Neue Bücher - Instytut Książki
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Neue Bücher AUS POLEN 59. N0 OLGA TOKARCZUK PAWEŁ HUELLE MAGDALENA TULLI JANUSZ GŁOWACKI IGNACY KARPOWICZ PATRYCJA PUSTKOWIAK ŁUKASZ ORBITOWSKI BRYGIDA HELBIG MICHAŁ WITKOWSKI MARIUSZ SIENIEWICZ JOANNA BATOR KRZYSZTOF VARGA ZIEMOWIT SZCZEREK WOJCIECH JAGIELSKI PAWEŁ SMOLEŃSKI WITOLD SZABŁOWSKI DAS POLNISCHE BUCHINSTITUT INSTYTUT KSIĄŻKI ul. Wróblewskiego 6 PL 31-148 Kraków Tel: +48 12 61 71 900 Fax: +48 12 62 37 682 [email protected] Warschauer Filiale des Polnischen Buchinstitutes Pałac Kultury i Nauki Pl. Defilad 1, IX piętro, pok. 911 PL 00-901 Warszawa Tel: +48 22 656 63 86, Fax: +48 22 656 63 89 [email protected] Warszawa 134, P.O. Box 39 AUSGEWÄHLTE PROGRAMME DES BUCHINSTITUTS DAS ÜBERSETZUNGSPROGRAMM ©POLAND ÜBERSETZERKOLLEGIUM Ziel des Programms ist es, Übersetzungen polnischer Literatur zu fördern und ihre Präsenz auf den ausländischen Buchmärkten zu stärken. Das Programm umfasst insbesondere Belletristik und Essayistik, Kinder- und Jugendliteratur, Sachbücher. Das Programm wird vom Buchinstitut in Zusammenarbeit mit dem Verein Villa Decius und der Jagiellonen-Universität durchgeführt. Es richtet sich an Übersetzer polnischer Literatur, die Belletristik, Essayistik, Dokumentarliteratur oder geisteswissenschaftliche Literatur im weitesten Sinne übertragen und bietet ein- bis dreimonatige Stipendienaufenthalte in Krakau. Angebote können von allen Verlagen abgegeben werden, die ein in polnischer Sprache geschriebenes Buch in eine fremde Sprache übersetzen lassen und herausgeben wollen. Im Rahmen des Programms können u.a. folgende Kosten finanziert werden: TRANSATLANTIK •bis zu 100 % der Kosten des Lizenzerwerbs •bis zu 100 % der Übersetzungskosten eines Werkes aus dem Polnischen. Transatlantik ist der alljährlich von dem Buchinstitut vergebene Preis für Persönlichkeiten, die sich für die Verbreitung der polnischen Literatur im Ausland einsetzen. Der Preis, dotiert mit 10.000 Euro, kann u. A. an Übersetzer, Verleger, Literaturkritiker, Polonisten verliehen werden. SAMPLE TRANSLATIONS ©POLAND KONTAKT: Das Ziel dieses Programms – es richtet sich an Übersetzer polnischer Literatur – ist es, im Ausland für polnische Literatur zu werben, indem man Übersetzer ermutigt, polnische Bücher ausländischen Verlegern zu präsentieren. Das Polnische Buchinstitut ul. Wróblewskiego 6 PL 31-148 Kraków E-mail: [email protected] Phone: +48 12 617 19 00 www.bookinstitute.pl Bezahlt werden 20 Seiten einer Probeübersetzung. Die Bewerbungsformulare beider Programme können von der Website www.bookinstitute.pl heruntergeladen werden. Direktor des Polnischen Buchinstituts: Grzegorz Gauden ADRESSEN DER VERLAGE UND AGENTEN AGORA KORPORACJA HA!ART WYDAWNICTWO LITERACKIE ul. Czerska 8/10 00-732 Warszawa T:+48 22 555 60 00, +48 22 555 60 01 F: +48 22 555 48 50, +48 22 555 47 80 [email protected] www.agora.pl Pl. Szczepański 3a 31-011 Kraków T/F: +48 12 422 81 98 [email protected] www.ha.art.pl ul. 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Geehrt mit vielen polnischen und ausländischen Literaturpreisen; ihr Roman „Taghaus, Nachthaus“ [Dom dzienny, dom nocny] stand auf der Shortlist für den „Dubliner Internationalen Literaturpreis IMPAC“. Tokarczuk gehört zu den meistübersetzten polnischen Autoren. „Das Buch Jakob“ [Księgi Jakubowe] ist ihr fünfzehnter Roman. Jakob Frank, der Protagonist in Olga Tokarczuks neuem, umfangreichen Roman ist eine historische Gestalt, nur wenigen bekannt und eigentlich fast gänzlich in Vergessenheit geraten. Dabei ungemein farbig und geheimnisvoll, und sein Schicksal ist mit zahlreichen Schauplätzen in und außerhalb von Europa verbunden. Es nimmt Wunder, dass Frank nicht längst schon zum Helden zahlreicher Bücher und Filme avanciert ist, sondern nur einer Handvoll Fachleutenbekannt ist. Er lebte im 18. Jhd., als die Geschichte Tempo aufzunehmen begann, die Französische Revolution näher rückte und die erwachenden Strömungen der Aufklärung spürbar wurden. Mag uns die mystische Religiosität dieses jüdischen Häretikers, der als der letzte Messias galt, zwar heute veraltet erscheinen, so führte sie doch seinerzeit zum Aufbrechen alter Strukturen, zur Spaltung zwischen den Juden und den Bekennern anderer Religionen. Gegen Mitte des Jahrhunderts vollzogen etliche tausend seiner Anhänger unter der Schirmherrschaft des polnischen Königs und des polnischen Adels ihre Konversion zum Katholizismus. Es war beileibe nicht die erste, zuvor waren sie Moslems geworden. Frank war Mystiker und Politiker, Charismatiker und Lüstling, Hochstapler und Religionsführer gleichermaßen, eine doppeldeutige Gestalt, schwer zu erfassen. In Tokarczuks großem Epos wimmelt es nur so von bunten Figuren, Jakob jedoch wird immer mit den Augen anderer gesehen, er bleibt immer unergründlich. Vielleicht hat gerade jene Vieldeutigkeit dazu geführt, dass die Geschichte mit ihm nicht gnädig verfuhr? Vielleicht war er aber auch allen einfach unbequem? Für die Juden war er ein Abtrünniger, Wegbereiter einer ihre Identität zerstörenden Assimilation, der sich schlecht in die Geschichte des Weltjudentums einpassen ließ, obwohl er Teil davon war. Für die Katholiken eine Erinnerung an ihren eigenen Antisemitismus. Für viele assimilierte Nachkommen der Frankisten ein Bezug auf ihre Wurzeln und die verschlungenen Wege ihrer Assimilation. Frank kam in einem kleinen Dörfchen in Podolien, also in der heutigen Ukraine zur Welt, in einer Familie von Anhängern eines anderen jüdischen Häretikers und Messias, Schabbatai Zvi. Er wuchs inmitten askenasischer Juden im Gebiet des heutigen Rumänien heran, reiste als Händler in die Türkei und kehrte wieder an die polnischen Ostgrenzen zurück, um seinen Glauben zu verbreiten und Anhänger zu finden. Er zeigte ihnen, dass alle bisherigen Religionen unvollkommen sind, nur Stufen auf dem Weg zur wahren Erkenntnis. Seine Konversion war keine Akzeptanz des traditionellen Katholizismus, sie sollte ein Weg sein, der in noch fernere Gefilde führte. Sie war eine Revolte gegen erstarrte Religionen und gesellschaftliche Bräuche. Von orthodoxen Rabbinern verfolgt, floh er aus Polen und lehrte zuerst in Smyrna, dann in Saloniki. Er versuchte, eine Kommune zu gründen, die Sitten in seiner Umgebung waren recht promiskuitiv, er träumte von einem kleinen jüdischen Staat, abgesondert von den Gebieten Polens oder Österreich-Ungarns. In Polen gab es gewaltige öffentliche Debatten zwischen den Frankisten, wie man sie später nannte, und den orthodoxen Juden. Die Schiedsrichterrolle übernahmen dabei polnische Bischöfe, die seine Förderer wurden. Allerdings nicht in löblicher Absicht – die Frankisten wurden gegen die jüdische Gemeinschaft ausgespielt, indem man versuchte, den Bekennern des Judaismus Ritualmorde anzuhängen. Kurz nach seiner Taufe wurde Frank der Häresie angeklagt und verbrachte dreizehn Jahre im Gefängnis des Klosters auf Jasna Góra, dem berühmten polnischen Sanktuarium, dessen heilige Ikone die Schwarze Madonna ist. In ihr Bildnis vertieft, entdeckte er Schehina, das Abbild Gottes in weiblicher Gestalt. Nach seiner Freilassung durch russische Soldaten zog er nach Brünn im tschechischen Mähren. Am österreichischen Kaiserhof weckte er Interesse, und schließlich hatte er seinen eigenen Hof mit Soldaten und Dienern, zu dem es Juden und viele Neugierige aus ganz Europa zog. Er starb in Offenbach, in der Nähe von Frankfurt am Main, in seinem Palast, wohin, so hieß es, seine Anhänger ganze Wagenladungen voll Gold gebracht hätten. Tokarczuk nimmt uns mit auf eine Reise zu Schauplätzen, Zeiten und Religionen, von der man am liebsten gar nicht mehr zurückkehren möchte und die dem Leser noch lange in Erinnerung bleibt. Sie haucht Frank wieder Leben ein, für Polen, die Juden, Europa und all jene, die bei der Lektüre des Romans denken, all das müsse doch wohl der Fantasie entsprungen sein. Aber es ist unsere Geschichte, auf andere Art erzählt; darin ist Platz für Juden, für Frauen, für metaphysische Sehnsüchte und Wünsche, denen es in traditionellen Abhandlungen zu eng wird. Und Platz für viele großartige Geschichten, geschaffen von der außergewöhnliche Vorstellungskraft der Autorin. Kinga Dunin OLGA TOKARCZUK, KSIĘGI JAKUBOWE WYDAWNICTWO LITERACKIE, KRAKÓW 2014, 165×240, 912 PAGES ISBN: 978-83-08-04939-6 TRANSLATION RIGHTS: OLGA TOKARCZUK CONTACT: THE POLISH BOOK INSTITUTE RIGHTS SOLD TO: CZECH REPUBLIC, FRANCE, ISRAEL, SERBIA, SWEDEN ÜBER DEM DAS BUCH JAKOB Hauseingang hängt ein von recht unbeholfener Hand gemaltes Schild: „Schorr Warenlager“. Dahinter hebräische Schriftzeichen. An der Tür ein metallenes Plättchen, daneben irgendwelche Zeichen, und dem Priester fällt wieder ein, wie Athanasius Kircher in seinem Buch erzählt, dass die Juden, wenn eine Frau niederkommt und sie Hexerei befürchten, die Worte ‚Adam, Hawa, Chuz, Lilith’ an die Wand schreiben, was bedeutet: „Adam und Eva kommet hierher, und Lilith, du Hexe, weiche.“ Das muss es sein. Gewiss wurde erst kürzlich auch hier ein Kind geboren. Der Priester steigt über die hohe Schwelle und taucht ganz ein in den warmen würzigen Duft. Es dauert ein Weilchen, bis sich die Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben, denn Licht lässt nur ein kleines Fensterchen herein, das zudem mit Blumenkübeln vollgestellt ist. Hinter dem Ladentisch steht ein Halbwüchsiger, dem noch kaum der Flaum sprießt, er hat volle Lippen, die jetzt beim Anblick des Priesters leicht zu zittern beginnen und dann versuchen, ein Wort zu formen. „Wie ist dein Name, Junge?“ fragt der Priester forsch, um zu zeigen, wie sicher er sich in diesem dunklen engen Lädchen fühlt und um den Halbwüchsigen zu einem Gespräch zu animieren, aber der antwortet nicht. „Quod tibi nomen?“ wiederholt er nun offiziell, aber das Latein, das der Verständigung dienen soll, klingt plötzlich zu feierlich, als wäre der Priester gekommen, einen Exorzismus zu vollziehen wie Christus im Lukas-Evangelium, der sich mit derselben Frage an den Besessenen wandte. Der Junge reißt die Augen nur noch weiter auf, bringt nur ein „Bh... bh...“ heraus und verschwindet plötzlich hinter den Regalen, wobei ein Zopf Knoblauch herunterfällt, der an einem Nagel hing. Der Priester hat sich unklug verhalten; er kann nicht erwarten, dass sie hier Latein sprechen. Er blickt sich kritisch um – unter seinem Mantel lugen die schwarzen Rosshaarknöpfe seiner Soutane hervor. Davor war der Junge wohl erschrocken, denkt der Priester, – vor der Soutane. Er muss schmunzeln und denkt dabei an den biblischen Jeremias, der auch fast den Kopf verlor und stotterte: „Ahh. Dommine Deus ecce nescio loqui!“ (Herrgott, ich kann nicht sprechen.) Von da an nennt der Priester den Jungen in Gedanken Jeremias. Er weiß nicht recht, was er tun soll, nun, da dieser so plötzlich verschwunden ist. Also schaut er sich zunächst im Laden um und knöpft währenddessen seinen Mantel zu. Pater Pikulski hat ihn überredet, hierher zu kommen, aber jetzt deucht ihm, dass das kein so guter Gedanke war. Niemand kommt von draußen herein, wofür der Priester in Gedanken seinem Gott dankt. Das wäre ja auch ein ungewöhnlicher Anblick – ein katholischer Priester, Dekan von Rohatyn, im Laden eines Juden, wo er wie ein gewöhnlicher Bürger darauf wartet, bedient zu werden. Pater Pikulski hatte ihm geraten, zum Rabbi Dubs nach Lemberg zu gehen, er war selber dort gewesen und hatte viel von ihm erfahren. Der Priester war auch hingegangen, aber der alte Dubs hatte wohl die Nase voll von katholischen Geistlichen, die ihn über die Bücher ausfragten. Er war unangenehm berührt von der Bitte und von dem, was den Benediktinerpater am meisten interessierte. Er hatte es nicht oder tat, als hätte er es nicht. Er setzte eine höfliche Miene auf, schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. Als der Priester fragte, wer ihm helfen könnte, wedelte Dubs mit den Händen, wandte den Kopf, als stünde jemand hinter ihm und gab zu verstehen, er wisse es nicht, und selbst wenn er es wüsste, würde er nichts sagen. Dann hatte Pater Pikulski dem Pater Dekan erklärt, es handle sich um jüdische Häresie, und obwohl sie sich selber damit brüsteten, bei ihnen gäbe es so etwas nicht, machten sie in diesem Fall offenbar eine Ausnahme und hassten sie geradezu, ganz ohne Umschweife. Schließlich hatte ihm Benediktinerpater Pikulski geraten, zu Schorr zu gehen. Das große Haus mit dem Laden am Markt. Aber dabei hatte er den Priester irgendwie schief angesehen, ironisch, vielleicht war es ihm auch nur so vorgekommen. Vielleicht hätte der Pater Dekan besser Pikulski diese jüdischen Bücher besorgen lassen sollen, obwohl er ihn nicht besonders mochte. Dann müsste er sich jetzt hier nicht schämen und schwitzen. Aber in dem Priester steckte viel Trotz und so war er hingegangen. Und da war noch etwas nicht eben Vernünftiges gewesen – ein kleines Wortspiel hatte über die ganze Sache entschieden; wer glaubt wohl, dass solche Dinge die Welt beeinflussen – der Priester hatte eifrig an einem bestimmten Abschnitt bei Kircher gearbeitet, in dem von dem riesigen Ochsen Schorobor die Rede war. Vielleicht hatte ihn die Ähnlichkeit der Namen bewogen – Schorr und Schorobor. Seltsam sind die Wege des Herrn. Wo aber waren nun diese berühmten Bücher, wo die Gestalt, die soviel angsteinflößende Achtung erweckte? Das Geschäft sieht aus wie ein ganz gewöhnlicher Kramladen, aber der Eigentümer ist scheinbar ein Nachkomme des berühmten Rabbiners und allseits verehrten Weisen Salman Naftali Schorr. Siehe da, Knoblauch, Kräuter, Töpfe mit Gewürzen, Gläser und Gläschen und darin Gewürze jedweder Art, gestoßen, gemahlen oder noch in ihrer natürlichen Gestalt wie Vanilleschoten, Nelkenköpfe und Muskatnüsse. In den Regalen an der Wand lagern Stoffballen – wohl Seide und Atlas in grellen Farben, die das Auge anziehen, und der Priester überlegt, ob er nicht etwas braucht, aber schon wird seine Aufmerksamkeit von der unbeholfenen Schrift auf einem ansehnlichen dunkelgrünen Glas angezogen: „Herba Thé“. Nun weiß er, was er verlangen wird, wenn schließlich doch noch jemand zu ihm herauskommt – ein wenig von jenem Kraut, das ihn in bessere Stimmung versetzt, was beim Pater Dekan bedeutet, dass er arbeiten kann, ohne zu ermüden. Und es fördert auch die Verdauung. Er würde auch ein paar Nelken kaufen, um den allabendlichen Glühwein damit zu würzen. Die letzten Nächte waren so kalt gewesen, dass seine durchfrorenen Beine ihm nicht gestattet hatten, sich aufs Schreiben zu konzentrieren. Er sucht mit den Augen nach einem Stuhl, und dann geschieht plötzlich alles auf einmal: im selben Moment taucht hinter den Regalen die Gestalt eines gutgebauten, bärtigen Mannes in einem wollenen Kleid auf, unter dem türkische Schuhe mit spitzen Schnäbeln hervorlugen. Einen dünnen dunkelblauen Mantel hat er über die Schulter geworfen. Er blinzelt, als tauche er aus einem Brunnen auf. Hinter seinem Rücken lugt neugierig jener Jeremias hervor und noch zwei weitere Gesichter, dem Antlitz des Jeremias ähnlich, rotwangig und neugierig. Auf der anderen Seite, in der Tür zum Markt hin, taucht ein atemloser schmächtiger Junge oder besser ein junger Mann auf, denn er trägt einen dichten hellen Ziegenbart. Er lehnt sich gegen den Türrahmen und schnauft, man sieht, dass er hergerannt ist, so schnell er konnte. Er durchbohrt den Pater Dekan mit frechen Blicken, lächelt aber gleich darauf schelmisch und zeigt dabei sein breites gesundes Gebiss. Der Priester ist sich nicht sicher, ob dieses Lächeln nicht spöttisch ist. Er bevorzugt die würdige Gestalt im Mantel und wendet sich erlesen höflich an sie: „Euer Liebden wollen verzeihen, dass ich störe...“ Jener betrachtet ihn angespannt, aber kurz darauf verändert sich langsam der Ausdruck seines Gesichts. Eine Art Lächeln zeigt sich darin. Der Pater Dekan begreift plötzlich, dass jener nicht versteht, also beginnt er jetzt anders, auf Latein, mit der fröhlichen Sicherheit, sein richtiges Gegenüber gefunden zu haben. Der Jude lässt seinen Blick langsam zu dem Jungen an der Tür gleiten, zu jenem Atemlosen. Der tritt furchtlos näher und streicht seine Jacke aus dunklem Tuch glatt. „Ich werde übersetzen“, erklärt er mit unerwartet tiefer Stimme in weichem ruthenischen Singsang, zeigt mit dem Finger auf den Pater Dekan und sagt ergriffen, dies sei ein wahrhafter, leibhaftiger Priester. Dem Priester war nicht eingefallen, dass ein Dolmetscher nötig sein würde, daran hat er nicht gedacht, er ist verlegen und weiß nicht, wie er sich da wieder herauswinden soll, denn die ganze delikate Angelegenheit wird plötzlich publik und gleich kommt der ganze Jahrmarkt. Am liebsten ginge er jetzt hinaus in den kühlen, nach Pferdemist riechenden Dunst. Er beginnt sich umzingelt zu fühlen in diesem niedrigen Raum, in dieser gewürzgeschwängerten Luft, zudem schaut auch noch jemand neugierig von der Straße herein, was es hier wohl gibt. „Ich hätte ein Wort zu reden mit dem geehrten Elischa Schorr, wenn es gestattet ist“, sagt er. „Unter vier Augen.“ Die Juden sind überrascht. Sie wechseln untereinander ein paar Worte. Jeremias verschwindet und kommt erst nach einer längeren Weile unerträglich lastenden Schweigens zurück. Anscheinend hat der Priester die Erlaubnis bekommen, und nun bringen sie ihn hinter die Regale. Geflüster begleitet ihn, ein leichtes Scharren von Kinderfüßen, unterdrücktes Kichern – als wären hinter den dünnen Wänden Scharen anderer Leute, die durch die Spalten der hölzernen Wände jetzt den Priester, den Dekan von Rohatyn, betrachten, wie er durch die Winkel des jüdischen Hauses wandert. Und nun zeigt sich, dass der kleine Laden am Markt nur der Brückenkopf zu einer vielgefächerten Struktur ist, wie ein Bienenhaus: mit Kammern, Gängen und Stiegen. Das ganze Haus ist größer und um einen Innenhof gebaut, den der Priester nur mit einem Blick aus dem Augenwinkel erhascht, durch das kleine Fenster in dem Raum, in dem sie für einen Moment haltmachen. Aus dem Polnischen von Barbara Samborska PAWEŁ HUELLE SINGE DIE GÄRTEN © Andrzej Nowakowski Paweł Huelle (geb. 1957), Prosaist, Dramaturg und Universitätsdozent. Mit zahlreichen renommierten Preisen geehrt. Seine Bücher, vor allem der Debütroman „Weiser Dawidek“, sind in viele Sprachen übersetzt. „Singe die Gärten“ [Śpiewaj ogrody] ist der fünfte Roman des Schriftstellers. „Singe die Gärten“ ist ein Roman mit vielen Handlungsschichten und dicht an Bedeutung. Grob gefasst verflechten sich darin drei Geschichten. Am eingehendsten beschrieben wird das Schicksal der Familie Hoffmann (er – unerfüllter Komponist, sie – zweitklassige Sängerin). Wir beobachten die beiden hauptsächlich in den 1930er Jahren; damals sind sie Bürger der Freien Stadt Danzig, wohnen in der Ulica Polanka (damals Pelonkerweg). Die zweite Geschichte ist eine Familiengeschichte – hier ist die zentrale Figur der Vater eines Romanschriftstellers, ein tapferer und kluger Mann; 1945 ist er er nach Gdańsk gekommen, um am Polytechnikum zu studieren und ein neues Leben zu beginnen. Auch er ist ein Bewohner des Hauses an der Ulica Polanka geworden. Und schließlich haben wir eine dritte eingeflochtene Geschichte, die sich auf ein gefundenes Manuskript stützt; es sind Niederschriften aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, aus der Feder eines französischen Libertins, der sich am selben Ort niederließ, an dem fast 200 Jahre später die Hoffmanns leben. Eigentlich kommen sogar zwei gefundene Manuskripte vor, denn gleich am Anfang des Romans erhält Ernst Theodor Hoffmann von einem geheimnisvollen Antiquar die unvollendete Handschrift einer unbekannten Wagner-Oper. Das wieder aufgetauchte Werk soll angeblich eine musikalische Bearbeitung der Legende vom Rattenfänger von Hameln sein, am bekanntesten in der Version der Gebrüder Grimm. Und hierin besteht der Anknüpfungspunkt zu einem weiteren literarisch-musikalischen Spiel: Das Märchen über den berühmten Flötenspieler bezieht sich metaphorisch auf eine Welt, die im nächsten Moment in Flammen aufgehen wird, denn soeben hat Hitler die Bühne der Geschichte betreten. Um die Sache noch komplizierter zu gestalten: Ernst Theodor arbeitet nicht nur fieberhaft und wie besessen an der Vervollständigung der Wagner-Partitur, sondern schreibt auch einen eigenen, von Rilkes Gedichten inspirierten Liederzyklus; einige Episoden von Huelles Roman sind die Weiterführung oder Verarbeitung der beim Schöpfer der „Sonette an Orpheus“ vorgefundenen lyrischen Bilder. Der Romantitel stammt auch von Rilke. Von wesentlicher Bedeutung ist des Weiteren die ständige Anwesenheit des Romanschriftstellers. Dieser Charakter kommentiert die Ereignisse rund um die Romanhandlung sowie die eigene schriftstellerische Tätigkeit. Wir kennen seinen Namen nicht, aber es deutet viel darauf hin, dass es sich um eine autobiographische Figur handelt. Der Romanschriftsteller achtet darauf, dass der vielstimmige Chor nicht in autonome Einzelteile zerfällt, doch vor allem erzählt er von seinen Absichten. Erstens will der erwachsene Mann seine sorglose, glückliche Kindheit rekonstruieren und bei der Gelegenheit die Liebe zu seinem Vater und die Verbundenheit zu seinen kaschubischen Freunden ausdrücken. Hier kommt einem Herrn Bieszk eine besondere Rolle zu, der den Jungen mit seinen Erzählungen über den archaischen Volksglauben in die volkstümliche Wunderwelt einführte. Zweitens will der Romancier Ernst Theodors Frau Greta Hoffmann seine Ehre erweisen, einer Deutschen, der es gelang, nach 1945 in Gdańsk zu bleiben, und die vor dem Jungen den Reichtum der deutschen Kultur enthüllte, vor allem der musikalischen. Drittens schlussendlich erörtert Huelles Sprecher – mittels der Protagonisten des Romans – Fragen moralischer Natur. Paweł Huelles Roman ist in einem Moment erschienen, in dem sich recht unerwartet die Sehnsucht nach einem ProsaMeisterwerk einstellte. Mit seiner ästhetischen Gewichtung, den Diskussionen über die Große Kunst und seiner Verwurzelung in der literarischen und musikalischen Tradition der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das Werk des Gdańsker Schriftstellers eine gute Antwort auf dieses Bedürfnis. Dariusz Nowacki Aus dem Polnischen von Lisa Palmes PAWEŁ HUELLE ŚPIEWAJ OGRODY ZNAK, KRAKÓW 2014 140×205, 300 PAGES ISBN: 978-83-240-2195-6 TRANSLATION RIGHTS: ZNAK Nach Jahren SINGE DIE GÄRTEN sehe ich seine rauhen Hände, die kein Ruder, sondern die Zügel des zweispännigen Fuhrwerks hielten, dennoch steigt Herr Bieszk nicht als Kutscher, der von einem Stadtviertel ins andere fährt, aus dem Reich der Erinnerung auf. Vielleicht hieß er auch Bieszke? Mit Sicherheit nicht Bieszczański. Solche Namen hatten die Kaschuben nicht. Jedenfalls nicht die, die wir vom Markt in Oliwa, von der Danziger Höhe oder den Dörfern auf Hela kannten. Also lassen wir es dabei – Bieszk. Aber warum beginne ich mit ihm? Er hatte vom Rheuma verkrümmte Finger, symmetrische Narben auf beiden Wangen, immer einen Dreitagebart, aus dem nie ein richtiger wurde, und außerdem roch er stark nach Tabak, Pferden und schwerer Arbeit, bei der ihm ein Schluck aus der Flasche von Zeit zu Zeit etwas Linderung verschaffte. Als er Gniadosz und Baszka die Peitsche gab, als der mit unserem Hab und Gut beladene Wagen langsam die Lindenallee hinab auf das Pflaster der Ulica Polanki rollte, schaute ich mich um und sah im Fenster des Wohnzimmers, hinter der vergilbten Gardine, Frau Greta. Sie winkte offensichtlich nur mir, als wäre ich ihr Enkel. Als wollte sie mich noch für einen Moment auf der anderen Seite halten. Aber Bieszk stimmte auf dem Kutschbock schon ein kaschubisches Liedchen an: „Lass uns einen trinken aus dem kleinen Fläschchen“, was mein Vater mit einem schüchternen Brummen begleitete. Meine Mutter schwieg. Nach einer Weile, als der Wagen schon über die Ulica Polanki ratterte, sagte sie: „Endlich weg von dieser Deutschen!“ Die Pferdehufe schlappten über die Steine, die unter Kaiser Wilhelm gelegt worden waren, und ich war eigentlich froh, dass wir in eine neue Wohnung zogen, in der ich endlich meinen eigenen Bereich haben würde. Wir passierten die abgerissenen Brückenpfeiler der toten Bahnlinie, die wie Rippen eines altertümlichen Mammuts jenen Teil Oliwas von Wrzeszcz trennten, als Herr Bieszk sich zu mir umdrehte und auf kaschubisch fragte: „Ein Rätsel?“ Ich nickte erwartungsvoll. „Was ist das: hat ein Bein und kann nicht gehen, hat zwei Flügel und kann nicht fliegen?“ „Die Nase“, sagte ich sofort. Er nickte rasch und stellte die nächste Frage. „Was ist das: Es ist grün, hängt am Baum und singt?“ Hier wusste ich keine Antwort. Herr Bieszk lächelte triumphierend und sagte schließlich: „Ein Hering.“ „Aber ein Hering ist nicht grün!“ rief ich. „Wenn du ihn anmalst, ist er grün.“ „Aber Heringe hängen nicht an Bäumen“, sagte ich zweifelnd. „Das hab ich nur gesagt“, grinste Herr Bieszk, „damit dus nicht rauskriegst.“ Vater, der neben Mama auf der Holzbank saß, lachte leise, und Herr Bieszk sah ein, dass er noch irgendetwas zu mir sagen musste. Er wechselte ins Polnische. „Was guckst du so traurig? Musst du nicht. Ein Umzug ist kein Krieg. Kein Feuer. Keine Krankheit. Es ist ein Anfang, kein Ende.“ Die Sonne war hinter schweren Wolken versteckt. Es nieselte. Koffer gab es wenige, dafür viele Bündel, Päckchen, Schachteln, Säcke und eine ganze Menge loser Gegenstände: eine Kaffeemühle, eine Wärmflasche, eine kleine Schrankuhr, irgendwelche Kissen, Bücher, kleine Bretter für ein zukünftiges Schränkchen im Flur, mehrere Paar Schuhe, ein Röhrenradio, ein Grammophon, Töpfe – kurzum: ein typischer Umzug von armen Leuten. Herr Galiński, der schon in dem neuen Haus, im ersten Stock, wohnte, half uns, die Sachen in unsere beiden Zimmer im Parterre zu tragen. Auch Bieszk half; es ging also schnell. Das Fuhrwerk stand gegenüber vom Haus, die Pferde zupften Gras von der Wiese, und mein Vater lud, als schon alles hineingetragen war, Bieszk und Galiński zu einem Imbiss ein. In der Küche, wo es noch nicht die weiße Kredenz mit den Milchglasscheiben gab, auch keine Hocker und nicht einmal einen Tisch, standen die drei Männer am Fenster mit einer offenen Flasche klarem Wodka, aßen dazu Speck, Gurken und Brot und waren glücklich, denn sie hatten an jenem Tag keine schwere Arbeit mehr, als wäre es plötzlich Feiertag geworden, an einem ganz normalen Werktag. Im Badezimmer, das noch scharf nach der Ölfarbe der Wandverkleidung roch, ragte eine hohe Säule mit einem kleinen Ofen auf. „Du musst lernen, Feuer zu machen“, sagte Mutter, „damit wir warmes Wasser haben. Das wird deine Aufgabe sein.“ Ganz unten hin kam eine Zeitung, die Głos Wybrzeża. Darauf Holzscheite. Dann etwas dickere, kurze Klötze. Erst nach einer Weile, wenn das Feuer zu lodern begann, musste man zwei Schaufeln Kohle aus der Stahlkiste dazugeben. Der Schein der Flammen hinter dem gusseisernen Gitter war so stark, dass ich das elektrische Licht ausschaltete und meine neue Beschäftigung sofort liebte. Die Männer schraubten währenddessen zwei Betten zusammen: das erste aus Holz, im Schlafzimmer der Eltern, und dann eines aus Eisen, wesentlich kleiner, in meinem Zimmer; danach gingen sie wieder in die Küche, wobei sie ihre laute Unterhaltung keinen Moment unterbrachen. Die Geschichte steuerte gerade auf meine Lieblingsstelle zu, die, bevor sie zur Erzählung wurde, ihren Ursprung in realen Ereignissen hatte, in solchen allerdings, die sich niemand hätte vorstellen können. Mein Vater verließ gerade auf der Mottlau den Kajak, mit dem er gekommen war, warf das Ruder und damit seine ganze Vergangenheit weg und machte sich auf die Suche nach einem neuen Leben. Mit einem kleinen Rucksack marschierte er durch die erste ausgebrannte Straße, zwischen den noch rauchenden Ruinen der Häuser und Kirchen hindurch, sprang über die Leichen von Menschen und Pferden, die nicht begraben worden waren, wich übriggebliebenen militärischen Geräten aus, die so manche Kreuzung versperrten, hier und da hielt ihn ein sowjetischer Posten auf, doch keiner konnte ihm erklären, wo sich jenes sagenhafte PUR1 befand, das er finden muss- 1 Poln.: Państwowy Urząd Repatriacyjny, Staatliche Behörde für Repatriierung, 1944 gegründet, war mit der Organisation der sog. „Repatriierung“ befasst, d.h. der Umsiedlung der Polen aus den von der SU besetzten Gebieten te, um Essensmarken sowie einen Schein mit einer amtlich zugeteilten Adresse zu bekommen. Nach einer strammen Stunde Fußmarsch gelangte er zum Polytechnikum, wo man ihm bestätigte, er könne sich zum ersten Trimester für Schiffbau einschreiben, aber erst in ein paar Wochen, wenn das Aufnahmeverfahren beginne; und erst dort, in seiner zukünftigen Hochschule, gab man ihm die Adresse jenes magischen PUR. Wieder machte er sich zu Fuß auf den Weg, zurück zur verwüsteten Stadtmitte, durch die Große Allee, auf deren von Geschossen zerpflügten Gleisen ausgebrannte Straßenbahnwaggons standen, ohne Fensterscheiben und ohne Lichter, wie eine abscheuliche Prozession von Krüppeln und Blinden. „Tat es Ihnen nicht leid um den Kajak, den Sie auf der Mottlau gelassen haben?“ fragte Herr Galinski. „Der muss doch damals ein Vermögen wert gewesen sein. Man hätte ihn auch gegen Essen tauschen können, mindestens zwei Gläser Marmelade oder eine Büchse Dosenfleisch!“ „In dieser Zeit gab es keinen Bedarf an Kajaks“, erwiderte Vater ganz ruhig. „Außerdem hatte ich fast siebenhundert Kilometer mit ihm zurückgelegt, zuerst auf dem Dunajec, dann auf der Weichsel. Er hatte mehr Löcher, als wir Jahre auf dem Buckel haben. Eine Schrottkiste. Schlimmer als ein altes kaschubisches Boot.“ Ich wusste, dass in meiner Lieblingsgeschichte des Anfangs jetzt gleich der Wendepunkt kommen würde – ein Viertelstunde vor Schließung des PUR-Büros, wo es in dem schmalen Flur von verzweifelten Menschen wimmelte, erblickte mein Vater Herrn Bieszk und Herr Bieszk meinen Vater, und sie wurden sofort Freunde. Bieszk wusste, wie man außerhalb der Schlange zum wichtigsten Beamten vordringen konnte, aber er war nicht imstande, auf Polnisch ein Gesuch zu schreiben, auf kaschubisch hätte es niemand haben wollen, und das Deutsche, in dem er von der Front aus sogar drei Karten an seine Mutter gekritzelt hatte, war nicht mehr Amtssprache, das Deutsche hatte sich selbst für viele Jahre aus dem Verkehr gezogen. Vater feuchtete also den Kopierstift an und schrieb auf dem Knie für Herrn Bieszk rasch, was dieser brauchte: die Bitte um die Rückgabe zweier Pferde, die einen Tag zuvor zusammen mit dem Fuhrwerk von einer sowjetischen Militärpatrouille für die Rote Armee requiriert worden waren; und so traten sie vor den wichtigsten Beamten des PUR, mit dem Gesuch um die Rückgabe eines landwirtschaftlichen Fuhrwerks und der mündlichen Bitte um Zuteilung eines Schlafplatzes für meinen Vater. Sie erreichten nichts. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall MAGDALENA TULLI LÄRM © Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute Magdalena Tulli (geb. 1955), Schriftstellerin und Übersetzerin. Autorin mehrmals ausgezeichneter Romane, von denen jeder in die Endrunde für den „Nike-Preis“ gelangte. Ihr letzter Roman, „Italienische Absätze“ [Włoskie szpilki], wurde mit dem renommierten „Gdynia-Literaturpreis“ und dem „Gryfia-Preis“ ausgezeichnet. Tullis Bücher wurden bereits in zahlreiche Sprachen übersetzt. Wie soll man, kann man leben in einer Welt, die sich als Hinterhalt erweist? Wie kann man von etwas sprechen, zu dem man sich selbst jahrelang den Zugang verwehrt hat? „Lärm“ von Magdalena Tulli ist eine ganz private Geschichte, verstrickt die in die große Geschichte des Jahrhunderts, das durch die „Zeit der Verachtung“ des Krieges so unrühmlich geprägt ist. Es ist eine Geschichte darüber, wie man sich aus einer Katastrophe rettet, wie man die Minenfelder der Erinnerung entschärft, sich aus der Deckung wagt, Herr des eigenen Schicksals wird. Die Heldin ist ein kleines Mädchen, Tochter einer Frau, deren Gefühle hinter dem Stacheldraht von Auschwitz zurückgeblieben sind. Die wenigen Angehörigen sind vom Krieg innerlich verwüstet, und in der Welt der anderen, dem brutalisierten kommunistischen Polen, sind Güte, Empathie und Verständnis Mangelware. Ihre Unfähigkeit zum Kontakt mit anderen und ihr fehlendes Selbstvertrauen machen sie schnell zur Zielscheibe für ihre Altersgenossen. Noch Jahre später als Teenager und dann als Mutter zweier Söhne ist sie die Geisel dieses kleinen Mädchens. Schließlich ist es ein Brief von einem ungeliebten Cousin aus Amerika, der eine Flut von Erinnerungen und damit das Geschehen des Romans auslöst. Anfangs mag es einem so scheinen, dass der neue Roman die Fortsetzung der preisgekrönten hervorragenden Erzählungen in dem 2011 erschienenen Band „Italienische Absätze“ darstellt. Doch nichts könnte weniger zutreffend sein: in ihrem neuen Buch entkommt Magdalena Tulli auf bravouröse Art der alptraumhaften Welt des vorhergehenden Buches. Das sich selbst überlassene Mädchen aus dem Roman freundet sich mit einem imaginierten Fuchs an, dem Schrecken der Hühnerställe, Gegenstand des kollektiven Hasses jeder Gruppe, und – ähnlich wie sie – ein ewiger Außenseiter. Daran ist nichts Verwunderliches, vielerorts verkörpert der Fuchs im Volksglauben den Trickster, ein Wesen von vielschichtiger Bedeutung, verachtet und bewundert zugleich, sowohl Sündenbock als auch der Anführer beim Aufbruch in neue Welten. Viele Jahre später sind es die Lehren des Fuches, die es der Heldin ermöglichen, aus der Bedrückung zu finden, Verständnis für die Mutter zu entwickeln, die ja ohne ihr Zutun ein Opfer war, und nicht nur ihren eigenen Verfolgern zu verzeihen, sondern auch denen, die einst unmittelbar für die unsäglichen Leiden des Krieges verantwortlich waren und heute das Imaginarium des europäischen Gedächtnisses – bzw. inzwischen schon des Nach-Gedächtnisses – bevölkern. Sie alle, die Opfer und ihre Verfolger bilden – wie Magdalena Tulli schreibt – eine große Familie des 20. Jahrhunderts. Magda Tullis Roman sagt mehr über das Polen und das Europa der Nachkriegszeit aus als manche historische oder soziologische Untersuchung. In dieser Geschichte sprechen die Lebenden mit den Toten, im Untergrund vor dem Tribunal unter Vorsitz des Fuchses, wird großes Gericht über alles abgehalten, das sich ereignet hat. Tullis Prosa erzählt von der Notwendigkeit zu verzeihen, und davon, wie man leben soll, um zu vermeiden, dass sich das die Opfer stigmatisierende Schamgefühl nicht – paradoxerweise – in ein Schuldgefühl verwandelt. In dem Text geht es darum, wie man aus dem Kreidekreis findet, in dem die von Querschlägern Versehrten mit den unverschuldeten Qualen ringen. Der lakonische, ironische Ton von Tullis Prosa in diesem Roman wird ergänzt von phantasmagorischen Elementen. Doch diese Phantasmagorie dient einer großen Metapher, die als realistisches Argument steht. „Lärm“ ist eine psychotherapeutische Séance, eine Verarbeitung von Trauma mit Hilfe der Literatur. Die Literatur kann zum Rettungsanker in mancher Not werden. Magdalena Tullis neuer Roman ist der beste Beweis dafür. Marek Zaleski MAGDALENA TULLI SZUM ZNAK, KRAKÓW 2014 124×195, 208 PAGES ISBN: 978-83-240-2625-8 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM Einmal LÄRM ging ich mit dem Fuchs einen Waldweg entlang. An einer Wegkreuzung sahen wir einen Menschen mit gebrochener Nase, er trug eine Uniform ohne Rangabzeichen. Der Wind wirbelte die ersten roten und gelben Blätter von den Bäumen. In diesem Wald war immer früher Herbst mit schönen warmen Tagen, genau wie die, die immer auf die ersten Kränkungen folgten, die ich am Anfang eines jeden neuen Schuljahrs erfuhr. Hinter dem ewigen Herbst lauerte stets ein ewiger Winter. Die Uniform war einstmals schwarz gewesen und gut geschnitten, doch jetzt, nach Jahren des Herumlungerns, grau und abgetragen. Der Zerlumpte fasste mich am Ärmel. „Du darfst nicht zulassen, dass dich jeder beliebige ausnutzt, wie es ihm grade gefällt!“ rief er. „Diese Unterwürfigkeit wird dir aufgezwungen, du lässt sie zu. Das ist kein Verdienst!“ „Wir haben kein Interesse an Verdiensten“, antwortete der Fuchs an meiner Stelle. „Verdienste gibt es keine.“ „Aber doch! Es ist ein Verdienst, nicht zu zögern, wenn man mit der Faust auf den Tisch hauen muss. Ein Verdienst ist es, Kraft zu haben und sie nutzbringend einzusetzen.“ „Lass uns in Ruhe“, sagte der Fuchs. „Geh deiner Wege wohin du gehörst“. „Ich gehöre nirgendshin“, sagte der Mensch. „Ich hab hier lang genug gewartet, Ihr seid meine Familie.“ Wir beschleunigten unsere Schritte. „Von einem Fuchs wird man nichts lernen. Er kann nur im Gebüsch lauern und sich anschleichen. Man muss hart sein, nicht weich!“ Er holte uns ein, sein Atem wehte mir schon, vereint mit dem Wind, in den Nacken. Du hast doch schon einmal etwas Schlimmes gemacht. Und was ist passiert? Du hast Erleicherung verspürt, deshalb wirst du es auch wieder tun. Oder irre ich mich etwa?“ Ich dachte mir, dass er wahrscheinlich von diesen Stuhlbeinen redete, mit denen ich in der Schule mal um mich geworfen hatte. Nur durch ein Wunder ging es ohne eingeschlagene Schädel ab. Wenn er das wusste, gehörte er vielleicht tatsächlich zur Familie. Ich hatte wirklich manchmal Lust, etwas Schlimmes zu tun, etwas, das die Last der Demütigung aufwiegen würde, das ein Gegengewicht zu der angesammelten Last aller Demütigungen darstellen würde. Um zu vergessen, wie schwer diese wogen, musste man in die andere Wagschale auch etwas Schweres werfen. Aber mir fehlte der Antrieb. Ich hatte nie wieder mit etwas um mich geworfen. „Ja“, antwortete ich. „Du irrst dich.“ In jenem Augenblick, von dem er sprach, hatte ich keine Erleichterung verspürt. Und von da an hatte ich mich immer für etwas weniger Schlimmes entschieden, ich wählte stets den faulen Kompromiss zwischen dem, zu dem mich das Fieber der Wut treiben wollte, und dem, was ich mir erlauben durfte. Wir kamen zu dem Schluss, dass er gefährlich war. Als er schlief, fesselten wir ihn mit einer Schnur vom Gürtel aufwärts. Die Arme waren fest an den Rumpf gebunden, die Hände bewegungsunfähig nach hinten gedreht. Deshalb mussten wir ihn dann mit dem Löffel füttern. Die Beine ließen wir aus purem Mitleid ungefesselt. Wir wussten, dass er mit diesen Knoten an den Gelenken nicht in der Lage sein würde, etwas Schreckliches zu tun, was alle Zeugen bis an ihr Lebensende nicht vergessen würden. Er würde sich nicht einmal gegen jemanden verteidigen können. In einem solchen Fall würde er sich nur durch Flucht retten können, so wie wir. Wir waren nicht grausam. Wenn wir gekonnt hätten, wären wir mit der ganzen Abteilung so verfahren. III Was hingegen die Wehrmacht betrifft, die Uniformen in einem grünlichen Feldgrau – auf zeitgenössischen Fotos nur als Grau wiedergegeben – trug, die Wehrmacht hatte Hitler abgeschworen und war auf meine Seite übergelaufen. Anfangs war mir das peinlich, ich hatte mir die Wehrmacht nicht als Verbündete gewünscht. Aber dann gewöhnte ich mich daran und jetzt ist es kein Problem mehr für mich. Alle wussten, dass sie den Krieg verloren hatten, doch Unverdrossene riefen noch jahrelang aus verborgenen Ecken: „Hendehoch!“ Das war’s, was sie auf deutsch konnten, nicht mehr als ich. Die Wehrmacht kämpfte nur noch auf den Hinterhöfen, und ohne Begeisterung. Sie schoss mit Stöcken und bezog Prügel von allen Seiten, zu ihrer Rolle mehr oder weniger gezwungen von den Stärkeren und Älteren, die unbedingt Sieger sein wollten. Dem größten Teil der Streitkräfte, die es hierhin und dorthin versprengt hatte, war es schon früher gelungen, sich in Familienalben zurückzuziehen, die woanders aufbewahrt wurden, nicht bei uns. Von Zeit zu Zeit mustere ich die Reihen beim Umblättern der Albumseiten – wenn ich dort bin, wo die Alben auf den Regalen stehen. Früher war dieser Ort für mich eine große Leere, deren Umriss von der Grenze eines fremden Staates bestimmt war. Von dem, was sich dort tat, berichtete man uns, wie es hieß, im Radio, doch diese Nachrichten schwammen in einer zähen nach suspekter Rezeptur hergestellter Sauce, die absichtlich so zubereitet war, dass sie uns erschreckte und aus der Fassung brachte. Wir sollten von Angst ergriffen alle Arten von Zwangsbrocken schlucken. In jeder solchen Nachricht spürte man die Leere, dieselbe Leere, die einen von dieser Stelle auf der Landkarte anwehte. Im Haus meiner Großmutter in Mailand begegnete ich jemandem, der von dort kam. Dieser Ort existierte also tatsächlich und Menschen lebten dort, die so ähnlich aussahen wie wir. Ich war verblüfft. Der Anblick des Menschen aus jener Gegend jagte mir überhaupt keinen Schrecken ein. Er war um die dreißig, aber schon kahlköpfig, trug Zivil und blickte sanftmütig durch seine Brillengläser. Sein Italienisch hatte einen komischen Akzent. Er beschäftigte sich mit der Restaurierung von Bildern. An Waffen hatte er nicht das geringste Interesse, nicht mal an alten. Auch Politik ließ ihn kalt. Was mag dort sein? überlegte ich beim Betrachten der Landkarte von Europa, die vor der Geographiestunde in unserer Klasse neben die Tafel gehängt wurde. Alben brauchen ein Innen, und zu dem Innen gehört zwangsläufig auch ein Außen, eine Fassade. Menschen gingen auf einer Straße, Tauben flogen auf. Es gab alles, was man sich nur vorstellen konnte. Bäume, Hunde, Alte mit Krückstöcken, Straßenlaternen und Brücken. Die Alben greifen nicht an und tun es bis heute nicht, jeden Tag stehen sie auf ihrem Posten, auf den Regalen. In den Alben sind Soldaten stationiert. Mit ihren Soldatenkappen auf dem Kopf oder in der Hand stehen sie vor dem Hintergrund einer mit Vorkriegstapete beklebten Wand im Atelier eines Fotografen, manchmal sitzen sie auch. Aber sie sind unbewaffnet und schauen mir direkt in die Augen, zum Zeichen, dass sie nichts Böses vorhaben. „Mein Vater hätte dich gern gemocht!“, sagt jemand zu mir. Ich schaue mir den Vater in der besagten Uniform an. Er liebte Traktoren, wurde aber Panzerfahrer. Über Traktoren wusste er alles, mit einem Schraubenschlüsel in der Hand konnte er einen Traktor in alle Einzelteile zerlegen und wieder zusammensetzen. Er hat nie gegen unser Land gekämpft, weil er zu dem Zeitpunkt noch im Krankenhaus lag. Er war krank geworden, als man ihn für einen Ungehorsam bestrafte; zu lange musste er im klirrenden Frost in Habachtstellung stehen. Nach der Lungenentzündung ging etwas in seinem Herzen kaputt. Aber er war jung, deshalb befahlen sie ihm zwei Jahre später wieder die Uniform anzuziehen und schickten ihn in den Osten. „Zu Hause hatte er hektarweise Land und Maschinen. Solange er auf seinem Grund und Boden war, hätte ihm niemand seine Stiefel zum Putzen gegeben, kein Hauptmann und kein General. Für seinen Stolz hat er einen hohen Preis bezahlt“, erzählt mir jemand, den ich gut kenne. Mit dem Verlauf der Zeit wurde es immer schlimmer, nicht nur deshalb, wel dieser Soldat nach dem Krieg seine Hektar Land und seine Maschinen verloren hatte. Sein Herz schlug unregelmäßig, manchmal setzte es kurz aus, bis es dann, Jahre später, eines Tages, als er gerade mit dem Schraubschlüssel in der Hand auf dem Boden unter seinem eigenen Auto lag, ganz stehen blieb. Hab ich schon erwähnt, dass alle Leute dort ihre eigenen Autos hatten? „Trau keinem Deutschen über achtzig.“ Das sagen die, die nur Sanitäter und Köche waren. „Keiner hat je auf einen geschossen“, sagt mir ein anderer Besitzer eines Albums, auch ein guter Bekannter von mir. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky JANUSZ GŁOWACKI ICH BIN KOMMEN, ODER WIE ICH EIN DREHBUCH ÜBER LECH WAŁĘSA FÜR ANDRZEJ WAJDA GESCHRIEBEN HABE © Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute Janusz Głowacki (geb. 1938), bekannter und weltweit angesehener Prosaist, Dramaturg und Drehbuchautor. Internationalen Ruhm brachten ihm seine Theaterstücke ein (u.a. „Antigone in New York“ [Antygona w Nowym Jorku], „Die vierte Schwester“ [Czwarta siostra]). Głowacki wurde bereits mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet. Seine Bücher sind in Dutzende Sprachen übersetzt. Der erste Satz der Einleitung des Autors in „Ich bin kommen“ lautet: „Ich möchte klarstellen, dass ich dieses Buch vor allem schreibe, weil ich geizig bin, denn: Etwa zwanzig Szenen und ein paar Ideen aus dem Drehbuch sind nicht in den Film aufgenommen worden.“ Es geht selbstverständlich um „Wałęsa. Der Mann aus Hoffnung“ – Andrzej Wajdas Spielfilm über jenen interessanten Helden der Ereignisse, die zum Fall des Kommunismus in Polen geführt haben, über einen Mann, der vom Elektriker zum Anführer der Gewerkschaft wurde, den Friedensnobelpreis bekam und das Amt des ersten unabhängigen Präsidenten der Dritten Polnischen Republik inne hatte. Der berühmte polnische Regisseur Wajda hat das Drehbuch bei Janusz Głowacki bestellt, einem Ironiker, der sich geschickt der Tragikomödie bedient und nebenbei auch noch Zeuge der Ereignisse auf der Danziger Werft war. Das ist wichtig – es war beabsichtigt, das filmische Genie Wajdas mit dem intelligenten Spott des Schriftstellers zu verbinden, was nicht nur, wie man annahm, ein originelles Bild hervorbringen, sondern das Unternehmen auch vor dem Abgleiten in ein hagiografisches Pathos bewahren würde. Głowacki ging, als er die Einladung Wajdas annahm, davon aus, dass der von ihm bewunderte Filmschaffende einen künstlerischen Film drehen wollte. Erst nach einer gewissen Zeit begriff er, dass sozusagen ein „Lehrfilm“ entstand, der sich in erster Linie an Ausländer und Jugendliche richtete. Der Schriftsteller erzählt also davon, wie er allmählich die Kontrolle über die eigene Erzählung verlor, und überhaupt, wie es dazu gekommen ist, dass „Wałęsa“ sein Werk ist und es zugleich auch nicht ist, selbstverständlich in literarischer Hinsicht. Diese ungewöhnliche, paradoxe Situation durchdringt und strukturiert Głowackis Buch. Und vielleicht ist das an „Ich bin kommen“ das Interessanteste – es zeigt, wie Bestätigung und Negation von Autorschaft zugleich möglich sind, wie die legendäre Formulierung „dafür, und sogar dagegen“ zu verstehen ist. Das Buch ist somit die Geschichte eines gewissen Missverständnisses. Es scheint, als hätte diesem ein unterschiedlicher Blick auf den Titelhelden zugrunde gelegen. Głowacki ist von Lech Wałęsa als einer „königlichen“ Figur vom Zuschnitt der Dramen Shakespeares fasziniert, er sieht ihn literarisch und mittels der Literatur. Auf diese Weise geht er – und das schon auf den ersten Seiten – die entscheidende Frage an, also die Frage danach, ob Wałęsa in den siebziger Jahren unter dem Pseudonym Bolek Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes war. Er erwähnt, dass es für seine Erzählung – die Erzählung im Allgemeinen! – besser wäre, wenn der Held mit einem Makel oder einer inneren Zerrissenheit zu kämpfen hätte. Und natürlich muss es ein Geheimnis geben. In der anfänglichen Version des Drehbuchs war dieses in der mysteriösen fast dreistündigen Verspätung des Helden zum Streik im August angelegt, den er anführen sollte. Der Rahmen der Erzählung war der Weg – vom Verlassen des Hauses bis zur Ankunft auf der Werft. Doch Wajdas Blick ist ein anderer. Głowacki stellt ihn so dar: „Es muss ein Zeugnis der Geschichte sein, und es braucht eine Lektion in Staatsbürgerkunde“; „damit die Jugendlichen überhaupt was davon verstehen“. Das Recht der Kunst unterliegt also den politisch-persuasiven Bedürfnissen und – um es so zu sagen – den erzieherischen Zielen. Während der drei Jahre, die der Schriftsteller an dem Drehbuch arbeitet, erlebt er zahlreiche Unannehmlichkeiten, es wird ihm zum Beispiel „Verrat“ vorgeworfen. Ständig wird er gefragt, ob er den Mut haben werde, das Motiv des Bolek zu berücksichtigen, wobei zugleich suggeriert wird, dass der Drehbuchautor bestimmt nicht die nötige Charakterstärke dafür habe. Auf solche Anfeindungen reagiert Głowacki auf die für ihn typische Weise – mit boshafter Ironie und provokativem Zynismus. Er notiert: „Zwar bin ich kein Moralist, aber ich habe eiserne Prinzipien, und niemand wird mich jemals, selbst wenn er meine Allernächsten bedroht, ungestraft zur Fälschung der Geschichte zwingen.“ Ganz nebenbei schildert er sehr unterhaltsam ein Stück polnischer Geschichte, indem er Dutzende entzückender Anekdoten über das künstlerische und gesellschaftliche Leben in der Volksrepublik Polen erzählt. Dariusz Nowacki JANUSZ GŁOWACKI PRZYSZŁEM ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2013 130×240, 240 PAGES ISBN: 978-83-7943-323-0 TRANSLATION RIGHTS: ŚWIAT KSIĄŻKI Der Weg, also Idee Nr. 1 ICH BIN KOMMEN, ODER WIE ICH EIN DREHBUCH ÜBER LECH WAŁĘSA FÜR ANDRZEJ WAJDA GESCHRIEBEN HABE Man weiß doch, dass sich Wałęsa zu diesem Streik für die Wiedereinstellung von Anna Walentynowicz verspätet hat. Er war Streikführer und kam drei Stunden oder noch mehr zu spät. Bogdan Borusewicz, der mit Joanna und Andrzej Gwiazda, Krzysztof Wyszkowski und vielen anderen (denn die Liste der August-Helden wird pausenlos länger) alle Vorbereitungen getroffen hatte, sagte, dass er, falls der Streik nicht erfolgreich gewesen wäre, Lech für diese Verspätung zur Rechenschaft gezogen hätte, aber nach so einem Sieg… Und Wałęsa selbst äußert sich über die Verspätung enigmatisch, er habe da etwas zu Hause zu tun gehabt, die jüngste Tochter sei gerade erst geboren, noch nicht eingetragen gewesen… Natürlich, es gab auch eine Version, die der tragisch zu Tode gekommenen Anna Walentynowicz aus dem Herzen sprach, jener heldenhaften Aktivistin der Freien Gewerkschaften und einstigen Freundin von Lech – was sich dann später ins Gegenteil verkehrte: Wałęsa sei, wie ein Agent eben so ist, ins Woiwodschaftskomitee der Partei und zum Sicherheitsdienst geeilt, um Instruktionen zu empfangen, und dann hätten Polizisten den Verspäteten mit einem Motorboot gebracht. Und der Weg ist, wie ein Weg eben ist, er sorgt für Spannung, ist metaphorisch und metaphysisch. Daran haben weder die Literatur noch der Film ihre Zweifel. Das sieht man bei Kerouac, bei den Beatniks, bei Steinbeck in „Von Mäusen und Menschen“ und auch in „Asphalt-Blüten“ und „Fluchtpunkt San Francisco“. Wir alle sind irgendwie unterwegs, rennen, kriechen, fahren, flattern bis ans Ende. Zwar hat Maxim Gorki geschrieben, dass jemand, der zum Kriechen geschaffen wurde, nicht fliegen wird. Aber das ist etwas unpräzise, weil sich eine Raupe schließlich in einen Schmetterling verwandelt, und so etwas Ähnliches hat in der Werft stattgefunden. Selbstverständlich sind viele Polen der Meinung, dass wir sowieso seit Ewigkeiten fliegen, und zwar in großer Höhe. Gombrowicz hat einst die Parodie eines Abzählreimes geschrieben: „Ene, mene, muh: Ein Judenschwein bist du! Goldvögel wir Polen sind, das weiß doch jedes Kind. Und raus bist du.“ Aber Goldvögel sind Goldvögel, alle anderen von uns schleppen sich dahin, die eigene Kindheit lastet auf uns, genau wie in Kantors Toter Klasse. Auch die jüngste Vergangenheit, und dann kommen noch Zukunftsängste hinzu. Also habe ich gedacht, ich versuche diesen Weg von Wałęsa in Rückblenden zu schreiben. Das ist auch insofern interessant, weil wir fast überhaupt nichts über diese drei Stunden Verspätung wissen, also kann man sich, wenn man ein bisschen frech und risikofreudig ist, etwas ausdenken. Irgendwelche selbsterfundenen Wahrheiten, die interessanter werden könnten und wahrer als die sogenannte offizielle Wahrheit. Es gab da so einen englischen Film, „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“, dessen Held rennt und rennt, ab und zu erinnert er sich an etwas, und am Schluss wissen wir, warum er rennt und warum er nicht ankommen wird. Also habe ich mir gedacht, dass mir diese paar Stunden Verspätung wohl allemal für einen ganzen Film ausreichen, der höchstens zwei Stunden dauern soll. Auf dieser Reise gäbe es jede Menge Angst und Zweifel und Spannung: Gelingt es ihm zu kommen oder hält ihn die Staatssicherheit fest, was passiert, wenn er kommt, und was, wenn er nicht kommt? Entscheidend ist aber letztlich, dass er gekommen ist. Lech Wałęsa hat einst gesagt: „Ich bin kommen“ – und irgendwer hat ihn verbessert, es heißt nicht „kommen“, sondern „gekommen“. Angeblich hat er darauf geantwortet: „Es ist nicht wichtig, ob ich kommen bin oder gekommen, wichtig ist, dass ich ankommen bin … oder angekommen.“ Chesterton hat sehr hübsch geschrieben, dass Reisende, die in England mit dem Zug zur Victoria Station fahren, unterwegs von verschiedenen Wundern träumen, dabei ist es das größte Wunder, dass der Zug wirklich in der Victoria Station ankommt. Später erklimmt Lech Wałęsa, von Stasi-Leuten verfolgt, eine Mauer, springt und schwebt in der Luft … für immer. Im Standbild. Einen Moment lang dachte ich daran, den Film mit dem Casting für Wałęsas Rolle zu beginnen. Alle Kandidaten hätten in wattierten Jacken von der Werftmauer springen müssen. Einer von ihnen hätte zum Hochsprung angesetzt und erklärt, dass man das heute so macht. Aber davon habe ich Andrzej nichts erzählt. Und den Szenen in der Werft versuchte ich möglichst clever zu entkommen. Andrzej hat diese Idee mit dem Weg anfangs gefallen, und er hat sich sehr schön ausgedacht, dass jenes Foto (das Standbild) von irgendeinem Touristen gemacht wird, der Sicherheitsdienst schnappt ihn sich dann und vernichtet das Negativ. Und dann ein Schnitt, der Kongress, mit anderen Worten: „We, the People.“ Der phantastisch von Kazimierz Dziewanowski erfundene Auftritt Lech Wałęsas in Washington. Denn diese Worte aus der Unabhängigkeitserklärung sind in den Vereinigten Staaten heilig, jedes Kind kennt sie. Und wer sollte ein größeres Recht haben, den Kongressabgeordneten zu sagen: „Wir, das Volk“, als dieser Volksführer, dieser Bauernkönig, dieser katholische Moses, der die Polen durch das Meer des Kommunismus in die Freiheit geführt hat. Nicht allein, nicht allein natürlich. Aber ein großer Sieg muss, genau wie eine große Niederlage, ein Gesicht haben. Das macht es ein wenig einfacher. Also versteht man die stehenden Ovationen im Kongress. Angeblich waren sie stürmischer als bei Ausländern wie Winston Churchill und Charles de Gaulle. Also gar nicht schlecht. Und nach diesem Auftritt dachte ich daran, drei StasiLeute, die wir aus dem Handlungsablauf kennen, weil sie sich mit Wałęsa befasst haben, diese drei Leute also zu zeigen, wie sie sich eine Fernsehsendung ansehen und wehmütig, aber drohend sagen: „Seht mal, wie sich der da aufplustert.“ „Trotzdem ist er abgehauen.“ „Immer mit der Ruhe. Den kriegen wir noch.“ Besonders der letzte Satz könnte so manchem Zuschauer das eine oder andere zu denken geben. nun, zum beispiel es ist der 14. August 1980, fünf Uhr morgens, die Hitze spürt man noch nicht. Es dämmert erst, aber die Sonne macht, dass sich der Nebel verflüchtigt. Lech W. steht im ersten Stock vor dem offenen Fenster, er blickt auf die schrecklich traurige Umgebung. Drei an den Seiten überwucherte, graue Wohnblocks von vier Stockwerken, die Mülltonne, die Teppichstange, ein knatternder Warszawa, ein Trabant und ein grasgrüner Syrena. Lech W. raucht und ascht in einen Aschenbecher, er raucht und ascht… Doch bevor dieser „Weg“ beginnt, habe ich gedacht, könnte man versuchen, einen Hinweis zu geben, dass der Film im Jahr 2012 gedreht wird. Wir wissen mehr, als man in einer eineinhalbstündigen, höchstens zweistündigen Erzählung unterbringen kann. Also so eine Art Vorahnung, eine Kurzfassung dessen, was schon geschehen ist und was erst noch kommen wird. So ein Pseudoprolog, nach dem wir zu diesem Lech W. vor dem Fenster zurückkehren. Wie auch immer, ich habe es versucht. Ich hatte ein paar Ideen, die erste war etwas zu lang. prolog nr. 1 August 1980, Gedränge auf der Straße, Frauen, Männer, harte, verlebte Gesichter, ein wenig wie bei Bruegel, dazwischen Lech W. – 30 Jahre alt, observiert von Stasi-Leuten, die sich unter die Menge gemischt haben und nur wenige Schritte entfernt sind, aber ihn nur beobachten und kurze Mitteilungen durch die unter dem Revers ihrer Jacketts verborgenen Mikrofone durchgeben. Die Aufnahmen sind nicht gänzlich realistisch. Sie sollten ein wenig bizarr, schläfrig sein. Vielleicht so wie bei Andrei Tarkowski – eine schwarze Sonne scheint, so was in der Art. Oder wie die ersten Szenen in Lars von Triers „Melancholia“. Und dann plötzlich ein überfülltes Bett, sechs Kinder schlafen darin, ein Mann von kräftiger Statur tritt ans Bett, er weckt einen sechsjährigen Jungen, Leszek, und sagt: „Heute ist dein Namenstag, hier ist ein Geschenk für dich, du gehst die Kühe hüten.“ Er gibt ihm einen Stock, und dieser Stock verwandelt sich in ein Billardqueue, das Spiel beginnt, die Billardkugeln sind ein starker, mächtiger Block oder dreieckiger Körper, der aussieht, als könnte man ihm nichts anhaben, so etwas wie der Warschauer Pakt. Ihm gegenüber liegt die weiße Kugel, man sieht sie aus einer solchen Perspektive, dass sie klein erscheint, es können verschiedene Wortfetzen auf Russisch, Deutsch und Tschechisch zu hören sein. Lech W. – als Erwachsener – beugt sich mit dem Queue in der Hand über den Tisch, er schießt, die weiße Kugel saust wie ein Projektil, das Dreieck fliegt auseinander, die Kugeln verteilen sich auf dem ganzen Tisch, einen Moment später trägt eine begeisterte Menge von Werftarbeitern Lech W. auf den Händen, er schüttelt die Fäuste mit dieser charakteristischen Geste, dann legt Lech W., Danuta an seiner Seite, den Präsidenteneid ab, das dauert nur wenige Sekunden, es sind keine Worte zu hören, oder nur: „Ich schwöre dem polnischen Volk.“ Diese Aufnahme geht in eine andere Menschenmenge über, es ist Nacht, sie trägt eine Lech-WałęsaPuppe am Galgen, Transparente und Rufe: „Bolek, hau ab nach Moskau!“, die Puppe brennt. Und wir kehren zum ersten Bild zurück, dem auf der Straße, Lech W. zwängt sich immer nervöser durch die Menschenmenge, er rennt los, die Stasi-Leute folgen ihm, jetzt sehen wir, dass er an der Werftmauer entlang rennt, Lech W. klettert, springt und schwebt in der Luft. Standbild. Aus dem polnischen von Benjamin Voelkel IGNACY KARPOWICZ SOŃKA © Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute Ignacy Karpowicz (geb. 1976), Prosaist und Feuilletonist, einer der derzeit interessantesten polnischen Schriftsteller der jungen Generation. Autor von sieben Büchern. Dreimal für den Literaturpreis „Nike“ nominiert. Ausgezeichnet mit dem Kulturpreis „Paszport“ der Zeitschrift „Polityka“. Ein wahrlich meisterhaft konstruierter und in gewissem Sinne „tückischer“ Roman: „Sońka“ beginnt wie ein Märchen, und zwar nicht nur, weil die einleitende Phrase „Vor langer, langer Zeit“ lautet und gleich im Anschluss Tiere zu Wort kommen (Hund und Katze) – sondern auch und vor allem, weil sich in dieser Erzählung zwei Märchenfiguren wundersam begegnen: eine alte Frau, deren einziges Hab und Gut eine Kuh ist, und ein schöner Königssohn mit Luxusmercedes. Das Pech will es, dass das himmlische Gefährt mitten auf freiem Feld plötzlich stehenbleibt, „am Ende der Welt“ sozusagen, im polnisch-weißrussischen Grenzgebiet in der Nähe von Słuczanka, dem Dorf, in dem – was wohl nicht ohne Bedeutung ist – Ignacy Karpowicz seine Kindheit verlebt hat. Die alte Frau lädt den Königssohn in ihre ärmliche Hütte ein, bewirtet ihn mit frisch gemolkener Milch und erzählt von ihrem Leben. Sie heißt Sonia; ihr Gast hört auf den Namen Igor und ist ein angesagter und erfolgsverwöhnter Theaterregisseur aus Warschau. Igor begreift sofort, dass Sońkas Lebensgeschichte hervorragendes Material für ein bewegendes Stück über große Liebe und noch größeres Leid abgäbe, alles angesiedelt in den Realien der deutschen Besatzungszeit. An dieser Stelle verliert der Leser die Orientierung; er weiß nicht mehr, ob er noch die wahre, aus dem Leben gegriffene Geschichte vor sich hat oder bereits den mehrfach überarbeiteten und effekthascherisch aufpolierten Theatertext, ein im Grunde kitschiges „Produkt“ aus der Feder des raffinierten Igor, der genau weiß, womit er die Herzen des Warschauer Publikums erobert. Sońkas Leben ist nicht leicht: Sie wächst ohne Mutter auf, beim prügelnden und vergewaltigenden Vater und den herzlosen Brüdern, die sie für die Feldarbeit einspannen wie Vieh. Schweiß, Blut und Tränen – bis zum Jahr 1941, in dem Hitlers Heer auf dem Weg nach Osten durch ihr Dorf zieht. Ein Blick genügt und sie verliebt sich in Joachim, einen gutaussehenden SS-Offizier. Ihre Liebe wird erwidert – und zwei Wochen lang trifft sich das Paar heimlich jede Nacht. Die Liebe beflügelt Sońka, lässt sie im buchstäblichen Sinn „abheben“ (während der zwei Wochen isst und schläft die Protagonistin nicht, schwebt gewissermaßen in überirdischen Sphären). Der Preis für diesen Fehltritt wird hoch sein, doch noch ist das Urteil aufgeschoben: Schwanger heiratet Sońka einen jungen Mann aus der Nachbarschaft und bringt einen Sohn zur Welt, die Frucht ihrer Beziehung mit Joachim. Doch ein gutes Jahr später verliert sie alle ihre Nächsten: sowohl den grausamen Vater und die groben Brüder als auch den ihr ergebenen Ehemann, das Kind und schlussendlich den Geliebten. Danach führt sie ein Leben in Einsamkeit, von den Dorfbewohnern als Verräterin, Hure und Hexe gebrandmarkt; von nun an sind die Haustiere ihre einzigen Freunde. Karpowicz konfrontiert seine Protagonisten unablässig mit Fremdheit und der Unausdrückbarkeit von Erfahrung – ein ausgezeichneter Einfall. Sońka spricht weißrussisch, und Igor übersetzt ihre Geschichte nicht nur ins Polnische, sondern auch in die Sprache des engagierten Theaters (für die Warschauer „bessere Gesellschaft“). Die Titelfigur ist, lesen wir, in ihren Gesprächen mit SS-Mann Joachim absolut ehrlich, da sie kein Deutsch und er kein Weißrussisch beherrscht. Somit muss keiner von beiden lügen. Karpowicz „spielt“ diese Gegebenheit bravourös aus: Wenn Sońka Joachims Ausführungen über die Vernichtung der ortsansässigen Juden lauscht, malt sie sich in Gedanken ihre gemeinsame glückliche Zukunft aus, das Idyll an der Seite des Geliebten – und der Geliebte wiederum kann, an Sońkas Brust gelehnt, ihre streichelnde Hand auf seinem Haar, endlich seine quälenden Alpträume in Worte fassen. Er erzählt ihr von den furchtbaren Grausamkeiten, an denen er beteiligt ist, während sie ihm zuhört und zugleich nicht zuhört. Ein phänomenales Konzept! Eine weitere interessante Idee des Autors ist die Einbindung quasi-autobiographischer Figuren in die Erzählung. Igor heißt, wie sich herausstellt, in Wirklichkeit Ignacy, kommt aus derselben Gegend wie Sońka und hat, besessen vom Gedanken an eine Weltkarriere, die ostpolnischen Wurzeln und die bäuerliche Identität in sich ausgemerzt und den russisch-orthodoxen Glauben abgestreift. Aber wie es so ist bei Karpowicz – alles steht hier in Gänsefüßchen, ist leicht ironisch und selbstironisch gefärbt, überall schwingt die Furcht vor dem allzu Direkten, Sentimentalen oder einfach Gestrickten mit. Vertrauen wir also „Sońka“ und genießen dieses Angebot zugleich mit Vorsicht – das ist es, was Ignacy Karpowicz von uns will. Dariusz Nowacki IGNACY KARPOWICZ SOŃKA WYDAWNICTWO LITERACKIE, KRAKÓW 2014 120×207, 208 PAGES ISBN: 978-83-08-05353-9 TRANSLATION RIGHTS: WYDAWNICTWO LITERACKIE Auf dem Land SOŃKA finden sich die Leute leicht, ob sie wollen oder nicht, es sei denn, sie verschwinden, dann gehen sie unter wie ein Stein im Wasser, keiner hat was gesehen, gehört, gerochen, plupp, weg war er. Das Dorf ist eine eigene kleine Welt, alles in Hör- und Sichtweite, alle hocken so dicht aufeinander, dass keinem etwas entgehen kann, und später kommt dann die Strafe, meistens ist sie ungerecht. Ich schlich mich aus der Kate wie immer. Vater und Brüder lagen in tiefem, dumpfem Schlaf, als hätten sie Mohnmilch getrunken. Hinter der Pforte strich mir Wasyl um die Beine. Ich bückte mich, um ihn zu streicheln. Da schien es mir, als hätte ich etwas gehört, so etwas wie brechende Zweige, angehaltenen Atem und einen Schweißtropfen, der sich zwischen Brüsten sammelt. Doch da war nichts, und ich ging meinen Weg, zur Brücke. Ich sah Joachim gleich: In meinen Augen, die das Tageslicht immer öfter tränen ließ und blendete, spiegelte sich eine deutliche Kontur, eine dunkle Kurve. Die beiden stählernen Blitze auf seiner Uniform glänzten. Diese Blitze, die eng beieinander standen und für einen Moment gleißend aufleuchteten – sie kamen mir vor wie wir. Ich küsste ihn und nahm seine Hand. Zum ersten Mal war er überall angespannt, hart und abwesend. Kantig, wie aus Kanten, ohne Kreise und Krümmungen. Wir gingen zum Ufer, und er begann eine Geschichte zu erzählen. Erst dachte ich, es sei so eine Geschichte. Bald ist der Krieg zu Ende. Dann gibt es keine Front mehr, dann brauchen sie mich hier nicht mehr. Ich nehme dich mit zu meiner Mutter, sie hat eine schöne Villa in der Nähe des deutschen Städtchens Haradok. Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben, er war Lehrer. Mutter wird sich freuen. Sie wird dich in ihr Herz schließen. Meine Mutter kann die Zukunft und die Vergangenheit vorhersagen; sie ist zweipolig. Später heiraten wir. Du kochst manchmal polnisches Essen. Und es schmeckt allen gut. Wir bekommen fünf Kinder: Waschil, Griken, Jan, Phrosch, Schiessen. In den Ferien fahren wir in Kurorte und ans Meer (Meer heißt auf Deutsch Juden). Wir haben eine Katze, sie heißt Raus. Die Katze liegt in der Sonne und jagt Schweine (so heißen auf Deutsch die Mäuse). Unser älterer eleganter Nachbar in Nadelstreifenanzug, Herr Abramowitsch, überschreibt uns sein Vermögen. Und ein anderer Nachbar, auch aus Polen, Herr Buchwald, gibt unserem Erstgeborenen seine Tochter zur Frau. Ich dachte wirklich am Anfang, es sei so eine Geschichte. Die Panik, die in mir aufflatterte, wenn ich Joachim sah, verwirrte mir so den Verstand, dass ich nicht mehr wusste, was ich wusste. Die Leute redeten ja. Die Panik rappelte in mir wie eine getrocknete Bohne in einer Blechbüchse. Mit jedem Satz wurde mir mehr bewusst, dass ich in meinem kompletten Nichtverständnis zu viel verstand; die Namen unserer ungeborenen Kinder klangen mir verdächtig bekannt, nur etwas verzerrt in der kehligen Redeweise. Dann hörte ich eine andere Geschichte, die unter der ersten zum Vorschein kam; ich hörte diese andere Geschichte Hunderte Male, schon nicht mehr aus Joachims Mund, sondern aus dem Mund derer, die überlebt oder mit angesehen hatten, oder die den Alptraum verscheuchen wollten wie Flammen, indem sie mit den Händen wedelten und die Glut nur noch stärker entfachten. Oder war diese Geschichte vielleicht gar nicht über sie, sondern über meine Brüder und meinen Mann? Oder war das alles vielleicht noch gar nicht, sondern soll erst kommen? Sie versammelten über hundert Menschen bei der hölzernen Synagoge in Gródek, neben der russisch-orthodoxen Kirche. Ein heißer Tag. Die Juden warteten dicht zusammengedrängt. Sie hatten Angst. Es waren Krämer, Gastwirte, Schuster. Und deren Familien. Leute, die noch etwas besaßen, nicht viel vielleicht, aber etwas trotz allem noch. Sie hatten buchhalterische Aufzeichnungen in Heften, Alpträume von Jahwe, da ihr Gott noch niederträchtiger ist als unserer, sie hatten Bar Mizwas auf den Köpfen und junge Mädchen im Heiratsalter. Sie hoben ratlos die Arme, stopften ihre Hände in die Hosentaschen, ballten die Hände zu Fäusten. Es waren ältere Leute, sie rochen nach Staub und Lampenöl; und es waren jüngere Leute, sie rochen nach Sonne und frischem Schweiß. Hinter einer Postenkette von Soldaten drängten sich die Bewohner von Gródek. Manche hatten Mitleid, manche verstanden nicht, manche hofften auf Schuldenerlass. Manchen machte die plötzliche Erniedrigung der wohlhabenderen Nachbarn Vergnügen, manchen Angst. Die Soldaten zerrten zuerst einen jungen Mann aus der dicht gedrängten Gruppe. „Sehr gut“, sagte Joachim, genau wie er es einmal zu mir gesagt hatte. Der Soldat zog seine Mauser aus dem Pistolenholster, setzte den Lauf an die Schläfe und drückte ab. Nichts weiter, eine Fontäne aus Blutstropfen und zerbröselten Knochen. Sonia schüttelte den Kopf, als begriffe sie nicht viel von dem, was sie heraufbeschworen, nicht aber mit eigenen Augen gesehen hatte. Dachte sie sich das am Ende womöglich alles aus? Kam vielleicht beim Zusammenprall von erzählter mit tatsächlicher Geschichte die Wahrheit immer lädiert heraus? Igor lag, musste sich zusammenreißen. Schon einzelnes Leiden, zum Beispiel das eigene, und sei es das kürzlich erlittene Halsleiden, ertrug er schlecht – massenhaftes, von oben geplantes und von unten in die Tat umgesetztes Leiden lähmte ihn. Er konnte nicht zuhören und fühlte nur mechanisch mit, in reflexartiger stumpfer Solidarität. In einem leuchtenden Funken, der von Kater Jozik Pasterz Myszy auf ihn übersprang, begriff er, dass er noch mehr in Erinnerung behalten musste, als Sonia erzählte, dass er die Erinnerung in ein theatrales oder erzählerisches Tretwerk einspannen musste, um sich selbst zu retten, um endlich etwas Wahres zu erzählen, endlich um etwas zu ringen. Obwohl er das nun gerade schon von Anfang an geahnt hatte, von der Schwelle an. Der Junge fiel. Der Batjuschka von der orthodoxen Kirche sagte immer wieder, Boh richtet die Gefallenen auf und wirft die aufrecht Stehenden nieder. Boh richtete den Jungen nicht wieder auf, presste weder die Blutstropfen noch die Knochenbrösel zurück an Ort und Stelle. Ob der jüdische Jahwe nicht so gnädig oder so gewaltig war? Schließlich war es für Ihn bei uns in Haradok wie in der Fremde – weit weg von allem Sand und aller Wüste, ein Auswanderer. Oder hatten wir es nicht anders verdient? Für den Jungen hatte es ja keine Bedeutung mehr, aber in den anderen wuchs das Leid, die anderen brauchten ein Wunder und Beistand. Wie man sieht, hatten wir keinen Lazarus verdient. Obwohl Lazarus ja, wenn man es recht bedenkt, keiner von uns war, sondern ein Jude wie alle diese ersten Christen. Angeblich sagte niemand ein Wort. Die Deutschen zerrten die Menschen einzeln heraus, setzten ihnen die Waffe an die Schläfe und drückten ab. Jeder Fall riss ein paar Personen aus dem Kreis der Zuschauer. Diese Leute gingen zu den Häusern, aber nicht zu sich nach Hause. Fiel ein Ladenbesitzer, machten sie sich zu dem verlassenen Laden auf. Fiel ein Schuster, gingen sie in die unbesetzte Werkstatt. Schließlich war nur noch der alte Herr Buchwald geblieben, und der Batjuschka und der katholische Priester. Da gingen die deutschen Soldaten ganz plötzlich, ließen fast hundert Leichen, drei Lebende und einen Fliegenschwarm zurück. Was Fliegen sofort wittern, sind Leichen und Scheiße. Die Deutschen gingen einfach, als hätte dieser Vorfall keine besondere Bedeutung, als wäre die Arbeitszeit zu Ende und es käme nun der Feierabend. Fast hundert Leichen, drei Lebende und Fliegen. So ist sie vielleicht gewesen, die Geschichte von Joachim. Ich dachte nicht mehr, dass Juden auf Deutsch Meer heiße, Raus eine Katze und Schweine Mäuse seien. Am meisten Mitleid hatte ich mit Joachim. Ich liebte ihn und er lebte noch, aber er tat mir trotzdem leid, ich konnte nicht anders. Mein armer, hellhäutiger Joachim, sein schöner Körper, auf dem sich plötzlich verrenkte Umrisse von Leichen abzeichneten. Joachim hörte auf zu reden. Bis heute weiß ich nicht, was er mir in dieser Nacht erzählen wollte: von der Zukunft und dem Mord in der Stadt, von der Zukunft nach dem Mord oder von der Zukunft ohne Zukunft, ich weiß es nicht. Fest hielt er meine Hand umklammert. Es tat weh, doch dieser Schmerz war nichts im Vergleich mit dem Schmerz, den er verspürte. Er fing an zu weinen, redete und weinte, ohne jeden Zusammenhang. Später legte er seinen Kopf an meine Brust und schwieg. Ich atmete mit einem ganzen Sack Steine auf der Brust. Wir saßen nicht lange so dort. Er küsste mich nicht einmal zum Abschied, berührte mich nur am Arm, dann an der Brust; meine Brustwarze wurde hart. Ich sah ihm hinterher, wie er fortging; selbst als er schon lange mit der Dunkelheit verschmolzen war, stand ich noch am selben Fleck und fragte mich, ob mein Joachim eine nächtliche Truggestalt war oder doch ein Mann aus Fleisch und Blut. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes PATRYCJA PUSTKOWIAK NACHTTIERE © Tomasz Stawiszyński Patrycja Pustkowiak (geb. 1981), studierte Soziologin, von Beruf Journalistin. Sie publizierte bereits in den Zeitschriften „Chimera“, „Lampa“, „Polityka“ und „Wprost“. Ihr Debütroman „Nachttiere“ [Nocne zwierzęta] kam 2014 in die Endrunde für den Literaturpreis „Nike“. Patrycja Pustkowiaks schriftstellerisches Debüt erregte mit seinem originellen Stil – einem ausgefeilten, forschen und reifen Stil – viel Aufmerksamkeit. „Nachttiere“ wurde als „Unter dem Vulkan für Frauen“ bezeichnet, mit dem Einwand allerdings, dass es hier weit humorvoller zugehe als bei Malcolm Lowry. Ja, es ist ein Roman über eine Alkoholikerin. Über das Trinken, das Rauchen und andere Drogen. Über all die ernsten Gefahren, die es für eine junge Frau mit sich bringt, allein in Warschaus finsterer, phantasmagorischer Szenerie unterwegs zu sein. „Ihr einziger Begleiter – und zugleich Zeuge ihres Abstiegs – ist diese Stadt, Warschau. Ihr gewaltiger, ausladender Leib, über und über mit Säulen, Wohnhäusern, hoch aufragenden Plattenbauten gespickt und von Abertausenden blinkender Neonlichter erhellt.“ Am fesselndsten und erstaunlichsten ist Pustkowiaks Satzbau an sich: dicht, poetisch, mit Galgenhumor durchsetzt und von tragischer, faszinierender Eindringlichkeit. In den alkoholisierten Stadtlandschaften entdeckt die Schriftstellerin unerwartete Spuren von Poesie, die bis zur grotesken endgültigen Absturzszene immer wieder im Text aufschimmern. Tamara Mortus – so hat die Autorin ihre Hauptfigur getauft – ist eine anti-sentimentale Alkoholikerin. Sie sucht keine Begründungen für ihren Niedergang, träumt nicht von Liebe, wartet nicht auf Rettung. Sie zwingt den Leser ganz einfach, den Weg mit ihr zu gehen. Pustkowiaks Sinn für Dramaturgie kommt der Protagonistin dabei sehr entgegen. Die Autorin lässt ihre Geschichte bei einer Leiche beginnen und weist sogleich unverblümt auf den Missetäter hin. „'Dem Diebe brennt die Mütze', heißt es. Aber was Tamara angeht, seit wenigen Stunden frischgebackene Mörderin, so sieht die Sache komplett anders aus. Nichts brennt, weder an noch in ihr – Tamara ist wie ein Leuchtturm mit Stromausfall.“ Ist das wahr, fragt sich der Leser, oder einfach nur deliriöse Wahnvorstellung? Nun gilt es, herauszufinden, ob die Autorin, nachdem sie uns schon den angenehmen Anfang verwehrt, ein ebenso entsetzliches Ende anpeilt. „Nachttiere“ ist – entgegen einer der möglichen Lesarten – nicht nur ein spöttisches oder nihilistisches Buch. Sicher, die Autorin parodiert stellenweise den Stil der Großstädter um die Dreißig, die mit Kater-, Kotz- und Filmriss-Geschichten um sich werfen, als wären es originelle selbstgeschaffene Kunststücke. Doch selbst findet sie für solche Zustände eine ausreichend geräumige Form, die dem geistlosen Geplapper derer, die im Drogenrausch die Illusion von Unsterblichkeit suchen, etwas entgegensetzt. Die junge Frau – hübsch, gebildet, dennoch arbeitslos, dazu sehr durchtrieben –, deren Kreditkarte aus alten korporatistischen Zeiten wie durch ein Wunder noch funktioniert, ist kein gewöhnliches Suchtopfer, kein unglückseliger Junkie, weder krank noch abstoßend. Sie ist die fleischgewordene Angst all derer, die noch arbeiten und kaufen, aber auch die Figur einer leidenschaftlichen Prophetin. Einer, die ihrer eigenen Generation die einzige, unangenehme Wahrheit offenbart: Auch für euch wird es keine Arbeit mehr geben und keinen Sinn, eine zu suchen, keine Illusionen über das teuflische Glück, das dem Zugang zu Waren und Dienstleistungen innewohnt. Aber – spinnt die Weissagerin, die Verführerin ihren Faden weiter – vielleicht kann man ja ohne all das leben. Und sei es im Leben nach dem Tod, denn möglicherweise lässt sich ja mit Kokain und Wein ein Mensch immer wieder zum Leben erwecken. Oder doch nicht? Diese Unsicherheit – die ewige Frage sowohl in Krimis als auch religiösen Abhandlungen – ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Romans. Kazimiera Szczuka PATRYCJA PUSTKOWIAK NOCNE ZWIERZĘTA GRUPA WYDAWNICZA FOKSAL/W.A.B. WARSZAWA 2013 135×195, 223 PAGES ISBN: 978-83-7747-956-8 TRANSLATION RIGHTS: GRUPA WYDAWNICZA FOKSAL JE W EIT ER NACHTTIERE Tamara in die schwarze, zähe Masse ihrer Gedanken vordrang, desto mehr ekelte sie sich vor sich selbst und ihrem Körper. Ihre Genitalien waren ein feuchter, dunkler Tunnel nach Nirgendwo, der zahlenden Gästen geheime Lust verschaffte, wie die Geisterbahn in einem Vergnügungspark. Als sie jung war, hatten immer alle gesagt, lebe enthaltsam, Sex verträgt sich nicht mit Katholizismus; später dann war es genau umgekehrt: Nehmet und esset alle davon, von diesem Leib, in dem sie steckte. Sex war plötzlich in Mode, eine neue Religion, die sie ins Heiligtum der höchsten Freuden katapultierte. Dieser widersprüchliche Stimmenchor hatte sie, einen normalen Menschen mit dickem Fell und Weltanschauung, zu einer Patientin auf dem ärztlichen Experimentiertisch gemacht, umschlungen von einer Million unterschiedlichster Kabel, die Stoffe mit gegenläufigen Wirkungen in sie einträufelten. Sie war krank, ihr Blut war eine Brutstätte des Gifts und alles, was sie herausbrachte, war ein verzweifelter und stumm hilfeflehender Logarithmus, den – weil schweigend gesprochene Wörter so wenig Inhalt haben – keiner entziffern konnte. Manchmal dachte sie, sie müsste nachts vor Schmerz leuchten, ihre Haut müsste mit neonblau leuchtenden Adern eine Botschaft nach außen senden. Aber um sie herum war ja doch nur Leere, nur das Zimmer durchzuckte ein grellblauer Lichtblitz – wie auf der Intensivstation oder im Hospiz. O lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren... Den Sex zu zu streichen war deshalb wie eine Befreiung. Diesen Kampf mit ihrem Körper hatte sie gewonnen, einen anderen nicht – den Kampf gegen den Hunger. Ihr Körper forderte Essen und wollte von ihr gefüttert werden, ob sie müde war oder verkatert (es sei denn, es war ein Hungerkater, bei dem man sowieso nichts essen will); er war das Kind, das sie nie hatte und das ihr das Leben schwer machte. So auch jetzt: Ihr Körper versetzt ihr einen Faustschlag, will eine Mahlzeit. Doch die Alleinherrschaft in Tamaras Kühlschrank haben das Licht und zwei Flaschen Magenbitter, die sie wohl auf dem Nachhauseweg gekauft haben muss, denn gestern waren sie noch nicht da. Tja, man könnte natürlich jetzt eine Lichttherapie gegen Depressionen anfangen, davon hat Tamara in irgendeiner Esoterikzeitschrift gelesen – wenn sie auch nicht genau weiß, wie das geht. Sie probiert es mit der einfachsten Lösung: vor dem Kühlschrank stehenbleiben, den Mund aufreißen – die Lüftungsklappe, durch die das ungewollte Leben langsam entweichen kann –, und warten, bis das Licht eingesickert ist und sie erfüllt. Reflexionen religiöser Natur stellen sich ein: sich mit Licht erfüllen, ist das nicht dasselbe wie die Vereinigung mit Gott? Gott ist das Licht, Gott ist die Liebe, ähnliche Geschichten hat sie sich jahrelang in Religion angehört; Gott ist alles, was es nicht gibt, könnte sie nach all den weiteren Jahren ergänzen. Und dieser Gott, der momentan im Kühlschrank wohnt, will Tamara einfach nicht erfüllen, klammert sich an die weißen, leicht zerkratzten Ablageplatten, außerdem ist es kalt – die Helle sollte blenden und wärmen, aber was tut sie? Sie spottet allen Bekehrungsversuchen, will nicht in den Körper hinein, sondern hat nur die altbekannte Kälte und Demütigung zu bieten. Der Alkohol hat mir da schon angenehmere Sachen geboten, denkt Tamara beim Blick auf die rostbraun gefüllten Flaschen, die artig in einer Kühlschrankecke stehen. Aber momentan darf sie sich diese Freundschaft nicht erlauben, sogar abgewrackte Säufer wie sie müssen mal Pause machen und was essen. Und jetzt gerade überfällt sie der Katerhunger, ein Hunger der übelsten Sorte, bei dem man Lust auf scharfe Suppen hat. Vor ihrem inneren Auge sieht sie einen Teller dampfender Thaisuppe, ein idealer Mix von süßen, sauren und scharfen Gewürzen. Ein klein bisschen Wasser läuft ihr im trockenen Mund zusammen, aber was soll sie machen? Wenn sie wenigstens einen Brühwürfel und ein einziges, unter das Sofa gerolltes Raffaello hätte, dann könnte sie sich eine Thaisuppe Marke Eigenbau brauen. Aber es ist wie verhext, sie hat nichts, nicht mal diese Zutaten, das Einzige, was sie sich machen könnte, wäre eine Magenbittersuppe, aber darauf hat sie momentan keine Lust. Wie gut, dass sie in einer Großstadt wohnt, und nicht nur Großstadt, sondern Hauptstadt, und dass es in Hauptstädten alles gibt, auch ein reiches gastronomisches Angebot, das nicht zu nutzen eine Sünde wäre. Ein Anruf reicht und in einer Stunde landet die ersehnte Thaisuppe auf ihrem Tisch, nicht ohne vorher mehrere serpentinenartige Straßen zu überwinden, auf deren Staubkörnern die Schuhe zufälliger Spaziergänger rollen, und Hundepfoten und alles, was sich an sie heftet, vom Staub bis zu Mikroorganismen. Mit der Suppe auf den Knien stellt Tamara den Fernseher an und bleibt bei einer amerikanischen Sendung über die Verwesung des menschlichen Körpers hängen. Sie lässt sich einen Löffel köstliche Thaisuppe auf der Zunge zergehen, während der Sprecher vor der Kamera einen menschlichen Schädel in verschiedenen Zerfallsstadien vorführt; zuerst ist er ganz normal, dann bevölkern ihn Würmer, aber nicht nur eine Art, sondern mehrere, was man an den Farben sehen kann, und zum Schluss verschwindet das Fleischgewebe und zurück bleibt der weiße, säuberliche Knochen, wie man ihn aus Horrorfilmen oder dem Hamlet kennt. Als nächstes kommt eine Sendung darüber, wie man das loswird, was so wenig Glück im Leben hatte, dass es gestorben ist – tja, passiert schließlich jedem. Man kann sowas zum Beispiel in einem Sarg begraben, im Preis liegt das zwischen X und Y, dafür geht die Produktion schnell, das Holz ist hochwertig, Zufriedenheit garantiert. Wer unter der Erde keine Würmer möchte oder Verwesungsprozesse nicht mag, kann sich anders entscheiden – aber besser zu Lebzeiten, später könnte es zu spät sein. Die moderne Feuerbestattung wird in einem mindestens zweikammerigen Kremationsofen durchgeführt, dessen Konstruktion das direkte Zusehen nahestehender Personen bei der Zuführung der Leiche zum Ofen gestattet, was bei manchen unangenehme Assoziationen wecken könnte; höchste Zeit, sich aus den klebrigen Tentakeln der Erinnerung zu befreien und den Weg des Forschritts einzuschlagen. Der Ofen kann mit Heizöl oder Gas befeuert werden, der Brennprozess ist computerüberwacht und geht vollautomatisch vonstatten. Die Asche wird nach dem Brennen und vor der Urnenbefüllung in einer gesonderten Vorrichtung zerkleinert. Und dann heißt’s nur noch Urne in die Hand und ab nach Hause, das Ganze kostet kein Vermögen, höchste Zeit also, sich mal ein paar Gedanken über diese nette Alternative zum klassischen Begräbnis zu machen – brave Welt, legt uns schwanzwedelnd immer neue Ideen vor die Füße. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes ŁUKASZ ORBITOWSKI GLÜCKLICHE ERDE © Bartłomiej Kwasek Łukasz Orbitowski (geb. 1977), Schriftsteller und Publizist, gilt zur Zeit als einer der besten HorrorAutoren in Polen. Neben unzähligen Erzählungen gehen auch zwölf Bücher auf sein Konto, mit denen er für verschiedene polnische Literaturpreise nominiert wurde („Janusz-Zajdel-Preis“, „JerzyŻuławski-Preis“). Er ist außerdem Feuilletonist der „Gazeta Wyborcza“ und des Magazins „Nowa Fantastyka“. Mit „Glückliche Erde“ macht Łukasz Orbitowski, bekannt als Autor sogenannter „Genreliteratur“ (in diesem Fall: Horror und Fantasy) einen Schritt in Richtung „unattributierter“ Literatur, wiewohl er sich nicht ganz von seinem bisherigen Schaffen löst. Sein neues, völlig zu Recht für den diesjährigen „Paszport“ – Kulturpreis der Zeitschrift „Polityka“ nominiertes Buch ist eine spezielle Art Generationenroman (der Autor ist 1977 geboren, es geht also um die Generation der heutigen Mittdreißiger) und kombiniert eine realistische, eingehende psychologische und soziale Analyse mit einer intelligent konstruierten Fantasy-Handlung. Wörtlich genommen ist es die Geschichte einiger Freunde aus einer niederschlesischen Kleinstadt namens Rykusmyku, die an der Schwelle zum Erwachsenenalter gemeinsam ein unheimliches und tragisches Abenteuer durchleben. Dieses Erlebnis überschattet danach ihr ganzes weiteres, in großer Entfernung voneinander geführtes Leben und bewegt sie schlussendlich zu einer Rückkehr zum Ausgangspunkt, wo sie aufs Neue dem – sozusagen – „Unbekannten“ entgegentreten, dessen Natur der Autor auf höchst spannungsvolle Weise nach und nach enthüllt. Orbitowskis Außerordentlichkeit besteht (außer im schriftstellerischen Können) darin, dass seine Kreation sich jeglicher eindeutigen Lesart entzieht – und das nicht nur, weil der Autor die allzu simple Gegenüberstellung von Gut und Böse vermeidet, weil er statt in Schwarz und Weiß lieber in Grautönen malt. Nein, denn vielleicht ist es noch viel wesentlicher, dass die beiden einander ergänzenden Narrationsebenen sich auch gesondert betrachten ließen: Die eine Ebene wäre eine weitere Geschichte über die Vertreter einer weiteren „verlorenen Generation“, die andere wäre die Schaffung (im Grunde: Rekonstruktion) eines bestimmten Mythos, der die „übernatürliche“ Komponente des Buches und die damit verbundenen Irrungen und Wirrungen befördert – wobei sich gewiss beide Teile als äußerst überzeugend herausstellen würden. Wenn Orbitowski sie dennoch verknüpft, dann vielleicht, um ein Instrument zu erhalten, das die gewohnheitsmäßige Narration über gebrochene Lebensläufe, über Träume, deren Erfüllung manchmal zu viel kostet, über das mit jeder menschlichen Entscheidung verbundene Risiko universalisieren und zusätzlich verkomplizieren soll. Oder vielleicht sogar bloß, um diese Narration überhaupt entstehen zu lassen. Als einer der Protagonisten, schon gegen Ende des Buches, sagt: „Es war gut und es ging uns gut. Jetzt ist es schlecht und es geht uns schlecht. Wozu noch eine Geschichte dazudichten“, heißt das, dass es sich dabei nicht nur um eine zufällige Frage handelt. Und dass Orbitowski, indem er seine Narration mythisiert und den Realismus durchbricht, darin eine Art der Verteidigung gegen das Schweigen, die Stimmlosigkeit und die Leere sieht, die nicht nur die literarischen Protagonisten aufsaugt, sondern ebenfalls (um es leicht pathetisch zu sagen) uns alle und jeden für sich. Fast ein Grund, sich vor seinem nächsten guten Buch zu fürchten. Marcin Sendecki ŁUKASZ ORBITOWSKI SZCZĘŚLIWA ZIEMIA WYDAWNICTWO SQN, KRAKÓW 2013 150×215, 384 PAGES ISBN: 978-83-7924-086-9 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM Meine Mutter GLÜCKLICHE ERDE hieß Wut. Wir wohnten zusammen, als ich zu hören anfing. Ich bat sie lange, mich zu einem Arzt zu bringen. Doch sie bohrte selbst ihren Finger in meine Ohrmuscheln. Sie sagte, es sei alles in Ordnung und ich müsse tapfer sein. Auch ein kleiner Mann sei ein Mann. Dann verdrehte sie mir das Ohr. „Der Arzt steckt dir eine Nadel da hinein“, bekam ich zu hören. „Das tut erst richtig weh.“ 2 Es heißt, Wahrheit und Chancen, die gibt es nur in großen Städten, aber ich konnte mir trotzdem lange nicht vorstellen, an einem anderen Ort als in Rykusmyku zu leben. Mama, ja, die wäre gerne weggezogen. In Legnica erschreckten mich die langen Reihen mächtiger Altbauten. Als ich dort war, konnte ich förmlich die Riesen sehen, die in ihrem Innern lebten. Wrocław – wo wir selten waren – bestand aus dem Zoo, gelegentlichem Freizeitpark, Eis auf dem Hauptplatz und Kino mit alten Disney-Trickfilmen. Nach der Vorstellung setzte ich mich in den Bus und freute mich auf Zuhause. Deswegen fuhr ich auch nicht in die Ferien. Rykusmyku gab mir alles, was ich brauchte. Außer Stille. Auf dem Schlossplatz, hinter der Haltestelle, befand sich ein Markt, auf dem jeden Tag etwas anderes verkauft wurde. Montags Blumen, dienstags Tiere, mittwochs Kleidung, donnerstags Autos, und immer so weiter bis zum Sonntag, wenn jeder Schrott zu Geld gemacht wurde: bunte Feuerzeuge aus Deutschland, russische Gameboyspiele mit Wolf oder U-Boot, Arbeiterhemden und Sandra-T-Shirts. Am allerliebsten auf der Welt wollte ich einen Mini-Taschenrechner haben, einen runden, rot-weißen, der aussah wie ein Fußball. Mama gab mir sogar Geld, das ich aber gleich wieder verdaddelte. Den Mini-Taschenrechner malte ich mir selbst, in meinem Matheheft. Der Hauptplatz war damals sehr heruntergekommen, doch am allerschlimmsten sah das Stadtratsgebäude aus, das nach dem Krieg gebaut worden war. Es machte den Eindruck, als zerfiele es vor Kummer über das Schicksal der anderen Häuser, mehrstöckige Altbauten, ramponiert wie die zwielichtigen Gestalten, die von früh bis spät in der Ratuszowastraße herumhingen. Hoch über den lückenhaften Dächern ragte die Strzegomska-Bastion empor, wo unser Haus stand. Daneben verlief die Staromiejskastraße mit Friseur und Spielzeugladen, ihr Ende bildeten ein geschlossenes Kino und das Kulturhaus, Mamas Arbeitsplatz. Wäre ich weiter geradeaus marschiert, hätte ich bald die Felder rings um Rykusmyku erreicht und eine waldige Haube vor mir gesehen, die sich über einen wassergefüllten alten Steinbruch legte. Rechts führte ein Kiesweg mit beidseitig stehenden Pappeln zu den Schmiedewerken, beim Abbiegen in die Gegenrichtung ging es zum Park mit einem Teich, auf dem Enten mit benzinschillernden Köpfen schwammen. Auch einen kleinen Spielplatz gab es. Die Schaukeln bestanden aus Holzplanken und Reifen und waren an Ketten aufgehängt. Etwas weiter floss ein Bach und vor ihm, auf einer leichten Anhöhe, stand das Skelett eines Betonbunkers und lud zu Kriegsspielen ein. Auf der anderen Seite des Flüsschens breiteten sich neue Wohnsiedlungen aus. Die Menschen, die dort wohnten, schienen fremd, wie Barbaren, die sich die Knochen ihrer Feinde tief in die tätowierten Gesichter bohrten. Angeblich war dort einmal eine Frau vergewaltigt worden, eine Zugereiste. Sie tauchte aus unbekannten Gründen hier bei uns auf, nahm sich ein Privatzimmer und untersuchte tagelang irgendetwas beim Schloss. Jemand überfiel sie gleich hinter dem Fluss. Sie ging zur Polizei, zog aber kurz darauf ihre Aussage wieder zurück und erklärte, alles sei einvernehmlich geschehen. Dann fuhr sie wieder ab. Ich war sehr klein, als ich diese Geschichte zufällig mit anhörte, und die Erwachsenen weigerten sich, mir zu erklären, was ich nicht verstand. An der anderen Seite der Stadt lag noch ein Park, der größer und ungepflegter war. Dort stand die Friedenskirche, der Stolz von ganz Rykusmyku. Sie war nach dem Dreißigjährigen Krieg ohne einen einzigen Nagel gebaut worden, zum Zeichen der Einigung zwischen Katholiken und Protestanten. Man brauchte nur zum Haus nebenan zu gehen, den Pastor zu bitten, und der Pastor schloss die Kirche auf und ließ eine Stimme vom Band laufen, die einem die Geschichte dieses Ortes, Gottes und ganz Rykusmykus erzählte. Ein eingestürztes Gebäude, in dem vor dem Krieg ein Café gewesen war, diente uns hier als Spielplatz. Nach dem Zaun und der Straße kamen nur noch das Bahngelände und die Invalidengenossenschaft Inprodus. Ich stellte mir immer vor, dass dort Leute ohne Arme und Beine produziert würden, die man dann mit dem Zug an Orte schickte, wo sie gebraucht wurden. Wir hatten auch ein Schloss. Das Schloss war das Wichtigste, es lag zwischen Hauptplatz und Schlossplatz auf einem rostig aussehenden Hügel, es war ein pistazienfarbenes Schloss, sodass es an den Fürsten Piast erinnerte, der zweifellos einmal dort gewohnt haben musste. Fürst Radoslav aus Tschechien hatte es gebaut. Hier waren immer die Könige und Marysieńka zu Gast gewesen. Im neunzehnten Jahrhundert wurde das Schloss ein Gefängnis, hundert Jahre später ein Zwangsarbeitslager, woran sich manche unter uns noch erinnern. Vielleicht waren deswegen alle Eingänge zugemauert und die Fenster in den unteren Stockwerken mit Brettern vernagelt. Trotzdem hatte ich manchmal Lichter im Turm gesehen. Nachts drangen aus den Eingeweiden des Schlosskomplexes Geschrei, Gelächter und Laute anderer Art, die ich aufgrund meines Alters nicht verstehen konnte. 3 Meine Mutter war sehr schön. Eines Tages betrachtete ich mich nackt im Spiegel. Ich hatte einen eingefallenen Bauch mit flachem Nabel und kleine Augen, getrennt durch eine lange Nase. Ich ging zu Mama und fragte sie, warum sie mir nicht gesagt hatte, dass sie nicht meine Mama war. Eine schöne Frau kriegt doch keine hässlichen Kinder, wollte ich noch sagen, bekam aber eine geklebt. 4 Unser erstes Spiel hatte mit dem Schloss zu tun. Schwer zu sagen, wie alt wir waren, vielleicht acht, vielleicht auch jünger. Die Erwachsenen sagten, es sei dort zu gefährlich und man könne irgendwo herunterfallen; ich hörte auch Geschichten von einem Labyrinth ohne Ausgang und einem Jungen, der vor langer Zeit hineingeraten sei und bis jetzt darin herumirre, obwohl er schon erwachsen war. Doch wir wussten es besser. Trombek war es wohl, der den Eingang fand – einen Baum mit einem Ast, der genau bis unter ein Fenster im ersten Stock reichte. Wir gingen alle fünf mindestens einmal im Monat hin. Im Sommer noch öfter. Ich rutschte von dem Ast direkt in die Kühle, landete auf Schutt und Glas. Der abwärts führende Gang schluckte alles Licht. Wir lümmelten uns auf der steinernen Fensterbank. Jeder machte Witze, versuchte, sich selbst und den anderen Mut zuzusprechen. Die Mutprobe sah immer gleich aus und endete auch immer gleich. Wer wagte sich weiter ins Dunkel vor? Schaffte es einer bis zum Ende des Ganges? Sikorka behauptete, da unten sei ein unterirdischer See, konnte aber nicht erklären, woher er das wusste. Das Feuerzeug hielt ich mit einem Stofffetzen oder Handschuh, um mir nicht die Finger zu versengen. Ich ging dicht an der Wand. Von Zeit zu Zeit spähte ich zurück, zu dem kleiner werdenden hellen Viereck und den vier gespannt wartenden Schatten. Ich zählte mit, sie zählten mit. Eine Zahl, ein Schritt. Ich setzte die Füße vorsichtig auf, scharrte das Geröll mit der Schuhspitze beiseite. Es wurde immer dunkler und immer kühler. Ich dachte an den Jungen, der unter der Erde lebte, an den See voller Ungeheuer und an die Räuber, die dort ihre Höhle hatten. Das Fenster wurde immer kleiner, ich ging immer langsamer, bis ich schließlich herumfuhr und so schnell zurückrannte, wie ich konnte, und dabei aus vollem Halse schrie. Das war nicht peinlich, denn jeder machte es so. Wenn ich mehr Schritte als irgendwer vor mir gemacht hatte, ritzte DJ Krzywda den Rekord in die Mauer ein. Wenn nicht, dann nicht. Danach gingen wir zum nun schon menschenleeren Marktplatz und setzten uns auf die langen Tische. Wir erzählten uns, was wir noch alles tun wollten, wie toll es würde, wenn wir es endlich bis ganz unten schafften, und wärmten verschiedene Geschichten über das Schloss wieder auf. Irgendetwas lebte dort, irgendetwas wartete. Das Schloss war unser erstes Spiel. Und es erwies sich als das letzte. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes BRYGIDA HELBIG HIMMELCHEN © Maria Kossak Brygida Helbig (geb. 1963), Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und Universitätsdozentin. Autorin von Gedichtbänden, Erzählungen und Romanen sowie literaturwissenschaftlichen Büchern. Ihr neuester Roman „Himmelchen“ [Niebko], gelangte 2014 in die Endrunde für den Literaturpreis „Nike“. Niebko – „Himmelchen“ – ist eine Geschichte, gewebt aus einer deutsch-polnischen Familiengenealogie. Eingeflochten ist eine gehörige Prise Nostalgie, doch die Stimme der Erzählerin bleibt diszipliniert. Viel Wärme ist zu spüren und die sichere Hand, welche die Mosaiksteinchen zusammenfügte und eine runde, gut lesbare Einheit entstehen ließ. Die Anfänge dieser Geschichte sind erhaben, biblisch geradezu. Der Vater „kam im mythischen Galizien zur Welt, an einem Ort, an den 1783 seine Ahnen aus dem Rheingebiet auf Fuhrwerken angerollt kamen, auf der Suche nach Speis und Trank. Die deutschen Kolonisten.“ Am wichtigsten ist nämlich an diesem Buch das Untypische der Herkunft der beschriebenen Familie. Die Protagonisten – die Eltern und Großeltern der Erzählerin (…) – sind polnische Deutsche. Oder deutsche Polen, denn Tatuś, also Papi, die zentrale Figur des Romans, „weiß jetzt schon nicht mehr, ob er Deutscher ist oder Pole“. Waldek, früher Willi (oder „eigentlich Willi“) gehört zu den Vätern, die schwierige Angelegenheiten mit einem Schulterzucken abtun. Die Schicksalswirren werden hinter dem Alltagsleben versteckt, hinter dem vereinheitlichenden Schleier der Gewöhnlichkeit des Familiendaseins im Ostblock, in einer „Zwergenwohnung im dritten Stock eines Betonplattenbaus“. Erst die Stimme der Erzählerin definiert diese Lage als problematisch, fordert Aufdeckung, strebt sanft, aber bestimmt die Wiederherstellung der Kontinuität an. Und zwar der väterlichen Stimme zum Trotz: „Das war gar keine Maske. Ich fühlte mich damals schon als Pole. Ich dachte da gar nicht an meine Abstammung. Ich bin doch in Polen geboren. Das ist Quatsch mit Soße.“ Dennoch färbt diese Doppelheit – einer der Bereiche der polnischen Vergangenheit, die am stärksten tabuisiert sind – auf das Schicksal der Familie ab, sowohl auf das unbewusste, emotionale Schicksal als auch auf das äußerliche, reale. Die berufliche Karriere des Vaters in der sozialistischen polnischen Armee findet ein jähes Ende, als die militärischen Oberhäupter seine familiären Wurzeln aufdecken. Die Vertuschung einer „verdächtigen Abstammung“ ist in Polen ein Attribut, das normalerweise den Juden zugeschrieben wird. Was ist schlimmer für die Generation der Autorin, die zweite Nachkriegsgeneration: das symbolische Erbe der Opfer oder das der Henker? Die deutsche Abstammung, nur scheinbar unsichtbar geworden, zur Gänze verschmolzen mit der Landschaft der „wiedererlangten Gebiete“ [der ehemals deutschen polnischen Westgebiete; A.d.Ü.] durch die Stabilisierung der Nachkriegszeit, die polnische Staatszugehörigkeit und die Sprache, hört erst in der zweiten Generation auf, eine Last zu sein, findet eine literarische Form, die die Ordnung und die Existenzberechtigung wiederherstellt. In der Stimme der Erzählerin liegt etwas wahrhaft Beruhigendes, etwas von der haushälterischen Tüchtigkeit der deutschen Großmütter, der Wille und die Fähigkeit, über seinen eigenen kleinen Bereich zu herrschen. Diese Stimme ist sowohl gewissenhaft – kein Detail der Familiengeschichte geht verloren –, als auch sparsam – der Text ist in sich geschlossen, auf das rechte Maß zugeschnitten. Der zweite Handlungsstrang in Niebko ist die Geschichte von Basia, Willi-Waldeks Frau. „Mama und Papa“, wie in der Schulfibel. Auch eines der Kapitel ist so betitelt. Die weibliche Genealogie, die mütterliche, trägt das künstlerische, zum Hausgebrauch kultivierte Talent in sich. Basia spielt Mandoline, zieht sich gern mit Töchtern und Enkelin auf den Dachboden zurück und musiziert dort nur für sie. Neben dem Buchtitel, der ein altes Kinderspiel bezeichnet, ist diese Szene familiärer künstlerischer Betätigung symbolisch für den ganzen Roman. Sie steht für die Fürsorge und die Erleichterung, die das Erzählen in sich trägt, allem väterlichen „Erzähl keinen Blödsinn“ zum Trotz. Kazimiera Szczuka Aus dem Polnischen von Lisa Palmes BRYGIDA HELBIG NIEBKO GRUPA WYDAWNICZA FOKSAL/W.A.B. WARSZAWA 2013 123×195, 320 PAGES ISBN: 978-83-7747-959-9 TRANSLATION RIGHTS: GRUPA WYDAWNICZA FOKSAL Ab nach Berlin HIMMELCHEN 2014 also heute Willi sammelt Osterhasen. Er bewohnt eine bescheidene Doppelhaushälfte in einem Vorort von Stettin. Das Haus hatte er in den achtziger Jahren zusammen mit seinem Bruder mit eigenen Händen gebaut. Unweit von hier schossen vor ein paar Jahren, Pilzen gleich, das überdimensionale Handelszentrum „Real“ und das ebenso geräumige Bauhaus „Castorama“ aus dem Boden, das den aus Deutschland Anreisenden bereits einige Kilometer nach dem Grenzübergang mit dem Werbespruch „Du baust, renovierst, richtest dich ein“ begrüßt. In diesem Haus, auf einem Holzregal im Esszimmer, stellt der dreiundachtzigjährige Willi Osterhasen auf, fein in Reih und Glied, vom Kleinsten bis zum Größten. Das sieht aus, als ob die Hasen gleich im Gänseschritt losmarschieren würden, und zwar in das Gelobte Osterland. Am besten gefallen Willi die von „Lindt“, die vergoldeten, mit dem kleinen Glöckchen und der roten Schleife um den Hals. Kein Mensch darf sie anfassen. HALT! Finger weg von den Hasen!!! Basia, etwa neunundsiebzig, ist immer in Eile. Sie stolpert, balanciert sich am Abgrund des Tages entlang, kippt an jeder Türschwelle beinahe um. Weder hält sie die Wirbelsäule aufrecht, noch gibt ihr die Erde den nötigen Halt. Manchmal denke ich, es würde reichen, sie mit dem Finger anzutippen, und sie würde in tausend Stücke zerfallen. Sie kann nicht atmen, bekommt keine Luft. Der Kopf tut ihr weh. Andauernd brennt sie etwas an. Immerzu am Wegrennen, ständig auf der Flucht. Wenn ihre Töchter zu Besuch kommen, nimmt sie aus der Schublade die berühmt berüchtigten Vitamintabletten „Vitaral“ und steckt sie ihnen in den Mund. „Das ist Muttis Wunderwaffe“, erlaubt sich Tochter Ewa einen Scherz und lacht etwas verlegen, bevor sie wieder verstummt. Sie lacht zwar, und doch schluckt sie gehorsam eine blutrote Tablette nach der anderen, weil es zum einen herzlos wäre, seiner Mutter zu widersprechen, und weil sie zum anderen mittlerweile selber glaubt, dadurch vitaler zu werden. Tochter Marzena schluckt sie im Übrigen auch, und wie sie sie schluckt! Richtig hastig. 1945 Willi ist vierzehn, das Jahr 1945 ist noch jung. Er zweifelt stark, dass er unversehrt davon kommt. Schaut besorgt in den Himmel hinauf. Nein, es sind keine Mückenschwärme. Es sind Bomber der deutschen Luftwaffe – die so genannten Stukas, Sturzkampfflugzeuge, die Junkers JU 87. Sie sind überall, kommen von allen Seiten. Flink und tänzelnd tauchen sie im Sturzflug herab und beschießen mutig die sowjetischen Panzer und Laster – Monster, Ufos, Elefanten, die unerschrocken Richtung Westen ziehen, zum Großen Vaterländischen Krieg, und die Straßen verwüsten. Wehe den Spätzündern unter den Deutschen, die sich erst kurz davor zur Flucht aufgerafft und ihre Pferde vor die Fuhrwerke gespannt hatten. Wehe den Panzersoldaten der Roten Armee, den jungen Burschen mit den exotischen Gesichtern, die auf ihren Panzern sitzen und die Läufe ihrer Maschinengewehre hoch erhoben halten, wie zum Gebet. Schusssalven knallen. Menschen brüllen. Panzer gehen in Flammen auf. Der liebe Gott versteckt sich hinter einer Rauchwolke. Aus den Panzern rollt ein Angeschossener nach dem anderen. Aber die Riesenraupen kriechen unbeirrt weiter, wie Roboter. Soldaty vperiod. Die Jungs sterben wie die Fliegen und drängen dennoch unermüdlich vorwärts, nach Berlin, za rodinu, za Stalina, sie wissen längst selbst nicht mehr wofür eigentlich. Pechschwarz von Staub und Dreck, mit Ölfässern an Deck, bewusstlos, vom Alkohol betäubt, im Drogenrausch, in Trance, in einem miesen, dreckigen Traum. Sie fluchen: Job, mac‘, blad‘. Die Russen. Sie werden den Pferdewagen von Willis Mutter in Neudorf bei Gnesen einholen. Willi wird sich diesen Namen genau merken. Jetzt wird sich alles wie im Film abspielen. Der Junge wird genau wissen: Weg hier, runter von dem Pferdewagen, von dem gleich nur noch Staub und Asche übrigbleiben. Er wird runter in eine Furche oder einen Graben springen, wie er das bei der Hitlerjugend gelernt hat. Seine Mutter mit Knecht Kowalczyk und dem kleinen Heinz werden auf der anderen Straßenseite ihr Glück versuchen. Er sieht es wie auf einem Bildschirm: Wie sie hinter einem Sandhaufen geduckt lauern und auf den Tod warten. Plötzlich wird etwas Braunes, Großes und Schweres auf Willi herunterknallen, ein riesiges Stück Fleisch, eine absurd schwere Decke, ein monströser Fladen. Dieses Etwas wird den Jungen niederschlagen, erdrücken, es wird feucht und dunkel. Willi wird keine Luft mehr holen können. Auf einmal aber wird ihn, bei fünfundzwanzig Grad Kälte, eine behagliche und wohltuende Wärme überkommen. Papi, erzählst du, wie es war? […] eins, zwei, drei die 60er jahre und heute „Papa, woher hast du denn so einen komischen Nachnamen?“, fragten Marzena und Ewa manchmal. „Mein Gott, woher auch!“ Waldek zuckte mit den Achseln. „Normal, nach irgendwelchen Vorfahren, aber Leute, wann war das schon! Irgendwelche Vorfahren waren Österreicher, was weiß ich? Lasst mich in Ruhe und ab zu den Hausaufgaben! Und wenn wir schon dabei sind, wer ist denn heute dran den Müll rauszubringen?“ Selbstverständlich niemand. Und die kleine Ewa schon mal gar nicht, das war klar. Aber Marzena gab keine Ruhe und ermittelte weiter: „Papa, woher kannst du denn Deutsch?“ „Mein Gott, woher auch! Ich hatte es in der Schule.“ „Weißt du was, weil ich“, Marzena stampfte mit dem Fuß, „weil ich niemals dieses Gebelle lernen werde, Halt und Hände hoch!“ Und als Willi einmal unvorsichtig die Möglichkeit einer Auswanderung in die BRD erwähnte, brüllte die Dreizehnjährige los, dass die dünnen Wände der Miniaturküche der sozialistischen Dreizimmerwohnung ins Wackeln kamen. „Aber ohne mich! Das, verflixt, ohne mich! Fahrt doch alleine hin! Ich bleibe hier, hier ist meine Heimat. Zu den Nazis NIEMALS.“ So so. Waldek, in Wirklichkeit Willi, der eigentlich Bauer und Zimmermann wie sein Vater und Großvater werden wollte, Hilda oder Susanne Bischoff, Börstler oder Koch heiraten und seinen Sohn auf den Namen Heinrich oder Rudolf taufen sollte, blieb in Volkspolen stecken, heiratete die hübsche Basia und nannte seine Kinder Marzena und Ewa. Schnell erklomm er die Stufen der militärischen Karriereleiter. Es hat nicht viel gefehlt, und er wäre Major oder gar General geworden – wenn die Vergangenheit seine Pläne nicht irgendwann durchkreuzt hätte, wenn sich das Verdrängte und Vergessene nicht eines Tages gewaltsam an die Oberfläche gedrängt und ihn zur Rückgabe seiner Hauptmannsuniform der polnischen Volksarmee mit vier Sternen auf den Schulterklappen unwiderruflich gezwungen hätte. Bis dahin wurde die Uniform in den Untiefen eines mit Ölfarbe weißgestrichenen, in eine Nische im Flur eingebauten Schrankes aufbewahrt, wo sich ab und zu, mit den Türen quietschend, sein kleines Töchterchen heimlich und verstohlen hineinschlich. Waldek tat es ein bisschen weh, wenn seine Tochter mit solchen Sprüchen kam, dass sie niemals zu den Nazis, zu den Deutschen will. Denn Waldek war einmal sozusagen selbst eine Art Deutscher. Angenommen es existiere so etwas wie ein Deutscher. Nun weiß Waldek nicht mehr, ob er Deutscher oder Pole ist. Im Grunde genommen könnte man ihn für einen Polen halten, wenn da nicht der Umstand wäre, dass sein Herz bei Fußballspielen Deutschland gegen Polen doch stärker, scheinbar gegen seinen Willen, für die Deutschen schlug und Waldek unruhig in seinem durch lange Fernsehabende überstrapazierten Sessel zu zappeln anfing. In seinem langen Leben war Waldek, so gut es ging, das Eine wie das Andere. Er wechselte die Haut, zuerst um sich durchzuschlagen, um Schlägen und Tritten, letztlich auch dem Tod zu entgehen, dann wiederum um zu etwas zu kommen, Ansehen und Rang zu erlangen und die Familie mit sich in die Höhe zu reißen. „Ich wechselte gar nicht die Haut“ – widerspricht er und zuckt mit den Achseln. „Ich war eigentlich immer derselbe.“ Ach so. Die kleine Marzena bewahrte die Sternchen von den Schulterklappen ihres Vaters in einer Streichholzschachtel auf. Hin und wieder kontrollierte sie, ob alle noch drin waren, sie zählte sie immer wieder durch: Raz, dwa, trzy, cztery. Auf Deutsch konnte sie nicht zählen. Höchstens bis drei - das hat sie auf dem Hof gelernt: „Eins, zwei, drei wypieprzaj“. Ins Deutsche übersetzt heißt es „eins, zwei drei, verpiss dich dabei“. Das reimt sich so schön! Noch eins konnte sie sagen: „Guten Morgen, butem w mordę“, was so viel bedeutet, wie „Guten Morgen, Guten Morgen, Schuh aufs Maul und keine Sorgen“. Aus dem Polnischen von Brygida Helbig MICHAŁ WITKOWSKI DER VERBRECHER UND DAS MÄDCHEN © Ola Grochowska Michał Witkowski (geb. 1975), Prosaist, einer der führenden Schriftsteller der jungen Generation. Ausgezeichnet mit vielen Literaturpreisen. Seine Bücher wurden bereits in zahlreiche Sprachen übersetzt, und die englische Übersetzung von „Lubiewo“ – der Roman, der ihn über Nacht berühmt machte – wurde für den „The Independent Foreign Fiction Prize“ nominiert. „Der Verbrecher und das Mädchen“ [Zbrodniarz i dziewczyna] ist sein siebter Roman. „Der Verbrecher und das Mädchen“ ist, nach „Der Holzfäller“ von vor drei Jahren, der zweite Trash-Krimi von Michał Witkowski. Er ist tatsächlich trashig, weniger pasticheartig als über alle Dogmen erhaben, verplaudert, gespickt mit Abschweifungen und längeren Einschüben, die die Erzählung aufbrechen und den auf Konsum eingestellten Leser verstören, er entlarvt starre Konventionen und spöttelt noch über die eigene schematische Anlage. Nun kann man die sonderbare Krimiform als bloßen Aufhänger abtun oder darin einen konkreten Gewinn erkennen: Erst das Krimigerüst versetzt den Autor in die Lage, das chaotische Stimmengewirr unter Kontrolle zu bringen. Aber es ist gar nicht so entscheidend, auf welche Weise Witkowski sich populärer Genremuster bedient, da er sich ohnehin nicht an ausgemachte Krimifans richtet, sondern an Witkowskileser, zumal an diejenigen, die seinen Erfolgsroman „Lubiewo“ (2005, deutsch: 2007) noch in guter Erinnerung haben. „Der Verbrecher und das Mädchen“ bietet im bisherigen Schaffen des Breslauer Autors das Höchstmaß an Recycling: Hier kehren Motive, Figuren und Handlungsorte nicht nur aus seinem Romandebüt wieder, sondern auch aus dem „Holzfäller“. Wie schon im „Holzfäller“ ist der Protagonist ein Schriftsteller namens Michał Witkowski oder kurz Michaśka. Wieder befinden wir uns in der kalten Jahreszeit (die Handlung spielt im November/Dezember 2012), und wir kehren sogar für einige Tage nach Międzyzdroje zu guten alten Bekannten zurück (der „Kerl“ Mariusz, Holzfäller Robert u.a.). Hauptsächlich bewegen wir uns jedoch in Wrocław, wo ein Irrer umgeht, den die Polizei „den Vorkriegsmörder“ getauft hat. Er macht Jagd auf verwahrloste junge Burschen, setzt sie außer Gefecht, steckt sie in Kleider aus der Zeit vor dem Krieg und bringt sie anschließend um. Teilweise richtet er seine Opfer grausam zu – vergewaltigt sie, fügt ihnen Schnittwunden zu oder schaut in die geöffnete Bauchhöhle. Hat er sein finsteres Zeremoniell vollendet, lässt der Mörder die Leichen an Orten zurück, an denen sich vor dem Krieg die Breslauer Schwulen und Lesben getroffen haben; die meisten dieser Orte – und das ist wichtig – wurden bereits in „Lubiewo beschrieben“. Im Roman gerät Michał Witkowski unter Verdacht, nicht zuletzt, weil Michaśka Informationen über die ermordeten Jungs und das Vorgehen berüchtigter Serienmörder sammelt. Als Hauptverdächtigter tappt er in eine Falle der Ermittler: Ein attraktiver Beamter (Studi) bringt es fertig, dass sich Michał auf den ersten Blick in ihn verliebt, genauso schnell verschafft ihm der Polizist jedoch ein Alibi. Michaśka kann nicht der Vorkriegsmörder sein. Und hier geschieht nun etwas Seltsames: Michał entwickelt sich zunehmend zu einer Art selbst ernanntem Polizisten, seine Rolle bleibt jedenfalls nicht auf die des Beraters in den laufenden Ermittlungen beschränkt. Die Wandlung vom Schriftsteller zum Polizisten ist elementar. Der Protagonist betont mehrfach, er habe mit der Literatur gebrochen, da er zutiefst von ihr enttäuscht sei. Er tritt seit längerer Zeit auf der Stelle, und es bleibt unklar, was er außer der regelmäßigen Betätigung im Fitnessstudio noch so treibt. Er feiert sich wohl vor allem selbst, nicht nur, indem er bei jeder Gelegenheit an seine schriftstellerischen Lorbeeren erinnert, die, wiewohl ziemlich welk geworden, seine stärkste Trumpfkarte sind. Neben seinem Engagement in den Ermittlungen wird Michaśka zu einem Sammler oberflächlicher Eindrücke, einem Experten für Stil- und Modefragen und zu einem Reiseführer durch die polnische Konsumlandschaft. Seine sterile „Plastikexistenz“ geht ihm mächtig an die Nieren – der Eintritt in die Welt von Kriminalität und Perversion ist seine einzige Chance auf Wiederbelebung. Dariusz Nowacki MICHAŁ WITKOWSKI ZBRODNIARZ I DZIEWCZYNA ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2014 215×130, 432 PAGES ISBN: 978-83-7943-284-4 TRANSLATION RIGHTS: ŚWIAT KSIĄŻKI Samstag, 1. Dezember 2012 DER VERBRECHER UND DAS MÄDCHEN Am Samstag riss mich das schrille, ungefilterte Läuten der Klingelanlage grob aus dem Schlaf. Ich hatte in letzter Zeit nichts im Netz gekauft, deshalb dachte ich überhaupt nicht daran, den Hörer abzunehmen, bestimmt irgendwelche Kinder, die Klinken putzen. Aber da klingelte einer mit der Hartnäckigkeit eines DHL-Zustellers, und kurz darauf schellte es auch an meiner Wohnungstür. Ich quälte mich aus dem Bett und schaute durch den Spion. Studi mit weiblicher Verstärkung. Polizei also. – Sekunde! Mit einem Blick in den Spiegel in der Diele konnte ich feststellen, dass ich wie üblich nach dem Aufstehen aussah wie eine Mischung aus Serienmörder und fünf Monate alter Wasserleiche. Da war nichts zu machen. Ich warf meinen Morgenmantel über und beschloss, wie in einem amerikanischen Film aufzutreten – die Polizei kommt, und ich sitze mit Handtuchturban auf dem zerwühlten Bett, biete weder Kekse noch Kaffee an, nada. Als hätte ich täglich die Bullen in meiner zwielichtigen Absteige zu Gast. So hatte ich den alten Studencin noch nicht erlebt. Seit unserem Abschied gestern am Taxistand in der Wystawowa hatte er sich nicht umgezogen und war auch nicht zu Hause gewesen, also hatte er auch nicht geschlafen. Er hatte sich weder das Gesicht gewaschen noch die Zähne geputzt und trug eine entsprechende Wodkafahne vor sich her. Seit gestern war die gesamte Ironie und aller Witz verflogen, die penetranten Sterne in den Augen waren erloschen, die ironischen Fältchen zu Greisenrunzeln erstarrt, keinerlei Fantasy mehr, keinerlei Zauber, er ist jetzt ganz einfach hier, ist mit Blaulicht hierher gebrettert, um mich einzubuchten, und jetzt ist Schluss mit lustig, Krystyna Janda wacht schon im Gefängnis auf und weiß nicht, wo sie ist, sie sucht diese rote Tasche und die Alte informiert sie darüber, dass einem hier die Taschen abgenommen werden. Neben Studencin stand eine kurz geratene, auffallend füllige Frau, die ich schon gestern in der offenen Wohnheimtür aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte. Sie schenkte mir ein müdes Lächeln und stellte sich als Staatsanwältin Joanna Pospieszalska vor. (Das war also auch schon diese ganze Joasia, die ihn gestern unter der Brücke angerufen hatte). Entgegen meiner ursprünglichen Intention, sie wie die Nutte im Loch zu empfangen, erwachte plötzlich meine Mutter in mir, ich war meine gastfreundliche Mama, und die musste sich unverzüglich für das Durcheinander entschuldigen, erklären, sie sollten unter keinen Umständen die Schuhe ausziehen, ihnen einen Sitzplatz anbieten, Kaffee, Tee, Kekse, Mittagessen, freie Kost und Logis auf Lebenszeit … Das alles tat ich, während ich Studencin heimlich auf einer anderen Ebene ironisch zu verstehen gab, dass da nur meine treu sorgende Mutter aus mir sprach, aber ich weiß nicht, ob er in der Laune war, derlei Feinheiten wahrzunehmen. Er ließ sich schwer aufs Sofa fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Die Staatsanwältin studierte Buchrücken, nahm sich die Übersetzungen meiner Prosawerke vor, die sie kurz durchblätterte und anschließend ins Regal zurück stellte. Dann betrachtete sie das Jelinekfoto auf Tonpapier mit den konzentrisch sich weitenden Kreisen und dem Dartpfeil im Auge der großen Schriftstellerin. Sie wechselte einen vielsagenden Blick mit Studi nach dem Motto: „Volltreffer, das ist der Psycho, der Serienmörder, hinter dem wir her sind.“ Gänzlich sicher war sie sich, als sie die Sammlung an die Wand gepinter Meldungen über die ermordeten Jungen entdeckte. Volltreffer, seine Trophäen. Doch nicht. Studencin beruhigte mich sogleich, ich würde überhaupt nicht verdächtigt, da ich ja gestern, während der Mörder die Leiche beim Bliźniak-Wohnheim platzierte, mit ihm unter der Zwierzyniecki-Brücke gewesen sei. Deshalb könnten sie mir ein paar Sachen erzählen, nicht viel, aber doch etwas, denn sie bräuchten meinen Rat … – Literarischen Rat … gewissermaßen … – stotterte er. – In welchem Bereich? – fragte ich arglos. – Hör schon auf, Michaś, ich weiß doch, dass du gestern sofort da hingefahren bist, ich hatte extra die Adresse so laut gesagt, ich weiß ja wie nasew… also, dass das literarisch für dich interessant sein könnte, und … Hier geriet er erneut ins Stocken und zündete sich ohne zu fragen dreist eine Zigarette an. – Bitte, nehmen Sie doch von den Keksen. Vollkorn, ohne Zuckerzusatz, mit Gojibeeren, biologisch-dynamisch-organisch – pries meine Mutter in mir an und schenkte Kaffee ein. – Hör endlich auf damit, Misiek – stöhnte Studencin. Der Rauch hing schon unter der Decke, und er bedachte den Kaffee mit einem Blick, der erkennen ließ, wie viele solcher Tassen er letzte Nacht geleert hatte. Er legte seine Zigarette auf einem Aschenbecher ab, den ich ihm hingestellt hatte. Studencin verbarg sein zerknautschtes Gesicht in den Händen, verharrte eine Weile so, als wollte er sich sammeln, die letzten Kräfte zusammenkratzen, dann rubbelte er sich das Gesicht und zog sich die Wangenhaut lang. Das Weiß seiner Augen war von roten Äderchen durchzogen. Die Staatsanwältin dagegen, frisch wie ein Röslein, bediente sich brav bei den Keksen, zeigte sogar richtigen Appetit und bat statt des Kaffees um einen Tee. – Pass auf. Ich erzähl dir ein paar Takte, aber wenn du irgendwem etwas weitererzählst, kriegst du Ärger, dafür werde ich sorgen. Da wird keine Prosa draus, keine heißen Anekdötchen für das nächste Interview, von wegen Żmija hat dir seinen Elektroschocker geliehen und dann Schwierigkeiten in der Antiterroreinheit bekommen … – Ach Gottchen, ist doch klar … Nun sag schon, sag! – Es geht um diesen Mord gestern am Wohnheim. Wie bring ich das am besten auf den Punkt? – Hast du schon vom „Vorkriegsmörder“ gehört? – rettete die Staatsanwältin Studencin. – Nein. – Na bitte. Und weißt du, wieso nicht? Weil wir das bislang aus den Medien raushalten konnten. Aber die Sache beschäftigt uns schon seit Mai. So … Und wenn jetzt etwas nach außen dringt, bist du dran. Das geht nicht. Das ist mir jetzt bitter ernst. Hab ich gemerkt. Er kommt sowieso dahinter, und dann bin ich fällig. – Ich bin schon den ganzen Sommer und den ganzen Herbst da dran, vielleicht war ich auch deshalb manchmal nur schwer zu kriegen. Jetzt hatte ich mehr Luft, weil ich dachte, wir hätten ihn. Was ist das denn, du trägst Damenringe? Egal. Im Mai hat alles angefangen … der vorkriegsmörder Langes Wochenende, 1.-4. Mai 2012. Die Stadt der Begegnung keucht unter der großen Erwärmung, krepiert, badet in der Oder, im Morskie Oko, den Glinianki oder im dichten Vorgewittersmog. Über Wrocław schwimmen weiße Flugzeuge durch den sengenden Himmel, exakt ausgeleuchtet von den gnadenlosen Strahlen. Sie transportieren komplett entwaffnete, um ihre Scheren, Nagelfeilen, Flüssigkeiten und Taschenmesser beraubte, wehrlose, von der Sonne geblendete Postmenschen. Am Boden eingegangene Forsythien: Alles, was erst noch aufblühen sollte, liegt schon welk und verstaubt, begraben unter öligen Abgasen. Leere, keine Staus, freie Parkplätze, alle sind über das lange Wochenende weggefahren. Nur auf dem Ring kulminiert die Belagerung. Massen von Trommlern, Dreads und Rastas, von diesen Typen, die in ihren surrealistischen Kostümen reglos dastehen, wie der Turmmann, deutsche Touristen, schwedische Touristen und alle, die nicht zu Hause sitzen oder auf Mallorca rumliegen wollen, sondern unbedingt in mittelgroße Städte ohne richtige Attraktionen reisen müssen, die ihnen dieselben Waren in denselben Warenhäusern zu bieten haben wie zu Hause. Am Gläsernen Brunnen, dem ganzen Stolz des Stadtrates, mischen sich Englisch, Deutsch und nicht näher identifizierbares schweizerisch-holländisches Geblubber mit dem Wasserglucksen und dem Geruch von Gras, Zigaretten, Bier, Gegrilltem und erhitzten Gebäuden. Am Flughafen Strachowice, der für die EM hastig ausgebaut wurde, kampieren junge Leute, schmutziger als es Gottes Schöpfung erlaubt, verschmutzt mit internationalem Schmutz, den sie von Land zu Land weitertragen, bestäubt mit globalem Staub, Schengenstaub. Überall verteilen sie ihre Pappbecher von Starbucks, Coffeeheaven, Green Coffee, McDonald's usw. Sie spielen Gitarre und stellen diese Pappbecher auf, damit man ihnen gleich seine Euros hineinwirft, denn sie wissen nicht einmal mehr so richtig, in welchem Land sie gerade sind. Von Amsterdam nach Rom, von Rom nach Oslo, von Oslo nach Zürich, von Zürich nach Helsinki, von Helsinki nach – hoppla – Wrocław. Per Anhalter durch die Lüfte. Flugzeugtramper in luftigen Chucks. […] – Schon um vier Uhr früh laufen in hautenge Anzüge geschnürte Jogger durch den Szczytnicki-Park, und einer von ihnen will mal Wasser lassen, also – das ist was für dich, Misiek – läuft er zu dem Häuschen aus der Vorkriegszeit, das du in „Lubiewo“ verbrannte Klappe genannt hast … Die verbrannte Klappe ist, wie du weißt, eingezäunt und soll abgerissen werden, aber sogar der Zaun ist schon eingestürzt und niemand interessiert sich weiter für diese Ruine. Der Jogger geht also da rein und schreckt gleich wieder zurück wegen des bestialischen Gestanks und der angreifenden Fliegen- und Mückenschwärme. Aber da hat er schon etwas gesehen, das ihn bis an sein Lebensende in seinen Träumen verfolgen wird. Aus dem Polnischen von Thomas Weiler MARIUSZ SIENIEWICZ DIE KOFFER DES HYPOCHONDER © Elżbieta Lempp Mariusz Sieniewicz (geb. 1972), Schriftsteller. Auf der Grundlage seiner Romane entstanden einige Theateraufführungen. Seine Bücher wurden ins Deutsche, Litauische, Russische und Kroatische übersetzt. „Die Koffer des Hypochonder“ [Walizki hipochondryka] ist sein siebter Roman. Emil Śledziennik – der Hypochonder im neuesten Roman von Mariusz Sieniewicz – ist der Meinung, dass Packen Minimalismus lehrt. Wenn das stimmt, dann kann er wirklich nicht packen. Seine Geschichte über einen mehrtägigen Krankenhausaufenthalt in der polnischen Provinz stopft er bis an die Grenzen des Möglichen voll mit Kindheitserinnerungen, Liebeserklärungen an die Frau seines Lebens, Tiraden gegen den hinterwäldlerischen Patriotismus, Loblieder auf Schmerzmittel, schriftstellerisch-grafomanische Autoreflexionen (denn als alter ego des Autors ist auch er Schriftsteller) sowie ironische Reflexionen über Leben, Tod und alles Mögliche. „Die Koffer des Hypochonder“ ist ein echter Barockroman. Hier trieft jeder Satz vor Metaphern, jedes Kapitel schließt mit einer brillanten Pointe, jede Geschichte ist überzeichnet und so stark wie möglich ausgeschmückt. Das ist Gombrowicz'sches Barock, ein groteskes Barock. Die ironischen Konzepte und höfischen Fazetien haben einen einzigen Zweck: „Polen töten – das wäre was! Allein das Vorhaben schien mir sensationell wegen seiner Anmaßung.“ Emil schert sich nicht um politische Korrektheit, aus den polnischen Heiligtümern macht er sich nichts, jeden Tag träumt er davon auszureisen und denkt darüber nach, ob all das für Polen vergossene Blut ein Gewässer der Größe des Śniardwy-Sees oder vielleicht der Ostsee ergeben würde. Śledziennik kann Polen nicht ausstehen dafür, dass es ihm die Luft nimmt. Aber er gibt nicht so leicht auf. Er sichert sein Ego, indem er es fest in sehr verschiedenen Diskursen verankert. Vor allem ist da die Krankheit – die Hypochondrie, zu der er sich selbst offen bekennt, indem er sagt, er sei immer krank gewesen und hätte alles gehabt, was man nur haben konnte: „Dyskalkulie bis zum zwanzigsten Lebensjahr und Dysmemorie dann ab dem einundzwanzigsten.“ Wie es sich für einen Hypochonder gehört, ist er ausschließlich in seiner Fantasie krank. Aber dieses Kranksein ist für ihn umso schlimmer und heftiger. Denn im Grunde lebt der ganze Protagonist gänzlich, bis zum Ende und noch einen Schritt weiter, in der Fantasie, in ihrer surrealistischen Verzerrung, in einem traumartigen Staunen und in konfabulierender Verlogenheit. In der Sprache wächst er, findet Erfüllung, und in der Sprache liebt er. Dieser Roman ist voller seltsamer, aber außergewöhnlich schöner Geständnisse und Apostrophen: „mein morphiöses Sahnetörtchen, mein heroinöses Cremeküchlein, dank dir existiere ich in mehreren Welten gleichzeitig!“ Śledziennik ist ein süchtiges Subjekt. Süchtig nach allem. Nach Schmerztabletten, nach Nörgelei, nach der Frau seines Lebens, nach dem Erfinden von Geschichten, er ist süchtig danach zu reden. Sieniewiczs Buch liest man in einem Zug durch, weil es eigentlich keine Stelle gibt, an der man es auch nur für einen Augenblick weglegen könnte. Eine Pause in der Lektüre würde bedeuten, Emil mitten in einem Atemzug zu unterbrechen und ihn zu ersticken. Emil lebt in seinem Körper, weil er sich ununterbrochen mit seinem Körper beschäftigt und ihn analysiert. Er weidet sich an dem Anblick von Gallensteinen, findet Geschmack an Ketoprofen, aus der Rasur seines Unterbauches vor einer Operation kreiert er die Metapher eines lächerlichen menschlichen Schicksals, und seinen ganzen zweifelsohne schönen, wenn auch ungeschickten Lyrismus nennt er hormonell. Barock ist dabei, Gombrowicz ist dabei, dabei ist auch „die Krankheit als Metapher“ und der Topos des Schriftstellers, der sich von der Krankheit inspirieren lässt. In den Koffern verschließt Sieniewicz die literarische Tradition, aktuelle Stile und Sprachen, Erinnerungen und Erfundenes, Gefühle und Reflexionen. Es drängt sich der Gedanke auf, dass das Schreiben an sich Hypochondrie ist. Schreiben ist die Einstellung, dass in mir etwas sehr Bedeutendes und Außergewöhnliches steckt, etwas, was niemand anders hat und was keiner je vorher gesagt hat, was aber gesagt werden muss. Es lohnt sich, die Hände in „Die Koffer des Hypochonder“ zu tauchen. Man fischt eine ganze Masse intelligenten Humors und zynischer Reflexionen aus ihnen heraus. Dahinter steckt ein geistreicher Schriftsteller. Iga Noszczyk MARIUSZ SIENIEWICZ WALIZKI HIPOCHONDRYKA ZNAK, KRAKÓW 2014 140×205, 272 PAGES ISBN: 978-83-240-3210-5 TRANSLATION RIGHTS: ZNAK Ich öffne DIE KOFFER DES HYPOCHONDER die Augen. Wieder die Decke, die Wand, meine Zehen, die unter der Bettdecke hervorschauen. Und die Enttäuschung, ja Enttäuschung, dass ich mehr hier bin als dort. Ich belohne sie mir mit dem Klang Deines Namens. Bis jetzt ist es nicht so schlimm. Ein paar Erinnerungen, ein wenig leichtes Träumen. Das sind die unsichtbaren Koffer, die ich mitgeschleppt habe, außer dem mit dem Schlafanzug, dem Handtuch und dem Buch „Tod der schönen Rehböcke“. Ich öffne die Koffer auf gut Glück, ohne eine bestimmte Absicht. Ich schaue vorsichtig hinein, bin nicht ganz sicher, was sie verbergen. Wie dem auch sei, das Krankenhaus ist eine besondere Form des Reisens: je länger du liegst, umso weiter entfernst du dich von der Außenwelt, umso öfter gehst du über deinen eigenen Körper hinaus, überschreitest dabei gleichzeitig immer wieder die Grenzen des Gedächtnisses. Es ist gut, soviel Gepäck wie möglich zu haben, selbst eine scheinbar unwichtige Erinnerung kann nützlich werden, denn keiner weiß, wie lange die Reise dauert und wohin sie führt. Ich will daran glauben, dass Ketoprofen mir ermöglicht, die erste Nacht ohne Dich zu überstehen. Du weißt, wie sehr ich mich vor Schmerzen fürchte, aber noch mehr fürchte ich Deine Abwesenheit … Ich würde viel darum geben, das alles rückgängig zu machen und wieder neben Dir einzuschlafen. Ich schwöre: ich würde Dich nicht einmal in Gedanken betrügen, ich würde die Kombination aus männlichen Depressionen und narzisstischen Frustrationen – was für Dich sicherlich das gleiche ist – auf ein Minimum reduzieren. Ich würde abends nicht mehr verschwinden im Bermudadreieck aus Sofa, Kühlschrank und Fernseher. Ich würde mein Gesicht nicht mit Zeitungsplanen zudecken. Ich würde endlich den Charme unserer geruhsamen Gespräche schätzen. Reicht nicht? Dann pass auf! Ich hoffe, Du sitzt. Für Dich würde ich selbst der kleinsten Krankheit entsagen, kein Wort würde ich stottern über die mich durchdringenden Schmerzen. Nie wieder Lobreden auf Depressionen und Selbstzerstörung, nie mehr dieses: „Oh, schau mal, ich habe das was am Hals“, oder „Oh, fühl mal, ob du hier auch einen Tumor spürst?“. Dafür würde ich Deine Röcke und Kleider bügeln lernen, jede Plisseefalte wäre wie am Lineal ausgerichtet. Ich würde Deine verlorenen Kniestrümpfe finden, die einzelnen, ach – und das Waschmaschinenprogramm wäre kein Geheimnis für mich. Für Dich wäre ich ein Rennfahrer auf den Strecken aller Biedronka- und Lidl-Supermärkte. Für Dich würde ich Geschirr spülen: ich würde meine Hände ins Abwaschbecken tauchen, ich würde die Teller vom Mittagessen herausangeln, das Besteck und die Töpfe, die wie glänzende, silberweiße Fische sind, und jeder wäre Dein Goldfisch. Für Dich würde ich ein Jünger der Paneelen und Fußböden werden und ihnen mit dem Putzlappen eine Verbeugung erweisen. Für Dich würde ich den Staubsauger in den Zimmern ausführen wie einen gezähmten Ameisenbär auf einen Spaziergang. Ich wäre Dein Hausmann! Dein Ukrainer! Dein heißblütiger Südländer – Spanier oder Italiener, und am Zahltag russischer Oligarch mit der Oberflächlichkeit eines Schweden! Bis an mein Lebensende würde ich Dich an den Füßen kitzeln und wie Marco Polo die erogenen Kaps Deines Körpers entdecken. Natürlich wären Deine und nur Deine Begehren für mich der Kompass! … Jeden Abend würde ich Dir ein heißes Bad bereiten mit Ölen und Räucherstäbchen. Jeden Morgen würde ich Dir im Maul die Latschen bringen, und in der Hand ein Glas Mojito! … Das ist kein Pathos, wundervolle Priesterin. Das ist Liebe! Die wahrste, die ehrlichste. Meine Hände hören auf zu zittern, das Blut fließt ruhiger. Ich greife nach der Mineralwasserflasche. Ich trinke einen Schluck, reibe die Zunge am Gaumen. Es schmerzt viel weniger, fast gar nicht, obwohl das Gesicht weiter starr wird in der Maske der Qual, als wäre ein anderer, sanfterer Ausdruck nicht möglich. Ich habe nicht einmal Lust zu rauchen, dabei habe ich schon den ganzen Tag nicht geraucht. Glaube mir, ich ruhe mich aus. Ich ruhe mich aus vom obsessiven Nachdenken über mich im erbärmlichen Hier und verfluchten Jetzt. Ketoprofen hilft. Es ist nicht nur ein Dschinn, sondern auch meine Ariadne – aus dem Nervenbündel, das ich bisher war, zaubert sie einen langen und festen Faden der Beruhigung. Der führt mich heraus aus dem Labyrinth meines eigenen Ichs. Es gibt nichts Schöneres als sich für einen Augenblick vom eigenen Ich zu befreien! Als würde ich aus mir heraustreten, mich neben mich stellen und plötzlich peinlich berührt sein von diesem verschrumpelten vierzigjährigen Mann mit einer Grimasse des Schmerzes, mit dem brennenden Vorwurf in den Augen, dass ihn das Schicksal so unelegant behandelt hat. Manchmal habe ich den Verdacht, dass mein Leid an Autoerotik grenzt. Und als solches bildet es sich ein, dass es aufregend unabhängig ist. Zum Glück verändert sich die Situation. Ich kann gelassen an andere Menschen denken, schließlich gibt es noch andere Menschen. Endlich bin ich in der Lage, die Welt mit befreiten Sinnen zu spüren, ich – der Whitman des Krankenhauses! Ich – Leśmian! Wie schön gestärkte Bettwäsche riecht! Wie angenehm sich der Schlauch des Tropfes anfasst! Ich drehe zwischen den Fingern diese Nabelschnur, die Euphorie pumpt. Ich muss Dir gestehen, dass mich die Schwester verzaubert hat – die Oberschwester Krystyna mit dem vielsagenden und hoffnungsvollen Nachnamen: Ceynowa1. Nein, keinerlei unartige Gedanken, auch keine Schmetterlinge im Bauch, ich schwöre es! Gedanken – ausschließlich platonisch, und wenn Schmetterlinge – dann nur metaphysisch. Denn überleg mal: Beginnt und endet nicht alles bei den Schwestern? Bei ihnen werden wir geboren und bei ihnen sterben wir. Wenn sie es sagen, ziehen wir uns in ihrer 1 Krystyna Ceynowa lebte auf der Halbinsel Hel; sie war die Witwe eines Fischers. Aus verschiedenen Gründen wurde sie verdächtigt, eine Hexe zu sein. Die Behörden waren jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bereit, einen Hexenprozess durchzuführen. Deshalb wurde sie 1836 von der Gemeinschaft in einem Lynchmord umgebracht. Sie gilt als eine der letzten „Hexen“. Gegenwart nackt aus wie gehorsame Kinder, nicht selten geben wir dabei schamvolle Sekrete ab. Sie sind unsere Stiefmütter für eintausend siebenhundert auf die Hand. Sie sind unsere Heiligen der Spritzen, Tabletten und Tröpfe. Denkt jemand an sie außer dem Patienten, der in die Hose macht? Ist ein einziges Denkmal ihnen zu Ehren entstanden, das den größten Helden würdig wäre? Statt Poniatowski, Kościuszko, Piłsudski, statt dem Wunder an der Weichsel hätte ich lieber eine Schwester nach dem Nachtdienst! Statt zig Aufständischer, statt Geheimpolizisten und verfemten Soldaten, würde ich auf den Sockeln der nationalen Sache lieber die herausgestreckte Brust einer Krankenschwester sehen! Krankenschwestern haben mehr verdient als Kaffee, Schokolade und – notfalls – Blumen. Der Mehrheit ist es nicht einmal gegeben, an den weißen Umschlägen zu riechen. Für die weißen Umschläge sind die Taschen der Arztkittel da. Mein Loblied zu Ehren des niederen medizinischen Personals übertönt nicht die Krankenhaushasser, die den Krankenschwestern Volkspolen-Gewohnheiten vorwerfen und dass sie die Patienten wie Kartoffelsäcke umbetten. Großer Gott, lasst uns Maß und Ort kennen! Schließlich arbeiten sie inmitten von Gejammer, Klagen und Stöhnen, und nicht in der diplomatischen Vertretung in Brüssel. Im Übrigen will ich Dir als Beweis dafür, dass ihnen vieles verziehen werden muss, eine rhetorische Frage stellen: Wer hat Zugang zum magischen Schränkchen, das mit einem Schlüssel verschlossen ist? In diesem magischen, geheimnisvollen Schränkchen liegen schamlos Ketoprofen und Nalorphin! In Kartons, Fläschchen, Ampullen. Neben Einwegnadeln, Pentazocin, Dolargan, Tramal, Morphin, die sich zu mehrstöckigen Häusern zusammenfügen, oder gar zu Hochhäusern, und die Skyline von Manhatten-Extasy ergeben. Es gibt noch andere Antidepressiva und Barbiturate mit geheimnisvollen Namen – weder ist das Latein, noch von Tolkien. Stell Dir nur vor: jede Ampulle ist das Paradies in Flüssigform, das sind die Bahamas, milliliterweise injiziert! Jede kleine Pille ist Atlantis im Meer des Leidens, das ist das Gelobte Land, serviert in durchsichtigen Gläsern … Das ist das Große Buch des Vergessens! Einfach schlucken, die Venen straffen, um mehr bitten! Das magische Schränkchen, das geheime Schränkchen habe ich heute durch die angelehnte Tür des Behandlungszimmers gesehen. Beinahe hätte ich vor Glück geweint. Die Station ist gut versorgt, man kann mit Schmerzen in den Krieg ziehen. Ich muss mich nur mit den Schwestern gutstellen. Nicht widersprechen, sich nicht beklagen, nicht wegen jeder Kleinigkeit klingeln, und nachts schon gar nicht – selbst wenn ich unter Qualen zugrunde gehen würde. Wer eine Schwester in der Nachtschicht weckt, hat verspielt, es wäre besser, wenn er gar nicht erst geboren wäre. Am nächsten Tag bekommt er natürlich Aspirin oder Ibuprom. Könntest Du mir ein paar Lindt-Schokoladen mitbringen? Die großen, mit Nüssen. Und Kaffee, am liebsten den löslichen von Jacobs. Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska JOANNA BATOR DER HAI AUS DEM YOYOGI-PARK © Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute Joanna Bator (geb. 1968), Schriftstellerin, Publizistin, Universitätsdozentin. Nike-Preisträgerin für ihren „Roman Dunkel, beinah Nacht“ [Ciemno, prawie noc; 2012]. Kennerin und Liebhaberin der japanischen Kultur, was sich u.a. in ihrem neuesten – schon achten – Buch „Der Hai aus dem Yoyogi-Park“ [Rekin z parku Yoyogi] niederschlägt. „Der naive Reisende – und ‚naiv‘ muss nicht ‚dumm‘ heißen, sondern kann auch einfach ‚vertrauensvoll‘ bedeuten – sucht hier immer das Exotische und Originelle, das echt Japanische. Das ist eine verständliche Phantasie, denn schließlich ist ‚das Andere‘ immer eine Quelle der Phantasmen, ein unergründlicher Bereich, aus dem Liebe und Hass erwachsen. Es erlaubt uns, die eigenen Grenzen nachzuziehen, macht uns bewusst, wer wir sind und wer wir nicht sein wollen, und öffnet uns zugleich für das Unbekannte. Nach vier Jahren in Japan habe ich mein eigenes Phantasma des Japanischen und radikal Anderen, und wenn ich irgendwo auf der Welt plötzlich dieser meiner ‚Japanischkeit‘ begegne – in einer Landschaftsgestaltung, einer bestimmten Dekoration, in der Art, wie jemand gekleidet ist, oder dem Duft des Shiso, der auf meinem polnischen Balkon wächst –, dann weiß ich, dass ich mich in meinem eigenen japanischen Märchen bewege, das von jener Art Sehnsucht durchdrungen ist, die keine Rückkehr braucht, sondern lediglich tägliche Übungen des Sinnesgedächtnisses.“ Joanna Bator begann ihr japanisches Märchen bereits vor einigen Jahren zu schreiben, als sie „Der japanische Fächer“ [Japoński wachlarz] veröffentlichte. Danach kamen die „Wege zurück“ zum Fächer [Powroty], also die erweiterte Ausgabe des Buches. Im jetzigen Band „Der Hai aus dem Yoyogi-Park“ dagegen sind ein paar Dutzend kurze Texte gesammelt (ein Teil davon ist bereits vorher in der Presse erschienen), die nächste Etappe von Bators japanischem Abenteuer. Wer von den Ritualen der Teezubereitung, den Seidenstoffen des japanischen Kimonos oder der Tradition des Kabuki-Theaters lesen will, hat bei Bator nichts verloren. Diese Elemente der japanischen Kultur streift die Autorin nämlich nur kurz und konzentriert sich dann mehr auf das cool Japan, das heutige, globalisierte und – genau aus diesem Grund, auch wenn das etwas paradox klingt – am wenigsten bekannte Japan. Sie schreibt über die Cosplayers: Lolitas mit kindlichen Baumwollhöschen und süßen Katzenohrmützen, die ihre Popos in die Kamera strecken. Über die Otaku: junge männliche Mangafans, die das Haus kaum noch verlassen und vor allem in einer virtuellen Computerwelt leben. Über die japanische Unlust auf echten Sex und die Neigung zum Fotografieren leerstehender Häuser. Über den Godzilla als psychoanalytisches Phantasma, in dem gesellschaftliche Traumen wiederkehren. Über die Faszination für Murakami und die Kultur des Servierens von Sushi. Ihr neues Buch erinnert an ein anderes, das, außer dem japanischen Thema, rein äußerlich nicht viel mit ihm gemein hat: „Das Reich der Zeichen“ von Roland Barthes (den Bator im Übrigen sehr verehrt). Beide Texte versuchen, mit offenen Augen, absolut unvoreingenommen und vorurteilslos auf Japan zu blicken, beide überzeugen darin. Aber sie haben ebenfalls beide das Bewusstsein, dass ihre Sicht auf Japan belastet ist (sein muss) von persönlichen – polnischen oder französischen, Gender- oder homosexuellen, anthropologischen oder (post)strukturalistischen – Erfahrungen und Kategorien, aus denen es kein Entrinnen gibt. Statt sich krampfhaft zu bemühen, sich selbst und die eigene Kultur zu vermeiden, schieben somit beide Texte und beide Autoren diese in den Vordergrund und bedienen sich ihrer zum eigenen Nutzen. Bator bemerkt, Japans Kunst und Kultur – von den Holzschnitten der Edo-Epoche bis hin zu den heutigen Fernsehern mit Flachbildschirmen – sei zweidimensional, superflat. Die Anthropologin erkennt diese Zweidimensionalität nicht nur ganz genau und schreibt hervorragend über sie, sondern macht sie auch zu ihrer eigenen Methode, die japanische Welt zu erfahren. Sie hat noch immer (trotz der dort verlebten Jahre) das Bewusstsein, in Japan jemand von außen zu sein, jemand, der nicht in die Tiefe dieses Landes und seiner Kultur vorzudringen vermag. Das Einzige, was so ein Zugereister tun kann (und Bator tut es ganz ausgezeichnet), ist, die ihm zugängliche flache Oberfläche zu betrachten: eingehend und unter Wahrung des forscherischen Anstands, in akribischer Berücksichtigung aller Details der japanischen zweidimensionalen Landschaft. Iga Noszczyk JOANNA BATOR REKIN Z PARKU YOYOGI GRUPA WYDAWNICZA FOKSAL/W.A.B. WARSZAWA 2014 140×200, 380 PAGES ISBN: 978-83-7747-975-9 TRANSLATION RIGHTS: GRUPA WYDAWNICZA FOKSAL Die Lolita-Brüder DER HAI AUS DEM YOYOGI-PARK Man kann sie zum Beispiel in Shibuya sehen. Das ist ein Stadtbezirk an der Yamanote-Bahnlinie, die rund um Tokios Zentrum führt. Vor der Station steht die Figur des berühmten Hachikō, eines treuen Hundes, der sogar nach dem Tod seines Herrchens noch unbeirrbar auf es wartete. Hier sind immer wahre Menschenmassen, sodass der kleine Hund aussieht wie das Objekt eines animistischen Kultes, umringt von Pilgern, die ihm von ihren ultramodernen Telefonen Gebete senden. Früher bin ich oft hergekommen. Dann setzte ich mich vor Hachikō und beobachtete die Japaner. Ich suchte mir jemanden aus und verfolgte ihn mit Blicken, um zu sehen, was diese schönen Menschen wohl in Shibuya zu tun hatten, und um der überwältigenden Fülle an Eindrücken irgendwie Herr zu werden. Bis heute habe ich eine Schwäche für diesen Stadtteil. Inzwischen verfolge ich keine Tokioter mehr am HachikōDenkmal, sondern setze mich an einen Tisch im StarbucksCafé beim Bunkamura-Museum. Das ist eines der wenigen Lokale in der Umgebung, die auch draußen Tische haben. Ich betrachte also die Mädchen und Jungen, die frisierten Hunde, die Parade von Handtaschen der Marke Coach, von denen jede Dame eine haben muss diese Saison, und traue zum ersten Mal meinen Augen nicht ganz, obwohl ich bereits so lange hier bin, nicht nur aus einer Schale Reis gegessen und viel gesehen habe. Doch meine Augen trügen mich nicht. An meinem Tisch geht ein Mann mittleren Alters vorbei, als niedliche Lolita verkleidet. Diese Lolita hat weiße Schühchen wie für die Erstkommunion und Kniestrümpfe mit Rüschen, nackte glatte und haarlose Oberschenkel, ein bauschiges rosa Kleidchen mit Puffärmeln und Spitzenunterrock. Hellbraune Locken mit Haarschleife, lange Wimpern, weißer Sonnenschirm, zartes Rosa auf den Wangen und, hach, ein weißer Kopfputz mit Spitzenbesatz. Der Lolita-Mann bewegt sich elegant, er hat den Blick auf einen Punkt irgendwo weit oben geheftet. Ein perfektes Kostüm. Bis jetzt hatte ich es allerdings nur an Mädchen gesehen (oder jedenfalls schien es mir so). Die niedliche Lolita ist eines der beliebtesten Kostüme in Japan, bei einem Hobby namens cosupure (von costium play). In den 1990er Jahren verkleideten sich unter anderem Cosplayerinnen so und posierten im Stadtteil Harajuku auf der berühmten Jingū-Brücke. Dort sind sie jetzt nicht mehr und die Ausländer mit Fotoapparaten suchen vergeblich nach ihnen, denn diese Mode ist vorübergegangen wie jede andere auch. Dem cosupure geht es allerdings in Europa prächtig, eine der größten Veranstaltungen dieser Art begleitet jährlich die Leipziger Buchmesse. In Japan bleibt cosupure das, was es vor dem großen Boom in den Neunzigern war: ein Nischenhobby mit vielen Spielarten. Die Lolita-Brüder, kurz „Lolita Bro“ oder „Brolita“, sind eine davon. Um es noch komplizierter zu machen, distanzieren sich bestimmte weibliche und männliche Lolitas vom cosupure, in der Meinung, ihre Kostümierung sei etwas völlig anderes. Der Unterschied soll darin bestehen, dass die cosupure-Fans ihre Kostüme hauptsächlich nach dem Vorbild von Anime-Figuren gestalten, während Lolitas Aufzug eigentlich eine Erfindung sei wie die Kleidung der Akteure der japanischen Popkultur, und keine Kopie. Die Cosplayerinnen treffen sich in einer Gruppe und präsentieren sich in einstudierten Posen; die Lolitas dagegen spazieren einfach in der Stadt herum und freuen sich am sinnlichen Vergnügen, in der Öffentlichkeit eine Verkleidung zu tragen. Das Lolita-Kostüm tauchte Mitte der neunziger Jahre in Japan auf und verbreitete sich von dort aus in die Vereinigten Staaten und nach Europa, wo die Gruppe der deutschen Lolitas besonders stark vertreten ist. Man weiß nicht erst seit heute, dass Japan und Deutschland viel gemeinsam haben und einander häufig inspirieren: So ist die Schuluniform japanischer Schüler noch immer der Bekleidung der preußischen Armee nachempfunden. Das Lolita-Kostüm ist von der viktorianischen und der Rokoko-Ästhetik beeinflusst, der Rest ist japanische Erfindung. Die Lolita wird in Japan nicht mit Nabokovs Buch in Verbindung gebracht, sondern mit süßer und verspielter Mädchenhaftigkeit. Mit einstudierter, überzeichneter, bewusster Künstlichkeit, wie der Bonsai. Hochwertige Stoffe, Weiß, Rosa, cremefarbene Baumwoll- und Seidenspitze und der unvermeidliche Unterrock – das ist es, was die Lolita ausmacht. Und was tun Lolitas? Kostüm und Rolle verlangen nach Publikum, also gehen Lolitas in die Stadt, so wie der Lolita-Bruder aus Shibuya. Sie trinken gern Tee und essen Kuchen in einem der eleganten und wie europäische Kaffeehäuser stilisierten Retro-Lokale. Sie sehen gern ihr eigenes Spiegelbild in Fensterscheiben und den Augen anderer Menschen. Es gibt in Tokio Läden für Lolitas, und die Beherrschung der Kunst, Lolita zu sein, erfordert Zeit und Hingabe. Eine unbeholfene, zu aufreizende oder billige Lolita wird verächtlich als ita bezeichnet. Man muss nicht schön sein oder ebenmäßige Gesichtszüge und schlanke Beine haben, es zählen die Beherrschung der Rolle und das gewandte Auftreten im Kostüm. Unter den Lolitas sind, wie wir bereits wissen, hier und da auch Männer anzutreffen. Es gibt keine ethnographischen Studien über sie und sie sind auch nicht so freundlich, sich alle an einem Ort zu versammeln und für Fotos zu posieren wie einst die Mädchen von der JingūBrücke. Viele von ihnen könnten mir bereits auf Tokis Straßen begegnet und für Mädchen durchgegangen sein. Der Lolita-Bruder, den ich noch mehrere Male in Shibuya sah, war mit seiner kräftigen Gestalt und dem Takeshi Kitano ähnelnden Gesicht eher eine Ausnahme unter den normalerweise jungen Lolitas beiderlei Geschlechts. Die LolitaBrüder stolzieren in Rosa und Spitze durch die Stadt und setzen sich den Blicken der Menschen aus. Das ist der Sinn der Sache. Ohne Kostüm ist man ein wenig ansehnlicher Mittvierziger oder ein junger Postangestellter, mit Kostüm – eine reizende Lolita, ähnlich wie der Kabuki-Schauspieler, der sich von einem älteren Mann mit Magenbeschwerden in eine verzweifelte Kurtisane mit schriller Stimme verwandelt. Japan ist eine Kultur der Verpackung. Kostüm und Rolle machen hier die Leute. Deswegen kann jeder Lolita sein, wenn er sich Mühe gibt. In der japanischen Kultur ist die Überzeugung von der Dominanz des Biologischen weniger stark ausgeprägt als bei uns. Weiblichkeit und Männlichkeit werden eher als bestimmte Rollensets verstanden, die man erlernen und dementsprechend spielen muss. Improvisation ist erst dann erlaubt, wenn die Meisterschaft erreicht ist. Zu jeder Rolle passt ein bestimmtes Kostüm und die Kunst besteht darin, es regelgemäß tragen zu können. So wie im Kabuki-Theater, wo alle Rollen von Männern gespielt werden. Die omnagata, die Schauspieler der Frauenrollen, erfreuen sich besonderer Wertschätzung und Bewunderung. Es zählt die Mühe. Ein Mann kann die Rolle einer verliebten Kurtisane, guten Mutter, treuen (oder untreuen) Ehefrau besser spielen als eine Frau, eben weil er keine Frau ist. Oder Takarazuka, das umgekehrte Kabuki. Hier werden wiederum alle Rollen von jungen Frauen gespielt und die otokoyaku, die Schauspielerinnen der Männerrollen, sind wahre Idole. Schöne androgyne Elfen mit schlanken, biegsamen Körpern. Die otokoyaku und onnagata tragen ihre Kostüme mit der gleichen Anmut und Ernsthaftigkeit wie der Lolita-Bruder aus Shibuya. Die Kunst, Perfektion und Mühe, die in diese Rolle gesteckt werden, sind eine Fassade, hinter der sich natürlich so manche interessante Perversion verbergen könnte, denn Verkleidungen sind niemals so harmlos wie Briefmarkensammeln. Ich dachte an die Lolita-Brüder, als ich im Herbst 2011 vor den Wahlen kurz nach Polen kam und auf Straßen vom Flughafen in die Stadt fuhr, die so vollkommen anders waren als die Tokioter Verkehrswege. Es störten mich der Dreck und die Unordnung, es gefiel mir das üppige Grün, das offene Gelände und auch, dass der Taxifahrer mir sofort seine politischen Ansichten darlegte. Ein Lolita-Bruder zu sein ist eine winzigkleine Perversion verglichen mit meiner Obsession, immer wieder nach Polen zurückzukehren. Zu solchen Taxifahrern. Ich sah sein Gesicht im Rückspiegel. Wie sagte meine tatarische Tante immer: Um diese Visage kannste mit dem Motorrad Runden drehn. Als Dreingabe ein wuchernder Schnauzbart, der dringend ausgelichtet gehörte. Da musste ich mir diesen von Dummheit und Hass strotzenden Mann plötzlich im niedlichen Lolita-Kostüm vorstellen – und kann seitdem nicht mehr damit aufhören. Ich sehe zum Beispiel einen bekannten Politiker, der tagtäglich im hierzulande so beliebten Kostüm kerniger Männlichkeit auftritt: schlecht sitzender Anzug, nichtssagende Krawatte, Verschwörungsphanasien und dazu ein unsägliches Gequatsche, was Frauen sollten, Schwule nicht sollten und so weiter. Doch anstatt mich zu ärgern, sehe ich ihn im niedlichen Lolita-Kostüm vor mir. Rouge auf den Wangen, ein gestepptes Handtäschchen mit Kette am Arm. Ich schließe die Augen und schaue ihm zu, wie er über Warschaus Flaniermeile spaziert. Im Handtäschchen hat er eine Katze. Und dieses eine Mal ist er mir sympathisch. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes KRZYSZTOF VARGA WOLLSCHWEINCSÁRDÁS © Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute Krzysztof Varga (geb. 1968), Romanschriftsteller, Essayist und Feuilletonist bei der Zeitung „Gazeta Wyborcza“. Autor von Romanen wie „Tequila“ (2002) oder „Ein Grabstein aus Terrazzo“ [Nagrobek z lastryko; 2008], die bis in die Endrunde für den Literaturpreis „Nike“ gelangten, sowie einigen Essays zur Kultur und Geschichte Ungarns. Seine Bücher wurden bereits u.a. ins Italienische, Ungarische, Bulgarische, Slowakische, Serbische, Ukrainische, Kroatische übersetzt. Ungarn ist Krzysztof Vargas große Leidenschaft, das lässt sich ohne Übertreibung festhalten. Sein jüngster Roman fügt der Ungarnkollektion nach „Turulgulasch“ (2008) einen weiteren Posten hinzu. Kollektion ist in diesem Kontext ein wichtiger Begriff, vielleicht sogar ein Schlüsselbegriff, nach dem sich die Geschichte von „Wollschweincsárdás“ in ihre Bestandteile gliedern lässt. Denn der Erzähler häuft in seiner Erinnerung realistische Elemente an, um sie dann vor den Augen des Lesers auszubreiten, als wären es echte Preziosen aus seiner Privatsammlung. Das Sammeln kommt auch ganz direkt in einer sentimentalen Passage aus dem Kapitel „Bertalan Farkas fliegt ins All“ zur Sprache. Dort wird der Vater erwähnt, der fand, „jeder Mann braucht ein Hobby“ und der deshalb beschloss, seinen Sohn, den Protagonisten des Romans, zum Briefmarkensammler zu machen. Der Erzähler bekommt sogar ein Album mit ungeordneten, nicht katalogisierten Sammlungen. Es ist eine Art Vermächtnis, dem er sich – wie einem grässlichen Fluch und zugleich einem kostbaren Geschenk – nicht entziehen kann. Auch Vargas Buch ist in gewisser Weise ein Sammelalbum. Der essayistisch mäandernde, nur scheinbar durch Kapitel disziplinierte Stil, stürzt den Leser recht unvermittelt gleich in mehrere Strudel, die alle von der Suche nach der ungarischen Identität angetrieben werden. Die kulinarische Sammlung ist sicher eine der wichtigsten in „Wollschweincsárdás“. Es ist gewiss kein Zufall, dass Varga als einen seiner größten Schätze die Speisekarte des Schlossrestaurants anführt, die er im Zimmer seines Vaters gefunden hat. Darüber hinaus gibt es einen eigenen Absatz über die Fischsuppe oder die umfassende Wiedergabe des Speisenangebots einer lokalen Pizzeria. Doch hier geschieht nichts ohne Hintergedanken – die Pizzeria hat sieben Pizzen auf der Karte, die nach sieben legendären Magyarenführern benannt sind. Das bietet Anlass genug, konkrete Figuren (und die Zutaten konkreter Gerichte) aufzurufen. Allerdings, so schreibt Varga an anderer Stelle, „hat das Kulinarische hier zu viel Gewicht, als dass es mit x-beliebigen Namen besudelt werden dürfte, deshalb denke ich an ungarische Literatur, wenn ich ungarisch esse und ans Essen, wenn ich die großen Ungarn lese – das ist die vollkommene Synergie von Leib und Seele, Magen und Hirn, Melancholie und Exaltiertheit.“ Die Literatur (nicht allein die ungarische) ist eine weitere Sammlung, die bei der Lektüre dieses Buches in Erscheinung tritt. Varga erweist nicht nur Danilo Kiš seine Reverenz, sondern einer stolzen Zahl mehr oder weniger bekannter Autoren. Dabei interessiert ihn vor allem die Prosa, aber auch die Lyrik kommt nicht zu kurz. Varga zitiert und führt die Biografien seiner Favoriten an. Kulinarische Erfahrungen und literarischer Konsum werden von Bildern flankiert: Sie gehen über Provinz, Friedhöfe und zerfallende Waggons seiner Budapester Lieblings-UBahnlinie hinaus. Auch Vargas Filmleidenschaft wird immer wieder deutlich, etwa in Ausflügen zu Julie Delpys Film über die „Blutgräfin“ Elisabeth Bathory oder zu Gustav, einer Zeichentrickfigur aus Kindertagen (die ihn wiederum an Mr. Bean erinnert). „Wollschweincsárdás“ ist mit seinem facettenreichen, zumeist auf unbekannte Seiten abhebenden Ungarnbild nicht nur ein intellektuelles Vergnügen, sondern auch ein existenzielles, fast komödiantisches; in jedem Fall ein Lesevergnügen, dass wenig Raum lässt für Leidensgeschichten und wirklich große Tragödien. Marcin Wilk KRZYSZTOF VARGA CZARDASZ Z MANGALICĄ CZARNE, WOŁOWIEC 2014 125×195, 248 PAGES ISBN 978-83-7536-732-4 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM RIGHTS SOLD TO: HUNGARY (EUROPA KIADO) ICH WOLLTE WOLLSCHWEINCSÁRDÁS eben die Dörfer Tiszakürt und Nagyrév gesehen haben, obwohl ich mir fast sicher war, dass es dort nichts zu sehen gab. Aber der innere Drang, diese Orte zu besuchen, in denen nach dem Ersten Weltkrieg Frauen mehrere Dutzend, wenn nicht über hundert Männer vergiftet haben und damit in die internationale Geschichte großer Verbrecherinnen eingegangen sind, war größer. In Nagyrév und Tiszakürt kam es zum wohl größten Massenmord jenseits von Krieg oder totalitärem Terror, zu einem „zivilen“ Massenmord, noch dazu von Frauen verübt. Nicht von Soldaten, Polizisten oder verrohten Banditen, sondern von Dörflerinnen mit langen Kleidern und Kopftuch. Sicher, in gewisser Weise hatten auch diese Morde mit dem Krieg zu tun, denn die Frauen von der Theiß sollen ausgerechnet im Jahr 1914, also bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, mit ihren Giftmorden angefangen und 1929 aufgehört haben, als sie schließlich – angeblich durch einen anonymen Hinweis an die Lokalpresse – gefasst, inhaftiert und verurteilt wurden. Aber diese Häufung von Todesfällen bei Vätern, Ehemännern und Söhnen muss doch schon vorher aufgefallen sein, auch wenn das Geheimnis wohl gehütet von Frau zu Frau, von Nachbarin zu Nachbarin, von Verwandter zu Verwandter weitergetragen wurde. Sonderbar: Haben sich die Männer denn nicht darüber gewundert, dass sie irgendwie häufiger sterben als früher? Aber vielleicht war die ansteigende Todesrate der Männer in Tiszakürt und Nagyrév angesichts von Krieg und Nachkriegselend, von Krankheiten, traumatischen Kriegserlebnissen und gesteigertem Pálinka- und Fuselweinkonsum ja gar nicht so erstaunlich. Außerdem wird man in der Provinz, fernab der großen Welt, ein natürlicheres Verhältnis zum Tod gepflegt haben, der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, werden diejenigen gedacht haben, denen nicht bewusst war, dass hier nicht die Hand Gottes, sondern Menschenhand im Spiel war. Die Hauptfigur in diesem Stück, die alte Lucrezia Borgia von Nagyrév, war Júlia Fazekas, die bei ihrer Verhaftung die Sechzig schon überschritten hatte. Eine unansehnliche Frau (jedenfalls auf den verschwommenen Fotografien), eine Hebamme, die sich zugleich als Quacksalberin betätigte und illegale Abtreibungen vornahm. Im Jahr 1911 nach Nagyrév gekommen und in medizinischen Dingen beschlagen, könnte sie diejenige gewesen sein, die ein neues Verfahren zur Arsengewinnung aus Fliegenfängern entwickelte. Dieses selbstgebraute Arsen bekamen dann die Männer der Mörderinnen in den Wein oder ins Essen gemischt. Wenngleich der erste Giftmord, das wollen wir festhalten, vor dem Eintreffen der Júlia Fazekas begangen worden sein soll, fand sie doch einen fruchtbaren Boden für ihr mörderisches Geschäft vor. Sie ging jedoch nicht alleine zu Werke, es gab noch eine ganze Reihe weiterer, mehrheitlich namenloser Verschwörerinnen, die zusammen sicherlich um die fünfzig Mann vergiftet haben. Der Legende nach sollen es sogar dreihundert Giftopfer gewesen sein, alles ziemlich unklar, bei der ganzen Geschichte gibt es einige Fragezeichen. Jedenfalls könnten über die gesamten 15 Jahre gut und gerne um die einhundert Leichen zusammengekommen sein. Bei der Gerichtsverhandlung im Jahre 1930 wurde angeordnet, 162 Leichname, deren Vorbesitzer den Giftmischerinnen zum Opfer gefallen sein könnten, auf den umliegenden Friedhöfen zu exhumieren. Die Angeklagten sind, den unscharfen Fotos von der Verhandlung nach zu urteilen, ältere Dörflerinnen mit Kopftuch und wallenden Röcken, die Hände züchtig im Schoß gefaltet, keine dämonischen femmes fatales, ausnahmslos Witwen, aus naheliegenden Gründen – sie haben ihre Männer vergiftet, begraben, vielleicht sogar beweint – und ihre Gesichter strahlen eine beängstigende Ruhe aus. Dabei haben sie wohl nicht aus Mordlust getötet, sondern aus gewissermaßen rationalen Erwägungen. Sie haben arbeitsunfähige, prügelnde und trinkende Männer umgebracht, Kriegsversehrte, die gefüttert werden mussten und zu nichts mehr zu gebrauchen waren, zur Feldarbeit physisch nicht mehr in der Lage und psychisch geschädigt durch den Krieg. Und, ja, auch die Liebe mag eine Rolle gespielt haben, denn während die ungarischen Bauern an der Front in den Schützengräben hockten, tauchten bei Nagyrév italienische Kriegsgefangene auf, die sich in diesem Landstrich fernab der Zivilisation ziemlich frei gefühlt haben sollen. Offiziell im Gefangenenlager eingesperrt, konnten sie sich ohne größere Schwierigkeiten im näheren Umkreis bewegen. Es kam zu handfesten Verbrüderungen zwischen Apenninensoldaten und Magyarenfrauen, hier und da gab es Schwangerschaften, die abgebrochen werden mussten. Die Italiener waren viel sympathischer als die Ungarn und viel charmanter im Umgang mit den Frauen. Als die Männer aus dem Krieg nach Nagyrév zurückkehrten, fanden sie nicht mehr das Dorf vor, aus dem sie aufgebrochen waren, um die Monarchie zu verteidigen. Aber nicht nur Nagyrév und Tiszakürt waren Todesdörfer, auch in anderen Orten und Kreisen entlang der Theiß wurde Gift verabreicht, in Ókécske und Öcsöd, in Tiszaföldvár und Kunszentmárton, sogar in anderen Komitaten, wo dann nicht mehr nur die bösen Ehemänner vergiftet wurden, sondern auch Kinder und Alte. Der irre Mordmarathon wuchs sich zu einer regelrechten Epidemie aus, eine eigenwillige Nebenwirkung des Großen Krieges. Schließlich standen 28 Frauen vor Gericht, Zsigmond Móricz persönlich hat für die Lokalpresse berichtet. Acht von ihnen kamen an den Strick, viele weitere wurden zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, Júlia Fazekas beging Selbstmord, indem sie sich, wenig überraschend, vergiftete. Aus der Geschichte um die Giftmörderinnen von Nagyrév ließ sich schlecht eine popkulturelle Legende stricken wie etwa um Elisabeth Bathory. Im Grunde genommen ist nicht einmal der Fall selbst, trotz seiner enormen Attraktivität, der breiten Öffentlichkeit bekannt. Freilich, es gibt den Spielfilm „Hukkle – das Dorf “ von György Pálfi, der die Handlung in die Gegenwart verlegt, leider aber als Avantgardefilm ohne Dialoge arbeitet. Eigentlich ist klar, wovon er erzählt, aber die Art und Weise ist nicht zu ertragen, dieses Hochartifizielle, das darin besteht, kein Wort fallen zu lassen, der Dauerschluckauf eines alten Mannes, das Schlürfen und Schmatzen anderer Leute und das Grunzen der Schweine müssen als Dialog genügen. Es gibt auch noch den Roman „The Angel Makers“ („Die Engelsfrauen“) der amerikanischen Schriftstellerin Jessica Gregson, der, jawohl, in einem ungarischen Dorf spielt, das allerdings nicht Nagyrév heißt, sondern Falucska, was wiederum übersetzt so viel bedeutet wie „Dörflein“. Die Stadt unweit des Dörfleins nennt sich Város, also „Stadt“. Damit gibt es die Stadt Stadt und das Dorf Dörflein, die weibliche Hauptfigur Sari, die zu Beginn des Romans vierzehn Jahre alt ist und „Jane Eyre“ und „Wuthering Heights“ liest, sowie die Oberhexe mit Namen Judit Fekete, die todsicher Júlia Fazekas ist – die Tarnung ist allzu offensichtlich. […] Die Niederländerin Astrid Bussink hat 2005 einen halbstündigen Dokumentarfilm „The Angelmakers“ gedreht, eine Erzählung über die Verbrechen von Nagyrév, einen Film, der die heute hoch betagten Zeugen der giftigen Jahre zu Wort kommen lässt, insbesondere alte Frauen, die damals kleine Mädchen waren. Die meisten dieser Zeuginnen werden 2014 nicht mehr erleben, sie müssen während des Drehs schon weit über achtzig gewesen sein, runzlig, gebeugt, unter blumigen Kopftüchern sprechen sie leise, bedächtig, aber auch sichtbar überzeugt davon, die reine Wahrheit zu sagen. Aus ihren Augen sprechen durchlittene Qualen und zugleich ein sonderbarer Schalk. So erzählt eine der alten Frauen mit einem müden Lächeln, eine der Giftmörderinnen habe auf dem Grabstein eines Opfers die Inschrift anbringen lassen: „Ich will meinem getreuen Mann zur ewigen Ruhe folgen.“ Das vielleicht Erschreckendste an diesem Film ist die mit ruhiger Stimme vorgetragene Überzeugung, dass während der jahrelangen Machenschaften alle genau Bescheid wussten, was da vor sich ging und wer wen vergiftet hatte. Sicherlich hatten selbst die Männer von diesen Geschichten gehört, konnten sich aber nicht im Traum vorstellen, dass ausgerechnet sie das nächste Opfer sein würden – tumber männlicher Hochmut. Mehr noch: Niemand sah damals oder sieht etwa heute die Giftmorde tatsächlich als Morde an, vielmehr als Ausdruck von Resignation, als einen verzweifelten Versuch, aus dem Gefängnis einer Ehe voller Gewalt und Suff auszubrechen. So sah man das auch in anderen Dörfern und anderen Komitaten, nicht nur an der Theiß, sondern (wenn man den Erzählungen folgen will) im gesamten vom Ersten Weltkrieg verstümmelten Land, selbst in Westungarn, in Dörfern des Komitats Zala. Wie eine der Frauen bemerkt – Fliegenfänger kannte man ja überall. Aus dem Polnischen von Thomas Weiler ZIEMOWIT SZCZEREK MORDOR KOMMT UND FRISST UNS AUF ODER DIE GEHEIME GESCHICHTE DER SLAWEN © Sebastian Frąckiewicz Ziemowit Szczerek (geb. 1978), Historiker und Journalist, Publizist der Zeitschrift „Nowa Europa Wschodnia“. Schreibt eine Doktorarbeit in Politologie. Es faszinieren ihn der Osten Europas sowie, wie er selbst sagt, „geopolitische, geschichtliche und kulturelle Kuriositäten“. „Mordor kommt und frisst uns auf “ [Przyjdzie Mordor i nas zje] brachte ihm den „Paszport“-Preis der Polityka ein. Ziemowit Szczerek hat mehrere Jahre lang die Ukraine intensiv bereist – er ist sie kreuz und quer abgefahren, von Lviv bis Odessa, von Tschernowitz bis Dnjepropetrowsk. Diese Erfahrungen haben sich niedergeschlagen in einem reichlich unkonventionellen Buch mit dem raumgreifenden Titel „Mordor kommt und frisst uns auf oder Die geheime Geschichte der Slawen“. Es ist weder Reportage noch literarischer Reisebericht oder landeskundliche Prosa. Am ehesten handelt es sich um eine Parodie auf die gängigen Narrative über den „Wilden Osten“ und den so faszinierenden wie gefährlichen „postsowjetischen Dschungel“. Alles erscheint hier karikaturenhaft verzerrt: das Modell der road novel à la Kerouac, Stasiuks Notizen über das „schlechtere Europa“ aus „Unterwegs nach Babadag“, oder laienhafte Berichte über Reisen in den Osten, wie man sie zu Hunderten in Blogs bzw. professionell aufbereitet in Globetrotter-Portalen finden kann. Und diese letzte Quelle ist von größter Bedeutung: Szczerek verrät im Laufe seines Textes, dass seine Ukrainegeschichten als Auftragsarbeit für ein Krakauer Onlineportal entstanden sind. Allerdings war dort die Bedingung, dass seine Texte der Gonzo-Poetik folgen sollten. Der Autor schreibt: „Ich habe in diesen Texten mit ukrainischer Arschderwelthaltigkeit gewuchert. Dreckig sollte es sein, heftig und grausam. So geht Gonzo.“ Szczereks Aufzeichnungen sind also eine evidente Mystifizierung, er hat die ukrainische Wirklichkeit bewusst deformiert: Was auch nur einen Anflug von Hässlichkeit hatte, wurde abstoßend und finster wie das titelgebende Mordor, mit Alkohol und Gewalt getränkt und mit Gestalten aus Ganovenliedern oder Horrorfilmen bevölkert. Spätpubertäres Herumgejuxe eines verantwortungslosen Autors? Nicht unbedingt. Szczerek ist es nämlich gelungen, die versteckte, kritische Energie freizusetzen, die in nationalen Stereotypen und in der polnischen Vorstellung von den „russischen Barbaren“, vom dreckigen, unzivilisierten Osten angelegt ist. Das verlogene Porträt der Ukrainer wird so zu einem grausamen Selbstbildnis der Polen, die ach so überzeugt sind von ihrer kulturellen und historisch gegebenen Überlegenheit und sich einreden, der Postkommunismus an der Weichsel sei besser als der am Dnejpr. Szczerek zeigt auf, dass diese überhebliche Attitüde einem mangelnden Selbstbewusstsein geschuldet ist; das wohl doch eher vermeintlich als tatsächlich „Schlechtere“ der Ukraine ist Balsam für unsere eigenen Komplexe. So beobachtet der Autor wie seine Landsleute im großen Stil in die ehemaligen östlichen Randgebiete der Rzeczpospolita reisen (Ostgalizien, meistens Lviv) und wie jämmerlich und dreist ihre Versuche ausfallen, den „polnischen Pan“ herauszukehren. Dabei schwingt er keineswegs die Moralkeule oder zeigt sich besorgt angesichts dieser Renaissance imperialer oder kolonialer Gesinnungen auf polnischer Seite; Szczerek geht selten über das Register von Spott und Hohn hinaus, das er nicht immer intelligent und bisweilen unnötig vulgär einsetzt. Das Leben hat einen düsteren Epilog zu Ziemowit ������ Szczereks������������������������������������������������������� Buch geschrieben. Offenbar sind einige Elemente ukrainischer Mentalität und Gebräuche, die der Krakauer Schriftsteller so vergnüglich beschreibt, in einen politischen Konflikt umgeschlagen. Anfangs mochte es noch so aussehen, als sei die byzantinisch-sowjetische Bedrohung vor allem eine Erfindung des Autors, als suche er im Osten ausschließlich nach Mustern, die dem Europäischen widersprechen und als betreibe er damit, ganz Gonzo-Poet, nichts als literarische Effekthascherei. Leider hat sich Szczereks Mystifizierung – zumindest in Teilen – als prophetisch erwiesen. Dariusz Nowacki ZIEMOWIT SZCZEREK PRZYJDZIE MORDOR I NAS ZJE HA!ART, KRAKÓW 2013 140×200, 222 PAGES ISBN: 978-83-62574-94-0 TRANSLATION RIGHTS: HA!ART RIGHTS SOLD TO: UKRAINE (TEMPORA) Gonzo MORDOR KOMMT UND FRISST UNS AUF ODER DIE GEHEIME GESCHICHTE DER SLAWEN Ja, so ist es gekommen, dass ich professionell in die Lug- und Trugbranche einstieg. Oder etwas seriöser ausgedrückt – in die Verstetigung nationaler Stereotype. Meistens von der üblen Sorte. Das bringt Geld. Nichts geht in Polen so gut wie Schadenfreude. Ich kenne mich da aus. Kaum hatte ich ein paar Ukrainetexte im Gonzosound geschrieben, schon flatterten die Aufträge herein. Ich habe in diesen Texten mit ukrainischer Arschderwelthaltigkeit gewuchert. Dreckig sollte es sein, heftig und grausam. So geht Gonzo. Gonzo heißt Schnaps, Kippen, Drogen und Weiber. Und Vulgärsprache. So habe ich geschrieben, und alles war bestens. Der lukrativste Langzeitauftrag kam von einem neu gegründeten Internetportal in Krakau. Einmal die Woche sollte ich eine Ladung ukrainisches Frischfleisch liefern. Sie wollten Hardcore haben, sie haben Hardcore bekommen. Aber vorher brauchte ich noch ein Pseudonym. Ich wollte diesen Schwachsinn nicht unter meinem Namen veröffentlichen. Also schrieb ich als Paul Pontier. Das fand ich cool. Bibelpseudonyme sind immer gut. Wie Jesus in „Lebowski“ oder Chris Pontius in „Jackass“. Jedenfalls haben sie gezahlt. Und mir die nächsten Ukrainereisen gesponsert. Also habe ich in meinen Beiträgen gelogen was das Zeug hält und mir Hardcoregeschichten zusammengesponnen, dass es kracht. Ich habe aus der Ukraine einen Riesensaustall gemacht, eine Kusturica-Hölle, in der alles passieren kann und auch alles passiert. Wild, wild East. Die Polen haben es geliebt, haben es angeklickt und gelesen. Und je mehr Klicks, desto besser zahlen die Werbekunden. Mit Negativstereotypen über die Nachbarn lässt sich in Polen ganz konkret Kasse machen. Dabei hatte ich eigentlich gar nichts gegen die Ukraine. Überhaupt nicht. Es kam irgendwie eins zum andern. Wie das so ist, bin ich mit den besten Vorsätzen gestartet. Jedenfalls hatte ich keine schlechten. Ja doch, ich weiß, womit der Weg zur Hölle gepflastert ist. Ich bin also durch die Ukraine gefahren und habe nach Themen gesucht. Sie waren überall, man musste bloß die Augen offen halten. Zum Beispiel wollte Maciek, mein Boss, einmal ein Gonzo zu einer brennenden sozialen Frage. Keine Ahnung, wie ich auf Alkoholismus gekommen bin. Dann habe ich ein Märchen über eine Kräuterhexe abgeliefert, die Alkoholiker von ihrer Wodkasucht kuriert. Ich hatte von ihr gehört, als ich in Lviv rumhing. Inzwischen kann ich gar nicht mehr sagen, wo bei der Geschichte die Wahrheit aufhört und die Erfindung anfängt. Die Grenzen sind ordentlich verwischt. Meine Gonzoreportage ging folgendermaßen: Infolge der sowjetischen Urbanisierungstendenzen war meine Kräuterhexe schon vor Jahrzehnten vom Dorf in die Stadt gezogen, sie wohnte nicht mehr stilecht im Holzhäuschen mit Knoblauchzöpfen und Kräuterbünden, sondern in einem unverputzten Plattenbau aus den 50er Jahren in der Lypynski-Straße in Lviv. Kräuter und Knoblauch hingen auf dem Balkon, der Sud köchelte im Badezimmer vor sich hin. Frauen kamen mit ihren versoffenen Kerlen zur Kräuteroma und heulten ihr was vor: „Helfen Sie uns, Baba Lesia, helfen Sie, das ist kein Leben mehr, er säuft wie ein Loch“, und hinter ihnen standen schwankend die Kerle und glotzten dümmlich in die Landschaft wie zurückgebliebene Kinder. Baba Lesia beräucherte die Delinquenten, ließ sie irgendeinen Schweinkram trinken, verbrannte ein Wollfädchen und kassierte ab. Das half natürlich überhaupt nichts, aber Placebo ist Placebo, und es kamen kaum Reklamationen, in der Kirche reklamiert ja auch niemand, dass die Gebete nicht funktionieren. In meiner Version hat Baba Lesias Prozedur aber geholfen, jedenfalls für die erste Zeit. Der Schweinkram enthielt nämlich auch Abflussreiniger, und der hat den Suffköppen den Verdauungstrakt dermaßen durchgeputzt, dass die nicht mehr nur keinen Alkohol mehr runterbrachten, sondern nicht mal einen Kosakenzipfel. […] Mein Chefredakteur Maciek las sich alles durch und fand es gut, fragte aber: „Was, wenn die Weiber hier das jetzt auch mit ihren versoffenen Kerlen machen? Was, wenn sie sich vergiften und wir dann die Klagen am Hals haben, dass das beschissene Know-how von uns kommt?“ Ich ergänzte also noch einen Satz, dass Baba Lesias Therapie keine Langzeiterfolge zeitigen würde. […] Ich setzte mich in eine Kneipe. Da saß ein Pärchen um die sechzig. Die beiden sahen aus wie eine Enklave der USA auf dem Staatsgebiet der Ukraine. Sie hatten dermaßen amerikanische Mienen, dass man sie einfach als Amerikaner erkennen musste. Diese charakteristische Mischung aus Selbstsicherheit und Orientierungslosigkeit. Ich setzte mich an den Nebentisch. Sie hackte in die Tasten ihres Laptops, als wollte sie ihn zerlegen. Er warf mir einen hoffnungsvollen Blick zu. Mir, meinem Rucksack und meinen Klamotten, die mich als Ausländer auswiesen. Er dachte nach. Offensichtlich überlegte er, wie er ein Gespräch mit mir anknüpfen könnte. Ihm war anzusehen, dass er dringenden Gesprächsbedarf hatte. Schließlich stand er auf und kam herüber. Und sagte: „Nicht übel, die Bräute bei denen hier in der Ukraine, oder?“ Und leiser, damit es seine Frau nicht mitbekam, fügte er hinzu: „Denen hat der Feminismus noch nicht das Hirn vernebelt.“ Es war so dämlich, jämmerlich und verzweiflungsvoll, dass er mir Leid tat. Ich bat ihn Platz zu nehmen. Und er, nun ja, nahm Platz und stimmte seinen Klagegesang an, den Peace Corps worker's blues. A-one, a-two, a-one, two, three: Er hieß Jack. Seine Frau Ruth. Jack und Ruth kamen aus Boston. Vor gar nicht langer Zeit hatten sie noch ein typisch amerikanisches Mittelklasseleben geführt und einander versprochen, als Rentner die Welt zu erkunden. Sie – oooh, Peace Corps worker’s blues – träumte davon, Menschen in fernen Landen zu helfen, von denen sie nur eine vage Vorstellung hatte. Als sie dann in Pension gingen – ja, alle beide, im selben Jahr – trafen sie die Entscheidung: Sie heuerten beim Friedenscorps an. Oooh, Peace Corps worker’s blues. Sie begann – wie fast jeder Amerikaner an einem bestimmten Punkt in seinem Leben – in der Familienhistorie zu wühlen und ihren europäischen Wurzeln nachzuspüren. Alle Spuren ihrer Vorfahren waren eher unspektakulär – sie führten nach England, Schottland, Irland, Deutschland – bis auf eine: die führte in die Ukraine. Oooh, Peace Corps worker’s blues. Sie verpflichteten sich für zwei Jahre. Alles, was sie wussten, war, dass sie irgendwo in die Ukraine fahren würden. So ist das beim Friedenscorps, man weiß bis zuletzt nicht, wo die einen hinschicken. Sie träumten von Odessa, er hatte noch, im Fragebogen, eingetragen, dass er in einer Firma gearbeitet hatte, die sich mit der Logistik in Frachthäfen befasst. Deshalb wollten sie gerne in eine Stadt an der See. Vielleicht wäre ja eine Hafenstadt günstig. Als Berater oder so. Dann könnte er den Ostmenschen beibringen, wie man diese fuckin' Frachtschifflogistik richtig aufzieht. Sie saßen also auf gepackten Koffern und warteten auf den Odessa-Bescheid. Oooh, Peace Corps worker’s blues. Aber die eigensinnige Fortuna in Gestalt eines böswilligen Funktionärs schickte sie nach Ismail. „Genau wie ihr wolltet“, hatte der Funktionär gesagt. „Ukraine, meeresnah. Bittesehr.“ Jack blickte mir traurig in die Augen, und ich sah zu seiner Frau, die weiter ihren Laptop auseinandernahm. „Für zwei Jahre?“, fragte ich. „Für zwei Jahre“, antwortete er, und dann schwiegen wir einen Moment. Außer russischem Discosound und Tastaturgeklapper war nichts zu hören. „Und wie viel habt ihr schon abgerissen?“ „Zwei Wochen.“ Oooh, Peace Corps worker’s blues. „Und?“, fragte ich und steckte mir eine Zigarette an. „Macht ihr was? Was mit Meer?“ Er sah auf die Tischplatte und fand dort eine Bierlache. Mit dem Zeigefinger fing er an, darin herumzukrakeln. „Sags ihm schon, Jack“, ließ sich seine Frau hinter ihrem Laptop vernehmen. „Sag es.“ „Mja.“ Sagte Jack. „Vor ein paar Tagen … haben wir ein paar Grundschulkinder mitgenommen ans Meer. Und den Strand aufgeräumt. Flaschen und so was.“ „Kondome“, war hinter dem Laptop zu hören. „Und Kondome“, bestätigte Jack brav. „Aber es ist nicht so, dass es uns nicht gefallen würde“, schob er eilig nach. „Die Stadt ist … nett. Sie ist … ruhig. Hier ist nicht viel los, aber das ist … in unserem Alter … ein Plus. Es ist … hm … warm. Angenehm warm. Nach Odessa ist es gar nicht so weit …“, sagte er, während seine Frau immer verzweifelter den Laptop zu zerhacken versuchte. „Schön, schön“, sagte ich. „Können Sie denn nicht früher wieder zurück in die Staaten? Also nur mal angenommen, dass es Ihnen irgendwann nicht mehr so gefällt?“ „Nein, können wir nicht.“ Jack schüttelte den Kopf. „Vertrag ist Vertrag. Aber nein, weißt du, nein, nein, es ist wirklich nett hier […]“ Diesmal brauchte ich mir gar kein Gonzo auszudenken. Aus dem Polnischen von Thomas Weiler WOJCIECH JAGIELSKI EIN TROMPETER AUS TEMBISA. DER WEG ZU MANDELA © Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute Wojciech Jagielski (geb. 1960), Journalist und Reporter, spezialisiert auf die Thematik Afrikas sowie Zentralasiens und des Kaukasus. Viele Jahre lang für die „Gazeta Wyborcza“ tätig. Seine Bücher wurden bereits u.a. ins Englische, Spanische, Niederländische und Italienische übersetzt. „Eine Sache hat mich im Gefängnis stark beschäftigt: Während meiner Abwesenheit machte sich die Welt ein falsches Bild von mir, das Bild eines Heiligen. Doch ich bin kein Heiliger, es sei denn, ein Heiliger ist ein Sünder, der immer wieder seine Schwächen zu überwinden versucht“ – diese Worte Nelson Mandelas wählte Wojciech Jagielski zum Motto seiner neuen Reportage „Ein Trompeter aus Tembisa“. Heilig ist keine der Hauptfiguren dieses Buches. Jede von ihnen handelt aus einem Antrieb, der nur oberflächlich besehen ehrenvoll scheint. Dieser Antrieb nennt sich „Leidenschaft“ – eine Leidenschaft, die alles beseitigt, was sich ihr in den Weg stellt. Hauptfiguren gibt es drei: Nelson Mandela (einer der führenden Köpfe der Anti-Apartheid-Bewegung und erster schwarzer Präsident der Republik Südafrika), Freddie Maake, genannt „Saddam“ (umtriebigster Fußballfan Südafrikas und Erfinder der Vuvuzela) sowie – last, but not least – Jagielski selbst. Fangen wir beim Letztgenannten an. Wojciech Jagielski, einer der bekanntesten und geschätztesten polnischen Reporter, reiste 1993 zum ersten Mal in die Republik Südafrika. Ein Jahr später beobachtete er den Niedergang der Apartheid. Dennoch fand er jahrelang keinen rechten Zugang zu einer Erzählung über die südafrikanische Revolution. Der erste Versuch, sie in Worte zu fassen, war sein 2012 erschienenes Buch „Wypalanie traw“ [Brennendes Gras], in dem er sich jedoch auf die Geschichte einer bestimmten Kleinstadt fokussiert. Die kurz vor Mandelas Tod herausgegebene Reportage „Ein Trompeter aus Tembisa“ beleuchtet das Thema umfassender. Der Untertitel des Buches lautet „Der Weg zu Mandela“. Damit ist nicht nur der Weg der Republik Südafrika bis zum Fall der Apartheid gemeint, sondern auch der Weg des Autors zu seinem Protagonisten. Jagielski beschreibt, wie sehr er eine Begegnung mit Mandela herbeisehnte, seit er von dessen außergewöhnlicher Aura erfahren hatte. Viele Jahre lang blieb dieses Ziel unerreichbar, rückte einmal näher und dann wieder in weitere Ferne. Aus ebendiesem Grund schrieb der Autor schlussendlich ein Buch über seine Vorstellung von Nelson Mandela, und nicht über Mandela selbst. Der Mensch aus Fleisch und Blut entzieht sich ihm immer wieder, verlässt seinen Sockel nicht, auch wenn der Reporter sich um eine kritische Betrachtung bemüht (so schreibt er z. B. vom engen Kontakt des schwarzen Präsidenten mit Muammar Gaddafi). Vielleicht wählte Jagielski deshalb „Saddam“ als weitere Hauptfigur seines Buches. Mit ihm konnte er sich unterhalten, ihn aus nächster Nähe beobachten. Diese Entscheidung macht das Buch zusätzlich zu einer Schilderung der neuesten Geschichte Südafrikas, betrachtet unter dem Gesichtspunkt des Fußballs: vom Antrittsverbot der dortigen Spieler bei internationalen Wettkämpfen (eine Strafe der Westlichen Welt für die Apartheid-Regierung) bis hin zur nicht lang zurückliegenden Weltmeisterschaft, die „Saddam“ so herbeisehnte. Aber was verbindet „Saddam“ mit Mandela? Die Leidenschaft des einen ist die Politik, die des anderen der Fußball. Sie sind so weit voneinander entfernt, und einander durch ihre Leidenschaft doch wieder sehr nah. In erster Linie jedoch ist „Ein Trompeter aus Tembisa“ wohl eine Geschichte über die große Leidenschaft eines Reporters, der, weil er sein unbändiges Verlangen nach Eindrücken nicht stillen kann oder will, stets die wichtigsten historischen Ereignisse aus der Nähe betrachten und immer wieder nach dem Unerreichbaren greifen muss. Das Buch gelangte in die Endrunde für den „RyszardKapuściński-Preis“, den wichtigsten polnischen Reportagepreis. Małgorzata I. Niemczyńska WOJCIECH JAGIELSKI TRĘBACZ Z TEMBISY ZNAK, KRAKÓW 2013 140×205, 304 PAGES ISBN: 978-83-240-2776-7 TRANSLATION RIGHTS: ZNAK Im Besucherraum EIN TROMPETER AUS TEMBISA. DER WEG ZU MANDELA vor dem Amtszimmer des Präsidenten streifte mein Blick unwillkürlich die auf dem Tisch ausgelegten Zeitungen. Bei einer gab es auf der Titelseite eine kurze Meldung mit der Überschrift Welches Geheimnis birgt der Hexenhügel? Ich begann zu lesen. Menschen aus einem Dorf waren ausgezogen, um Albertina Moloto zu töten, da sie sie für eine Hexe hielten. Sie waren überzeugt, dass durch die Zauberei der Frau ein Blitz drei Hirten erschlagen hatte, die abends ihr Vieh zusammentrieben. Es war bereits Nacht, als die Menschen sich vor ihrer Hütte versammelten und das Strohdach in Brand steckten. Tür und Fenster verstellten sie, damit sie nicht aus der brennenden Hütte entkam. Sie sangen und tanzten. Albertina Moloto sagte, diese Gesänge höre sie noch heute. Gott schickte ihr damals Hilfe in Gestalt einer Polizeipatrouille, die die Tür eintrat und Albertina aus den Flammen zog. Sie lag bewusstlos auf dem gestampften Lehmboden und hielt eine Bibel umklammert. Aus Polizeiberichten ging hervor, dass in dem Jahr, in dem Mandela an die Macht kam, im nördlichen Transvaal beinahe hundert der Hexerei bezichtigte Menschen getötet worden waren. Im Jahr darauf war die Zahl der Opfer von Hexenjagden auf zweihundert angewachsen, und noch ein Jahr später verbrannten schon fast ein halbes Tausend Menschen auf dem Scheiterhaufen. Über die Zeitung gebeugt bemerkte ich gar nicht, wie Jessie, eine der Assistentinnen Mandelas, geräuschlos die gewaltige Tür zwischen Besucherraum und Präsidentenzimmer aufschob. Ich sah sie erst, als sie vor mir stehen blieb. [...] Ich bemühte mich schon seit so langer Zeit und so hartnäckig um ein Gespräch mit Mandela, dass es fast zu meiner Obsession geworden war. Die Begegnung mit ihm schien mir das einzige und wichtigste Ziel zu sein. […] Ich wollte Mandela treffen, da ich nur auf diese Weise herausfinden konnte, worauf seine ungebrochene Kraft beruhte, dank der er alle Hindernisse überwand, Schwächen besiegte und sich selbst stets treu blieb. Ich war überzeugt, dass eine kurze Begegnung, ein Augenblick, ein paar Worte mir genügen würden, um dieses Geheimnis zu ergründen. Dieses Mal würde alles wie am Schnürchen laufen. Dieses Mal sollte ich Mandela treffen. Das hatte mir einer seiner Freunde und engsten Vertrauten versprochen. Er hatte den Tag und die Uhrzeit für die Audienz festgelegt. Ich spürte, dass Jessie vor mir stand, hob jedoch nicht den Blick von den Zeitung. „Leider habe ich keine guten Nachrichten zu überbringen“, sagte sie. „Herr Mandela ist sehr beschäftigt.“ [...] Das Hexendorf hieß Helen und lag am Ufer des Limpopo. Es wohnten dort ausschließlich Menschen, die wegen Zauberei aus ihren Dörfern verjagt oder in letzter Minute von Polizisten aus den Flammen gerettet worden waren. […] Das Dorf bestand aus drei Dutzend neuen, aus Lochziegeln erbauten Hütten von identischer Form und Farbe. Sie standen in schnurgeraden Reihen zu beiden Seiten eines holprigen rötlichen Sandwegs und erinnerten an eine Kaserne in völliger Einöde, in einem von Gott und den Menschen vergessenen Winkel der Welt. Ringsum erstreckte sich, so weit das Auge reichte, nur die im dichter werdenden Dunkel braungrau wirkende, hier und da von verstaubten Kakteen und blattlosen, verkümmerten Bäumchen bestandene Wüste. Ich schaffte es nicht vor dem Unwetter. Als ich in das Dorf hineinfuhr, hatte sich der Feldweg bereits in eine Schlammlache verwandelt. Die rechts und links stehenden Hütten versanken fast in den Regenströmen und peitschende, trockene Donner wie Gewehrschüsse schienen die Luft zu zerreißen. Ich parkte den Wagen in der Mitte des Dorfes, vor einer Hütte, die sich in nichts von den anderen unterschied. Alle sahen gleichermaßen verlassen aus. Ich wollte Albertina Moloto besuchen, von der ich aus der Zeitung in Mandelas Besucherraum erfahren hatte. Aber im Dorf Helen wohnten ausschließlich Hexen und so hatte es keine besondere Bedeutung, an welche Tür ich klopfte und um ein Gespräch und vielleicht auch eine Übernachtungsmöglichkeit bat, sollte sich das Gewitter bis dahin nicht gelegt haben. Die Hütte, vor der ich geparkt hatte, gehörte Ngoepe Makgabo. Im hellen Schein der Blitze schien sich ihr von Runzeln zerfurchtes, gutes Gesicht in die Maske eines Dämons zu verwandeln. Das Unwetter machte ihr keine Angst, obwohl es die Erinnerung an eine ähnliche Nacht heraufbeschwor, in der die Nachbarn aus dem früheren Dorf sie aus ihrer Hütte schleiften und beschuldigten, einen Blitz angelockt zu haben, der eines der Häuser in Brand gesteckt hatte. Mit Fackeln und Macheten trieben sie sie vor sich her, zu einem Mangobaum am äußersten Rand des Dorfes, an dem sie sie erhängen wollten. Nur wenige riefen, man solle ihr das Leben schenken und sie für immer aus dem Dorf vertreiben. Sie hatten das Dorf bereits hinter sich gelassen und waren fast am Ort der Hinrichtung angekommen, als weitere Blitze den Himmel zerrissen und die Erde vom Donnerhall erbebte. Von Furcht ergriffen ließen sie sich zu Boden fallen. Ngoepe Makgabo riss sich los und setzte zur Flucht an, in die Dunkelheit. Sie versteckte sich im Dickicht hinter dem Dorf, sah, wie sie nach ihr suchten und sich mit den Fackeln den Weg leuchteten. „Moloi! Hexe!“, hörte sie von fern ihre Stimmen. Doch sie blieben am Rand des Dorfes, fürchteten sich, weiter in Nacht und Busch vorzudringen. „Pfui! Jämmerliche Neider und Feiglinge!“, spuckte sie voller Verachtung auf den Boden. „Aus purem Neid haben sie mir das angetan! Sie konnten meinen Ruhm nicht ertragen, und dass ich Geld hatte!“ Sie war keine Hexe, sondern Sangoma, Medizinfrau, eine gute Zauberin, Weissagerin und Heilerin. Nie hatte sie Menschen etwas Schlimmes zugefügt. Im Gegenteil, sie bemühte sich, ihnen zu helfen, indem sie sie mit Kräutern heilte und die Geister ihrer Ahnen, mit denen sie sprechen konnte, um Rat anrief. Von ihnen wusste sie auch, wie die Heilmittel und Amulette anzufertigen waren, die alle Beschwerden und Kümmernisse linderten. Nun nahm sie einen großen Schluck aus ihrer Flasche Karamellbier und holte einen ledernen Beutel aus ihrem Ausschnitt hervor. Sie vergrub die Hand darin und murmelte vor sich hin, während sie mit den Fingern nach etwas tastete. In dem Beutel bewahrte sie ihre Zauberknöchelchen auf, aus denen sie lesen konnte. Manchmal warf sie sie selbst auf die Erde, um herauszufinden, was jemandem fehlte und wie seine Krankheit zu bekämpfen sei. Wenn jedoch jemand mit einer Bitte um beruflichen Rat oder Hilfe bei der Eroberung einer Frau zu ihr kam, ließ die Sangoma den Kunden die Knochen werfen. Dann las sie, was sie ihr sagten, und bereitete ein Muti zu. Die Zutaten dafür kaufte sie ausschließlich in Kräuterläden in der Kleinstadt Seshego. Dort konnte man so gut wie alles bekommen: Eidechsenfett, pulverisierte Schlangenhaut, getrocknete Spinnen und Krokodilsleber, Löwenkrallen, Pavianhoden, verschiedenste Kräuter, Wurzeln, Rinden. Für manche Gewächse musste sie allerdings bis zum Ufer des Flusses Limpopo gehen. Verriete sie die Rezeptur eines Muti, würde sie die Geister der Ahnen erzürnen, die ihr das Geheimnis verraten hatten, und deren Fluch und Rache auf sich ziehen. Sie schwor jedoch, bei der Zubereitung der Muti noch nie menschliche Körperteile verwendet zu haben, wie es einige andere Zauberinnen taten. Sie stahlen die Körper Verstorbener aus Leichenhallen und Gräbern oder ließen Auftragsmörder rituelle Morde verüben. Sie konnte alle Krankheiten heilen und mit allem fertigwerden. Sie behandelte Migräne und Impotenz und wäre sogar imstande, ein Arzneimittel gegen die unheilbare Krankheit zu finden, die sie in den großen Städten AIDS nannten. Aber auch bei ganz gewöhnlichen Lebensfragen konnte sie helfen. Sogar bedeutende Würdenträger und die reiche Oberschicht aus Pretoria und Johannesburg suchten sie auf, um sich Rat oder Heilmittel bei ihr zu holen. Sie fanden sie auch hier wieder, in der Verbannung im Dorf Helen. So wie der junge Mann aus Johannesburg, der mit der Frage zu ihr gekommen war, wie er Arbeit finden solle, die er schon seit acht Jahren vergeblich suchte. Sie hatte ihn die Zauberknöchelchen aus dem Lederbeutel werfen lassen und dann einen Sud aus einer bestimmten Pflanzenwurzel zubereitet, den er sich in die Haut einreiben sollte. Der junge Mann tat wie ihm geheißen, und als er einige Tage später auf der Arbeitssuche wieder eine Autowerkstatt in Johannesburg betrat, lächelte der Besitzer, ein Bure, ihn an und fragte, ob er zufällig Arbeit suche. „Mein Muti hilft gegen jedes Problem“, sagte sie. „Es gibt dir alles, was du dir wünschst.“ An der Wand in ihrer Hütte hing zwischen einem Muttergottesbild und einem Porträt des Papstes ein aus der Zeitung ausgeschnittenes Foto von Nelson Mandela. „Alles, was du dir wünschst“, wiederholte sie und bekreuzigte sich unwillkürlich beim Grollen eines neuen Donners. „Wenn du willst, kann ich alles für dich erreichen. Jede Frau, jeden Preis, jeden Traum.“ Aus dem Polnischen von Lisa Palmes PAWEŁ SMOLEŃSKI SAND IN DEN AUGEN © Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute Paweł Smoleński (geb. 1959), Reporter, Publizist, Journalist bei der „Gazeta Wyborcza“. Spezialist für die Thematiken des Nahen Ostens. Mehrfach ausgezeichneter Reportage-Autor. „Sand in den Augen“ [Oczy zasypane piaskiem] ist sein elftes Buch. Häuser mit roten Dachziegeln, ein Sonnenuntergang über einer grauen Mauer, braune Felder, das traurige Lächeln einer alten Frau, Staub, der sich über Trümmern erhebt, nachdem Planierraupen darüber gefahren sind, ein Autowrack, brennende Olivenbäume. Jedes Element der Welt, die Paweł Smoleński in seinem Buch „Oczy zasypane piaskiem“ [„Sand in den Augen“] beschreibt, hat seine Farbe, seinen Geruch und seinen Geschmack. Und es hat vielleicht vor allem eins: seine Temperatur. Symmetrie. Das ist die Idealform der Debatte über den Nahostkonflikt. Aber sie ist so schwer zu erreichen. In Reportagen zu diesem Thema kommt meist eine Seite irgendwie besser weg. Smoleński fährt zum wiederholten Mal ins Heilige Land. In seinen Büchern „Izrael już nie frunie“ [„Israel fliegt nicht mehr“] oder „Arab strzela, Żyd się cieszy“ [„Der Araber schießt, der Jude freut sich“] beschreibt er in seinem charakteristischen, sensiblen Stil hauptsächlich Israels Schicksal. In „Sand in den Augen“ zeichnet er ein Bild von dem Leid der Palästinenser, die in den von Israel dominierten Gebieten leben – in erster Linie, denn der bekannte Reporter beschränkt sich nie auf die Darstellung nur einer Seite. „Ich bin ein stolzer Jude und ein sehr beschämter Israeli“, sagt einer der Protagonisten seiner neusten Erzählung. Smoleński stellt die Ereignisse, die stets die ersten Zeitungsseiten füllen, aus dem Blickpunkt der Bewohner des unruhigsten Gebietes auf der Erde dar. Er lässt sie zu Wort kommen, ohne immerfort Zusatzinformationen zu geben oder die Perspektive zu erweitern. Der Leser bekommt dadurch den Eindruck, dass er selbst mit den Menschen spricht, die der Reporter trifft. Es bleibt ihm überlassen, ob er tiefer in das Thema einsteigen, ob er das Gehörte verifizieren will. Die einzelnen Geschichten erzählen von gefolterten Häftlingen, zerstörten Wasserzisternen, vom täglichen Kampf gegen den Besatzer. Aber auch vom eigentümlichen „Verdienen am Konflikt“ und dem Aufblühen des Schmuggels, was aus der Wirtschaftsblockade des Gazastreifens resultiert. Am stärksten bleibt dem Leser zweifelsohne der neunjährige Mustafa in Erinnerung. Als die Palästinenser israelische Soldaten mit Steinen bewarfen, wurde er als lebendiger Schild benutzt. Aber in „Sand in den Augen“ lernt der Leser auch Hanna Barag kennen, eine der „Frauen von Machsom Watch“, die kontrollieren, wie die Zivilbevölkerung an den Checkpoints behandelt wird. Oder die an Krebs verstorbene Arna Mer-Khamis, eine propalästinensische Jüdin, die eine Theatergruppe leitete, welche die Annäherung zwischen den Gesellschaften propagierte. Und viele andere. „Sand in den Augen“ ist durchdrungen von Traurigkeit. Diese Traurigkeit rührt von der Überzeugung her, dass sich so schnell nichts ändern wird. Smoleński schreibt beispielsweise über Dschenin, eine Stadt im Palästinensischen Autonomiegebiet im Norden des Westjordanlandes, dass er dort verstanden habe „warum ich, wenn ich in ein paar Jahren wiederkomme – mit Sicherheit auf den Straßen dieselbe Szenografie vorfinde: von Regen und Sonne ausgebleichte Bilder junger Männer mit Shahid-Binden um den Kopf (bestimmt sind sie grün, aber die Plakate sind so verblasst, dass man sich die Farbe denken muss). Ich sehe die undeutlichen Porträts des jungen Ashraf, Jusuf, Ali und vieler anderer Terroristen-Märtyrer. Was tut es zur Sache, dass sie in ihrer Kindheit Schauspieler am Theater der Freiheit waren, dass sie Hunde und Könige gespielt haben, dass sie Orwell zitiert haben? Schließlich werden sie hier nicht dafür geschätzt.“ In der Titelreportage schreibt der Autor über seinen Protagonisten, dass er „die Augen voller Sand hat vor Leid, Enttäuschung und Widerwillen.“ Aber diese Worte passen in Wirklichkeit zu vielen Menschen, die an dem israelischpalästinensischen Konflikt beteiligt sind. Vielleicht bleibt ja gerade deshalb die Szenografie auf den Straßen nicht nur in Dschenin, sondern an vielen Orten des Heiligen Landes, noch lange dieselbe. Małgorzata I. Niemczyńska PAWEŁ SMOLEŃSKI OCZY ZASYPANE PIASKIEM CZARNE, WOŁOWIEC 2014 133×215, 264 PAGES ISBN: 978-83-7536-700-3 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM RIGHTS SOLD TO: SLOVAKIA (ABSYNT) A LS H A NNA BARAG SAND IN DEN AUGEN dem damaligen Stabschef der israelischen Armee, General Mosche Jaalon, begegnete, war sie schon eine Weile in Rente. Der General – ein für seine harte Hand bekannter ehemaliger Fallschirmspringer, Fallschirmjäger und Soldat der Spezialeinheiten des Mossad (heute ist er ein bekannter israelischer Politiker). Hanna Barag – eine siebzigjährige vornehme Frau, grau wie eine Taube. Sie hat zwei sehr erwachsene Kinder und fünf Enkel, von denen sie sicher noch mehr bekommt. Unter anderem hat sie als Chefin des Sekretariats von General Mosche Dajan gearbeitet. Erfahrungen im Umgang mit Menschen und in Gesprächen mit den Mächtigen dieser Welt sind immer nützlich. Leicht geschminkt, die Frisur, als käme sie soeben aus dem Schönheitssalon. Diskrete Ohrringe, die Brille in einer dünnen, goldenen Fassung. […] Zu dritt gingen sie damals zum General: kleine, grauhaarige Frauen, unter ihnen die kleinste, Hanna, bestimmt dezent geschminkt und mit goldenen Ohrringen. Damals begann gerade die zweite Intifada der Palästinenser, der Aufstand, der für seinen Terror und für Selbstmordattentate bekannt ist. „Mosche trat in das Büro, seine Schuhe schlugen kräftig auf den Boden“, erzählt sie. „Groß, riesig, aus meiner Perspektive geradezu bis zum Himmel, stattlich, streng, ein echter Krieger. Die Manieren eines Militärs, eine tiefe Stimme, ich reiche ihm vielleicht bis zu den Knien. Er fragt unbekümmert, aber höflich, sicher hat er gedacht, der Arme, dass es sich um einen Höflichkeitsbesuch handelt. Und wir erzählen ihm von den Checkpoints, darüber, was da von der Armee und den Grenzern angerichtet wird. Und dass man das einfach nicht darf. Aber wir sagen auch, wie es den Soldaten geht, wie ihr Dienst abläuft, wie man ihn erträglicher machen kann. Wir nennen Zahlen, Daten, Uhrzeiten, Tatsachen. Schließlich sind diese Soldaten kaum älter als unsere Enkel, wenn überhaupt. Wenn Mosche den Krieg gegen die ganze arabische Welt allein gewonnen hätte, wäre er weniger überrascht gewesen. Er machte Augen wie Untertassen. „Er hatte“, sagt Hanna, „drei Omas erwartet, im Höchstfall leicht hysterische, aber nun sprach er mit Partnerinnen, die Bescheid wussten.“ Er gab ihnen seine privaten Telefonnummern, erlaubte ihnen, jederzeit anzurufen, und die Armee richtete eine spezielle Hotline ein. „Aus gutem Willen, aber auch“, so Hanna, „aus Angst, dass die Omas wütend werden.“ „Jetzt stellen wir uns an die Wand, hier, bitte sehr“, sagt Hanna. „Eng zusammen, ich habe keine kräftige Stimme. Still, hier ist genug Lärm. Und keine Fotos. Das ist nicht unbedingt verboten, aber lieber nicht fotografieren, weil sich die Soldaten sonst aufregen, wir müssen sie nicht stören, diese Arbeit ist relativ langweilig, stupide und stressig, ich könnte das nicht.“ Es ist sehr früh am Morgen, es ist kalt, obwohl sich ein heißer Tag ankündigt. Tausende Palästinenser gehen in Israel zur Arbeit, überqueren den Checkpoint auf dem Weg von Bethlehem nach Jerusalem. Hanna ist gekommen, als der Morgen graute. Sie schaut sich um, damit alles gut abläuft. „Das Verhalten der Soldaten, die die Palästinenser kontrollieren, ist ein Zeugnis, das wir uns selbst ausstellen“, sagt sie. „Wir Israelis, alle. Es spielt keine Rolle, ob wir gegen die Besatzung sind, oder dafür. Menschen müssen wie Menschen behandelt werden, unabhängig von den Umständen. Vor allem ist das gut für Israel.“ Und so unterhalten wir uns an einem Ort, der die einst offene Straße Nummer 60 zwischen Jerusalem und Bethlehem verstopft, die im Süden in Richtung Be’er Scheva verläuft und im Norden bis nach Galiläa und Nazareth. Diesen Weg sind Abraham, David und Jesus gegangen. Diese Stelle heißt Checkpoint 300 oder Terminal 300. Ich bin sicher, dass niemand diesen Ort mag. Als Hanna nach Hause kommt, gibt sie einen genauen Bericht: was, wer, um welche Uhrzeit und aus welchem – ihrer Meinung nach – Grund. Am selben Nachmittag wird ihr Bericht auf die Internetseite gestellt. Es kommt vor, dass dem ein paar höfliche, entschiedene Anrufe bei den wichtigsten israelischen Militärs vorausgehen. […] Eine Soldatin kommt auf uns zu, ein langhaariges, junges, eher rundes Mädchen mit einem Gewehr über der Schulter. Sie wirft ein Auge auf Hanna und kehrt gelangweilt dahin zurück, wo sie herkam. In ihrem Blick liegt kein Wohlwollen, aber auch keine Absicht; ich würde das Gleichgültigkeit und Respekt nennen. Hanna nimmt das Mädchen nicht wahr, weil sie auf die Stimmen hört, die hinter einem der Durchgangstore zu hören sind: die palästinensische Schlange streitet sich. Als der Zank leiser wird, zeigt sie mit dem Finger auf die Plakette, die an einem breiten Band um ihren Hals hängt, was überhaupt nicht zu Hannas eleganter Kleidung passen will. „Das ist meine einzige Waffe.“ Sie lächelt und buchstabiert die Aufschrift „Machsom Watch.“ „Und wer traut sich schon, Omas gegenüber aufzumucken?“, fügt sie hinzu. Mir scheint, dass sie sogar zwinkert. Auf Hebräisch heißt Kontrollpunkt „machsom“, auf Arabisch „hajez“. Israelis und Palästinenser kennen das Wort allzu gut. Wenn ich die Checkpoints fotografieren und die Fotos dann vergleichen würde, würde ich keinerlei Ähnlichkeit feststellen. Checkpoint 300 sieht aus wie eine riesige Markthalle, überdacht, mit verschachtelten Gängen und Korridoren, Schleusen und verglasten Kabinen, in manchen sitzen Soldaten, angeleuchtet von den Monitoren ihrer Computer. Dunkelblaue, abgewetzte kugelsichere Westen der Mitarbeiter privater Sicherheitsfirmen. Stahltore, die sich auf einen elektrischen Impuls hin öffnen. Geschlossene Türen zu geheimen Räumen. Durchsuchen von Hosentaschen und Plastiktüten mit Essen, Kontrolle der Passierscheine, Scannen von Fingerabdrücken. Der Geruch von ärgerlichen, manchmal entsetzten Menschen, die es eilig haben, wie das an der Grenze eben ist, obwohl es hier gar keine echte Grenze gibt, schließlich existiert der palästinensische Staat nicht. Hinter dem letzten Tor liegt Israel: massenweise Männer auf den Mauern und dem spärlichen Rasen, Kleinbusse, die auf die Arbeiter warten, transportierbare Stände mit Kaffee und Tee. Als die Menge gegen sieben auseinandergeht, von Jerusalem nach Aschkelon und Tel Aviv, hinterlässt sie bergeweise Müll, herumliegendes Papier, massenweise Kippen und Plastikbecher. Der Übergang Kalandia im Norden von Jerusalem ist ein ewiger Stau, größer ist er auf der palästinensischen Seite, da die Einreise von Israel in die Autonomiegebiete nicht kontrolliert wird. Abgase und eine Fahrbahn mit herausgerissenem Asphalt. Überfüllte Parkplätze auf der arabischen Seite. Verkaufsstände für Nüsse und Sonnenbrillen. Kakophonie der Hupen, dass man Ohrenschmerzen bekommt. Erez, das in den Gazastreifen einlässt, sieht aus wie ein verlassenes Raumschiff, abgesehen von dem Dutzend palästinensischer Kinder, die von ihren Müttern eskortiert werden, und den Kranken mit Begleitperson. Die Fragen der unsichtbaren Grenzer kommen von den Wänden oder von der Decke; anonyme, entschiedene Kommandos. Als ich Erez passierte, befahl mir ein versteckter Big Brother, meine Hosentaschen zu leeren. Dann stand ich – wie befohlen – mit erhobenen Armen da, während Big Brother sagte: „Du hast eine Papierkugel in deiner Hosentasche.“ Ich kramte ein zusammengeknülltes Zigarettenpapier hervor, das so groß war wie der Nagel meines kleinen Fingers, und legte es auf die glänzende Stahlplatte. Big Brother war zufrieden. Aber den größten Eindruck macht auf mich immer der kleine Checkpoint, der das arabische Hebron mit dem Eingang zur Abraham-Moschee im von Israel kontrollierten Teil der Altstadt verbindet. Die dunkle und enge uralte Gasse, mit einem bogenförmigen Gewölbe überdacht, wird plötzlich von einer Stahltür verschlossen. Dahinter ist ein echter Käfig, der mit einem Drehkreuz aus Stahl abschließt. Das Drehkreuz öffnet sich von Zeit zu Zeit und lässt ein paar Leute durch, der Rest drängt sich in dem Käfig, beobachtet von Soldaten, die sich hinter Betonplatten versteckt halten. Keine Computer und keine raffinierte Technologie. Nur die Augen der Grenzer durchleuchten alle Grenzgänger. Niemand fragt nach einem Passierschein; hier sind sie nicht notwendig. Die Augen der Soldaten sehen alles. Selbst in einem unbarmherzig überfüllten Käfig. Vielleicht sind gerade die Käfige auf der palästinensischen Seite (klein wie in Hebron, geräumig wie am Checkpoint 300 und in Kalandia, viele hundert Meter lang wie in Erez) das Gemeinsame aller Checkpoints. Und diese Angst, die Unsicherheit, die Überzeugung, dass jemand, der einen Checkpoint passiert, ein Niemand ist, dass man mit ihm alles machen kann: demütigen, entwürdigen, vernichten, schlagen. Hanna Barag kommt an den Ort, wo sich Jerusalem und Bethlehem treffen, um dieses „alles“ zu begrenzen. Von den Haupt-Checkpoints, die von Machsom Watch beobachtet werden, gibt es mehrere Dutzend. Zählt man die Blockaden, die Betonklötzer, die auf die Straßen gelegt wurden, die Schranken oder Erddämme hinzu, die die Zufahrt zu den Hauptstraßen abtrennen, rechnet man die vorübergehenden und fliegenden Kontrollpunkte mit ein, dann sind es auf den besetzten Gebieten insgesamt um die Tausend. Die Omas von Machsom Watch wissen fast alles über alle. Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska WITOLD SZABŁOWSKI TANZBÄREN © Albert Zawada AG Witold Szabłowski (geb. 1980), Reporter bei der „Gazeta Wyborcza“, mehrmals ausgezeichneter Autor, u.a. mit dem „Beata-Pawlak-Preis“ für Texte über andere Kulturen, Religionen und Zivilisationen. Sein Debüt, eine Reportage über die Türkei mit dem Titel „Weil ich dich liebe, Schwester“ [Zabójca z miasta moreli. Reportaże z Turcji], befand die amerikanische „World Literature Today“ für eine der wichtigsten Übersetzungen ins Englische im Jahr 2013. Das ist ein Bär. Er ist vielleicht erst wenige, vielleicht aber mehrere Dutzend Jahre alt. Dichtes Fell, zweihundert Kilo Gewicht, in der Nase einen Ring. Das ist ein Metallring, den ihn sein Herr, ein Zigeuner, in seine empfindlichste Stelle gestoßen hat. Deshalb ist der Bär gehorsam. Er steht auf den Hinterpfoten und tanzt, er kann bekannte Sportler, Politiker und andere Stars nachahmen, und bevor man seinen Lottoschein abschickt, kann man ihn streicheln – das soll Glück bringen. Er wohnt normalerweise auf dem Hof seiner Menschen und isst täglich mehrere Brotlaibe. Er kaut sie langsam – nicht selten hat er ausgeschlagene Zähne. Witold Szabłowski erzählt in seiner Reportage „Tanzbären“ von den Jahren kurz nach Bulgariens EU-Beitritt. Unter vielen Veränderungen, die damals in dem Land am Schwarzen Meer eintraten, gab es auch eine bezüglich der Tanzbären. Eine Tierschutzorganisation hat den Zigeunern damals die Bären weggenommen und sie in einem speziellen Park untergebracht, wo sie die Freiheit lernen. Klingt wunderbar. Aber ist es das wirklich? Das Buch beginnt mit einem Gespräch mit einem ehemaligen Bärenbesitzer. Die Trennung von dem Bären ist für ihn ein Drama. Er ist der Meinung, er habe sein Tier wie ein Familienmitglied behandelt, habe es nie geschlagen, im Gegenteil – habe sich gekümmert so gut er konnte. In die Freiheit fahren die Bären in Käfigen – wie symbolisch. Weil sie an das Leben unter Menschen gewöhnt sind, verlieren sie nun die Orientierung. Sie berühren mit den Pfoten ihre Nasen, die überraschend von den Ringen befreit sind. Sie sind nicht in der Lage, sich selbst Futter zu besorgen. Sie lernen, Winterschlaf zu halten. Weil sie so ungeschickt sind, werden sie kastriert (denn was sollten sie ihren Jungen beibringen?). Hinzu kommt, dass ihr Freiraum von einem Elektrozaun begrenzt wird. „Freiheit ist eine wahnsinnig komplizierte Sache. Man muss sie langsam dosieren“, sagt einer der neuen Bärenpfleger. Wem ist noch nicht aufgefallen, dass es hier gar nicht um Bären geht? Szabłowskis Buch erinnert an die Reportage der polnischen Reporterin Barbara N. Łopieńska „Łapa w łapę“ [Pfote in Pfote] von 1976, in dem die Dressur von Tigern als Metapher für das Verhältnis zwischen Machthabern und Bürgern in Zeiten des realen Sozialismus stand. Heute ist diese Reportage ein Standardbeispiel für äsopische Reportersprache. Doch Szabłowski braucht keine Tier-Metapher, um die Zensur zu überlisten. Er darf weiter gehen. Und er geht weiter. Der zweite Teil der „Tanzbären“ besteht aus Reportagen von verschiedenen Orten der Welt, die alle auf irgendeine Weise von der Transformation des politischen Systems handeln. Der Autor ist dafür bekannt, dass er die Wohltaten des Kapitalismus (besonders in dem gemeinsam mit Izabela Meyza verfassten Buch „Nasz mały PRL“ [Unsere kleine Volksrepublik Polen] über das Alltagsleben in Volkspolen) skeptisch bewertet. Eine ähnliche – wenn auch nicht eindeutige – Haltung ist auch in diesen Texten zu sehen. Die flotte Sprache und das aufmerksame Auge des Beobachters sorgen dafür, dass Szabłowskis Erzählungen – ob aus Kuba, aus der Ukraine oder vom Balkan – wirklich frappierend sind. Małgorzata I. Niemczyńska WITOLD SZABŁOWSKI TAŃCZĄCE NIEDŹWIEDZIE AGORA SA, WARSZAWA 2014 135×210, 224 PAGES ISBN: 978-83-268-1335-1 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM STALINS VESTALINNEN TANZBÄREN Er kommt nachts zu mir. Er schaut, raucht Pfeife, zwirbelt seinen Schnurrbart. Er lächelt – und geht zur Tür. Dann weine ich und schreie, dass er bleiben soll. Aber was kümmert es einen Kerl, wenn die Frau weint? Der Georgier macht es so: Wodka trinken, eindringen, schnell kommen und einschlafen. Ich hasse Trinker. Aber andere gibt es hier, in Gori, nicht. Andere gibt es nur in amerikanischen Filmen. Stalin, das ist etwas anderes. Voller Kultur. Der wusste, wie man für eine Frau sorgt, wie man ihr Komplimente macht, wie man gut riecht. Er lebte bescheiden, aber trug elegante Kleidung. Und er trank nicht zu viel. Und wenn, dann nur guten Alkohol. Dass er den Faschismus und Hitler besiegt hat, brauche ich gar nicht zu erwähnen. Deshalb habe ich mir vor vielen Jahren gesagt: Tanja, wozu in aller Welt sollst du dich mit Säufern herumschlagen? Wozu, wenn du mit Stalin leben kannst? anna sreseli: er ist wie eine familie Wir stehen vor dem Haus, in dem Josef Wissarionowitsch Stalin zur Welt kam. Seine Eltern waren arm. Die Mutter wusch den örtlichen Popen die Wäsche. Der Vater war Schuster. Wie Sie sehen, wurde sein Haus wieder aufgebaut, mit einer Konstruktion im antiken Stil. Die Nachbarhäuser wurden abgerissen. Ja, der ganze Bezirk. Nein, ich finde das nicht seltsam. Wenn hier die Hühner kacken, und die Kinder Ball spielen würden, wären Sie dann zufriedener? […] Vor ein paar Jahren hatten wir Krieg. Die Grenze zu Ossetien ist nah. Hundert russische Panzer rollten durch Gori. Wir flohen nach Tbilisi, und ich hatte nicht etwa Angst, dass sie mir den Plattenbau und meine Wohnung abreißen, sondern dass sie das Museum zerstören. Aber sie haben nichts angerührt. Sie haben immer noch Angst vor Stalin. Sie haben nicht einmal ein Stück Rasen angerührt, haben sich nur vor seinem Denkmal fotografiert. Auf diese Weise hat Stalin uns aus dem Grab heraus gerettet. Als ich zur Schule ging, träumten die einen Mädchen von einer Arbeit im Geschäft, andere wollten in den Kosmos fliegen, und ich wollte den Menschen von meinem großen Landsmann erzählen. Mein ganzes Leben habe ich so gelenkt, dass sich das erfüllt. Nach dem Studium bin ich zum Museum gegangen und habe nach Arbeit gefragt. Aber damals war die Sowjetunion schon am Untergehen. Das Museum war geschlossen und hat nur knapp überdauert. Erst seit kurzen wird wieder eingestellt. Ich war die erste, die mit der neuen Rekrutierung aufgenommen wurde – ich habe eine halbe Stelle im Museum. Im Studium habe ich noch gelernt, dass Stalin ein hervorragender Staatsmann war. Aber das System hat sich geändert, das Programm hat sich auch geändert und jetzt soll ich lehren, dass er ein Tyrann und Verbrecher war. Ich sehe das nicht so. Umsiedlungen? Die waren notwendig, damit die Menschen in Frieden leben. Morde? Dafür ist nicht er verantwortlich, sondern Beria. Hunger in der Ukraine? Das war eine Naturkatastrophe. Katyn? Ich wusste, dass Sie danach fragen werden. Alle Polen fragen danach. Ich bitte Sie, Katyn das war Krieg. Im Krieg sind solche Verfahrensweisen normal. Und bevor Sie jetzt anfangen zu schimpfen, lassen Sie mich bitte ausreden. Haben Sie sich beruhigt? Dann sage ich Ihnen jetzt, was ich persönlich denke. Ich halte Stalin für einen großen Menschen, aber das darf ich weder den Schülern noch den Touristen sagen. Deshalb sage ich: „Für die einen ist er ein Diktator, für die anderen ein Tyrann, für noch andere ein Genie. Wie es wirklich ist, beantwortet euch selbst.“ tatjana mardschanischwili: gott, hol mich zu stalinchen Wenn ich sehe, was sie mit unserem Stalinchen gemacht habe, bleibt mir das Herz stehen! Wie kann man nur? Wie kann man aus so einem guten Menschen ein Ungeheuer machen, einen Menschenfresser, ein Monstrum? Früher kam ein Bus nach dem anderen zu unserem Museum. Die Menschen standen mehrere hundert Meter Schlange. Ich schaute in ihre Gesichter und sah, dass sie gute Menschen sind. Und heute? Da würde einer den anderen am liebsten totbeißen. Das ist der Kapitalismus. Jetzt gehe ich da nicht mehr hin. Erstens, weil mich das traurig macht. Wegen meiner Jugend, meiner Arbeit, meiner Freunde. Und zweitens, weil meine Beine schwach sind. Ich kann nicht einmal allein die Treppe runtergehen. Im März werde ich 82, man kann ja nicht das ganze Leben lang gesund sein. Morgens stehe ich auf, schneide Brot, brühe Tee auf, setze mich hin und sage: „Warum hast du mich, Jesus Christus, solche Zeiten erleben lassen? Warum machen die unser Täubchen Stalin schlecht?“ Aber dann denke ich mir: „Erinnere dich, Tanja, wie viel Stalin für die Menschen erleiden musste. Auch für dich hat er gehungert, zu wenig geschlafen. Gegen den Faschismus hat er gekämpft, damit du deine Schule abschließen konntest.“ Und dann nehme ich mir die Medaille mit Stalins Gesicht, die ich bei meinem Abschied von der Arbeit bekommen habe. Ich streichle ihm, dem Täubchen, über den Schnurrbart und dann geht‘s mir irgendwie besser. Im Museum habe ich seit 1975 gearbeitet. Als Aufpasser – jemand, der für die Ordnung und Sicherheit der Ausstellung verantwortlich ist. Wenn jemand versuchte, die Exponate zu berühren, mussten wir hingehen und schimpfen. Leicht war das nicht. Aus den Dörfern kamen alte Frauen und stürzten sich auf unser Stalinchen. Jedes Foto auf der Ausstellung mussten sie wie Ikonen in der Kirche küssen. Es gibt fast tausend solcher Fotos! Wenn ein ganzer Bus mit Weibern kam und alle ihn küssen wollten, was sollte ich da machen? Wenn der Direktor es sah, bin ich rumgelaufen und habe geschimpft. Aber wenn er es nicht sah, sagte ich: „Küsst ihn, Gott gib euch Gesundheit! Aber rührt mir bloß die Maske nicht an. Unter keinen Umständen.“ Die Maske ist im ganzen Museum das Heiligste, denn das ist eine Totenmaske. Früher habe ich im Nationalmuseum von Tbilisi gearbeitet, aber mein zweiter Mann war aus Gori und da habe ich eine Versetzung erwirkt. Das war nicht einfach. Das StalinMuseum war kein Ort, wo man von der Straße reinkommen und fragen konnte „Habt ihr nicht Arbeit?“. Der Ruf war von Bedeutung. Ich war geschieden. Mein erster Mann hatte getrunken und geschlagen – es bringt nichts, von ihm zu erzählen. Damals hatte ich Angst, dass meine Scheidung ein Problem sein könnte. Zum Glück hatte ich eine sehr gute Beurteilung von Tbilisi. Die elegantesten Leute aus der ganzen Welt kamen, um Stalins Haus zu bewundern. Aus ganz Russland, aus Asien, aus Amerika. Journalisten, Botschafter, Künstler. Und ich stand zwischen den Exponaten mit meinem Namenskärtchen, stolz wie wer weiß was. Diese Arbeit war für mich alles. Das Museum war für mich wie ein Zuhause. Mein Mann verstand das nicht. Ich konnte mich mit ihm nicht unterhalten. Obwohl ich die Ausstellung bewachte, las ich Bücher, lernte Menschen kennen. Und er trank auch. Er hat auch versucht, mich zu schlagen, aber das habe ich mir nicht bieten lassen. Später wurde er krank, bekam eine Rente. Tagelang saß er in der Wohnung oder bei seiner Mutter. Um mich zu ärgern, sagte er schlechte Dinge über Stalin. Als die UdSSR unterging, streckte er mir die Zunge raus, so eine Genugtuung empfand er. Und dann starb er. Schade, dass er die heutigen Zeiten nicht mehr erlebt hat. Jetzt würde ich ihm die Zunge rausstrecken. Wozu brauchen wir den Kapitalismus, die amerikanischen Käse, Säfte, Schokoladen? Du kannst nicht einmal mehr normale Milch kaufen, sondern die muss im Karton sein, weil es in Amerika so ist. Ich denke mir: „Jesus Christus, hol mich zu meinem Stalinchen. Hol mich von dieser Welt, denn ich halte es nicht länger aus.“ […] tatjana gurgenidse: ich wäre gut zu ihm Ich bin in das falsche System hineingeboren. Denn ich habe die Mentalität eines Helden der Arbeit. Wenn etwas ehrenamtlich gemacht werden muss, gehe ich hin und tue es. Ich habe eine Wandzeitung für die Mitarbeiter gemacht. Unterricht für alleinerziehende Mütter gegeben. Als Krieg war, habe ich geholfen, die Hilfsgüter zu verteilen. Im Kommunismus würden mich alle schätzen. Aber wir haben Kapitalismus und sie schauen mich an wie eine Idiotin. Wenn ich wirklich nicht mehr kann, komme ich ins Museum, um ruhig zu werden. Ich sage: „Herr Stalin, ich weiß, dass Sie das zu schätzen wüssten.“ Das hilft. Und wenn ich von Stalin träume – ich habe es Ihnen erzählt, dass er schaut, seinen Schnurrbart zwirbelt und rausgeht – dann ist das meistens ein paar Tage nach so einer Beruhigungsphase. Mit meiner Herangehensweise an die Kerle passe ich auch nicht in diese Epoche. Wissen Sie, in der Sowjetunion gab es keinen Sex. Es gab ein Geschlechtsleben. Das, was die Jugend jetzt im Fernsehen sieht, gab es nicht. Die Musikvideos und die nackten, mit Verlaub, Ärsche. Ein Kuss, oder wenn jemand jemanden leicht über die Schulter gestrichen hat, genügte. Die Frau sollte eine gute Arbeiterin sein, sich bescheiden kleiden und verhalten. Wenn ich mir die heutigen Mädchen ansehe, gehe ich auch ins Museum. Und ich sage: „Herr Stalin, Ihnen würde das auch nicht gefallen.“ Und das hilft wieder. Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska SOEBEN ERSCHIENEN: KLEINE FÜCHSE JUSTYNA BARGIELSKA Aus dem Polnischen von Lisa Palmes Berlin: Klak Verlag WEIL ICH DICH LIEBE, SCHWESTER WITOLD SZABŁOWSKI Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska Berlin: Vliegen Verlag MIKWE WEISSE MARIA ZYTA RUDZKA HANNA KRALL Aus dem Polnischen von Sven Sellmer Zürich: Secession Verlag Für Literatur Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik TAGEBUCH 1962-1969 DAS GEHEIME TAGEBUCH SŁAWOMIR MROŻEK MIRON BIAŁOSZEWSKI Aus dem Polnischen von Doreen Daume Zürich: Diogenes Verlag Aus dem Polnischen von Dagmara Kraus Berlin: edition.fotoTAPETA DIE KLEINE EWIGKEIT DER KUNST ADAM ZAGAJEWSKI Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann und Renate Schmidgall München: Carl Hanser Verlag KNOCHENPALAST ANDRZEJ BART Aus dem Polnischen von Albrecht Lempp Frankfurt am Main: Schöffling & Co TUNNEL MAGDALENA PARYS Aus dem Polnischen von Paulina Schulz Münster: Prospero Verlag UNKÜNSTLERISCHE WAHRHEIT HENRYK GRYNBERG Aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein Berlin: Hentrich & Hentrich Verlag DIE PENSION MORPHIN PIOTR PAZIŃSKI SZCZEPAN TWARDOCH Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel Berlin: edition.fotoTAPETA Aus dem Polnischen von Olaf Kühl Berlin: Rowohlt DIARY 1954 GOTTLAND LEOPOLD TYRMAND MARIUSZ SZCZYGIEŁ Aus dem Polnischen von Anita Shelton und A.J.Wrobel Evanston: Northwestern University Press Aus dem Polnischen von Antonia Lloyd Jones New York: Melville House NEUE BÜCHER AUS POLEN ©Das Polnische Buchinstitut, Krakau 2014 Redaktion: Izabella Kaluta, Andre Rudolph Texte von: Kinga Dunin, Małgorzata I. Niemczyńska, Iga Noszczyk, Dariusz Nowacki, Marcin Sendecki, Kazimiera Szczuka, Marcin Wilk, Marek Zaleski Übersetzung: Brygida Helbig, Lisa Palmes, Antje Ritter-Jasińska, Renate Schmidgall, Benjamin Voelkel, Thomas Weiler Weitere Informationen über die Polnische Literatur auf www.bookinstitute.pl Eine englische Ausgabe dieses Katalogs unter dem Titel New Book From Poland No 56 kann über das Buchinstitut bezogen werden. Graphik und Satz: Studio Otwarte, www.otwarte.com.pl www.bookinstitute.pl