Neue Bücher - Instytut Książki

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Neue Bücher - Instytut Książki
Neue Bücher
AUS POLEN
59.
N0
OLGA TOKARCZUK
PAWEŁ HUELLE
MAGDALENA TULLI
JANUSZ GŁOWACKI
IGNACY KARPOWICZ
PATRYCJA PUSTKOWIAK
ŁUKASZ ORBITOWSKI
BRYGIDA HELBIG
MICHAŁ WITKOWSKI
MARIUSZ SIENIEWICZ
JOANNA BATOR
KRZYSZTOF VARGA
ZIEMOWIT SZCZEREK
WOJCIECH JAGIELSKI
PAWEŁ SMOLEŃSKI
WITOLD SZABŁOWSKI
DAS POLNISCHE BUCHINSTITUT
INSTYTUT KSIĄŻKI
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PL 31-148 Kraków
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des Polnischen Buchinstitutes
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AUSGEWÄHLTE
PROGRAMME
DES BUCHINSTITUTS
DAS ÜBERSETZUNGSPROGRAMM ©POLAND
ÜBERSETZERKOLLEGIUM
Ziel des Programms ist es, Übersetzungen polnischer Literatur zu fördern und ihre Präsenz auf den ausländischen
Buchmärkten zu stärken. Das Programm umfasst insbesondere Belletristik und Essayistik, Kinder- und Jugendliteratur, Sachbücher.
Das Programm wird vom Buchinstitut in Zusammenarbeit
mit dem Verein Villa Decius und der Jagiellonen-Universität durchgeführt. Es richtet sich an Übersetzer polnischer
Literatur, die Belletristik, Essayistik, Dokumentarliteratur
oder geisteswissenschaftliche Literatur im weitesten Sinne
übertragen und bietet ein- bis dreimonatige Stipendienaufenthalte in Krakau.
Angebote können von allen Verlagen abgegeben werden,
die ein in polnischer Sprache geschriebenes Buch in eine
fremde Sprache übersetzen lassen und herausgeben
wollen.
Im Rahmen des Programms können u.a. folgende Kosten
finanziert werden:
TRANSATLANTIK
•bis zu 100 % der Kosten des Lizenzerwerbs
•bis zu 100 % der Übersetzungskosten eines Werkes
aus dem Polnischen.
Transatlantik ist der alljährlich von dem Buchinstitut vergebene Preis für Persönlichkeiten, die sich für die Verbreitung der polnischen Literatur im Ausland einsetzen. Der
Preis, dotiert mit 10.000 Euro, kann u. A. an Übersetzer,
Verleger, Literaturkritiker, Polonisten verliehen werden.
SAMPLE TRANSLATIONS ©POLAND
KONTAKT:
Das Ziel dieses Programms – es richtet sich an Übersetzer
polnischer Literatur – ist es, im Ausland für polnische
Literatur zu werben, indem man Übersetzer ermutigt, polnische Bücher ausländischen Verlegern zu präsentieren.
Das Polnische Buchinstitut
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Bezahlt werden 20 Seiten einer Probeübersetzung.
Die Bewerbungsformulare beider Programme können
von der Website www.bookinstitute.pl heruntergeladen
werden.
Direktor des Polnischen Buchinstituts:
Grzegorz Gauden
ADRESSEN DER VERLAGE
UND AGENTEN
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OLGA
TOKARCZUK
DAS BUCH JAKOB
© Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute
Olga Tokarczuk (geb. 1962), die bei den Kritikern
als eine der größten Romanschriftstellerinnen der
Gegenwart gilt, erfreut sich großen Erfolgs bei ihren Lesern. Geehrt mit vielen polnischen und ausländischen Literaturpreisen; ihr Roman „Taghaus,
Nachthaus“ [Dom dzienny, dom nocny] stand auf
der Shortlist für den „Dubliner Internationalen
Literaturpreis IMPAC“. Tokarczuk gehört zu den
meistübersetzten polnischen Autoren. „Das Buch
Jakob“ [Księgi Jakubowe] ist ihr fünfzehnter Roman.
Jakob Frank, der Protagonist in Olga Tokarczuks neuem, umfangreichen Roman ist eine historische Gestalt, nur wenigen
bekannt und eigentlich fast gänzlich in Vergessenheit geraten.
Dabei ungemein farbig und geheimnisvoll, und sein Schicksal
ist mit zahlreichen Schauplätzen in und außerhalb von Europa
verbunden. Es nimmt Wunder, dass Frank nicht längst schon
zum Helden zahlreicher Bücher und Filme avanciert ist, sondern nur einer Handvoll Fachleutenbekannt ist. Er lebte im
18. Jhd., als die Geschichte Tempo aufzunehmen begann, die
Französische Revolution näher rückte und die erwachenden
Strömungen der Aufklärung spürbar wurden. Mag uns die mystische Religiosität dieses jüdischen Häretikers, der als der letzte
Messias galt, zwar heute veraltet erscheinen, so führte sie doch
seinerzeit zum Aufbrechen alter Strukturen, zur Spaltung zwischen den Juden und den Bekennern anderer Religionen. Gegen
Mitte des Jahrhunderts vollzogen etliche tausend seiner Anhänger unter der Schirmherrschaft des polnischen Königs und des
polnischen Adels ihre Konversion zum Katholizismus. Es war
beileibe nicht die erste, zuvor waren sie Moslems geworden.
Frank war Mystiker und Politiker, Charismatiker und Lüstling, Hochstapler und Religionsführer gleichermaßen, eine
doppeldeutige Gestalt, schwer zu erfassen. In Tokarczuks großem Epos wimmelt es nur so von bunten Figuren, Jakob jedoch
wird immer mit den Augen anderer gesehen, er bleibt immer
unergründlich. Vielleicht hat gerade jene Vieldeutigkeit dazu
geführt, dass die Geschichte mit ihm nicht gnädig verfuhr?
Vielleicht war er aber auch allen einfach unbequem? Für die
Juden war er ein Abtrünniger, Wegbereiter einer ihre Identität
zerstörenden Assimilation, der sich schlecht in die Geschichte
des Weltjudentums einpassen ließ, obwohl er Teil davon war.
Für die Katholiken eine Erinnerung an ihren eigenen Antisemitismus. Für viele assimilierte Nachkommen der Frankisten
ein Bezug auf ihre Wurzeln und die verschlungenen Wege ihrer
Assimilation.
Frank kam in einem kleinen Dörfchen in Podolien, also in
der heutigen Ukraine zur Welt, in einer Familie von Anhängern eines anderen jüdischen Häretikers und Messias, Schabbatai Zvi. Er wuchs inmitten askenasischer Juden im Gebiet des
heutigen Rumänien heran, reiste als Händler in die Türkei und
kehrte wieder an die polnischen Ostgrenzen zurück, um seinen
Glauben zu verbreiten und Anhänger zu finden. Er zeigte ihnen,
dass alle bisherigen Religionen unvollkommen sind, nur Stufen
auf dem Weg zur wahren Erkenntnis. Seine Konversion war
keine Akzeptanz des traditionellen Katholizismus, sie sollte ein
Weg sein, der in noch fernere Gefilde führte. Sie war eine Revolte gegen erstarrte Religionen und gesellschaftliche Bräuche.
Von orthodoxen Rabbinern verfolgt, floh er aus Polen und lehrte zuerst in Smyrna, dann in Saloniki. Er versuchte, eine Kommune zu gründen, die Sitten in seiner Umgebung waren recht
promiskuitiv, er träumte von einem kleinen jüdischen Staat,
abgesondert von den Gebieten Polens oder Österreich-Ungarns.
In Polen gab es gewaltige öffentliche Debatten zwischen den
Frankisten, wie man sie später nannte, und den orthodoxen
Juden. Die Schiedsrichterrolle übernahmen dabei polnische Bischöfe, die seine Förderer wurden. Allerdings nicht in löblicher
Absicht – die Frankisten wurden gegen die jüdische Gemeinschaft ausgespielt, indem man versuchte, den Bekennern des
Judaismus Ritualmorde anzuhängen. Kurz nach seiner Taufe
wurde Frank der Häresie angeklagt und verbrachte dreizehn
Jahre im Gefängnis des Klosters auf Jasna Góra, dem berühmten polnischen Sanktuarium, dessen heilige Ikone die Schwarze
Madonna ist. In ihr Bildnis vertieft, entdeckte er Schehina, das
Abbild Gottes in weiblicher Gestalt.
Nach seiner Freilassung durch russische Soldaten zog er
nach Brünn im tschechischen Mähren. Am österreichischen
Kaiserhof weckte er Interesse, und schließlich hatte er seinen
eigenen Hof mit Soldaten und Dienern, zu dem es Juden und
viele Neugierige aus ganz Europa zog. Er starb in Offenbach, in
der Nähe von Frankfurt am Main, in seinem Palast, wohin, so
hieß es, seine Anhänger ganze Wagenladungen voll Gold gebracht hätten.
Tokarczuk nimmt uns mit auf eine Reise zu Schauplätzen,
Zeiten und Religionen, von der man am liebsten gar nicht mehr
zurückkehren möchte und die dem Leser noch lange in Erinnerung bleibt. Sie haucht Frank wieder Leben ein, für Polen,
die Juden, Europa und all jene, die bei der Lektüre des Romans
denken, all das müsse doch wohl der Fantasie entsprungen sein.
Aber es ist unsere Geschichte, auf andere Art erzählt; darin ist
Platz für Juden, für Frauen, für metaphysische Sehnsüchte und
Wünsche, denen es in traditionellen Abhandlungen zu eng wird.
Und Platz für viele großartige Geschichten, geschaffen von der
außergewöhnliche Vorstellungskraft der Autorin.
Kinga Dunin
OLGA TOKARCZUK, KSIĘGI JAKUBOWE
WYDAWNICTWO LITERACKIE,
KRAKÓW 2014, 165×240, 912 PAGES
ISBN: 978-83-08-04939-6
TRANSLATION RIGHTS:
OLGA TOKARCZUK
CONTACT: THE POLISH BOOK INSTITUTE
RIGHTS SOLD TO: CZECH REPUBLIC,
FRANCE, ISRAEL, SERBIA, SWEDEN
ÜBER DEM
DAS BUCH JAKOB
Hauseingang hängt ein von recht unbeholfener Hand gemaltes Schild: „Schorr Warenlager“. Dahinter hebräische
Schriftzeichen. An der Tür ein metallenes Plättchen, daneben irgendwelche Zeichen, und dem Priester fällt wieder
ein, wie Athanasius Kircher in seinem Buch erzählt, dass
die Juden, wenn eine Frau niederkommt und sie Hexerei befürchten, die Worte ‚Adam, Hawa, Chuz, Lilith’ an die Wand
schreiben, was bedeutet: „Adam und Eva kommet hierher,
und Lilith, du Hexe, weiche.“ Das muss es sein. Gewiss wurde erst kürzlich auch hier ein Kind geboren.
Der Priester steigt über die hohe Schwelle und taucht
ganz ein in den warmen würzigen Duft. Es dauert ein Weilchen, bis sich die Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben,
denn Licht lässt nur ein kleines Fensterchen herein, das zudem mit Blumenkübeln vollgestellt ist.
Hinter dem Ladentisch steht ein Halbwüchsiger, dem
noch kaum der Flaum sprießt, er hat volle Lippen, die jetzt
beim Anblick des Priesters leicht zu zittern beginnen und
dann versuchen, ein Wort zu formen.
„Wie ist dein Name, Junge?“ fragt der Priester forsch, um
zu zeigen, wie sicher er sich in diesem dunklen engen Lädchen fühlt und um den Halbwüchsigen zu einem Gespräch
zu animieren, aber der antwortet nicht.
„Quod tibi nomen?“ wiederholt er nun offiziell, aber das
Latein, das der Verständigung dienen soll, klingt plötzlich
zu feierlich, als wäre der Priester gekommen, einen Exorzismus zu vollziehen wie Christus im Lukas-Evangelium,
der sich mit derselben Frage an den Besessenen wandte.
Der Junge reißt die Augen nur noch weiter auf, bringt nur
ein „Bh... bh...“ heraus und verschwindet plötzlich hinter
den Regalen, wobei ein Zopf Knoblauch herunterfällt, der
an einem Nagel hing.
Der Priester hat sich unklug verhalten; er kann nicht
erwarten, dass sie hier Latein sprechen. Er blickt sich kritisch um – unter seinem Mantel lugen die schwarzen Rosshaarknöpfe seiner Soutane hervor. Davor war der Junge
wohl erschrocken, denkt der Priester, – vor der Soutane. Er
muss schmunzeln und denkt dabei an den biblischen Jeremias, der auch fast den Kopf verlor und stotterte: „Ahh. Dommine Deus ecce nescio loqui!“ (Herrgott, ich kann nicht sprechen.)
Von da an nennt der Priester den Jungen in Gedanken
Jeremias. Er weiß nicht recht, was er tun soll, nun, da dieser
so plötzlich verschwunden ist. Also schaut er sich zunächst
im Laden um und knöpft währenddessen seinen Mantel zu.
Pater Pikulski hat ihn überredet, hierher zu kommen, aber
jetzt deucht ihm, dass das kein so guter Gedanke war.
Niemand kommt von draußen herein, wofür der Priester in Gedanken seinem Gott dankt. Das wäre ja auch ein
ungewöhnlicher Anblick – ein katholischer Priester, Dekan
von Rohatyn, im Laden eines Juden, wo er wie ein gewöhnlicher Bürger darauf wartet, bedient zu werden. Pater Pikulski hatte ihm geraten, zum Rabbi Dubs nach Lemberg zu
gehen, er war selber dort gewesen und hatte viel von ihm
erfahren. Der Priester war auch hingegangen, aber der alte
Dubs hatte wohl die Nase voll von katholischen Geistlichen,
die ihn über die Bücher ausfragten. Er war unangenehm berührt von der Bitte und von dem, was den Benediktinerpater
am meisten interessierte. Er hatte es nicht oder tat, als hätte
er es nicht. Er setzte eine höfliche Miene auf, schüttelte den
Kopf und schnalzte mit der Zunge. Als der Priester fragte, wer ihm helfen könnte, wedelte Dubs mit den Händen,
wandte den Kopf, als stünde jemand hinter ihm und gab zu
verstehen, er wisse es nicht, und selbst wenn er es wüsste,
würde er nichts sagen. Dann hatte Pater Pikulski dem Pater
Dekan erklärt, es handle sich um jüdische Häresie, und obwohl sie sich selber damit brüsteten, bei ihnen gäbe es so
etwas nicht, machten sie in diesem Fall offenbar eine Ausnahme und hassten sie geradezu, ganz ohne Umschweife.
Schließlich hatte ihm Benediktinerpater Pikulski geraten, zu Schorr zu gehen. Das große Haus mit dem Laden am
Markt. Aber dabei hatte er den Priester irgendwie schief
angesehen, ironisch, vielleicht war es ihm auch nur so vorgekommen.
Vielleicht hätte der Pater Dekan besser Pikulski diese jüdischen Bücher besorgen lassen sollen, obwohl er ihn nicht
besonders mochte. Dann müsste er sich jetzt hier nicht schämen und schwitzen. Aber in dem Priester steckte viel Trotz
und so war er hingegangen. Und da war noch etwas nicht
eben Vernünftiges gewesen – ein kleines Wortspiel hatte
über die ganze Sache entschieden; wer glaubt wohl, dass solche Dinge die Welt beeinflussen – der Priester hatte eifrig an
einem bestimmten Abschnitt bei Kircher gearbeitet, in dem
von dem riesigen Ochsen Schorobor die Rede war. Vielleicht
hatte ihn die Ähnlichkeit der Namen bewogen – Schorr und
Schorobor. Seltsam sind die Wege des Herrn.
Wo aber waren nun diese berühmten Bücher, wo die Gestalt, die soviel angsteinflößende Achtung erweckte? Das Geschäft sieht aus wie ein ganz gewöhnlicher Kramladen, aber
der Eigentümer ist scheinbar ein Nachkomme des berühmten Rabbiners und allseits verehrten Weisen Salman Naftali
Schorr. Siehe da, Knoblauch, Kräuter, Töpfe mit Gewürzen,
Gläser und Gläschen und darin Gewürze jedweder Art, gestoßen, gemahlen oder noch in ihrer natürlichen Gestalt wie
Vanilleschoten, Nelkenköpfe und Muskatnüsse. In den Regalen an der Wand lagern Stoffballen – wohl Seide und Atlas
in grellen Farben, die das Auge anziehen, und der Priester
überlegt, ob er nicht etwas braucht, aber schon wird seine
Aufmerksamkeit von der unbeholfenen Schrift auf einem
ansehnlichen dunkelgrünen Glas angezogen: „Herba Thé“.
Nun weiß er, was er verlangen wird, wenn schließlich doch
noch jemand zu ihm herauskommt – ein wenig von jenem
Kraut, das ihn in bessere Stimmung versetzt, was beim Pater
Dekan bedeutet, dass er arbeiten kann, ohne zu ermüden.
Und es fördert auch die Verdauung. Er würde auch ein paar
Nelken kaufen, um den allabendlichen Glühwein damit zu
würzen. Die letzten Nächte waren so kalt gewesen, dass seine durchfrorenen Beine ihm nicht gestattet hatten, sich aufs
Schreiben zu konzentrieren. Er sucht mit den Augen nach
einem Stuhl, und dann geschieht plötzlich alles auf einmal:
im selben Moment taucht hinter den Regalen die Gestalt eines gutgebauten, bärtigen Mannes in einem wollenen Kleid
auf, unter dem türkische Schuhe mit spitzen Schnäbeln hervorlugen. Einen dünnen dunkelblauen Mantel hat er über
die Schulter geworfen. Er blinzelt, als tauche er aus einem
Brunnen auf. Hinter seinem Rücken lugt neugierig jener Jeremias hervor und noch zwei weitere Gesichter, dem Antlitz
des Jeremias ähnlich, rotwangig und neugierig. Auf der anderen Seite, in der Tür zum Markt hin, taucht ein atemloser
schmächtiger Junge oder besser ein junger Mann auf, denn
er trägt einen dichten hellen Ziegenbart. Er lehnt sich gegen
den Türrahmen und schnauft, man sieht, dass er hergerannt
ist, so schnell er konnte. Er durchbohrt den Pater Dekan mit
frechen Blicken, lächelt aber gleich darauf schelmisch und
zeigt dabei sein breites gesundes Gebiss. Der Priester ist sich
nicht sicher, ob dieses Lächeln nicht spöttisch ist. Er bevorzugt die würdige Gestalt im Mantel und wendet sich erlesen
höflich an sie:
„Euer Liebden wollen verzeihen, dass ich störe...“
Jener betrachtet ihn angespannt, aber kurz darauf verändert sich langsam der Ausdruck seines Gesichts. Eine Art
Lächeln zeigt sich darin. Der Pater Dekan begreift plötzlich,
dass jener nicht versteht, also beginnt er jetzt anders, auf Latein, mit der fröhlichen Sicherheit, sein richtiges Gegenüber
gefunden zu haben.
Der Jude lässt seinen Blick langsam zu dem Jungen an der
Tür gleiten, zu jenem Atemlosen. Der tritt furchtlos näher
und streicht seine Jacke aus dunklem Tuch glatt.
„Ich werde übersetzen“, erklärt er mit unerwartet tiefer
Stimme in weichem ruthenischen Singsang, zeigt mit dem
Finger auf den Pater Dekan und sagt ergriffen, dies sei ein
wahrhafter, leibhaftiger Priester.
Dem Priester war nicht eingefallen, dass ein Dolmetscher
nötig sein würde, daran hat er nicht gedacht, er ist verlegen
und weiß nicht, wie er sich da wieder herauswinden soll,
denn die ganze delikate Angelegenheit wird plötzlich publik
und gleich kommt der ganze Jahrmarkt. Am liebsten ginge
er jetzt hinaus in den kühlen, nach Pferdemist riechenden
Dunst. Er beginnt sich umzingelt zu fühlen in diesem niedrigen Raum, in dieser gewürzgeschwängerten Luft, zudem
schaut auch noch jemand neugierig von der Straße herein,
was es hier wohl gibt.
„Ich hätte ein Wort zu reden mit dem geehrten Elischa
Schorr, wenn es gestattet ist“, sagt er. „Unter vier Augen.“
Die Juden sind überrascht. Sie wechseln untereinander
ein paar Worte. Jeremias verschwindet und kommt erst
nach einer längeren Weile unerträglich lastenden Schweigens zurück. Anscheinend hat der Priester die Erlaubnis
bekommen, und nun bringen sie ihn hinter die Regale. Geflüster begleitet ihn, ein leichtes Scharren von Kinderfüßen, unterdrücktes Kichern – als wären hinter den dünnen
Wänden Scharen anderer Leute, die durch die Spalten der
hölzernen Wände jetzt den Priester, den Dekan von Rohatyn, betrachten, wie er durch die Winkel des jüdischen
Hauses wandert. Und nun zeigt sich, dass der kleine Laden
am Markt nur der Brückenkopf zu einer vielgefächerten
Struktur ist, wie ein Bienenhaus: mit Kammern, Gängen und
Stiegen. Das ganze Haus ist größer und um einen Innenhof
gebaut, den der Priester nur mit einem Blick aus dem Augenwinkel erhascht, durch das kleine Fenster in dem Raum,
in dem sie für einen Moment haltmachen.
Aus dem Polnischen von Barbara Samborska
PAWEŁ
HUELLE
SINGE
DIE GÄRTEN
© Andrzej Nowakowski
Paweł Huelle (geb. 1957), Prosaist, Dramaturg
und Universitätsdozent. Mit zahlreichen renommierten Preisen geehrt. Seine Bücher, vor allem
der Debütroman „Weiser Dawidek“, sind in viele
Sprachen übersetzt. „Singe die Gärten“ [Śpiewaj
ogrody] ist der fünfte Roman des Schriftstellers.
„Singe die Gärten“ ist ein Roman mit vielen Handlungsschichten und dicht an Bedeutung. Grob gefasst verflechten sich
darin drei Geschichten. Am eingehendsten beschrieben wird
das Schicksal der Familie Hoffmann (er – unerfüllter Komponist, sie – zweitklassige Sängerin). Wir beobachten die beiden
hauptsächlich in den 1930er Jahren; damals sind sie Bürger der
Freien Stadt Danzig, wohnen in der Ulica Polanka (damals Pelonkerweg). Die zweite Geschichte ist eine Familiengeschichte
– hier ist die zentrale Figur der Vater eines Romanschriftstellers, ein tapferer und kluger Mann; 1945 ist er er nach Gdańsk
gekommen, um am Polytechnikum zu studieren und ein neues Leben zu beginnen. Auch er ist ein Bewohner des Hauses an
der Ulica Polanka geworden. Und schließlich haben wir eine
dritte eingeflochtene Geschichte, die sich auf ein gefundenes
Manuskript stützt; es sind Niederschriften aus der Mitte des
18. Jahrhunderts, aus der Feder eines französischen Libertins,
der sich am selben Ort niederließ, an dem fast 200 Jahre später die Hoffmanns leben.
Eigentlich kommen sogar zwei gefundene Manuskripte
vor, denn gleich am Anfang des Romans erhält Ernst Theodor
Hoffmann von einem geheimnisvollen Antiquar die unvollendete Handschrift einer unbekannten Wagner-Oper. Das wieder aufgetauchte Werk soll angeblich eine musikalische Bearbeitung der Legende vom Rattenfänger von Hameln sein, am
bekanntesten in der Version der Gebrüder Grimm. Und hierin besteht der Anknüpfungspunkt zu einem weiteren literarisch-musikalischen Spiel: Das Märchen über den berühmten
Flötenspieler bezieht sich metaphorisch auf eine Welt, die im
nächsten Moment in Flammen aufgehen wird, denn soeben
hat Hitler die Bühne der Geschichte betreten. Um die Sache
noch komplizierter zu gestalten: Ernst Theodor arbeitet nicht
nur fieberhaft und wie besessen an der Vervollständigung der
Wagner-Partitur, sondern schreibt auch einen eigenen, von
Rilkes Gedichten inspirierten Liederzyklus; einige Episoden
von Huelles Roman sind die Weiterführung oder Verarbeitung
der beim Schöpfer der „Sonette an Orpheus“ vorgefundenen
lyrischen Bilder. Der Romantitel stammt auch von Rilke.
Von wesentlicher Bedeutung ist des Weiteren die ständige Anwesenheit des Romanschriftstellers. Dieser Charakter
kommentiert die Ereignisse rund um die Romanhandlung
sowie die eigene schriftstellerische Tätigkeit. Wir kennen
seinen Namen nicht, aber es deutet viel darauf hin, dass es
sich um eine autobiographische Figur handelt. Der Romanschriftsteller achtet darauf, dass der vielstimmige Chor nicht
in autonome Einzelteile zerfällt, doch vor allem erzählt er von
seinen Absichten. Erstens will der erwachsene Mann seine
sorglose, glückliche Kindheit rekonstruieren und bei der Gelegenheit die Liebe zu seinem Vater und die Verbundenheit
zu seinen kaschubischen Freunden ausdrücken. Hier kommt
einem Herrn Bieszk eine besondere Rolle zu, der den Jungen
mit seinen Erzählungen über den archaischen Volksglauben
in die volkstümliche Wunderwelt einführte. Zweitens will der
Romancier Ernst Theodors Frau Greta Hoffmann seine Ehre
erweisen, einer Deutschen, der es gelang, nach 1945 in Gdańsk
zu bleiben, und die vor dem Jungen den Reichtum der deutschen Kultur enthüllte, vor allem der musikalischen. Drittens
schlussendlich erörtert Huelles Sprecher – mittels der Protagonisten des Romans – Fragen moralischer Natur.
Paweł Huelles Roman ist in einem Moment erschienen, in
dem sich recht unerwartet die Sehnsucht nach einem ProsaMeisterwerk einstellte. Mit seiner ästhetischen Gewichtung,
den Diskussionen über die Große Kunst und seiner Verwurzelung in der literarischen und musikalischen Tradition der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das Werk des Gdańsker
Schriftstellers eine gute Antwort auf dieses Bedürfnis.
Dariusz Nowacki
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
PAWEŁ HUELLE
ŚPIEWAJ OGRODY
ZNAK, KRAKÓW 2014
140×205, 300 PAGES
ISBN: 978-83-240-2195-6
TRANSLATION RIGHTS: ZNAK
Nach Jahren
SINGE
DIE GÄRTEN
sehe ich seine rauhen Hände, die kein Ruder, sondern die
Zügel des zweispännigen Fuhrwerks hielten, dennoch
steigt Herr Bieszk nicht als Kutscher, der von einem Stadtviertel ins andere fährt, aus dem Reich der Erinnerung
auf. Vielleicht hieß er auch Bieszke? Mit Sicherheit nicht
Bieszczański. Solche Namen hatten die Kaschuben nicht.
Jedenfalls nicht die, die wir vom Markt in Oliwa, von der
Danziger Höhe oder den Dörfern auf Hela kannten. Also lassen wir es dabei – Bieszk. Aber warum beginne ich mit ihm?
Er hatte vom Rheuma verkrümmte Finger, symmetrische
Narben auf beiden Wangen, immer einen Dreitagebart, aus
dem nie ein richtiger wurde, und außerdem roch er stark
nach Tabak, Pferden und schwerer Arbeit, bei der ihm ein
Schluck aus der Flasche von Zeit zu Zeit etwas Linderung
verschaffte. Als er Gniadosz und Baszka die Peitsche gab, als
der mit unserem Hab und Gut beladene Wagen langsam die
Lindenallee hinab auf das Pflaster der Ulica Polanki rollte,
schaute ich mich um und sah im Fenster des Wohnzimmers,
hinter der vergilbten Gardine, Frau Greta. Sie winkte offensichtlich nur mir, als wäre ich ihr Enkel. Als wollte sie mich
noch für einen Moment auf der anderen Seite halten. Aber
Bieszk stimmte auf dem Kutschbock schon ein kaschubisches Liedchen an: „Lass uns einen trinken aus dem kleinen Fläschchen“, was mein Vater mit einem schüchternen
Brummen begleitete. Meine Mutter schwieg. Nach einer
Weile, als der Wagen schon über die Ulica Polanki ratterte,
sagte sie: „Endlich weg von dieser Deutschen!“
Die Pferdehufe schlappten über die Steine, die unter
Kaiser Wilhelm gelegt worden waren, und ich war eigentlich froh, dass wir in eine neue Wohnung zogen, in der ich
endlich meinen eigenen Bereich haben würde. Wir passierten die abgerissenen Brückenpfeiler der toten Bahnlinie,
die wie Rippen eines altertümlichen Mammuts jenen Teil
Oliwas von Wrzeszcz trennten, als Herr Bieszk sich zu mir
umdrehte und auf kaschubisch fragte:
„Ein Rätsel?“
Ich nickte erwartungsvoll.
„Was ist das: hat ein Bein und kann nicht gehen, hat zwei
Flügel und kann nicht fliegen?“
„Die Nase“, sagte ich sofort.
Er nickte rasch und stellte die nächste Frage.
„Was ist das: Es ist grün, hängt am Baum und singt?“
Hier wusste ich keine Antwort. Herr Bieszk lächelte triumphierend und sagte schließlich:
„Ein Hering.“
„Aber ein Hering ist nicht grün!“ rief ich.
„Wenn du ihn anmalst, ist er grün.“
„Aber Heringe hängen nicht an Bäumen“, sagte ich zweifelnd.
„Das hab ich nur gesagt“, grinste Herr Bieszk, „damit dus
nicht rauskriegst.“
Vater, der neben Mama auf der Holzbank saß, lachte leise, und Herr Bieszk sah ein, dass er noch irgendetwas zu
mir sagen musste. Er wechselte ins Polnische.
„Was guckst du so traurig? Musst du nicht. Ein Umzug ist
kein Krieg. Kein Feuer. Keine Krankheit. Es ist ein Anfang,
kein Ende.“
Die Sonne war hinter schweren Wolken versteckt. Es
nieselte. Koffer gab es wenige, dafür viele Bündel, Päckchen,
Schachteln, Säcke und eine ganze Menge loser Gegenstände:
eine Kaffeemühle, eine Wärmflasche, eine kleine Schrankuhr, irgendwelche Kissen, Bücher, kleine Bretter für ein zukünftiges Schränkchen im Flur, mehrere Paar Schuhe, ein
Röhrenradio, ein Grammophon, Töpfe – kurzum: ein typischer Umzug von armen Leuten. Herr Galiński, der schon
in dem neuen Haus, im ersten Stock, wohnte, half uns, die
Sachen in unsere beiden Zimmer im Parterre zu tragen.
Auch Bieszk half; es ging also schnell. Das Fuhrwerk stand
gegenüber vom Haus, die Pferde zupften Gras von der Wiese, und mein Vater lud, als schon alles hineingetragen war,
Bieszk und Galiński zu einem Imbiss ein. In der Küche, wo
es noch nicht die weiße Kredenz mit den Milchglasscheiben
gab, auch keine Hocker und nicht einmal einen Tisch, standen die drei Männer am Fenster mit einer offenen Flasche
klarem Wodka, aßen dazu Speck, Gurken und Brot und waren glücklich, denn sie hatten an jenem Tag keine schwere
Arbeit mehr, als wäre es plötzlich Feiertag geworden, an
einem ganz normalen Werktag. Im Badezimmer, das noch
scharf nach der Ölfarbe der Wandverkleidung roch, ragte
eine hohe Säule mit einem kleinen Ofen auf.
„Du musst lernen, Feuer zu machen“, sagte Mutter, „damit wir warmes Wasser haben. Das wird deine Aufgabe sein.“
Ganz unten hin kam eine Zeitung, die Głos Wybrzeża.
Darauf Holzscheite. Dann etwas dickere, kurze Klötze. Erst
nach einer Weile, wenn das Feuer zu lodern begann, musste man zwei Schaufeln Kohle aus der Stahlkiste dazugeben.
Der Schein der Flammen hinter dem gusseisernen Gitter
war so stark, dass ich das elektrische Licht ausschaltete und
meine neue Beschäftigung sofort liebte.
Die Männer schraubten währenddessen zwei Betten zusammen: das erste aus Holz, im Schlafzimmer der Eltern,
und dann eines aus Eisen, wesentlich kleiner, in meinem
Zimmer; danach gingen sie wieder in die Küche, wobei sie
ihre laute Unterhaltung keinen Moment unterbrachen. Die
Geschichte steuerte gerade auf meine Lieblingsstelle zu, die,
bevor sie zur Erzählung wurde, ihren Ursprung in realen
Ereignissen hatte, in solchen allerdings, die sich niemand
hätte vorstellen können. Mein Vater verließ gerade auf
der Mottlau den Kajak, mit dem er gekommen war, warf
das Ruder und damit seine ganze Vergangenheit weg und
machte sich auf die Suche nach einem neuen Leben. Mit einem kleinen Rucksack marschierte er durch die erste ausgebrannte Straße, zwischen den noch rauchenden Ruinen
der Häuser und Kirchen hindurch, sprang über die Leichen
von Menschen und Pferden, die nicht begraben worden waren, wich übriggebliebenen militärischen Geräten aus, die
so manche Kreuzung versperrten, hier und da hielt ihn ein
sowjetischer Posten auf, doch keiner konnte ihm erklären,
wo sich jenes sagenhafte PUR1 befand, das er finden muss-
1
Poln.: Państwowy Urząd Repatriacyjny, Staatliche Behörde für Repatriierung, 1944 gegründet, war mit der Organisation der sog. „Repatriierung“ befasst, d.h. der Umsiedlung der Polen aus den von der SU besetzten Gebieten
te, um Essensmarken sowie einen Schein mit einer amtlich
zugeteilten Adresse zu bekommen. Nach einer strammen
Stunde Fußmarsch gelangte er zum Polytechnikum, wo
man ihm bestätigte, er könne sich zum ersten Trimester
für Schiffbau einschreiben, aber erst in ein paar Wochen,
wenn das Aufnahmeverfahren beginne; und erst dort, in
seiner zukünftigen Hochschule, gab man ihm die Adresse
jenes magischen PUR. Wieder machte er sich zu Fuß auf den
Weg, zurück zur verwüsteten Stadtmitte, durch die Große
Allee, auf deren von Geschossen zerpflügten Gleisen ausgebrannte Straßenbahnwaggons standen, ohne Fensterscheiben und ohne Lichter, wie eine abscheuliche Prozession von
Krüppeln und Blinden.
„Tat es Ihnen nicht leid um den Kajak, den Sie auf der
Mottlau gelassen haben?“ fragte Herr Galinski. „Der muss
doch damals ein Vermögen wert gewesen sein. Man hätte
ihn auch gegen Essen tauschen können, mindestens zwei
Gläser Marmelade oder eine Büchse Dosenfleisch!“
„In dieser Zeit gab es keinen Bedarf an Kajaks“, erwiderte
Vater ganz ruhig. „Außerdem hatte ich fast siebenhundert
Kilometer mit ihm zurückgelegt, zuerst auf dem Dunajec,
dann auf der Weichsel. Er hatte mehr Löcher, als wir Jahre
auf dem Buckel haben. Eine Schrottkiste. Schlimmer als ein
altes kaschubisches Boot.“
Ich wusste, dass in meiner Lieblingsgeschichte des Anfangs jetzt gleich der Wendepunkt kommen würde – ein
Viertelstunde vor Schließung des PUR-Büros, wo es in dem
schmalen Flur von verzweifelten Menschen wimmelte, erblickte mein Vater Herrn Bieszk und Herr Bieszk meinen
Vater, und sie wurden sofort Freunde. Bieszk wusste, wie
man außerhalb der Schlange zum wichtigsten Beamten vordringen konnte, aber er war nicht imstande, auf Polnisch
ein Gesuch zu schreiben, auf kaschubisch hätte es niemand
haben wollen, und das Deutsche, in dem er von der Front
aus sogar drei Karten an seine Mutter gekritzelt hatte, war
nicht mehr Amtssprache, das Deutsche hatte sich selbst
für viele Jahre aus dem Verkehr gezogen. Vater feuchtete
also den Kopierstift an und schrieb auf dem Knie für Herrn
Bieszk rasch, was dieser brauchte: die Bitte um die Rückgabe zweier Pferde, die einen Tag zuvor zusammen mit dem
Fuhrwerk von einer sowjetischen Militärpatrouille für die
Rote Armee requiriert worden waren; und so traten sie vor
den wichtigsten Beamten des PUR, mit dem Gesuch um
die Rückgabe eines landwirtschaftlichen Fuhrwerks und
der mündlichen Bitte um Zuteilung eines Schlafplatzes für
meinen Vater.
Sie erreichten nichts.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
MAGDALENA
TULLI
LÄRM
© Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute
Magdalena Tulli (geb. 1955), Schriftstellerin und
Übersetzerin. Autorin mehrmals ausgezeichneter
Romane, von denen jeder in die Endrunde für den
„Nike-Preis“ gelangte. Ihr letzter Roman, „Italienische Absätze“ [Włoskie szpilki], wurde mit dem
renommierten „Gdynia-Literaturpreis“ und dem
„Gryfia-Preis“ ausgezeichnet. Tullis Bücher wurden bereits in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Wie soll man, kann man leben in einer Welt, die sich als Hinterhalt erweist? Wie kann man von etwas sprechen, zu dem
man sich selbst jahrelang den Zugang verwehrt hat? „Lärm“
von Magdalena Tulli ist eine ganz private Geschichte, verstrickt die in die große Geschichte des Jahrhunderts, das
durch die „Zeit der Verachtung“ des Krieges so unrühmlich
geprägt ist. Es ist eine Geschichte darüber, wie man sich aus
einer Katastrophe rettet, wie man die Minenfelder der Erinnerung entschärft, sich aus der Deckung wagt, Herr des eigenen
Schicksals wird.
Die Heldin ist ein kleines Mädchen, Tochter einer Frau,
deren Gefühle hinter dem Stacheldraht von Auschwitz zurückgeblieben sind. Die wenigen Angehörigen sind vom Krieg
innerlich verwüstet, und in der Welt der anderen, dem brutalisierten kommunistischen Polen, sind Güte, Empathie und
Verständnis Mangelware. Ihre Unfähigkeit zum Kontakt mit
anderen und ihr fehlendes Selbstvertrauen machen sie schnell
zur Zielscheibe für ihre Altersgenossen. Noch Jahre später als
Teenager und dann als Mutter zweier Söhne ist sie die Geisel
dieses kleinen Mädchens. Schließlich ist es ein Brief von einem
ungeliebten Cousin aus Amerika, der eine Flut von Erinnerungen und damit das Geschehen des Romans auslöst.
Anfangs mag es einem so scheinen, dass der neue Roman
die Fortsetzung der preisgekrönten hervorragenden Erzählungen in dem 2011 erschienenen Band „Italienische Absätze“
darstellt. Doch nichts könnte weniger zutreffend sein: in ihrem neuen Buch entkommt Magdalena Tulli auf bravouröse
Art der alptraumhaften Welt des vorhergehenden Buches. Das
sich selbst überlassene Mädchen aus dem Roman freundet sich
mit einem imaginierten Fuchs an, dem Schrecken der Hühnerställe, Gegenstand des kollektiven Hasses jeder Gruppe, und
– ähnlich wie sie – ein ewiger Außenseiter. Daran ist nichts
Verwunderliches, vielerorts verkörpert der Fuchs im Volksglauben den Trickster, ein Wesen von vielschichtiger Bedeutung, verachtet und bewundert zugleich, sowohl Sündenbock
als auch der Anführer beim Aufbruch in neue Welten. Viele
Jahre später sind es die Lehren des Fuches, die es der Heldin
ermöglichen, aus der Bedrückung zu finden, Verständnis für
die Mutter zu entwickeln, die ja ohne ihr Zutun ein Opfer war,
und nicht nur ihren eigenen Verfolgern zu verzeihen, sondern
auch denen, die einst unmittelbar für die unsäglichen Leiden
des Krieges verantwortlich waren und heute das Imaginarium
des europäischen Gedächtnisses – bzw. inzwischen schon des
Nach-Gedächtnisses – bevölkern. Sie alle, die Opfer und ihre
Verfolger bilden – wie Magdalena Tulli schreibt – eine große
Familie des 20. Jahrhunderts.
Magda Tullis Roman sagt mehr über das Polen und das Europa der Nachkriegszeit aus als manche historische oder soziologische Untersuchung. In dieser Geschichte sprechen die Lebenden mit den Toten, im Untergrund vor dem Tribunal unter
Vorsitz des Fuchses, wird großes Gericht über alles abgehalten,
das sich ereignet hat. Tullis Prosa erzählt von der Notwendigkeit zu verzeihen, und davon, wie man leben soll, um zu vermeiden, dass sich das die Opfer stigmatisierende Schamgefühl
nicht – paradoxerweise – in ein Schuldgefühl verwandelt. In
dem Text geht es darum, wie man aus dem Kreidekreis findet,
in dem die von Querschlägern Versehrten mit den unverschuldeten Qualen ringen. Der lakonische, ironische Ton von Tullis
Prosa in diesem Roman wird ergänzt von phantasmagorischen
Elementen. Doch diese Phantasmagorie dient einer großen Metapher, die als realistisches Argument steht. „Lärm“ ist eine
psychotherapeutische Séance, eine Verarbeitung von Trauma
mit Hilfe der Literatur. Die Literatur kann zum Rettungsanker
in mancher Not werden. Magdalena Tullis neuer Roman ist der
beste Beweis dafür.
Marek Zaleski
MAGDALENA TULLI
SZUM
ZNAK, KRAKÓW 2014
124×195, 208 PAGES
ISBN: 978-83-240-2625-8
TRANSLATION RIGHTS:
POLISHRIGHTS.COM
Einmal
LÄRM
ging ich mit dem Fuchs einen Waldweg entlang. An einer
Wegkreuzung sahen wir einen Menschen mit gebrochener
Nase, er trug eine Uniform ohne Rangabzeichen. Der Wind
wirbelte die ersten roten und gelben Blätter von den Bäumen. In diesem Wald war immer früher Herbst mit schönen warmen Tagen, genau wie die, die immer auf die ersten
Kränkungen folgten, die ich am Anfang eines jeden neuen
Schuljahrs erfuhr. Hinter dem ewigen Herbst lauerte stets
ein ewiger Winter.
Die Uniform war einstmals schwarz gewesen und gut
geschnitten, doch jetzt, nach Jahren des Herumlungerns,
grau und abgetragen. Der Zerlumpte fasste mich am Ärmel.
„Du darfst nicht zulassen, dass dich jeder beliebige ausnutzt,
wie es ihm grade gefällt!“ rief er. „Diese Unterwürfigkeit
wird dir aufgezwungen, du lässt sie zu. Das ist kein Verdienst!“
„Wir haben kein Interesse an Verdiensten“, antwortete
der Fuchs an meiner Stelle. „Verdienste gibt es keine.“
„Aber doch! Es ist ein Verdienst, nicht zu zögern, wenn
man mit der Faust auf den Tisch hauen muss. Ein Verdienst
ist es, Kraft zu haben und sie nutzbringend einzusetzen.“
„Lass uns in Ruhe“, sagte der Fuchs. „Geh deiner Wege
wohin du gehörst“.
„Ich gehöre nirgendshin“, sagte der Mensch. „Ich hab
hier lang genug gewartet, Ihr seid meine Familie.“
Wir beschleunigten unsere Schritte.
„Von einem Fuchs wird man nichts lernen. Er kann nur
im Gebüsch lauern und sich anschleichen. Man muss hart
sein, nicht weich!“
Er holte uns ein, sein Atem wehte mir schon, vereint mit
dem Wind, in den Nacken. Du hast doch schon einmal etwas
Schlimmes gemacht. Und was ist passiert? Du hast Erleicherung verspürt, deshalb wirst du es auch wieder tun. Oder
irre ich mich etwa?“
Ich dachte mir, dass er wahrscheinlich von diesen
Stuhlbeinen redete, mit denen ich in der Schule mal um
mich geworfen hatte. Nur durch ein Wunder ging es ohne
eingeschlagene Schädel ab. Wenn er das wusste, gehörte er
vielleicht tatsächlich zur Familie. Ich hatte wirklich manchmal Lust, etwas Schlimmes zu tun, etwas, das die Last der
Demütigung aufwiegen würde, das ein Gegengewicht zu der
angesammelten Last aller Demütigungen darstellen würde.
Um zu vergessen, wie schwer diese wogen, musste man in
die andere Wagschale auch etwas Schweres werfen. Aber
mir fehlte der Antrieb. Ich hatte nie wieder mit etwas um
mich geworfen.
„Ja“, antwortete ich. „Du irrst dich.“
In jenem Augenblick, von dem er sprach, hatte ich keine
Erleichterung verspürt. Und von da an hatte ich mich immer für etwas weniger Schlimmes entschieden, ich wählte
stets den faulen Kompromiss zwischen dem, zu dem mich
das Fieber der Wut treiben wollte, und dem, was ich mir
erlauben durfte.
Wir kamen zu dem Schluss, dass er gefährlich war. Als
er schlief, fesselten wir ihn mit einer Schnur vom Gürtel
aufwärts. Die Arme waren fest an den Rumpf gebunden,
die Hände bewegungsunfähig nach hinten gedreht. Deshalb mussten wir ihn dann mit dem Löffel füttern. Die Beine ließen wir aus purem Mitleid ungefesselt. Wir wussten,
dass er mit diesen Knoten an den Gelenken nicht in der Lage
sein würde, etwas Schreckliches zu tun, was alle Zeugen bis
an ihr Lebensende nicht vergessen würden. Er würde sich
nicht einmal gegen jemanden verteidigen können. In einem
solchen Fall würde er sich nur durch Flucht retten können,
so wie wir. Wir waren nicht grausam. Wenn wir gekonnt
hätten, wären wir mit der ganzen Abteilung so verfahren.
III
Was hingegen die Wehrmacht betrifft, die Uniformen in einem grünlichen Feldgrau – auf zeitgenössischen Fotos nur
als Grau wiedergegeben – trug, die Wehrmacht hatte Hitler
abgeschworen und war auf meine Seite übergelaufen. Anfangs war mir das peinlich, ich hatte mir die Wehrmacht
nicht als Verbündete gewünscht.
Aber dann gewöhnte ich mich daran und jetzt ist es kein
Problem mehr für mich. Alle wussten, dass sie den Krieg
verloren hatten, doch Unverdrossene riefen noch jahrelang
aus verborgenen Ecken: „Hendehoch!“ Das war’s, was sie
auf deutsch konnten, nicht mehr als ich. Die Wehrmacht
kämpfte nur noch auf den Hinterhöfen, und ohne Begeisterung. Sie schoss mit Stöcken und bezog Prügel von allen
Seiten, zu ihrer Rolle mehr oder weniger gezwungen von
den Stärkeren und Älteren, die unbedingt Sieger sein wollten. Dem größten Teil der Streitkräfte, die es hierhin und
dorthin versprengt hatte, war es schon früher gelungen,
sich in Familienalben zurückzuziehen, die woanders aufbewahrt wurden, nicht bei uns. Von Zeit zu Zeit mustere
ich die Reihen beim Umblättern der Albumseiten – wenn
ich dort bin, wo die Alben auf den Regalen stehen. Früher
war dieser Ort für mich eine große Leere, deren Umriss von
der Grenze eines fremden Staates bestimmt war. Von dem,
was sich dort tat, berichtete man uns, wie es hieß, im Radio,
doch diese Nachrichten schwammen in einer zähen nach
suspekter Rezeptur hergestellter Sauce, die absichtlich so
zubereitet war, dass sie uns erschreckte und aus der Fassung brachte. Wir sollten von Angst ergriffen alle Arten
von Zwangsbrocken schlucken. In jeder solchen Nachricht
spürte man die Leere, dieselbe Leere, die einen von dieser
Stelle auf der Landkarte anwehte.
Im Haus meiner Großmutter in Mailand begegnete ich
jemandem, der von dort kam. Dieser Ort existierte also tatsächlich und Menschen lebten dort, die so ähnlich aussahen
wie wir. Ich war verblüfft. Der Anblick des Menschen aus
jener Gegend jagte mir überhaupt keinen Schrecken ein. Er
war um die dreißig, aber schon kahlköpfig, trug Zivil und
blickte sanftmütig durch seine Brillengläser. Sein Italienisch hatte einen komischen Akzent. Er beschäftigte sich
mit der Restaurierung von Bildern. An Waffen hatte er nicht
das geringste Interesse, nicht mal an alten. Auch Politik ließ
ihn kalt. Was mag dort sein? überlegte ich beim Betrachten
der Landkarte von Europa, die vor der Geographiestunde in
unserer Klasse neben die Tafel gehängt wurde.
Alben brauchen ein Innen, und zu dem Innen gehört
zwangsläufig auch ein Außen, eine Fassade. Menschen
gingen auf einer Straße, Tauben flogen auf. Es gab alles,
was man sich nur vorstellen konnte. Bäume, Hunde, Alte
mit Krückstöcken, Straßenlaternen und Brücken. Die Alben greifen nicht an und tun es bis heute nicht, jeden Tag
stehen sie auf ihrem Posten, auf den Regalen. In den Alben
sind Soldaten stationiert. Mit ihren Soldatenkappen auf
dem Kopf oder in der Hand stehen sie vor dem Hintergrund
einer mit Vorkriegstapete beklebten Wand im Atelier eines
Fotografen, manchmal sitzen sie auch. Aber sie sind unbewaffnet und schauen mir direkt in die Augen, zum Zeichen,
dass sie nichts Böses vorhaben. „Mein Vater hätte dich gern
gemocht!“, sagt jemand zu mir. Ich schaue mir den Vater in
der besagten Uniform an. Er liebte Traktoren, wurde aber
Panzerfahrer. Über Traktoren wusste er alles, mit einem
Schraubenschlüsel in der Hand konnte er einen Traktor in
alle Einzelteile zerlegen und wieder zusammensetzen. Er
hat nie gegen unser Land gekämpft, weil er zu dem Zeitpunkt noch im Krankenhaus lag. Er war krank geworden,
als man ihn für einen Ungehorsam bestrafte; zu lange musste er im klirrenden Frost in Habachtstellung stehen. Nach
der Lungenentzündung ging etwas in seinem Herzen kaputt. Aber er war jung, deshalb befahlen sie ihm zwei Jahre
später wieder die Uniform anzuziehen und schickten ihn
in den Osten.
„Zu Hause hatte er hektarweise Land und Maschinen. Solange er auf seinem Grund und Boden war, hätte ihm niemand seine Stiefel zum Putzen gegeben, kein Hauptmann
und kein General. Für seinen Stolz hat er einen hohen Preis
bezahlt“, erzählt mir jemand, den ich gut kenne.
Mit dem Verlauf der Zeit wurde es immer schlimmer,
nicht nur deshalb, wel dieser Soldat nach dem Krieg seine Hektar Land und seine Maschinen verloren hatte. Sein
Herz schlug unregelmäßig, manchmal setzte es kurz aus,
bis es dann, Jahre später, eines Tages, als er gerade mit dem
Schraubschlüssel in der Hand auf dem Boden unter seinem
eigenen Auto lag, ganz stehen blieb. Hab ich schon erwähnt,
dass alle Leute dort ihre eigenen Autos hatten?
„Trau keinem Deutschen über achtzig.“ Das sagen die, die
nur Sanitäter und Köche waren. „Keiner hat je auf einen geschossen“, sagt mir ein anderer Besitzer eines Albums, auch
ein guter Bekannter von mir.
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
JANUSZ
GŁOWACKI
ICH BIN KOMMEN,
ODER WIE ICH EIN
DREHBUCH ÜBER
LECH WAŁĘSA FÜR
ANDRZEJ WAJDA
GESCHRIEBEN HABE
© Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute
Janusz Głowacki (geb. 1938), bekannter und
weltweit angesehener Prosaist, Dramaturg und
Drehbuchautor. Internationalen Ruhm brachten
ihm seine Theaterstücke ein (u.a. „Antigone in
New York“ [Antygona w Nowym Jorku], „Die vierte Schwester“ [Czwarta siostra]). Głowacki wurde
bereits mit zahlreichen renommierten Preisen
ausgezeichnet. Seine Bücher sind in Dutzende
Sprachen übersetzt.
Der erste Satz der Einleitung des Autors in „Ich bin kommen“
lautet: „Ich möchte klarstellen, dass ich dieses Buch vor allem
schreibe, weil ich geizig bin, denn: Etwa zwanzig Szenen und
ein paar Ideen aus dem Drehbuch sind nicht in den Film aufgenommen worden.“ Es geht selbstverständlich um „Wałęsa.
Der Mann aus Hoffnung“ – Andrzej Wajdas Spielfilm über
jenen interessanten Helden der Ereignisse, die zum Fall des
Kommunismus in Polen geführt haben, über einen Mann, der
vom Elektriker zum Anführer der Gewerkschaft wurde, den
Friedensnobelpreis bekam und das Amt des ersten unabhängigen Präsidenten der Dritten Polnischen Republik inne hatte.
Der berühmte polnische Regisseur Wajda hat das Drehbuch bei Janusz Głowacki bestellt, einem Ironiker, der sich
geschickt der Tragikomödie bedient und nebenbei auch
noch Zeuge der Ereignisse auf der Danziger Werft war. Das
ist wichtig – es war beabsichtigt, das filmische Genie Wajdas
mit dem intelligenten Spott des Schriftstellers zu verbinden,
was nicht nur, wie man annahm, ein originelles Bild hervorbringen, sondern das Unternehmen auch vor dem Abgleiten
in ein hagiografisches Pathos bewahren würde. Głowacki ging,
als er die Einladung Wajdas annahm, davon aus, dass der von
ihm bewunderte Filmschaffende einen künstlerischen Film
drehen wollte. Erst nach einer gewissen Zeit begriff er, dass
sozusagen ein „Lehrfilm“ entstand, der sich in erster Linie an
Ausländer und Jugendliche richtete. Der Schriftsteller erzählt
also davon, wie er allmählich die Kontrolle über die eigene
Erzählung verlor, und überhaupt, wie es dazu gekommen
ist, dass „Wałęsa“ sein Werk ist und es zugleich auch nicht
ist, selbstverständlich in literarischer Hinsicht. Diese ungewöhnliche, paradoxe Situation durchdringt und strukturiert
Głowackis Buch. Und vielleicht ist das an „Ich bin kommen“
das Interessanteste – es zeigt, wie Bestätigung und Negation
von Autorschaft zugleich möglich sind, wie die legendäre Formulierung „dafür, und sogar dagegen“ zu verstehen ist.
Das Buch ist somit die Geschichte eines gewissen Missverständnisses. Es scheint, als hätte diesem ein unterschiedlicher
Blick auf den Titelhelden zugrunde gelegen. Głowacki ist von
Lech Wałęsa als einer „königlichen“ Figur vom Zuschnitt der
Dramen Shakespeares fasziniert, er sieht ihn literarisch und
mittels der Literatur. Auf diese Weise geht er – und das schon
auf den ersten Seiten – die entscheidende Frage an, also die
Frage danach, ob Wałęsa in den siebziger Jahren unter dem
Pseudonym Bolek Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes
war. Er erwähnt, dass es für seine Erzählung – die Erzählung
im Allgemeinen! – besser wäre, wenn der Held mit einem Makel oder einer inneren Zerrissenheit zu kämpfen hätte. Und
natürlich muss es ein Geheimnis geben. In der anfänglichen
Version des Drehbuchs war dieses in der mysteriösen fast
dreistündigen Verspätung des Helden zum Streik im August
angelegt, den er anführen sollte. Der Rahmen der Erzählung
war der Weg – vom Verlassen des Hauses bis zur Ankunft auf
der Werft. Doch Wajdas Blick ist ein anderer. Głowacki stellt
ihn so dar: „Es muss ein Zeugnis der Geschichte sein, und es
braucht eine Lektion in Staatsbürgerkunde“; „damit die Jugendlichen überhaupt was davon verstehen“. Das Recht der
Kunst unterliegt also den politisch-persuasiven Bedürfnissen
und – um es so zu sagen – den erzieherischen Zielen.
Während der drei Jahre, die der Schriftsteller an dem
Drehbuch arbeitet, erlebt er zahlreiche Unannehmlichkeiten,
es wird ihm zum Beispiel „Verrat“ vorgeworfen. Ständig wird
er gefragt, ob er den Mut haben werde, das Motiv des Bolek
zu berücksichtigen, wobei zugleich suggeriert wird, dass der
Drehbuchautor bestimmt nicht die nötige Charakterstärke
dafür habe. Auf solche Anfeindungen reagiert Głowacki auf
die für ihn typische Weise – mit boshafter Ironie und provokativem Zynismus. Er notiert: „Zwar bin ich kein Moralist, aber
ich habe eiserne Prinzipien, und niemand wird mich jemals,
selbst wenn er meine Allernächsten bedroht, ungestraft zur
Fälschung der Geschichte zwingen.“ Ganz nebenbei schildert
er sehr unterhaltsam ein Stück polnischer Geschichte, indem
er Dutzende entzückender Anekdoten über das künstlerische und gesellschaftliche Leben in der Volksrepublik Polen
erzählt.
Dariusz Nowacki
JANUSZ GŁOWACKI
PRZYSZŁEM
ŚWIAT KSIĄŻKI, WARSZAWA 2013
130×240, 240 PAGES
ISBN: 978-83-7943-323-0
TRANSLATION RIGHTS:
ŚWIAT KSIĄŻKI
Der Weg,
also Idee Nr. 1
ICH BIN KOMMEN, ODER
WIE ICH EIN DREHBUCH
ÜBER LECH WAŁĘSA
FÜR ANDRZEJ WAJDA
GESCHRIEBEN HABE
Man weiß doch, dass sich Wałęsa zu diesem Streik für die
Wiedereinstellung von Anna Walentynowicz verspätet
hat. Er war Streikführer und kam drei Stunden oder noch
mehr zu spät. Bogdan Borusewicz, der mit Joanna und Andrzej Gwiazda, Krzysztof Wyszkowski und vielen anderen
(denn die Liste der August-Helden wird pausenlos länger)
alle Vorbereitungen getroffen hatte, sagte, dass er, falls
der Streik nicht erfolgreich gewesen wäre, Lech für diese
Verspätung zur Rechenschaft gezogen hätte, aber nach so
einem Sieg…
Und Wałęsa selbst äußert sich über die Verspätung
enigmatisch, er habe da etwas zu Hause zu tun gehabt, die
jüngste Tochter sei gerade erst geboren, noch nicht eingetragen gewesen… Natürlich, es gab auch eine Version, die
der tragisch zu Tode gekommenen Anna Walentynowicz
aus dem Herzen sprach, jener heldenhaften Aktivistin der
Freien Gewerkschaften und einstigen Freundin von Lech –
was sich dann später ins Gegenteil verkehrte: Wałęsa sei,
wie ein Agent eben so ist, ins Woiwodschaftskomitee der
Partei und zum Sicherheitsdienst geeilt, um Instruktionen
zu empfangen, und dann hätten Polizisten den Verspäteten
mit einem Motorboot gebracht.
Und der Weg ist, wie ein Weg eben ist, er sorgt für Spannung, ist metaphorisch und metaphysisch. Daran haben
weder die Literatur noch der Film ihre Zweifel. Das sieht
man bei Kerouac, bei den Beatniks, bei Steinbeck in „Von
Mäusen und Menschen“ und auch in „Asphalt-Blüten“ und
„Fluchtpunkt San Francisco“. Wir alle sind irgendwie unterwegs, rennen, kriechen, fahren, flattern bis ans Ende.
Zwar hat Maxim Gorki geschrieben, dass jemand, der zum
Kriechen geschaffen wurde, nicht fliegen wird. Aber das ist
etwas unpräzise, weil sich eine Raupe schließlich in einen
Schmetterling verwandelt, und so etwas Ähnliches hat in
der Werft stattgefunden. Selbstverständlich sind viele Polen der Meinung, dass wir sowieso seit Ewigkeiten fliegen,
und zwar in großer Höhe. Gombrowicz hat einst die Parodie eines Abzählreimes geschrieben: „Ene, mene, muh: Ein
Judenschwein bist du! Goldvögel wir Polen sind, das weiß
doch jedes Kind. Und raus bist du.“ Aber Goldvögel sind
Goldvögel, alle anderen von uns schleppen sich dahin, die
eigene Kindheit lastet auf uns, genau wie in Kantors Toter
Klasse. Auch die jüngste Vergangenheit, und dann kommen noch Zukunftsängste hinzu. Also habe ich gedacht,
ich versuche diesen Weg von Wałęsa in Rückblenden zu
schreiben.
Das ist auch insofern interessant, weil wir fast überhaupt nichts über diese drei Stunden Verspätung wissen,
also kann man sich, wenn man ein bisschen frech und risikofreudig ist, etwas ausdenken. Irgendwelche selbsterfundenen Wahrheiten, die interessanter werden könnten
und wahrer als die sogenannte offizielle Wahrheit. Es gab
da so einen englischen Film, „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“, dessen Held rennt und rennt, ab und zu erinnert er sich an etwas, und am Schluss wissen wir, warum
er rennt und warum er nicht ankommen wird. Also habe
ich mir gedacht, dass mir diese paar Stunden Verspätung
wohl allemal für einen ganzen Film ausreichen, der höchstens zwei Stunden dauern soll. Auf dieser Reise gäbe es jede
Menge Angst und Zweifel und Spannung: Gelingt es ihm zu
kommen oder hält ihn die Staatssicherheit fest, was passiert,
wenn er kommt, und was, wenn er nicht kommt? Entscheidend ist aber letztlich, dass er gekommen ist. Lech Wałęsa
hat einst gesagt: „Ich bin kommen“ – und irgendwer hat ihn
verbessert, es heißt nicht „kommen“, sondern „gekommen“.
Angeblich hat er darauf geantwortet: „Es ist nicht wichtig,
ob ich kommen bin oder gekommen, wichtig ist, dass ich
ankommen bin … oder angekommen.“
Chesterton hat sehr hübsch geschrieben, dass Reisende,
die in England mit dem Zug zur Victoria Station fahren, unterwegs von verschiedenen Wundern träumen, dabei ist es
das größte Wunder, dass der Zug wirklich in der Victoria
Station ankommt.
Später erklimmt Lech Wałęsa, von Stasi-Leuten verfolgt,
eine Mauer, springt und schwebt in der Luft … für immer.
Im Standbild.
Einen Moment lang dachte ich daran, den Film mit dem
Casting für Wałęsas Rolle zu beginnen. Alle Kandidaten
hätten in wattierten Jacken von der Werftmauer springen
müssen. Einer von ihnen hätte zum Hochsprung angesetzt
und erklärt, dass man das heute so macht. Aber davon habe
ich Andrzej nichts erzählt. Und den Szenen in der Werft
versuchte ich möglichst clever zu entkommen.
Andrzej hat diese Idee mit dem Weg anfangs gefallen,
und er hat sich sehr schön ausgedacht, dass jenes Foto (das
Standbild) von irgendeinem Touristen gemacht wird, der
Sicherheitsdienst schnappt ihn sich dann und vernichtet
das Negativ. Und dann ein Schnitt, der Kongress, mit anderen Worten: „We, the People.“ Der phantastisch von Kazimierz Dziewanowski erfundene Auftritt Lech Wałęsas in
Washington. Denn diese Worte aus der Unabhängigkeitserklärung sind in den Vereinigten Staaten heilig, jedes
Kind kennt sie. Und wer sollte ein größeres Recht haben,
den Kongressabgeordneten zu sagen: „Wir, das Volk“, als
dieser Volksführer, dieser Bauernkönig, dieser katholische
Moses, der die Polen durch das Meer des Kommunismus in
die Freiheit geführt hat. Nicht allein, nicht allein natürlich.
Aber ein großer Sieg muss, genau wie eine große Niederlage,
ein Gesicht haben. Das macht es ein wenig einfacher. Also
versteht man die stehenden Ovationen im Kongress. Angeblich waren sie stürmischer als bei Ausländern wie Winston
Churchill und Charles de Gaulle. Also gar nicht schlecht.
Und nach diesem Auftritt dachte ich daran, drei StasiLeute, die wir aus dem Handlungsablauf kennen, weil sie
sich mit Wałęsa befasst haben, diese drei Leute also zu zeigen, wie sie sich eine Fernsehsendung ansehen und wehmütig, aber drohend sagen:
„Seht mal, wie sich der da aufplustert.“
„Trotzdem ist er abgehauen.“
„Immer mit der Ruhe. Den kriegen wir noch.“
Besonders der letzte Satz könnte so manchem Zuschauer
das eine oder andere zu denken geben.
nun, zum beispiel
es ist der 14. August 1980, fünf Uhr morgens, die Hitze spürt
man noch nicht. Es dämmert erst, aber die Sonne macht,
dass sich der Nebel verflüchtigt. Lech W. steht im ersten
Stock vor dem offenen Fenster, er blickt auf die schrecklich traurige Umgebung. Drei an den Seiten überwucherte,
graue Wohnblocks von vier Stockwerken, die Mülltonne,
die Teppichstange, ein knatternder Warszawa, ein Trabant
und ein grasgrüner Syrena. Lech W. raucht und ascht in einen Aschenbecher, er raucht und ascht…
Doch bevor dieser „Weg“ beginnt, habe ich gedacht,
könnte man versuchen, einen Hinweis zu geben, dass der
Film im Jahr 2012 gedreht wird. Wir wissen mehr, als man
in einer eineinhalbstündigen, höchstens zweistündigen
Erzählung unterbringen kann. Also so eine Art Vorahnung,
eine Kurzfassung dessen, was schon geschehen ist und was
erst noch kommen wird. So ein Pseudoprolog, nach dem wir
zu diesem Lech W. vor dem Fenster zurückkehren.
Wie auch immer, ich habe es versucht. Ich hatte ein paar
Ideen, die erste war etwas zu lang.
prolog nr. 1
August 1980, Gedränge auf der Straße, Frauen, Männer,
harte, verlebte Gesichter, ein wenig wie bei Bruegel, dazwischen Lech W. – 30 Jahre alt, observiert von Stasi-Leuten,
die sich unter die Menge gemischt haben und nur wenige
Schritte entfernt sind, aber ihn nur beobachten und kurze Mitteilungen durch die unter dem Revers ihrer Jacketts
verborgenen Mikrofone durchgeben. Die Aufnahmen sind
nicht gänzlich realistisch. Sie sollten ein wenig bizarr,
schläfrig sein. Vielleicht so wie bei Andrei Tarkowski – eine
schwarze Sonne scheint, so was in der Art. Oder wie die
ersten Szenen in Lars von Triers „Melancholia“. Und dann
plötzlich ein überfülltes Bett, sechs Kinder schlafen darin,
ein Mann von kräftiger Statur tritt ans Bett, er weckt einen
sechsjährigen Jungen, Leszek, und sagt: „Heute ist dein Namenstag, hier ist ein Geschenk für dich, du gehst die Kühe
hüten.“ Er gibt ihm einen Stock, und dieser Stock verwandelt sich in ein Billardqueue, das Spiel beginnt, die Billardkugeln sind ein starker, mächtiger Block oder dreieckiger
Körper, der aussieht, als könnte man ihm nichts anhaben,
so etwas wie der Warschauer Pakt. Ihm gegenüber liegt die
weiße Kugel, man sieht sie aus einer solchen Perspektive,
dass sie klein erscheint, es können verschiedene Wortfetzen auf Russisch, Deutsch und Tschechisch zu hören sein.
Lech W. – als Erwachsener – beugt sich mit dem Queue in
der Hand über den Tisch, er schießt, die weiße Kugel saust
wie ein Projektil, das Dreieck fliegt auseinander, die Kugeln
verteilen sich auf dem ganzen Tisch, einen Moment später
trägt eine begeisterte Menge von Werftarbeitern Lech W.
auf den Händen, er schüttelt die Fäuste mit dieser charakteristischen Geste, dann legt Lech W., Danuta an seiner Seite,
den Präsidenteneid ab, das dauert nur wenige Sekunden, es
sind keine Worte zu hören, oder nur: „Ich schwöre dem polnischen Volk.“ Diese Aufnahme geht in eine andere Menschenmenge über, es ist Nacht, sie trägt eine Lech-WałęsaPuppe am Galgen, Transparente und Rufe: „Bolek, hau ab
nach Moskau!“, die Puppe brennt.
Und wir kehren zum ersten Bild zurück, dem auf der
Straße, Lech W. zwängt sich immer nervöser durch die
Menschenmenge, er rennt los, die Stasi-Leute folgen ihm,
jetzt sehen wir, dass er an der Werftmauer entlang rennt,
Lech W. klettert, springt und schwebt in der Luft. Standbild.
Aus dem polnischen von Benjamin Voelkel
IGNACY
KARPOWICZ
SOŃKA
© Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute
Ignacy Karpowicz (geb. 1976), Prosaist und
Feuilletonist, einer der derzeit interessantesten
polnischen Schriftsteller der jungen Generation.
Autor von sieben Büchern. Dreimal für den Literaturpreis „Nike“ nominiert. Ausgezeichnet mit dem
Kulturpreis „Paszport“ der Zeitschrift „Polityka“.
Ein wahrlich meisterhaft konstruierter und in gewissem Sinne „tückischer“ Roman: „Sońka“ beginnt wie ein Märchen,
und zwar nicht nur, weil die einleitende Phrase „Vor langer,
langer Zeit“ lautet und gleich im Anschluss Tiere zu Wort
kommen (Hund und Katze) – sondern auch und vor allem,
weil sich in dieser Erzählung zwei Märchenfiguren wundersam begegnen: eine alte Frau, deren einziges Hab und Gut eine
Kuh ist, und ein schöner Königssohn mit Luxusmercedes. Das
Pech will es, dass das himmlische Gefährt mitten auf freiem
Feld plötzlich stehenbleibt, „am Ende der Welt“ sozusagen,
im polnisch-weißrussischen Grenzgebiet in der Nähe von
Słuczanka, dem Dorf, in dem – was wohl nicht ohne Bedeutung ist – Ignacy Karpowicz seine Kindheit verlebt hat. Die
alte Frau lädt den Königssohn in ihre ärmliche Hütte ein, bewirtet ihn mit frisch gemolkener Milch und erzählt von ihrem
Leben. Sie heißt Sonia; ihr Gast hört auf den Namen Igor und
ist ein angesagter und erfolgsverwöhnter Theaterregisseur
aus Warschau. Igor begreift sofort, dass Sońkas Lebensgeschichte hervorragendes Material für ein bewegendes Stück
über große Liebe und noch größeres Leid abgäbe, alles angesiedelt in den Realien der deutschen Besatzungszeit. An dieser
Stelle verliert der Leser die Orientierung; er weiß nicht mehr,
ob er noch die wahre, aus dem Leben gegriffene Geschichte
vor sich hat oder bereits den mehrfach überarbeiteten und
effekthascherisch aufpolierten Theatertext, ein im Grunde
kitschiges „Produkt“ aus der Feder des raffinierten Igor, der
genau weiß, womit er die Herzen des Warschauer Publikums
erobert.
Sońkas Leben ist nicht leicht: Sie wächst ohne Mutter
auf, beim prügelnden und vergewaltigenden Vater und den
herzlosen Brüdern, die sie für die Feldarbeit einspannen wie
Vieh. Schweiß, Blut und Tränen – bis zum Jahr 1941, in dem
Hitlers Heer auf dem Weg nach Osten durch ihr Dorf zieht.
Ein Blick genügt und sie verliebt sich in Joachim, einen gutaussehenden SS-Offizier. Ihre Liebe wird erwidert – und zwei
Wochen lang trifft sich das Paar heimlich jede Nacht. Die Liebe
beflügelt Sońka, lässt sie im buchstäblichen Sinn „abheben“
(während der zwei Wochen isst und schläft die Protagonistin
nicht, schwebt gewissermaßen in überirdischen Sphären).
Der Preis für diesen Fehltritt wird hoch sein, doch noch ist
das Urteil aufgeschoben: Schwanger heiratet Sońka einen jungen Mann aus der Nachbarschaft und bringt einen Sohn zur
Welt, die Frucht ihrer Beziehung mit Joachim. Doch ein gutes
Jahr später verliert sie alle ihre Nächsten: sowohl den grausamen Vater und die groben Brüder als auch den ihr ergebenen
Ehemann, das Kind und schlussendlich den Geliebten. Danach
führt sie ein Leben in Einsamkeit, von den Dorfbewohnern als
Verräterin, Hure und Hexe gebrandmarkt; von nun an sind
die Haustiere ihre einzigen Freunde.
Karpowicz konfrontiert seine Protagonisten unablässig
mit Fremdheit und der Unausdrückbarkeit von Erfahrung –
ein ausgezeichneter Einfall. Sońka spricht weißrussisch, und
Igor übersetzt ihre Geschichte nicht nur ins Polnische, sondern auch in die Sprache des engagierten Theaters (für die
Warschauer „bessere Gesellschaft“). Die Titelfigur ist, lesen
wir, in ihren Gesprächen mit SS-Mann Joachim absolut ehrlich, da sie kein Deutsch und er kein Weißrussisch beherrscht.
Somit muss keiner von beiden lügen. Karpowicz „spielt“ diese Gegebenheit bravourös aus: Wenn Sońka Joachims Ausführungen über die Vernichtung der ortsansässigen Juden
lauscht, malt sie sich in Gedanken ihre gemeinsame glückliche Zukunft aus, das Idyll an der Seite des Geliebten – und
der Geliebte wiederum kann, an Sońkas Brust gelehnt, ihre
streichelnde Hand auf seinem Haar, endlich seine quälenden
Alpträume in Worte fassen. Er erzählt ihr von den furchtbaren Grausamkeiten, an denen er beteiligt ist, während sie ihm
zuhört und zugleich nicht zuhört.
Ein phänomenales Konzept! Eine weitere interessante Idee
des Autors ist die Einbindung quasi-autobiographischer Figuren in die Erzählung. Igor heißt, wie sich herausstellt, in
Wirklichkeit Ignacy, kommt aus derselben Gegend wie Sońka
und hat, besessen vom Gedanken an eine Weltkarriere, die
ostpolnischen Wurzeln und die bäuerliche Identität in sich
ausgemerzt und den russisch-orthodoxen Glauben abgestreift.
Aber wie es so ist bei Karpowicz – alles steht hier in Gänsefüßchen, ist leicht ironisch und selbstironisch gefärbt, überall
schwingt die Furcht vor dem allzu Direkten, Sentimentalen
oder einfach Gestrickten mit. Vertrauen wir also „Sońka“ und
genießen dieses Angebot zugleich mit Vorsicht – das ist es,
was Ignacy Karpowicz von uns will.
Dariusz Nowacki
IGNACY KARPOWICZ
SOŃKA
WYDAWNICTWO LITERACKIE,
KRAKÓW 2014
120×207, 208 PAGES
ISBN: 978-83-08-05353-9
TRANSLATION RIGHTS:
WYDAWNICTWO LITERACKIE
Auf dem Land
SOŃKA
finden sich die Leute leicht, ob sie wollen oder nicht, es sei
denn, sie verschwinden, dann gehen sie unter wie ein Stein
im Wasser, keiner hat was gesehen, gehört, gerochen, plupp,
weg war er. Das Dorf ist eine eigene kleine Welt, alles in
Hör- und Sichtweite, alle hocken so dicht aufeinander, dass
keinem etwas entgehen kann, und später kommt dann die
Strafe, meistens ist sie ungerecht. Ich schlich mich aus der
Kate wie immer. Vater und Brüder lagen in tiefem, dumpfem Schlaf, als hätten sie Mohnmilch getrunken. Hinter der
Pforte strich mir Wasyl um die Beine. Ich bückte mich, um
ihn zu streicheln. Da schien es mir, als hätte ich etwas gehört, so etwas wie brechende Zweige, angehaltenen Atem
und einen Schweißtropfen, der sich zwischen Brüsten sammelt. Doch da war nichts, und ich ging meinen Weg, zur
Brücke. Ich sah Joachim gleich: In meinen Augen, die das
Tageslicht immer öfter tränen ließ und blendete, spiegelte
sich eine deutliche Kontur, eine dunkle Kurve. Die beiden
stählernen Blitze auf seiner Uniform glänzten. Diese Blitze,
die eng beieinander standen und für einen Moment gleißend aufleuchteten – sie kamen mir vor wie wir.
Ich küsste ihn und nahm seine Hand. Zum ersten Mal
war er überall angespannt, hart und abwesend. Kantig, wie
aus Kanten, ohne Kreise und Krümmungen. Wir gingen
zum Ufer, und er begann eine Geschichte zu erzählen. Erst
dachte ich, es sei so eine Geschichte.
Bald ist der Krieg zu Ende. Dann gibt es keine Front
mehr, dann brauchen sie mich hier nicht mehr. Ich nehme
dich mit zu meiner Mutter, sie hat eine schöne Villa in der
Nähe des deutschen Städtchens Haradok. Mein Vater ist
vor zwei Jahren gestorben, er war Lehrer. Mutter wird sich
freuen. Sie wird dich in ihr Herz schließen. Meine Mutter
kann die Zukunft und die Vergangenheit vorhersagen; sie
ist zweipolig. Später heiraten wir. Du kochst manchmal polnisches Essen. Und es schmeckt allen gut. Wir bekommen
fünf Kinder: Waschil, Griken, Jan, Phrosch, Schiessen. In
den Ferien fahren wir in Kurorte und ans Meer (Meer heißt
auf Deutsch Juden). Wir haben eine Katze, sie heißt Raus.
Die Katze liegt in der Sonne und jagt Schweine (so heißen
auf Deutsch die Mäuse). Unser älterer eleganter Nachbar in
Nadelstreifenanzug, Herr Abramowitsch, überschreibt uns
sein Vermögen. Und ein anderer Nachbar, auch aus Polen,
Herr Buchwald, gibt unserem Erstgeborenen seine Tochter
zur Frau.
Ich dachte wirklich am Anfang, es sei so eine Geschichte. Die Panik, die in mir aufflatterte, wenn ich Joachim sah,
verwirrte mir so den Verstand, dass ich nicht mehr wusste, was ich wusste. Die Leute redeten ja. Die Panik rappelte
in mir wie eine getrocknete Bohne in einer Blechbüchse.
Mit jedem Satz wurde mir mehr bewusst, dass ich in meinem kompletten Nichtverständnis zu viel verstand; die
Namen unserer ungeborenen Kinder klangen mir verdächtig bekannt, nur etwas verzerrt in der kehligen Redeweise.
Dann hörte ich eine andere Geschichte, die unter der ersten zum Vorschein kam; ich hörte diese andere Geschichte
Hunderte Male, schon nicht mehr aus Joachims Mund, sondern aus dem Mund derer, die überlebt oder mit angesehen
hatten, oder die den Alptraum verscheuchen wollten wie
Flammen, indem sie mit den Händen wedelten und die Glut
nur noch stärker entfachten. Oder war diese Geschichte
vielleicht gar nicht über sie, sondern über meine Brüder
und meinen Mann? Oder war das alles vielleicht noch gar
nicht, sondern soll erst kommen?
Sie versammelten über hundert Menschen bei der hölzernen Synagoge in Gródek, neben der russisch-orthodoxen
Kirche. Ein heißer Tag. Die Juden warteten dicht zusammengedrängt. Sie hatten Angst. Es waren Krämer, Gastwirte, Schuster. Und deren Familien. Leute, die noch etwas
besaßen, nicht viel vielleicht, aber etwas trotz allem noch.
Sie hatten buchhalterische Aufzeichnungen in Heften, Alpträume von Jahwe, da ihr Gott noch niederträchtiger ist als
unserer, sie hatten Bar Mizwas auf den Köpfen und junge
Mädchen im Heiratsalter. Sie hoben ratlos die Arme, stopften ihre Hände in die Hosentaschen, ballten die Hände zu
Fäusten.
Es waren ältere Leute, sie rochen nach Staub und Lampenöl; und es waren jüngere Leute, sie rochen nach Sonne
und frischem Schweiß. Hinter einer Postenkette von Soldaten drängten sich die Bewohner von Gródek. Manche hatten Mitleid, manche verstanden nicht, manche hofften auf
Schuldenerlass. Manchen machte die plötzliche Erniedrigung der wohlhabenderen Nachbarn Vergnügen, manchen
Angst.
Die Soldaten zerrten zuerst einen jungen Mann aus der
dicht gedrängten Gruppe. „Sehr gut“, sagte Joachim, genau
wie er es einmal zu mir gesagt hatte. Der Soldat zog seine
Mauser aus dem Pistolenholster, setzte den Lauf an die
Schläfe und drückte ab. Nichts weiter, eine Fontäne aus
Blutstropfen und zerbröselten Knochen.
Sonia schüttelte den Kopf, als begriffe sie nicht viel von
dem, was sie heraufbeschworen, nicht aber mit eigenen Augen gesehen hatte. Dachte sie sich das am Ende womöglich
alles aus? Kam vielleicht beim Zusammenprall von erzählter mit tatsächlicher Geschichte die Wahrheit immer lädiert
heraus? Igor lag, musste sich zusammenreißen. Schon einzelnes Leiden, zum Beispiel das eigene, und sei es das kürzlich erlittene Halsleiden, ertrug er schlecht – massenhaftes,
von oben geplantes und von unten in die Tat umgesetztes
Leiden lähmte ihn. Er konnte nicht zuhören und fühlte nur
mechanisch mit, in reflexartiger stumpfer Solidarität.
In einem leuchtenden Funken, der von Kater Jozik Pasterz Myszy auf ihn übersprang, begriff er, dass er noch
mehr in Erinnerung behalten musste, als Sonia erzählte,
dass er die Erinnerung in ein theatrales oder erzählerisches
Tretwerk einspannen musste, um sich selbst zu retten, um
endlich etwas Wahres zu erzählen, endlich um etwas zu ringen. Obwohl er das nun gerade schon von Anfang an geahnt
hatte, von der Schwelle an.
Der Junge fiel. Der Batjuschka von der orthodoxen Kirche sagte immer wieder, Boh richtet die Gefallenen auf und
wirft die aufrecht Stehenden nieder. Boh richtete den Jungen nicht wieder auf, presste weder die Blutstropfen noch
die Knochenbrösel zurück an Ort und Stelle. Ob der jüdische
Jahwe nicht so gnädig oder so gewaltig war? Schließlich war
es für Ihn bei uns in Haradok wie in der Fremde – weit weg
von allem Sand und aller Wüste, ein Auswanderer. Oder
hatten wir es nicht anders verdient? Für den Jungen hatte es ja keine Bedeutung mehr, aber in den anderen wuchs
das Leid, die anderen brauchten ein Wunder und Beistand.
Wie man sieht, hatten wir keinen Lazarus verdient. Obwohl
Lazarus ja, wenn man es recht bedenkt, keiner von uns war,
sondern ein Jude wie alle diese ersten Christen.
Angeblich sagte niemand ein Wort. Die Deutschen zerrten die Menschen einzeln heraus, setzten ihnen die Waffe an die Schläfe und drückten ab. Jeder Fall riss ein paar
Personen aus dem Kreis der Zuschauer. Diese Leute gingen
zu den Häusern, aber nicht zu sich nach Hause. Fiel ein Ladenbesitzer, machten sie sich zu dem verlassenen Laden auf.
Fiel ein Schuster, gingen sie in die unbesetzte Werkstatt.
Schließlich war nur noch der alte Herr Buchwald geblieben, und der Batjuschka und der katholische Priester. Da
gingen die deutschen Soldaten ganz plötzlich, ließen fast
hundert Leichen, drei Lebende und einen Fliegenschwarm
zurück. Was Fliegen sofort wittern, sind Leichen und Scheiße. Die Deutschen gingen einfach, als hätte dieser Vorfall
keine besondere Bedeutung, als wäre die Arbeitszeit zu
Ende und es käme nun der Feierabend. Fast hundert Leichen, drei Lebende und Fliegen.
So ist sie vielleicht gewesen, die Geschichte von Joachim.
Ich dachte nicht mehr, dass Juden auf Deutsch Meer heiße,
Raus eine Katze und Schweine Mäuse seien. Am meisten Mitleid hatte ich mit Joachim. Ich liebte ihn und er lebte noch,
aber er tat mir trotzdem leid, ich konnte nicht anders. Mein
armer, hellhäutiger Joachim, sein schöner Körper, auf dem
sich plötzlich verrenkte Umrisse von Leichen abzeichneten.
Joachim hörte auf zu reden. Bis heute weiß ich nicht, was
er mir in dieser Nacht erzählen wollte: von der Zukunft und
dem Mord in der Stadt, von der Zukunft nach dem Mord
oder von der Zukunft ohne Zukunft, ich weiß es nicht. Fest
hielt er meine Hand umklammert. Es tat weh, doch dieser
Schmerz war nichts im Vergleich mit dem Schmerz, den er
verspürte. Er fing an zu weinen, redete und weinte, ohne
jeden Zusammenhang. Später legte er seinen Kopf an meine Brust und schwieg. Ich atmete mit einem ganzen Sack
Steine auf der Brust.
Wir saßen nicht lange so dort. Er küsste mich nicht einmal zum Abschied, berührte mich nur am Arm, dann an der
Brust; meine Brustwarze wurde hart.
Ich sah ihm hinterher, wie er fortging; selbst als er schon
lange mit der Dunkelheit verschmolzen war, stand ich noch
am selben Fleck und fragte mich, ob mein Joachim eine
nächtliche Truggestalt war oder doch ein Mann aus Fleisch
und Blut.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
PATRYCJA
PUSTKOWIAK
NACHTTIERE
© Tomasz Stawiszyński
Patrycja Pustkowiak (geb. 1981), studierte Soziologin, von Beruf Journalistin. Sie publizierte bereits in den Zeitschriften „Chimera“, „Lampa“, „Polityka“ und „Wprost“. Ihr Debütroman
„Nachttiere“ [Nocne zwierzęta] kam 2014 in die
Endrunde für den Literaturpreis „Nike“.
Patrycja Pustkowiaks schriftstellerisches Debüt erregte mit
seinem originellen Stil – einem ausgefeilten, forschen und reifen Stil – viel Aufmerksamkeit. „Nachttiere“ wurde als „Unter
dem Vulkan für Frauen“ bezeichnet, mit dem Einwand allerdings, dass es hier weit humorvoller zugehe als bei Malcolm
Lowry. Ja, es ist ein Roman über eine Alkoholikerin. Über das
Trinken, das Rauchen und andere Drogen. Über all die ernsten Gefahren, die es für eine junge Frau mit sich bringt, allein
in Warschaus finsterer, phantasmagorischer Szenerie unterwegs zu sein. „Ihr einziger Begleiter – und zugleich Zeuge
ihres Abstiegs – ist diese Stadt, Warschau. Ihr gewaltiger, ausladender Leib, über und über mit Säulen, Wohnhäusern, hoch
aufragenden Plattenbauten gespickt und von Abertausenden
blinkender Neonlichter erhellt.“ Am fesselndsten und erstaunlichsten ist Pustkowiaks Satzbau an sich: dicht, poetisch,
mit Galgenhumor durchsetzt und von tragischer, faszinierender Eindringlichkeit. In den alkoholisierten Stadtlandschaften
entdeckt die Schriftstellerin unerwartete Spuren von Poesie,
die bis zur grotesken endgültigen Absturzszene immer wieder
im Text aufschimmern. Tamara Mortus – so hat die Autorin
ihre Hauptfigur getauft – ist eine anti-sentimentale Alkoholikerin. Sie sucht keine Begründungen für ihren Niedergang,
träumt nicht von Liebe, wartet nicht auf Rettung. Sie zwingt
den Leser ganz einfach, den Weg mit ihr zu gehen.
Pustkowiaks Sinn für Dramaturgie kommt der Protagonistin dabei sehr entgegen. Die Autorin lässt ihre Geschichte bei
einer Leiche beginnen und weist sogleich unverblümt auf den
Missetäter hin. „'Dem Diebe brennt die Mütze', heißt es. Aber
was Tamara angeht, seit wenigen Stunden frischgebackene
Mörderin, so sieht die Sache komplett anders aus. Nichts
brennt, weder an noch in ihr – Tamara ist wie ein Leuchtturm
mit Stromausfall.“ Ist das wahr, fragt sich der Leser, oder einfach nur deliriöse Wahnvorstellung? Nun gilt es, herauszufinden, ob die Autorin, nachdem sie uns schon den angenehmen
Anfang verwehrt, ein ebenso entsetzliches Ende anpeilt.
„Nachttiere“ ist – entgegen einer der möglichen Lesarten –
nicht nur ein spöttisches oder nihilistisches Buch. Sicher, die
Autorin parodiert stellenweise den Stil der Großstädter um
die Dreißig, die mit Kater-, Kotz- und Filmriss-Geschichten
um sich werfen, als wären es originelle selbstgeschaffene
Kunststücke. Doch selbst findet sie für solche Zustände eine
ausreichend geräumige Form, die dem geistlosen Geplapper
derer, die im Drogenrausch die Illusion von Unsterblichkeit
suchen, etwas entgegensetzt.
Die junge Frau – hübsch, gebildet, dennoch arbeitslos, dazu
sehr durchtrieben –, deren Kreditkarte aus alten korporatistischen Zeiten wie durch ein Wunder noch funktioniert, ist
kein gewöhnliches Suchtopfer, kein unglückseliger Junkie,
weder krank noch abstoßend. Sie ist die fleischgewordene
Angst all derer, die noch arbeiten und kaufen, aber auch die
Figur einer leidenschaftlichen Prophetin. Einer, die ihrer
eigenen Generation die einzige, unangenehme Wahrheit offenbart: Auch für euch wird es keine Arbeit mehr geben und
keinen Sinn, eine zu suchen, keine Illusionen über das teuflische Glück, das dem Zugang zu Waren und Dienstleistungen
innewohnt. Aber – spinnt die Weissagerin, die Verführerin
ihren Faden weiter – vielleicht kann man ja ohne all das leben.
Und sei es im Leben nach dem Tod, denn möglicherweise lässt
sich ja mit Kokain und Wein ein Mensch immer wieder zum
Leben erwecken. Oder doch nicht? Diese Unsicherheit – die
ewige Frage sowohl in Krimis als auch religiösen Abhandlungen – ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Romans.
Kazimiera Szczuka
PATRYCJA PUSTKOWIAK
NOCNE ZWIERZĘTA
GRUPA WYDAWNICZA
FOKSAL/W.A.B.
WARSZAWA 2013
135×195, 223 PAGES
ISBN: 978-83-7747-956-8
TRANSLATION RIGHTS:
GRUPA WYDAWNICZA FOKSAL
JE W EIT ER
NACHTTIERE
Tamara in die schwarze, zähe Masse ihrer Gedanken vordrang, desto mehr ekelte sie sich vor sich selbst und ihrem
Körper. Ihre Genitalien waren ein feuchter, dunkler Tunnel
nach Nirgendwo, der zahlenden Gästen geheime Lust verschaffte, wie die Geisterbahn in einem Vergnügungspark.
Als sie jung war, hatten immer alle gesagt, lebe enthaltsam,
Sex verträgt sich nicht mit Katholizismus; später dann war
es genau umgekehrt: Nehmet und esset alle davon, von diesem Leib, in dem sie steckte. Sex war plötzlich in Mode, eine
neue Religion, die sie ins Heiligtum der höchsten Freuden
katapultierte. Dieser widersprüchliche Stimmenchor hatte
sie, einen normalen Menschen mit dickem Fell und Weltanschauung, zu einer Patientin auf dem ärztlichen Experimentiertisch gemacht, umschlungen von einer Million
unterschiedlichster Kabel, die Stoffe mit gegenläufigen Wirkungen in sie einträufelten. Sie war krank, ihr Blut war eine
Brutstätte des Gifts und alles, was sie herausbrachte, war
ein verzweifelter und stumm hilfeflehender Logarithmus,
den – weil schweigend gesprochene Wörter so wenig Inhalt
haben – keiner entziffern konnte. Manchmal dachte sie, sie
müsste nachts vor Schmerz leuchten, ihre Haut müsste mit
neonblau leuchtenden Adern eine Botschaft nach außen
senden. Aber um sie herum war ja doch nur Leere, nur das
Zimmer durchzuckte ein grellblauer Lichtblitz – wie auf der
Intensivstation oder im Hospiz. O lasst, die ihr eintretet, alle
Hoffnung fahren...
Den Sex zu zu streichen war deshalb wie eine Befreiung.
Diesen Kampf mit ihrem Körper hatte sie gewonnen, einen
anderen nicht – den Kampf gegen den Hunger. Ihr Körper
forderte Essen und wollte von ihr gefüttert werden, ob sie
müde war oder verkatert (es sei denn, es war ein Hungerkater, bei dem man sowieso nichts essen will); er war das Kind,
das sie nie hatte und das ihr das Leben schwer machte. So
auch jetzt: Ihr Körper versetzt ihr einen Faustschlag, will
eine Mahlzeit. Doch die Alleinherrschaft in Tamaras Kühlschrank haben das Licht und zwei Flaschen Magenbitter,
die sie wohl auf dem Nachhauseweg gekauft haben muss,
denn gestern waren sie noch nicht da. Tja, man könnte natürlich jetzt eine Lichttherapie gegen Depressionen anfangen, davon hat Tamara in irgendeiner Esoterikzeitschrift
gelesen – wenn sie auch nicht genau weiß, wie das geht.
Sie probiert es mit der einfachsten Lösung: vor dem
Kühlschrank stehenbleiben, den Mund aufreißen – die
Lüftungsklappe, durch die das ungewollte Leben langsam
entweichen kann –, und warten, bis das Licht eingesickert
ist und sie erfüllt. Reflexionen religiöser Natur stellen sich
ein: sich mit Licht erfüllen, ist das nicht dasselbe wie die
Vereinigung mit Gott? Gott ist das Licht, Gott ist die Liebe,
ähnliche Geschichten hat sie sich jahrelang in Religion angehört; Gott ist alles, was es nicht gibt, könnte sie nach all
den weiteren Jahren ergänzen. Und dieser Gott, der momentan im Kühlschrank wohnt, will Tamara einfach nicht
erfüllen, klammert sich an die weißen, leicht zerkratzten
Ablageplatten, außerdem ist es kalt – die Helle sollte blenden und wärmen, aber was tut sie? Sie spottet allen Bekehrungsversuchen, will nicht in den Körper hinein, sondern
hat nur die altbekannte Kälte und Demütigung zu bieten.
Der Alkohol hat mir da schon angenehmere Sachen geboten, denkt Tamara beim Blick auf die rostbraun gefüllten
Flaschen, die artig in einer Kühlschrankecke stehen. Aber
momentan darf sie sich diese Freundschaft nicht erlauben, sogar abgewrackte Säufer wie sie müssen mal Pause
machen und was essen. Und jetzt gerade überfällt sie der
Katerhunger, ein Hunger der übelsten Sorte, bei dem man
Lust auf scharfe Suppen hat. Vor ihrem inneren Auge sieht
sie einen Teller dampfender Thaisuppe, ein idealer Mix von
süßen, sauren und scharfen Gewürzen. Ein klein bisschen
Wasser läuft ihr im trockenen Mund zusammen, aber was
soll sie machen? Wenn sie wenigstens einen Brühwürfel
und ein einziges, unter das Sofa gerolltes Raffaello hätte, dann könnte sie sich eine Thaisuppe Marke Eigenbau
brauen. Aber es ist wie verhext, sie hat nichts, nicht mal
diese Zutaten, das Einzige, was sie sich machen könnte,
wäre eine Magenbittersuppe, aber darauf hat sie momentan keine Lust.
Wie gut, dass sie in einer Großstadt wohnt, und nicht
nur Großstadt, sondern Hauptstadt, und dass es in Hauptstädten alles gibt, auch ein reiches gastronomisches Angebot, das nicht zu nutzen eine Sünde wäre. Ein Anruf reicht
und in einer Stunde landet die ersehnte Thaisuppe auf
ihrem Tisch, nicht ohne vorher mehrere serpentinenartige Straßen zu überwinden, auf deren Staubkörnern die
Schuhe zufälliger Spaziergänger rollen, und Hundepfoten
und alles, was sich an sie heftet, vom Staub bis zu Mikroorganismen.
Mit der Suppe auf den Knien stellt Tamara den Fernseher an und bleibt bei einer amerikanischen Sendung über
die Verwesung des menschlichen Körpers hängen. Sie lässt
sich einen Löffel köstliche Thaisuppe auf der Zunge zergehen, während der Sprecher vor der Kamera einen menschlichen Schädel in verschiedenen Zerfallsstadien vorführt; zuerst ist er ganz normal, dann bevölkern ihn Würmer, aber
nicht nur eine Art, sondern mehrere, was man an den Farben sehen kann, und zum Schluss verschwindet das Fleischgewebe und zurück bleibt der weiße, säuberliche Knochen,
wie man ihn aus Horrorfilmen oder dem Hamlet kennt.
Als nächstes kommt eine Sendung darüber, wie man das
loswird, was so wenig Glück im Leben hatte, dass es gestorben ist – tja, passiert schließlich jedem. Man kann sowas
zum Beispiel in einem Sarg begraben, im Preis liegt das
zwischen X und Y, dafür geht die Produktion schnell, das
Holz ist hochwertig, Zufriedenheit garantiert. Wer unter
der Erde keine Würmer möchte oder Verwesungsprozesse
nicht mag, kann sich anders entscheiden – aber besser zu
Lebzeiten, später könnte es zu spät sein. Die moderne Feuerbestattung wird in einem mindestens zweikammerigen
Kremationsofen durchgeführt, dessen Konstruktion das direkte Zusehen nahestehender Personen bei der Zuführung
der Leiche zum Ofen gestattet, was bei manchen unangenehme Assoziationen wecken könnte; höchste Zeit, sich
aus den klebrigen Tentakeln der Erinnerung zu befreien
und den Weg des Forschritts einzuschlagen. Der Ofen kann
mit Heizöl oder Gas befeuert werden, der Brennprozess ist
computerüberwacht und geht vollautomatisch vonstatten.
Die Asche wird nach dem Brennen und vor der Urnenbefüllung in einer gesonderten Vorrichtung zerkleinert. Und
dann heißt’s nur noch Urne in die Hand und ab nach Hause, das Ganze kostet kein Vermögen, höchste Zeit also, sich
mal ein paar Gedanken über diese nette Alternative zum
klassischen Begräbnis zu machen – brave Welt, legt uns
schwanzwedelnd immer neue Ideen vor die Füße.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
ŁUKASZ
ORBITOWSKI
GLÜCKLICHE
ERDE
© Bartłomiej Kwasek
Łukasz Orbitowski (geb. 1977), Schriftsteller und
Publizist, gilt zur Zeit als einer der besten HorrorAutoren in Polen. Neben unzähligen Erzählungen
gehen auch zwölf Bücher auf sein Konto, mit denen er für verschiedene polnische Literaturpreise
nominiert wurde („Janusz-Zajdel-Preis“, „JerzyŻuławski-Preis“). Er ist außerdem Feuilletonist
der „Gazeta Wyborcza“ und des Magazins „Nowa
Fantastyka“.
Mit „Glückliche Erde“ macht Łukasz Orbitowski, bekannt als
Autor sogenannter „Genreliteratur“ (in diesem Fall: Horror
und Fantasy) einen Schritt in Richtung „unattributierter“ Literatur, wiewohl er sich nicht ganz von seinem bisherigen
Schaffen löst.
Sein neues, völlig zu Recht für den diesjährigen „Paszport“
– Kulturpreis der Zeitschrift „Polityka“ nominiertes Buch ist
eine spezielle Art Generationenroman (der Autor ist 1977 geboren, es geht also um die Generation der heutigen Mittdreißiger) und kombiniert eine realistische, eingehende psychologische und soziale Analyse mit einer intelligent konstruierten
Fantasy-Handlung.
Wörtlich genommen ist es die Geschichte einiger Freunde
aus einer niederschlesischen Kleinstadt namens Rykusmyku,
die an der Schwelle zum Erwachsenenalter gemeinsam ein
unheimliches und tragisches Abenteuer durchleben. Dieses
Erlebnis überschattet danach ihr ganzes weiteres, in großer
Entfernung voneinander geführtes Leben und bewegt sie
schlussendlich zu einer Rückkehr zum Ausgangspunkt, wo
sie aufs Neue dem – sozusagen – „Unbekannten“ entgegentreten, dessen Natur der Autor auf höchst spannungsvolle Weise
nach und nach enthüllt.
Orbitowskis Außerordentlichkeit besteht (außer im
schriftstellerischen Können) darin, dass seine Kreation sich
jeglicher eindeutigen Lesart entzieht – und das nicht nur,
weil der Autor die allzu simple Gegenüberstellung von Gut
und Böse vermeidet, weil er statt in Schwarz und Weiß lieber in Grautönen malt. Nein, denn vielleicht ist es noch viel
wesentlicher, dass die beiden einander ergänzenden Narrationsebenen sich auch gesondert betrachten ließen: Die eine
Ebene wäre eine weitere Geschichte über die Vertreter einer
weiteren „verlorenen Generation“, die andere wäre die Schaffung (im Grunde: Rekonstruktion) eines bestimmten Mythos,
der die „übernatürliche“ Komponente des Buches und die damit verbundenen Irrungen und Wirrungen befördert – wobei
sich gewiss beide Teile als äußerst überzeugend herausstellen
würden. Wenn Orbitowski sie dennoch verknüpft, dann vielleicht, um ein Instrument zu erhalten, das die gewohnheitsmäßige Narration über gebrochene Lebensläufe, über Träume,
deren Erfüllung manchmal zu viel kostet, über das mit jeder
menschlichen Entscheidung verbundene Risiko universalisieren und zusätzlich verkomplizieren soll. Oder vielleicht sogar
bloß, um diese Narration überhaupt entstehen zu lassen. Als
einer der Protagonisten, schon gegen Ende des Buches, sagt:
„Es war gut und es ging uns gut. Jetzt ist es schlecht und es
geht uns schlecht. Wozu noch eine Geschichte dazudichten“,
heißt das, dass es sich dabei nicht nur um eine zufällige Frage handelt. Und dass Orbitowski, indem er seine Narration
mythisiert und den Realismus durchbricht, darin eine Art der
Verteidigung gegen das Schweigen, die Stimmlosigkeit und
die Leere sieht, die nicht nur die literarischen Protagonisten
aufsaugt, sondern ebenfalls (um es leicht pathetisch zu sagen)
uns alle und jeden für sich.
Fast ein Grund, sich vor seinem nächsten guten Buch zu
fürchten.
Marcin Sendecki
ŁUKASZ ORBITOWSKI
SZCZĘŚLIWA ZIEMIA
WYDAWNICTWO SQN,
KRAKÓW 2013
150×215, 384 PAGES
ISBN: 978-83-7924-086-9
TRANSLATION RIGHTS:
POLISHRIGHTS.COM
Meine Mutter
GLÜCKLICHE
ERDE
hieß Wut. Wir wohnten zusammen, als ich zu hören anfing.
Ich bat sie lange, mich zu einem Arzt zu bringen. Doch
sie bohrte selbst ihren Finger in meine Ohrmuscheln. Sie
sagte, es sei alles in Ordnung und ich müsse tapfer sein.
Auch ein kleiner Mann sei ein Mann. Dann verdrehte sie
mir das Ohr.
„Der Arzt steckt dir eine Nadel da hinein“, bekam ich zu
hören. „Das tut erst richtig weh.“
2
Es heißt, Wahrheit und Chancen, die gibt es nur in großen Städten, aber ich konnte mir trotzdem lange nicht
vorstellen, an einem anderen Ort als in Rykusmyku zu
leben. Mama, ja, die wäre gerne weggezogen. In Legnica
erschreckten mich die langen Reihen mächtiger Altbauten.
Als ich dort war, konnte ich förmlich die Riesen sehen, die
in ihrem Innern lebten. Wrocław – wo wir selten waren –
bestand aus dem Zoo, gelegentlichem Freizeitpark, Eis auf
dem Hauptplatz und Kino mit alten Disney-Trickfilmen.
Nach der Vorstellung setzte ich mich in den Bus und freute mich auf Zuhause. Deswegen fuhr ich auch nicht in die
Ferien. Rykusmyku gab mir alles, was ich brauchte. Außer
Stille.
Auf dem Schlossplatz, hinter der Haltestelle, befand sich
ein Markt, auf dem jeden Tag etwas anderes verkauft wurde. Montags Blumen, dienstags Tiere, mittwochs Kleidung,
donnerstags Autos, und immer so weiter bis zum Sonntag,
wenn jeder Schrott zu Geld gemacht wurde: bunte Feuerzeuge aus Deutschland, russische Gameboyspiele mit Wolf
oder U-Boot, Arbeiterhemden und Sandra-T-Shirts. Am
allerliebsten auf der Welt wollte ich einen Mini-Taschenrechner haben, einen runden, rot-weißen, der aussah wie
ein Fußball. Mama gab mir sogar Geld, das ich aber gleich
wieder verdaddelte. Den Mini-Taschenrechner malte ich
mir selbst, in meinem Matheheft.
Der Hauptplatz war damals sehr heruntergekommen,
doch am allerschlimmsten sah das Stadtratsgebäude aus,
das nach dem Krieg gebaut worden war. Es machte den
Eindruck, als zerfiele es vor Kummer über das Schicksal
der anderen Häuser, mehrstöckige Altbauten, ramponiert
wie die zwielichtigen Gestalten, die von früh bis spät in der
Ratuszowastraße herumhingen. Hoch über den lückenhaften Dächern ragte die Strzegomska-Bastion empor, wo
unser Haus stand. Daneben verlief die Staromiejskastraße
mit Friseur und Spielzeugladen, ihr Ende bildeten ein geschlossenes Kino und das Kulturhaus, Mamas Arbeitsplatz.
Wäre ich weiter geradeaus marschiert, hätte ich bald die
Felder rings um Rykusmyku erreicht und eine waldige
Haube vor mir gesehen, die sich über einen wassergefüllten alten Steinbruch legte. Rechts führte ein Kiesweg mit
beidseitig stehenden Pappeln zu den Schmiedewerken,
beim Abbiegen in die Gegenrichtung ging es zum Park mit
einem Teich, auf dem Enten mit benzinschillernden Köpfen schwammen. Auch einen kleinen Spielplatz gab es. Die
Schaukeln bestanden aus Holzplanken und Reifen und waren an Ketten aufgehängt. Etwas weiter floss ein Bach und
vor ihm, auf einer leichten Anhöhe, stand das Skelett eines
Betonbunkers und lud zu Kriegsspielen ein. Auf der anderen Seite des Flüsschens breiteten sich neue Wohnsiedlungen aus. Die Menschen, die dort wohnten, schienen fremd,
wie Barbaren, die sich die Knochen ihrer Feinde tief in die
tätowierten Gesichter bohrten.
Angeblich war dort einmal eine Frau vergewaltigt worden, eine Zugereiste. Sie tauchte aus unbekannten Gründen
hier bei uns auf, nahm sich ein Privatzimmer und untersuchte tagelang irgendetwas beim Schloss. Jemand überfiel
sie gleich hinter dem Fluss. Sie ging zur Polizei, zog aber
kurz darauf ihre Aussage wieder zurück und erklärte, alles
sei einvernehmlich geschehen. Dann fuhr sie wieder ab. Ich
war sehr klein, als ich diese Geschichte zufällig mit anhörte,
und die Erwachsenen weigerten sich, mir zu erklären, was
ich nicht verstand.
An der anderen Seite der Stadt lag noch ein Park, der
größer und ungepflegter war. Dort stand die Friedenskirche, der Stolz von ganz Rykusmyku. Sie war nach dem
Dreißigjährigen Krieg ohne einen einzigen Nagel gebaut
worden, zum Zeichen der Einigung zwischen Katholiken
und Protestanten. Man brauchte nur zum Haus nebenan zu
gehen, den Pastor zu bitten, und der Pastor schloss die Kirche auf und ließ eine Stimme vom Band laufen, die einem
die Geschichte dieses Ortes, Gottes und ganz Rykusmykus
erzählte. Ein eingestürztes Gebäude, in dem vor dem Krieg
ein Café gewesen war, diente uns hier als Spielplatz. Nach
dem Zaun und der Straße kamen nur noch das Bahngelände
und die Invalidengenossenschaft Inprodus. Ich stellte mir
immer vor, dass dort Leute ohne Arme und Beine produziert
würden, die man dann mit dem Zug an Orte schickte, wo sie
gebraucht wurden.
Wir hatten auch ein Schloss. Das Schloss war das Wichtigste, es lag zwischen Hauptplatz und Schlossplatz auf
einem rostig aussehenden Hügel, es war ein pistazienfarbenes Schloss, sodass es an den Fürsten Piast erinnerte, der
zweifellos einmal dort gewohnt haben musste. Fürst Radoslav aus Tschechien hatte es gebaut. Hier waren immer die
Könige und Marysieńka zu Gast gewesen. Im neunzehnten
Jahrhundert wurde das Schloss ein Gefängnis, hundert Jahre später ein Zwangsarbeitslager, woran sich manche unter
uns noch erinnern. Vielleicht waren deswegen alle Eingänge zugemauert und die Fenster in den unteren Stockwerken
mit Brettern vernagelt. Trotzdem hatte ich manchmal Lichter im Turm gesehen.
Nachts drangen aus den Eingeweiden des Schlosskomplexes Geschrei, Gelächter und Laute anderer Art, die ich
aufgrund meines Alters nicht verstehen konnte.
3
Meine Mutter war sehr schön. Eines Tages betrachtete ich
mich nackt im Spiegel. Ich hatte einen eingefallenen Bauch
mit flachem Nabel und kleine Augen, getrennt durch eine
lange Nase. Ich ging zu Mama und fragte sie, warum sie mir
nicht gesagt hatte, dass sie nicht meine Mama war. Eine
schöne Frau kriegt doch keine hässlichen Kinder, wollte
ich noch sagen, bekam aber eine geklebt.
4
Unser erstes Spiel hatte mit dem Schloss zu tun. Schwer
zu sagen, wie alt wir waren, vielleicht acht, vielleicht auch
jünger. Die Erwachsenen sagten, es sei dort zu gefährlich
und man könne irgendwo herunterfallen; ich hörte auch
Geschichten von einem Labyrinth ohne Ausgang und einem
Jungen, der vor langer Zeit hineingeraten sei und bis jetzt
darin herumirre, obwohl er schon erwachsen war. Doch wir
wussten es besser.
Trombek war es wohl, der den Eingang fand – einen
Baum mit einem Ast, der genau bis unter ein Fenster im ersten Stock reichte. Wir gingen alle fünf mindestens einmal
im Monat hin. Im Sommer noch öfter. Ich rutschte von dem
Ast direkt in die Kühle, landete auf Schutt und Glas. Der abwärts führende Gang schluckte alles Licht. Wir lümmelten
uns auf der steinernen Fensterbank. Jeder machte Witze,
versuchte, sich selbst und den anderen Mut zuzusprechen.
Die Mutprobe sah immer gleich aus und endete auch immer gleich. Wer wagte sich weiter ins Dunkel vor? Schaffte
es einer bis zum Ende des Ganges? Sikorka behauptete, da
unten sei ein unterirdischer See, konnte aber nicht erklären,
woher er das wusste.
Das Feuerzeug hielt ich mit einem Stofffetzen oder
Handschuh, um mir nicht die Finger zu versengen. Ich ging
dicht an der Wand. Von Zeit zu Zeit spähte ich zurück, zu
dem kleiner werdenden hellen Viereck und den vier gespannt wartenden Schatten. Ich zählte mit, sie zählten mit.
Eine Zahl, ein Schritt. Ich setzte die Füße vorsichtig auf,
scharrte das Geröll mit der Schuhspitze beiseite. Es wurde
immer dunkler und immer kühler. Ich dachte an den Jungen, der unter der Erde lebte, an den See voller Ungeheuer
und an die Räuber, die dort ihre Höhle hatten. Das Fenster
wurde immer kleiner, ich ging immer langsamer, bis ich
schließlich herumfuhr und so schnell zurückrannte, wie ich
konnte, und dabei aus vollem Halse schrie. Das war nicht
peinlich, denn jeder machte es so. Wenn ich mehr Schritte
als irgendwer vor mir gemacht hatte, ritzte DJ Krzywda den
Rekord in die Mauer ein. Wenn nicht, dann nicht.
Danach gingen wir zum nun schon menschenleeren
Marktplatz und setzten uns auf die langen Tische. Wir
erzählten uns, was wir noch alles tun wollten, wie toll es
würde, wenn wir es endlich bis ganz unten schafften, und
wärmten verschiedene Geschichten über das Schloss wieder auf. Irgendetwas lebte dort, irgendetwas wartete. Das
Schloss war unser erstes Spiel. Und es erwies sich als das
letzte.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
BRYGIDA
HELBIG
HIMMELCHEN
© Maria Kossak
Brygida Helbig (geb. 1963), Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und Universitätsdozentin.
Autorin von Gedichtbänden, Erzählungen und Romanen sowie literaturwissenschaftlichen Büchern.
Ihr neuester Roman „Himmelchen“ [Niebko], gelangte 2014 in die Endrunde für den Literaturpreis „Nike“.
Niebko – „Himmelchen“ – ist eine Geschichte, gewebt aus einer deutsch-polnischen Familiengenealogie. Eingeflochten ist
eine gehörige Prise Nostalgie, doch die Stimme der Erzählerin
bleibt diszipliniert. Viel Wärme ist zu spüren und die sichere
Hand, welche die Mosaiksteinchen zusammenfügte und eine
runde, gut lesbare Einheit entstehen ließ. Die Anfänge dieser
Geschichte sind erhaben, biblisch geradezu. Der Vater „kam
im mythischen Galizien zur Welt, an einem Ort, an den 1783
seine Ahnen aus dem Rheingebiet auf Fuhrwerken angerollt
kamen, auf der Suche nach Speis und Trank. Die deutschen
Kolonisten.“
Am wichtigsten ist nämlich an diesem Buch das Untypische der Herkunft der beschriebenen Familie. Die Protagonisten – die Eltern und Großeltern der Erzählerin (…) – sind
polnische Deutsche. Oder deutsche Polen, denn Tatuś, also
Papi, die zentrale Figur des Romans, „weiß jetzt schon nicht
mehr, ob er Deutscher ist oder Pole“.
Waldek, früher Willi (oder „eigentlich Willi“) gehört
zu den Vätern, die schwierige Angelegenheiten mit einem
Schulterzucken abtun. Die Schicksalswirren werden hinter
dem Alltagsleben versteckt, hinter dem vereinheitlichenden
Schleier der Gewöhnlichkeit des Familiendaseins im Ostblock,
in einer „Zwergenwohnung im dritten Stock eines Betonplattenbaus“. Erst die Stimme der Erzählerin definiert diese Lage
als problematisch, fordert Aufdeckung, strebt sanft, aber bestimmt die Wiederherstellung der Kontinuität an. Und zwar
der väterlichen Stimme zum Trotz: „Das war gar keine Maske.
Ich fühlte mich damals schon als Pole. Ich dachte da gar nicht
an meine Abstammung. Ich bin doch in Polen geboren. Das ist
Quatsch mit Soße.“
Dennoch färbt diese Doppelheit – einer der Bereiche der
polnischen Vergangenheit, die am stärksten tabuisiert sind –
auf das Schicksal der Familie ab, sowohl auf das unbewusste,
emotionale Schicksal als auch auf das äußerliche, reale. Die
berufliche Karriere des Vaters in der sozialistischen polnischen Armee findet ein jähes Ende, als die militärischen
Oberhäupter seine familiären Wurzeln aufdecken. Die Vertuschung einer „verdächtigen Abstammung“ ist in Polen
ein Attribut, das normalerweise den Juden zugeschrieben
wird. Was ist schlimmer für die Generation der Autorin, die
zweite Nachkriegsgeneration: das symbolische Erbe der
Opfer oder das der Henker? Die deutsche Abstammung, nur
scheinbar unsichtbar geworden, zur Gänze verschmolzen mit
der Landschaft der „wiedererlangten Gebiete“ [der ehemals
deutschen polnischen Westgebiete; A.d.Ü.] durch die Stabilisierung der Nachkriegszeit, die polnische Staatszugehörigkeit
und die Sprache, hört erst in der zweiten Generation auf, eine
Last zu sein, findet eine literarische Form, die die Ordnung
und die Existenzberechtigung wiederherstellt. In der Stimme
der Erzählerin liegt etwas wahrhaft Beruhigendes, etwas von
der haushälterischen Tüchtigkeit der deutschen Großmütter,
der Wille und die Fähigkeit, über seinen eigenen kleinen Bereich zu herrschen. Diese Stimme ist sowohl gewissenhaft –
kein Detail der Familiengeschichte geht verloren –, als auch
sparsam – der Text ist in sich geschlossen, auf das rechte Maß
zugeschnitten.
Der zweite Handlungsstrang in Niebko ist die Geschichte
von Basia, Willi-Waldeks Frau. „Mama und Papa“, wie in der
Schulfibel. Auch eines der Kapitel ist so betitelt. Die weibliche Genealogie, die mütterliche, trägt das künstlerische, zum
Hausgebrauch kultivierte Talent in sich. Basia spielt Mandoline, zieht sich gern mit Töchtern und Enkelin auf den Dachboden zurück und musiziert dort nur für sie. Neben dem
Buchtitel, der ein altes Kinderspiel bezeichnet, ist diese Szene
familiärer künstlerischer Betätigung symbolisch für den ganzen Roman. Sie steht für die Fürsorge und die Erleichterung,
die das Erzählen in sich trägt, allem väterlichen „Erzähl keinen Blödsinn“ zum Trotz.
Kazimiera Szczuka
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
BRYGIDA HELBIG
NIEBKO
GRUPA WYDAWNICZA
FOKSAL/W.A.B.
WARSZAWA 2013
123×195, 320 PAGES
ISBN: 978-83-7747-959-9
TRANSLATION RIGHTS:
GRUPA WYDAWNICZA FOKSAL
Ab nach Berlin
HIMMELCHEN
2014 also heute
Willi sammelt Osterhasen. Er bewohnt eine bescheidene
Doppelhaushälfte in einem Vorort von Stettin. Das Haus
hatte er in den achtziger Jahren zusammen mit seinem Bruder mit eigenen Händen gebaut. Unweit von hier schossen
vor ein paar Jahren, Pilzen gleich, das überdimensionale
Handelszentrum „Real“ und das ebenso geräumige Bauhaus
„Castorama“ aus dem Boden, das den aus Deutschland Anreisenden bereits einige Kilometer nach dem Grenzübergang
mit dem Werbespruch „Du baust, renovierst, richtest dich
ein“ begrüßt. In diesem Haus, auf einem Holzregal im Esszimmer, stellt der dreiundachtzigjährige Willi Osterhasen
auf, fein in Reih und Glied, vom Kleinsten bis zum Größten.
Das sieht aus, als ob die Hasen gleich im Gänseschritt losmarschieren würden, und zwar in das Gelobte Osterland.
Am besten gefallen Willi die von „Lindt“, die vergoldeten,
mit dem kleinen Glöckchen und der roten Schleife um den
Hals. Kein Mensch darf sie anfassen. HALT! Finger weg von
den Hasen!!!
Basia, etwa neunundsiebzig, ist immer in Eile. Sie stolpert, balanciert sich am Abgrund des Tages entlang, kippt
an jeder Türschwelle beinahe um. Weder hält sie die Wirbelsäule aufrecht, noch gibt ihr die Erde den nötigen Halt.
Manchmal denke ich, es würde reichen, sie mit dem Finger
anzutippen, und sie würde in tausend Stücke zerfallen. Sie
kann nicht atmen, bekommt keine Luft. Der Kopf tut ihr
weh. Andauernd brennt sie etwas an. Immerzu am Wegrennen, ständig auf der Flucht. Wenn ihre Töchter zu Besuch kommen, nimmt sie aus der Schublade die berühmt
berüchtigten Vitamintabletten „Vitaral“ und steckt sie ihnen in den Mund. „Das ist Muttis Wunderwaffe“, erlaubt sich
Tochter Ewa einen Scherz und lacht etwas verlegen, bevor
sie wieder verstummt. Sie lacht zwar, und doch schluckt sie
gehorsam eine blutrote Tablette nach der anderen, weil es
zum einen herzlos wäre, seiner Mutter zu widersprechen,
und weil sie zum anderen mittlerweile selber glaubt, dadurch vitaler zu werden. Tochter Marzena schluckt sie im
Übrigen auch, und wie sie sie schluckt! Richtig hastig.
1945
Willi ist vierzehn, das Jahr 1945 ist noch jung. Er zweifelt
stark, dass er unversehrt davon kommt. Schaut besorgt in
den Himmel hinauf. Nein, es sind keine Mückenschwärme. Es sind Bomber der deutschen Luftwaffe – die so genannten Stukas, Sturzkampfflugzeuge, die Junkers JU 87. Sie
sind überall, kommen von allen Seiten. Flink und tänzelnd
tauchen sie im Sturzflug herab und beschießen mutig die
sowjetischen Panzer und Laster – Monster, Ufos, Elefanten,
die unerschrocken Richtung Westen ziehen, zum Großen
Vaterländischen Krieg, und die Straßen verwüsten. Wehe
den Spätzündern unter den Deutschen, die sich erst kurz
davor zur Flucht aufgerafft und ihre Pferde vor die Fuhrwerke gespannt hatten. Wehe den Panzersoldaten der Roten Armee, den jungen Burschen mit den exotischen Gesichtern, die auf ihren Panzern sitzen und die Läufe ihrer
Maschinengewehre hoch erhoben halten, wie zum Gebet.
Schusssalven knallen. Menschen brüllen. Panzer gehen
in Flammen auf. Der liebe Gott versteckt sich hinter einer
Rauchwolke. Aus den Panzern rollt ein Angeschossener
nach dem anderen. Aber die Riesenraupen kriechen unbeirrt weiter, wie Roboter. Soldaty vperiod. Die Jungs sterben
wie die Fliegen und drängen dennoch unermüdlich vorwärts, nach Berlin, za rodinu, za Stalina, sie wissen längst
selbst nicht mehr wofür eigentlich. Pechschwarz von Staub
und Dreck, mit Ölfässern an Deck, bewusstlos, vom Alkohol betäubt, im Drogenrausch, in Trance, in einem miesen,
dreckigen Traum. Sie fluchen: Job, mac‘, blad‘. Die Russen.
Sie werden den Pferdewagen von Willis Mutter in Neudorf bei Gnesen einholen. Willi wird sich diesen Namen
genau merken. Jetzt wird sich alles wie im Film abspielen.
Der Junge wird genau wissen: Weg hier, runter von dem
Pferdewagen, von dem gleich nur noch Staub und Asche
übrigbleiben. Er wird runter in eine Furche oder einen
Graben springen, wie er das bei der Hitlerjugend gelernt
hat. Seine Mutter mit Knecht Kowalczyk und dem kleinen
Heinz werden auf der anderen Straßenseite ihr Glück versuchen. Er sieht es wie auf einem Bildschirm: Wie sie hinter
einem Sandhaufen geduckt lauern und auf den Tod warten.
Plötzlich wird etwas Braunes, Großes und Schweres auf
Willi herunterknallen, ein riesiges Stück Fleisch, eine absurd schwere Decke, ein monströser Fladen. Dieses Etwas
wird den Jungen niederschlagen, erdrücken, es wird feucht
und dunkel. Willi wird keine Luft mehr holen können. Auf
einmal aber wird ihn, bei fünfundzwanzig Grad Kälte, eine
behagliche und wohltuende Wärme überkommen.
Papi, erzählst du, wie es war? […]
eins, zwei, drei
die 60er jahre und heute
„Papa, woher hast du denn so einen komischen Nachnamen?“, fragten Marzena und Ewa manchmal. „Mein Gott,
woher auch!“ Waldek zuckte mit den Achseln. „Normal,
nach irgendwelchen Vorfahren, aber Leute, wann war das
schon! Irgendwelche Vorfahren waren Österreicher, was
weiß ich? Lasst mich in Ruhe und ab zu den Hausaufgaben!
Und wenn wir schon dabei sind, wer ist denn heute dran
den Müll rauszubringen?“
Selbstverständlich niemand. Und die kleine Ewa schon
mal gar nicht, das war klar. Aber Marzena gab keine
Ruhe und ermittelte weiter: „Papa, woher kannst du denn
Deutsch?“ „Mein Gott, woher auch! Ich hatte es in der Schule.“ „Weißt du was, weil ich“, Marzena stampfte mit dem
Fuß, „weil ich niemals dieses Gebelle lernen werde, Halt
und Hände hoch!“ Und als Willi einmal unvorsichtig die
Möglichkeit einer Auswanderung in die BRD erwähnte,
brüllte die Dreizehnjährige los, dass die dünnen Wände der
Miniaturküche der sozialistischen Dreizimmerwohnung
ins Wackeln kamen. „Aber ohne mich! Das, verflixt, ohne
mich! Fahrt doch alleine hin! Ich bleibe hier, hier ist meine
Heimat. Zu den Nazis NIEMALS.“
So so. Waldek, in Wirklichkeit Willi, der eigentlich
Bauer und Zimmermann wie sein Vater und Großvater
werden wollte, Hilda oder Susanne Bischoff, Börstler oder
Koch heiraten und seinen Sohn auf den Namen Heinrich
oder Rudolf taufen sollte, blieb in Volkspolen stecken, heiratete die hübsche Basia und nannte seine Kinder Marzena
und Ewa. Schnell erklomm er die Stufen der militärischen
Karriereleiter. Es hat nicht viel gefehlt, und er wäre Major
oder gar General geworden – wenn die Vergangenheit seine
Pläne nicht irgendwann durchkreuzt hätte, wenn sich das
Verdrängte und Vergessene nicht eines Tages gewaltsam
an die Oberfläche gedrängt und ihn zur Rückgabe seiner
Hauptmannsuniform der polnischen Volksarmee mit vier
Sternen auf den Schulterklappen unwiderruflich gezwungen hätte. Bis dahin wurde die Uniform in den Untiefen eines mit Ölfarbe weißgestrichenen, in eine Nische im Flur
eingebauten Schrankes aufbewahrt, wo sich ab und zu, mit
den Türen quietschend, sein kleines Töchterchen heimlich
und verstohlen hineinschlich.
Waldek tat es ein bisschen weh, wenn seine Tochter mit
solchen Sprüchen kam, dass sie niemals zu den Nazis, zu
den Deutschen will. Denn Waldek war einmal sozusagen
selbst eine Art Deutscher. Angenommen es existiere so etwas wie ein Deutscher. Nun weiß Waldek nicht mehr, ob
er Deutscher oder Pole ist. Im Grunde genommen könnte
man ihn für einen Polen halten, wenn da nicht der Umstand
wäre, dass sein Herz bei Fußballspielen Deutschland gegen
Polen doch stärker, scheinbar gegen seinen Willen, für die
Deutschen schlug und Waldek unruhig in seinem durch
lange Fernsehabende überstrapazierten Sessel zu zappeln
anfing. In seinem langen Leben war Waldek, so gut es ging,
das Eine wie das Andere. Er wechselte die Haut, zuerst um
sich durchzuschlagen, um Schlägen und Tritten, letztlich
auch dem Tod zu entgehen, dann wiederum um zu etwas
zu kommen, Ansehen und Rang zu erlangen und die Familie mit sich in die Höhe zu reißen. „Ich wechselte gar nicht
die Haut“ – widerspricht er und zuckt mit den Achseln. „Ich
war eigentlich immer derselbe.“
Ach so. Die kleine Marzena bewahrte die Sternchen
von den Schulterklappen ihres Vaters in einer Streichholzschachtel auf. Hin und wieder kontrollierte sie, ob
alle noch drin waren, sie zählte sie immer wieder durch:
Raz, dwa, trzy, cztery. Auf Deutsch konnte sie nicht zählen.
Höchstens bis drei - das hat sie auf dem Hof gelernt: „Eins,
zwei, drei wypieprzaj“. Ins Deutsche übersetzt heißt es „eins,
zwei drei, verpiss dich dabei“. Das reimt sich so schön! Noch
eins konnte sie sagen: „Guten Morgen, butem w mordę“, was
so viel bedeutet, wie „Guten Morgen, Guten Morgen, Schuh
aufs Maul und keine Sorgen“.
Aus dem Polnischen von Brygida Helbig
MICHAŁ
WITKOWSKI
DER VERBRECHER
UND DAS MÄDCHEN
© Ola Grochowska
Michał Witkowski (geb. 1975), Prosaist, einer der
führenden Schriftsteller der jungen Generation.
Ausgezeichnet mit vielen Literaturpreisen. Seine
Bücher wurden bereits in zahlreiche Sprachen
übersetzt, und die englische Übersetzung von
„Lubiewo“ – der Roman, der ihn über Nacht berühmt machte – wurde für den „The Independent
Foreign Fiction Prize“ nominiert. „Der Verbrecher
und das Mädchen“ [Zbrodniarz i dziewczyna] ist
sein siebter Roman.
„Der Verbrecher und das Mädchen“ ist, nach „Der Holzfäller“ von vor drei Jahren, der zweite Trash-Krimi von Michał
Witkowski. Er ist tatsächlich trashig, weniger pasticheartig
als über alle Dogmen erhaben, verplaudert, gespickt mit Abschweifungen und längeren Einschüben, die die Erzählung
aufbrechen und den auf Konsum eingestellten Leser verstören,
er entlarvt starre Konventionen und spöttelt noch über die
eigene schematische Anlage. Nun kann man die sonderbare
Krimiform als bloßen Aufhänger abtun oder darin einen konkreten Gewinn erkennen: Erst das Krimigerüst versetzt den
Autor in die Lage, das chaotische Stimmengewirr unter Kontrolle zu bringen. Aber es ist gar nicht so entscheidend, auf
welche Weise Witkowski sich populärer Genremuster bedient,
da er sich ohnehin nicht an ausgemachte Krimifans richtet,
sondern an Witkowskileser, zumal an diejenigen, die seinen
Erfolgsroman „Lubiewo“ (2005, deutsch: 2007) noch in guter
Erinnerung haben. „Der Verbrecher und das Mädchen“ bietet
im bisherigen Schaffen des Breslauer Autors das Höchstmaß
an Recycling: Hier kehren Motive, Figuren und Handlungsorte nicht nur aus seinem Romandebüt wieder, sondern auch
aus dem „Holzfäller“.
Wie schon im „Holzfäller“ ist der Protagonist ein Schriftsteller namens Michał Witkowski oder kurz Michaśka. Wieder befinden wir uns in der kalten Jahreszeit (die Handlung
spielt im November/Dezember 2012), und wir kehren sogar
für einige Tage nach Międzyzdroje zu guten alten Bekannten
zurück (der „Kerl“ Mariusz, Holzfäller Robert u.a.). Hauptsächlich bewegen wir uns jedoch in Wrocław, wo ein Irrer
umgeht, den die Polizei „den Vorkriegsmörder“ getauft hat. Er
macht Jagd auf verwahrloste junge Burschen, setzt sie außer
Gefecht, steckt sie in Kleider aus der Zeit vor dem Krieg und
bringt sie anschließend um. Teilweise richtet er seine Opfer
grausam zu – vergewaltigt sie, fügt ihnen Schnittwunden zu
oder schaut in die geöffnete Bauchhöhle. Hat er sein finsteres
Zeremoniell vollendet, lässt der Mörder die Leichen an Orten
zurück, an denen sich vor dem Krieg die Breslauer Schwulen
und Lesben getroffen haben; die meisten dieser Orte – und das
ist wichtig – wurden bereits in „Lubiewo beschrieben“.
Im Roman gerät Michał Witkowski unter Verdacht, nicht
zuletzt, weil Michaśka Informationen über die ermordeten
Jungs und das Vorgehen berüchtigter Serienmörder sammelt.
Als Hauptverdächtigter tappt er in eine Falle der Ermittler:
Ein attraktiver Beamter (Studi) bringt es fertig, dass sich
Michał auf den ersten Blick in ihn verliebt, genauso schnell
verschafft ihm der Polizist jedoch ein Alibi. Michaśka kann
nicht der Vorkriegsmörder sein. Und hier geschieht nun etwas Seltsames: Michał entwickelt sich zunehmend zu einer
Art selbst ernanntem Polizisten, seine Rolle bleibt jedenfalls
nicht auf die des Beraters in den laufenden Ermittlungen beschränkt.
Die Wandlung vom Schriftsteller zum Polizisten ist elementar. Der Protagonist betont mehrfach, er habe mit der Literatur gebrochen, da er zutiefst von ihr enttäuscht sei. Er tritt
seit längerer Zeit auf der Stelle, und es bleibt unklar, was er
außer der regelmäßigen Betätigung im Fitnessstudio noch so
treibt. Er feiert sich wohl vor allem selbst, nicht nur, indem er
bei jeder Gelegenheit an seine schriftstellerischen Lorbeeren
erinnert, die, wiewohl ziemlich welk geworden, seine stärkste
Trumpfkarte sind. Neben seinem Engagement in den Ermittlungen wird Michaśka zu einem Sammler oberflächlicher
Eindrücke, einem Experten für Stil- und Modefragen und zu
einem Reiseführer durch die polnische Konsumlandschaft.
Seine sterile „Plastikexistenz“ geht ihm mächtig an die Nieren – der Eintritt in die Welt von Kriminalität und Perversion
ist seine einzige Chance auf Wiederbelebung.
Dariusz Nowacki
MICHAŁ WITKOWSKI
ZBRODNIARZ I DZIEWCZYNA
ŚWIAT KSIĄŻKI,
WARSZAWA 2014
215×130, 432 PAGES
ISBN: 978-83-7943-284-4
TRANSLATION RIGHTS:
ŚWIAT KSIĄŻKI
Samstag, 1.
Dezember 2012
DER VERBRECHER
UND DAS MÄDCHEN
Am Samstag riss mich das schrille, ungefilterte Läuten der
Klingelanlage grob aus dem Schlaf. Ich hatte in letzter Zeit
nichts im Netz gekauft, deshalb dachte ich überhaupt nicht
daran, den Hörer abzunehmen, bestimmt irgendwelche
Kinder, die Klinken putzen. Aber da klingelte einer mit
der Hartnäckigkeit eines DHL-Zustellers, und kurz darauf
schellte es auch an meiner Wohnungstür. Ich quälte mich
aus dem Bett und schaute durch den Spion. Studi mit weiblicher Verstärkung. Polizei also.
– Sekunde!
Mit einem Blick in den Spiegel in der Diele konnte ich
feststellen, dass ich wie üblich nach dem Aufstehen aussah
wie eine Mischung aus Serienmörder und fünf Monate alter
Wasserleiche. Da war nichts zu machen. Ich warf meinen
Morgenmantel über und beschloss, wie in einem amerikanischen Film aufzutreten – die Polizei kommt, und ich sitze
mit Handtuchturban auf dem zerwühlten Bett, biete weder
Kekse noch Kaffee an, nada. Als hätte ich täglich die Bullen
in meiner zwielichtigen Absteige zu Gast.
So hatte ich den alten Studencin noch nicht erlebt. Seit
unserem Abschied gestern am Taxistand in der Wystawowa
hatte er sich nicht umgezogen und war auch nicht zu Hause
gewesen, also hatte er auch nicht geschlafen. Er hatte sich
weder das Gesicht gewaschen noch die Zähne geputzt und
trug eine entsprechende Wodkafahne vor sich her. Seit gestern war die gesamte Ironie und aller Witz verflogen, die
penetranten Sterne in den Augen waren erloschen, die ironischen Fältchen zu Greisenrunzeln erstarrt, keinerlei Fantasy mehr, keinerlei Zauber, er ist jetzt ganz einfach hier,
ist mit Blaulicht hierher gebrettert, um mich einzubuchten,
und jetzt ist Schluss mit lustig, Krystyna Janda wacht schon
im Gefängnis auf und weiß nicht, wo sie ist, sie sucht diese
rote Tasche und die Alte informiert sie darüber, dass einem
hier die Taschen abgenommen werden.
Neben Studencin stand eine kurz geratene, auffallend
füllige Frau, die ich schon gestern in der offenen Wohnheimtür aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte. Sie
schenkte mir ein müdes Lächeln und stellte sich als Staatsanwältin Joanna Pospieszalska vor. (Das war also auch
schon diese ganze Joasia, die ihn gestern unter der Brücke
angerufen hatte). Entgegen meiner ursprünglichen Intention, sie wie die Nutte im Loch zu empfangen, erwachte
plötzlich meine Mutter in mir, ich war meine gastfreundliche Mama, und die musste sich unverzüglich für das Durcheinander entschuldigen, erklären, sie sollten unter keinen
Umständen die Schuhe ausziehen, ihnen einen Sitzplatz anbieten, Kaffee, Tee, Kekse, Mittagessen, freie Kost und Logis
auf Lebenszeit … Das alles tat ich, während ich Studencin
heimlich auf einer anderen Ebene ironisch zu verstehen
gab, dass da nur meine treu sorgende Mutter aus mir sprach,
aber ich weiß nicht, ob er in der Laune war, derlei Feinheiten wahrzunehmen. Er ließ sich schwer aufs Sofa fallen und
schlug die Hände vors Gesicht.
Die Staatsanwältin studierte Buchrücken, nahm sich
die Übersetzungen meiner Prosawerke vor, die sie kurz
durchblätterte und anschließend ins Regal zurück stellte.
Dann betrachtete sie das Jelinekfoto auf Tonpapier mit den
konzentrisch sich weitenden Kreisen und dem Dartpfeil
im Auge der großen Schriftstellerin. Sie wechselte einen
vielsagenden Blick mit Studi nach dem Motto: „Volltreffer,
das ist der Psycho, der Serienmörder, hinter dem wir her
sind.“ Gänzlich sicher war sie sich, als sie die Sammlung an
die Wand gepinter Meldungen über die ermordeten Jungen
entdeckte. Volltreffer, seine Trophäen.
Doch nicht. Studencin beruhigte mich sogleich, ich würde überhaupt nicht verdächtigt, da ich ja gestern, während
der Mörder die Leiche beim Bliźniak-Wohnheim platzierte,
mit ihm unter der Zwierzyniecki-Brücke gewesen sei. Deshalb könnten sie mir ein paar Sachen erzählen, nicht viel,
aber doch etwas, denn sie bräuchten meinen Rat …
– Literarischen Rat … gewissermaßen … – stotterte er.
– In welchem Bereich? – fragte ich arglos.
– Hör schon auf, Michaś, ich weiß doch, dass du gestern
sofort da hingefahren bist, ich hatte extra die Adresse so
laut gesagt, ich weiß ja wie nasew… also, dass das literarisch
für dich interessant sein könnte, und …
Hier geriet er erneut ins Stocken und zündete sich ohne
zu fragen dreist eine Zigarette an.
– Bitte, nehmen Sie doch von den Keksen. Vollkorn, ohne
Zuckerzusatz, mit Gojibeeren, biologisch-dynamisch-organisch – pries meine Mutter in mir an und schenkte Kaffee
ein.
– Hör endlich auf damit, Misiek – stöhnte Studencin. Der
Rauch hing schon unter der Decke, und er bedachte den
Kaffee mit einem Blick, der erkennen ließ, wie viele solcher
Tassen er letzte Nacht geleert hatte. Er legte seine Zigarette
auf einem Aschenbecher ab, den ich ihm hingestellt hatte.
Studencin verbarg sein zerknautschtes Gesicht in den Händen, verharrte eine Weile so, als wollte er sich sammeln, die
letzten Kräfte zusammenkratzen, dann rubbelte er sich das
Gesicht und zog sich die Wangenhaut lang. Das Weiß seiner
Augen war von roten Äderchen durchzogen. Die Staatsanwältin dagegen, frisch wie ein Röslein, bediente sich brav
bei den Keksen, zeigte sogar richtigen Appetit und bat statt
des Kaffees um einen Tee.
– Pass auf. Ich erzähl dir ein paar Takte, aber wenn du
irgendwem etwas weitererzählst, kriegst du Ärger, dafür
werde ich sorgen. Da wird keine Prosa draus, keine heißen
Anekdötchen für das nächste Interview, von wegen Żmija
hat dir seinen Elektroschocker geliehen und dann Schwierigkeiten in der Antiterroreinheit bekommen …
– Ach Gottchen, ist doch klar …
Nun sag schon, sag!
– Es geht um diesen Mord gestern am Wohnheim. Wie
bring ich das am besten auf den Punkt?
– Hast du schon vom „Vorkriegsmörder“ gehört? – rettete
die Staatsanwältin Studencin.
– Nein.
– Na bitte. Und weißt du, wieso nicht? Weil wir das bislang aus den Medien raushalten konnten. Aber die Sache
beschäftigt uns schon seit Mai. So … Und wenn jetzt etwas
nach außen dringt, bist du dran. Das geht nicht. Das ist mir
jetzt bitter ernst.
Hab ich gemerkt. Er kommt sowieso dahinter, und dann bin
ich fällig.
– Ich bin schon den ganzen Sommer und den ganzen
Herbst da dran, vielleicht war ich auch deshalb manchmal
nur schwer zu kriegen. Jetzt hatte ich mehr Luft, weil ich
dachte, wir hätten ihn. Was ist das denn, du trägst Damenringe? Egal. Im Mai hat alles angefangen …
der vorkriegsmörder
Langes Wochenende, 1.-4. Mai 2012. Die Stadt der Begegnung keucht unter der großen Erwärmung, krepiert, badet
in der Oder, im Morskie Oko, den Glinianki oder im dichten
Vorgewittersmog. Über Wrocław schwimmen weiße Flugzeuge durch den sengenden Himmel, exakt ausgeleuchtet
von den gnadenlosen Strahlen. Sie transportieren komplett
entwaffnete, um ihre Scheren, Nagelfeilen, Flüssigkeiten
und Taschenmesser beraubte, wehrlose, von der Sonne geblendete Postmenschen.
Am Boden eingegangene Forsythien: Alles, was erst noch
aufblühen sollte, liegt schon welk und verstaubt, begraben
unter öligen Abgasen. Leere, keine Staus, freie Parkplätze,
alle sind über das lange Wochenende weggefahren. Nur auf
dem Ring kulminiert die Belagerung. Massen von Trommlern, Dreads und Rastas, von diesen Typen, die in ihren
surrealistischen Kostümen reglos dastehen, wie der Turmmann, deutsche Touristen, schwedische Touristen und alle,
die nicht zu Hause sitzen oder auf Mallorca rumliegen wollen, sondern unbedingt in mittelgroße Städte ohne richtige
Attraktionen reisen müssen, die ihnen dieselben Waren in
denselben Warenhäusern zu bieten haben wie zu Hause.
Am Gläsernen Brunnen, dem ganzen Stolz des Stadtrates,
mischen sich Englisch, Deutsch und nicht näher identifizierbares schweizerisch-holländisches Geblubber mit dem
Wasserglucksen und dem Geruch von Gras, Zigaretten, Bier,
Gegrilltem und erhitzten Gebäuden. Am Flughafen Strachowice, der für die EM hastig ausgebaut wurde, kampieren
junge Leute, schmutziger als es Gottes Schöpfung erlaubt,
verschmutzt mit internationalem Schmutz, den sie von
Land zu Land weitertragen, bestäubt mit globalem Staub,
Schengenstaub. Überall verteilen sie ihre Pappbecher von
Starbucks, Coffeeheaven, Green Coffee, McDonald's usw.
Sie spielen Gitarre und stellen diese Pappbecher auf, damit
man ihnen gleich seine Euros hineinwirft, denn sie wissen
nicht einmal mehr so richtig, in welchem Land sie gerade
sind. Von Amsterdam nach Rom, von Rom nach Oslo, von
Oslo nach Zürich, von Zürich nach Helsinki, von Helsinki
nach – hoppla – Wrocław. Per Anhalter durch die Lüfte.
Flugzeugtramper in luftigen Chucks. […]
– Schon um vier Uhr früh laufen in hautenge Anzüge
geschnürte Jogger durch den Szczytnicki-Park, und einer
von ihnen will mal Wasser lassen, also – das ist was für dich,
Misiek – läuft er zu dem Häuschen aus der Vorkriegszeit,
das du in „Lubiewo“ verbrannte Klappe genannt hast … Die
verbrannte Klappe ist, wie du weißt, eingezäunt und soll abgerissen werden, aber sogar der Zaun ist schon eingestürzt
und niemand interessiert sich weiter für diese Ruine. Der
Jogger geht also da rein und schreckt gleich wieder zurück
wegen des bestialischen Gestanks und der angreifenden
Fliegen- und Mückenschwärme. Aber da hat er schon etwas
gesehen, das ihn bis an sein Lebensende in seinen Träumen
verfolgen wird.
Aus dem Polnischen von Thomas Weiler
MARIUSZ
SIENIEWICZ
DIE KOFFER
DES HYPOCHONDER
© Elżbieta Lempp
Mariusz Sieniewicz (geb. 1972), Schriftsteller.
Auf der Grundlage seiner Romane entstanden
einige Theateraufführungen. Seine Bücher wurden ins Deutsche, Litauische, Russische und Kroatische übersetzt. „Die Koffer des Hypochonder“
[Walizki hipochondryka] ist sein siebter Roman.
Emil Śledziennik – der Hypochonder im neuesten Roman von
Mariusz Sieniewicz – ist der Meinung, dass Packen Minimalismus lehrt. Wenn das stimmt, dann kann er wirklich nicht
packen. Seine Geschichte über einen mehrtägigen Krankenhausaufenthalt in der polnischen Provinz stopft er bis an die
Grenzen des Möglichen voll mit Kindheitserinnerungen, Liebeserklärungen an die Frau seines Lebens, Tiraden gegen den
hinterwäldlerischen Patriotismus, Loblieder auf Schmerzmittel, schriftstellerisch-grafomanische Autoreflexionen (denn
als alter ego des Autors ist auch er Schriftsteller) sowie ironische Reflexionen über Leben, Tod und alles Mögliche.
„Die Koffer des Hypochonder“ ist ein echter Barockroman. Hier trieft jeder Satz vor Metaphern, jedes Kapitel
schließt mit einer brillanten Pointe, jede Geschichte ist überzeichnet und so stark wie möglich ausgeschmückt. Das ist
Gombrowicz'sches Barock, ein groteskes Barock. Die ironischen Konzepte und höfischen Fazetien haben einen einzigen Zweck: „Polen töten – das wäre was! Allein das Vorhaben
schien mir sensationell wegen seiner Anmaßung.“ Emil schert
sich nicht um politische Korrektheit, aus den polnischen Heiligtümern macht er sich nichts, jeden Tag träumt er davon
auszureisen und denkt darüber nach, ob all das für Polen vergossene Blut ein Gewässer der Größe des Śniardwy-Sees oder
vielleicht der Ostsee ergeben würde. Śledziennik kann Polen
nicht ausstehen dafür, dass es ihm die Luft nimmt.
Aber er gibt nicht so leicht auf. Er sichert sein Ego, indem
er es fest in sehr verschiedenen Diskursen verankert. Vor allem ist da die Krankheit – die Hypochondrie, zu der er sich
selbst offen bekennt, indem er sagt, er sei immer krank gewesen und hätte alles gehabt, was man nur haben konnte:
„Dyskalkulie bis zum zwanzigsten Lebensjahr und Dysmemorie dann ab dem einundzwanzigsten.“ Wie es sich für einen
Hypochonder gehört, ist er ausschließlich in seiner Fantasie
krank. Aber dieses Kranksein ist für ihn umso schlimmer und
heftiger. Denn im Grunde lebt der ganze Protagonist gänzlich,
bis zum Ende und noch einen Schritt weiter, in der Fantasie,
in ihrer surrealistischen Verzerrung, in einem traumartigen
Staunen und in konfabulierender Verlogenheit. In der Sprache wächst er, findet Erfüllung, und in der Sprache liebt er.
Dieser Roman ist voller seltsamer, aber außergewöhnlich
schöner Geständnisse und Apostrophen: „mein morphiöses
Sahnetörtchen, mein heroinöses Cremeküchlein, dank dir
existiere ich in mehreren Welten gleichzeitig!“
Śledziennik ist ein süchtiges Subjekt. Süchtig nach allem.
Nach Schmerztabletten, nach Nörgelei, nach der Frau seines
Lebens, nach dem Erfinden von Geschichten, er ist süchtig
danach zu reden. Sieniewiczs Buch liest man in einem Zug
durch, weil es eigentlich keine Stelle gibt, an der man es auch
nur für einen Augenblick weglegen könnte. Eine Pause in der
Lektüre würde bedeuten, Emil mitten in einem Atemzug zu
unterbrechen und ihn zu ersticken. Emil lebt in seinem Körper, weil er sich ununterbrochen mit seinem Körper beschäftigt und ihn analysiert. Er weidet sich an dem Anblick von
Gallensteinen, findet Geschmack an Ketoprofen, aus der Rasur
seines Unterbauches vor einer Operation kreiert er die Metapher eines lächerlichen menschlichen Schicksals, und seinen
ganzen zweifelsohne schönen, wenn auch ungeschickten Lyrismus nennt er hormonell. Barock ist dabei, Gombrowicz ist
dabei, dabei ist auch „die Krankheit als Metapher“ und der
Topos des Schriftstellers, der sich von der Krankheit inspirieren lässt.
In den Koffern verschließt Sieniewicz die literarische Tradition, aktuelle Stile und Sprachen, Erinnerungen und Erfundenes, Gefühle und Reflexionen. Es drängt sich der Gedanke
auf, dass das Schreiben an sich Hypochondrie ist. Schreiben
ist die Einstellung, dass in mir etwas sehr Bedeutendes und
Außergewöhnliches steckt, etwas, was niemand anders hat
und was keiner je vorher gesagt hat, was aber gesagt werden
muss. Es lohnt sich, die Hände in „Die Koffer des Hypochonder“ zu tauchen. Man fischt eine ganze Masse intelligenten
Humors und zynischer Reflexionen aus ihnen heraus. Dahinter steckt ein geistreicher Schriftsteller.
Iga Noszczyk
MARIUSZ SIENIEWICZ
WALIZKI HIPOCHONDRYKA
ZNAK, KRAKÓW 2014
140×205, 272 PAGES
ISBN: 978-83-240-3210-5
TRANSLATION RIGHTS: ZNAK
Ich öffne
DIE KOFFER
DES HYPOCHONDER
die Augen. Wieder die Decke, die Wand, meine Zehen, die
unter der Bettdecke hervorschauen. Und die Enttäuschung,
ja Enttäuschung, dass ich mehr hier bin als dort. Ich belohne sie mir mit dem Klang Deines Namens.
Bis jetzt ist es nicht so schlimm. Ein paar Erinnerungen,
ein wenig leichtes Träumen. Das sind die unsichtbaren
Koffer, die ich mitgeschleppt habe, außer dem mit dem
Schlafanzug, dem Handtuch und dem Buch „Tod der schönen Rehböcke“. Ich öffne die Koffer auf gut Glück, ohne eine
bestimmte Absicht. Ich schaue vorsichtig hinein, bin nicht
ganz sicher, was sie verbergen. Wie dem auch sei, das Krankenhaus ist eine besondere Form des Reisens: je länger du
liegst, umso weiter entfernst du dich von der Außenwelt,
umso öfter gehst du über deinen eigenen Körper hinaus,
überschreitest dabei gleichzeitig immer wieder die Grenzen
des Gedächtnisses. Es ist gut, soviel Gepäck wie möglich zu
haben, selbst eine scheinbar unwichtige Erinnerung kann
nützlich werden, denn keiner weiß, wie lange die Reise
dauert und wohin sie führt.
Ich will daran glauben, dass Ketoprofen mir ermöglicht, die erste Nacht ohne Dich zu überstehen. Du weißt,
wie sehr ich mich vor Schmerzen fürchte, aber noch mehr
fürchte ich Deine Abwesenheit … Ich würde viel darum
geben, das alles rückgängig zu machen und wieder neben
Dir einzuschlafen. Ich schwöre: ich würde Dich nicht einmal in Gedanken betrügen, ich würde die Kombination aus
männlichen Depressionen und narzisstischen Frustrationen
– was für Dich sicherlich das gleiche ist – auf ein Minimum
reduzieren. Ich würde abends nicht mehr verschwinden im
Bermudadreieck aus Sofa, Kühlschrank und Fernseher. Ich
würde mein Gesicht nicht mit Zeitungsplanen zudecken.
Ich würde endlich den Charme unserer geruhsamen Gespräche schätzen.
Reicht nicht? Dann pass auf! Ich hoffe, Du sitzt.
Für Dich würde ich selbst der kleinsten Krankheit entsagen, kein Wort würde ich stottern über die mich durchdringenden Schmerzen. Nie wieder Lobreden auf Depressionen
und Selbstzerstörung, nie mehr dieses: „Oh, schau mal, ich
habe das was am Hals“, oder „Oh, fühl mal, ob du hier auch
einen Tumor spürst?“. Dafür würde ich Deine Röcke und
Kleider bügeln lernen, jede Plisseefalte wäre wie am Lineal
ausgerichtet. Ich würde Deine verlorenen Kniestrümpfe
finden, die einzelnen, ach – und das Waschmaschinenprogramm wäre kein Geheimnis für mich. Für Dich wäre
ich ein Rennfahrer auf den Strecken aller Biedronka- und
Lidl-Supermärkte. Für Dich würde ich Geschirr spülen:
ich würde meine Hände ins Abwaschbecken tauchen, ich
würde die Teller vom Mittagessen herausangeln, das Besteck und die Töpfe, die wie glänzende, silberweiße Fische
sind, und jeder wäre Dein Goldfisch. Für Dich würde ich
ein Jünger der Paneelen und Fußböden werden und ihnen
mit dem Putzlappen eine Verbeugung erweisen. Für Dich
würde ich den Staubsauger in den Zimmern ausführen wie
einen gezähmten Ameisenbär auf einen Spaziergang. Ich
wäre Dein Hausmann! Dein Ukrainer! Dein heißblütiger
Südländer – Spanier oder Italiener, und am Zahltag russischer Oligarch mit der Oberflächlichkeit eines Schweden!
Bis an mein Lebensende würde ich Dich an den Füßen kitzeln und wie Marco Polo die erogenen Kaps Deines Körpers
entdecken. Natürlich wären Deine und nur Deine Begehren
für mich der Kompass! … Jeden Abend würde ich Dir ein
heißes Bad bereiten mit Ölen und Räucherstäbchen. Jeden
Morgen würde ich Dir im Maul die Latschen bringen, und
in der Hand ein Glas Mojito! …
Das ist kein Pathos, wundervolle Priesterin. Das ist Liebe! Die wahrste, die ehrlichste.
Meine Hände hören auf zu zittern, das Blut fließt ruhiger. Ich greife nach der Mineralwasserflasche. Ich trinke
einen Schluck, reibe die Zunge am Gaumen. Es schmerzt
viel weniger, fast gar nicht, obwohl das Gesicht weiter starr
wird in der Maske der Qual, als wäre ein anderer, sanfterer Ausdruck nicht möglich. Ich habe nicht einmal Lust zu
rauchen, dabei habe ich schon den ganzen Tag nicht geraucht. Glaube mir, ich ruhe mich aus. Ich ruhe mich aus
vom obsessiven Nachdenken über mich im erbärmlichen
Hier und verfluchten Jetzt. Ketoprofen hilft. Es ist nicht
nur ein Dschinn, sondern auch meine Ariadne – aus dem
Nervenbündel, das ich bisher war, zaubert sie einen langen und festen Faden der Beruhigung. Der führt mich heraus aus dem Labyrinth meines eigenen Ichs. Es gibt nichts
Schöneres als sich für einen Augenblick vom eigenen Ich zu
befreien! Als würde ich aus mir heraustreten, mich neben
mich stellen und plötzlich peinlich berührt sein von diesem
verschrumpelten vierzigjährigen Mann mit einer Grimasse
des Schmerzes, mit dem brennenden Vorwurf in den Augen,
dass ihn das Schicksal so unelegant behandelt hat. Manchmal habe ich den Verdacht, dass mein Leid an Autoerotik
grenzt. Und als solches bildet es sich ein, dass es aufregend
unabhängig ist.
Zum Glück verändert sich die Situation. Ich kann gelassen an andere Menschen denken, schließlich gibt es noch
andere Menschen. Endlich bin ich in der Lage, die Welt mit
befreiten Sinnen zu spüren, ich – der Whitman des Krankenhauses! Ich – Leśmian! Wie schön gestärkte Bettwäsche
riecht! Wie angenehm sich der Schlauch des Tropfes anfasst! Ich drehe zwischen den Fingern diese Nabelschnur,
die Euphorie pumpt.
Ich muss Dir gestehen, dass mich die Schwester verzaubert hat – die Oberschwester Krystyna mit dem vielsagenden und hoffnungsvollen Nachnamen: Ceynowa1. Nein,
keinerlei unartige Gedanken, auch keine Schmetterlinge
im Bauch, ich schwöre es! Gedanken – ausschließlich platonisch, und wenn Schmetterlinge – dann nur metaphysisch.
Denn überleg mal: Beginnt und endet nicht alles bei den
Schwestern? Bei ihnen werden wir geboren und bei ihnen
sterben wir. Wenn sie es sagen, ziehen wir uns in ihrer
1
Krystyna Ceynowa lebte auf der Halbinsel Hel; sie war die Witwe eines
Fischers. Aus verschiedenen Gründen wurde sie verdächtigt, eine Hexe zu
sein. Die Behörden waren jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bereit,
einen Hexenprozess durchzuführen. Deshalb wurde sie 1836 von der Gemeinschaft in einem Lynchmord umgebracht. Sie gilt als eine der letzten
„Hexen“.
Gegenwart nackt aus wie gehorsame Kinder, nicht selten
geben wir dabei schamvolle Sekrete ab. Sie sind unsere
Stiefmütter für eintausend siebenhundert auf die Hand.
Sie sind unsere Heiligen der Spritzen, Tabletten und Tröpfe.
Denkt jemand an sie außer dem Patienten, der in die Hose
macht? Ist ein einziges Denkmal ihnen zu Ehren entstanden,
das den größten Helden würdig wäre? Statt Poniatowski,
Kościuszko, Piłsudski, statt dem Wunder an der Weichsel
hätte ich lieber eine Schwester nach dem Nachtdienst! Statt
zig Aufständischer, statt Geheimpolizisten und verfemten
Soldaten, würde ich auf den Sockeln der nationalen Sache
lieber die herausgestreckte Brust einer Krankenschwester
sehen! Krankenschwestern haben mehr verdient als Kaffee, Schokolade und – notfalls – Blumen. Der Mehrheit ist
es nicht einmal gegeben, an den weißen Umschlägen zu
riechen. Für die weißen Umschläge sind die Taschen der
Arztkittel da.
Mein Loblied zu Ehren des niederen medizinischen Personals übertönt nicht die Krankenhaushasser, die den Krankenschwestern Volkspolen-Gewohnheiten vorwerfen und
dass sie die Patienten wie Kartoffelsäcke umbetten. Großer
Gott, lasst uns Maß und Ort kennen! Schließlich arbeiten sie
inmitten von Gejammer, Klagen und Stöhnen, und nicht in
der diplomatischen Vertretung in Brüssel. Im Übrigen will
ich Dir als Beweis dafür, dass ihnen vieles verziehen werden muss, eine rhetorische Frage stellen: Wer hat Zugang
zum magischen Schränkchen, das mit einem Schlüssel verschlossen ist?
In diesem magischen, geheimnisvollen Schränkchen
liegen schamlos Ketoprofen und Nalorphin! In Kartons,
Fläschchen, Ampullen. Neben Einwegnadeln, Pentazocin,
Dolargan, Tramal, Morphin, die sich zu mehrstöckigen Häusern zusammenfügen, oder gar zu Hochhäusern, und die
Skyline von Manhatten-Extasy ergeben. Es gibt noch andere Antidepressiva und Barbiturate mit geheimnisvollen
Namen – weder ist das Latein, noch von Tolkien. Stell Dir
nur vor: jede Ampulle ist das Paradies in Flüssigform, das
sind die Bahamas, milliliterweise injiziert! Jede kleine Pille
ist Atlantis im Meer des Leidens, das ist das Gelobte Land,
serviert in durchsichtigen Gläsern … Das ist das Große Buch
des Vergessens! Einfach schlucken, die Venen straffen, um
mehr bitten!
Das magische Schränkchen, das geheime Schränkchen
habe ich heute durch die angelehnte Tür des Behandlungszimmers gesehen. Beinahe hätte ich vor Glück geweint. Die
Station ist gut versorgt, man kann mit Schmerzen in den
Krieg ziehen. Ich muss mich nur mit den Schwestern gutstellen. Nicht widersprechen, sich nicht beklagen, nicht wegen jeder Kleinigkeit klingeln, und nachts schon gar nicht
– selbst wenn ich unter Qualen zugrunde gehen würde. Wer
eine Schwester in der Nachtschicht weckt, hat verspielt,
es wäre besser, wenn er gar nicht erst geboren wäre. Am
nächsten Tag bekommt er natürlich Aspirin oder Ibuprom.
Könntest Du mir ein paar Lindt-Schokoladen mitbringen? Die großen, mit Nüssen. Und Kaffee, am liebsten den
löslichen von Jacobs.
Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska
JOANNA
BATOR
DER HAI AUS DEM
YOYOGI-PARK
© Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute
Joanna Bator (geb. 1968), Schriftstellerin, Publizistin, Universitätsdozentin. Nike-Preisträgerin
für ihren „Roman Dunkel, beinah Nacht“ [Ciemno,
prawie noc; 2012]. Kennerin und Liebhaberin der
japanischen Kultur, was sich u.a. in ihrem neuesten – schon achten – Buch „Der Hai aus dem Yoyogi-Park“ [Rekin z parku Yoyogi] niederschlägt.
„Der naive Reisende – und ‚naiv‘ muss nicht ‚dumm‘ heißen,
sondern kann auch einfach ‚vertrauensvoll‘ bedeuten – sucht
hier immer das Exotische und Originelle, das echt Japanische.
Das ist eine verständliche Phantasie, denn schließlich ist ‚das
Andere‘ immer eine Quelle der Phantasmen, ein unergründlicher Bereich, aus dem Liebe und Hass erwachsen. Es erlaubt
uns, die eigenen Grenzen nachzuziehen, macht uns bewusst,
wer wir sind und wer wir nicht sein wollen, und öffnet uns
zugleich für das Unbekannte. Nach vier Jahren in Japan habe
ich mein eigenes Phantasma des Japanischen und radikal Anderen, und wenn ich irgendwo auf der Welt plötzlich dieser
meiner ‚Japanischkeit‘ begegne – in einer Landschaftsgestaltung, einer bestimmten Dekoration, in der Art, wie jemand
gekleidet ist, oder dem Duft des Shiso, der auf meinem polnischen Balkon wächst –, dann weiß ich, dass ich mich in
meinem eigenen japanischen Märchen bewege, das von jener
Art Sehnsucht durchdrungen ist, die keine Rückkehr braucht,
sondern lediglich tägliche Übungen des Sinnesgedächtnisses.“
Joanna Bator begann ihr japanisches Märchen bereits vor
einigen Jahren zu schreiben, als sie „Der japanische Fächer“
[Japoński wachlarz] veröffentlichte. Danach kamen die „Wege
zurück“ zum Fächer [Powroty], also die erweiterte Ausgabe
des Buches. Im jetzigen Band „Der Hai aus dem Yoyogi-Park“
dagegen sind ein paar Dutzend kurze Texte gesammelt (ein
Teil davon ist bereits vorher in der Presse erschienen), die
nächste Etappe von Bators japanischem Abenteuer.
Wer von den Ritualen der Teezubereitung, den Seidenstoffen des japanischen Kimonos oder der Tradition des Kabuki-Theaters lesen will, hat bei Bator nichts verloren. Diese
Elemente der japanischen Kultur streift die Autorin nämlich
nur kurz und konzentriert sich dann mehr auf das cool Japan,
das heutige, globalisierte und – genau aus diesem Grund, auch
wenn das etwas paradox klingt – am wenigsten bekannte Japan. Sie schreibt über die Cosplayers: Lolitas mit kindlichen
Baumwollhöschen und süßen Katzenohrmützen, die ihre Popos in die Kamera strecken. Über die Otaku: junge männliche
Mangafans, die das Haus kaum noch verlassen und vor allem
in einer virtuellen Computerwelt leben. Über die japanische
Unlust auf echten Sex und die Neigung zum Fotografieren
leerstehender Häuser. Über den Godzilla als psychoanalytisches Phantasma, in dem gesellschaftliche Traumen wiederkehren. Über die Faszination für Murakami und die Kultur
des Servierens von Sushi.
Ihr neues Buch erinnert an ein anderes, das, außer dem
japanischen Thema, rein äußerlich nicht viel mit ihm gemein
hat: „Das Reich der Zeichen“ von Roland Barthes (den Bator
im Übrigen sehr verehrt). Beide Texte versuchen, mit offenen Augen, absolut unvoreingenommen und vorurteilslos
auf Japan zu blicken, beide überzeugen darin. Aber sie haben
ebenfalls beide das Bewusstsein, dass ihre Sicht auf Japan belastet ist (sein muss) von persönlichen – polnischen oder französischen, Gender- oder homosexuellen, anthropologischen
oder (post)strukturalistischen – Erfahrungen und Kategorien, aus denen es kein Entrinnen gibt. Statt sich krampfhaft
zu bemühen, sich selbst und die eigene Kultur zu vermeiden,
schieben somit beide Texte und beide Autoren diese in den
Vordergrund und bedienen sich ihrer zum eigenen Nutzen.
Bator bemerkt, Japans Kunst und Kultur – von den Holzschnitten der Edo-Epoche bis hin zu den heutigen Fernsehern
mit Flachbildschirmen – sei zweidimensional, superflat. Die
Anthropologin erkennt diese Zweidimensionalität nicht nur
ganz genau und schreibt hervorragend über sie, sondern
macht sie auch zu ihrer eigenen Methode, die japanische
Welt zu erfahren. Sie hat noch immer (trotz der dort verlebten
Jahre) das Bewusstsein, in Japan jemand von außen zu sein,
jemand, der nicht in die Tiefe dieses Landes und seiner Kultur vorzudringen vermag. Das Einzige, was so ein Zugereister
tun kann (und Bator tut es ganz ausgezeichnet), ist, die ihm
zugängliche flache Oberfläche zu betrachten: eingehend und
unter Wahrung des forscherischen Anstands, in akribischer
Berücksichtigung aller Details der japanischen zweidimensionalen Landschaft.
Iga Noszczyk
JOANNA BATOR
REKIN Z PARKU YOYOGI
GRUPA WYDAWNICZA
FOKSAL/W.A.B.
WARSZAWA 2014
140×200, 380 PAGES
ISBN: 978-83-7747-975-9
TRANSLATION RIGHTS:
GRUPA WYDAWNICZA FOKSAL
Die Lolita-Brüder
DER HAI AUS DEM
YOYOGI-PARK
Man kann sie zum Beispiel in Shibuya sehen. Das ist ein
Stadtbezirk an der Yamanote-Bahnlinie, die rund um Tokios Zentrum führt. Vor der Station steht die Figur des
berühmten Hachikō, eines treuen Hundes, der sogar nach
dem Tod seines Herrchens noch unbeirrbar auf es wartete.
Hier sind immer wahre Menschenmassen, sodass der kleine
Hund aussieht wie das Objekt eines animistischen Kultes,
umringt von Pilgern, die ihm von ihren ultramodernen Telefonen Gebete senden. Früher bin ich oft hergekommen.
Dann setzte ich mich vor Hachikō und beobachtete die Japaner. Ich suchte mir jemanden aus und verfolgte ihn mit
Blicken, um zu sehen, was diese schönen Menschen wohl in
Shibuya zu tun hatten, und um der überwältigenden Fülle
an Eindrücken irgendwie Herr zu werden.
Bis heute habe ich eine Schwäche für diesen Stadtteil.
Inzwischen verfolge ich keine Tokioter mehr am HachikōDenkmal, sondern setze mich an einen Tisch im StarbucksCafé beim Bunkamura-Museum. Das ist eines der wenigen
Lokale in der Umgebung, die auch draußen Tische haben.
Ich betrachte also die Mädchen und Jungen, die frisierten
Hunde, die Parade von Handtaschen der Marke Coach, von
denen jede Dame eine haben muss diese Saison, und traue
zum ersten Mal meinen Augen nicht ganz, obwohl ich bereits so lange hier bin, nicht nur aus einer Schale Reis gegessen und viel gesehen habe. Doch meine Augen trügen mich
nicht. An meinem Tisch geht ein Mann mittleren Alters vorbei, als niedliche Lolita verkleidet. Diese Lolita hat weiße
Schühchen wie für die Erstkommunion und Kniestrümpfe
mit Rüschen, nackte glatte und haarlose Oberschenkel, ein
bauschiges rosa Kleidchen mit Puffärmeln und Spitzenunterrock. Hellbraune Locken mit Haarschleife, lange Wimpern, weißer Sonnenschirm, zartes Rosa auf den Wangen
und, hach, ein weißer Kopfputz mit Spitzenbesatz. Der
Lolita-Mann bewegt sich elegant, er hat den Blick auf einen
Punkt irgendwo weit oben geheftet. Ein perfektes Kostüm.
Bis jetzt hatte ich es allerdings nur an Mädchen gesehen
(oder jedenfalls schien es mir so).
Die niedliche Lolita ist eines der beliebtesten Kostüme in
Japan, bei einem Hobby namens cosupure (von costium play).
In den 1990er Jahren verkleideten sich unter anderem Cosplayerinnen so und posierten im Stadtteil Harajuku auf der
berühmten Jingū-Brücke. Dort sind sie jetzt nicht mehr und
die Ausländer mit Fotoapparaten suchen vergeblich nach
ihnen, denn diese Mode ist vorübergegangen wie jede andere auch. Dem cosupure geht es allerdings in Europa prächtig, eine der größten Veranstaltungen dieser Art begleitet
jährlich die Leipziger Buchmesse. In Japan bleibt cosupure
das, was es vor dem großen Boom in den Neunzigern war:
ein Nischenhobby mit vielen Spielarten. Die Lolita-Brüder,
kurz „Lolita Bro“ oder „Brolita“, sind eine davon. Um es
noch komplizierter zu machen, distanzieren sich bestimmte weibliche und männliche Lolitas vom cosupure, in der
Meinung, ihre Kostümierung sei etwas völlig anderes. Der
Unterschied soll darin bestehen, dass die cosupure-Fans ihre
Kostüme hauptsächlich nach dem Vorbild von Anime-Figuren gestalten, während Lolitas Aufzug eigentlich eine Erfindung sei wie die Kleidung der Akteure der japanischen Popkultur, und keine Kopie. Die Cosplayerinnen treffen sich in
einer Gruppe und präsentieren sich in einstudierten Posen;
die Lolitas dagegen spazieren einfach in der Stadt herum
und freuen sich am sinnlichen Vergnügen, in der Öffentlichkeit eine Verkleidung zu tragen.
Das Lolita-Kostüm tauchte Mitte der neunziger Jahre in
Japan auf und verbreitete sich von dort aus in die Vereinigten Staaten und nach Europa, wo die Gruppe der deutschen
Lolitas besonders stark vertreten ist. Man weiß nicht erst
seit heute, dass Japan und Deutschland viel gemeinsam haben und einander häufig inspirieren: So ist die Schuluniform japanischer Schüler noch immer der Bekleidung der
preußischen Armee nachempfunden. Das Lolita-Kostüm
ist von der viktorianischen und der Rokoko-Ästhetik beeinflusst, der Rest ist japanische Erfindung. Die Lolita wird
in Japan nicht mit Nabokovs Buch in Verbindung gebracht,
sondern mit süßer und verspielter Mädchenhaftigkeit. Mit
einstudierter, überzeichneter, bewusster Künstlichkeit, wie
der Bonsai. Hochwertige Stoffe, Weiß, Rosa, cremefarbene
Baumwoll- und Seidenspitze und der unvermeidliche Unterrock – das ist es, was die Lolita ausmacht. Und was tun
Lolitas? Kostüm und Rolle verlangen nach Publikum, also
gehen Lolitas in die Stadt, so wie der Lolita-Bruder aus
Shibuya. Sie trinken gern Tee und essen Kuchen in einem
der eleganten und wie europäische Kaffeehäuser stilisierten Retro-Lokale. Sie sehen gern ihr eigenes Spiegelbild in
Fensterscheiben und den Augen anderer Menschen.
Es gibt in Tokio Läden für Lolitas, und die Beherrschung
der Kunst, Lolita zu sein, erfordert Zeit und Hingabe. Eine
unbeholfene, zu aufreizende oder billige Lolita wird verächtlich als ita bezeichnet. Man muss nicht schön sein oder
ebenmäßige Gesichtszüge und schlanke Beine haben, es
zählen die Beherrschung der Rolle und das gewandte Auftreten im Kostüm. Unter den Lolitas sind, wie wir bereits
wissen, hier und da auch Männer anzutreffen. Es gibt keine
ethnographischen Studien über sie und sie sind auch nicht
so freundlich, sich alle an einem Ort zu versammeln und
für Fotos zu posieren wie einst die Mädchen von der JingūBrücke. Viele von ihnen könnten mir bereits auf Tokis Straßen begegnet und für Mädchen durchgegangen sein. Der
Lolita-Bruder, den ich noch mehrere Male in Shibuya sah,
war mit seiner kräftigen Gestalt und dem Takeshi Kitano
ähnelnden Gesicht eher eine Ausnahme unter den normalerweise jungen Lolitas beiderlei Geschlechts. Die LolitaBrüder stolzieren in Rosa und Spitze durch die Stadt und
setzen sich den Blicken der Menschen aus. Das ist der Sinn
der Sache. Ohne Kostüm ist man ein wenig ansehnlicher
Mittvierziger oder ein junger Postangestellter, mit Kostüm
– eine reizende Lolita, ähnlich wie der Kabuki-Schauspieler,
der sich von einem älteren Mann mit Magenbeschwerden
in eine verzweifelte Kurtisane mit schriller Stimme verwandelt.
Japan ist eine Kultur der Verpackung. Kostüm und Rolle machen hier die Leute. Deswegen kann jeder Lolita sein,
wenn er sich Mühe gibt. In der japanischen Kultur ist die
Überzeugung von der Dominanz des Biologischen weniger
stark ausgeprägt als bei uns. Weiblichkeit und Männlichkeit
werden eher als bestimmte Rollensets verstanden, die man
erlernen und dementsprechend spielen muss. Improvisation ist erst dann erlaubt, wenn die Meisterschaft erreicht ist.
Zu jeder Rolle passt ein bestimmtes Kostüm und die Kunst
besteht darin, es regelgemäß tragen zu können. So wie im
Kabuki-Theater, wo alle Rollen von Männern gespielt werden. Die omnagata, die Schauspieler der Frauenrollen, erfreuen sich besonderer Wertschätzung und Bewunderung.
Es zählt die Mühe. Ein Mann kann die Rolle einer verliebten
Kurtisane, guten Mutter, treuen (oder untreuen) Ehefrau
besser spielen als eine Frau, eben weil er keine Frau ist.
Oder Takarazuka, das umgekehrte Kabuki. Hier werden
wiederum alle Rollen von jungen Frauen gespielt und die
otokoyaku, die Schauspielerinnen der Männerrollen, sind
wahre Idole. Schöne androgyne Elfen mit schlanken, biegsamen Körpern. Die otokoyaku und onnagata tragen ihre
Kostüme mit der gleichen Anmut und Ernsthaftigkeit wie
der Lolita-Bruder aus Shibuya. Die Kunst, Perfektion und
Mühe, die in diese Rolle gesteckt werden, sind eine Fassade,
hinter der sich natürlich so manche interessante Perversion verbergen könnte, denn Verkleidungen sind niemals so
harmlos wie Briefmarkensammeln.
Ich dachte an die Lolita-Brüder, als ich im Herbst 2011
vor den Wahlen kurz nach Polen kam und auf Straßen vom
Flughafen in die Stadt fuhr, die so vollkommen anders waren als die Tokioter Verkehrswege. Es störten mich der
Dreck und die Unordnung, es gefiel mir das üppige Grün,
das offene Gelände und auch, dass der Taxifahrer mir sofort
seine politischen Ansichten darlegte. Ein Lolita-Bruder zu
sein ist eine winzigkleine Perversion verglichen mit meiner
Obsession, immer wieder nach Polen zurückzukehren. Zu
solchen Taxifahrern. Ich sah sein Gesicht im Rückspiegel.
Wie sagte meine tatarische Tante immer: Um diese Visage
kannste mit dem Motorrad Runden drehn. Als Dreingabe
ein wuchernder Schnauzbart, der dringend ausgelichtet
gehörte.
Da musste ich mir diesen von Dummheit und Hass strotzenden Mann plötzlich im niedlichen Lolita-Kostüm vorstellen – und kann seitdem nicht mehr damit aufhören. Ich
sehe zum Beispiel einen bekannten Politiker, der tagtäglich
im hierzulande so beliebten Kostüm kerniger Männlichkeit
auftritt: schlecht sitzender Anzug, nichtssagende Krawatte,
Verschwörungsphanasien und dazu ein unsägliches Gequatsche, was Frauen sollten, Schwule nicht sollten und so weiter. Doch anstatt mich zu ärgern, sehe ich ihn im niedlichen
Lolita-Kostüm vor mir. Rouge auf den Wangen, ein gestepptes Handtäschchen mit Kette am Arm. Ich schließe die Augen und schaue ihm zu, wie er über Warschaus Flaniermeile
spaziert. Im Handtäschchen hat er eine Katze. Und dieses
eine Mal ist er mir sympathisch.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
KRZYSZTOF
VARGA
WOLLSCHWEINCSÁRDÁS
© Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute
Krzysztof Varga (geb. 1968), Romanschriftsteller, Essayist und Feuilletonist bei der Zeitung „Gazeta Wyborcza“. Autor von Romanen
wie „Tequila“ (2002) oder „Ein Grabstein aus
Terrazzo“ [Nagrobek z lastryko; 2008], die bis
in die Endrunde für den Literaturpreis „Nike“
gelangten, sowie einigen Essays zur Kultur und
Geschichte Ungarns. Seine Bücher wurden bereits u.a. ins Italienische, Ungarische, Bulgarische, Slowakische, Serbische, Ukrainische, Kroatische übersetzt.
Ungarn ist Krzysztof Vargas große Leidenschaft, das lässt sich
ohne Übertreibung festhalten. Sein jüngster Roman fügt der
Ungarnkollektion nach „Turulgulasch“ (2008) einen weiteren
Posten hinzu.
Kollektion ist in diesem Kontext ein wichtiger Begriff, vielleicht sogar ein Schlüsselbegriff, nach dem sich die Geschichte
von „Wollschweincsárdás“ in ihre Bestandteile gliedern lässt.
Denn der Erzähler häuft in seiner Erinnerung realistische Elemente an, um sie dann vor den Augen des Lesers auszubreiten,
als wären es echte Preziosen aus seiner Privatsammlung. Das
Sammeln kommt auch ganz direkt in einer sentimentalen
Passage aus dem Kapitel „Bertalan Farkas fliegt ins All“ zur
Sprache. Dort wird der Vater erwähnt, der fand, „jeder Mann
braucht ein Hobby“ und der deshalb beschloss, seinen Sohn,
den Protagonisten des Romans, zum Briefmarkensammler zu
machen. Der Erzähler bekommt sogar ein Album mit ungeordneten, nicht katalogisierten Sammlungen. Es ist eine Art
Vermächtnis, dem er sich – wie einem grässlichen Fluch und
zugleich einem kostbaren Geschenk – nicht entziehen kann.
Auch Vargas Buch ist in gewisser Weise ein Sammelalbum.
Der essayistisch mäandernde, nur scheinbar durch Kapitel
disziplinierte Stil, stürzt den Leser recht unvermittelt gleich
in mehrere Strudel, die alle von der Suche nach der ungarischen Identität angetrieben werden.
Die kulinarische Sammlung ist sicher eine der wichtigsten
in „Wollschweincsárdás“. Es ist gewiss kein Zufall, dass Varga
als einen seiner größten Schätze die Speisekarte des Schlossrestaurants anführt, die er im Zimmer seines Vaters gefunden hat. Darüber hinaus gibt es einen eigenen Absatz über die
Fischsuppe oder die umfassende Wiedergabe des Speisenangebots einer lokalen Pizzeria. Doch hier geschieht nichts ohne
Hintergedanken – die Pizzeria hat sieben Pizzen auf der Karte,
die nach sieben legendären Magyarenführern benannt sind.
Das bietet Anlass genug, konkrete Figuren (und die Zutaten
konkreter Gerichte) aufzurufen. Allerdings, so schreibt Varga
an anderer Stelle, „hat das Kulinarische hier zu viel Gewicht,
als dass es mit x-beliebigen Namen besudelt werden dürfte,
deshalb denke ich an ungarische Literatur, wenn ich ungarisch esse und ans Essen, wenn ich die großen Ungarn lese –
das ist die vollkommene Synergie von Leib und Seele, Magen
und Hirn, Melancholie und Exaltiertheit.“
Die Literatur (nicht allein die ungarische) ist eine weitere
Sammlung, die bei der Lektüre dieses Buches in Erscheinung
tritt. Varga erweist nicht nur Danilo Kiš seine Reverenz, sondern einer stolzen Zahl mehr oder weniger bekannter Autoren. Dabei interessiert ihn vor allem die Prosa, aber auch die
Lyrik kommt nicht zu kurz. Varga zitiert und führt die Biografien seiner Favoriten an.
Kulinarische Erfahrungen und literarischer Konsum werden von Bildern flankiert: Sie gehen über Provinz, Friedhöfe
und zerfallende Waggons seiner Budapester Lieblings-UBahnlinie hinaus. Auch Vargas Filmleidenschaft wird immer wieder deutlich, etwa in Ausflügen zu Julie Delpys Film
über die „Blutgräfin“ Elisabeth Bathory oder zu Gustav, einer
Zeichentrickfigur aus Kindertagen (die ihn wiederum an
Mr. Bean erinnert).
„Wollschweincsárdás“ ist mit seinem facettenreichen, zumeist auf unbekannte Seiten abhebenden Ungarnbild nicht
nur ein intellektuelles Vergnügen, sondern auch ein existenzielles, fast komödiantisches; in jedem Fall ein Lesevergnügen,
dass wenig Raum lässt für Leidensgeschichten und wirklich
große Tragödien.
Marcin Wilk
KRZYSZTOF VARGA
CZARDASZ Z MANGALICĄ
CZARNE, WOŁOWIEC 2014
125×195, 248 PAGES
ISBN 978-83-7536-732-4
TRANSLATION RIGHTS:
POLISHRIGHTS.COM
RIGHTS SOLD TO:
HUNGARY (EUROPA KIADO)
ICH WOLLTE
WOLLSCHWEINCSÁRDÁS
eben die Dörfer Tiszakürt und Nagyrév gesehen haben,
obwohl ich mir fast sicher war, dass es dort nichts zu sehen gab. Aber der innere Drang, diese Orte zu besuchen,
in denen nach dem Ersten Weltkrieg Frauen mehrere Dutzend, wenn nicht über hundert Männer vergiftet haben
und damit in die internationale Geschichte großer Verbrecherinnen eingegangen sind, war größer. In Nagyrév und
Tiszakürt kam es zum wohl größten Massenmord jenseits
von Krieg oder totalitärem Terror, zu einem „zivilen“ Massenmord, noch dazu von Frauen verübt. Nicht von Soldaten,
Polizisten oder verrohten Banditen, sondern von Dörflerinnen mit langen Kleidern und Kopftuch. Sicher, in gewisser
Weise hatten auch diese Morde mit dem Krieg zu tun, denn
die Frauen von der Theiß sollen ausgerechnet im Jahr 1914,
also bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, mit ihren Giftmorden angefangen und 1929 aufgehört haben, als sie schließlich – angeblich durch einen anonymen Hinweis an die Lokalpresse – gefasst, inhaftiert und verurteilt wurden. Aber
diese Häufung von Todesfällen bei Vätern, Ehemännern
und Söhnen muss doch schon vorher aufgefallen sein, auch
wenn das Geheimnis wohl gehütet von Frau zu Frau, von
Nachbarin zu Nachbarin, von Verwandter zu Verwandter
weitergetragen wurde. Sonderbar: Haben sich die Männer
denn nicht darüber gewundert, dass sie irgendwie häufiger
sterben als früher? Aber vielleicht war die ansteigende Todesrate der Männer in Tiszakürt und Nagyrév angesichts
von Krieg und Nachkriegselend, von Krankheiten, traumatischen Kriegserlebnissen und gesteigertem Pálinka- und
Fuselweinkonsum ja gar nicht so erstaunlich. Außerdem
wird man in der Provinz, fernab der großen Welt, ein natürlicheres Verhältnis zum Tod gepflegt haben, der Herr
hat's gegeben, der Herr hat's genommen, werden diejenigen
gedacht haben, denen nicht bewusst war, dass hier nicht
die Hand Gottes, sondern Menschenhand im Spiel war. Die
Hauptfigur in diesem Stück, die alte Lucrezia Borgia von
Nagyrév, war Júlia Fazekas, die bei ihrer Verhaftung die
Sechzig schon überschritten hatte. Eine unansehnliche Frau
(jedenfalls auf den verschwommenen Fotografien), eine
Hebamme, die sich zugleich als Quacksalberin betätigte
und illegale Abtreibungen vornahm. Im Jahr 1911 nach Nagyrév gekommen und in medizinischen Dingen beschlagen,
könnte sie diejenige gewesen sein, die ein neues Verfahren
zur Arsengewinnung aus Fliegenfängern entwickelte. Dieses selbstgebraute Arsen bekamen dann die Männer der
Mörderinnen in den Wein oder ins Essen gemischt. Wenngleich der erste Giftmord, das wollen wir festhalten, vor
dem Eintreffen der Júlia Fazekas begangen worden sein soll,
fand sie doch einen fruchtbaren Boden für ihr mörderisches
Geschäft vor. Sie ging jedoch nicht alleine zu Werke, es gab
noch eine ganze Reihe weiterer, mehrheitlich namenloser
Verschwörerinnen, die zusammen sicherlich um die fünfzig Mann vergiftet haben. Der Legende nach sollen es sogar
dreihundert Giftopfer gewesen sein, alles ziemlich unklar,
bei der ganzen Geschichte gibt es einige Fragezeichen. Jedenfalls könnten über die gesamten 15 Jahre gut und gerne
um die einhundert Leichen zusammengekommen sein. Bei
der Gerichtsverhandlung im Jahre 1930 wurde angeordnet,
162 Leichname, deren Vorbesitzer den Giftmischerinnen
zum Opfer gefallen sein könnten, auf den umliegenden
Friedhöfen zu exhumieren. Die Angeklagten sind, den unscharfen Fotos von der Verhandlung nach zu urteilen, ältere
Dörflerinnen mit Kopftuch und wallenden Röcken, die Hände züchtig im Schoß gefaltet, keine dämonischen femmes
fatales, ausnahmslos Witwen, aus naheliegenden Gründen –
sie haben ihre Männer vergiftet, begraben, vielleicht sogar
beweint – und ihre Gesichter strahlen eine beängstigende
Ruhe aus. Dabei haben sie wohl nicht aus Mordlust getötet,
sondern aus gewissermaßen rationalen Erwägungen. Sie
haben arbeitsunfähige, prügelnde und trinkende Männer
umgebracht, Kriegsversehrte, die gefüttert werden mussten
und zu nichts mehr zu gebrauchen waren, zur Feldarbeit
physisch nicht mehr in der Lage und psychisch geschädigt
durch den Krieg. Und, ja, auch die Liebe mag eine Rolle gespielt haben, denn während die ungarischen Bauern an der
Front in den Schützengräben hockten, tauchten bei Nagyrév
italienische Kriegsgefangene auf, die sich in diesem Landstrich fernab der Zivilisation ziemlich frei gefühlt haben
sollen. Offiziell im Gefangenenlager eingesperrt, konnten
sie sich ohne größere Schwierigkeiten im näheren Umkreis
bewegen. Es kam zu handfesten Verbrüderungen zwischen
Apenninensoldaten und Magyarenfrauen, hier und da gab
es Schwangerschaften, die abgebrochen werden mussten.
Die Italiener waren viel sympathischer als die Ungarn und
viel charmanter im Umgang mit den Frauen. Als die Männer aus dem Krieg nach Nagyrév zurückkehrten, fanden sie
nicht mehr das Dorf vor, aus dem sie aufgebrochen waren,
um die Monarchie zu verteidigen.
Aber nicht nur Nagyrév und Tiszakürt waren Todesdörfer, auch in anderen Orten und Kreisen entlang der Theiß
wurde Gift verabreicht, in Ókécske und Öcsöd, in Tiszaföldvár und Kunszentmárton, sogar in anderen Komitaten,
wo dann nicht mehr nur die bösen Ehemänner vergiftet
wurden, sondern auch Kinder und Alte. Der irre Mordmarathon wuchs sich zu einer regelrechten Epidemie aus, eine
eigenwillige Nebenwirkung des Großen Krieges. Schließlich standen 28 Frauen vor Gericht, Zsigmond Móricz persönlich hat für die Lokalpresse berichtet. Acht von ihnen
kamen an den Strick, viele weitere wurden zu langjährigen
Gefängnisstrafen verurteilt, Júlia Fazekas beging Selbstmord, indem sie sich, wenig überraschend, vergiftete.
Aus der Geschichte um die Giftmörderinnen von Nagyrév ließ sich schlecht eine popkulturelle Legende stricken
wie etwa um Elisabeth Bathory. Im Grunde genommen ist
nicht einmal der Fall selbst, trotz seiner enormen Attraktivität, der breiten Öffentlichkeit bekannt. Freilich, es gibt
den Spielfilm „Hukkle – das Dorf “ von György Pálfi, der die
Handlung in die Gegenwart verlegt, leider aber als Avantgardefilm ohne Dialoge arbeitet. Eigentlich ist klar, wovon
er erzählt, aber die Art und Weise ist nicht zu ertragen,
dieses Hochartifizielle, das darin besteht, kein Wort fallen
zu lassen, der Dauerschluckauf eines alten Mannes, das
Schlürfen und Schmatzen anderer Leute und das Grunzen
der Schweine müssen als Dialog genügen. Es gibt auch noch
den Roman „The Angel Makers“ („Die Engelsfrauen“) der
amerikanischen Schriftstellerin Jessica Gregson, der, jawohl, in einem ungarischen Dorf spielt, das allerdings nicht
Nagyrév heißt, sondern Falucska, was wiederum übersetzt
so viel bedeutet wie „Dörflein“. Die Stadt unweit des Dörfleins nennt sich Város, also „Stadt“. Damit gibt es die Stadt
Stadt und das Dorf Dörflein, die weibliche Hauptfigur Sari,
die zu Beginn des Romans vierzehn Jahre alt ist und „Jane
Eyre“ und „Wuthering Heights“ liest, sowie die Oberhexe
mit Namen Judit Fekete, die todsicher Júlia Fazekas ist – die
Tarnung ist allzu offensichtlich. […]
Die Niederländerin Astrid Bussink hat 2005 einen halbstündigen Dokumentarfilm „The Angelmakers“ gedreht,
eine Erzählung über die Verbrechen von Nagyrév, einen
Film, der die heute hoch betagten Zeugen der giftigen Jahre
zu Wort kommen lässt, insbesondere alte Frauen, die damals kleine Mädchen waren. Die meisten dieser Zeuginnen werden 2014 nicht mehr erleben, sie müssen während
des Drehs schon weit über achtzig gewesen sein, runzlig,
gebeugt, unter blumigen Kopftüchern sprechen sie leise,
bedächtig, aber auch sichtbar überzeugt davon, die reine
Wahrheit zu sagen. Aus ihren Augen sprechen durchlittene
Qualen und zugleich ein sonderbarer Schalk. So erzählt eine
der alten Frauen mit einem müden Lächeln, eine der Giftmörderinnen habe auf dem Grabstein eines Opfers die Inschrift anbringen lassen: „Ich will meinem getreuen Mann
zur ewigen Ruhe folgen.“
Das vielleicht Erschreckendste an diesem Film ist die
mit ruhiger Stimme vorgetragene Überzeugung, dass während der jahrelangen Machenschaften alle genau Bescheid
wussten, was da vor sich ging und wer wen vergiftet hatte.
Sicherlich hatten selbst die Männer von diesen Geschichten
gehört, konnten sich aber nicht im Traum vorstellen, dass
ausgerechnet sie das nächste Opfer sein würden – tumber
männlicher Hochmut. Mehr noch: Niemand sah damals
oder sieht etwa heute die Giftmorde tatsächlich als Morde
an, vielmehr als Ausdruck von Resignation, als einen verzweifelten Versuch, aus dem Gefängnis einer Ehe voller Gewalt und Suff auszubrechen. So sah man das auch in anderen Dörfern und anderen Komitaten, nicht nur an der Theiß,
sondern (wenn man den Erzählungen folgen will) im gesamten vom Ersten Weltkrieg verstümmelten Land, selbst
in Westungarn, in Dörfern des Komitats Zala. Wie eine der
Frauen bemerkt – Fliegenfänger kannte man ja überall.
Aus dem Polnischen von Thomas Weiler
ZIEMOWIT
SZCZEREK
MORDOR KOMMT
UND FRISST UNS
AUF ODER DIE
GEHEIME
GESCHICHTE
DER SLAWEN
© Sebastian Frąckiewicz
Ziemowit Szczerek (geb. 1978), Historiker und
Journalist, Publizist der Zeitschrift „Nowa Europa
Wschodnia“. Schreibt eine Doktorarbeit in Politologie. Es faszinieren ihn der Osten Europas sowie,
wie er selbst sagt, „geopolitische, geschichtliche
und kulturelle Kuriositäten“. „Mordor kommt und
frisst uns auf “ [Przyjdzie Mordor i nas zje] brachte ihm den „Paszport“-Preis der Polityka ein.
Ziemowit Szczerek hat mehrere Jahre lang die Ukraine intensiv bereist – er ist sie kreuz und quer abgefahren, von
Lviv bis Odessa, von Tschernowitz bis Dnjepropetrowsk.
Diese Erfahrungen haben sich niedergeschlagen in einem
reichlich unkonventionellen Buch mit dem raumgreifenden
Titel „Mordor kommt und frisst uns auf oder Die geheime
Geschichte der Slawen“. Es ist weder Reportage noch literarischer Reisebericht oder landeskundliche Prosa. Am ehesten
handelt es sich um eine Parodie auf die gängigen Narrative
über den „Wilden Osten“ und den so faszinierenden wie gefährlichen „postsowjetischen Dschungel“. Alles erscheint
hier karikaturenhaft verzerrt: das Modell der road novel à la
Kerouac, Stasiuks Notizen über das „schlechtere Europa“ aus
„Unterwegs nach Babadag“, oder laienhafte Berichte über
Reisen in den Osten, wie man sie zu Hunderten in Blogs bzw.
professionell aufbereitet in Globetrotter-Portalen finden kann.
Und diese letzte Quelle ist von größter Bedeutung: Szczerek
verrät im Laufe seines Textes, dass seine Ukrainegeschichten
als Auftragsarbeit für ein Krakauer Onlineportal entstanden
sind. Allerdings war dort die Bedingung, dass seine Texte der
Gonzo-Poetik folgen sollten. Der Autor schreibt: „Ich habe in
diesen Texten mit ukrainischer Arschderwelthaltigkeit gewuchert. Dreckig sollte es sein, heftig und grausam. So geht
Gonzo.“ Szczereks Aufzeichnungen sind also eine evidente
Mystifizierung, er hat die ukrainische Wirklichkeit bewusst
deformiert: Was auch nur einen Anflug von Hässlichkeit hatte, wurde abstoßend und finster wie das titelgebende Mordor,
mit Alkohol und Gewalt getränkt und mit Gestalten aus Ganovenliedern oder Horrorfilmen bevölkert. Spätpubertäres
Herumgejuxe eines verantwortungslosen Autors? Nicht
unbedingt. Szczerek ist es nämlich gelungen, die versteckte,
kritische Energie freizusetzen, die in nationalen Stereotypen
und in der polnischen Vorstellung von den „russischen Barbaren“, vom dreckigen, unzivilisierten Osten angelegt ist. Das
verlogene Porträt der Ukrainer wird so zu einem grausamen
Selbstbildnis der Polen, die ach so überzeugt sind von ihrer
kulturellen und historisch gegebenen Überlegenheit und sich
einreden, der Postkommunismus an der Weichsel sei besser
als der am Dnejpr. Szczerek zeigt auf, dass diese überhebliche
Attitüde einem mangelnden Selbstbewusstsein geschuldet ist;
das wohl doch eher vermeintlich als tatsächlich „Schlechtere“
der Ukraine ist Balsam für unsere eigenen Komplexe. So beobachtet der Autor wie seine Landsleute im großen Stil in die
ehemaligen östlichen Randgebiete der Rzeczpospolita reisen
(Ostgalizien, meistens Lviv) und wie jämmerlich und dreist
ihre Versuche ausfallen, den „polnischen Pan“ herauszukehren. Dabei schwingt er keineswegs die Moralkeule oder zeigt
sich besorgt angesichts dieser Renaissance imperialer oder
kolonialer Gesinnungen auf polnischer Seite; Szczerek geht
selten über das Register von Spott und Hohn hinaus, das er
nicht immer intelligent und bisweilen unnötig vulgär einsetzt.
Das Leben hat einen düsteren Epilog zu Ziemowit ������
Szczereks�������������������������������������������������������
Buch geschrieben. Offenbar sind einige Elemente ukrainischer Mentalität und Gebräuche, die der Krakauer Schriftsteller so vergnüglich beschreibt, in einen politischen Konflikt
umgeschlagen. Anfangs mochte es noch so aussehen, als sei
die byzantinisch-sowjetische Bedrohung vor allem eine Erfindung des Autors, als suche er im Osten ausschließlich nach
Mustern, die dem Europäischen widersprechen und als betreibe er damit, ganz Gonzo-Poet, nichts als literarische Effekthascherei. Leider hat sich Szczereks Mystifizierung – zumindest
in Teilen – als prophetisch erwiesen.
Dariusz Nowacki
ZIEMOWIT SZCZEREK
PRZYJDZIE MORDOR I NAS ZJE
HA!ART, KRAKÓW 2013
140×200, 222 PAGES
ISBN: 978-83-62574-94-0
TRANSLATION RIGHTS: HA!ART
RIGHTS SOLD TO:
UKRAINE (TEMPORA)
Gonzo
MORDOR KOMMT
UND FRISST UNS
AUF ODER DIE
GEHEIME
GESCHICHTE
DER SLAWEN
Ja, so ist es gekommen, dass ich professionell in die Lug- und
Trugbranche einstieg. Oder etwas seriöser ausgedrückt – in
die Verstetigung nationaler Stereotype. Meistens von der
üblen Sorte.
Das bringt Geld. Nichts geht in Polen so gut wie Schadenfreude. Ich kenne mich da aus. Kaum hatte ich ein paar
Ukrainetexte im Gonzosound geschrieben, schon flatterten
die Aufträge herein. Ich habe in diesen Texten mit ukrainischer Arschderwelthaltigkeit gewuchert. Dreckig sollte
es sein, heftig und grausam. So geht Gonzo. Gonzo heißt
Schnaps, Kippen, Drogen und Weiber. Und Vulgärsprache.
So habe ich geschrieben, und alles war bestens.
Der lukrativste Langzeitauftrag kam von einem neu
gegründeten Internetportal in Krakau. Einmal die Woche
sollte ich eine Ladung ukrainisches Frischfleisch liefern. Sie
wollten Hardcore haben, sie haben Hardcore bekommen.
Aber vorher brauchte ich noch ein Pseudonym. Ich wollte diesen Schwachsinn nicht unter meinem Namen veröffentlichen. Also schrieb ich als Paul Pontier. Das fand ich
cool. Bibelpseudonyme sind immer gut. Wie Jesus in „Lebowski“ oder Chris Pontius in „Jackass“.
Jedenfalls haben sie gezahlt. Und mir die nächsten Ukrainereisen gesponsert. Also habe ich in meinen Beiträgen
gelogen was das Zeug hält und mir Hardcoregeschichten
zusammengesponnen, dass es kracht. Ich habe aus der Ukraine einen Riesensaustall gemacht, eine Kusturica-Hölle,
in der alles passieren kann und auch alles passiert. Wild,
wild East. Die Polen haben es geliebt, haben es angeklickt
und gelesen. Und je mehr Klicks, desto besser zahlen die
Werbekunden. Mit Negativstereotypen über die Nachbarn
lässt sich in Polen ganz konkret Kasse machen.
Dabei hatte ich eigentlich gar nichts gegen die Ukraine.
Überhaupt nicht. Es kam irgendwie eins zum andern. Wie
das so ist, bin ich mit den besten Vorsätzen gestartet. Jedenfalls hatte ich keine schlechten. Ja doch, ich weiß, womit der
Weg zur Hölle gepflastert ist.
Ich bin also durch die Ukraine gefahren und habe nach
Themen gesucht. Sie waren überall, man musste bloß die
Augen offen halten.
Zum Beispiel wollte Maciek, mein Boss, einmal ein Gonzo zu einer brennenden sozialen Frage. Keine Ahnung, wie
ich auf Alkoholismus gekommen bin. Dann habe ich ein
Märchen über eine Kräuterhexe abgeliefert, die Alkoholiker von ihrer Wodkasucht kuriert. Ich hatte von ihr gehört,
als ich in Lviv rumhing. Inzwischen kann ich gar nicht
mehr sagen, wo bei der Geschichte die Wahrheit aufhört
und die Erfindung anfängt. Die Grenzen sind ordentlich
verwischt.
Meine Gonzoreportage ging folgendermaßen: Infolge
der sowjetischen Urbanisierungstendenzen war meine
Kräuterhexe schon vor Jahrzehnten vom Dorf in die Stadt
gezogen, sie wohnte nicht mehr stilecht im Holzhäuschen
mit Knoblauchzöpfen und Kräuterbünden, sondern in einem unverputzten Plattenbau aus den 50er Jahren in der
Lypynski-Straße in Lviv. Kräuter und Knoblauch hingen auf
dem Balkon, der Sud köchelte im Badezimmer vor sich hin.
Frauen kamen mit ihren versoffenen Kerlen zur Kräuteroma und heulten ihr was vor: „Helfen Sie uns, Baba
Lesia, helfen Sie, das ist kein Leben mehr, er säuft wie ein
Loch“, und hinter ihnen standen schwankend die Kerle und
glotzten dümmlich in die Landschaft wie zurückgebliebene
Kinder. Baba Lesia beräucherte die Delinquenten, ließ sie
irgendeinen Schweinkram trinken, verbrannte ein Wollfädchen und kassierte ab. Das half natürlich überhaupt nichts,
aber Placebo ist Placebo, und es kamen kaum Reklamationen, in der Kirche reklamiert ja auch niemand, dass die
Gebete nicht funktionieren.
In meiner Version hat Baba Lesias Prozedur aber geholfen, jedenfalls für die erste Zeit. Der Schweinkram enthielt
nämlich auch Abflussreiniger, und der hat den Suffköppen
den Verdauungstrakt dermaßen durchgeputzt, dass die
nicht mehr nur keinen Alkohol mehr runterbrachten, sondern nicht mal einen Kosakenzipfel. […]
Mein Chefredakteur Maciek las sich alles durch und fand
es gut, fragte aber: „Was, wenn die Weiber hier das jetzt
auch mit ihren versoffenen Kerlen machen? Was, wenn sie
sich vergiften und wir dann die Klagen am Hals haben, dass
das beschissene Know-how von uns kommt?“
Ich ergänzte also noch einen Satz, dass Baba Lesias Therapie keine Langzeiterfolge zeitigen würde. […]
Ich setzte mich in eine Kneipe. Da saß ein Pärchen um
die sechzig. Die beiden sahen aus wie eine Enklave der USA
auf dem Staatsgebiet der Ukraine. Sie hatten dermaßen
amerikanische Mienen, dass man sie einfach als Amerikaner erkennen musste. Diese charakteristische Mischung aus
Selbstsicherheit und Orientierungslosigkeit.
Ich setzte mich an den Nebentisch. Sie hackte in die
Tasten ihres Laptops, als wollte sie ihn zerlegen. Er warf
mir einen hoffnungsvollen Blick zu. Mir, meinem Rucksack
und meinen Klamotten, die mich als Ausländer auswiesen.
Er dachte nach. Offensichtlich überlegte er, wie er ein Gespräch mit mir anknüpfen könnte. Ihm war anzusehen,
dass er dringenden Gesprächsbedarf hatte.
Schließlich stand er auf und kam herüber. Und sagte:
„Nicht übel, die Bräute bei denen hier in der Ukraine,
oder?“ Und leiser, damit es seine Frau nicht mitbekam, fügte er hinzu: „Denen hat der Feminismus noch nicht das Hirn
vernebelt.“
Es war so dämlich, jämmerlich und verzweiflungsvoll,
dass er mir Leid tat. Ich bat ihn Platz zu nehmen. Und er,
nun ja, nahm Platz und stimmte seinen Klagegesang an, den
Peace Corps worker's blues.
A-one, a-two, a-one, two, three:
Er hieß Jack. Seine Frau Ruth. Jack und Ruth kamen
aus Boston. Vor gar nicht langer Zeit hatten sie noch ein
typisch amerikanisches Mittelklasseleben geführt und einander versprochen, als Rentner die Welt zu erkunden. Sie –
oooh, Peace Corps worker’s blues – träumte davon, Menschen
in fernen Landen zu helfen, von denen sie nur eine vage
Vorstellung hatte.
Als sie dann in Pension gingen – ja, alle beide, im selben
Jahr – trafen sie die Entscheidung: Sie heuerten beim Friedenscorps an. Oooh, Peace Corps worker’s blues.
Sie begann – wie fast jeder Amerikaner an einem bestimmten Punkt in seinem Leben – in der Familienhistorie
zu wühlen und ihren europäischen Wurzeln nachzuspüren.
Alle Spuren ihrer Vorfahren waren eher unspektakulär – sie
führten nach England, Schottland, Irland, Deutschland – bis
auf eine: die führte in die Ukraine. Oooh, Peace Corps worker’s
blues.
Sie verpflichteten sich für zwei Jahre. Alles, was sie
wussten, war, dass sie irgendwo in die Ukraine fahren würden. So ist das beim Friedenscorps, man weiß bis zuletzt
nicht, wo die einen hinschicken. Sie träumten von Odessa,
er hatte noch, im Fragebogen, eingetragen, dass er in einer
Firma gearbeitet hatte, die sich mit der Logistik in Frachthäfen befasst. Deshalb wollten sie gerne in eine Stadt an der
See. Vielleicht wäre ja eine Hafenstadt günstig. Als Berater
oder so. Dann könnte er den Ostmenschen beibringen, wie
man diese fuckin' Frachtschifflogistik richtig aufzieht. Sie
saßen also auf gepackten Koffern und warteten auf den
Odessa-Bescheid. Oooh, Peace Corps worker’s blues. Aber die
eigensinnige Fortuna in Gestalt eines böswilligen Funktionärs schickte sie nach Ismail.
„Genau wie ihr wolltet“, hatte der Funktionär gesagt.
„Ukraine, meeresnah. Bittesehr.“
Jack blickte mir traurig in die Augen, und ich sah zu seiner Frau, die weiter ihren Laptop auseinandernahm.
„Für zwei Jahre?“, fragte ich.
„Für zwei Jahre“, antwortete er, und dann schwiegen wir
einen Moment.
Außer russischem Discosound und Tastaturgeklapper
war nichts zu hören.
„Und wie viel habt ihr schon abgerissen?“
„Zwei Wochen.“
Oooh, Peace Corps worker’s blues.
„Und?“, fragte ich und steckte mir eine Zigarette an.
„Macht ihr was? Was mit Meer?“
Er sah auf die Tischplatte und fand dort eine Bierlache.
Mit dem Zeigefinger fing er an, darin herumzukrakeln.
„Sags ihm schon, Jack“, ließ sich seine Frau hinter ihrem
Laptop vernehmen. „Sag es.“
„Mja.“ Sagte Jack. „Vor ein paar Tagen … haben wir ein
paar Grundschulkinder mitgenommen ans Meer. Und den
Strand aufgeräumt. Flaschen und so was.“
„Kondome“, war hinter dem Laptop zu hören.
„Und Kondome“, bestätigte Jack brav. „Aber es ist nicht
so, dass es uns nicht gefallen würde“, schob er eilig nach.
„Die Stadt ist … nett. Sie ist … ruhig. Hier ist nicht viel los,
aber das ist … in unserem Alter … ein Plus. Es ist … hm …
warm. Angenehm warm. Nach Odessa ist es gar nicht so
weit …“, sagte er, während seine Frau immer verzweifelter
den Laptop zu zerhacken versuchte.
„Schön, schön“, sagte ich. „Können Sie denn nicht früher
wieder zurück in die Staaten? Also nur mal angenommen,
dass es Ihnen irgendwann nicht mehr so gefällt?“
„Nein, können wir nicht.“ Jack schüttelte den Kopf. „Vertrag ist Vertrag. Aber nein, weißt du, nein, nein, es ist wirklich nett hier […]“
Diesmal brauchte ich mir gar kein Gonzo auszudenken.
Aus dem Polnischen von Thomas Weiler
WOJCIECH
JAGIELSKI
EIN TROMPETER
AUS TEMBISA.
DER WEG
ZU MANDELA
© Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute
Wojciech Jagielski (geb. 1960), Journalist und
Reporter, spezialisiert auf die Thematik Afrikas
sowie Zentralasiens und des Kaukasus. Viele Jahre lang für die „Gazeta Wyborcza“ tätig. Seine Bücher wurden bereits u.a. ins Englische, Spanische,
Niederländische und Italienische übersetzt.
„Eine Sache hat mich im Gefängnis stark beschäftigt: Während
meiner Abwesenheit machte sich die Welt ein falsches Bild
von mir, das Bild eines Heiligen. Doch ich bin kein Heiliger, es
sei denn, ein Heiliger ist ein Sünder, der immer wieder seine
Schwächen zu überwinden versucht“ – diese Worte Nelson
Mandelas wählte Wojciech Jagielski zum Motto seiner neuen
Reportage „Ein Trompeter aus Tembisa“.
Heilig ist keine der Hauptfiguren dieses Buches. Jede von
ihnen handelt aus einem Antrieb, der nur oberflächlich besehen ehrenvoll scheint. Dieser Antrieb nennt sich „Leidenschaft“ – eine Leidenschaft, die alles beseitigt, was sich ihr in
den Weg stellt. Hauptfiguren gibt es drei: Nelson Mandela (einer der führenden Köpfe der Anti-Apartheid-Bewegung und
erster schwarzer Präsident der Republik Südafrika), Freddie
Maake, genannt „Saddam“ (umtriebigster Fußballfan Südafrikas und Erfinder der Vuvuzela) sowie – last, but not least
– Jagielski selbst. Fangen wir beim Letztgenannten an.
Wojciech Jagielski, einer der bekanntesten und geschätztesten polnischen Reporter, reiste 1993 zum ersten Mal in die
Republik Südafrika. Ein Jahr später beobachtete er den Niedergang der Apartheid. Dennoch fand er jahrelang keinen
rechten Zugang zu einer Erzählung über die südafrikanische
Revolution. Der erste Versuch, sie in Worte zu fassen, war
sein 2012 erschienenes Buch „Wypalanie traw“ [Brennendes
Gras], in dem er sich jedoch auf die Geschichte einer bestimmten Kleinstadt fokussiert. Die kurz vor Mandelas Tod herausgegebene Reportage „Ein Trompeter aus Tembisa“ beleuchtet
das Thema umfassender.
Der Untertitel des Buches lautet „Der Weg zu Mandela“.
Damit ist nicht nur der Weg der Republik Südafrika bis zum
Fall der Apartheid gemeint, sondern auch der Weg des Autors zu seinem Protagonisten. Jagielski beschreibt, wie sehr
er eine Begegnung mit Mandela herbeisehnte, seit er von
dessen außergewöhnlicher Aura erfahren hatte. Viele Jahre
lang blieb dieses Ziel unerreichbar, rückte einmal näher und
dann wieder in weitere Ferne. Aus ebendiesem Grund schrieb
der Autor schlussendlich ein Buch über seine Vorstellung von
Nelson Mandela, und nicht über Mandela selbst. Der Mensch
aus Fleisch und Blut entzieht sich ihm immer wieder, verlässt
seinen Sockel nicht, auch wenn der Reporter sich um eine
kritische Betrachtung bemüht (so schreibt er z. B. vom engen
Kontakt des schwarzen Präsidenten mit Muammar Gaddafi).
Vielleicht wählte Jagielski deshalb „Saddam“ als weitere
Hauptfigur seines Buches. Mit ihm konnte er sich unterhalten, ihn aus nächster Nähe beobachten. Diese Entscheidung
macht das Buch zusätzlich zu einer Schilderung der neuesten
Geschichte Südafrikas, betrachtet unter dem Gesichtspunkt
des Fußballs: vom Antrittsverbot der dortigen Spieler bei internationalen Wettkämpfen (eine Strafe der Westlichen Welt
für die Apartheid-Regierung) bis hin zur nicht lang zurückliegenden Weltmeisterschaft, die „Saddam“ so herbeisehnte.
Aber was verbindet „Saddam“ mit Mandela? Die Leidenschaft
des einen ist die Politik, die des anderen der Fußball. Sie sind
so weit voneinander entfernt, und einander durch ihre Leidenschaft doch wieder sehr nah.
In erster Linie jedoch ist „Ein Trompeter aus Tembisa“
wohl eine Geschichte über die große Leidenschaft eines Reporters, der, weil er sein unbändiges Verlangen nach Eindrücken nicht stillen kann oder will, stets die wichtigsten historischen Ereignisse aus der Nähe betrachten und immer wieder
nach dem Unerreichbaren greifen muss.
Das Buch gelangte in die Endrunde für den „RyszardKapuściński-Preis“, den wichtigsten polnischen Reportagepreis.
Małgorzata I. Niemczyńska
WOJCIECH JAGIELSKI
TRĘBACZ Z TEMBISY
ZNAK, KRAKÓW 2013
140×205, 304 PAGES
ISBN: 978-83-240-2776-7
TRANSLATION RIGHTS: ZNAK
Im Besucherraum
EIN TROMPETER
AUS TEMBISA.
DER WEG
ZU MANDELA
vor dem Amtszimmer des Präsidenten streifte mein Blick
unwillkürlich die auf dem Tisch ausgelegten Zeitungen. Bei
einer gab es auf der Titelseite eine kurze Meldung mit der
Überschrift Welches Geheimnis birgt der Hexenhügel?
Ich begann zu lesen.
Menschen aus einem Dorf waren ausgezogen, um Albertina Moloto zu töten, da sie sie für eine Hexe hielten. Sie
waren überzeugt, dass durch die Zauberei der Frau ein Blitz
drei Hirten erschlagen hatte, die abends ihr Vieh zusammentrieben. Es war bereits Nacht, als die Menschen sich
vor ihrer Hütte versammelten und das Strohdach in Brand
steckten. Tür und Fenster verstellten sie, damit sie nicht
aus der brennenden Hütte entkam. Sie sangen und tanzten.
Albertina Moloto sagte, diese Gesänge höre sie noch heute.
Gott schickte ihr damals Hilfe in Gestalt einer Polizeipatrouille, die die Tür eintrat und Albertina aus den Flammen
zog. Sie lag bewusstlos auf dem gestampften Lehmboden
und hielt eine Bibel umklammert.
Aus Polizeiberichten ging hervor, dass in dem Jahr, in
dem Mandela an die Macht kam, im nördlichen Transvaal
beinahe hundert der Hexerei bezichtigte Menschen getötet
worden waren. Im Jahr darauf war die Zahl der Opfer von
Hexenjagden auf zweihundert angewachsen, und noch ein
Jahr später verbrannten schon fast ein halbes Tausend Menschen auf dem Scheiterhaufen.
Über die Zeitung gebeugt bemerkte ich gar nicht, wie
Jessie, eine der Assistentinnen Mandelas, geräuschlos die
gewaltige Tür zwischen Besucherraum und Präsidentenzimmer aufschob. Ich sah sie erst, als sie vor mir stehen
blieb. [...]
Ich bemühte mich schon seit so langer Zeit und so hartnäckig um ein Gespräch mit Mandela, dass es fast zu meiner
Obsession geworden war. Die Begegnung mit ihm schien
mir das einzige und wichtigste Ziel zu sein. […]
Ich wollte Mandela treffen, da ich nur auf diese Weise
herausfinden konnte, worauf seine ungebrochene Kraft beruhte, dank der er alle Hindernisse überwand, Schwächen
besiegte und sich selbst stets treu blieb. Ich war überzeugt,
dass eine kurze Begegnung, ein Augenblick, ein paar Worte
mir genügen würden, um dieses Geheimnis zu ergründen.
Dieses Mal würde alles wie am Schnürchen laufen. Dieses Mal sollte ich Mandela treffen. Das hatte mir einer seiner Freunde und engsten Vertrauten versprochen. Er hatte
den Tag und die Uhrzeit für die Audienz festgelegt.
Ich spürte, dass Jessie vor mir stand, hob jedoch nicht
den Blick von den Zeitung.
„Leider habe ich keine guten Nachrichten zu überbringen“, sagte sie. „Herr Mandela ist sehr beschäftigt.“ [...]
Das Hexendorf hieß Helen und lag am Ufer des Limpopo. Es wohnten dort ausschließlich Menschen, die wegen
Zauberei aus ihren Dörfern verjagt oder in letzter Minute
von Polizisten aus den Flammen gerettet worden waren. […]
Das Dorf bestand aus drei Dutzend neuen, aus Lochziegeln erbauten Hütten von identischer Form und Farbe. Sie
standen in schnurgeraden Reihen zu beiden Seiten eines
holprigen rötlichen Sandwegs und erinnerten an eine Kaserne in völliger Einöde, in einem von Gott und den Menschen vergessenen Winkel der Welt.
Ringsum erstreckte sich, so weit das Auge reichte, nur
die im dichter werdenden Dunkel braungrau wirkende, hier
und da von verstaubten Kakteen und blattlosen, verkümmerten Bäumchen bestandene Wüste.
Ich schaffte es nicht vor dem Unwetter. Als ich in das
Dorf hineinfuhr, hatte sich der Feldweg bereits in eine
Schlammlache verwandelt. Die rechts und links stehenden
Hütten versanken fast in den Regenströmen und peitschende, trockene Donner wie Gewehrschüsse schienen die Luft
zu zerreißen.
Ich parkte den Wagen in der Mitte des Dorfes, vor einer
Hütte, die sich in nichts von den anderen unterschied. Alle
sahen gleichermaßen verlassen aus.
Ich wollte Albertina Moloto besuchen, von der ich aus
der Zeitung in Mandelas Besucherraum erfahren hatte.
Aber im Dorf Helen wohnten ausschließlich Hexen und
so hatte es keine besondere Bedeutung, an welche Tür ich
klopfte und um ein Gespräch und vielleicht auch eine Übernachtungsmöglichkeit bat, sollte sich das Gewitter bis dahin
nicht gelegt haben.
Die Hütte, vor der ich geparkt hatte, gehörte Ngoepe
Makgabo. Im hellen Schein der Blitze schien sich ihr von
Runzeln zerfurchtes, gutes Gesicht in die Maske eines Dämons zu verwandeln.
Das Unwetter machte ihr keine Angst, obwohl es die Erinnerung an eine ähnliche Nacht heraufbeschwor, in der die
Nachbarn aus dem früheren Dorf sie aus ihrer Hütte schleiften und beschuldigten, einen Blitz angelockt zu haben, der
eines der Häuser in Brand gesteckt hatte. Mit Fackeln und
Macheten trieben sie sie vor sich her, zu einem Mangobaum
am äußersten Rand des Dorfes, an dem sie sie erhängen
wollten. Nur wenige riefen, man solle ihr das Leben schenken und sie für immer aus dem Dorf vertreiben. Sie hatten
das Dorf bereits hinter sich gelassen und waren fast am Ort
der Hinrichtung angekommen, als weitere Blitze den Himmel zerrissen und die Erde vom Donnerhall erbebte.
Von Furcht ergriffen ließen sie sich zu Boden fallen.
Ngoepe Makgabo riss sich los und setzte zur Flucht an, in
die Dunkelheit. Sie versteckte sich im Dickicht hinter dem
Dorf, sah, wie sie nach ihr suchten und sich mit den Fackeln
den Weg leuchteten. „Moloi! Hexe!“, hörte sie von fern ihre
Stimmen. Doch sie blieben am Rand des Dorfes, fürchteten
sich, weiter in Nacht und Busch vorzudringen.
„Pfui! Jämmerliche Neider und Feiglinge!“, spuckte sie
voller Verachtung auf den Boden. „Aus purem Neid haben
sie mir das angetan! Sie konnten meinen Ruhm nicht ertragen, und dass ich Geld hatte!“
Sie war keine Hexe, sondern Sangoma, Medizinfrau,
eine gute Zauberin, Weissagerin und Heilerin. Nie hatte
sie Menschen etwas Schlimmes zugefügt. Im Gegenteil, sie
bemühte sich, ihnen zu helfen, indem sie sie mit Kräutern
heilte und die Geister ihrer Ahnen, mit denen sie sprechen
konnte, um Rat anrief. Von ihnen wusste sie auch, wie die
Heilmittel und Amulette anzufertigen waren, die alle Beschwerden und Kümmernisse linderten.
Nun nahm sie einen großen Schluck aus ihrer Flasche
Karamellbier und holte einen ledernen Beutel aus ihrem
Ausschnitt hervor. Sie vergrub die Hand darin und murmelte vor sich hin, während sie mit den Fingern nach etwas tastete.
In dem Beutel bewahrte sie ihre Zauberknöchelchen auf,
aus denen sie lesen konnte. Manchmal warf sie sie selbst
auf die Erde, um herauszufinden, was jemandem fehlte und
wie seine Krankheit zu bekämpfen sei. Wenn jedoch jemand
mit einer Bitte um beruflichen Rat oder Hilfe bei der Eroberung einer Frau zu ihr kam, ließ die Sangoma den Kunden
die Knochen werfen. Dann las sie, was sie ihr sagten, und
bereitete ein Muti zu.
Die Zutaten dafür kaufte sie ausschließlich in Kräuterläden in der Kleinstadt Seshego. Dort konnte man so gut
wie alles bekommen: Eidechsenfett, pulverisierte Schlangenhaut, getrocknete Spinnen und Krokodilsleber, Löwenkrallen, Pavianhoden, verschiedenste Kräuter, Wurzeln,
Rinden. Für manche Gewächse musste sie allerdings bis
zum Ufer des Flusses Limpopo gehen.
Verriete sie die Rezeptur eines Muti, würde sie die
Geister der Ahnen erzürnen, die ihr das Geheimnis verraten hatten, und deren Fluch und Rache auf sich ziehen.
Sie schwor jedoch, bei der Zubereitung der Muti noch nie
menschliche Körperteile verwendet zu haben, wie es einige
andere Zauberinnen taten. Sie stahlen die Körper Verstorbener aus Leichenhallen und Gräbern oder ließen Auftragsmörder rituelle Morde verüben.
Sie konnte alle Krankheiten heilen und mit allem fertigwerden. Sie behandelte Migräne und Impotenz und wäre
sogar imstande, ein Arzneimittel gegen die unheilbare
Krankheit zu finden, die sie in den großen Städten AIDS
nannten. Aber auch bei ganz gewöhnlichen Lebensfragen
konnte sie helfen.
Sogar bedeutende Würdenträger und die reiche Oberschicht aus Pretoria und Johannesburg suchten sie auf, um
sich Rat oder Heilmittel bei ihr zu holen. Sie fanden sie auch
hier wieder, in der Verbannung im Dorf Helen.
So wie der junge Mann aus Johannesburg, der mit der
Frage zu ihr gekommen war, wie er Arbeit finden solle, die
er schon seit acht Jahren vergeblich suchte. Sie hatte ihn die
Zauberknöchelchen aus dem Lederbeutel werfen lassen und
dann einen Sud aus einer bestimmten Pflanzenwurzel zubereitet, den er sich in die Haut einreiben sollte. Der junge
Mann tat wie ihm geheißen, und als er einige Tage später
auf der Arbeitssuche wieder eine Autowerkstatt in Johannesburg betrat, lächelte der Besitzer, ein Bure, ihn an und
fragte, ob er zufällig Arbeit suche.
„Mein Muti hilft gegen jedes Problem“, sagte sie. „Es gibt
dir alles, was du dir wünschst.“
An der Wand in ihrer Hütte hing zwischen einem Muttergottesbild und einem Porträt des Papstes ein aus der Zeitung ausgeschnittenes Foto von Nelson Mandela.
„Alles, was du dir wünschst“, wiederholte sie und bekreuzigte sich unwillkürlich beim Grollen eines neuen
Donners. „Wenn du willst, kann ich alles für dich erreichen.
Jede Frau, jeden Preis, jeden Traum.“
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
PAWEŁ
SMOLEŃSKI
SAND IN
DEN AUGEN
© Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute
Paweł Smoleński (geb. 1959), Reporter, Publizist,
Journalist bei der „Gazeta Wyborcza“. Spezialist
für die Thematiken des Nahen Ostens. Mehrfach
ausgezeichneter Reportage-Autor. „Sand in den
Augen“ [Oczy zasypane piaskiem] ist sein elftes
Buch.
Häuser mit roten Dachziegeln, ein Sonnenuntergang über
einer grauen Mauer, braune Felder, das traurige Lächeln einer alten Frau, Staub, der sich über Trümmern erhebt, nachdem Planierraupen darüber gefahren sind, ein Autowrack,
brennende Olivenbäume. Jedes Element der Welt, die Paweł
Smoleński in seinem Buch „Oczy zasypane piaskiem“ [„Sand
in den Augen“] beschreibt, hat seine Farbe, seinen Geruch und
seinen Geschmack. Und es hat vielleicht vor allem eins: seine
Temperatur.
Symmetrie. Das ist die Idealform der Debatte über den
Nahostkonflikt. Aber sie ist so schwer zu erreichen. In Reportagen zu diesem Thema kommt meist eine Seite irgendwie besser weg. Smoleński fährt zum wiederholten Mal ins
Heilige Land. In seinen Büchern „Izrael już nie frunie“ [„Israel
fliegt nicht mehr“] oder „Arab strzela, Żyd się cieszy“ [„Der
Araber schießt, der Jude freut sich“] beschreibt er in seinem charakteristischen, sensiblen Stil hauptsächlich Israels
Schicksal. In „Sand in den Augen“ zeichnet er ein Bild von
dem Leid der Palästinenser, die in den von Israel dominierten
Gebieten leben – in erster Linie, denn der bekannte Reporter
beschränkt sich nie auf die Darstellung nur einer Seite. „Ich
bin ein stolzer Jude und ein sehr beschämter Israeli“, sagt einer der Protagonisten seiner neusten Erzählung.
Smoleński stellt die Ereignisse, die stets die ersten Zeitungsseiten füllen, aus dem Blickpunkt der Bewohner des
unruhigsten Gebietes auf der Erde dar. Er lässt sie zu Wort
kommen, ohne immerfort Zusatzinformationen zu geben
oder die Perspektive zu erweitern. Der Leser bekommt dadurch den Eindruck, dass er selbst mit den Menschen spricht,
die der Reporter trifft. Es bleibt ihm überlassen, ob er tiefer
in das Thema einsteigen, ob er das Gehörte verifizieren will.
Die einzelnen Geschichten erzählen von gefolterten Häftlingen, zerstörten Wasserzisternen, vom täglichen Kampf gegen
den Besatzer. Aber auch vom eigentümlichen „Verdienen am
Konflikt“ und dem Aufblühen des Schmuggels, was aus der
Wirtschaftsblockade des Gazastreifens resultiert.
Am stärksten bleibt dem Leser zweifelsohne der neunjährige Mustafa in Erinnerung. Als die Palästinenser israelische Soldaten mit Steinen bewarfen, wurde er als lebendiger
Schild benutzt. Aber in „Sand in den Augen“ lernt der Leser
auch Hanna Barag kennen, eine der „Frauen von Machsom
Watch“, die kontrollieren, wie die Zivilbevölkerung an den
Checkpoints behandelt wird. Oder die an Krebs verstorbene
Arna Mer-Khamis, eine propalästinensische Jüdin, die eine
Theatergruppe leitete, welche die Annäherung zwischen den
Gesellschaften propagierte. Und viele andere.
„Sand in den Augen“ ist durchdrungen von Traurigkeit.
Diese Traurigkeit rührt von der Überzeugung her, dass sich so
schnell nichts ändern wird. Smoleński schreibt beispielsweise
über Dschenin, eine Stadt im Palästinensischen Autonomiegebiet im Norden des Westjordanlandes, dass er dort verstanden
habe „warum ich, wenn ich in ein paar Jahren wiederkomme
– mit Sicherheit auf den Straßen dieselbe Szenografie vorfinde: von Regen und Sonne ausgebleichte Bilder junger Männer
mit Shahid-Binden um den Kopf (bestimmt sind sie grün, aber
die Plakate sind so verblasst, dass man sich die Farbe denken
muss). Ich sehe die undeutlichen Porträts des jungen Ashraf,
Jusuf, Ali und vieler anderer Terroristen-Märtyrer. Was tut
es zur Sache, dass sie in ihrer Kindheit Schauspieler am Theater der Freiheit waren, dass sie Hunde und Könige gespielt
haben, dass sie Orwell zitiert haben? Schließlich werden sie
hier nicht dafür geschätzt.“
In der Titelreportage schreibt der Autor über seinen
Protagonisten, dass er „die Augen voller Sand hat vor Leid,
Enttäuschung und Widerwillen.“ Aber diese Worte passen
in Wirklichkeit zu vielen Menschen, die an dem israelischpalästinensischen Konflikt beteiligt sind. Vielleicht bleibt ja
gerade deshalb die Szenografie auf den Straßen nicht nur in
Dschenin, sondern an vielen Orten des Heiligen Landes, noch
lange dieselbe.
Małgorzata I. Niemczyńska
PAWEŁ SMOLEŃSKI
OCZY ZASYPANE PIASKIEM
CZARNE, WOŁOWIEC 2014
133×215, 264 PAGES
ISBN: 978-83-7536-700-3
TRANSLATION RIGHTS:
POLISHRIGHTS.COM
RIGHTS SOLD TO:
SLOVAKIA (ABSYNT)
A LS H A NNA BARAG
SAND IN
DEN AUGEN
dem damaligen Stabschef der israelischen Armee, General Mosche Jaalon, begegnete, war sie schon eine Weile
in Rente.
Der General – ein für seine harte Hand bekannter ehemaliger Fallschirmspringer, Fallschirmjäger und Soldat der
Spezialeinheiten des Mossad (heute ist er ein bekannter israelischer Politiker).
Hanna Barag – eine siebzigjährige vornehme Frau, grau
wie eine Taube. Sie hat zwei sehr erwachsene Kinder und
fünf Enkel, von denen sie sicher noch mehr bekommt. Unter anderem hat sie als Chefin des Sekretariats von General Mosche Dajan gearbeitet. Erfahrungen im Umgang mit
Menschen und in Gesprächen mit den Mächtigen dieser
Welt sind immer nützlich.
Leicht geschminkt, die Frisur, als käme sie soeben aus
dem Schönheitssalon. Diskrete Ohrringe, die Brille in einer
dünnen, goldenen Fassung. […]
Zu dritt gingen sie damals zum General: kleine, grauhaarige Frauen, unter ihnen die kleinste, Hanna, bestimmt
dezent geschminkt und mit goldenen Ohrringen. Damals
begann gerade die zweite Intifada der Palästinenser, der
Aufstand, der für seinen Terror und für Selbstmordattentate bekannt ist.
„Mosche trat in das Büro, seine Schuhe schlugen kräftig
auf den Boden“, erzählt sie. „Groß, riesig, aus meiner Perspektive geradezu bis zum Himmel, stattlich, streng, ein
echter Krieger. Die Manieren eines Militärs, eine tiefe Stimme, ich reiche ihm vielleicht bis zu den Knien. Er fragt unbekümmert, aber höflich, sicher hat er gedacht, der Arme,
dass es sich um einen Höflichkeitsbesuch handelt. Und wir
erzählen ihm von den Checkpoints, darüber, was da von der
Armee und den Grenzern angerichtet wird. Und dass man
das einfach nicht darf. Aber wir sagen auch, wie es den Soldaten geht, wie ihr Dienst abläuft, wie man ihn erträglicher
machen kann. Wir nennen Zahlen, Daten, Uhrzeiten, Tatsachen. Schließlich sind diese Soldaten kaum älter als unsere
Enkel, wenn überhaupt.
Wenn Mosche den Krieg gegen die ganze arabische Welt
allein gewonnen hätte, wäre er weniger überrascht gewesen. Er machte Augen wie Untertassen. „Er hatte“, sagt Hanna, „drei Omas erwartet, im Höchstfall leicht hysterische,
aber nun sprach er mit Partnerinnen, die Bescheid wussten.“ Er gab ihnen seine privaten Telefonnummern, erlaubte ihnen, jederzeit anzurufen, und die Armee richtete eine
spezielle Hotline ein. „Aus gutem Willen, aber auch“, so
Hanna, „aus Angst, dass die Omas wütend werden.“
„Jetzt stellen wir uns an die Wand, hier, bitte sehr“, sagt
Hanna. „Eng zusammen, ich habe keine kräftige Stimme.
Still, hier ist genug Lärm. Und keine Fotos. Das ist nicht unbedingt verboten, aber lieber nicht fotografieren, weil sich
die Soldaten sonst aufregen, wir müssen sie nicht stören,
diese Arbeit ist relativ langweilig, stupide und stressig, ich
könnte das nicht.“
Es ist sehr früh am Morgen, es ist kalt, obwohl sich ein
heißer Tag ankündigt. Tausende Palästinenser gehen in Israel zur Arbeit, überqueren den Checkpoint auf dem Weg
von Bethlehem nach Jerusalem. Hanna ist gekommen, als
der Morgen graute. Sie schaut sich um, damit alles gut abläuft.
„Das Verhalten der Soldaten, die die Palästinenser kontrollieren, ist ein Zeugnis, das wir uns selbst ausstellen“, sagt
sie. „Wir Israelis, alle. Es spielt keine Rolle, ob wir gegen
die Besatzung sind, oder dafür. Menschen müssen wie Menschen behandelt werden, unabhängig von den Umständen.
Vor allem ist das gut für Israel.“
Und so unterhalten wir uns an einem Ort, der die einst
offene Straße Nummer 60 zwischen Jerusalem und Bethlehem verstopft, die im Süden in Richtung Be’er Scheva verläuft und im Norden bis nach Galiläa und Nazareth. Diesen
Weg sind Abraham, David und Jesus gegangen. Diese Stelle
heißt Checkpoint 300 oder Terminal 300. Ich bin sicher,
dass niemand diesen Ort mag.
Als Hanna nach Hause kommt, gibt sie einen genauen
Bericht: was, wer, um welche Uhrzeit und aus welchem –
ihrer Meinung nach – Grund. Am selben Nachmittag wird
ihr Bericht auf die Internetseite gestellt. Es kommt vor, dass
dem ein paar höfliche, entschiedene Anrufe bei den wichtigsten israelischen Militärs vorausgehen. […]
Eine Soldatin kommt auf uns zu, ein langhaariges, junges, eher rundes Mädchen mit einem Gewehr über der
Schulter. Sie wirft ein Auge auf Hanna und kehrt gelangweilt dahin zurück, wo sie herkam. In ihrem Blick liegt kein
Wohlwollen, aber auch keine Absicht; ich würde das Gleichgültigkeit und Respekt nennen.
Hanna nimmt das Mädchen nicht wahr, weil sie auf
die Stimmen hört, die hinter einem der Durchgangstore
zu hören sind: die palästinensische Schlange streitet sich.
Als der Zank leiser wird, zeigt sie mit dem Finger auf die
Plakette, die an einem breiten Band um ihren Hals hängt,
was überhaupt nicht zu Hannas eleganter Kleidung passen
will.
„Das ist meine einzige Waffe.“ Sie lächelt und buchstabiert die Aufschrift „Machsom Watch.“ „Und wer traut sich
schon, Omas gegenüber aufzumucken?“, fügt sie hinzu.
Mir scheint, dass sie sogar zwinkert.
Auf Hebräisch heißt Kontrollpunkt „machsom“, auf Arabisch „hajez“. Israelis und Palästinenser kennen das Wort
allzu gut. Wenn ich die Checkpoints fotografieren und die
Fotos dann vergleichen würde, würde ich keinerlei Ähnlichkeit feststellen. Checkpoint 300 sieht aus wie eine riesige Markthalle, überdacht, mit verschachtelten Gängen und
Korridoren, Schleusen und verglasten Kabinen, in manchen
sitzen Soldaten, angeleuchtet von den Monitoren ihrer
Computer. Dunkelblaue, abgewetzte kugelsichere Westen
der Mitarbeiter privater Sicherheitsfirmen. Stahltore, die
sich auf einen elektrischen Impuls hin öffnen. Geschlossene Türen zu geheimen Räumen. Durchsuchen von Hosentaschen und Plastiktüten mit Essen, Kontrolle der Passierscheine, Scannen von Fingerabdrücken. Der Geruch von
ärgerlichen, manchmal entsetzten Menschen, die es eilig
haben, wie das an der Grenze eben ist, obwohl es hier gar
keine echte Grenze gibt, schließlich existiert der palästinensische Staat nicht.
Hinter dem letzten Tor liegt Israel: massenweise Männer
auf den Mauern und dem spärlichen Rasen, Kleinbusse, die
auf die Arbeiter warten, transportierbare Stände mit Kaffee
und Tee. Als die Menge gegen sieben auseinandergeht, von
Jerusalem nach Aschkelon und Tel Aviv, hinterlässt sie bergeweise Müll, herumliegendes Papier, massenweise Kippen
und Plastikbecher.
Der Übergang Kalandia im Norden von Jerusalem ist ein
ewiger Stau, größer ist er auf der palästinensischen Seite,
da die Einreise von Israel in die Autonomiegebiete nicht
kontrolliert wird. Abgase und eine Fahrbahn mit herausgerissenem Asphalt. Überfüllte Parkplätze auf der arabischen
Seite. Verkaufsstände für Nüsse und Sonnenbrillen. Kakophonie der Hupen, dass man Ohrenschmerzen bekommt.
Erez, das in den Gazastreifen einlässt, sieht aus wie ein
verlassenes Raumschiff, abgesehen von dem Dutzend palästinensischer Kinder, die von ihren Müttern eskortiert
werden, und den Kranken mit Begleitperson. Die Fragen
der unsichtbaren Grenzer kommen von den Wänden oder
von der Decke; anonyme, entschiedene Kommandos. Als ich
Erez passierte, befahl mir ein versteckter Big Brother, meine Hosentaschen zu leeren. Dann stand ich – wie befohlen
– mit erhobenen Armen da, während Big Brother sagte: „Du
hast eine Papierkugel in deiner Hosentasche.“ Ich kramte
ein zusammengeknülltes Zigarettenpapier hervor, das so
groß war wie der Nagel meines kleinen Fingers, und legte
es auf die glänzende Stahlplatte. Big Brother war zufrieden.
Aber den größten Eindruck macht auf mich immer der
kleine Checkpoint, der das arabische Hebron mit dem Eingang zur Abraham-Moschee im von Israel kontrollierten
Teil der Altstadt verbindet. Die dunkle und enge uralte
Gasse, mit einem bogenförmigen Gewölbe überdacht, wird
plötzlich von einer Stahltür verschlossen. Dahinter ist ein
echter Käfig, der mit einem Drehkreuz aus Stahl abschließt.
Das Drehkreuz öffnet sich von Zeit zu Zeit und lässt ein paar
Leute durch, der Rest drängt sich in dem Käfig, beobachtet
von Soldaten, die sich hinter Betonplatten versteckt halten.
Keine Computer und keine raffinierte Technologie. Nur die
Augen der Grenzer durchleuchten alle Grenzgänger. Niemand fragt nach einem Passierschein; hier sind sie nicht
notwendig. Die Augen der Soldaten sehen alles. Selbst in
einem unbarmherzig überfüllten Käfig.
Vielleicht sind gerade die Käfige auf der palästinensischen Seite (klein wie in Hebron, geräumig wie am Checkpoint 300 und in Kalandia, viele hundert Meter lang wie in
Erez) das Gemeinsame aller Checkpoints. Und diese Angst,
die Unsicherheit, die Überzeugung, dass jemand, der einen
Checkpoint passiert, ein Niemand ist, dass man mit ihm
alles machen kann: demütigen, entwürdigen, vernichten,
schlagen. Hanna Barag kommt an den Ort, wo sich Jerusalem und Bethlehem treffen, um dieses „alles“ zu begrenzen.
Von den Haupt-Checkpoints, die von Machsom Watch
beobachtet werden, gibt es mehrere Dutzend. Zählt man die
Blockaden, die Betonklötzer, die auf die Straßen gelegt wurden, die Schranken oder Erddämme hinzu, die die Zufahrt
zu den Hauptstraßen abtrennen, rechnet man die vorübergehenden und fliegenden Kontrollpunkte mit ein, dann sind
es auf den besetzten Gebieten insgesamt um die Tausend.
Die Omas von Machsom Watch wissen fast alles über alle.
Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska
WITOLD
SZABŁOWSKI
TANZBÄREN
© Albert Zawada AG
Witold Szabłowski (geb. 1980), Reporter bei der
„Gazeta Wyborcza“, mehrmals ausgezeichneter Autor, u.a. mit dem „Beata-Pawlak-Preis“ für
Texte über andere Kulturen, Religionen und Zivilisationen. Sein Debüt, eine Reportage über die
Türkei mit dem Titel „Weil ich dich liebe, Schwester“ [Zabójca z miasta moreli. Reportaże z Turcji],
befand die amerikanische „World Literature Today“ für eine der wichtigsten Übersetzungen ins
Englische im Jahr 2013.
Das ist ein Bär. Er ist vielleicht erst wenige, vielleicht aber
mehrere Dutzend Jahre alt. Dichtes Fell, zweihundert Kilo Gewicht, in der Nase einen Ring. Das ist ein Metallring, den ihn
sein Herr, ein Zigeuner, in seine empfindlichste Stelle gestoßen hat. Deshalb ist der Bär gehorsam. Er steht auf den Hinterpfoten und tanzt, er kann bekannte Sportler, Politiker und
andere Stars nachahmen, und bevor man seinen Lottoschein
abschickt, kann man ihn streicheln – das soll Glück bringen.
Er wohnt normalerweise auf dem Hof seiner Menschen und
isst täglich mehrere Brotlaibe. Er kaut sie langsam – nicht selten hat er ausgeschlagene Zähne.
Witold Szabłowski erzählt in seiner Reportage „Tanzbären“
von den Jahren kurz nach Bulgariens EU-Beitritt. Unter vielen Veränderungen, die damals in dem Land am Schwarzen
Meer eintraten, gab es auch eine bezüglich der Tanzbären.
Eine Tierschutzorganisation hat den Zigeunern damals die
Bären weggenommen und sie in einem speziellen Park untergebracht, wo sie die Freiheit lernen. Klingt wunderbar. Aber
ist es das wirklich?
Das Buch beginnt mit einem Gespräch mit einem ehemaligen Bärenbesitzer. Die Trennung von dem Bären ist für ihn
ein Drama. Er ist der Meinung, er habe sein Tier wie ein Familienmitglied behandelt, habe es nie geschlagen, im Gegenteil
– habe sich gekümmert so gut er konnte. In die Freiheit fahren
die Bären in Käfigen – wie symbolisch. Weil sie an das Leben
unter Menschen gewöhnt sind, verlieren sie nun die Orientierung. Sie berühren mit den Pfoten ihre Nasen, die überraschend von den Ringen befreit sind. Sie sind nicht in der Lage,
sich selbst Futter zu besorgen. Sie lernen, Winterschlaf zu halten. Weil sie so ungeschickt sind, werden sie kastriert (denn
was sollten sie ihren Jungen beibringen?). Hinzu kommt, dass
ihr Freiraum von einem Elektrozaun begrenzt wird.
„Freiheit ist eine wahnsinnig komplizierte Sache. Man
muss sie langsam dosieren“, sagt einer der neuen Bärenpfleger. Wem ist noch nicht aufgefallen, dass es hier gar nicht um
Bären geht? Szabłowskis Buch erinnert an die Reportage der
polnischen Reporterin Barbara N. Łopieńska „Łapa w łapę“
[Pfote in Pfote] von 1976, in dem die Dressur von Tigern als
Metapher für das Verhältnis zwischen Machthabern und Bürgern in Zeiten des realen Sozialismus stand. Heute ist diese
Reportage ein Standardbeispiel für äsopische Reportersprache. Doch Szabłowski braucht keine Tier-Metapher, um die
Zensur zu überlisten. Er darf weiter gehen. Und er geht weiter.
Der zweite Teil der „Tanzbären“ besteht aus Reportagen
von verschiedenen Orten der Welt, die alle auf irgendeine
Weise von der Transformation des politischen Systems handeln. Der Autor ist dafür bekannt, dass er die Wohltaten des
Kapitalismus (besonders in dem gemeinsam mit Izabela Meyza verfassten Buch „Nasz mały PRL“ [Unsere kleine Volksrepublik Polen] über das Alltagsleben in Volkspolen) skeptisch
bewertet. Eine ähnliche – wenn auch nicht eindeutige – Haltung ist auch in diesen Texten zu sehen. Die flotte Sprache
und das aufmerksame Auge des Beobachters sorgen dafür,
dass Szabłowskis Erzählungen – ob aus Kuba, aus der Ukraine
oder vom Balkan – wirklich frappierend sind.
Małgorzata I. Niemczyńska
WITOLD SZABŁOWSKI
TAŃCZĄCE NIEDŹWIEDZIE
AGORA SA, WARSZAWA 2014
135×210, 224 PAGES
ISBN: 978-83-268-1335-1
TRANSLATION RIGHTS:
POLISHRIGHTS.COM
STALINS
VESTALINNEN
TANZBÄREN
Er kommt nachts zu mir. Er schaut, raucht Pfeife, zwirbelt
seinen Schnurrbart. Er lächelt – und geht zur Tür. Dann
weine ich und schreie, dass er bleiben soll. Aber was kümmert es einen Kerl, wenn die Frau weint? Der Georgier
macht es so: Wodka trinken, eindringen, schnell kommen
und einschlafen. Ich hasse Trinker. Aber andere gibt es hier,
in Gori, nicht. Andere gibt es nur in amerikanischen Filmen.
Stalin, das ist etwas anderes. Voller Kultur. Der wusste, wie man für eine Frau sorgt, wie man ihr Komplimente
macht, wie man gut riecht. Er lebte bescheiden, aber trug
elegante Kleidung. Und er trank nicht zu viel. Und wenn,
dann nur guten Alkohol. Dass er den Faschismus und Hitler besiegt hat, brauche ich gar nicht zu erwähnen. Deshalb
habe ich mir vor vielen Jahren gesagt: Tanja, wozu in aller Welt sollst du dich mit Säufern herumschlagen? Wozu,
wenn du mit Stalin leben kannst?
anna sreseli: er ist wie eine familie
Wir stehen vor dem Haus, in dem Josef Wissarionowitsch
Stalin zur Welt kam. Seine Eltern waren arm. Die Mutter
wusch den örtlichen Popen die Wäsche. Der Vater war
Schuster. Wie Sie sehen, wurde sein Haus wieder aufgebaut,
mit einer Konstruktion im antiken Stil. Die Nachbarhäuser
wurden abgerissen. Ja, der ganze Bezirk. Nein, ich finde das
nicht seltsam. Wenn hier die Hühner kacken, und die Kinder Ball spielen würden, wären Sie dann zufriedener? […]
Vor ein paar Jahren hatten wir Krieg. Die Grenze zu Ossetien ist nah. Hundert russische Panzer rollten durch Gori.
Wir flohen nach Tbilisi, und ich hatte nicht etwa Angst, dass
sie mir den Plattenbau und meine Wohnung abreißen, sondern dass sie das Museum zerstören. Aber sie haben nichts
angerührt. Sie haben immer noch Angst vor Stalin. Sie haben nicht einmal ein Stück Rasen angerührt, haben sich nur
vor seinem Denkmal fotografiert. Auf diese Weise hat Stalin
uns aus dem Grab heraus gerettet.
Als ich zur Schule ging, träumten die einen Mädchen
von einer Arbeit im Geschäft, andere wollten in den Kosmos
fliegen, und ich wollte den Menschen von meinem großen
Landsmann erzählen. Mein ganzes Leben habe ich so gelenkt, dass sich das erfüllt. Nach dem Studium bin ich zum
Museum gegangen und habe nach Arbeit gefragt.
Aber damals war die Sowjetunion schon am Untergehen.
Das Museum war geschlossen und hat nur knapp überdauert. Erst seit kurzen wird wieder eingestellt. Ich war die erste, die mit der neuen Rekrutierung aufgenommen wurde
– ich habe eine halbe Stelle im Museum.
Im Studium habe ich noch gelernt, dass Stalin ein hervorragender Staatsmann war. Aber das System hat sich
geändert, das Programm hat sich auch geändert und jetzt
soll ich lehren, dass er ein Tyrann und Verbrecher war. Ich
sehe das nicht so. Umsiedlungen? Die waren notwendig, damit die Menschen in Frieden leben. Morde? Dafür ist nicht
er verantwortlich, sondern Beria. Hunger in der Ukraine?
Das war eine Naturkatastrophe. Katyn? Ich wusste, dass Sie
danach fragen werden. Alle Polen fragen danach. Ich bitte
Sie, Katyn das war Krieg. Im Krieg sind solche Verfahrensweisen normal. Und bevor Sie jetzt anfangen zu schimpfen,
lassen Sie mich bitte ausreden. Haben Sie sich beruhigt?
Dann sage ich Ihnen jetzt, was ich persönlich denke.
Ich halte Stalin für einen großen Menschen, aber das
darf ich weder den Schülern noch den Touristen sagen. Deshalb sage ich: „Für die einen ist er ein Diktator, für die anderen ein Tyrann, für noch andere ein Genie. Wie es wirklich
ist, beantwortet euch selbst.“
tatjana mardschanischwili:
gott, hol mich zu stalinchen
Wenn ich sehe, was sie mit unserem Stalinchen gemacht
habe, bleibt mir das Herz stehen! Wie kann man nur? Wie
kann man aus so einem guten Menschen ein Ungeheuer machen, einen Menschenfresser, ein Monstrum?
Früher kam ein Bus nach dem anderen zu unserem
Museum. Die Menschen standen mehrere hundert Meter
Schlange. Ich schaute in ihre Gesichter und sah, dass sie
gute Menschen sind. Und heute? Da würde einer den anderen am liebsten totbeißen. Das ist der Kapitalismus.
Jetzt gehe ich da nicht mehr hin. Erstens, weil mich das
traurig macht. Wegen meiner Jugend, meiner Arbeit, meiner Freunde. Und zweitens, weil meine Beine schwach sind.
Ich kann nicht einmal allein die Treppe runtergehen. Im
März werde ich 82, man kann ja nicht das ganze Leben lang
gesund sein. Morgens stehe ich auf, schneide Brot, brühe
Tee auf, setze mich hin und sage: „Warum hast du mich, Jesus Christus, solche Zeiten erleben lassen? Warum machen
die unser Täubchen Stalin schlecht?“
Aber dann denke ich mir: „Erinnere dich, Tanja, wie viel
Stalin für die Menschen erleiden musste. Auch für dich hat
er gehungert, zu wenig geschlafen. Gegen den Faschismus
hat er gekämpft, damit du deine Schule abschließen konntest.“ Und dann nehme ich mir die Medaille mit Stalins
Gesicht, die ich bei meinem Abschied von der Arbeit bekommen habe. Ich streichle ihm, dem Täubchen, über den
Schnurrbart und dann geht‘s mir irgendwie besser.
Im Museum habe ich seit 1975 gearbeitet. Als Aufpasser –
jemand, der für die Ordnung und Sicherheit der Ausstellung
verantwortlich ist. Wenn jemand versuchte, die Exponate
zu berühren, mussten wir hingehen und schimpfen.
Leicht war das nicht. Aus den Dörfern kamen alte Frauen
und stürzten sich auf unser Stalinchen. Jedes Foto auf der
Ausstellung mussten sie wie Ikonen in der Kirche küssen.
Es gibt fast tausend solcher Fotos! Wenn ein ganzer Bus mit
Weibern kam und alle ihn küssen wollten, was sollte ich da
machen? Wenn der Direktor es sah, bin ich rumgelaufen
und habe geschimpft. Aber wenn er es nicht sah, sagte ich:
„Küsst ihn, Gott gib euch Gesundheit! Aber rührt mir bloß
die Maske nicht an. Unter keinen Umständen.“ Die Maske
ist im ganzen Museum das Heiligste, denn das ist eine Totenmaske.
Früher habe ich im Nationalmuseum von Tbilisi gearbeitet, aber mein zweiter Mann war aus Gori und da habe ich
eine Versetzung erwirkt. Das war nicht einfach. Das StalinMuseum war kein Ort, wo man von der Straße reinkommen
und fragen konnte „Habt ihr nicht Arbeit?“. Der Ruf war
von Bedeutung. Ich war geschieden. Mein erster Mann hatte getrunken und geschlagen – es bringt nichts, von ihm zu
erzählen. Damals hatte ich Angst, dass meine Scheidung ein
Problem sein könnte. Zum Glück hatte ich eine sehr gute
Beurteilung von Tbilisi.
Die elegantesten Leute aus der ganzen Welt kamen, um
Stalins Haus zu bewundern. Aus ganz Russland, aus Asien,
aus Amerika. Journalisten, Botschafter, Künstler. Und ich
stand zwischen den Exponaten mit meinem Namenskärtchen, stolz wie wer weiß was. Diese Arbeit war für mich
alles. Das Museum war für mich wie ein Zuhause.
Mein Mann verstand das nicht. Ich konnte mich mit ihm
nicht unterhalten. Obwohl ich die Ausstellung bewachte, las
ich Bücher, lernte Menschen kennen. Und er trank auch. Er
hat auch versucht, mich zu schlagen, aber das habe ich mir
nicht bieten lassen. Später wurde er krank, bekam eine
Rente. Tagelang saß er in der Wohnung oder bei seiner Mutter. Um mich zu ärgern, sagte er schlechte Dinge über Stalin.
Als die UdSSR unterging, streckte er mir die Zunge raus,
so eine Genugtuung empfand er. Und dann starb er.
Schade, dass er die heutigen Zeiten nicht mehr erlebt
hat. Jetzt würde ich ihm die Zunge rausstrecken. Wozu
brauchen wir den Kapitalismus, die amerikanischen Käse,
Säfte, Schokoladen? Du kannst nicht einmal mehr normale Milch kaufen, sondern die muss im Karton sein, weil es
in Amerika so ist. Ich denke mir: „Jesus Christus, hol mich
zu meinem Stalinchen. Hol mich von dieser Welt, denn ich
halte es nicht länger aus.“ […]
tatjana gurgenidse:
ich wäre gut zu ihm
Ich bin in das falsche System hineingeboren. Denn ich habe
die Mentalität eines Helden der Arbeit. Wenn etwas ehrenamtlich gemacht werden muss, gehe ich hin und tue es. Ich
habe eine Wandzeitung für die Mitarbeiter gemacht. Unterricht für alleinerziehende Mütter gegeben. Als Krieg war,
habe ich geholfen, die Hilfsgüter zu verteilen.
Im Kommunismus würden mich alle schätzen. Aber wir
haben Kapitalismus und sie schauen mich an wie eine Idiotin.
Wenn ich wirklich nicht mehr kann, komme ich ins Museum, um ruhig zu werden. Ich sage: „Herr Stalin, ich weiß,
dass Sie das zu schätzen wüssten.“ Das hilft. Und wenn ich
von Stalin träume – ich habe es Ihnen erzählt, dass er schaut,
seinen Schnurrbart zwirbelt und rausgeht – dann ist das
meistens ein paar Tage nach so einer Beruhigungsphase.
Mit meiner Herangehensweise an die Kerle passe ich
auch nicht in diese Epoche. Wissen Sie, in der Sowjetunion
gab es keinen Sex. Es gab ein Geschlechtsleben. Das, was die
Jugend jetzt im Fernsehen sieht, gab es nicht. Die Musikvideos und die nackten, mit Verlaub, Ärsche. Ein Kuss, oder
wenn jemand jemanden leicht über die Schulter gestrichen
hat, genügte. Die Frau sollte eine gute Arbeiterin sein, sich
bescheiden kleiden und verhalten. Wenn ich mir die heutigen Mädchen ansehe, gehe ich auch ins Museum. Und ich
sage: „Herr Stalin, Ihnen würde das auch nicht gefallen.“
Und das hilft wieder.
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New York: Melville House
NEUE BÜCHER AUS POLEN
©Das Polnische Buchinstitut, Krakau 2014
Redaktion: Izabella Kaluta, Andre Rudolph
Texte von: Kinga Dunin, Małgorzata I. Niemczyńska,
Iga Noszczyk, Dariusz Nowacki, Marcin Sendecki,
Kazimiera Szczuka, Marcin Wilk, Marek Zaleski
Übersetzung: Brygida Helbig, Lisa Palmes,
Antje Ritter-Jasińska, Renate Schmidgall,
Benjamin Voelkel, Thomas Weiler
Weitere Informationen über die Polnische
Literatur auf www.bookinstitute.pl
Eine englische Ausgabe dieses Katalogs unter
dem Titel New Book From Poland No 56
kann über das Buchinstitut bezogen werden.
Graphik und Satz:
Studio Otwarte, www.otwarte.com.pl
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