Spiel - NERV Magazin

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Spiel - NERV Magazin
MA G A ZI N FÜR ST UDENTISCHES SEIN
02
2014
LIEBE NERV-LESER * INNEN,
CHEFREDAKTEUR
Vreda Marschner
GRAFISCHES KONZEPT UND LAYOUT
Christine Edelmann und Katrin Pultermann
HERAUSGEBER
Jan Felix Bergmann (AStA)
REDAKTION
Nele Beck, Marvin Dreiwes, Christine Edelmann, Kornelius
Friz, Aline Gallas, Julian Hocker, Vreda Marschner, Katrin
Pultermann
LEKTORAT
Nele Beck, Christine Edelmann, Kornelius Friz, Julian
Hocker, Vreda Marschner, Mareike T.
EXTERNE BEITRÄGE
Hendrik Buhr, Lena Discherl, Hannah Feiler, HoKi, Urs
Humpenöder, Anne K., Marlene Klünker, Veronika Knaus,
Marcel Kurzidim, Milan Lugerth, Kevin Momoh,
Anne-Sophie Nagels, Mihau Pollak, Dustin Rauch, Eva
Reuter, Julia Roth, Julia Rüegger, Eric Christopher Straube,
Johann D. Thomas, Andre Vespermann
Gesetzt aus Adobe Garamond Pro, GeosansLight,
Geneva Papier Recymago 115 g; Resaoffset 250 g Druck
B&W Druckservice, Bad Salzdetfurth, b-und-wdruck.de Auflage 1.000 Stück Finanziert aus Mitteln
des AStAs der Stiftung Universität Hildesheim, Marienburger Platz 22, 31141 Hildesheim (ViSdP). Die Artikel
geben nicht notwendigerweise die Meinung der
Redaktion wieder.
Impressum
alles ist Spiel, irgendwie. In all unserem Handeln, in
jeder Interaktion mit der Gesellschaft, verbergen sich
Komponenten des Spiels. Was ein Spiel dabei ausmacht,
kann ganz unterschiedlich sein, denn unterschiedlich ist
jeweils die Gestalt, die es dabei annimmt.
Sei es nun das völlig vertiefte Spiel des sich selbst
genügenden Kindes, für das alles Mögliche als Spielmaterial herhalten kann – ein Spiel, das oft aber auch ganz
ohne Material stattfindet und das mit scheinbar völliger
Zweckfreiheit daherkommt. Seien es alle möglichen
Arten des Gesellschaftsspiels, allen voran das Brettspiel,
mit dem sich auch Erwachsene gerne die Zeit vertreiben
und das nur im Rahmen eines festen Regelwerks und
mit Hilfsmitteln wie Würfeln, Spielfiguren etc. funktioniert.
Außerdem natürlich Computer- und Videospiele, die auch allein
gespielt werden können, oft zum Abschalten des überarbeiteten
Verstands. Schließlich all unser Schauspiel in der Interaktion mit
unseren Mitmenschen, bei dem wir Eigenschaften des Spiels auf
unser Handeln im Alltag ausweiten und übertragen. Da gibt es
Machtspiele, Kennenlernspiele, Flirtspiele oder schlicht jenes
alberne Herumgeplänkel, das sich gerne unter guten Freunden
einstellt. Wir spielen überall und andauernd und zu völlig unterschiedlichen Zwecken.
Schiller behauptete sogar, dass das Spiel eines der Merkmale
sei, die uns zu Menschen machten. Was uns doch nämlich vom
Tier unterscheidet, ist unsere Fähigkeit der Imagination und die
Fähigkeit, alternative (Ir)Realitäten zu akzeptieren. Im Spiel kann
sich der Spielende völlig verlieren und ganz neue Welten aufbauen.
Spiel hilft uns, die Welt um uns herum experimentell zu erforschen,
uns in der Gesellschaft zurechtzufinden, unserem Alltag etwas
Schwere zu nehmen. Spiel kann also als eine Art Instrument verstanden werden, eine Art Kompass vielleicht.
Und diesen Kompass überlasse ich nun euch, macht euch mit
ihm und dem neuen NERV auf in ein neues Abenteuer, begebt
euch auf die Spielwiesen dieses Lebens, testet die Achterbahnen
Niedersachsens, streift durch schwindende Dorfidyllen oder spielt
ganz einfach eine Runde Vier gewinnt!
Also: Let the games begin; auf die Plätze, fertig, los; neues Spiel
– neues Glück usw. usf.
HERZLICHST,
VREDA MARSCHNER, CHEFREDAKTEURIN
8
Einige ernstzunehmende Bedenken zum Spiel
Spiel
Gesellschaft
Hildesheim
Spiel mit deinem Leben – fahr Achterbahn!
10
Hildesheimer Spielplätze
14
I ♥ GAMES
20
Spiel mit mir
26
Vielleicht liegt es an Tschernobyl
32
Killerspiel
36
Das Spiel des Lebens – Spielideen
38
Heimat, Nostalgie & Abrissbirnen
40
Nicht mal lächeln
44
Face – Gesichter einer Stadt
46
Studierende und die Politik
56
hilde in your face
58
»Der Homo ludens in der Universität«
64
Hilde Tag und Nacht
70
6 mal 6 Fragen an das STATE OF THE ART #6
73
Das Königreich eines Kindes 76
Kultur
Inhalt
Milka Luflée
80
Stadtsommer
82
STETS BEMÜHT
84
»Ich bin Swagoptimist« 90
HoKi 94
8
Einige ernstzunehmende
Bedenken zum Spiel
10
Spiel mit deinem Leben
– fahr Achterbahn!
14
Hildesheimer
Spielplätze
20
I ♥ GAMES
26
Spiel mit mir
EINIGE ERNSTZUNEHMENDE
BEDENKEN ZUM SPIEL
Ende der Vorbereitung. Los geht’s:
Erstens.
Erstens: Das Spiel wird vorbereitet. (Geschehen.)
Zweitens: Spiele ahmen das Leben nach. Nachahmung ist Vereinfachung.
Vereinfachung reduziert Ernsthaftigkeit. Nachahmung ahmt auch Ernsthaftigkeit nach. (So einfach ist das.)
Drittens: Spiele sind unentschieden. Nicht total egal. (Nein.) Nicht wirklich wichtig. (Nein nein.) Weder unernst, noch ernst. Oder beides.
Also: Wenn ein Spiel entschieden wird, ist es vorbei.
Und: Über Unentschiedenheit kann man sich unterhalten. Unterhaltung
ist unterhaltsam.
Viertens: Spiele sind vom Leben abgetrennt.
Fünftens: Spiele haben Regeln. (Das Leben auch? Ah, aber nur da, wo es
Spiel ist.)
Sechstens: Spiele haben einen Anfang und ein Ende. (Spiele haben keine
Mitte.)
Siebtens: Spiele haben eine Reihenfolge.
Vierzehntens: Spiele haben ein Ende, das nicht der Tod ist. (Leben hat ein
Ende, das der Tod ist.)
Fünfzehntens: Spiele gelten auf Zeit. Das Leben tut immer ewig. Immer:
ewige Liebe, ewiger Tod.
Neuntens: Im Spiel bin ich frei.
Aber Achtung: Fünftens: Spiele haben Regeln. Im Spiel bin ich gebunden.
Das Spiel zwingt mich, mich an die Regeln zu halten.
Nein, doch lieber Neuntens: Im Spiel bin ich frei.
Aha: Regeln machen frei.
Spiele haben Regeln.
Im Spiel bin ich frei.
Zehntens: Aus dem Spiel kann ich aussteigen. Ja, kann Siebenundzwanzigstens: Ich spiele, damit ich mich
auch wieder einsteigen. Und wieder. Und wieder. Ins nicht langweile, wenn die Arbeit getan ist. (Alles Lüge.
Leben: nur einmal. Einmal mit dem Leben anfangen, In Wahrheit (jetzt mal ganz ernsthaft) spiele ich gegen
irgendwann (einmal) mit dem Leben aufhören. Spiele die Angst vor der Lächerlichkeit der Ernsthaftigkeit.
sind wiederholbar. Leben ist einmalig. (Leben ist Schutz. Hab’ nur gespielt. NUR! Oh, großes »nur«.)
pathetisch. – Ach ja, deshalb muss es ewig so tun als sei Achtundzwanzigstens: Es gibt verschiedene Spiele.
es ewig. Leben ist Lüge. Oha. Ist Spiel Wahrheit?)
Sehr verschiedene Spiele. (Oh ja.)
Elftens: Spiel wird das, was ich als Spiel betreibe. Wenn Manche Leute finden manche Spiele doof. (Jaja.)
ich mich nicht entscheide, ob ich, was ich tue, ernst Elftens: Spiel wird das, was ich als Spiel betreibe.
nehme oder nicht, dann spiele ich, dann spiele ich Was ich – nur – als Spiel betreibe, ist für dich vielleicht,
wohl. (Was ich als Spiel betreibe, ist für dich vielleicht kein Spiel.
kein Spiel.)
Achtundzwanzigstens: Manche Leute finden
»
Zwölftens: Wer das Spiel ernst nimmt, zermanche Spiele doof.
DAS LEBEN
stört das Spiel. (Alles ist gewichtig.) Wer das
Einunddreißigstens: Spiele machen Spaß.
Spiel nicht ernst nimmt, zerstört das Spiel. BESTEHT IN DER Ein doofes Spiel ist kein Spiel.
(Alles ist unwichtig.) Das Spiel ist das Letzte, MÖGLICHKEIT Fünfunddreißigstens: Manche Leute finden
ZU SPIELEN.
was ich noch ernst nehmen kann.
alle Spiele doof.
«
Sechzehntens: Das Leben.
Sechsunddreißigstens: Das Leben ahmt
Das Leben besteht in der Möglichkeit zu
Spiele nach.
spielen. Das Spiel hat aufgehört, wo die Möglichkeit zu Neunundzwanzigstens: Es ist ein Unterschied, ob
spielen angegriffen wurde. (Kriegterrortoddemenzge- Erwachsene oder Kinder spielen. Kinder haben offendichte)
bar die größere Erfahrung.
(Was war gemeint? Die Möglichkeit, zu spielen. Oder: Zweiunddreißigstens: Es gibt professionelle Spieler
Die Möglichkeit zu spielen (auszuspielen; wir spielen (Schauspieler zum Beispiel.) Bin ich nicht. Spiele
das, was möglich ist. Wir spielen. Was möglich ist.) ?) trotzdem. Denke: Müssen Spieler nicht gerade AmaSiebzehntens: Spiele haben ihren Raum. Spiele haben teure sein? Antworte mal: Ja. – Ja-ha! Das ist es also
ihre Zeit. Es gibt einen Spielplatz.
auch, was die Professionalität der professionellen SpieAchtzehntens: Gegenüber der unvollkommenen Welt ler ausmacht: Amateur bleiben zu können, man denke:
kann das Spiel für kurze Zeit Vollkommenheit aus- professionell Amateur bleiben. Das ist die Profession
strahlen. (Hach.)
des Spielers.
Zweitens: Spiele ahmen das Leben nach.
Dreißigstens: Spielen kann süchtig machen. (Vorsicht.)
Sechsunddreißigstens: Das Leben ahmt Spiele nach.
Denn: Neunzehntens. (Bitte wiederholen.)
Fünftens: Spiele haben Regeln.
Siebzehntens: Spiele haben ihren Raum. Spiele haben
ihre Zeit.
Vierundzwanzigstens: Das Spiel ist grenzenlos.
Marcel Kurzidim
9
Zum Beispiel:
Das Spiel ist das Letzte, was man noch ernst nehmen kann.
Das Spiel kann man ernst nehmen, weil draufsteht, dass man es nicht so
ganz ernst zu nehmen hat.
Alles, was Ernsthaftigkeit behauptet, wird sofort lächerlich.
Na ja. Man kann das Spiel als Spiel ernst nehmen. Aber dann so: nur als
Spiel. Man nimmt das Spiel nicht als Leben (ernst).
»
SPIELE GELTEN AUF ZEIT.
DAS LEBEN TUT IMMER
EWIG. IMMER: EWIGE
LIEBE, EWIGER TOD.
«
8
10
Eric Christopher Straube
Eric Christopher Straube
(Hodenhagen)
Glückwunsch, lieber Serengeti-Park, denn du wirst
dieses Jahr 40 Jahre alt! Und trotzdem, der Reiz, der
diesen Park ausmacht, ist nur selten in der Welt zu
finden. Hier sind die eigentlichen Attraktionen die
über 1.500 Tiere des Parks: 1972 wollte ein britischer
Herzog im beschaulichen Zentrum Niedersachsens
den größten Safaripark Europas bauen. 1974 war es
dann so weit und Hodenhagen wurde zu einem neuen
Erlebnismekka. Für viele immer noch unglaublich, wie
man mit dem eigenen Auto durch riesige Gehege fährt,
die Tiere aus dem Fenster streicheln und füttern kann.
Zehn Jahre später begann dann der Ausbau zum Freizeitpark. Heute besitzt der Park nicht nur eine enorme
Anzahl an Tieren, sondern mit der größten Parkfläche
Deutschlands auch vier einzigartige Themenbereiche.
Hier auch gleich der erste Besuchertipp: Macht die
Safari durch die Expedition Tierwelt im zweiten Tages­
teil. Denn 90 % aller Besucher bleiben früh im Auto
sitzen und fahren erst durch den Hauptteil des Parks.
Ergebnis: Es kommt zu langen Staus und der Puls der
Fahrer geht in die Höhe. Deswegen erst einen Parkplatz
suchen und durch die drei anderen Parkteile gehen.
Mittelpunkt ist die Freizeitwelt. Hier fahren die beiden
Parkeisenbahnen ab, mit denen man den nördlichen
und südlichen Parkteil einmal umfährt. Weiterhin
findet man hier einen Hochseilgarten, in dem man
kostenlos klettern kann – also unbedingt machen
(diese Attraktion kostet zum Beispiel im später noch
vorgestellten Heide Park zusätzlich 16 Euro). Daneben
SERENGETI-PARK Beginnen wir mit dem Park, der am einfachsten zu
erreichen ist, dem nur ca. 25 km entfernten Rasti-Land
in Salzhemmendorf. Der seit über 40 Jahren in Familienbesitz befindliche Park wurde mit wahrer Männerkraft errichtet. Knapp die Hälfte der Attraktionen
wurde ohne große Firmen der Branche erbaut und so
besitzt der Park ein ganz eigenes Flair. Mit der NordWest-Bahn kommt man stündlich direkt von Hildesheim nach Osterwald. Die Fahrt dauert 30 Minuten.
Zum Park sind es dann noch einmal ca. 20 Gehminuten.
21,50 Euro beträgt der Eintritt, um das Reich von
Rasti, dem Parkmaskottchen, betreten zu dürfen.
Danach steht man sprichwörtlich im Wald. Thematisierung besitzt der Park nur an manchen Stellen,
dafür aber beherbergt er verschiedenste Baum- und
Pflanzenarten, die nur vereinzelt am Wildwuchs vorbeigehen. Trotzdem immer noch besser als Parks, die
gar keine Schattenflächen in heißen Sommermonaten
bereitstellen. Will man zur Hauptattraktion, muss
man einmal durch das gesamte Areal laufen. Im Reich
des T-Rex’ findet man eine der besten Rafting-Bahnen
Deutschlands. Die wilde Bootsfahrt in Rundbooten
durch verschiedene Stromschnellen mit Wellenbecken,
Wasserfällen und anderen Effekten lässt einen bei keiner Fahrt trocken, der Nässegrad ist perfekt bemessen.
Direkt daneben befindet sich ein Splash-Battle, bei
dem man sich gegenseitig abschießen kann – und auch
hier bleibt kein Auge trocken. Im restlichen Park warten verschiedene Rutschen, eine Schiffschaukel mit
Piratenfahrt und die weltweit erste Bob-Kart-Bahn auf
die Besucher. Abgerundet wird die Landschaft von der
einzigen rosafarbenen Achterbahn in Deutschland, bei
der man zumindest in der hintersten Reihe leichte
Airtime und damit das typische Magenkribbeln verspürt. Das Rasti-Land ist vor allem auf Familien ausgerichtet, aber auch Paare und Freundesgruppen finden
hier ihren Spaß. Das Preis-/Leistungsverhältnis ist
vollkommen in Ordnung, da sich der Park gut an
einem Tag erleben lässt und viele Attraktionen auch
für mehrfache Fahrten geeignet sind.
Abschließend bleibt nur zu sagen, dass man sich
Topp: Sympathischer wird’s nicht, der wohl
familiärste Park in Deutschland. Weiterhin: Außerhalb der niedersächsischen Ferien ist im Park nur
wenig los und man muss nie anstehen.
Flop: Achterbahn- und Thrillsüchtige kommen in
diesem Park leider gar nicht auf ihre Kosten. Hier sollte
der Park vielleicht einmal nachlegen.
PLATZ 2
Zumindest vor 100 Jahren ging es noch um
Leben und Tod. Heute sind moderne Achterbahnen das sicherste Transportmittel auf der
Welt und dabei noch das spaßigste. In jeder
Größenordnung, auf jedem Kontinent, in allen
Farben und den wildesten Designs findet man
heute die Großanlagen eines jeden Freizeitparks
vor. Die Rangliste der Welt führt Amerika an,
zur Zeit holt Asien groß auf, doch auch mit
dem Angebot an Achterbahnen in Europa kann
man durchaus zufrieden sein. Es geht um
Kontrollverlust, Adrenalin, darum, dem Alltag
zu entfliehen oder einfach nur Spaß zu haben.
Ob als Paar, in der Gruppe oder mit der
Familie, der Rausch eines Freizeitparks zieht
jährlich Millionen Menschen in seinen Bann.
Doch wir schauen heute nicht nach
Amerika oder China, nein, wir sehen uns in
Niedersachsen um, genauer gesagt, im
Gültigkeitsbereich unseres Semestertickets.
Denn Freizeitparks sind oft nicht die billigsten
Ausflugsziele. Deswegen checken wir jetzt für
euch drei Parks nach Spaßfaktor, Erreichbarkeit
und natürlich Preis-Leistungs-Verhältnis.
(Salzhemmendorf)
RASTI-LAND PLATZ 3
SPIEL MIT DEINEM LEBEN –
FAHR ACHTERBAHN!
das Rasti-Land einmal im Studienalltag mit Freunden
gegönnt haben sollte. Hier ist am Ende noch hervorzuheben: Die Wildwasserbahn des Parks wurde bis auf
die Boote komplett vom Park selbst gebaut – wenn das
nicht mal Engagement ist, das sich zu unterstützen
lohnt.
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Topp: Die Aqua- und Dschungelsafari sind
weltweit einmalig, den Spaß den man hier hat, kann
man nirgendwo sonst so erleben – unbedingt machen! Flop: Der Parkplan ist sehr verwirrend und dazu
gibt es viele versteckte und nicht beschriebene Orte im
Park, die es sich lohnt zu erkunden. Schade, dass hier
seit Jahren nicht nachgebessert wird.
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(Soltau)
HEIDE PARK RESORT
PLATZ 1
steht die älteste Achterbahn des Parks, mit Top-Spin
und Breakdance. Diese zwei typischen Kirmesattraktionen, fahren hier im Familienmodus. Mit dem Riesenrad bekommt man eine wunderbare Übersicht über
den Park. Hauptattraktion hier ist aber die in Europa
einmalige Aquasafari. Man fährt von einem persönlichen Guide begleitet in originalen Airboats aus Florida
durch einen Kanal, um anschließend mit bis zu
80 km/h über das Wasser zu schießen. Dafür lohnt sich
auch das Anstehen. An diese Attraktion schließt sich
die Wasserwelt an. Hier finden sich wieder diverse
Fahrgeschäfte, die man vom Volksfest kennt, für
Abkühlung sorgt hier aber vor allem die Wildwasserbahn. Vierter und letzter Parkteil ist die Affenwelt. Hier
versteckt sich eine andere, deutschlandweit einmalige
Attraktion. Doch bevor man zu dieser kommt, kann
man knapp zwanzig verschiedene Affenarten im Park
bestaunen – manche ohne Gitter und direkt zum
Anfassen, andere durch einen speziellen Tunnel. Star
ist hier seit 2013 der ehemalige Hausaffe von Justin
Bieber. Speziell für »Mally« hat der Park Mally-Bu
errichtet, eine Insel nur für Kapuzineräffchen, um sich
von der Vermenschlichung zu lösen. Die Hauptattraktion Dschungelsafari befindet sich allerdings im Menschenaffenreservat. Hier geht es in einem offenen Jeep
über wilde Pisten durch die Gehege und dann durch
einen geheimen Wald mit Wasserfällen und so mancher Überraschung. Eine Attraktion, die man nur hier
findet und durch den Wechsel der Fahrer auch mehrmals an einem Tag Spaß macht.
Der Tageseintritt beträgt 28 Euro. Zu empfehlen
ist die Anreise mit dem Auto. Oft gibt es Gutscheine
für eine kostenlose Person pro Auto – kostenlos ist aber
auf jeden Fall das Parken. Sollte man nicht mit dem
Auto anreisen, bringt einen der Heidesprinter Erixx
von Hannover aus in 40 Minuten nach Hodenhagen.
Von dort aus läuft man noch einmal ca. 25 Minuten
zum Park. Dazu werden für die Bussafari – die dafür
aber geführt ist und moderiert wird – pro Kopf fünf
Euro berechnet. Spaß finden hier aber alle zu einem
guten Preis-Leistungs-Verhältnis, was in dieser Art
auch einmalig ist. Zu empfehlen ist der Park nach
Meinung des Autors aber vor allem für Paare. Warum?
Findet es selbst heraus!
Bereits 2000 kannten über 60 % der deutschen
Bürger den seit 1978 familiengeführten Heide Park
Soltau. 2001 übernahm die britische Tussauds Group
den Park, welche 2007 wiederum von Merlin Entertainment geschluckt wurde. Heute, in der 37. Saison,
kennen bereits 80 % den Park, der nach dem Europa-Park in Rust (Baden-Württemberg) der zweitgrößte
Deutschlands ist. Jeder der drei Besitzer eröffnete zwei
Achterbahnen, die zu ihrer Eröffnung Deutschlandneuheiten waren oder Rekorde brachen.
Ist es im Park voll, kann es schon mal passieren,
dass man nicht alles an einem Tag schafft, also geht es
früh um 7:07 Uhr mit der S-Bahn nach Hannover und
von dort im Erixx bis nach Wolterdingen. Um 9:35 Uhr
steigt man aus, läuft 20 Minuten zum Park und ist leider nicht um 10 Uhr zur Parköffnung vor Ort, sondern
steht an der Kasse und wartet auf sein Ticket. 43 Euro
kostet der Spaß, hier sei aber angemerkt, dass es fast
immer irgendwo in Deutschland gerade eine 2:1-Aktion
gibt, zwei Tickets für den Preis von einem. Und wenn
man diese nicht findet, bietet der Park Online-Tickets
zu niedrigeren Preisen – damit entfällt auch das lästige
Anstehen.
Wie bereits angedeutet, bietet der Park viele Möglichkeiten für alle Besuchergruppen. Über 60 Attraktionen sind zu entdecken, darunter allein neun Achterbahnen. Herauszuheben ist die größte Holzachterbahn
Europas, Colossos, die mit ca. 120 km/h auch die
schnellste Bahn im Park ist. Die neuste Erweiterung ist
der erste Wing-Coaster Deutschlands: Im Flug der
Dämonen hat man je nach Sitzposition ein anderes
Flugerlebnis mit nichts unter oder über sich. Zum
Achterbahnportfolio gesellen sich weiterhin die
Abschuss-Achterbahn Desert Race, der Dive-Coaster
Krake mit nasser Überraschung oder die längste Bobachterbahn Deutschlands. Abgerundet durch die beiden Überschlagsachterbahnen Big Loop und Limit und
die Familienbahnen Grottenblitz und Indy-Blitz, präsentiert der Park eine ausgewogene Mischung der
unterschiedlichsten Typen, bei denen jeder eine neue
Lieblingsbahn findet.
Im Schatten der Achterbahnen gibt es viele weitere
Thrill-Attraktionen, die Adrenalinräusche vom Feinsten versprechen. Hier ist der weltweit höchste GyroDrop-Tower Scream mit einer Gesamthöhe von 103
Metern positiv zu erwähnen – reine Fallhöhe 71 Meter.
Ebenfalls besonders: Im Land der Vergessenen findet
man einen Bereich, in dem der Park sieben Kirmesfahrgeschäfte im Maya-Stil betreibt, die allein durch
den Einsatz von Bambus zu einem unglaublichen Spaß
werden – versprochen. Ein anderer Adrenalinschocker
ist das Horrorkabinett Krake lebt!, in dem Merlin seit
2013 die besten Effekte seiner bekannten Dungeons
verbaut hat und man neben der Achterbahn eine von
Schauspielern vorgeführte Geschichte erlebt – ein absolutes Parkhighlight.
Das Heide Park Resort bietet natürlich noch viel
mehr. Vom externen Kletterparadies über diverse
Übernachtungsmöglichkeiten bis hin zu dutzenden
Events im Laufe des Jahres wie der jährlichen Halloween-Nights oder den Pyro-Games. Ein Besuch im Park
lohnt sich auch mehrmals – und dann lohnt sich auch
eine Merlin-Jahreskarte, mit der man noch mehr Vorteile genießt.
Topp: Achterbahnauswahl, wie man sie in Deutschland kein zweites Mal findet und zu ungewöhnlichen
Themen gestaltete Fahrgeschäfte (auch wenn da nicht
alles top ist).
Flop: Der Heide Park ist ein Gut-Wetter-Park. Es
gibt kaum überdachte Attraktionen, d. h. sobald es
regnet, macht der halbe Park dicht. Unbedingt vor
Besuch Wetterbericht checken!
Über den Autor: Eric Christopher Straube ist seit über 15 Jahren begeisterter Achterbahnfan, aktives Mitglied im Freundeskreis
Kirmes und Freizeitparks e.V. und schreibt seit einem Jahr für das deutschsprachige Newsportal airtimers.com. Seine gefahrenen
Achterbahnen hat er aufgehört zu zählen.
13
HILDESHEIMER SPIELPLÄTZE
DRISPENSTEDT
HopplaHopp Indoor-OutdoorSpielplatz · Kruppstraße 5
HIMMELSTHÜR
Salzwiese
NORDSTADT
Friedrich-Nämsch-Park
OSTSTADT
Steingrube
MORITZBERG
Am Königsteich
(Bennoburg)
MITTE
An der Innerste-Au
SÜDSTADT
Bromberger Straße
ITZUM
Leinkampstraße
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Katrin Pultermann, Christine Edelmann
Nordstadt · Friedrich-Nämsch-Park
Moritzberg · Am Königsteich (Bennoburg)
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16
Drispenstedt · HopplaHopp, IDS Indoorspielplatz GmbH · Kruppstraße 5 · 31135 Hildesheim
Mitte · An der Innerste-Au
Himmelsthür · Salzwiese
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18
Itzum · Leinkampstraße
Südstadt · Bromberger Straße
Oststadt · Steingrube
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I ♥ GAMES
Am Anfang war der Neid. In meiner damaligen
Grundschulklasse hatte U. einen Gameboy bekommen.
Der kleine U. wurde plötzlich zum coolsten Jungen der
Klasse. Ein Knopfdruck katapultierte ihn vom Aus ins
Zentrum. Sein sozialer Aufstieg war spätestens mit
Erklingen der Melodie besiegelt. Er hatte Mutter,
Vater, zwei Omas und zwei Opas.
»
Einer seiner Großväter war augenEIN KNOPFDRUCK scheinlich trotz seines Greisenalters
KATAPULIERTE IHN VOM mit der Gabe des Zeitgeistes gesegnet:
AUS INS ZENTRUM. Er hatte ihm einen Gameboy
geschenkt. Ich fand das ganze damals
«
mäßig. Zum einen hatte ich nur halb
so viele Großeltern wie U. und zum anderen wollte
auch ich einen Gameboy (den sozialen Aufstieg gleich
inbegriffen). Gemeinsame Stunden auf U.s Straßenteppich brachten mich Richtung Glück: Zu seinem
Geburtstag bekam er einen Nintendo 64, ich seinen
alten Gameboy. Damals waren mir seine tieferen Gründe
egal. Hauptsache, ich konnte endlich dieses Lion´s
King, von dem alle sprachen, in die Pfoten bekommen.
Eines meiner selbst ernannten Ziele war es zudem,
meinen Tetris–Rekord zu verbessern. Steine stapeln
sagte meine Ma. Im Grunde hatte sie recht, aber unter
dem Aspekt der frühkindlichen ästhetischen Bildung
betrachtet war es viel mehr: Formen erkennen, Informationen analysieren, Perspektiven wandeln und dann
fachgerecht einordnen. Und das binnen Sekunden.
mit welcher Attacke nun am besten vorgegangen werden sollte.
Der kleine Bildschirm war irgendwann nicht mehr genug, ein neues
Heiligtum musste her. Auf dem Nintendo 64 von F. wurde Zelda (Ocarina
of time) gespielt. Epona galoppierte mit uns durch die Felder, wir kämpften
für Gerechtigkeit und lösten Rätsel, deren Aufgabenstellung auch einen
Volljährigen herausgefordert hätte. (Im Ernst: Fuck you, Gohma!) Die
gemeinsamen Stunden lehrten mich, dass alle ihre Stärken und Schwächen
haben. Zwar wusste F., wie man jedes Versteck ausfindig machte, ihre
Zielsicherheit mit dem Pfeil ließ aber zu wünschen übrig. Teamwork war
das Zauberwort. Außerdem begann ich, Musik großartig zu finden. Da
sich keine Ocarina auftrieben lies, kaufte ich mit meinem ersten hart
ersparten Geld eine Playstation 1. Meine Eltern waren nicht begeistert,
aber dankbar, dass die Kinder jetzt endlich Ruhe gaben.
Dank Breath of Fire begriff ich die Wichtigkeit von Toleranz. Ich verstand, dass auch Wissenschaft (Momo!) cool sein kann und dass Schicksale
selbst in die Hand genommen werden müssen. Die Begeisterung für
Drachen (also ehrlich, wer findet die nicht cool?) steigerte meine Zuneigung
Erst war der Neid, dann kam die Gier.
Nachdem der erste Kontakt hergestellt war, wollte
ich mehr. Mehr Spiele, bessere Graphiken, neue Abenteuer. Donkey Kong Land, Super Mario Land, Worms,
Turtles. Ich wollte sie alle haben. Dank meines unverwüstlichen Durchhaltevermögens kam es bald zum
ersten schmerzhaften Muskelkrampf im Daumen. Um
nicht mehr alleine spielen zu müssen und natürlich um
weiteren schmerzhaften Daumendramen zu entkommen, spielte ich mit meiner Schwester gemeinsam
Pokémon. Aus mein wurde unser, wir teilten die Begeisterung und eroberten Orden für Orden. Nebenbei
lernten wir, wie schön es sein kann, auch mal Verantwortung abzugeben und im Plenum zu besprechen,
20
Aline Gallas
Lena Dirscherl · www.lenadirscherl.com
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zu Ryu nur noch mehr. Verstoßen von der Gesellschaft, auf der Suche nach
der eigenen Herkunft. Sehr bewegend und schön. Dass harte Kerle mit
blöden Sprüchen eigentlich nur unsichere Jungs sind, wurde mir spätestens
bei Grandia klar. Also ehrlich, da kämpft man sich in einer gigantischen
Welt über eine kilometerhohe Mauer (hier wird CD 2 eingelegt, damals
ein riesiges Drama: Wo ist die CD?), findet neue Freunde, besiegt Bösewichte und dieser Knilch braucht einfach ewig, um zu wissen, was er
wirklich will. Dagegen ist Shadow Hearts II schon richtig gefühlvoll, wo
wir gerade bei Männern sind, die wissen, was sie wollen.
Aber genug von klischeehaften Männerhelden. Lara Croft (Tomb
Raider) war eine der zentralen Frauenfiguren in meinem (Gamer-)Leben.
Abenteuerlustig, taff und beladen mit Waffen. Okay, letzteres ist pädagogisch
nicht unbedingt wertvoll, aber zu meiner Verteidigung muss gesagt werden:
Die Wölfe hätten mich sonst zerrissen! Ja, ich gebe zu, die meisten meiner
Klassenkameradinnen kannten Lara nicht und fanden die Turtles jetzt
nicht unbedingt großartig. Die Pferdemädchen kannten nur die Schlümpfe
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und das Kellog’s Smacks Spiel (Tony & Friends in Kellogg’s Land). Doch nur
weil sie vorher keinen Kontakt zu richtigen Games hatten, hieß das nicht,
dass die Pferdemädchen sich nicht bei Tekken prügeln wollten. Tekken,
auch so eine Sache. Schnell zu verstehen, aber die richtige Handhabung ist
eine Kunst für sich.
Von starken Kämpfer*innen zu flotten Kisten: Grand Turismo lehrte
mich, dass die schönste Karre (schwarzer matter Lack, grüne Unterbodenbeleuchtung) nicht unbedingt die beste sein musste. Es kommt auch auf
den Inhalt an. Wo bei Grand Turismo eine Autoauswahl der Sonderklasse
herrschte, ließ sich das Mario-Kart-Angebot gut mit einem Wort beschreiben:
Dürreperiode. Dafür gab es jedoch Bananen. Bananen und Blitze. Ein
geniales Konzept bleibt eben genial. Nach kurzen Intermezzi mit den Sims
(und Roller Coaster Tycoon) wurde mir klar, dass ein Leben ohne Geld ein
trauriges sein würde. Eine Lösung in diesem Falle: Ein »Cheat« musste her
und so konnte ich den tragischen Simsfiguren (benannt nach Jungs, die
ich toll fand, unter anderem Kurt Cobain – aber den ließ ich im Pool
ertränken und stellte den Grabstein neben dem Briefkasten auf) teure
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Sofas, Aquarien und weniger hässliche Teppiche kaufen. Von Steuererklärung
und Studiengebühren war da nie die Rede! Wenn der ganze Trouble um
die Ehefrau, den Job und die Nachbarn zu viel wurde, tauchte ich in die
Welt der weniger realistischen Spiele ein. Spyro und Goofy (Kingdom
Hearts) schafften es, mich wieder zum Lachen zu bringen. Mit niedlichen
Helden durch die Gegend zu stapfen war schon sehr tröstlich.
Zwar war Spyro schön anzusehen, aber interessant fand ich auch Spiele,
bei denen der Hauptcharakter nie zu sehen war. Bei You don´t know Jack
gab es nur die herrliche Stimme des Quizmasters. Der wusste, wie man
den Nagel auf den Kopf trifft. Kategorien wie Sekt oder Selters würden
Quizduell wahrlich simpel erscheinen lassen. Durch das geistige Aufwärmen
mit Jack war ich bereit, mich den Verrätselungen von The Day of the Tentacle
zu stellen. Noch kräftezehrender waren jedoch die tagelangen Erlebnisse
in absurden Psychiatrieräumen (Edna bricht aus). Das Spiel rund um Edna
war knatterbunt, verdreht und traurig. Proportional zur Farbenvielfalt
verhält sich die eigene Begeisterungskurve. Weniger farbenfroh wurde es bei
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Machinarium. Zwar war noch immer die Detailliebe zu finden, doch während der gefühlsduseligste Roboter aller Zeiten zielsicher durch die
Metallschrottstadt stakst, bricht einem die
»
Tristesse beinahe das Herz. Tausend Kleinigkeiten machen aus einem Spiel ein ästhetisches TAUSEND KLEINIGKEITEN
Meisterwerk. Fantasie und Farbe. Mut und MACHEN AUS EINEM SPIEL EIN
Abenteuerlust. Durch diverse Entscheidungen ÄSTHETISCHES MEISTERWERK.
ändert sich bei manchen Games der Spielver«
lauf. Ein großartiges Beispiel dafür ist Beyond:
Two Souls. Es entsteht eine ganz eigene Geschichte, die nach Belieben neu
interpretiert werden kann. Wieder und wieder. Allen, die noch nie wirklich
in die Welt der Games abgetaucht sind, rate ich Folgendes: Auch wenn
Erkältungen, Regenwochen oder Liebeskummer nicht die schönsten
Erlebnisse der Weltgeschichte sind, eine Rechtfertigung, die Konsole
anzuwerfen, sind sie allemal.
25
SPIEL MIT MIR
26
Markus zieht noch einmal an der Zigarette. Der
Schaffner schaut den Bahnsteig entlang und nickt ihm
zu. Die Zigarette landet auf dem Boden und »Alles
einsteigen bitte«. Hinter ihm schließen sich die Türen.
Nachdem er ein paar Schritte getan hat, setzt sich der
Zug in Bewegung.
Ihr Rollkoffer steht für ihn im Mittelgang bereit.
Die Rucksäcke hat sie bereits verstaut und die Jacken
aufgehängt. Sie haben den Vierersitz für sich allein.
Markus greift sich den Koffer und hievt ihn über die
Sitze. Nachdem er sich hingesetzt hat, reicht sie ihm
die Bonbonpackung und die Handcreme. Sie mag es
nicht, wenn er nach Rauch stinkt. Er kramt die Zeit
raus und trifft auf einen Artikel mit der Überschrift
»Nur geduldet«. Es geht um die Situation von Flüchtlingen in Deutschland. Auf dem Foto sieht man eine
Familie von der Elfenbeinküste in ihrem kargen
Wohnzimmer. Sein Blick folgt weiter den Wörtern.
Seine Gedanken driften ab. Wie wäre es, wenn er eine
Asylsuchende fast am Ende ihrer Kräfte finden würde?
Wickelt sie in eine Decke, nimmt sie mit nach Hause,
hilft ihr und irgendwann –
Clara greift seine Hand, ohne von ihrem Roman
aufzuschauen. Er legt die verschränkten Hände auf
seinen Oberschenkel, um sie von seinem Schritt fern zu
halten. Mit einer Hand ist es schwer, eine Zeitung zu
lesen. Er denkt an das vergangene Familientreffen. Ihre
Mutter hatte Geburtstag und war 70 geworden. Markus
hatte ihr angesehen, dass sie für ein Großmutterdasein
noch längst nicht bereit war. Er hatte das stumm
beobachtet und nichts gesagt.
»Sorry, is’ hier noch frei?« Die junge Frau zeigt auf
den Platz ihm gegenüber. Markus nickt. Früher hätte ist das irgendwie unbefriedigend.« Nachdem sie
man sie vielleicht Fräulein genannt, aber mittlerweile gewonnen hat, streckt sie ihre Hand über das Spielfeld,
fehlt die passende Bezeichnung für Jugendliche, die am bestätigt das gute Spiel und stellt sich als Lene Bertol
Erwachsenwerden sind. Sie setzt sich mit all ihren vor.
Lene ist siebzehn und macht jetzt ein zweiwöchiges
Sachen und atmet noch mal durch. »Boa. Gut zu sitzen.
Hab’ mich ganz schön gestresst. Fast den Zug ver- Schülerpraktikum in München bei dem Lokalteil der
passt.« Markus nickt. Sie beginnt umständlich, das Süddeutschen. Ihre Mutter hat sie alleine erzogen.
Chaos auf ihrem Schoß zu ordnen. Indem sie die Ohne Geschwister. Wegen dem Job der Mutter sind sie
Taschen und Flaschen, Brottüten und ihren Hut drei- viel umgezogen und leben seit drei Jahren in Leipzig.
mal woanders hinstellt, bis die Dinge ihren Platz Markus lächelt. Er mag, dass sie redet. Er hört zu und
gefunden haben. Wo geht’s hin?« Markus räuspert sein lächelt.
Am Münchner Bahnhof schaut sie mit all ihren
langes Schweigen weg. »München.«
»Ah super, ich auch. Also ich muss auch dahin.« Taschen den mittlerweile dunklen Bahnsteig entlang.
Markus setzt den Rollkoffer ab und hilft seiner verMarkus nickt.
»Ich mach da ein Praktikum. Beginnt morgen. schlafenen Frau aus dem ICE.
»Na, Lene, dann wünsch ich dir schöne zwei
Weiß zwar noch nicht, wo ich heute Nacht penne, aber
Wochen in München!«
das wird bestimmt. Wo kommst du her?«
»Danke.« Gestresst schaut sie hin
»Wir waren gerade in Berlin. Die
»
und
her, versucht sich zu ordnen.
Mutter meiner Frau hatte Geburtstag.«
MARKUS ZUCKT MIT
»Oh, ihr seid verheiratet. Voll schön.
»Also dann mach es gut!«
DEN SCHULTERN UND
Glückwunsch.«
»Ja, ihr auch!« Markus nimmt das
WIRFT DEN ERSTEN
Gepäck und läuft Hand in Hand mit
»Danke.«
STEIN IN DIE SPALTE.
Clara Richtung Haupteingang. Er
»Haste vielleicht Lust auf ’ne Runde
«
schaut sich noch einmal nach ihr um
Vier gewinnt?« Markus nickt. Sie zieht
das kleine Spiel aus der Tasche und verund sieht sie nach Hilfe suchen.
teilt die roten und gelben Steine. »Willst du anfangen?«
»Sie war nett«, sagt Clara. Markus nickt.
Es klingelt. Markus öffnet Lene die Tür. Es ist
Markus zuckt mit den Schultern und wirft den ersten
Stein in die Spalte. Kurz betrachtet sie den Wurf und dunkel geworden und es war schon dunkel, als sie
überlegt, als ob es schon viel zu entscheiden gäbe, anrief. Sie steht mit all ihren Taschen vor der Tür»Eigentlich mag ich Vier gewinnt nicht sonderlich. Es schwelle. »Komm doch rein!«
»Oh danke, das is’ so lieb von euch.« Ohne etwas
ist mir zu simpel und zu oft gewinnt keiner. Ich muss
nicht unbedingt gewinnen, aber wenn keiner gewinnt, abzustellen umarmt sie ihn. »Tut mir auch total leid.
Milan Lugerth
27
Ich wusste nicht, was ich machen soll und hatte noch Markus betrachtet nachdenklich den Tisch »Wir haben
Claras Namen im Kopf. Hab ihn an ihrem Koffer gar keine Spiele.«
»Was? Gar keine Spiele?«
abgelesen.«
»Gar keine Spiele.«
Vom Treppenhaus kommt man direkt ins Wohn»Nich’ so schlimm. Ich hab noch welche dabei.«
zimmer. Eine lederne Couchgarnitur füllt den Raum
Sie setzen sich und er verliert erst
und ist auf den Flachbildfernseher
»
vier Runden bei Vier gewinnt und
gerichtet. Dahinter steht der Esstisch.
Noch aufgeräumt bevor sie nach SIE HAT IHRE KNIE FAST DIE lernt danach Canasta. Markus lacht.
GANZE ZEIT ZWISCHEN
Canasta klappt besser. Lene leert
Berlin sind. Das dunkle Massivholz
wirkt in der sonst so modernen Ein- SICH UND DER TISCHKANTE zwischen dem zweiten und dritten
Spiel die Packung mit den kalten
richtung fehl am Platz. Es war eines
EINGEKLEMMT.
chinesischen Nudeln. Sie hat ihre
der wenigen Möbelstücke, auf die
«
Knie fast die ganze Zeit zwischen
Markus bestanden hatte. Dazu
kamen noch der Kleiderschrank seiner Großmutter sich und der Tischkante eingeklemmt.
Irgendwann schauen sie auf die Uhr. Fast drei.
und der Nachttisch seiner Eltern. Er muss immer noch
jedes Mal an die alten Kleider und den miefigen Clara liegt schon seit langem im Bett. Sie beschließen,
Geruch seiner Großmutter denken, wenn er ihn öffnet. dass es Zeit sei, ins Bett zu gehen.
Am nächsten Abend kommt Markus nach Hause
Die Faszination für den Nachtschrank begann mit
seiner Pubertät. Heute gibt es ihm Nervenkitzel, seine und Lene sitzt wieder mit den eingeklemmten Knien
Kondome an dem gleichen Ort zu verstauen wie sein am Tisch und hat das Spielfeld bereits aufgebaut. »Ich
Vater. Zwischen etwas Verbotenem und der Logik des hab’ Siedler von Catan besorgt. Ein Klassiker«, sagt sie
zur Begrüßung. »Dazu Pasta von dem Italiener um die
Kreislaufs.
»Dein Zeug kannst du ja erst mal irgendwo hinle- Ecke.« Sie grinst ihn an. »Setz dich und iss, während
gen.« So, als ob er sie erst daran erinnert hätte, dass sie ich dich mit dem Vorwissen ausstatte und dir die
noch völlig beladen dastand, beginnt sie auf einmal Regeln erkläre!«
hektisch alles gegen die Couch zu lehnen. »Ich mach
Sie schöpft ihm die Tagliatelle mit der Soße auf
dir später noch das Sofa zum schlafen zurecht. Willst einen Teller und gießt Rotwein in sein Glas, während
du vielleicht etwas essen? Wir haben noch was vom sie mit ihrem Vortrag beginnt. »Die Siedler von Catan
ist der Klassiker. Eine Legende. Der Beginn einer
Chinesen über.«
»Nee danke, gerade nicht.« Sie schaut sich um. »Ihr neuen Ära von Brettspielen. Die ganzen Strategiespiele
orientieren sich an diesem System. Hundertfach wurde
habt’s aber schön hier.« »Danke.«
»Auf dem Tisch kann man bestimmt toll spielen.« die sechseckige Form der Landschaft übernommen.
28
»
NACH DER HÄLFTE DES
SPIELS HAT ER IMMER NOCH
NICHT ALLES VERSTANDEN,
ABER NICKT NUR UND
LACHT, WENN SIE WIEDER
DEN KOPF SCHÜTTELT, WEIL
ER SCHON WIEDER DIE
GLEICHE FRAGE GESTELLT HAT.
«
Das Erwürfeln der Ressourcen bis
zum Handel ist mit diesem Spiel das
erste Mal aufgetaucht. Klaus Teuber
hatte es eigentlich viel komplexer
geplant, aber die Gesellschaft war
anscheinend nicht bereit dafür.
Deswegen machte er drei Spiele draus. Die Entdecker,
Löwenherz und Die Siedler von Catan. Damit wollte ich
nur die Tragweite klar machen, in die wir nun eintauchen wollen.« Markus beobachtet ihren Mund, wie sie
die Worte formt und enthusiastisch eine Lobeshymne
auf die Plastikfiguren und Pappplatten vor ihm
anstimmt. Nach der Hälfte des Spiels hat er immer
noch nicht alles verstanden, aber nickt nur und lacht,
wenn sie wieder den Kopf schüttelt, weil er schon wieder die gleiche Frage gestellt hat. Der Wein ist alle. Die
zweite Flasche wird geöffnet und die zweite Runde
gespielt. Clara kommt aus dem Schlafzimmer mit
ihrem aufgeklappten Buch in der Hand. »Du bist ja
schon da.« Lene schaut auf den Boden und grüßt in
sich hinein. Markus antwortet »Ja, sorry. Wir haben
direkt angefangen zu spielen und dabei hab’ ich’s vergessen.«
»Lene, du bleibst heute noch?«
»Ja, tut mir leid, ich such’ morgen was anderes,
okay?«
Während sie sich wieder Richtung Schlafzimmer
bewegt, um sich der Liebesgeschichte zu widmen, sagt
sie über ihre Schulter hinweg:
»Nee, nee. Ist schon okay, ich wollt’s nur wissen.«
Die beiden wenden sich wieder ihrem Spiel zu.
Diesmal gewinnt Markus und lächelt zufrieden in sich
hinein. Sie setzen sich auf das zum
Bett umfunktionierte Sofa. Er hört
zu und sie redet. Sie erzählt von
ihren Problemen mit der Mutter,
dass ihr Vater sie schon früh verlassen hat und sie sich nur noch an die
Fotos von ihm erinnert. Markus nickt.
Als er am nächsten Tag nach Hause kommt sitzt sie
mit Jenga am Tisch. Der Turm aus Holz steht vor ihr
und sie bringen ihn an diesem Abend acht Mal zum
einstürzen. Danach sitzen sie wieder auf ihrem Bett
und er nimmt ihr das Versprechen ab, dass sie ihn für
den nächsten Tag ein Spiel kaufen lässt. Er kauft Blokus
und sie enden wieder auf ihrem Bett und reden. Nach
einer Woche kauft er ein Regal für die Spiele. Nach
drei Wochen ist es voll und Lene ist immer noch da.
Nach vier Wochen setzt sich Clara zu Markus an
den Tisch.
»Schläfst du mit ihr?«
»Nein. Wir spielen.«
Sie lässt ihren Blick durch das Wohnzimmer
schweifen und bleibt am Regal hängen. Versucht von
Weitem die Namen zu entziffern. Mensch ärgere dich
nicht. Er betrachtet sie stumm. Sie schaut auf die Uhr.
»Es ist schon spät. Kommst du mit ins Bett?«
»Lene hat keinen Schlüssel.«
»Dann wird es wohl Zeit.«
Markus nickt. Clara schaut ihm in die Augen. »Ich
geh’ schlafen.«
»Bis später.«
29
32
Vielleicht liegt es an
Tschernobyl
36
Killerspiel
38
Das Spiel des Lebens –
Spielideen
40
Heimat, Nostalgie &
Abrissbirnen
44
Nicht mal lächeln
46
Face – Gesichter
einer Stadt
VIELLEICHT LIEGT ES AN
TSCHERNOBYL
32
Anne-Sophie Nagels
Ich wache auf an einem Wintertag. Im Bett neben darauf. Keiner redet darüber, weil es zu schwer ist und
meinem Bruder. Die Bettwäsche weiß und sein Gesicht weil niemand weiß, warum so etwas passiert. Wir
auch ganz weiß. Wie draußen der Tag sich zeigt. Ich wissen nicht mehr, wie das geht, zu sprechen, und
liege direkt neben ihm, aber wir berühren uns nicht. So sagen dann gar nichts. Ich möchte gerne viel fragen.
war das nie. Ich friere. Bewege mich unter der Decke Aber die Fragen sind gestorben, bevor ich sie stellen
hin und her. Seine Augen sind noch zu. Große blaue kann. Ich möchte meinen Bruder umarmen und ihn
streicheln. Ich möchte seinen Kopf
Augen. Dunkelblau in meiner Erinne»
anfassen, möchte wissen, wie er sich
rung. Den Daumen hat er aus dem
ICH LIEGE DIREKT
anfühlt. Ich bin kleiner als er und komMund genommen, schon in der Nacht.
Am Morgen kann das keiner mehr NEBEN IHM, ABER WIR me da so nicht dran. Ich traue mich
sehen. Nur an den Zähnen wird es BERÜHREN UNS NICHT. nicht zu fragen. Mein Bruder hat sich
zugeschlossen. Lacht nicht, weint nicht,
deutlich. Er braucht eine Zahnspange,
SO WAR DAS NIE.
spricht nicht, fragt nicht. Ist nicht
weil er sich in der Nacht festhalten muss.
«
wütend, ist nicht traurig, ist nicht ängstIch drehe mich zur Seite und schaue auf
sein Kopfkissen. Ich sehe da etwas Braunes. Es ist ver- lich oder verzweifelt. Er zeigt gar nichts, behält alles
schwommen. Meine Augen können nicht erkennen, für sich. Als ob dann am wenigsten passieren könnte.
was das ist. Ich kneife sie zu, um besser schauen zu Er schützt sich, glaube ich, weil er den Schutz verloren
können. Ich mache sie wieder auf, mache sie ganz weit hat, den jeder Mensch braucht. Den wir alle noch
auf und bleibe still dabei, weil ich ihn nicht wecken haben. Meine Mutter. Mein Vater. Mein kleiner Bruder.
will, meinen Bruder. Ich greife in seine Haare. Da ist Und ich auch. Ich habe die längsten Haare und fühle
etwas locker. Das verstehe ich nicht. Ich halte sie in den mich schlecht deswegen. Ich überlege, sie mir abzuHänden. Immer noch, als ich meine Hand zurückziehe, schneiden und gleichzeitig habe ich Angst, er könne
halte ich sie in den Händen und schaue sie an. Unab- sich dann erschrecken. Weil er dann sieht, wie er selbst
hängig von ihm kann ich sie jetzt anschauen. Dunkel- aussieht und vielleicht will er das gar nicht sehen. Er
braun und wellig, an manchen Stellen auch lockig, am sieht aus wie ein Krebskranker. Seine Wimpern sind
ihm ausgefallen und seine Augenbrauen. Ganz kahl ist
Nacken.
Mein Bruder ist zehn Jahre alt, als er seine gesam- er geworden. Überall. Und im Winter hat er auch keine
ten Haare verliert. Nicht alle auf einmal. Jeden Tag ein Sommersprossen mehr. Und er friert immerzu. Wenn
paar mehr. Es bilden sich Kreise auf seinem Kopf. An wir draußen sind, friert er, weil 80 Prozent der Wärme
den Stellen, wo die Haare noch nicht ausgefallen sind, über den Kopf weggehen, sagt jemand als Erklärung.
hängen sie dünn herunter. Jeden Morgen wacht er auf Er muss jetzt eine Mütze tragen, damit er sich nicht
und schaut wieder auf sein Kopfkissen und fasst sich an ständig erkältet. Es ist schade um die schönen Haare,
den Kopf und manchmal liege ich daneben und habe sagen manche. Er hatte doch so schöne Haare. Wie
Angst, bevor ich aufwache. Angst davor, dass gar keine seine Mutter. Ich glaube, dass er das nicht hören will.
mehr da sind. Und irgendwann ist das dann auch so. Aber er wehrt sich auch nicht dagegen. Er ist so stolz
Alle Haare, bis aufs letzte, sind ausgefallen. Ich frage und so souverän. Ein bisschen zu sehr. Ich denke mir
mich, warum so was passiert. Es gibt keine Antwort aus, wie es wäre, wenn es mir passiert wäre. Manchmal
Mihau Pollack
33
möchte ihm gerne die Augen sauber machen und ihm
Augenbrauen malen mit Filzstift. Und das mit der
Perücke kann ich auch nicht vergessen. Aber er will
keine. Zumindest sagt meine Mutter das, als wir an
einem Geschäft für Perücken vorbeikommen und ich
sie frage, ob es nicht eine gute Idee wäre, als Überraschung eine mitzubringen. Sie sagt nein, ich glaube
nicht und sieht traurig dabei aus, aber versucht es zu
verstecken. Und ich habe es trotzdem gesehen und wir
gehen weiter und sie nimmt mich an die Hand und
drückt kurz zu. Ich weiß, dass sie da ist und ich weiß,
bin ich mir sicher, dass es mir auch passieren wird. Uns dass sie traurig ist und manchmal weint sie auch und
allen. Dass wir alle unsere Haare verlieren werden. das dürfen wir dann auch sehen. Sie sagt dann, wir
Weil das so in der Familie liegt. Und dann denke ich, sollen uns keine Sorgen machen, es ist nicht wegen uns.
ich würde ihm gerne was abnehmen davon, oder Ich weiß nicht mehr, was ich glauben kann. Alles paswenigstens etwas abgeben. Ich habe genug davon. Ich siert einfach so ohne Grund. Am Nachmittag sehen
nehme mir vor, ihm zum nächsten
wir eine Reportage über Menschen, die
»
Geburtstag eine Perücke aus meinen Haakrank geworden sind wegen Tschernobyl.
ICH DENKE MIR Babys und Erwachsene. Die alle möglichen
ren zu schenken. Oder zu Weihnachten.
Die könnte er dann tragen, wenn er mal AUS, WIE ES WÄRE, Sachen haben deswegen. Auch Krebs und
keine Lust hat auf seine Glatze. Das Wort
so was. Ich schaue neben mich, schaue
WENN ES MIR
sagt niemand, weil das wehtut. Und weil
meinen Bruder an und kann keinen UnterPASSIERT WÄRE.
das nicht passt zu einem Kind. Und weil
schied erkennen zu den Leuten, die im
«
das auch keiner so benennen will, weil es
Fernsehen gezeigt werden. Die sehen fast
dann Wirklichkeit werden würde und das will einfach genau so aus. Und irgendwie ist das unheimlich, aber
niemand. Ich weiß nicht, ob er es will. Mein Bruder, gleichzeitig auch erleichternd. Vielleicht ist er auch
was er will. Jemand sagt, es wäre gut, wenn er einen deswegen krank geworden, denke ich. Mein Bruder.
Therapeuten aufsuchte. Es ist ja nicht gut, wenn er Vielleicht liegt es an Tschernobyl, denke ich, dass er
darüber nicht redet. Das kann er doch gar nicht ein- krank geworden ist. Ich bin froh und auch ein bisschen
fach so verarbeiten. Aber er will nicht und er will auch stolz, eine Antwort gefunden zu haben. Ich werde es
irgendwann zu keinem Arzt mehr gehen. Akupunktur ihm sagen. Bald werde ich es ihm sagen und dann wird
in Köln und in Münster wollten sie ihm etwas in den er vielleicht auch froh sein oder erleichtert, weil er dann
Kopf einpflanzen. Ich höre, wie meine Mutter am eine Erklärung hat und vielleicht gibt es dann ja auch
Telefon jemandem davon erzählt. Ich finde die Idee gut eine Medizin dagegen. Später oder morgen werde ich
und kann mir das auch gut vorstellen. Dass man ihm es ihm sagen. Nur jetzt, jetzt geht es noch nicht.
einfach neue Haare einpflanzt. Wie in ein Beet. Aber
so ist das nicht gemeint. Sie sagt, da würde sich dann
erst mal alles entzünden und dann würde es besser
werden. Vielleicht. Die Ärzte wissen das selbst nicht so
genau. Haben das auch noch nie gemacht. Aber sie
würden sich freuen, wenn er sich dazu bereit erklären
würde. Mein Bruder sagt nichts dazu. Ich glaube, er
will das nicht. Ich finde die Idee jetzt auch nicht mehr
so gut. Entzündungen tun weh und wer weiß, wie
lange die bleiben würden. Seine Augen sind ständig
entzündet, weil die Wimpern nicht mehr da sind. Das
sieht so aus, als ob es weh tun würde. Da sind immer so
kleine weiße Krümel am Rand der Augenlider. Ich
34
35
GRÖSSTE MILITÄRBUDGETS
* % Anteil weiltweit
Immer weniger deutsche Bürger*innen wollen der
Bundeswehr dienen und trotzdem ist das Geschäft mit
Waffen in Deutschland sehr lukrativ. Jegliche Kritik an
der Rüstungsindustrie wird in der Regel mit dem Verweis
auf ihre ökonomische Bedeutung zurückgewiesen.
Skrupellos wird verkauft, was Geld bringt, als sei der
Erhalt der bundesdeutschen Vormachtstellung wichtiger
als die Verantwortung, die ein Land mit so enormer
weltpolitischer und ökonomischer Macht gegenüber
anderen Völkern hat. Waffen machen zwar nur 1 %
aller deutschen Exporte aus, doch unter den Kunden von
EADS, Thyssen-Krupp und Co. sind lange nicht mehr
nur lupenreine Demokratien. Und wie kann der Westen
noch seinen moralisch-pazifistischen Zeigefinger erheben,
wenn mit deutschen Waffen auf regierungskritische
Demonstrant*innen geschossen wird oder ganze Völker
ausgelöscht werden? Die folgenden Grafiken geben
einen Einblick, wie Waffen weltweit gehandelt werden.
Waffen sind nach dieser Definition alles von Gewehren
über Panzer bis hin zu Kampfflugzeugen oder Schiffen.
Wie viele Rüstungsgüter überdies illegal gehandelt
werden, ist völlig unklar.
GER 2,8 %
48,8 Mrd. $ KSA 3,8 %
67,0 Mrd. $ e r e 56 %
US
A
US
27
ND
SLA%
7%
DE
UT
L A SCH
ND -
AU
LI
USA 10 %
GRIECHENLAND 8 %
ISRAEL 8%
REA
R A KO
ST N
E
ere
and
and
EN
N KFR A
H
R EI C
% aller Waffenimporte
INDIEN CHINA ALGERIEN 38 %
12 %
11 %
Julian Hocker
VER . AR A-
% aller Waffenexporte
WELTGRÖSSTE
WAFFENIMPORTEURE
2013
HE SA
PA K I S EBMISIC
R ATE AR U D I AB I
TA N
WELTGRÖSSTE
WAFFENEXPORTEURE
2013
R
A
IN
5%
CH %
6
I EN
14 %
2
PAKISTAN 47 %
BANGLADESCH 13 %
MYANMAR 12 %
IND
INA
% 4%
CH % 5
5
%
26
JPN 2,8 %
48,6 Mrd. $ KOR 1,9 %
33,9 Mrd. $ USA 36,6 %*
640,0 Mrd. $ A
US 9 %
13 %
11 %
10 %
CHN 10,8 %
188,0 Mrd. $ FRA 3,5 %
61,2 Mrd. $ AUSTRALIEN 10 %
SÜDKOREA 10 %
VER. ARABISCHE
EMIRATE 9%
CHINA MAROKKO SINGAPUR RUS 5,0 %
87,8 Mrd. $ IND 2,7 %
47,4 Mrd. $ WAFFENEMBARGOS VON DEUTSCHLAND
KILLERSPIEL
UK 3,3 %
57,9 Mrd. $ Armenien Aserbaidschan China Côte d’Ivoire Eritrea Guinea Irak Iran, Islamische Republik Kongo, Demokratische Republik Nordkorea Libanon Liberia Libyen Myanmar Simbabwe Somalia Sudan Südsudan Syrien, Arabische Republik Weißrussland Zentralafrikanische Republik Quellen: Trends in world military expenditure, 2013 · Sam Perlo-Freeman and Carina Solmirano · SIPRI Fact Sheet
Trends in international arms transfers, 2013 · Siemon T. Wezeman and Pieter D. Wezeman · SIPRI Fact Sheet
Rüstungsexportbericht 2013 · Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) Öffentlichkeitsarbeit · www.bmwi.de
SPIEL DER MENSCHEN, SPIEL DER GÖTTER
DAS SPIEL DES LEBENS – SPIELIDEEN
Man würde nicht jedes Spiel mit jeder beliebigen Person spielen und
auch nicht gegen jede*n. Auch seine Gegner*innen sollte man mit Bedacht
wählen. Doch was kann man tun, wenn diese überlegen sind? Als man
noch an Schicksalsgöttinnen glaubte, konnte man noch auf ein Lächeln
von Fortuna hoffen. Ein Blick in die Geschichten zahlreicher Religionen
bestätigt, dass göttlicher Beistand ein wirksames Mittel sein kann, um ein
Spiel zu den eigenen Gunsten zu entscheiden. David gegen Goliath ist ein
solcher Fall, auch wenn man hier eher von Kampf spricht als von Spiel.
Warum? Weil zu viel auf dem Spiel steht? Weil die Leichtigkeit durch den
Ernst der Lage verloren geht? Ein Spiel kann durchaus mit großer Ernsthaftigkeit betrieben werden und oft steht nichts geringeres als das eigene
Leben oder die eigene Existenz auf dem Spiel.
Wenn man selbst zum Spielball der Götter wird, ist man sich der Folgen vielleicht nicht bewusst. So wie Paris, der durch sein Urteil beziehungsweise dessen Folgen den Trojanischen Krieg auslöste. Wie so oft in
der griechischen Mythologie verfangen sich die Menschen in den Spielen
und Intrigen der Götter. Was als Spiel verstanden wird, ist hier eine Frage
der Perspektive.
Die ganze Welt ist eine Bühne. Wenn dem so ist, ist das Leben ein Spiel;
die Frage ist nur, wer mit wem spielt – und was überhaupt gespielt wird.
REGELN
Menschen wollen mit Menschen spielen. Doch wenn aus einem vergnüglichen Miteinander ein intrigantes Taktieren wird, hört der Spaß auf. Wie
in jedem Spiel gibt es auch im Leben Regeln, sogar in unbeschreiblich
großer Zahl. Das Verwirrende ist zudem, dass jeder Mensch sich eigene
Regeln gibt oder die bestehenden individuell versteht. Selbst die in einer
Gesellschaft festgelegten Regeln sind verschieden auslegbar und werden
sowohl innerhalb von Familien, als auch in anderen Zusammenhängen
oder gleich vor Gericht ständig neu verhandelt. Das scheinbar starre
Regelwerk ist ununterbrochen in Bewegung. Der Erfolg eines Spiels hängt
von der Bereitschaft der Mitspieler*innen und deren Anzahl ab. Wenn
niemand deine Regeln akzeptiert, ist dein Spiel nicht möglich. Jede*r
könnte beschließen, sich über andere zu erheben und sich so zum Herrscher von eigenen Gnaden aufzuschwingen – man braucht nur genügend
Leute, die dieses Spiel mitspielen. Dabei ist es zunächst nicht wichtig, ob
sie dies freiwillig tun oder keine andere Wahl haben.
Für eine beliebig große Gruppe
zwischen 0 und 99 Jahren.
Man braucht: 1 Spielführer*in;
beliebig viele Gefolgsleute; 1 beliebig
großes Gebiet, das man für sich
beansprucht; entweder den absoluten
Willen zur Macht oder eine Idee, an
der man andere teilhaben lassen
möchte
Dauer: zwischen 1 Minute und
1000 Jahren ist alles möglich
SPIEL MIT ODER STIRB
Brot und Spiele fürs Volk –
nicht nur in der Antike wurden
Spiele als Ablenkungsmanöver veranstaltet. Dieser Vorwurf wird
auch heute immer wieder erhoben,
insbesondere in Zusammenhang
mit großen Sportereignissen. Ein
Spiel kann also sowohl ein harmloser Zeitvertreib als auch ein Ablenkungsmanöver sein, welches die
Macht der Herrschenden stützt.
Eindrucksvoll bekommen wir das
nicht nur zu Fußball-WM und
Winterspielen vorgeführt, sondern
auch im Kino. »The Hunger Games«
greift genau diese Mechanismen auf.
SPIELVERDERBER
Wehe dem, der die Ordnung stört! Was als Störung
oder Regelverstoß angesehen wird, hängt von der
jeweiligen Gesellschaft ab und kann ganz verschiedene
Gesichter haben. Je nachdem, was gerade gespielt wird.
Auf politischer Ebene lässt sich das an Staaten im
Umbruch beschreiben. Heute Faschismus, morgen
Demokratie – oder umgekehrt? Wer gerade an der
Macht ist, bestimmt die Spielregeln. Was gestern noch
galt, kann bereits morgen strafbar sein – in manchen
Spielen gehört Willkür dazu: »Gehe direkt ins Gefängnis,
gehe nicht über Los, ziehe nicht 1000 Mark ein.«
Hannah Feiler
SPIELSTRATEGIEN
Betrachten wir das Leben als Spiel. Der Einsatz
muss stimmen – und das bist du selbst, dein Weltbild,
deine Identität, deine Existenz. Dass daraus – mitunter
tödlicher – Ernst werden kann, wurde gesagt. Und doch
ist der Umgang mit einer Situation das Entscheidende.
Der Ökonom und Essayist Nassim Nicholas Taleb
nennt dies Antifragilität. Gemeint ist damit, dass man
Fehler nutzen soll, um aus ihnen zu lernen. Dies setzt
eine gewisse Offenheit in jeder Situation voraus, um
Auswege und Möglichkeiten zu erkennen, wenn man auf
dem ursprünglich angedachten Weg auf ein Hindernis
stößt. Es ist die Fähigkeit, an Schwierigkeiten oder gar
Niederlagen nicht zu zerbrechen – eben antifragil zu
sein; ein spielerischer Umgang mit dem, was uns
begegnet und widerfährt. Vielleicht sollten wir ab und
zu weniger grübeln – und einfach spielen. Es ist Mary
Poppins’ Löffelchen voll Zucker, das mitunter bittere
Medizin im Alltag versüßen kann: »In every job that
must be done, there is an element of fun. Find the fun and
– snap – the job’s a game!« Um uns an diese Möglichkeit
zu erinnern, hilft es manchmal vielleicht schon, nur auf
den Fugen zwischen den Pflastersteinen zu gehen.
Tonnen von Stahl und Eisen umgearbeitet und weiterverarbeitet. Hundertschaften von Stahlarbeitern pilgern jeden Tag zu der großen, rauchenden, stampfenden Stahlmaschinerie. Im Dorf Watenstedt wohnen sie
nicht, denn das Dorf ist kein Bauland mehr.
Bereits Ende der 1980er Jahre wurde von Stadt und
Land beschlossen, dass Watenstedt kein dörflicher
Lebensraum mehr sein solle, um in naher Zukunft
Platz zu machen für die Zulieferfirmen der Stahlwerke,
die sich dort ansiedeln werden. 2011 wurde von einem
Gutachten der niedersächsischen Wirtschaftsforschung angenommen, dass in einem Zeitraum von 15
Jahren der Ort vollständig in ein Industriegebiet
umgewandelt sein könnte. Dafür gibt es einen passenden
Begriff: Das Dorf Watenstedt soll überplant werden.
Ein Lebensraum wird aufgelöst, die Menschen
sollen bis spätestens 2020 sozial verträglich umgesiedelt
und entschädigt werden. So zumindest heißt es im
Abschlussbericht des »Projektes Salzgitter-Watenstedt «
von 2009, der von der Stadt Salzgitter veröffentlicht
wurde.
Doch seitdem gibt es im Dorf Watenstedt noch
immer keine Zulieferfirmen, die Fachwerkhäuser stehen
noch, es gibt einen Bäcker, einen Kiosk, ab und an
fährt ein Bus. Und es wohnen dort noch Menschen.
Allerdings: Die Überplanung steht fest.
HEIMAT, NOSTALGIE
& ABRISSBIRNEN
WIE EIN ORT OHNE ZUKUNFT AM LEBEN FESTHÄLT
Ein Dorf, das in direkter Nachbarschaft mit einem
schmutzigen, stampfenden Industriekoloss und unter
der drohenden Abrissbirne eines industriellen Überplanungsprojekts existiert. Ich möchte wissen, inwieweit
die Menschen, die hier wohnen, von der Überplanung
betroffen sind, was sie an diesem Ort hält oder ob sie
umziehen wollen. Wie sie ihre Zukunft sehen. Und
was Heimat für sie bedeutet.
Üppige Felder und junigrüne Wiesen ringsumher
und dann ein überdachtes, hölzernes Ortsschild:
Watenstedt. Eine kleine Ortschaft mit nunmehr knapp
450 Einwohnern. In den 1950ern ein Heimatort für viele
Stahlarbeiter der boomenden Wiederaufbau-Industrie,
heute ein winziger Rest-Ort hinter Salzgitter-Lebenstedt.
40
Durch die schmale Hauptstraße trifft man auf
niedersächsische Dorf-Idylle: In kleinen Gassen reihen
sich urige Fachwerkhäuser mit Grundstück und Garten
aneinander. Vor einem Haus steht ein bunter Zoo aus
Plastikstorchen und gießkannenbestückten, grinsenden
Fröschen aus Ton. Einen Straßenzug weiter wirken die
klobigen, schnell hochgezogenen Wohnblöcke aus den
1970er Jahren dagegen jedoch weit weniger charmant.
Es ist der Tag nach Vatertag und in Watenstedt
sind ungewöhnlich viele Menschen unterwegs. Ein
kurdisch-islamischer Kulturverein macht ein Straßenfest.
Vom einzigen Park aus – auf der kargen Grünfläche
steht noch ein Maibaum – kann man die Spitzen von
Industrietürmen sehen. Beinahe surreal ragen riesige,
eiserne Turmspitzen hinter den nahen Bäumen hervor.
Weiße Dampfwülste kriechen aus den Schornsteinen.
Ab und an wird ein ungewohnter, beinahe beißender
Geruch von einer Windböe herangetragen.
Das Dorf Watenstedt liegt direkt neben dem
Industriepark Salzgitter. Hier werden von den Stahlindustriegiganten Alstom, MAN und der Salzgitter-AG
Nele Beck
Nele Beck
Zwischen kleinen Häusern mit Blümchengardinen
und beschnittenen Hecken komme ich an ein paar
großen backsteinernen Gehöften vorbei. Auf riesigen
leeren Grundstücken schauen mir die Haupthäuser aus
eingeschlagenen Scheiben entgegen. Hier und dort
hängen in den Fenstern Pappschilder, »Grundstück zu
Verkaufen«, und eine verblichene Telefonnummer.
Watenstedt ist ein Ort ohne Zukunft und an diesen
langsam verfallenden Leerständen bekommt man das zu
spüren.
Ich treffe auf Ali*, er arbeitet in seinem Garten,
wohnt selbst allerdings in Salzgitter, da dort nun auch
seine Freunde hingezogen sind. Er stellt mir Marianne
vor, die mit Blümchenbluse und Gehwagen gerade auf
ihrem Spaziergang an uns vorbeikommt. Sie ist 89
Jahre alt und wohnt seit 75 Jahren in Watenstedt. Sie
sei umgezogen in die ehemalige Polizeistation, da
würde ja nun keiner mehr drin arbeiten. Auf ihren
Gehwagen gestützt freut sie sich, dass ich ein Foto von
ihr machen möchte. Marianne lacht bei meiner Frage,
ob sie schon einmal an umziehen gedacht habe. Ihre
Heimat sei hier, mit ihrem Mann habe sie doch hier
gewohnt und wenn jemand ihr das Haus nehmen
wolle, müssten sie schon warten, bis man sie auf einer
Bahre heraustragen könne. Ja, nur einsam sei sie,
besuchen komme sie ja kaum einer mehr. Ich denke
über Heimat nach, und darüber, dass die kleine alte
Frau schon dreimal so lange an diesem Ort wohnt wie
ich auf der Welt bin und ihren Kindern und Enkel*innen
hier nichts hinterlassen wird. Marianne nimmt ihre
nachmittägliche Runde durch den Ort wieder auf und
ich werde von Ali an Frau Tosun im Wohnblock
nebenan verwiesen.
Im Garten spielen einige Jungs Fußball, zwei
Mädchen mit Kopftuch sitzen dabei. Ich muss erst den
richtigen Block finden, dabei begegnen mir auch hier
bereits die Spuren des Verlassen-Seins: Die meisten
Fenster der grauen Wohnkästen erscheinen leer, in
einem klebt noch der Rest von einem bunten WindowColor-­Fensterbild, doch das Gras wächst schon hoch
über die Türschwelle.
Frau Tosun macht mir auf, Kindergeschrei kommt
aus ihrer Wohnung. Eine energische Frau mit strengen
Augen erklärt mir in perfektem Deutsch, dass sie mit
ihrer Familie bereits seit 15 Jahren in Watenstedt
wohne, aber ihre Wohnung jetzt zum 31. Juli dieses
Jahres gekündigt wurde. Die Wohnblöcke gehören der
Stadt Salzgitter und werden ohne großes Federlesen bis
Ende des Jahres geräumt und abgerissen. Mit verschränkten Armen erzählt mir Frau Tosun davon, dass
ihre Klage vor dem Landesgericht abgewiesen wurde
41
In der gleichen Straße prangt gut sichtbar an der
Fassade eines Hauses ein Gedichtspruch:
»
WENN DIESES HAUS SO LANGE STEHT, BIS AUF DER
WELT DER NEID VERGEHT, DANN STEHT’S HIER NICHT
GEWISSE ZEIT, DANN STEHT’S IN ALLE EWIGKEIT.
«
und sie nun nicht wisse, wohin. Ihr Mann ist arbeitslos und von Harz IV
können sie sich in Salzgitter keine Wohnung leisten, die groß genug für
alle ist.
Eine ganz andere Einstellung zur Lebenssituation in Watenstedt
bekomme ich über den noch rauchenden Grill einer Gruppe Männer serviert, die im Park den Vatertagskater ausklingen lassen. Sie sind alle in
ihren frühen Fünfzigern, erzählen mir von ihrem Leben in Watenstedt.
Alle haben hier ein Haus, einer hat seines erst vor fünf Jahren gekauft und
zwar im vollen Bewusstsein der Situation. Ob man sich an die Gegebenheiten gewöhnt hätte?
Ein anderer, mit etwas sonnenverbrannter Nase, erklärt lapidar, dass
der Lärm des Industrieparks für ihn schon dazugehöre wie der Kuhstallgeruch zum Landleben. Und seine Fenster auf der nordöstlichen Seite, also zu
den Fabriken hin, macht er schon gar nicht mehr sauber. Und doch werden
die Gesichter ernst, wenn es um die Zukunft des Ortes geht. Vor drei
Jahren wurde von der Initiative des »Projektes Salzgitter-Watenstedt « eine
Umfrage zur Lebenssituation durchgeführt und es wurden alle Grundstücke
geschätzt. Bernd, der Vorstand im neu gegründeten »Verein für Watenstedt«
ist, erzählt mir vom damaligen Medienrummel und dass er von Freunden
andauernd gefragt wurde, wann er denn nun endlich umziehe.
Jetzt herrscht Stillstand. Die Stadt und das Land haben nicht genug
Geld, um die Umsiedlung durchzuführen. Insgesamt 18 Millionen Euro
waren dafür angesetzt. Trotz allem wirkt die Gruppe auf mich optimistisch. »Solange sie sich an den Bestandsschutz halten, kann uns nichts
passieren! Da müssen sie schon warten, bis wir alle endlich tot sind!« Bernd
lacht zwar, aber das Thema ist ernst. Jugend gibt es schon kaum mehr im
Ort, die Vereine sterben aus. Erst letztes Jahr hat die Freiwillige Feuerwehr
das Handtuch geworfen. Der Fußballverein das Jahr zuvor. Mir wird
langsam klar, dass die Zukunftslosigkeit Watenstedts nicht von bedrohlichen Abrissbirnen herrührt, sondern der Ort stattdessen langsam von
innen ausgeblutet wird. Es kann nicht mehr gebaut werden, verkaufen ist
42
beinahe unmöglich, da potentielle Käufer keine Kredite
von den Banken für das Risikoland Watenstedt erhalten.
Immobilienbesitzer haben also das Nachsehen. Es gibt
keine Gaststätte mehr, Vereine und Traditionen sterben
aus. Das Dorfleben wird zur Ader gelassen.
Jedoch verblüfft mich die Resignation und gleichzeitige Heimatverbundenheit der Männer. Sie scheinen
sich mit der Lage abgefunden zu haben, leben mit
ihren Familien gerne in Watenstedt. Im August will
der Watenstedt-Verein ein Sommerfest abhalten, auch
alle aus der Stadt und die hohen Tiere aus dem Gewerbegebiet sollen eingeladen werden. Solange der letzte
Bewohner nicht umgesiedelt (oder tot?) ist, kann nicht
gebaut werden.
Frau Essner, gestreifte Schürze und eine kleine
Lesebrille auf der Nase, zeigt mir ihr charmantes
Fachwerkhaus, in dem sie mit ihrer Familie schon
immer lebt und die Dorfstille genießt. Nur ab und an
wird ihr anscheinend der sich ansammelnde Müll des
angrenzenden Lebensmittelhändlers zu viel. Ausziehen
will aus diesem Haus jedoch niemand. Auch die junge,
sonntagsbrötchenblonde Bäckerin ist optimistisch:
»Solange die Arbeiter noch meine Brötchen mögen, ist
alles in Ordnung.«
Ich werde neugierig. Trotz aller hier mitschwingenden
sturen Heimatverbundenheit berichtet mir die Bewohnerin erst etwas unwirsch, dann aufgebracht, davon,
dass sie nichts lieber tun würde als auszuziehen. Auf
gepackten Koffern säßen sie und warteten nur darauf,
dass endlich das Geld für die Umsiedlung bereitgestellt
würde. Aber da das nicht geschieht, bleiben sie nun mal
an Ort und Stelle. Ich stelle mir vor, wie hinter der
hölzernen Wohnungstür tatsächlich eine Reihe Koffer
und Kisten bereitliegen.
Ein interessantes Mosaik an Schicksalen macht sich
hier auf, jedes mit einem anderen Bezug zur Heimat
Watenstedt. Während manchen Fachwerken und ihren
Bewohnern die Nostalgie regelrecht innewohnt, stellt
sich an anderen Orten ein reiner Unterkunfts-Pragmatismus ein, der auch gegen eine andere Bleibe ausgetauscht werden könnte.
Vor dem freistehenden »Hotel 2000 « stehen
Umzugskartons. Eine junge Frau erzählt mir mit
glänzenden Augen, dass sie gerade erst eingezogen seien.
Salzgitter-Lebenstedt sei zu gefährlich für ihre Kinder,
sie ziehe das Dorf vor. Drohende Überplanung? Davon
wisse sie nichts.
Watenstedt stellt sich als ein Sammelsurium von
Lebensumständen heraus. Während der Ort an einigen
Stellen an sich selbst zu verrotten scheint, stehen auf
der anderen Seite optimistische Menschen, die ihre
Heimat Watenstedt pflegen. Oder einfach stur darüber
hinwegsehen, dass aus dem Dorf ein Industriegebiet
werden soll. Sie fahren eben einmal mehr das erneut
industrieschmutzstaubige Auto durch die Waschanlage
in Salzgitter. Einige Bewohner*innen werden bis Ende
des Jahres eine neue Bleibe finden müssen, andere
dagegen noch weiter in der nachbarschaftlichen Obstgarten-Idylle wohnen, bis …?
Immer wieder drängt sich die Frage auf, ob Heimat
überhaupt unabänderlich mit einem Ort verbunden ist.
Wann ist es dagegen Zeit zu gehen? Oder zu bleiben?
*Alle Namen der angegebenen Personen sind von der Autorin geändert worden, die Gespräche haben in ähnlichem Umfang tatsächlich
stattgefunden. Quellen zur Recherchearbeit: http://www.salzgitter.de/rathaus/downloads/Abschlussbericht_Watenstedt.pdf
http://www.wis-salzgitter.de/fileadmin/user_upload/wis/downloads/newsletter/wis-newsletter_1-2013.pdf
43
Anne K.
So beschimpftest du mich
Und folgtest mir die Straße hinunter
Als ich nicht auf deine Worte reagierte
Fingst du an zu drohen
Was du alles mit mir anstellen würdest
Als ich dir sagte, du solltest mich in Ruhe lassen
Fragtest du mich mit einer Wut, die dein Gesicht zu einer hässlichen Fratze verzerrte
FÜR WEN ICH MICH EIGENTLICH HALTEN WÜRDE
Aber weder diese Angst noch du
Bestimmen wer ich bin
Und was ich darf.
Für wen ich mich eigentlich halte?
Du verdienst keine Antwort
Kein Zögern
Nicht mal ein spöttisches Lachen.
ICH WEISS ES.
Das genügt.
Du kannst mir Angst machen
Weil ich und du gelernt haben
Dass du immer nur Täter sein darfst
Und ich immer nur Opfer
Weil du und ich gelernt haben
Dass du immer Sex brauchst
Und ich ihn geben muss
Weil du und ich gelernt haben
Dass du im öffentlichen Raum stehen darfst
Und ich nicht.
Ich bin ich.
ICH BIN.
Reklamiere meinen Platz auf nächtlichen Straßen
Und in Hörsälen
Und Büros
Und U-Bahnen
Und auf Bühnen
Doch wie ich mich damals aus seinem Griff befreite
Und barfuß über schneebedeckte Felder rannte
So weigere ich mich auch heute
Die zu sein, die Du in mir sehen willst
Da vergaß ich für einen Moment meine Angst
Meine Angst, die du dir herausnahmst, mir überzustülpen wie eine dunkle Kapuze
Denn diese Frage
Sagte mehr aus als all deine verbalen Angriffe
Für wen halte ich mich eigentlich?
Denn nur das ist doch wichtig.
Dass 26 Jahre, in denen ich erst süß, dann brav, dann lieb, dann fleißig, dann
ordentlich, dann anständig, dann bescheiden sein sollte –
In denen ich gelobt wurde für meine blonden Locken und meine saubere Schrift
und für meinen ersten Kuchen und meine hübschen Bilder –
In denen mir immer nur gesagt wurde, dass ich nicht schwanger werden sollte
Aber niemals über Konsens gesprochen wurde –
Oder darüber, wie schön Sex sein kann –
Nicht definieren, wie ich sein will
Wie ich bin.
Schau mich an. Bin ich nicht Beweis genug,
Dass mein Mathelehrer Unrecht hatte
Und meine Mutter
Und die Kommilitonen in den Wirtschaftsvorlesungen
Und du in den Clubs
Und du auf den Straßen
Und du als mein erster Freund
Der mir sagte, es wäre sein Recht
Und ich sei dumm und hässlich
Mit 13 wies er mir einen Platz zu
In einem System, in dem ich weniger wert bin
Weil ich kein Stück Fleisch zwischen den Beinen habe wie er
Als ich neulich nach Hause ging
Und auf deinen Spruch über meinen Hintern nicht mit schüchternem Kichern
Sondern mit »Fick dich« antwortete
Wurdest du wütend
Wie konnte ich nur dein Recht in Frage stellen
Mich daran zu erinnern, dass ich nicht mehr bin als
Etwas, das zu kommentieren du dir herausnimmst
ALS DEIN ERBRECHT
Als dein Machtinstrument
Dass ich keinen Bock mehr habe
Objekt deiner armseligen Projektionen einer Welt zu sein
Die im Untergang begriffen ist
Dass ich nicht verpflichtet bin
Für dich zu tanzen
Für dich zu schwärmen
Nicht mal lächeln muss ich
ICH SCHULDE DIR NICHTS
Wann begreifst du endlich
Wann begreifst du endlich
Dass ich dein Spiel nie spielen werde
Weil es bitterernst ist
Weil es kein Kompliment ist
NIEMALS
Weil du nicht das Recht hast
Weil ich dich nicht darum gebeten habe
Weil mein Körper keine Einladung ist
Für deine Sprüche
Deine Hände
Deine Blicke
Es ist doch nur
NIMM DAS NICHT SO ERNST
Hab dich doch nicht so
Ich wollte doch nur
Keine Angst, der will nur
Sei doch nicht so
Haare auf den Zähnen?
Bist du verklemmt
Prüde
Langweilig
Spielverderberin
Eh zu hässlich
Lesbisch oder was?
NICHT MAL LÄCHELN
FACE –
GESICHTER EINER STADT
Kann Distanz Nähe erzeugen? Ohne Inszenierung oder Pose fotografiert
Kevin Momoh in seiner Serie »face« Menschen und liefert ebenso nüchterne
wie eindrückliche Portraits, die gerade durch ihre Distanziertheit und Ruhe
eine besondere Nähe zum Motiv aufbauen. Genau beobachtet er sein Gegenüber und sucht den Moment des Fallenlassens der Maske, den er als »reinen
Ausdruck« bezeichnet. Die abgebildeten Personen sind entweder Freunde
und Bekannte aus der Hildesheimer Studenten- und Kulturszene oder
Fremde, die auf seinen Facebook-Aufruf hin vor seine Kamera getreten sind.
Im Juli 2014 fand im Kunstraum53 eine Ausstellung von Momohs Reihe
»face« statt. Seine Arbeiten sind unter the-momoh.tumblr.com zu sehen.
46
Kevin Momoh
56
Studierende
und die Politik
58
hilde in your face
64
»Der Homo ludens
in der Universität«
70
Hilde Tag und Nacht
73
6 mal 6 Fragen
an das
STATE OF THE ART #6
STUDIERENDE UND DIE POLITIK
WENIG PARTIZIPATION HAT ELITÄRE EFFEKTE
sionen. Insgesamt befinden sich die
wesentlichen Ämter der akademischen und studentischen Selbstverwaltung an der Universität Hildesheim
»
6600 STUDIERENDE in der Hand von
vielleicht 30 bis 40
WERDEN ALSO IM
WESENTLICHEN VON Studierenden. 6600
Studierende werden
CA. 0,7 % IHRER
MITGLIEDER AN DER also im Wesentlichen
von ca. 0,7 % ihrer
UNI VERTRETEN.
Mitglieder an der
«
Uni vertreten. Zum
15 % Wahlbeteiligung. Das ist Vergleich: Bei Professoren*innen
die magere Ausbeute der letzten liegt die Beteiligung in den Gremien
Wahlen zum Studierendenparla- bei fast 100 %.
ment (StuPa). Statistisch gesehen
bekamen selbst Bewerber*innen, für
Berücksichtigt man die di­versen
die nicht geworben wurde, ca. 50 % Fachschaftsvertretungsmitgliedder Stimmen, für Platz 1 reichten schaften, Mitgliedschaften in aner57 % der Stimmen. Da jede*r Stu- kannten Initiativen der Studierendierende 13 Stimmen hatte, so viel denschaft, Mitgliedschaften in
wie Plätze im StuPa vorhanden ehrenamtlichen Organisationen
sind, konnte jede*r Wähler*in 13 wie UNICEF oder StudCaf und
Personen mit seiner Stimme unter- Mitgliedschaften in Gewerkschaften
stützen. Doch die geringe Wahlbe- und politischen Parteien, wird das
teiligung zeigt eindeutig: Solche Bild etwas besser. Doch den Weg in
Wahlmodalitäten, oder die Wahl den harten Kern der Selbstverwalan sich, bewegten nur wenige Stu- tung an der Universität Hildesheim
dierende. Welche politische Form finden nur wenige Studierende.
hat also die Studierendenschaft
und ihre Interessenvertretung?
Damit liegt bei den wenigen
Aktiven ein enormer InformationsViele aktive Studierende häufen vorsprung vor. Einfluss auf die
diverse Ämter an, beispielsweise Ordnungen nehmen in der Regel
sitzen zwei Studierende gleichzeitig nur einige wenige Studierende, nur
im StuPa, dem Senat, einem Fach- wenn es ganz auffällige Probleme
bereichsrat und der Ständigen gibt, werden größere Gruppen von
Senatskommission Lehramt (SKoLa). Studierenden aktiv. Dies war beim
Andere Studierende sind gleichzei- Grund-, Haupt- und Realschultig Mitglied in einer Fachschafts- masterstudiengang mit 300 Leisvertretung, einem Fachbereichsrat tungspunkten (GHR 300) der Fall,
und noch in dezentralen Kommis- aber auch dort ebbte das Interesse
56
schnell ab, als die gröbsten Probleme
beseitigt waren. Insgesamt sind der
Masse der Studierenden viele Entscheidungen wie die Entstehung
von Studienordnungen oder das
Zustandekommen von Zwangsbeiträgen nicht bewusst. Bei jenen
Studierenden, die über diese
Kenntnisse verfügen, ist es durchaus
möglich, von Herrschaftswissen zu
sprechen.
Hinzu kommt die hohe Fluktuation von Studierenden in den
Gremien. Diese teilt die Gruppe
der aktiven Studierenden in zwei
Untergruppen. Die eine Untergruppe engagiert sich in den Gremien relativ kurz, vielleicht ein
oder zwei Jahre, was in etwa der
Einarbeitungszeit entspricht. Die
andere Untergruppe besteht aus
Personen, die über vier, fünf oder
mehr Jahre aktiv sind und permanent
Mitgliedschaften in verschiedenen
Gremien halten. Bei einigen dieser
Personen kommt noch ein parteipolitischer und/oder gewerkschaftlicher Hintergrund dazu und damit
ganz andere Möglichkeiten des
Zugriffs auf Landes- und Kommunalpolitiker*innen. Die zweite
Untergruppe hat, wenn man so
will, eine politische Schulung hinter sich, die einen enormen Vorteil
darstellt. Denn Politik und Interessenvertretung ist auch ein erlernbarer
Beruf oder eine Kunst, wie es
Machiavelli nennen würde.
Schon in den 1920er Jahren
sprachen Bildungspolitiker, damals
war Politik fast nur Männersache,
Andre Vespermann
über Studentenfunktionäre, also
die zweite Untergruppe. An den
deutschen Universitäten hält sich
damit schon mehr als hundert Jahre
eine Gruppe, häufig Langzeitstudierender, die die Interessenvertretung der Studierenden dominieren.
Diese Gruppe von Studierenden ist
politisch interessiert und weit überdurchschnittlich engagiert. Durch
das hohe Interesse und den Einsatz
entwickeln diese Studierenden
einen gewissen sozialen Zusammenhalt und ein Bewusstsein als
(politische) Gruppe. Damit grenzt
sich diese eher kleine Gruppe
sowohl gegen die Masse der eher
unpolitischen Studierenden als
auch gegen die erste Untergruppe
der Engagierten ab. Dabei sind es
gerade Studierende, die Themen
wie Transparenz, Gerechtigkeit
und eine breite Partizipation fordern. Die Utopie, dass alle Menschen gleich sind und alle Menschen über ein Recht auf politische
Meinungsfreiheit und politische
Betätigung verfügen, ist dabei die
wesentliche ideologische Grundlage.
Der Egalitarismus in verschiedener
Ausprägung ist unter Studierenden(vertreter*innen)
populär.
Doch praktisch gab immer eine
kleine Gruppe den Ton an.
Zieht man elitäre Theoretiker zu
Rate, dann weist die Studierendenvertretung der Universität Hildesheim klassische elitäre politische
Prozesse auf. Die Interessenvertretung wird thematisch und organisatorisch von einer kleinen Gruppe
dominiert, die Masse der Studierenden beteiligt sich nicht bis marginal an der Interessenvertretung
und die dominierende Gruppe hat
einen enormen Vorsprung im
Zugriff auf Informationen und die
politische Bildung. Damit liegt das
vor, was man als elitäre politische
Gruppe bezeichnen kann. Die
Form der Interessenvertretung ist
an der Universität Hildesheim eher
elitär ausgeprägt, obwohl die
Mehrheit der studentischen Interessenvertreter*innen ideologisch und
philosophisch eher egalitaristisch
denken und egalitäre Ziele verfolgen.
Warum entsteht dieser krasse
Gegensatz zwischen politischer
Überzeugung und praktischer
Tätigkeit?
Zum einen spielt die allgemeine
Politikverdrossenheit eine Rolle. Je
weniger Menschen sich allgemein
für Politik interessieren, desto stärker wirken jene, die es noch tun.
Zudem ist eine Universität für
Studierende eine Durchlaufstation,
die heute eher kürzer als länger
besucht wird. Drei Jahre Bachelorstudium sind sehr kurz, zu kurz, um
auch nur ansatzweise die wesentlichen Prozesse in der Hochschulpolitik zu begreifen. Zudem kostet
jedes ehrenamtliche Engagement
Zeit und Nerven, die nicht allen
Studierenden zur Verfügung stehen.
Auch wird in Deutschland insgesamt viel politische Bildung betrieben, der Durchschlag auf die
Bevölkerung ist eher gering. Vielen
Menschen fehlt die historische,
wirtschaftliche, juristische und
philosophische Bildung, um gesellschaftliche Prozesse zu verstehen.
Irrsinnigerweise gilt dies auch für
Studierende und Studierte.
Die Sätze »Ich kann doch eh
nichts ändern!« und »Was bringt es
denn?« sind häufig auch von gebildeten Menschen zu hören. Diese
Einstellung ist tödlich für eine
breite Partizipation. Politik läuft
nicht nach den Prinzipien der
direkten Nutzungsgenerierung,
sondern nach eigenen Gesetzen.
Einzelne Individuen handeln
natürlich am Nutzen orientiert,
auch in der Politik. Begreift man
aber Politik als Aufrechterhaltung
einer funktionierenden Gesellschaft, dann sind eben die Spielregeln der Gesellschaft als eigener
Regelkomplex zu beachten. Politik
ist per Definition, selbst in einem
autokratisch elitären System, eine
Angelegenheit von Gruppen, nicht
des reinen Nutzens einzelner. »Ich
ändere durch meine Beteiligung am
Wir (der Gesellschaft) etwas in der
Gesellschaft, was positiv auf mein
Lebensumfeld zurückfällt!«, wäre
eine Formulierung, die für einen
Demokraten angemessen wäre.
Der starke Individualismus der
Menschen in Deutschland, das
Be­rechnen des Nutzens in zu kurzfristiger eindimensionaler Form, ist
die Ursache für die politischen
Defizite. Schon die Fragen nach
politischen Problemfeldern und
Lösungsansätzen werden im politischen Kontext oft völlig falsch
gestellt. Die Antworten von Politlaien, aber einiger politisch engagierter, sind meist schon gruselig.
Wir Studierende be­
kommen im
Grunde für das fehlende politische
Interesse und die fehlende Beteiligung die Quittung. Eine personell
dünn besetzte studentische Vertretung, die wesentlich mehr für uns
tun könnte, wenn genug von uns
mitmachen würden.
Quellen oder zum Weiterlesen:
Allgemeine Soziologie / Vilfredo Pareto, 1955,
Tübingen, Mohr
Die herrschende Klasse: Grundlagen der politischen Wissenschaft / Gaetano Mosca, 1950.
Bern, Francke
Der Fürst / Niccolò Machiavelli, 1941,
Leipzig, Meiner
Gedanken zur Hochschulreform / C. H.
Becker, 1919, Leipzig, Quelle und Meyer
57
HILDE IN YOUR FACE
Sucht man im Internet oder in Reiseführern nach Hildesheim, findet man
schnell zahlreiche historisch relevante Kirchen oder namhafte Museen mit
kunst- und kulturgeschichtlichen Kostbarkeiten. Doch was verbinden
Hildesheimer*innen mit der Stadt, in der sie leben und arbeiten? Um dieser
Frage auf den Grund zu gehen, entstand die folgende Portrait-Serie. Studierende wurden gebeten, spontan und frei Begriffe zu nennen, die sie mit
Hildesheim assoziieren.
Dustin Rauch ist Fotograf aus Hannover. Er studiert Internatio­nales
Informationsmanagement an der Universität Hildesheim und arbeitet hauptsächlich im Bereich der Portrait- und Landschaftsfotografie.
www.ohdustin.de
58
Dustin Rauch
Nele Beck
63
Seit zwölf Jahren ist unser
Präsident Wolfgang-Uwe Friedrich im
Amt. Doch was macht er überhaupt?
Mit dem NERV sprach er über
Christian Wulff, Edward Snowden,
den Sinn von Anwesenheitslisten und
seine eigene Vergangenheit.
Wir sitzen an einem Konferenztisch in Raum V 106,
dem lichtdurchfluteten Büro des Uni-Präsidenten. An der
Wand hängen Gemälde, in einer Ecke stehen Umzugskartons. Wir mussten eine halbe Stunde warten, aber
Wolfgang-Uwe Friedrich begrüßt uns trotz der Terminverzögerung freundlich und entspannt. Der Präsident
setzt sich bewusst nicht hinter seinen Aktenberg.
NERV: Wann und was haben Sie das letzte Mal
gespielt?
Wolfgang-Uwe Friedrich: Ich habe mit Freunden
in einem Flugzeug Karten gespielt. Ein Kartenspiel, das
so ähnlich ist wie Rommé. Das war vor etwa zwei Monaten. In meinem Alltag tauchen Spiele nicht auf. Zum
Entspannen am Wochenende koche ich sehr gerne.
Letzten Sonnabend habe ich zur Begeisterung meiner
Frau Thunfisch mit einer neuen Senf-Dill-Soße ausprobiert, die ich mit Ahornsirup und Chili verfeinert habe.
»
DER HOMO
LUDENS IN DER
UNIVERSITÄT
«
Christine Edelmann, Kornelius Friz
Mit welchem Spiel würden Sie ihr Leben vergleichen?
Ehrlich gesagt sind Spiele nicht meine Welt. Ich
wüsste keins.
Vielleicht passt ein Teamsport wie zum Beispiel
Fußball?
Ich gucke Fußball ganz gerne. Wenn man diese
Analogie wählt, verstehe ich mich schon als Spielmacher
und ich sehe auch, dass man nicht alleine Fußball spielen
kann, sondern eine Mannschaft braucht.
Pressestelle Universität Hildesheim
Friedrich denkt lange und ernsthaft nach. Er scheint
sich auf das Gespräch einzulassen.
Es ist Anfang Juli. Wie wird die Domäne zum
Semesterbeginn im Oktober aussehen?
Da wird sich wenig geändert haben. Die Bauarbeiten am Weißen Haus sind dann hoffentlich abgeschlossen. Außerdem haben wir akuten Handlungsbedarf, was einen studentischen Arbeitsraum mit einem
basisgastronomischen Angebot vom Studentenwerk
angeht. Es gibt aktuell eine Kontroverse, was das Atelier angeht. Ich halte es für vordringlich, dass wir einen
Aufenthalts­raum haben, in dem Studierende auch
mitgebrachte Speisen verzehren können und zusätzlich
Speisen angeboten werden - und das in attraktivster
Lage und nicht unter dem Dach. Meiner Ansicht nach
bietet das Atelier diese Möglichkeit, weil bestimmte
Probleme, wie Toilette und Abzug, unmittelbar lösbar
sind. Für das Kunstinstitut gibt es Alternativen und
gemeinsam mit studentischen Vertreter*innen und den
Lehrenden werden wir eine finden.
Wie wird sich das auf den Hofcafé-Betrieb auswirken?
Ich hoffe sehr, dass Herr Peinzger bleibt und ich
habe in diesem Jahr einige Zeit investiert, um ihm zu
sagen, dass er uns lieb und teuer ist. Die Vertragsgrundlage, dass es täglich ein Mittagsmenü für etwa 2,50 Euro
gibt, will ich bewahren. Auf der anderen Seite weiß ich
genau, was Herr Peinzger benötigt, um seinen Betrieb
65
lebensfähig zu halten und da gehören selbstverständlich
Abendveranstaltungen und Café-Kundschaft dazu. Es
ist auch meine Aufgabe, ihm zu ermöglichen, dass er
dort bleiben kann. Deshalb muss ich eine Möglichkeit
finden, dass beide Angebote parallel bestehen. Es ist
klar, dass wir auch montags ein Angebot für Studierende
brauchen und deshalb will ich einen neuen Raum, wo
man sich auch um 19 Uhr noch einen Kaffee drücken
kann. Der Kulturcampus ist jetzt schon einer der
schönsten in Deutschland, aber es gibt noch eine
Menge zu tun.*
Reihe hinter ein Einkaufszentrum zu setzen und fand
die Idee genial. Ich habe die dringende Bitte an den
Oberbürgermeister: Wenn die Stadt den Flächennutzungsplan ändert und die beiden Sportplätze aufgelöst
werden, dann will ich, dass diese teilweise als
Hochschul­
erweiterungsfläche ausgewiesen werden.
Herr Meyer ist da sehr, sehr kooperativ. Allerdings
werden erst die Nachfolger meiner Nachfolger zu prüfen
haben, ob sie da bauen.
Wie sollen denn die Studiengebühren, die jetzt
weggefallen sind, kompensiert werden?
Das Gute ist, dass die Landesregierung das komDie Raumproblematik entsteht ja auch dadurch,
pensiert und die sogenannten Studiendass immer mehr Studierende
»
qualitätsmittel aus dem Landeshausnach Hildesheim kommen. Laut
WIR HOCHSCHULPRÄSIhalt zur Verfügung stellt. Diese
Minerva 2020 ist keine langfristige
DENT*INNEN KOMMEN
sollten verstärkt in Personal fließen,
Zunahme angestrebt. Wie lange
STÄNDIG MIT DER OFFENEN einschließlich wissenschaftlicher
wird die Uni noch wachsen?
Minerva 2020 sagt, dass ein HAND. ES IST KLAR, DASS DIE Hilfskräfte. Auch durch meinen
POLITIKER*INNEN DESSEN Appell, alle Arbeitsverträge erst einWachstum über die jetzige Größe
mal weiterlaufen zu lassen, bis wir
nur realisierbar ist, wenn das Land
ÜBERDRÜSSIG WERDEN.
wissen, wie viel Geld wir haben,
zusätzliche Ressourcen und die Stadt
«
wurde jetzt entschieden, alle bestezusätzliche Fläche zur Verfügung
stellt. Wir werden aus Landesinteresse im Oktober aller henden Verträge um ein Jahr zu verlängern. Was mich
Wahrscheinlichkeit nach 7.000 Studierende haben, mit Sorge erfüllt, ist die Absicht der Landesregierung,
weil das Lehramtsstudium im Master von zwei auf vier die freiwerdenden BAföG-Mittel nicht den HochschuSemester verlängert wird. Die Aufnahmezahlen werden len zur Verfügung zu stellen, sondern für Kitas – da
aber nicht hochgefahren. Ich habe gesagt, was die geht es in Niedersachsen um 110 Millionen und für
Ausstattung der Universität an Personal und vor allen Deutschland sogar um knapp 1,2 Milliarden Euro. In
Dingen an Infrastruktur angeht – und diese ächzt, weil einem solidarischen Akt könnte ich mir auch vorstellen,
sie nicht nachgewachsen ist – dann sind wir bei 6.000 dass die Hochschulen und Schulen einen kleineren Teil
Studierenden an einer Obergrenze angelangt. Vor zehn für Kitas abgeben. Aber das ist ein Affront gegenüber
Jahren waren wir beim Landesrechnungshof mit unter dem Hochschulsystem, weil das Land genau weiß, was
5.000 Studierenden noch in der Kritik. Kleinen Unis wir für einen Sanierungsstau haben. Die Polemik, mit
droht immer wieder die Schließung. Ich bin es gewohnt, der sich diese Angelegenheit hochschaukelt, halte ich für
strategisch zu denken. Deshalb interessiert mich, was gar nicht gut. Wir sollten die Diskussion versachlichen.
im nächsten Jahrzehnt geschieht. Das bedeutet: Ich Das ist allerdings auch ein Thema der Landes-Asten-­
will keine Maßnahmen verantworten, die die Universität Konferenz (LAK). Ihre Stimme hat da Gewicht. Wir
kurz nach meiner Pensionierung in einen Abwärtsstrudel Hochschulpräsident*innen kommen ständig mit der
offenen Hand. Es ist klar, dass die Politiker*innen
bringen.
dessen überdrüssig werden. Die LAK ist hier gefordert.
Immer wieder schaut Friedrich in Unterlagen, zeigt Wir Präsident*innen sind 21 Wähler*innen und Sie sind
uns aktuelle Briefwechsel, sucht direkte schriftliche 180.000.
Belege für seine Antworten. Dennoch ist er ganz bei uns.
»
Kein Telefon klingelt, niemand klopft an.
Was tut die Stadt Hildesheim für die Infrastruktur?
Die Stadt hat kein Geld. Beim Bau der Uni hat
man den Fehler gemacht, den Campus in die zweite
66
DIE LAK IST HIER GEFORDERT. WIR
PRÄSIDENT*INNEN SIND 21 WÄHLER*INNEN UND SIE SIND 180.000.
«
* Inzwischen wurde der Vertrag unterzeichnet.
Sowohl das Qualitätsmanagement der Uni als gibt, die sich völlig verselbstständigt haben, macht
auch der AStA halten Anwesenheitslisten datenschutz- mich aber skeptisch. Ich sehe es aus der grundsätz­lichen
Perspektive: Im Zweifel immer für die Freiheit und
rechtlich für kritisch. Wie ist Ihre Position dazu?
Ich bin eigentlich prinzipiell gegen Anwesenheits- Demokratie. Es ist aber auch prekär, was Ihre Generation
listen. Ich bin allerdings für harte Prüfungen. Es ist teilweise in sozialen Netzwerken von sich preisgibt.
normal, dass Menschen auf unterschiedliche Weise Jedenfalls müssen wir Datenschutz zum Bestandteil des
lernen. Es gibt, wie in der Medizin, bestimmte Bereiche, Qualitätskreislaufes ma­­chen, was keine Sache von
wenigen Wochen ist. Aber natürwo Anwesenheitspflicht erforder»
lich wird der Datenschutzbeauflich. In den klassischen GeistesES WÄRE EIN EINGRIFF IN DIE
tragte Herr Mandl Unterstützung
und Sozialwissenschaften erkenne
ich keinen Sinn in Anwesenheits- GRUNDGESETZLICH VERBÜRGTE bekommen.
listen und das habe ich auch FREIHEIT VON FORSCHUNG UND
LEHRE, WENN ICH ALS PRÄSIWie sieht Ihre Vision in
öffentlich erklärt. Wenn einzelne
DENT
VERSUCHEN WÜRDE, DEN Sachen Barrierefreiheit aus?
Lehrende meinen, sie bräuchten
Das ist eine unglaublich langdas in ihrem Curriculum, dann LEHRENDEN VORZUSCHREIBEN,
fristige Aufgabe. Es gibt einerseits
müssen sie das verantworten. Es
WIE SIE LEHREN.
die traditionelle Barrierefreiheit,
wäre ein Eingriff in die grundge«
bei körperlicher Einschränkung
setzlich verbürgte Freiheit von
Forschung und Lehre, wenn ich als Präsident versuchen Zugangsmöglichkeiten zu schaffen, was bei unseren
würde, den Lehrenden vorzuschreiben, wie sie lehren. Neubauten gegeben ist. Bei unseren verschachtelten
Die Frage nach dem Datenschutz kann ich nicht Altbauten ist das schwierig zu gewährleisten. Beschränbeantworten, weil man dazu juristische Kenntnisse kung von Seh- oder Hörfähigkeit kann auch Prüfungen
bräuchte. Ich bin darauf aufmerksam gemacht worden, betreffen und dann kommen wir zu dem riesigen
dass wir generell ein erhebliches Datenschutzproblem Gebiet der Inklusion: Wie geht man mit mentaler
haben und auf der letzten Senatssitzung habe ich Behinderung um? Das ist wahrscheinlich der schwieempfohlen, dass wir grundsätzlich nicht auf Plagiats- rigste und heikelste Gesichtspunkt. Damit sind hohe
prüfungen mit Software – die ich letztes Jahr noch Kosten verbunden, weil es immer nur Einzelfälle sind,
befürwortet habe – zurückgreifen, weil es sich um aber wenn wir sagen, dass wir Barrierefreiheit erreichen
komplette Datensätze handelt, die extern zur Überprü- wollen, dann müssen wir diesen Punkt ernsthaft bearbeiten. Ich glaube nicht, dass unsere Gesellschaft nicht
fung vergeben werden.
empathiefähig ist. In dem Moment, in dem die StudieFriedrich weiß seine Zuhörer*innen zu fesseln. Er renden gefordert sind, fassen sie selbstverständlich am
variiert Tempo und Lautstärke, mal klopft er auf den Tisch Rollstuhl mit an. Aber Inklusion bedeutet weit mehr.
oder pfeift zwischen den Zähnen. Wenn er ins Erzählen
Wie schätzen Sie die Umsetzung der Bologna-­
kommt, klemmt er seine Füße hinter die Stuhlbeine. Trotz
ausschweifender Antworten weicht Friedrich unseren Reform in Hildesheim ein?
Die Umsetzung ist, wie überall in Deutschland,
Fragen nicht aus.
suboptimal. Bologna wollte, dass Sie mobiler und flexibler werden und gleichzeitig hat die Reform dazu
Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?
Ich lese Zeitung und Bücher. Ich weiß, diese Ent- geführt, dass Sie an Freiheit verloren haben. Sie müssen
wicklung gibt es schon seit vielen Jahren, aber ich habe Verantwortung lernen. Bologna hat viel Pauken verurdas jetzt erst im Zusammenhang mit dem NSA-Skandal sacht, was nicht zur Idee der Freiheit passt.
verstärkt gelesen. Deswegen glaube ich auch, dass
Vermissen Sie unseren Präsidenten-Comic, den
Edward Snowden tatsächlich ein Mann mit großer
Zivilcourage ist, weil er die westlichen Gesellschaften wir bis letztes Jahr in jedem NERV hatten?
Nein. Ich will nicht sagen, dass ich mich darüber
sensibilisiert hat. Da sehe ich schon das Schreckgespenst totalitärer Systeme. Ich glaube nicht, dass die geärgert hätte, aber ich fand mich da überhaupt nicht
Bundesrepublik auf diesem Weg ist und auch die USA wieder. Man kann ja eine Person kritisch sehen, aber man
haben funktionierende demokratische Institutionen. muss eine ungefähre Vorstellung haben, was die eigentSchon allein, dass es seit 9/11 so viele Regierungsbehörden lich tut. Da fand ich keine kritische Auseinandersetzung
67
mit meiner Person, sondern eine völlig realitätsfremde.
Natürlich kann ein Karikaturist sich eine Story ausdenken, aber es sollte ja erkennbar um mich und meine
Tätigkeiten gehen. Ich habe heute acht Termine gehabt
und habe zwischendurch noch ein paar Briefe diktiert
und Gutachten gelesen. Nur zum Mittagessen beim
Italiener hatte ich eine Stunde Ruhe und konnte das
Feuilleton der FAZ lesen. Als Storyteller müsste der
Karikaturist häufiger dort sein, wo ich Termine wahrnehme. Und dann kamen noch parteipolitische Sachen
dazu, obwohl ich mein Amt total unparteiisch ausübe.
Friedrich spricht engagiert. Ob wir es wohl als Kompliment auffassen können, dass der Präsident sich unseren
Comic zu Herzen nimmt?
Ich tausche auch mit der Opposition vertrauliche
E-Mails aus und das ist professionell. Der Rest ist
meine Privatsache. Die Comics fand ich irgendwie
wirklichkeitsfremd. So üben wir unsere Ämter nicht
aus. Das ist übrigens auch eine interessante Sache:
Menschen werden durch ihr Amt verändert. Mit Christian Wulff und Gerhard Schröder habe ich mehrmals
darüber gesprochen und dessen Politik in Jugoslawien
beispielsweise wäre vorher völlig ausgeschlossen gewesen.
Jedenfalls: Ein Amt verändert. Und ob das jetzt Frau
Wanka oder Frau Heinen-Kljajić (ehem. und aktuelle
niedersächsische Ministerin für Wissenschaft und
Kultur; Anm. d. Red.) ist, beide wissen, dass sie mich als
Gegner haben, sobald es gegen die Uni Hildesheim geht.
Und dann renne ich nicht zur Presse, sondern spreche mit
Abgeordneten. Und das erwarten die auch von mir. In
dem Comic habe ich das überhaupt nicht wiedergefunden.
Wäre eine Klage gegen unseren Comic denkbar
gewesen?
Never ever. Wer im öffentlichen Leben steht, muss
mit Kritik leben. Ich habe einmal interveniert, als der
AStA mein Gesicht auf einer Zielscheibe abgedruckt hat.
Ich bin aber zutiefst davon überzeugt, dass eine freie
Presse ein Bollwerk der Freiheit ist. Die Hildesheimer
Allgemeine Zeitung hat mich auch schon verunglimpft,
als sie den Vorwurf abdruckte, dass ich mit stalinistischen
Methoden arbeite. Das hat mich verletzt, weil ich weiß,
was Stalin im Gulag gemacht hat. Ich habe dann aber
keine Beschwerde beim Presserat eingereicht.
Nach neunzig Minuten wird Friedrich an seinen
nächsten Termin erinnert. Er rügt seine Mitarbeiterin, weil
sie schon wieder Überstunden mache. Trotzdem nimmt er
68
sich Zeit für unsere letzten Fragen. Er hat kein einziges
Mal auf sein Handy geschaut.
Ist Hildesheim Ihre letzte Station im Berufsleben?
Ja. Als mein Doktorvater einem Ruf nach Österreich gefolgt ist, brach mein Karriereweg plötzlich ab.
Durch viele Zufälle war ich bei einem politischen
Forum über Außenpolitik in Bonn und geriet in einen
Streit mit Richard von Weizsäcker. Ich habe ihm vorgeworfen, keine wertbezogene, sondern Realpolitik zu
vertreten. Heute würde ich sagen, beides muss gemischt
werden. In der Kaffeepause kam dann ein älterer Herr
mit Goldrandbrille auf mich zu, der sehr interessant
fand, was ich gesagt hatte. Es war Karl Deutsch, ein
Professor aus Harvard.
Friedrich lehnt sich im Stuhl zurück lacht auf, als wäre
er überrascht von seinen eigenen Erinnerungen.
Als ich dann aus Harvard zurückkam, bekam ich
ein Angebot aus Hildesheim und das war damals noch
eine Hochschule, keine Universität, da wollte ich nicht
hin. Ich wollte an eine Universität, die mindestens 200
Jahre alt und mindestens so wie Göttingen ist. Es
brauchte dann einige Zeit, bis ich mich identifizieren
konnte, aber meine Frau hatte sich gerade eine Existenz
als Anwältin in Hannover aufgebaut, dann wurde ich
entfristet. Kurzum: Ich habe mich entschieden, in
Hildesheim zu bleiben. Und ich habe noch immer sehr
große Freude an meiner Arbeit. Ich weiß, es gehören
Probleme und schlaflose Nächte dazu, vor allem
2003/04, als ich bei der Kürzungspolitik des Landes
aufpassen musste, die Uni Hildesheim nicht abwickeln
zu müssen. Und in der Phase, das vergesse ich ihm
»
MAN WÜRDE DIE UNIVERSITÄT
MISSVERSTEHEN, WENN MAN
SIE FÜR EINE SPIELWIESE HIELTE
«
nicht, bin ich zu Ministerpräsident Wulff gegangen und habe
gesagt: Ich stehe für eine
Abwicklung der Uni nicht zur
Verfügung. Er hat sich meine Argumente angehört
und dann gesagt, dass ich von ihm hören werde – und
dann lief es. Ich sehe ihn sehr kritisch, aber die Sicherung der Universität Hildesheim verdanken wir ihm.
Seitdem macht mein Amt Spaß und es ist was dabei
herausgekommen. Ich gestehe, ich bin stolz auf die
Domäne, weil ich das Risiko eingegangen bin, dort
auszubauen.
Der Abschied wird Ihnen also schwer fallen.
Nein. Ich bin ja noch ein paar Jahre da. Mit dem
Stiftungsrat habe ich für mich eine Zielvereinbarung
von fünf Jahren verhandelt. Natürlich kann ich vorher
abgewählt werden, aber vertraglich bleibe ich bis zum
31.12.2018. Meine Frau findet das gut, weil sie auch
weiterarbeiten will. Wir haben leider keine Kinder und
mir macht die Arbeit unglaublich Spaß.
Inwiefern nehmen Sie als Mitglied des ZDFFernsehrates Einfluss auf das Programm des Senders?
Nein, das darf ich nicht. Einflussreich in den
Öffentlich-rechtlichen sind die Verwaltungsräte. Ich
melde mich regelmäßig zu Wort und lobe zum Beispiel
die Klassikmusikprogramme bei Phoenix und Arte
über den grünen Klee oder kritisiere einen Beitrag im
heute journal. Ich will nicht sagen, dass meine Kritik
wirkungslos verhallt, aber wenn es ernst wird, heißt es
immer wieder, dass man nicht in die Arbeit der Journalist*innen eingreifen dürfe. Wirkungsvoll war unter
anderem auch meine Position zur Darstellung von
Migrant*innen in Krimis. Ich bin
der Meinung, dass mit dem Thema
Einwanderungsland sensibel umgegangen werden muss, das heißt, dass
Migrant*innen nicht nur als Drogendealer, sondern
auch als Komissar*in auftauchen sollten. Die vielen
Beispiele funktionierender Integration müssen auch
sichtbar werden. Es ist für mich jedenfalls eine wahnsinnig interessante Arbeit, aber wegen der Neuordnung
der Gremien werde ich wohl nächstes Jahr nach meiner
Amtszeit ausscheiden.
Friedrich beantwortete alle Fragen sehr souverän.
Wir müssen uns eingestehen, dass wir ihn nicht aus der
Reserve locken konnten. Vielmehr bleibt der beängstigend unrealistische Eindruck, dass Friedrich wirklich alles
für unsere Uni tut.
Zum Abschluss: Bringen Sie die Begriffe Universität und Spielplatz in einen Zusammenhang.
Man würde die Universität missverstehen, wenn
man sie für eine Spielwiese hielte. Dass ein Bestandteil
der Uni auch spielerisches Handeln und Denken ist,
gehört zu ihrer Wirklichkeit, aber das ist nur ein kleiner
Teil. Das gehört zur Conditio humana, weil zur menschlichen Natur auch der spielerische Umgang – auch mit
ernsten Dingen – zählt. Ich sehe durchaus, dass in
Verhandlungen und Sitzungen spielerische Elemente
auftauchen, bei mir kommt das wahrscheinlich sehr
reduziert vor. Nur ist die Universität kein Spielplatz,
sondern der Homo ludens ist auch in der Universität.
69
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Eva Reuter
Eva Reuter
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6 MAL 6 FRAGEN
AN DAS STATE OF THE ART #6
1. Was wird es zu beichten geben nach drei Tagen Exzess? 2. Werden wir Dozierende zum
Saunieren bewegen? 3. Wie viel Blut wird fließen? 4. Wie viel Schweiß und wie viele Tränen
werden wir produzieren? 5. Wie viele Liter Bier wird das Festival verschlingen? 6. Und wie viel
nacktes Fleisch werden wir zu sehen bekommen?
7. Werden wir es schaffen, einen (inter-)nationalen Diskurs anzuregen? 8. Wird Angie dieses
Mal unserer Einladung folgen? 9. Und wird Herr Friedrich zur Eröffnung erscheinen? 10. Wer
wird die feierliche Eröffnungsrede halten? 11. Werden wir unsere Itzumer Nachbar*innen für
Performance begeistern können? 12. Wird es uns gelingen, den Besucherrekord zu brechen?
13. Wie viele Stunden am Stück werden wir wach sein? 14. Wer wird am längsten hinter der Bar
stehen? 15. Werden wir es schaffen, mit einer Herdplatte alle Bäuche rund um die Uhr zu füllen?
16. Wird die Festivaltorte diesmal sechs Schichten haben? 17. Wird das Domänen-W-Lan all dem
Twittern, Instagramen und Bloggen standhalten? 18. Wer wird mehr ins Schwitzen kommen: Die
Künstler*innen oder das Leitungsteam?
19. Wie legendär wird die Party des Jahres? 20. Welchen Dozierenden werden wir im Morgengrauen auf dem Dancefloor begegnen? 21. Werden wir schon bei den Frühstücken diskussionsfreudig sein? 22. Werden neue Freundschaften entstehen? 23. Oder neue Feindschaften? 24. Wird es dieses Jahr jemandem gelingen, sich ein Schlafplätzchen auf der Domäne zu
ergattern und Herrn Kapkes Adleraugen zu entgehen?
25. Wie viele Polizeieinsätze wird es geben? 26. Werden wir von Regen, Hagel, Gewitter und
Orkanen verschont bleiben? 27. Gegen wie viele Raumauflagen werden wir verstoßen? 28. Welche/r Uniangestellte wird nach dem Festival am meisten aufgebracht sein? 29. Und wie viele
Flaschen Crémant werden wir zur Wiedergutmachung brauchen? 30. Wer aus dem Leitungsteam
wird im Anschluss nicht mehr miteinander sprechen?
31. Wer wird der Shootingstar des Festivals? 32. Und welches Tier wird diesmal zum Festivalliebling? 33. Wie viele Pärchen wird das Festival hervorbringen? 34. Werden die Gießener
unsere Produktionen genauso rückhaltlos niedermachen wie ihre eigenen? 35. Wird es uns
gelingen, die Baustellen in die Festivalarchitektur einzubauen? 36. Wie viel Pink verträgt die
Domäne?
STATE OF THE ART #6, 17.–19. OKTOBER 2014, KULTURCAMPUS DOMÄNE
MARIENBURG, statesechs.wordpress.com 72
Julia Roth, Johann D. Thomas, Veronika Knaus
73
76
Das Königreich
eines Kindes
80
Milka Luflée
82
Stadtsommer
84
STETS BEMÜHT
90
»Ich bin Swagoptimist«
94
HoKi
DAS KÖNIGREICH
EINES KINDES
»
DAS LEBEN LEISTET DEN ZUFÄLLEN,
DENEN ES UNTERWORFEN IST,
WIDERSTAND, INDEM ES SICH
STÄNDIG AKTUALISIERT UND DIE
WECHSEL ÜBERDAUERT. «
Erster Teil
Aἰὼν παῖς ἐστι παίξων πεσσεύων· παιδὸς ἡ βασιληίη.
Aion pais esti paizon, pesseuon; paidos ä basilää.1
Spielend ist eine Lebenszeit ein Kind, spielend mit Steinchen auf dem
Brett; das Königreich eines Kindes.
In diesem von Heraklit überlieferten Ausspruch verbinden sich
zwei Dinge, durch die etwas Denkwürdiges entsteht, das auch, wenn es
uralt ist (knapp 2500 Jahre) heute
noch Früchte tragen kann.
Die Spannung in diesem Herkalitfragment entsteht aus dem
Begriffspaar von aion und pais und
führt uns direkt zur Dialektik des
Spiels.
Dieses aion, bezeichnet im Altgriechischen eine Zeit, aber ebenso
das Rückenmark als Sitz der
Lebenskraft. aion bezeichnet also
eine menschliche Zeit, eine Lebenszeit, und kann sogar mit Leben
übersetzt werden, jedoch auch mit
Ewigkeit. aion selbst als Begriff ist
widersprüchlich. Es mit Zeit zu
übersetzen ist am unverfänglichsten,
doch ebenso wenig gewinnbring­
end. Sinn gewinnt die Widersprüchlichkeit von Lebenszeit,
76
Dies aion, das wir nun also zur Genüge beleuchtet
haben, ist laut Heraklit ein Kind! Nicht ein Gott oder
mündiger Bürger, nein, ein Kind. Zu allem Überfluss
spielt es auch noch ein Brettspiel, eine Art Mühle oder
Backgammon.
Nach dem Semikolon in Heraklits Zitat erfolgt
schließlich noch ein Zusatz, der die Spielsituation ins
Unermessliche treibt und sie in einen Kontext von
Macht bettet. Beginnen wir also, dies in Beziehung zur
eigenen gestalteten Lebenszeit zu setzen:
Das aion ist ein pais, ein Kind. Im Begriff des
Kindes kommt zusammen: ein Sprössling zu sein, d. h.
Herkunft zu haben und dieser verpflichtet zu sein,
schon eigenständig in der Lebendigkeit zu sein und
doch auch noch nicht. Besonders ist ihm auch der
Unernst, das Spielerische, über das hinaus dem Kind
nichts zugetraut wird. Es ist unvollständig, noch kein
Glied der Gesellschaft, es bleibt von dieser ausgeschlossen und sogar vor ihr geschützt, d.h. bevormundet.
Das Kind jedoch, bei aller bloßen Mimesis des
Erwachsenenlebens, lebt dennoch in seiner eigenen
Welt voller Ernst, da es in seiner Welt selbstständig sein
muss. Für das Kind ist das Spiel nicht nur Selbstzweck
oder Abbildung, sondern ein ganz besonderer Habitus:
Ewigkeit und Sitz der Lebenskraft
angesichts des Chronos 2, der herrschenden Zeit und der anthropologischen Bestimmung, das als ephemeres (also flüchtiges) Wesen »jeder
Aktualität, die sich einstellen mag,
ausgesetzt und unterworfen«3 ist.
Das aion als Zeit entzieht sich der
Herrschaft des Chronos (wie es auch
die Ewigkeit tut). Lebenskraft und
Leben streben in ihrer Unterworfenheit nach Freiheit und Gestaltung, vor allem aber nach Dauer.
Das Leben leistet den Zufällen,
denen es unterworfen ist, Widerstand, indem es sich ständig aktualisiert und die Wechsel überdauert.
Das aion können wir also auffassen
als eine eigene, gestaltete Lebenszeit, die sich der Herrschaft des
Chronos entzieht und sich darin,
wie auch im Andauern-Wollen und
-Können im Wechsel des Aktuellen
gründet.
Hendrik Buhr
Es gibt sich selbst die Regeln und bricht immer wieder
aus ihnen aus. Wie es sich an der Erwachsenenwelt
orientiert, so missachtet es diese auch. Manchmal aus
Trotz, manchmal aus Unwissenheit.
Genau dies ist nun das aion selbst. Das aion handelt
von tiefem Ernst im Spiel. Gegen die Zeit bäumt es
sich auf, der sie doch verpflichtet ist als Voraussetzung.
Den Preis des Lebens setzt das aion stets aufs Neue ein,
um zu leben. Gegen diesen Ernst setzt es das Spiel, in
dem es sich selbst herausfordert und mit sich spielt – in
unserem Fragment spielt nur ein Kind. Es spielt mit
sich und entflieht so der Scham zu verlieren, als es
ebenso sich herausfordert, um sich selbst zu übertrumpfen, es ist sich genug – auch ein Grundzug des
kindlichen Spiels. Der Herrschaft des Chronos entfliehend kann es nur Zuflucht bei sich finden. Die Ewigkeit, welche im Begriff des aion angelegt ist, entgeht
der Unterwerfung vor der Zeit. Die Ewigkeit findet
sich in diesem Spiel mit sich selbst wieder – es gibt
keine Begrenzung des Spiels, die nicht im Spielenden
selbst liegt. Oder andersherum: Im Spiel selbst ist
Ewigkeit – da es sich selbst begrenzt. Die Zeit der
anderen verliert an Bedeutung in der Selbstgenügsamkeit. Hier gibt es keinen Zeitdruck. Mit dem Spiel wird
sich so gegen die Herrschaft des Chronos gewehrt (auch
wenn unsere biologische Uhr ticken mag). Vergehende
Zeit findet nicht statt. In der Unfähigkeit, sich der Zeit
zu entziehen, liegt der Ernst der Erwachsenen, die dem
Kind völlig abgeht. Kinder haben noch keine Idee ihrer
Endlichkeit. Uns bedrückt unsere Endlichkeit, die für
das Kind noch kein Thema ist, wie es im Spiel seine
Selbstständigkeit sich selbst beweist ohne seine Eltern
als seine Herkunft zu begreifen und ihnen deshalb
dankend und ehrend zu begegnen. Die Eltern sind im
Spiel störend und es verhält sich darin ihnen gegenüber
ignorierend.
In Anbetracht der Ewigkeit, die im kindlichen
Spiel liegt, wird das Kind zum König. Das Spiel ist ein
Königreich, das Königreich eines Kindes. Ein Herrscher ist frei, frei von allem und nicht durch alles.
Nicht in der Freiheit des anderen liegt seine Freiheit
begründet, sondern in der Unantastbarkeit seiner
Freiheit, die nicht durch die der anderen bedingt wird.
Er ist der Moral enthoben.
77
Heraklit drehte vor langer Zeit schon einmal an der
Wertung des kindlichen Spielens, das, wie wir gesehen
haben, nicht ohne Ernst ist, aber ohne Schuld und
dennoch hat sich bisher nichts daran geändert. Spielen
findet nicht im Alltag und in der Wirklichkeit statt,
immer noch nicht. Wie groß sind gegen uns die Kinder
in ihrem Künstlertum!
»
WER HAT UNS MIT WELCHER KONSEQUENZ
EIGENTLICH VERBOTEN ZU SPIELEN, MIT FREIEN
REGELN ZU GESTALTEN, WIE EIN GENIE?
«
Als Mensch der Gesellschaft kann dies nur als
Ärgernis gelten, als minderwertig, als etwas, das allerhöchstens dem Kind in seiner Unwissenheit erlaubt ist.
Sich dem Spiel als Erwachsener zu widmen hat den
Beigeschmack von Flucht vor dem Alltag und der
Wirklichkeit. Ist da die Wirklichkeit nicht ebenso
erfunden wie die Spielregeln des Brettspieles? Und
ist da nicht Neid dem Kinde gegenüber im Spiel?
Gegenüber seinem Reichtum der Müßigkeit? Erinnern
wir uns noch einmal daran, dass nicht allein das Kind
so ist, sondern auch die eigene gestaltete Lebenszeit
selbst. Es scheint durch diese Setzung ins Bürgerliche
das Bewusstsein der Gestaltung abhanden gekommen
und geradezu zu einem Sakrileg geworden zu sein. Wer
hat uns mit welcher Konsequenz eigentlich verboten
zu spielen, mit freien Regeln zu gestalten, wie ein
Genie?
78
Zweiter Teil
Im Spiel ist das Kind ein König. Unser gegen sich
selbst spielendes Kind in seiner Selbstgenügsamkeit ist
nicht verzweifelt. Weder an seiner Einsamkeit, noch an
seiner Spaltung, noch am Grund, weshalb es spielt.
Mit sich selbst zu spielen macht es zum König mit
einem Reich. Dieses Königreich liegt im Spiel als etwas
Vollzogenes, im Spielen des Spiels. Nur ein König
kann spielen.
Wie ein Spiel von zweien gespielt werden kann, so
eben auch von einem. Jedoch nur von einem, der von
sich selbst zurücktreten kann – sowohl sich auf sich
selbst verlassen als auch sich selbst hintergehen kann.
Im Spielen werden die Perspektiven gewechselt, nacheinander eingenommen und vergessen, immer mit der
Maßgabe, sich selbst zu übertrumpfen. Das mit sich
und damit gegen sich spielende Kind weist uns auf eine
grundmenschliche Fähigkeit hin und damit auf das,
was es zum Menschen macht. Das Kind ist das, was es
ebenso nicht ist, es ist zu mehr fähig als zu bloßer
Wiederholung. Es kann nicht nur anders, es kann sich
sogar gegenüberstehen. Es kann sich herausfordern
ohne Angst vor dem, was sich dabei zeigen könnte. Zu
spielen bedeutet nicht allein, einmal vom Ernst des
Alltags abzusehen, den Kontext zu wechseln und
jemand anderes zu sein, sondern mehr noch, sich selbst
zu vergessen. Das Kind kann nur mit sich spielen, weil
es keine Angst hat, aus seiner Identität herausgerissen
zu werden, die ihm eine einzelne Rolle gibt. Der Ausgang des Spiels ist belanglos für den König, es warten
auf ihn weder Schmach, noch Ruhm und Ehre, die
ihm andere zuteilwerden lassen. Im Spiel ist der König
des Spiels nur sich selbst ausgeliefert und diesem steht
er in jeder Partie erneut und unerbittlich gegenüber.
Erst in der Auslieferung seiner an sich selbst ist der
König oder das Kind Herr seiner Lebenszeit und ebenso
ihrem Sinn alleine ausgeliefert. In seiner Behauptung dieser ist es geborgen
und ausgeliefert.
Die Spielsteine auf dem Brett werden nach festgelegten Regeln gesetzt.
Sie ermöglichen erst das Spielen. Sie bringen das Spiel in Gang und stiften
den Sinn der festen Grundlage, denen sich das Kind ausliefert und dafür
mit der Geborgenheit in einer geregelten Ganzheit belohnt wird. Ohne
Regeln könnte es nicht spielen, nicht sich herausfordern und sich selbst
übertrumpfen.
Im Spielen mit sich wird das Kind zum Schöpfer einer Welt, es erfährt
sich darin produktiv entlang der Spielregeln als erschaffend und ergründend,
als mehr als es vorher war.
»
ZU SPIELEN BEDEUTET NICHT ALLEIN,
EINMAL VOM ERNST DES ALLTAGS ABZUSEHEN, DEN KONTEXT ZU WECHSELN
UND JEMAND ANDERES ZU SEIN, SONDERN MEHR NOCH, SICH SELBST ZU
VERGESSEN.
«
Haben wir das Spiel abgewertet, weil es zum noch zu erziehenden,
unvollständigen Menschen gehört und wir uns selbst als vollständig
begreifen? Wann sind wir abgeschlossen? Oder haben wir Angst vor uns
selbst, vor einem nicht fassbaren Teil des Menschen in uns, der uns in einer
Spielsituation mit uns ergreifen könnte? Wenn schon Kinder nach Regeln
sich selbst herausfordern können, welche Welten lassen sich dann aus
einem Erwachsenen produzieren?
1Fragment
B52 von Heraklit von Ephesos nach Hermann Diels und Walter Kranz, Heraklit-Fragmente, hrsg. von Bruno Snell,
München, Zürich, achte Auflage 1983, S. 18.
2Auch Chronos ist nicht nur ein Begriff für die Griechen gewesen, sondern auch ein Gott. Er ist der Vater des Zeus und wurde von
seinem Sohn gestürzt – seitdem ist er der Herrscher der Götter und Menschen.
3Hermann Fränkel: »Ephemeros als Kennwort für die menschliche Natur« in »Wege und Formen frühgriechischen Denkens«, hrsg.
von Franz Tietz, München 1955. S. 25.
79
MILKA LUFLÉE
Vanessa hat ihren gelben Turnanzug an. Verena steht neben ihr und
wickelt sich ihre blonden Haare um den Finger. Und beide lachen. Sie
lachen und halten sich ein bisschen die Hand vor ihre kleinen Münder und
schauen. Schauen mich an und an mir herunter. Ich steh da mit meiner
7/8-Sporthose von Tchibo. Die Hose ist blau und am Knie hat sie ein
kleines Loch, weil ich beim Rennen hingefallen bin und dann auf dem
Turnhallenboden entlangrutschte. Da haben sie auch gelacht, aber nicht
so laut. Meine Turnschuhe sind mir auch zu groß. Mama meint, dass ich
ruhig die Sachen von meinem großen Bruder tragen kann. Immerhin
mein Sportshirt passt mir einigermaßen. Vielleicht liegt das aber auch
daran, dass ich dicker bin als mein großer Bruder. Du bist doch nicht dick,
sagt Mama immer. Aber Vanessa und Verena lachen trotzdem. Und dann
glaube ich Mama nicht mehr. Dann lügt sie mich
»
an. Nachher holt sie mich von der Kindersportschule
WENN ICH MIT MAMA EINKAUab und dann sage ich ihr, dass sie eine Lügnerin ist.
FEN GEHE, DANN BEKOMME
Vielleicht fahren wir aber auch zu Real und kaufen
ein. Wenn ich mit Mama einkaufen gehe, dann ICH IMMER WAS. IRGENDWAS,
bekomme ich immer was. Irgendwas, was ich mir WAS ICH MIR WÜNSCHE. ES SEI
DENN, ES KOSTET MEHR ALS
wünsche. Es sei denn, es kostet mehr als zehn Euro.
ZEHN
EURO. DANN MUSS ICH
Dann muss ich mein Sparschwein mit dem kleinen
Schlüssel von der Sparkasse aufmachen und das MEIN SPARSCHWEIN MIT DEM
KLEINEN SCHLÜSSEL VON DER
Geld da rausnehmen. Naja, Mama ist jetzt bestimmt
schon da und ich renne in die Umkleidekabine, um SPARKASSE AUFMACHEN UND
schnell rauszukommen. Ich renne gar nicht, ich
DAS GELD DA RAUSNEHMEN.
gehe langsam, damit Vanessa und Verena nicht
«
80
Urs Humpenöder
lachen können. Stephan erzählt in der Umkleidekabine, dass er nächste
Woche operiert wird. Dass er beschnitten werden müsse, weil er nicht
richtig pinkeln kann. Das erzähle ich Mama nicht. Stephan ist mein
Freund, aber der ist dünn. Naja, Stephans Mama kommt immer zu uns in
die Umkleide, um Stephan abzuholen. Meine wartet draußen, im Auto,
auf dem Parkplatz. Tschüss Stephan, viel Glück im Krankenhaus.
Hallo Mama, du bist eine Lügnerin. Ich traue mich nicht, das zu
sagen. Ich steige ins Auto und wir fahren los. Wir müssen noch was einkaufen, sagt Mama und ich freue mich. Nimmst du bitte den Einkaufszettel.
Mama gibt mir den Einkaufszettel und darauf stehen nur Klopapier,
Nudeln, Spülmittel, Weichspüler, Tortellini, Frischkäse, Parmesan und
Hackfleisch. Meinen Einkaufszettel zeige ich Mama nicht. Darauf würde
stehen: Milka Tender Milch, Milka LEO, Milka Nussini Haselnuss, Milka
Milketten Haselnuss, Milka Alpenmilch 100 g, Milka Schoko & Keks 300 g,
Milka Riegel Daim, Milka Choco Jelly, Milka Lila Pause Nougat-Crème,
Milka Mein letztes Stückchen Alpenmilch, Milka M-Joy Whole Hazelnut,
Milka Choco Wafer, Milka Trauben-Nuss 100 g, Milka Choco Pause, Milka
Crispello à la Vanille Pudding 30 g.
Das ist nicht wegen der lila Kuh. Auch nicht, weil ich die Schokolade
von Lindt nicht mag. Eigentlich ist das sogar meine Lieblingsschokolade.
Die ist immer rot eingepackt und Oma bringt sie mit, wenn sie in der
Schweiz ihre Verwandten besucht. Aber ich hab nur zehn Euro und will
die nicht für Lindt ausgeben. Ich hab einen kleinen Korb unter meinem
Bett, den ich noch im Kindergarten gebastelt habe. Da verstecke ich meine
Süßigkeiten vor meinem Bruder. Mama verrät ihm auch nicht, dass ich mir
immer was kaufen darf, wenn wir zusam»
men einkaufen. Mein Bruder ist sowieso
ICH LIEGE AUF DEM BODEN ZWIimmer beschäftigt, der spielt Posaune und
Basketball und geht schon ins Gymna- SCHEN ZWEI LANGEN REGALREIHEN.
LINKS UND RECHTS VON MIR IST ALLES
sium. Der lernt Latein und Englisch.
LILA. ICH BIN ANGEKOMMEN.
Mama findet mich nicht mehr. Ich
«
bin weggerannt. Ich liege auf dem
Boden zwischen zwei langen Regalreihen. Links und rechts von mir ist
alles lila. Ich bin angekommen.
81
STADTSOMMER
Ich war jung und habe die ganze Zeit geschrieben.
Ich dachte nur an Kunst und nicht an Liebe, mit hohem Pulsschlag
und großen Augen stand ich vor Bildern auf Asphalt und Worten an
Klotüren und war glücklich, dass es nichts zu vermissen und vieles zu
entdecken gab.
Ich verdiente leichtes Geld und kaufte mir damit Bücher für die Bibliothek meiner Zukunft, weil ich verrückt war, zum Beispiel nach Papier,
manchmal nach Körpern, nach Schweiß und anderen herben Gerüchen.
Ich hatte die Schule abgeschlossen und ihre ganzen Ungereimtheiten
abgeschüttelt an einem halben Tag in der Stadt. Ich musste nicht mehr ins
Freibad, um mir die spaghettifeinen und melonenüppigen Bikinis meiner
Mitschülerinnen anzusehen.
Ich kaufte Moleskins, um die edlen Kladden unter meinen feuchten
Händen und fettem Tesa auf Passfotos verwildern zu lassen.
»
ALS DER SOMMER VORBEI
WAR, ARBEITETE ICH, UND
ALS DIE ARBEIT VORBEI WAR,
WAR WIEDER SOMMER.
«
Der Sommer war so gut wie alle Sommer, denn die Sommer waren das
Einzige, das seit meiner Geburt immer gut gewesen war, stärker als alles.
Groß geworden und klein geblieben gegen den eigenen Willen, auch jetzt,
als ich mich hineingab in ihn bis die Taschen rissen, mit denen ich ausgezogen war, erst in meiner eigenen Stadt, dann in vielen anderen. Stadtbäume
klebten meine Hände voll mit Harz. Ich hatte Reisetermine und abgebrochene Sonnenbrillenbügel, eine Taube an den Flip-Flops und ein Delirium in
einer Beton-Odyssee. Die Verlockungen nach der Schule flochten mir Dreadlocks ins Haar, Sommersprossen fielen mir wie Schuppen von den Augen.
Als der Sommer vorbei war, arbeitete ich, und als die Arbeit vorbei war,
war wieder Sommer.
82
Julia Rüegger
Wenn es zu heiß war, flüchtete ich in Buchhandlungen. Die weiblichen
Verkäuferinnen waren kundenorientiert, die männlichen lasen lieber still
in den Neuanschaffungen.
In der Buchhandlung traf ich dich, ich sah von deinen Augen direkt in
deinen Bauchnabel und entschied mich, mit dir fortzugehen. Wir sahen
uns Häuser sich tot-gesoffener, südlandsüchtiger Schriftsteller an, während
die Ruinen im Beat der Touristen zitterten.
Wir lernten eine Frau kennen, die von morgens bis abends nur Enthüllungs-Dokus sah: Klima, Nahrungsmittelindustrie, Kapital-Konzerne
und so fort.
Die Welt ist schlimm geworden, aber nur vor dem Fernseher, neben
dem Bildschirm ist sie so schön wie eh und je.
Die Frau trug nur noch Fetzen und Federn und dachte, sie sei
geschmückt. Wir fanden, dass sie es schön hatte, schöner als viele, die
nicht mal mehr den Fernseher genießen konnten und trotzdem nie ein
Buch lasen und im Schwimmbad ihre Beine kritisierten und keine Wasserbomben machten.
»
WIR SAHEN UNS HÄUSER
SICH TOT-GESOFFENER,
SÜDLANDSÜCHTIGER
SCHRIFTSTELLER AN, WÄHREND
DIE RUINEN IM BEAT DER
TOURISTEN ZITTERTEN.
«
Der Sommer war so lang und jeder Tag so üppig, dass wir Angst hatten, unsere Vergangenheit und vielleicht sogar unsere Zukunft zu verlieren.
Ich blickte lange in deinen Bauchnabel. Du sagtest, ich solle mein Notizbuch jemandem schenken, der es braucht. Die vollen oder die leeren Seiten,
fragte ich und wollte dir den Bauchnabel rausreißen, mitnehmen, ihn
behalten, falls du jemals weggehen solltest. Jetzt machte mich schon der
Sommer aggressiv, dachte ich. So schön war er, endlos wie sonst nur der
Winter, und ein paar Grad zu warm, um sich Notizen in todschwarzen
Büchern zu machen.
83
04
THE MUD SHARK INTERVIEW
STETS BEMÜHT
20 WORKCLIPS GETARNT ALS FRANK-ZAPPA-PLAYLIST
02
THE PURPLE LAGOON
01
A LITTLE GREEN ROSETTA
Er und seine Kontrollsucht. Wenn sie ihm mitteilt,
wie es unstrittig besser wäre, ist er aus Prinzip dagegen
und zwingt sie dazu, hinter den Schriftzug grünen
Glow zu setzen. Grünen, billigen Glow!
Glücklicherweise hat sie inzwischen dazugelernt.
Wenn sie direkt etwas entwirft, von dem sie weiß, dass
es seine Geschmacklosigkeit treffen wird, stehen die
Chancen fifty-fifty, dass es bei der Scheiße bleibt. So
entgeht sie möglicherweise der Verschwendung, für
etwas Grottiges doppelt so viele Nerven aufzubringen,
wie für etwas Schönes.
Trotzdem geraten sie regelmäßig in Streit, denn
Jule wohnen noch rudimentäre Reste von Berufsehre
inne. Manchmal gibt er ihr recht. Meist jedoch zieht er
schon in der dritten Runde das letzte Register, welches
lautet, er sei der Boss. Überhaupt hätte er solche Diskussionen früher nicht gehabt. Wenn er ihr so kommt,
fühlt sie sich von Millionen mikroskopisch kleinen
Penissen in jede Pore ihres Körpers gefickt. Wenn sie
genügend Vergewaltigungen gesammelt hat, ist sie
dreckig genug für die Selbständigkeit.
84
Er missbilligt ihre Anbetung. Jeden Mittag dasselbe.
Ganz schlimm wird es, wenn sie versucht, ihn in ein
Gespräch zu verwickeln. Meist dreht es sich um die
Arbeit, ihre einzige Gemeinsamkeit. Hin und wieder
packt sie der Übermut, ihm öden Privatmüll zu offenbaren. Abgesehen davon, dass ihr Leben ihn nicht
interessiert, kommt sie dabei nur weg wie eine alte
Jungfer, die er dafür bewundern soll, dass sie sich trotz
ihres offensichtlichen Elends nicht unterkriegen lässt.
Dennoch isst er täglich wieder in der Kantine. Hat er
doch keine Lust, sich als vertriebener Hund draußen in
der Stadt teurer zu ernähren.
03
I’M SO CUTE
Der Chef wickelt gedankenverloren das Beamerkabel.
»Sie fahren Montagmittag mit Herrn Fischer. Ich bin
vorher in Göttingen. Wir treffen uns alle auf dem
Parkplatz und fahren hintereinander weiter.« Sie nickt
und fragt lakonisch nach dem Dresscode.
Er linst mit einer Mischung aus Überlegen- und
Verklemmtheit. »Ich weiß nicht, ob ich das so sagen
darf. Aber Sie haben doch dieses T-Shirt. Dieses Kleid,
das eine da, dieses...« Seine Blick schweift rat- und
rastlos über seinen Papierkram. Plötzlich verbrüdert
hilft sie ihm auf die Sprünge. »Sie meinen das mit den
bunten Quadraten?« »Ja, genau!!!« Er strahlt. »Wenn
Sie das anziehen würden?« Aaaaach, why not, du fertiger
Sack.
Marlene Klünker
Marlene Klünker
Marcel und Rainer sitzen sich gegenüber. Durch
Bildschirme getrennt sehen sie sich nicht, doch Marcel
hört Rainer kauen und mit Tüten knistern, den ganzen
Tag! Manchmal schluckt Rainer so laut, dass Marcel
angewidert die Augen zusammenkneift und mit
bewölkter Stirn um Konzentration ringt. Ganz zu
schweigen von den Momenten, in denen Rainer aufstößt. Schlimm ist auch, wenn die 2-Liter-Wasserflasche
kracht, weil sich das billige Plastik beim Trinken
deformiert, als zerschrotte es schon in der Müllpresse.
Marcel ist gereizt.
»Warum isst Du nicht in der Pause, sondern über
den ganzen Tag verteilt?« Rainer bringt es fertig, diese
Lebensfeindlichkeit zu ignorieren. Fast liebevoll sagte
er: »Ich esse gern beim Arbeiten. Dann ist die Zeit
doppelt genutzt. Außerdem ist es gesünder.« Seine
Dickfelligkeit ist bewundernswert.
05
SPIDER OF DESTINY
»Ich habe keine so frohe Botschaft«, bekennt sie an
die Glastür geschmiegt. »Frau Zobel will hinschmeißen!« »Was ist passiert?« (Was soll schon passiert sein?!)
»Wir haben so viel zu tun, dass wir alle die Nerven
verlieren.«
Ein Vorwurf brennt im Raum, doch die Chefin trägt
Asbest. Kathi fährt härtere Geschütze auf, bis sich die
Geschäftsführung wie ein Panzer über den Tisch
schiebt und fragt: »Soll ich rübergehen und denen mal
ordentlich den Kopf waschen?« Schockiertes Luftschnappen. »Bloß nicht. Sie sind ein Drachen! Verstehen Sie
mich nicht falsch, aber das würde alles verschlimmern.«
Langes, verständiges Schweigen.
Kathi beschließt: »Okay, ich muss einen Moment
zur Ruhe kommen.« Mit beiden Händen krault sie sich
die Stirn. »Ich gehe zurück und gebe den Clown! Wir
müssen besonders Frau Zobel bei Laune halten.« Die
Chefin reißt die Augen auf. »Tun Sie das! Ich kaufe Eis
und Schokolade.«
06
FILTHY HABITS
Es klingt wie ein Klischee, aber der Direktor
kommt tatsächlich nur einmal wöchentlich vorbei, um
die Bareinnahmen aus dem Tresor zu fischen und ein
bisschen vertuschenden Wirbel zu machen. Dann zieht
er sich samt Kohle in seine Kohlenhölle zurück und
niemand vermisst ihn.
07
MOVE IT OR PARK IT
»Wenn ich da nun präsentieren und bluffen muss,
als sei ich schon fünf Jahre an Bord. Das ist doch
gefährlich und total schwammig.«, findet er. »Was ist,
wenn die das abklopfen. Dann stehe ich doch voll
auf’m Schlauch.«
Die Chefin seufzt gespielt mitleidig und rollt dann
den Hautteppich ihrer Stirn auf. »Na Bluffen, das
müssen Sie können. Das gehört zu Ihrem Handwerkszeug. Sie haben’s doch voll drauf ... da können Sie ja
wohl auch so tun, als sei das schon länger so!« Er fühlt
sich geschmeichelt. Sie fährt unbekümmert fort:
»Irgendwann sind Sie tatsächlich fünf Jahre dabei und
das Thema hat sich erledigt.« Fünf Jahre in diesem
Laden?
Sie wendet sich wieder ihren Unterlagen zu, doch er
hat seinen Gutmenschentrip noch nicht überwunden.
»So lügen zu müssen, das versaut doch den Charakter!«
Beiden ist klar, dass er ihr damit versauten Charakter
vorwirft. Sie lehnt sich belustigt zurück und gesteht:
»Natürlich versaut das den Charakter.«
Als hätten sie ihre Dickköpfe aneinander geschlagen, sprüht ein Funke der Ehrlichkeit. »Ich hatte früher
viele schlaflose Nächte, das können Sie mir glauben.
Aber was meinen Sie, wie schnell Sie das vergessen,
wenn Sie erst mal Ihr weiches Polster haben.«
08
STINK FOOT
Manchmal drücken ihre Pumps. Dann kickt sie sie
unterm Schreibtisch von den Hacken, und in alle
Nasen steigt Odeur käsigen Nylons. Ihm gefällt das,
denn es macht sie so menschlich.
09
FOR THE YOUNG SOPHISTICATE
Endlich wird das dicke Ding eröffnet, an dessen Entstehung ihr Büro beteiligt war. Da der Bundespräsident
erwartet wird, lassen bewaffnete Polizisten ein Rudel
toffeebrauner Hunde die Kulissen nach Sprengstoff
abschnüffeln. Tanja bringt das in Wallung, doch den
Bullen fehlt so gänzlich der Sinn für ein lockeres Flirtchen.
So glotzt sie missmutig durch ein hohes Fenster in den
Hof. Auch hier wird jeder Millimeter beschnüffelt.
Durch alle schnurgeraden Stuhlreihen huscht ein Tier
und wird in regelmäßigen Abständen dafür belohnt.
Umrahmt von Prunkbauten offenbart der ganze Platz
eine Bildsprache, dem nur noch die Hakenkreuzflaggen
fehlen. Wo ist Tanja bloß reingeraten?
85
11
LITTLE UMBRELLAS
Die Büroräume waren früher eine Wohnung.
Wenn jemand pinkelt, hören es alle.
12
VALERIE
Es folgen lange Reden kurzen Sinns, untermalt von
Buhrufen einer Demonstrantentraube. Ein kleines
Orchester weckt das Haifischbecken Publikum zwischendurch mit pathetischen Stücken. Richtig: Hier
wird ja was eröffnet! Sechs Jahre lang hatten alle
Beteiligten Zeit, sich zu verkrachen, und sie waren
gründlich. Da helfen Sekt und Schnittchen.
Der Chef hüllt sich in Nörgelei. Zu sehr liegt er mit
den Wichtigen im Clinch, als dass er heute Spaß hätte.
»Ich frage mich wirklich, wie ...«, »Ich habe immer
wieder gesagt, dass ...«, »Als ich vorhin gesehen habe,
was sie daraus gemacht haben ...«, »Das kommt davon,
wenn lauter Leute, die keine Ahnung haben ...«
Tanja übt sich in Geduld, doch der Faden ist nie
dick genug. »Ich werde depressiv, wenn Sie so weitermachen!« Sie erinnert ihn daran, dass hier sehr vieles
wunderbar gelungen sei und krönt ihre Aufzählungen
mit der Frage, was ihm denn am besten gefallen habe.
Er fixiert sie um eine Nuance erheitert und sagt: »Das
Beste am ganzen Tag war für mich, wie Sie sich über
die Sprengstoffhunde gefreut haben.« Sie schnaubt.
»Nein, wirklich! Das war hier heute das einzig Ehrliche.«
Jetzt hat auch Tanja schlechte Laune.
10
ZOOT ALLURES
Es gab bereits zwei Anrufe mit Erkundigungen
nach Verbleib der Unterlagen. Sie können leider erst
verschickt werden, wenn die Chefin ihren Kringel
daruntergesetzt hat. Judith pflegt grundsätzlich einen
guten Draht zu ihrer Vorgesetzten. Gestern erst haben
sie sich über Filme unterhalten, als seien sie Freund­
innen.
Endlich betritt die Frau, die der ersehnten Signaturen
mächtig ist, den Flur. Sie wirkt abgekämpft, da beschönigen auch die künstlich verlängerten Haare nichts.
»Frau Reimann. Können Sie mir bitte noch die Sachen
hier unterschreiben? Das muss alles heute noch raus!«
Frau Reimann hebt demonstrativ ihre mit Hochglanztaschen teurer Geschäfte behängten Arme. Verständnislos starrt sie Judith an und schnappt: »Ich
wüsste nicht, womit!«
86
Das Weihnachtsgeschäft war mühsam, nun feiert
das Kollegium. Die neue Geliebte des Chefs ist eine
maskulin anmutende Polizistin. Hochgewachsen,
kräftig und sehnig. Das einzig offensichtlich Weibliche
an ihr sind ihre Frisur und manche Bewegungen beim
Tanzen. Als Philipp den Joint an sie weiterreicht, zieht
sie sorglos und gibt ihn auch brav weiter.
13
HONEY, DON’T YOU WANT A
MAN LIKE ME
Wochenlang hat er sie auf die Palme gebracht.
Zuletzt hatte sie Mühe, seine fiesen Bälle zurückzuspielen.
Eines Tages reicht es ihr. Als er da mal wieder so bräsig
steht, packt sie ihn und nimmt ihn direkt an ihrem
Schreibtisch in den Schwitzkasten. Blitzschnell
kuschelt er sich wie ein Hundewelpe an ihrem Busen
zurecht, sieht sie mit großen Augen an und fragt:
»Samstag schon was vor?«
14
FRIENDLY LITTLE FINGER
Melanie vergiftet den Raum mit Zynismus, doch
Ronja lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie weiß,
wie man Kuhaugen einsetzt und fragt: »Schmusen?«
Mellie springt der Kollegin auf den Schoß, dass der
Drehstuhl nur so knattert. Ja, das tut gut. Wenn Ronja
sie nicht hin und wieder in den Arm nehmen würde
wie eine liebende Mutter, wäre der Büroalltag zwischen
degenerierten Akademikern nichts als Verrat.
15
WILLIE THE PIMP
Der sie abendlich ablösende Nachtportier ist ein
alter Säufer, wie er im Buche steht. Bevor sie geht,
brüllt er ihr quer durch die Halle nach: »Warte mal!
Hast du eigentlich schon deinen G-Punkt gefunden?«
Sie verdreht die Augen.
Nie kann sie ihm solche Sprüche übelnehmen,
denn er hat’s ja auch nicht leicht. Sie denkt an den
Abend, an dem er sich beim Rasieren geschnitten hatte
und sie ihm den blutigen Hemdkragen mit Tipp-Ex
überpinseln musste. Und im Advent hat er ihr einen
kleinen Tannenzweig mit Kerze hingestellt; das war
doch nett!
Am besten ist jedoch der Abend gewesen, an dem
er gesagt hatte, Frauen hätten in ihren Mittvierzigern
den besten Sex. Es sei die Zeit, in der sie nichts mehr zu
verlieren hätten und gerade noch fit genug seien, nicht
aus der Puste zu geraten. Ihre Mutter war damals eine
Mittvierzigerin gewesen, und so hatte sie sich endlich
mal wieder für ihre Mutter gefreut.
16
MS PINKY
Sie überschlägt sich ins Telefon: »Wir haben zigtausende Euro Schaden nur durch Mitarbeiter. Das kann
doch nicht wahr sein ... ich habe bald keinen Bock
mehr.« Sven, der mit den Schäden nichts zu tun hat,
keift: »Ich habe auch bald keinen Bock mehr, täglich
zig unbezahlte Überstunden zu machen! Davon mal
ganz ab.« So haben sie sich die Meinung gegeigt, aber
nichts von beidem ändert des Übels Kern.
17
UNCLE REMUS
Der potenzielle Auftraggeber zeigt ihnen seine
Bibliothek. Er ist ein junger Wissenschaftler mit Doktortitel, der trotz graumelierter Haare jugendlich wirkt,
aber angeblich schon eine erwachsene Tochter hat, die
bald nach Australien geht. Seine Ohrläppchen werden
vollflächig von zartem Flaum bewachsen. Der Flaum
wirkt wie Schimmel an Kellerwänden, nur noch dichter und weicher. Während er spricht, observiert die
Architektin den Pelz ausführlich.
Das da! Hat er das von seinem Vater? Mag seine
Frau das? War das schon immer so weiß oder ist es erst
mit der Zeit verblichen? Litt er schon in der Pubertät
darunter und wurde er dafür gehänselt? Ist er nur inspiriert von Flaumkomplexen erfolgreicher Doktor
geworden? Sie wird ihn fragen, sobald die Verträge
unterzeichnet sind, denn sie findet ihn eigentlich ganz
knorke.
19
TOO UGLY FOR SHOW BUSINESS
»Mahlzeit!«, »Mahlzeit!« – »Darf ich zu den Kunden
eigentlich auch Mahlzeit sagen?« »Nee. Kunden sind
Kunden, wir sind Proleten.«
20
THE TORTURE NEVER STOPS
Sie hocken sich zum Rauchen hinters Haus und
reden über das, was vorhin schiefgelaufen ist. Es könnte
ans Eingemachte gehen. Sie könnten vielleicht sogar
alles klären. Leider ist die Pause zu schnell vorüber und es
warten Armeen neuer Probleme. Abgefeuert in E-Mails,
zu rächen mit neuen E-Mails.
»Sehr geehrter Herr ... Nee!!! Lieber Herr Dr. Hoss,
wie soeben telefonisch besprochen, berufen wir uns auf
unseren schriftlichen Hinweis vom 2.7., dass entgegen
Ihrer Versprechen ... nein. Entgegen Ihrer ... Ihrer ...
Ankündigung die Texte bis zum 30.6. noch nicht vorlagen und wir somit nicht fristgerecht ...« Das Telefon
klingelt. Neuer Wahnsinn.
18
I HAVE BEEN IN YOU
Sie hatten es hemmungslos miteinander getrieben.
Am nächsten Morgen steht sie am Kaffeeautomaten,
und ihr rechter Oberschenkel wird hinten von einer
winzigen Laufmasche verziert. Er raunt ihr über die
Schulter eine Anerkennung ins Ohr und legt seine
Hand warm auf ihrer Hüfte ab. Ihr Ekel ist vollkommen.
87
»
EIN SINN WIRD NUR VON DEM GEFUNDEN, DER IHN SUCHT.
ES FLIESSEN INEINANDER TRAUM UND WACHEN, WAHRHEIT UND LÜGE.
SICHERHEIT IST NIRGENDS. WIR WISSEN NICHTS VON ANDEREN,
NICHTS VON UNS. WIR SPIELEN IMMER, WER ES WEISS, IST KLUG!
«
Arthur Schnitzler, »Paracelsus« (1898)
88
89
form ist Musiker, Journalist und Aktivist.
Er lebt in Mainz und tritt niemals unter seinem Alter
Ego prim auf. Mit dem NERV spricht der aus der
schwäbischen Provinz stammende Rapper wie immer
selbstbewusst über Gutmenschen, Hip-Hop-Magazine
und sein aktuelles Album »Es gibt ein richtiges Leben
im falschen: Meins.«
NERV: Ist die Musik deine Spielwiese?
form: Das kann man so sagen. Das zuallererst.
Aber für mich findet das ganze Leben auch in der
Musik statt, nicht alles ist Spiel. Auf der Wiese wird
auch beerdigt, geweint und oft ist es ein Schlachtfeld.
Das Spiel muss ernst genug genommen werden, dass es
Spaß macht, aber nicht so ernst, dass es keinen Spaß
mehr macht. Schlaue Menschen können das.
»
ICH BIN
SWAGOPTIMIST
«
90
Wann spielst du nicht mehr mit?
Wenn ich gewonnen habe. Sonst immer.
Kornelius Friz
form
»
ABER FÜR MICH FINDET DAS
GANZE LEBEN AUCH IN DER MUSIK
STATT, NICHT ALLES IST SPIEL. AUF
DER WIESE WIRD AUCH BEERDIGT,
GEWEINT UND OFT IST ES EIN
SCHLACHTFELD.
«
Analogie Fußball: Welcher Spielertyp bist du?
Also ganz ohne Analogie kann ich Torwart sein
und Tore schießen am besten. Mit Analogie: je nach
Situation alles sehr gut.
Was bedeutet es für dich, Künstler zu sein?
Es bedeutet vor allem, kein Geld zu verdienen und
damit real zu bleiben. Außerdem könnte ich mir hervorragend etwas auf alles Mögliche einbilden, mir fehlt
bisher nur die Zeit.
Ist dein Albumtitel »Es gibt ein richtiges Leben
im falschen: Meins« ziemlich arrogant, verdammt
zynisch oder hochpolitisch?
Zynisch überhaupt nicht. Mich nervt nur dieser
apokalyptische Pessimismus mancher Vulgär-Adorniten mit der Auffassung, dass alles eh verloren sei und
nur Bomben etwas brächten. Sehr wohl können wir
etwas tun. Der Titel ist zu hundert Prozent ernstgemeinter, hochpolitischer Humor.
Bist du ein Einzelkämpfer oder ist Musikmachen eine Sache des Kollektivs?
Ich bin zwar solo unterwegs, aber ich mag und
brauche frei nach Nâzım Hikmet das Dasein mit
befreundeten Bäumen in einem Wald, in dem nicht
nur Arschlöcher stehen. Also am liebsten beides. Das
ist obendrein eine sehr dichotome Frage! Ich werde dies
nicht hinnehmen und weiterhin »sowohl als auch« und
»weder noch« sagen. Resistencia!
91
Gangsterrap, Zeckenrap, Studentenrap: Du
passt in keine Schublade. Wo verortest du dich im
deutschen Rap?
Oben. Alles andere sind sowieso nur Zuschreibungen,
die eher einer Medienlogik entspringen als einer
Rap-Realität.
Was hältst du von so Spaßvögeln wie DCVDNS,
Audio88 und Yassin?
Meist ziemlich viel.
Mit wem würdest du lieber auf Tour gehen – Cro
oder Kollegah?
Kollegah.
Außer Sookee kennt man im deutschen HipHop kaum weibliche oder Trans-MCs (und DJs).
Wie schätzt du Geschlechter- und Machtverhältnisse
im Rap ein?
Ich schätze sie sehr realistisch ein, als das Resultat
einer Gesellschaft, die den Wert eines Menschen an
vielen obskuren Dingen abmisst, zum Beispiel der
Hörigkeit gegenüber Erwartungen, die auf die unnötige Frage zurückgeführt werden, ob jemand ohne
besonderes Training oder Hilfsmittel im Stehen pissen
kann. Die völlig gestörten Männerbilder von emotional verkrüppelten Volltrotteln ohne Rückgrat, die nur
über Frauen sprechen können, aber nicht mit ihnen,
sind aber mitnichten nur bei Rap vorherrschend. Auch
wenn sie da genauso zum Kotzen sind.
In einem Song nennst du deine Musik »Frauenverherrlichenden Minderheitenrap für Leute über
18«. Ist das nicht auch sexistisch?
Nein: Kontext. Das ist ja zuallererst ein Kommentar
zur Berichterstattung über Hip-Hop und dann noch
zur epidemischen Frauenfeindlichkeit vieler Rapper.
Natürlich sind Frauen nicht per se toll, aber wer schlau
ist, checkt das.
Wie siehst du die Rolle von Backspin und Juice?
Sind das alberne Plattformen für Selbstdarsteller*innen oder die einzige Pforte zum Erfolg?
Weder noch. Selbstdarstellung ist in der Kunst
meist unumgänglich und für mich völlig okay. Albern
sind die auch nicht. Klar ärgern mich auch da kapitalistische Zwänge und Computerspielbesprechungen
sowie latent korrupte Anzeigen in Magazinlayout.
Aber zum Beispiel die Juice zeigt auch öfter mal Haltung
(N-Wort, Fard&Snaga-Debatte) und wenn ich mir da
92
im Vergleich den übergroßen Rest von Hip-Hop-»Journalismus« anschauen muss, bin ich doch froh, dass es
auch noch Leute gibt, die nicht völlig bekloppt sind.
allen Belangen, die immer noch manche Stalinist*innen als einzige Option sehen. Aber dafür scheitern wir
nicht permanent.
Du willst in Mainz ein Refugee-Netzwerk gründen. Was steckt dahinter?
Wenn das hier rauskommt, läuft es hoffentlich
schon: »Refugees Solidarity Mainz«. Leute treffen sich,
lernen voneinander und es wird über die ganze Thematik
geredet, dokumentiert, ins Englische übersetzt, gefilmt,
für Soli-Initiativen gesammelt und so weiter. Damit
das nicht, wie üblich, bis zur Erschöpfung ehrenamtlich
gestemmt werden muss, gibt es ein bisschen Crowdfunding.
Bist du Optimist oder Pessimist?
Ich bin Swagoptimist. Ich will meine Zeit nicht mit
zu viel Jammern ohne Konsequenzen verschwenden,
sondern tue lieber, was in meiner Macht steht, um
etwas zu ändern. Auch wenn ich Leute verstehe, die
nur düstere Analysen liefern, suhlen die sich meiner
Meinung nach zu oft in Angstlust und tragen so auch
erst zu der ganzen Scheiße bei. Man sollte halt keine
wolkigen, völlig unrealistischen Erwartungen haben,
aber dennoch auch feinfühlig genug sein können, um
positive Entwicklungen zu bemerken.
Außerdem arbeitest du beim Magazin FICKO
(für gute Dinge und gegen schlechte) mit. Wie ist
dein Selbstverständnis als Aktivist?
Ich bezeichne mich als Gutmensch, FICKO ist die
Zentrale für Gutmenschlichkeit. Das bedeutet, dass
wir uns Mühe geben, in maximaler Hinsicht keine
zynischen Arschlöcher zu sein. Darum auch der affirmative Umgang mit dem Begriff »Gutmensch«. Wie
dumm, das als Beleidigung zu benutzen. Und wie
rückgratlos, dass so viele ständig egofixiert ihr Image
im Auge haben, anstatt sich mit dem Rest der Welt zu
befassen. Wir sind bei FICKO total radikal, aber nicht
übertrieben kompliziert. Und radikal auch in dem
Sinne, dass wir eben nicht radikal um der Radikalität
Willen sind, sondern inhaltlich und formal auch ganz
konkret Wege suchen, die anschlussfähig für mehr
Menschen als den üblichen Zirkel schon politisierter
Leute sind. Das geht von der Sprache über die Positionierung bis zu den Aktionen, die wir machen. Angesichts
des Zustands der Welt braucht es radikale Veränderungen,
die man aber nicht erreicht, indem man Leute
anschreit.
Ist dein Leben eher »double time« oder »con­
scious rap«?
Wieso »oder«?
Mit welchem Spiel würdest du dein Leben vergleichen?
Risiko. Australien einnehmen und dann alle plattmachen, genau mein Ding. Würfeln, rumschreien,
Braun vernichten: Der Triathlon des großen Mannes.
Millionen Anrainer*innen in meinem Hinterhof haben
mein Gebrüll schon ertragen müssen. Ich bin auch echt
ein guter und fairer Verlierer. Aber ihr solltet mich mal
gewinnen sehen!
»
ICH WILL MEINE ZEIT NICHT
MIT ZU VIEL JAMMERN OHNE
KONSEQUENZEN VERSCHWENDEN, SONDERN TUE LIEBER,
WAS IN MEINER MACHT STEHT,
UM ETWAS ZU ÄNDERN.
«
Was kannst du gegen die Dominanz weißer,
privilegierter, heterosexueller Männer in linken
Szenen tun?
Ich kann zum Beispiel gar nicht erst mitmachen,
sondern meine gutmenschlichen Kreise bilden, in
denen es anders läuft. Klappt eigentlich ganz gut.
FICKO arbeitet mit allen zusammen, ist aber eben
nicht für die sowieso schon aktivierten Leute gedacht.
Sondern will explizit zugänglich sein für alle möglichen,
auch bisher nicht hardcore-politischen Menschen. Das
geht dann vielleicht mitunter auf Kosten der ausschließlich knüppelharten Hundertprozentigkeit in
93
15 .10 . me Farbe Blau ist eine war
22 .10 . Ginger & Rosa
MEIN RECHTER, RECHTER PLATZ IST FREI:
29.10 . ial: Halloween-Spec
Rocky Horror e:
Double Featur
Alien
Picture Show +
5 .11. PROGRAMM FÜR DAS
WINTERSEMESTER 14/15
Under the skin e Angry Inch Hedwig And Th
it HI_Queer) (Kooperation m
Only Lovers Left
WIR BRAUCHEN DAZU:
Texter 12 .11. 19.11. Ein journalistisches Strategie- und Actonspiel für beliebig viele
Mitspieler. Es gilt die Devise: Je mehr, desto lustiger!
Layouter MITTWOCHS 20:15 UHR
EINLASS 20:00 UHR
AUDIMAX DER UNIVERSITÄT HILDESHEIM
1,50 € EINTRITT + EINMALIG 0,50 € MITGLIEDSBEITRAG Alive Gespielt wird JEDEN MITTWOCH UM 20 UHR IM
GALERIERAUM DES »WOHNZIMMERS«, KAISERSTRASSE 41.
Spontane Änderungen werden auf unserer facebook-Seite
bekanntgegeben.
Der Illusionist Rosenkranz & G
Fotografen und Zeichner kreative oder organisierte Köpfe 26 .11. 3 .12 . Lektoren üldenstern Kommt einfach vorbei und spielt mit! Wir freuen uns
auf neue Herausforderer!
12 .12 . ecial: Weihnachts-Sp
uberwald Abenteuer im Za
17.12 . Snowpiercer 7.1. mein Anfang Das Ende war
14 .1. lmabend Hildesheimer Fi
21.1. g The Act of Killin
28 .1. q
serie) uasinormal (Web
Du bist filmbegeistert, gestaltest gern Plakate
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4 .2 . hluss: Klassiker zum Sc
er Berlin Der Himmel üb
HoKi
DER NERV MACHT SICH FREI!
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