Auf zu neuen Schritten.
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Auf zu neuen Schritten.
Auf zu neuen Schritten. Menschen erzählen über ihre Neuorientierung. Editorial. Die acht Geschichten von Menschen in dieser Broschüre erstaunen und berühren mich – und Sie vielleicht ebenfalls. So viele Möglichkeiten gibt es in einem grossen Unternehmen, sich neu zu orientieren. Die porträtierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben sie genutzt. Und die SBB hat sie bei ihren neuen Schritten unterstützt. Die SBB ist eine sozial verantwortungsvolle Arbeitgeberin. Seit zehn Jahren begleitet Neuorientierung & Arbeit (NOA) Mitarbeitende, die eine neue berufliche Perspektive suchen müssen oder suchen wollen. Schon zum dritten Mal berichtet ein Büchlein über solche persönliche Richtungs wechsel. Am Anfang der Neuorientierung steht häufig ein Stellenverlust. Oft, aber nicht immer. Seit einiger Zeit unterstützt die SBB mit NOA zunehmend auch andere Menschen. Jene, die auf ihre berufliche Zukunft mehr Einfluss nehmen möchten, jene, die in vorgerücktem Alter etwas Neues an packen wollen. Dazu junge Berufsleute, die nach abgeschlossener Lehre noch keine Stelle finden. Als Ausdruck dieser ständigen Weiterentwicklung hat sich NOA auf Anfang 2011 einen neuen Namen gegeben: Arbeitsmarktcenter. Der Namens wechsel drückt aus, dass der Erfolg auf dem Arbeitsmarkt im Zentrum steht und nicht der Stellenverlust. «Arbeitsmarktfähigkeit» ist ein Schlüs selwort unserer Personalpolitik. Wir unterstützen die Mitarbeitenden, auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen. In diesem Sinn ist mir ganz wichtig: Die SBB begleitet und fördert die per sönliche Neuorientierung – noch wichtiger ist aber die Eigenverantwor tung. Wer sich neu ausrichtet, braucht Mut, Offenheit und Lernbereitschaft, muss bisherige Gewohnheiten und als selbstverständlich empfundene Eigenarten kritisch überprüfen. Er oder sie muss sich also mit sich selber einlassen. Wie wichtig diese Fähigkeiten und die richtige Einstellung sind, das zeigen diese Biographien. Andreas Meyer CEO SBB 3 Eine Frau will eigene Bahnhöfe haben. 4 Sie sei kontaktfreudig, hilfsbereit, habe ein gutes Auffassungsvermögen und gehe immer gerne zur Arbeit. So habe sie sich in ihren Motivations schreiben jeweils dargestellt. Und Motivationsschreiben habe sie einige verfasst, meint Alejna, eine junge, gepflegte Frau, die nach ihrem Lehr abschluss bei der SBB keine Stelle hatte. Es war ihre Schuld. Denn irgendwie hatte sie sich zu stark auf einen guten Lehrabschluss konzen triert und darüber die Stellensuche vernachlässigt. Und eigentlich hatte sie auch keine Idee, wo sie denn mit ihrer Ausbildung «KV im öffentlichen Verkehr» hätte arbeiten wollen. Die Lehre hat ihr gefallen. Spannend war, dass die Arbeitsorte und damit auch die Inhalte sich in regelmässigem Rhythmus geändert haben. Sie war zuerst beim SEV im Büro, dann an den Bahnhöfen Konolfingen und Bern. Sie lernte dort, wie vielfältig die Arbeit am Schalter sein kann. Von Bern aus durfte sie auch mit auf den Zug für die Billettkontrolle. Im dritten Lehrjahr musste sie sich entscheiden zwischen Büro und Schalter. Sie wählte das Büro und arbeitete während des letzten Lehrjahres im Personalbe reich. Alejna ist in Albanien zur Welt gekommen, lebt aber schon lange in der Schweiz und hat hier auch die Schulen besucht. Deutsch, meint sie, liege ihr mehr als Albanisch. Zwar würde sie ihre Muttersprache gerne besser beherrschen. Und ja, wenn sie mit albanischen Freundinnen zusammen sei, dann spreche man ein Gemisch. Weiss man das deutsche Wort nicht, so nimmt man eben das Albanische. Das findet sie eigent lich nicht so gut. Denn ihre Ansprüche sind anders. Sie will, was immer sie tut, es so kompetent wie möglich tun. Ehrgeizig? Ja, schon etwas, meint sie. Deshalb habe sie auch die Arbeitslosigkeit ziemlich deprimiert. Sie bewirbt sich bei Jobin. Das ist ein spezifisches Angebot der SBB für Lehrabgängerinnen und -abgänger. Wer nach dem Lehrabschluss noch keine feste Stelle hat, kann hier in halbjährigen Praktika erste Berufs erfahrungen sammeln und während dieser Zeit nach einer Festanstellung suchen. Alejna macht ihr Praktikum im Gesundheitsmanagement. Sie schaut sich derweil auf dem SBBinternen Stellenmarkt um und ent deckt ihr gutes Gespür. Ihr Bauchgefühl sagt ihr nämlich, der richtige Job werde sich schon zeigen. Und tatsächlich, als eine Stelle ausgeschrie ben ist als Assistentin Immobilienbewirtschaftung, erkennt sie, dass das der Ort ist, an dem sie arbeiten möchte. Sie bewirbt sich motiviert und bekommt die Stelle. Seit dreissig Tagen ist sie nun dort und weiss schon um ihre Vision. Junior-Bewirtschafterin möchte sie werden und eigene Bahnhöfe haben. Nicht alltäglich. Was ist das Spannende daran? Das Vielfältige, wenig Routinearbeit. Da kann es um Mietangelegenheiten gehen oder um Bauund Renovationsarbeiten, Beschwerden und Reklamationen sind zu bearbeiten, Hauswartfirmen müssen gebucht und kontrolliert werden und manchmal ist es ganz schön hart, sagt sie. Wenn Ladengeschäfte Kon kurs gehen, gibt es schon mal Tränen bei den Betroffenen. Da würde sie am liebsten trösten und mitweinen. Noch keine professionelle Haltung, lächelt sie. Oder doch? Ihr Mitgefühl möchte sie nicht wegtrainieren. Alejna hat mit Jobin ihre Traumstelle gefunden, aber nicht nur das, sie bekam Unterstützung im Bewerbungsprozess, aufmunterndes Feedback von ihrer Betreuerin und sie hat viel über sich erfahren in dieser Zeit des Übergangs. Sie weiss jetzt auch: die SBB als grosses Unternehmen bietet viele Möglichkeiten. Bloss ist es an einem selber, die Chancen zu nutzen. Sagt’s und geht zurück an ihre Arbeit. Im Raum bleibt ein blumig frischer Duft zurück. 5 Ein Bubentraum wird wahr. 6 Beat bindet seinen Schlips. Das tut er nicht alle Tage. Aber wer nach einer mehrjährigen Ausbildung sein Diplom abholen will, muss schliesslich eine gute Figur machen. Er lächelt. Wer hätte gedacht, dass er mit mehr als 50 Jahren seinen Bubentraum verwirklichen wird. Und dass ein Stellenverlust der Grund dafür ist. Und jetzt also das Diplom. Er weiss, es war absolut richtig, keinen Tag bereut er. Die Inhalte des Studiums haben ihn gepackt, Langeweile gab es nie. Und weil er berufsbegleitend studierte, konnte er das Gelernte immer wieder direkt in der Praxis erproben. Für ihn war das der beste Lernweg. Als Informatiker hat Beat lange bei der SBB gearbeitet. Er war Netzwerk spezialist. Als er erfährt, dass in seiner Abteilung eine Umstrukturierung geplant wird, handelt er. Er will nicht dem Schicksal ausgeliefert sein. Er will in die Neuorientierung – präventiv. Trotzdem, als er seine Arbeit tatsächlich verliert, ist er verletzt, hat Existenzängste. Grade eben hat die Familie ein Haus gekauft. Wie soll das nur gehen? Ein Vertrauensver lust total ist die Folge, kein Vertrauen in sich selber, keines in das Unter nehmen. Nur die Prüfungszeit, eine Alptraum-Zeit. Schweissgebadet hat er seine Nächte überstanden: kämpfte mit verspäteten Zügen, verfluchte verges senen Stoff oder Fragen, auf die er die Antworten nicht wusste. Tempi passati, Gott sei dank, sein Schlips ist gebunden, heute ist ein Tag zum Feiern. Seine Beraterin bei der Neuorientierung ist ihm eine grosse Stütze. Ihr erzählt er von seinem Bubentraum. Gefängniswärter, ja, das habe er im mer werden wollen. Staunen, da hockt einer, der jahrzehntelang als In formatiker gearbeitet hat und sagt so etwas. Hm, und Sie wollen das noch immer? Ja, sagt Beat. Und ab da startet seine neue berufliche Karriere. Die Beraterin organisiert ihm Schnuppertage in einem Massnahmenvoll zug, wo Menschen darauf vorbereitet werden, wieder «draussen» zu leben, Wiedereingliederung in die Gesellschaft heisst das im Fachjargon. Nach diesen Schnuppertagen weiss er: das ist definitiv seine Welt. Er entscheidet sich für ein halbjähriges Praktikum und hat schon bald die Zusage, dass er danach eine feste Stelle haben kann. Für ihn ist es keine Frage, er wird seine Chance packen. Da allerdings baut ihm das Gesetz eine Hürde. Dort zu arbeiten, ist ab sofort nur noch möglich mit einer Spezialausbildung. Will er das? Will er tatsächlich noch ein Studium machen, sich während dreier Jahre zum Sozialpädagogen ausbilden lassen? Er entscheidet sich, unterschreibt einen Vertrag für eine Festan stellung, verbunden mit einer Ausbildungsverpflichtung. Freiheit, das ist der Begriff, der ihn immer wieder holt, ihn zum Denken anregt. Freiheit, die es für den Menschen absolut nicht gibt. Und im Straf vollzug schon gar nicht. Aber grade dort ist der Wunsch nach Freiheit riesengross. Deshalb hat er seine Diplomarbeit darüber geschrieben. Und sehr praxisorientiert ein Konzept entwickelt, das nun im Umgang mit verwahrten Klienten in der Testphase ist. Der Titel seiner Arbeit lautet «Trotz Verwahrung ein erfülltes Leben». Tiefgründiges liegt ihm eben, aber nicht nur intellektuell. Auf den Grund geht er den Dingen auch beim Tauchen. Als junger Mann war das sein Beruf und während des Studiums bedeutete abtauchen soviel wie auf tanken. Ein Reset, denkt er und lächelt, das Wort gehört zu seiner Infor matik-Vergangenheit. Dann ein Blick in den Spiegel, ernste, nussbraune Augen, ein schmaler Kinnbart, die Haare sauber im Nacken zusammengebunden. Am Hand gelenk die Uhr. Sie ist das Replikat eines Modells für U-Boot-Besatzungen. Es ist wirklich Zeit, Zeit für sein neues Leben. 7 Eine Arbeitsbiografie wird rund. 8 Gut drei Jahre sind es noch, dann geht Martin in Pension. Der schlanke, freundliche Mann wirkt nicht wie jemand, der schon daran denken müsste. Er redet nämlich von Neugier, dass er gerne lernt und davon, dass ihm eine Arbeit gefällt, wo er Menschen begegnen kann. Martin kennt die SBB wie seine eigene Hosentasche. Vor 41 Jahren hat er seine Lehre bei der Bahn gemacht und das Unternehmen während seiner ganzen beruflichen Laufbahn nie verlassen. Anfangs hat er als Betriebsdisponent gearbeitet, dann sich auf den Fahrdienst spezialisiert. Sein «Bahnhof-Konto» ist beträchtlich, er hat mehr als 20 davon als Arbeitsorte kennengelernt. Viel hat sich in dieser Zeit verändert. Heute passiert die Zuglenkung in Betriebsleitzentralen, nicht mehr direkt vor Ort. Da winkt keiner mehr mit der Kelle oder pfeift, wenn der Zug nach Märstetten abfährt. Nein, da bewegt sich nur noch ein kleiner roter Balken auf einem Display. Kein Geruch nach Schotter und Eisen, keine Stimmen auf dem Perron. Die Divisionalisierung zwingt ihn im Jahr 2000 zu einem grossen Kurs wechsel. Im Rückblick ein Gewinn. Damals aber ein rechtes Abenteuer. Zusammen mit zwei weiteren Arbeitskollegen steigt er nämlich um, vom Fahrdienst in den Personaldienst. Keiner von ihnen hatte Erfahrung darin. Er erinnert sich, ihr erstes Ziel war, allen Mitarbeitenden fristge recht und korrekt die Löhne auszubezahlen. Es gelang! Das Drei-MännerTeam hatte aber auch längerfristig Erfolg. Und die Arbeit im Personal dienst, der heute Human Resources oder kurz HR heisst, hat Martin fasziniert und nie mehr losgelassen. Ihm gefällt der Kontakt und der direkte Austausch mit Mitarbeitenden, die Möglichkeit, sie in irgendeiner Weise zu beraten, sei es etwa im Krankheitsfall, wenn es um juristische Sachverhalte geht oder auch, wenn er sie für Bewerbungsgespräche trainieren muss. Man nimmt ihm das ab. Auch ein psychologisches Geschick. Denn Martin wirkt besonnen, gelassen und irgendwie überzeugend – auf eine sympathische Art. Seine Kompetenz hat er sich in der Praxis angeeignet. Er ist kein Theo retiker, bloss einer, der die Dinge mit Respekt angeht und sie reflektiert. Im Zuge der Reorganisation bei SBB Cargo verliert er dann seine ge schätzte Arbeit im HR-Bereich und kommt zu Neuorientierung und Arbeit, dort ins Programm Crescendo. Das ist ein Angebot für Mitarbei tende, die ihre Stelle verlieren, wenn sie mehr als 58 Jahre alt sind. Sie werden mit ganz unterschiedlichen Modellen begleitet, bis sie in den Ruhestand übertreten. Wesentlich wie in anderen Neuorientierungs programmen auch: temporäre Arbeitseinsätze zu leisten. Das findet Martin gelungen. Denn irgendwie schliesst sich jetzt der Kreis. So begann nämlich seine Arbeitskarriere. Wer seine Lehre als Betriebsdisponent ab geschlossen hatte, war zuerst ein «Ambulanter», d. h. man arbeitete als Springer auf verschiedenen Bahnhöfen, bis man schliesslich fest an einen Ort kam. Wenn er jetzt, als Abschluss seiner beruflichen Karriere, wieder über «Springer-Stellen» bis zu seiner Pensionierung beschäftigt bleibt, dann fügt sich das zu einer runden Arbeitsbiografie. Bis dahin braucht es noch den einen oder anderen Arbeitseinsatz. Aktuell ist Martin für Neuorientierung und Arbeit selber tätig. Als Personalver mittler unterstützt er die Beraterinnen und Berater dabei, Mitarbeitende auf die richtigen Stellen zu vermitteln. Das ist manchmal ganz schön knifflig. Es geht ja nicht darum, die Leute einfach zu platzieren, sondern ihnen Angebote zu präsentieren, wo sie sich zusätzlich fit machen können für den Arbeitsmarkt oder das Gefühl des Gebrauchtwerdens erfahren. Dank Crescendo trifft Letzteres auch für Martin zu. 9 Erfolgreich in Runde drei. 10 Die einen trifft es besonders hart. Zum Beispiel Stefan. Er hat seine Arbeit bei der SBB gleich zweimal wegen Restrukturierungen verloren. Bei der Bahn ist er seit rund 24 Jahren, hat seine Lehre dort gemacht, als Rangierer und Gleisbauer, heute nenne man das Logistiker, sagt er. Handwerk gefällt ihm, das weiss er. Auch draussen sein und bewegt. Er ist keiner fürs Büro und auch nicht einer, der reden kann wie ein Buch. Lange hat er bei der Brünigbahn gearbeitet, als Lok-Führer für den Gleisbau. Ist mit Langschienen und Schotter auf die Baustellen gefahren. Als die SBB dann die Brünigbahn verkauft, ja, da trifft es ihn eben, so ohne Familie, ohne eigenes Haus. Die erste berufliche Neuorientierung steht an. Er wechselt die Region. Kommt wegen eines Temporäreinsatzes nach Basel zu SBB Cargo. Ist dort zuständig für das DB-Fahrplangeschäft, d. h. er bewirtschaftet die Streckenbücher der Lokomotiven, die über die Grenze fahren. Kaum hat er da dann seine Festanstellung, geht es wieder los. Sein Aufgabengebiet wird teils ausgelagert, 50 % seiner Tätig keit muss er anders organisieren. Er übernimmt in Muttenz eine Teilzeitarbeit in der Ausbildungskoordination für Visiteure, Lokführer und Rangierer. Bei SBB Cargo bleibt aber kein Stein auf dem anderen. Beide Aufgabengebiete werden umorganisiert. Für ihn steht die zweite Neuorientierung an. Er weiss von sich, dass er einen Arbeitsrhythmus braucht. Das struktu riert sein Leben. Wenn ich das verliere, sagt er sich, wird es immer schwieriger, mich für etwas Neues zu motivieren. Mit diesem Fokus ging er daher nach Olten und nutzte die Tage im Neuorientierungs-Forum vor allem für die Suche nach Stellenangeboten. Er schrieb sich das Nötige heraus, die Bewerbungen selber verfasste er dann zu Hause in aller 11 12 Ruhe. So waren seine Tage ausgefüllt. Und noch etwas hat er für sich herausgefunden: wenn keine temporären Einsätze möglich sind, dann muss man sein Netzwerk nutzen, seine Kontakte. So kam er nämlich zu einer Arbeit bei login, dem Ausbildungsverbund von Unternehmen des öffentlichen Verkehrs. Dort, im Bereich Weiterbildung organisierte er die obligatorischen und freiwilligen Weiterbildungstage der Lok-Führer. Ja, die Lokomotiven. Sie gehören zu seinem Leben. Zuerst handfest und greifbar bei der Brünigbahn, dann musste er sich mit Administration rund um Lokomotiven zufrieden geben. Jetzt aber – in Runde drei seines bewegten Arbeitslebens - werden die Loks wieder dingfest. Und diesmal nicht wegen Jobverlust, sondern als Resultat seiner zweiten Neuorientierung. Denn Stefan beginnt in Kürze seine einjährige Ausbildung bei Personenverkehr zum Lokführer B 100, spezialisiert auf die Zugs vorbereitung. Schon lange hat er damit geliebäugelt. Er hat die psycho logischen Untersuchungen, die Reaktionstests bestanden, den bahn ärztlichen Untersuch hinter sich und auch die nötigen Gespräche mit den Verantwortlichen. Freut er sich? Ein wenig Schalk blitzt auf in seinen braunen Augen. Lach fältchen ziehen sich über sein sonst ernstes Gesicht. Für ihn erfüllt sich ein Wunsch, ja, aber er hat auch Respekt vor der neuen Aufgabe. Ausbildungsort wird Zürich sein. Dort ist es komplexer als auf dem Brünig. Keine Mittagspausen wie damals, wenn der Rottenwagen nicht in der Nähe war, und man im Sommer am Feuer seine Wurst röstete, ein Bad im nahen Bergsee nahm. Keine Winter mit meterhohen Schnee mauern, die gar die Fahrleitungen zudeckten, sodass ein Weiterkom men nicht mehr möglich war. Zürich, ein Knotenpunkt, da wird er künftig fahren. Und er weiss, der Richtungen sind viele. Der Weg nach «Unbekannt». 14 Etwas durchstehen, nicht aufgeben. Einen Weg gehen, dessen Ziel auf keiner Karte eingezeichnet ist. Markus hat das gewagt und so eine neue Aufgabe gefunden. Seit einigen Wochen leitet er bei Personenverkehr das Team des elektronischen Dokumenten-Managament-Systems. An seinem neuen Arbeitsort werden alle Stammdaten und Dokumente, die zu einem Fahrzeug gehören – und davon gibt es bei der SBB nicht wenige – erfasst und gepflegt. Er führt sechs Mitarbeitende. Für seinen Vorgesetzten ist er der Wunschkandidat. Am Ende des Wegs sei er doch am Glücksteich angekommen, sagt er, und habe vom Glückswasser auch schon getrunken. Ein Sprachbild, typisch für Markus. Sprache ist ihm Rettungsanker und Werkzeug zugleich. Zu erzählen, in Bildern zu sprechen, das gehört zu ihm wie die eigene Haut. So kann er für sich die Dinge aus einer anderen Sicht betrachten, sie anders greifbar machen. Das hat ihm schon einmal geholfen, bei seiner ersten Neuorientierung. Markus kam vor dreissig Jahren zur SBB. Als gelernter Elektromechaniker und Ingenieur HTL arbeitete er im Fahrzeugunterhalt, tat dies während zwölf Jahren auch im Tessin. Aus der Werkstatt ging es dann ins Controlling und in die Projektleitung. Und im Jahre 2005 dann in die erste Stellenlosigkeit. Damals war er nicht lange ohne Arbeit. Eigeninitiativ schrieb er Memos mit dem Betreff «Meine Lage», erzählte von seiner Situation und bot sich und seine Fähigkeiten an. Damit bewegte er. Sein betriebsinternes Netz reagierte. Die Division Personenverkehr engagierte ihn zuerst als Projektleiter, dann im Bereich Operating Finanzen. Mit der Finanz reform kamen andere Anforderungen auf ihn zu. Die Stelle zu behalten, hätte ihn sehr viel Lernaufwand gekostet. Sein Vorgesetzter offerierte ihm daher eine individuelle Neuorientierung, ein sogenanntes Newplace ment. Allerdings mit einer befristeten Vereinbarung. Markus war also an einer Wegscheide. Vor ihm ein Wegweiser. In die alte Richtung zu gehen war unwegsam. Das Schild, das in die neue Richtung wies, trug die Aufschrift «Unbekannt». Im Rucksack hatte er zwar breite, langjährige berufliche Erfahrung: mit Fahrzeugen und Instand haltung, mit Projektleitung, Führung, Coaching und nicht zuletzt mit Rechnungswesen. Trotzdem war er ratlos. Der Weg nach «Unbekannt» war unübersichtlich, machte nach 100 Metern eine Kurve. Wie lange war der Weg? Wo würde er ankommen? Vielleicht im Niemandsland? Das rumort im Bauch und der Boden schwindet unter den Füssen. Auch ein Schwergewicht von einem Mann ist davor nicht gefeit. Gottseidank stand er nicht alleine am Wegweiser, er hatte eine Wegbegleiterin aus dem Programm Fit. Mit ihr zusammen malte er sich aus, wie das Ziel am Ende des Weges aussehen könnte. Da sollen Menschen sein, die Ver antwortung haben für eine Arbeit, für ein Produkt, für einen Teil, der diese Bahn bewegt. Und da ist Markus, als ihr Teamleiter, mit seiner Füh rungshaltung: zuhören, zuschauen, um das Potenzial der Mitarbeiten den zu erkennen und zu fördern, miteinander reden, miteinander Wege finden, Lösungen entwickeln. War es möglich, da anzukommen? Markus schrieb Bewerbungen. Fing Feuer für potenzielle Stellen, ein Feuer, das mit jeder Absage wieder erstickte. Er wurde der ewige Zweite, der mit der Silbermedaille um den Hals. Und nach den Vorstellungsge sprächen blieb häufig das ungute Gefühl, dass man ihm das gar nicht abnahm, dass er in seinem Alter noch einmal neu beginnen wollte. Hin dernisse – Markus hat sie alle überwunden, wie der Anfang dieser Geschichte zeigt, und dem Weg nach «Unbekannt» sein Ziel gegeben. In einer Schublade ruht sein Projekt 58plus – eine Sammlung von Ideen, wie sein Leben ohne die Bahn aussehen könnte. Eine eigene CoachingFirma? Oder einfach Wanderwege putzen? Er weiss es nicht, aber auch das ein Rettungsanker. 15 Die Angst vor dem weissen Blatt Papier. 16 Da sitzt Fabricio, ein veritabler «homme de lettres». Einer, der in Lausanne französische Literatur studiert hat. Einer, der Bücher mag, der das Schreiben kennt, der weiss, ein Text gelingt nur, wenn ich ihm vertraue, auch wenn ich noch nicht weiss, wie er wirklich lauten wird. Genau das hatte er vergessen, zu vertrauen. Als er durch die Restruktu rierung bei SBB Cargo in die Neuorientierung kommt, vertraut er nicht mehr. Es tut weh, die geliebte Arbeit aufgeben zu müssen. Er war Fach spezialist für Verträge und Abrechnungen bei SBB Cargo Verkehr, hatte viele Kontakte mit Kunden, konnte täglich seine Fremdsprachen einsetzen, Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch. Da ist noch nicht einmal seine Muttersprache mit dabei. Selber kommt er aus Brasilien, spricht Portugiesisch. Das hört man gut im Deutschen. Er spricht gewisse Wörter weich und lang und lässt sie schwingen. Bei Neuorientierung und Arbeit, was konnten die schon tun. Sein Stolz war verletzt, er, ein Akademiker, betroffen von Jobverlust. Ihm konnte nie mand helfen. Die Situation war verfahren. Er nimmt eine Temporärstelle an, übersetzt Teile des SAP-Finanzmoduls aus dem Deutschen ins Fran zösische. Und leistet eine Superarbeit! Sein Vorgesetzter lobt ihn, wie gut ihm das tut. So langsam kommt es wieder, das Vertrauen in sich sel ber. Auch die offenen und klar strukturierten Gespräche mit seinem Neuorientierungs-Berater helfen da. Zwar ist sein Leben noch immer wie ein weisses, leeres Blatt Papier, liegt da, und er weiss noch nicht, was dereinst da stehen wird. Aber er versteht jetzt, dass er es ist, der seine Zukunft schreiben muss. Er bekommt die Chance dafür bei Infrastruktur, bei Reportings & Daten management. Zuerst temporär, mit Hilfe seines Beraters dann nach 18 Monaten mit der Festanstellung. Und hier lernt er noch einmal eine Sprache, tritt in den Dialog mit einer technischen Welt. Er fertigt Reportings an, stellt Zahlen zusammen und merkt, dass man nicht nur Bücher lesen kann, sondern auch Grafiken und Tabellen. Er lernt verstehen, wie die Bahn wirklich funktioniert. Wie fein das Netzwerk ist, wie dezentrali siert und dass hier ein Dialog wirkt, der Züge fahren lässt. Das wird ihn immer wieder faszinieren. Die Bahn ist die Zukunft, denkt er, grün und sauber. Sie hat mir eine Chance gegeben, ich werde ihr das lohnen und meine Berufsgeschichte wird einst eine Bahngeschichte sein. Wer so viele Sprachen spricht, ist ein Reisender. Sein nächstes Ziel ist Tokio. Dort will er mit japanischen Zügen fahren, die Menschen beo bachten, ihrem Leben nachspüren, Teehäuser entdecken, gutes Sushi essen, eine fremde Kultur erleben. Nächstens wird er einen Sprach kurs in Japanisch belegen, die fremden Zeichen malen und ihre Bedeu tung verstehen lernen. Was ihm aus der Zeit der Neurorientierung bleiben wird, ist die Erinnerung an Bewerbungsgespräche. Vorgesetzte meinen manchmal, wer von NOA komme, sei ohne Motivation, würde jede Stelle annehmen, nur um von dort wegzukommen. Fabricio hat das erlebt und war enttäuscht. Bewerbungsgespräche – auftreten und sich verkaufen – das gehört auch nicht zu den Lieblingstätigkeiten eines «homme de lettres». Eine dop pelte Hypothek also. Und würde Fabricio einen Roman schreiben, ginge es um Menschen, um ihre Beziehungen und Freundschaften, um die Landschaften, in denen sie leben und um die Gegenstände, die sie lieben. 17 Ein Meister im Multitasking. 18 Was soll das? Sicher nicht. Zeit für eine Aus- und Weiterbildung hat er keine. Sein Leben ist so schön eingerichtet. Alles läuft rund, die Arbeit, die Freizeit. Und wenn Aus- oder Weiterbildung, was würde er denn schon wollen? Er hat keine Ahnung. Marc hat dabei übersehen, dass er mit seinem Arbeitsvertrag auch eine Verpflichtung für Aus- und Weiterbildung unterschrieben hat. Es sei jetzt an der Zeit, mit 28 Jahren, mahnen ihn seine Vorgesetzten. Widerwillig macht er einen Termin bei der Laufbahnberaterin von Neuorientierung und Arbeit, Fit heisst das Programm. Er unterzieht sich verschiedenen Tests. Als Folge davon erklärt sie ihm die Möglichkeiten für eine weiter führende Bildung, was sind höhere Fachschulen, was ist die Fachhoch schule oder gar die Universität. Und empfiehlt ihm, einen Bachelorab schluss anzustreben. Er ist verwirrt, noch immer widerwillig, hat eigentlich keine Zeit für Schule. Weiss nicht, was sinnvoll wäre, was ihn tatsächlich weiterbringt. Er steht vor der Fülle – und sieht nichts als Leere. Einfach weil er muss, entscheidet er sich für die Höhere Fachschule und die Ausbildung zum Dipl. Betriebswirtschafter HF. Im Hinterkopf der Gedanke, das sei wohl von allem die einfachste Variante und am besten vereinbar mit seinem bereits ausgefüllten Leben. Als der Lehrgang startet, ist er noch immer skeptisch. Aber dann ent deckt er, dass die Klasse super ist, die Dozierenden lässig und die Lerninhalte einen hohen Praxisbezug haben. Und da endlich fällt bei ihm der Zwanziger. Viel Stoff kann er direkt mit seiner Berufserfahrung ver netzen, aber auch neue Gedanken dazu entwickeln, weitersehen, über das hinaus, was ihm bisher genügte. Was hat ihn bloss so lange zögern lassen, fragt er sich heute. Vielleicht ein Bild, das ihm seine Eltern vermittelt hatten? Mit einer Grundausbildung als Betriebsdisponent bei der Bahn hast du etwas fürs Leben? Oder vielleicht doch das, was er in seiner Freizeit einfach gerne tut, nämlich Car fahren? Die Vorstandsarbeit in der Baugenossenschaft? Er weiss, diese Dinge würden ihm fehlen, wenn er sie nicht mehr hätte. Das galt es eben schon zu verteidigen. Aber – was ein richtiger Multitasker ist – der bringt alles unter einen Hut: Schule, Beruf, die Fahrten mit Ferien gästen, den Turn- und Gesangsvereinen und auch noch das Lernen und Aufgaben machen. Sass er früher im Emmental in der Gartenwirt schaft an der Sonne und wartete auf seine Fahrgäste, so hat er heute sein Notebook mit dabei. Schreibt an einer Fallstudie, rechnet Statistik aufgaben durch oder liest in einem Buch zu Personalmanagement. Und es bleibt noch Zeit für Ferien. Andere jonglieren mit Bällen, er halt mit der Zeit. Seine Liebe zum Car fahren hat er schon als Bub entdeckt. Mit 12 begann er im Board-Service zu arbeiten, verteilte im Skibus Kaffee und Gipfeli und verdiente sich so die Skilift-Abos. Schon damals war für ihn klar, dass er den Car-Führerschein machen wird. Lernen fällt ihm eben auch nicht allzuschwer. Das ist ein Glück. Er braucht für gute Noten nur das Notwendige zu tun. Sein Prinzip: möglichst wenig Aufwand für einen optimalen Ertrag. Denn halbe Sachen mag er nicht. Bis jetzt geht seine Rechnung auf, die Noten stimmen. Zwei Jahre noch. Dann stehen ihm Möglichkeiten offen als Team- oder Abtei lungsleiter, vielleicht Projektleitung. Er möchte das weiter bei der Bahn tun. Zwar ist er ein Freizeit-Landstrassen-Kapitän, aber eben einer, dem der öffentliche Verkehr auch am Herzen liegt. 19 Vorwärts gewinnt. 20 Nordfinnland im Winter. Unterwegs mit Hundeschlitten. Das mögen wohl nicht alle. Petra schon. Ihr hat das gefallen. Die Huskies voller Kraft und Lust aufs Rennen. Einmal eingespannt, konnten sie kaum den Start erwarten. Da half nur der Pflock, in den Schnee gerammt. Und kaum ist der draussen, geht die Post ab, wie Pfeile schiessen sie los. Energie bündel eben. Vorwärts wollen sie. Wie Petra. Als sie ihren Job als Projektleiter-Assistentin verliert, fühlt auch sie sich angepflockt. Was jetzt, denkt sie. Kommt noch dazu: Sie ist gut qualifiziert und noch nicht lange bei der Bahn. Sie ist also nicht unbedingt ein Fall für eine begleitete Neuorientierung. Ein Megafrust! Das hat sie eine rechte Runde nach hinten «geküblet». So ist ihre Sprache, burschikos, wenn’s ums Durchbeissen geht. Aber auch ausgefeilt und differenziert, wenn es ums Überarbeiten von Texten geht. Sie hat gekämpft um ihre Neuorientierung – und schliesslich gewonnen. Man bietet ihr viel: Standortbestimmung, Unterstützung beim Schreiben von Bewerbungen, Training für Bewerbungsgespräche, immer wieder die Möglichkeit, beim persönlichen Berater oder der Beraterin die eigene Motivation zu spiegeln. Und eine Menge Jobangebote, temporäre, als Überbrückungshilfen. Die sind so wichtig, denkt sie. Da fällt man nicht ganz aus dem Arbeitsprozess und hat das Gefühl, man werde trotzdem noch gebraucht. Sie kann fünf Sprachen, vor allem jene, die im Job etwas nützen, ist eine Teamplayerin, entscheidungsfreudig, zuverlässig und auch flexibel, weil sie schon in ganz verschiedenen Branchen gearbeitet hat. Und beileibe nicht immer im Büro. Darauf ist sie stolz. Zu wissen, was sie kann, hat ihr auch bei der Suche nach einem neuen Job geholfen. Frech hat sie sich nämlich auf eine Führungsstelle beworben, als Leiterin Führungsunter 21 22 stützungspool. Na ja, war schon etwas übermütig, denkt sie im Nach hinein. Dem ausgeschriebenen Profil genügte sie natürlich nicht, aber ganz ehrlich, da müssen sie jede oder jeden «zwägchnätte», denkt sie. Und nur wer wagt, gewinnt. Vorwärts also, und weg war der Brief. Als der Anruf kommt und sie sich vorstellen kann, ist ihr schon etwas mulmig. Sie bekommt dann nicht die Leitungsstelle. Klar, so ohne Füh rungserfahrung und wenig Bahnhintergrund. Aber eben, temporär kann sie dort anfangen als Assistentin. Und wenn möglich, bitte schon am nächsten Montag! Ui, ui, ui – das ist ein schneller Deal. Aber sie will ja nicht «vom Karren fallen», daher greift sie zu. Die Arbeit gefällt ihr, sie kann ihre guten Deutschkenntnisse einbringen, redigiert und bear beitet anspruchsvolle Dokumente, die an die Geschäftsleitung gehen. Und jetzt ist auch die Geschichte mit dem Bewerbungen schreiben vorbei, keine Absagen mehr. Die kratzen ja auch an der Moral. Denn ihre Tempo räranstellung wurde grad kürzlich in eine feste Anstellung umgewandelt. Sie erinnert sich an ihre Zeit, als sie noch 40-Tönner fuhr. Zuerst hatte sie den Backoffice-Bereich einer Transportfirma geschmissen. Und dann hatte sie genug davon, hinter dem Tresen zu stehen, wollte auch auf die Strasse. Gefahren ist sie vor allem in der Schweiz. Mit Leisi-Küchlein etwa, oder Reinigungsmitteln für den Gastronomiebereich, Heu oder Bi tumen. Sie hat ganze Kranteile aufgeladen, 1000-Liter-Container über Kopfsteinpflaster gerissen. Eine Weile kann man das als Frau machen. Aber irgendwann macht der Körper nicht mehr mit. Und ja, Einiges aushalten an faulen oder zweideutigen Sprüchen muss man auch. Die Männer meinen halt noch immer, eine Frau gehöre nicht auf den Bock. Mitgenommen von dort hat sie ihr dickes Fell und das Wissen drum, dass vorwärts nicht heisst, dass es immer schnurgerade geht. November 2010 Schweizerische Bundesbahn SBB Human Resources Neuorientierun & Arbeit/ab 1.1.2011 Arbeitsmarktcenter Ringstrasse 15 4600 Olten Die Fotos zeigen das NOA-Team, welches die Geschichtenerzähler/innen auf ihrem beruflichen Neuorientierungsweg begleitet hat.