B) dann sollte man folgerichtig .... probieren, lernen,
stärken (A verändern)44. Es ist durchaus hilfreich, wenn die Komplexitätsreduktion eine
leichter handhabbare und verstehbare Draufsicht ermöglicht, in den Fällen, in denen
-
Wucherungsprozesse (eine Angst stößt die andere an, Ideenflucht o.ä.),
-
Entgrenzungen (der Patient verliert seinen Halt und einen gesunden Selbstbezug, wie bei
Süchten z.B.) oder
-
sich – selbst stimulierende Aufschaukelprozesse (impulsive Wut, Eifersucht u.a.) aber
auch
-
Lernnotwendigkeiten (die Disziplin oder Verzicht verlangen)
eine zentrale Rolle spielen, ist Begrenzung, Einfachheit und Klarheit geradezu unabdingbar,
stellen im Grunde ja schon einen Hauptzug der Behandlung dar. Für die vielen anderen Fälle,
in denen solche Themen keine dominierende Rolle spielen, kann man so etwas wie
Qualitätskriterien angeben, die eine Vereinfachung aufweisen sollte, damit sie in einem
resonanten Verhältnis zur komplexen Vielfalt bleibt. Die Beschränkung sollte die
Komplexität
43
Es wäre so verlockend, an dieser Stelle einmal mehr die scheinbar zwingende Erfindung
der beschädigten oder eingeschränkten Hirnfunktionen in Frage zu stellen. Wie sonst könnte
eine Ereigniskette, weit in der Vergangenheit liegend, solch verschiedene Folgen haben:
körperliche Symptome, eingeschränktes Erlebensspektrum, fragwürdige
Beziehungsaufnahmen (...) wenn nicht ein zentrales Organ befallen wäre, das all die
angesprochenen Malaisen steuerte? Ja, wie sonst? Da bräuchte man dann eine schlüssige
Theorie und eine dazugehörige Anthropologie. Das Starren auf Hirnfunktionsstörungen nach
Traumatisierungen ist sozusagen die Absage an jegliche psychologische Theoriebildung.
Soweit von Psychologen betrieben: die Selbstabschaffung der Psychologie.
44
Vom Beziehungslebewesen (s.o.) her gedacht kann man sich vorstellen, dass eine
Vereinfachung dann gut und brauchbar ist, wenn sie bei beiden beteiligten Personen
„anschlussfähig“ ist – und damit dass Lebewesen ein paar weitere Schritte tun kann.
45
-
ordnen (und ihr dabei gerecht werden),
-
sie symbolisieren (wie im Focusing oder bei Metaphern z.B.) oder
-
repräsentieren (wie bei Beispielen oder pars-pro-toto Strategien)
Diese Aufzählung ist sicher nicht vollständig, es kommt mir auch eher darauf an zu zeigen,
dass die Reduktion in einem bestimmten Verhältnis zur Komplexität stehen muss, damit sie
wertig bleibt. Dieses Verhältnis habe ich oben „resonant“ genannt und meine damit, dass die
Art der Vereinfachung in einem wohltuenden Bezug zur Wirklichkeit bleiben sollte. Sie
sollte sie möglichst nicht verarmen oder ersterben lassen (ich erinnere an meine kritischen
Erwägungen beim Watzlawick –Beispiel), sie sollte offen und flexibel bleiben für
Veränderungen im komplexen Gefüge (das ändert sich sicher ständig!) und sie sollte die
Funktion eines Hilfsmittels oder Instruments aufweisen, das Zugang zur gegebenen
Komplexität ermöglicht, so wie es Landkarten, Koffergriffe oder Metaphern vermögen45.
Und was passiert, oft genug, wenn eine Behandlung stur einem einmal gefundenen Faden
oder einer Konzeption folgt? Es tauchen Prozesse und Themen auf, die den scheinbaren
Gewinn der vorgenommenen Komplexitätsreduktion gefährden oder gar zunichte machen.
Als Beispiel sei angeführt, wie die erste Euphorie der Traumabehandlung mit der EMDR –
Technik schnell verflog, weil das „Abwedeln“ der belastenden Erinnerungsspuren nicht
funktionierte, wenn nicht gleichzeitig die Selbstbewertung der traumatisierten Person mit in
den Blick genommen wurde, ihre Scham, Schuld- und Unzulänglichkeitskomplexe. Und dass
die Traumabehandlung unvollständig bleibt, wenn dem Erlittenen nicht auch ein Stellenwert,
ein Sinn in der Lebensgeschichte des Patienten zugewonnen werden kann.
Was also als vermeintliche Vereinfachung, als handhabbare Technik, als „one strategy fits
all“ begann, führt zu einem Aufblühen aller möglichen Zusatzaspekte, wie durch die Hintertür
mogeln sich Sinn- und Selbstwertfragen, Selbstbeziehungs- und Bindungsaspekte, personale
Besonderheiten und scheinbar abseitige Bewältigungsversuche ins therapeutische Geschehen
45
Mit der instrumentellen Funktion soll durchaus auch eine gewisse Ökonomie, ein rechtes
Maß ins Spiel kommen. Der Koffergriff sollte nicht größer sein als das Gepäckstück, die
Karte sollte dem Bedarf (Wanderer oder Fernfahrer?), die Metapher dem Kulturkreis des
Zuhörers angepasst sein. Es geht hier also fast eher um Brauchbarkeit als um Genauigkeit...
46
hinein und müssen berücksichtigt werden46. Man darf annehmen, dass jede nicht-resonante
Reduktion im Denken und Tun über kurz oder lang Schwächen oder Lücken offenbaren wird.
Oder, um es positiv zu formulieren: übergangene oder ausgeblendete Aspekte sich melden
werden, in welcher Form oder Sprache auch immer. Und nun kommt es natürlich wieder
darauf an, ob die Beteiligten, zuvorderst der Therapeut, offen genug sind, das Marginalisierte
aufzunehmen, zu würdigen, hier einen Wegehinweis zu sehen.
Nicht–zyklisches Denken wäre somit nicht zwingend im Vereinfachen, im Reduzieren, im
Auswählen zu erkennen. Diese Vorgehensweisen können wie gezeigt sogar ein unerlässliches
und sehr probates Mittel mitten in einem zyklischen Bedingungs- und Wirkgeflecht sein. Um
es auf den Punkt zu bringen: die Vereinfachung kann durchaus der Komplexität gerecht
werden47, wenn – ja wenn! – nicht an sie geglaubt wird! Wenn es nicht so gehen und wirken
muss, wie die Vereinfachung nahe legt. Wenn die Wirklichkeit (wir erinnern uns: „alles, was
der Fall ist“ laut Wittgenstein!) nicht in ein Korsett gezwungen werden, nicht als Beleg für
eine Annahme, eine Theorie, eine Glaubensrichtung zurechtgebogen werden muss. Es braucht
stattdessen eine Auffassung von Wirklichkeit, die jederzeit bereit ist sich korrigieren zu
lassen. Und die für möglich hält, dass die Wirklichkeit immer vielfältiger ist, als eine
Meinung über sie oder Wissen von ihr.
46
Nach meinem Kenntnisstand ist die EMDR - Traumatherapie aus diesem Grund ein hoch
individualisiertes Vorgehen geworden, in manchen Zügen beinahe eine personzentrierte
Arbeit ...
47
In der Kunstgeschichte ein altes Thema, man sehe sich nur die karg wirkenden
Kohlezeichnungen von Picasso an...
47
Mitten im Denken: eine Haltung
Lande ich hier bei einer Haltung, die in dieser Weise, hinter aller intellektuellen
Beweglichkeit und allem breitbandigen Wissen konstitutiv für zyklisches Denken wäre? Was
aber meint Haltung im Zusammenhang mit einer Konzeption vom Denken? Ich kehre zu der
Vorstellung von Denken als Handeln und dem nicht nur metaphorisch gemeinten Begriff der
Denkbewegung zurück. Hier ist leicht zu verstehen: eine (innere) Haltung gibt Handlungen
eine Wert – Richtung, nehmen wir nur das Beispiel einer Spende in den Hut eines
Obdachlosen, die zur Selbstaufwertung genutzt oder „aus reinem Herzen“ gegeben werden
kann, weil man es gerade so gut hat im Leben und andere teilhaben lassen will. Von außen
wäre kein Unterschied zu erkennen, nicht mal für den Beschenkten, aber die Folgen sind
möglicherweise verschieden. Im letzteren Fall wird „das Gute“ in der Welt vermehrt, ethisch
reife Wertsetzungen wie Anteilnahme, Bezogenheit, Offenheit. Man stelle sich nur vor, ein
Kind würde in dieser Szene fragen, warum der Spender Geld gegeben hat. Welch eine
unterschiedliche Wirkung hätten die beiden verschiedenen Auskünfte...
Eine Haltung organisiert und „tönt“ auch Bewegungen. Beinahe jeder mit der Szenerie
Vertraute kann den Unterschied zwischen einem selbstversunkenen Tanzvortrag und einer
Darstellung erkennen, die auf bloße Wirkung angelegt ist – was in einer frontalen
Filmaufnahme (das objektive Medium, scheinbar) möglicherweise nicht erfassbar ist. Und
sogar in einer so konzentriert kognitiven Tätigkeit wie dem Schachspielen, die eine scheinbar
reine Geistesanstrengung darstellt, entscheidet im Wettkampf die Einstellung, also eine
Haltung zum Spiel, oft über Strategie, über Sieg oder Niederlage.
Die Frage danach, was Haltung in der Beschreibung von Denkstilen zu suchen hat, entpuppt
sich als Scheinfrage, als Folge jener merkwürdig „objektivistischen“ Vorstellung, Werte und
Wirken, Ethik und Handeln, Menschenbild und Psychologie ließen sich trennen48. Die letzte
Facette, die ich somit zu den Qualitäten des zyklischen Denkens hinzufügen will, ist der
integrale Aspekt einer Sinn- und Wertegeleitetheit. Es gibt keine menschliche Daseinsform,
die darauf verzichten könnte, die im reinen Funktionieren von zellulären (auch neuronalen)
Abläufen bestünde. Es braucht also eine spezifische Haltung, um zyklisch zu denken – und
wer zyklisch zu denken beginnt, stößt unweigerlich auf eine Perspektive, die es nahe legt, von
48
... wie in den Naturwissenschaften es möglich und wünschenswert erscheint, Messungen
und Theoriebildungen personenunabhängig zu konzipieren.
48
der grundlegenden Vernetzung und Co-Kreation alles Lebendigen auszugehen. Welche
Schlüsse daraus auch immer gezogen werden mögen...
49
Ein Qualitätskriterium für professionelle Psychotherapie
Mir ist nach etwas Leichtigkeit nach dieser etwas „wuchtigen“ Argumentation. Es ist ja sicher
klar geworden, dass jede Reduktion im Bewusstsein der eigentlichen Komplexität
vorgenommen werden sollte, und man mal wieder die Landkarte nicht mit dem Gebiet
verwechseln darf. Bleibt vielleicht noch die Frage, ob es Hinweise dafür gibt, welche
Bewegungsrichtung verfolgt werden sollte: Anreicherungen, Zyklifizierungen, in-BeziehungSetzen (...) oder Vereinfachen, sich beschränken, auswählen (...)? Vermutlich würden alle
Praktiker sofort einige Prinzipien nennen können, die sie gegebenenfalls bei ihrer
Entscheidung für das eine oder das andere leiten. Mich reizt es aber eher, beide Strategien als
angesiedelt im selben Gebiet, als Pole in der selben Dimension anzusehen. Dann wären wir
wieder bei der Vorstellung von einer Art Pendeln: ich kann mich in die eine Richtung
bewegen, dann in die andere wechseln. Allerdings eher nicht rhythmisch oder sonst wie
regelmäßig, sondern aus einem Gespür für das heraus, was hier not tut. Es könnte dann ein
dynamisches Wechselspiel von beiden Bewegungsrichtungen entstehen. Die (vorläufige)
Gewissheit, in der richtigen Richtung unterwegs zu sein, ergibt sich dabei aus einer
Gesamtempfindung für das Pendeln, für die Wechselmöglichkeiten, nicht aus ableitbaren
Gewissheiten oder logischer Argumentation für einen „Zug“. Was beschreibe ich hier?
Improvisierte Musik, Tanz, Spiel! Hier ist alles möglich, das Zitieren einer Fuge mitten in
einem Jazzsolo, Verlangsamungen und Beschleunigungen in der Bewegung, lautes und leises
Miteinander – Sein. Ich meine hier das Qualitätskriterium für eine wirklich professionelle
Psychotherapie dingfest machen zu können: es ist wünschenswert, dass ein Gespür, eine
Bewegungsgewissheit, eine Bindungsfähigkeit für den gemeinsamen Tanz entwickelt wird,
die das Laute kennt, wenn es leise wird, um den Reichtum weiß, wenn es schmal wird, die
Grenzen spürt, wenn es ausufert.
Wie kommt man da hin? Die Antworten gelten für alle „Künstler“, aber natürlich nicht für
alle gleich. Es braucht Erfahrungen, die sich anreichern können (wie ist es, einem Patienten
gegenüber zu sitzen ...?), es braucht Wissen, durchaus auch Faktenwissen (wie tragen
Muskeln eine Angst, wie geht Lernen, funktioniert Gedächtnis...?), es braucht Fertigkeiten,
die man üben muss (wie macht man eine Anamnese, wie massiert man?) – und es braucht
geübt Sein und vertraut Sein mit Vergegenwärtigungsbewegungen (wo sind wir hier, wie
kann man das verstehen, wie kann man das auch anders sehen...?)
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Und es braucht die angesprochene Haltung, die vielleicht auch mit Demut zu tun hat. So ist
mir z.B. im gesamten letzten Argumentationszug die Perspektive schleichend mehr zu einer
„therapeutenzentrierten“ Ausrichtung hin gerutscht. Der Behandler weitet aus oder begrenzt,
er zyklifiziert oder schneidet ab – und die richtige Haltung muss er auch noch haben, damit es
etwas wird. Vom zyklischen Denken her gesehen habe ich hier eine massive Reduktion
vollzogen, denn das lässt eigentlich wissen, dass solch eine isolierte Entscheidungs- und
Einflussmöglichkeit immer schon gebrochen und durchzogen ist vom Anderen, von der
Situation, vom gemeinsam erstellten Feld. Um es noch genauer zu sagen: die „Wahl“ einer
Strategie, einer Perspektive, einer Handlung ist immer die Wahl in einer konkreten Situation –
und die wird gemeinsam hergestellt. Der Patient „erinnert“ den Therapeuten an sein Wissen
und seine Fertigkeiten, wie die Gegenwart des Behandlers bestimmte Möglichkeiten des
Patienten hervorruft oder verschließt. Der dann entstehende Prozess ist – ich wiederhole mich
vermutlich – nicht durch individuelle Zutaten zu erklären, obwohl die natürlich auch eine
Rolle spielen. Aber es geht eben anders als beim Kuchenbacken zu: ob etwas wie Zucker, wie
Stärke, oder wie Eiweiß wirkt, entscheidet sich erst im Fluss der jeweils hervorgerufenen
Ereignisse.
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