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NR
41
GENDER_GAP
LEGEN, ­
KLEBEN, LÜGEN
In der Ausstellung «Das schwache Geschlecht.
Neue Mannsbilder in der Kunst» im Kunstmuseum Bern entwerfen
Silvie Zürcher und Pascal Häusermann
ihre Perspektive auf Geschlechterverhältnisse.
von Angela Wittwer
Seite 26 – 28
EIN DIALOG ZWISCHEN
KUNST UND MEDIZIN?
Kunst von Michael Günzburger
im Kantonsspital Aarau
von Annelise Zwez
Seite 38 / 39
EXIL/LOG
Thomas Kern aus London
Seite 29
KLEIN & FEIN
Milchbüechli
von Tina B. Zimmermann und Florian Vock
Seite 30
TAUCHSIEDER
Von Kuchenstücken und Stromgitarren
von Ursula Huber
Seite 31
BILDSCHIRM
Veronika Spierenburg
Seite 31– 33
FEDERLESEN
Patti Basler und Rolf Keller
über Beitragssprechungen aus Gendersicht
Aufgezeichnet von Andrina Jörg
Seite 34 / 35
HIMMEL & HÖLLE
«Gender sei abgelutscht», meinte kürzlich eine Freundin.
Wie bitte? Da gab es Ende 2013 eine Ausstellung zu
Autorinnen im Literaturbetrieb im Strauhof in Zürich,
das Kunstmuseum in Bern hinterfragt soeben Männ­
lichkeitsbilder in der Kunst und in Luzern zeigt die Alpi­neum Produzentengalerie mit «Corpus Delicti – Im Blick
des Begehrens» eine Vielzahl der Blicke auf den nackten,
menschlichen Körper. Es mag sein, dass der Geschlech­
terdiskurs sonst in der Öffentlichkeit wenig Priorität hat,
trotzdem bestimmt er in nicht geringem Masse unseren
Alltag und spielt in den aktuellen globalen Herausfor­
derungen überall eine Rolle. Auch wenn keine Wertehal­
tungen in der Art, wie sich Herbert von Karajan 1979
noch äusserte, dass Frauen hinter den Herd und nicht
ins Orchester gehörten, jemanden des Geschlechts
wegen von Kunst- und Kulturbetrieb fernhalten, erzeugen
nach wie vor vielschichtige Gründe eine gläserne Decke
über die Geschlechter. Unbestritten ist, dass Frauen
jedenfalls nicht ihrem Anteil an der Bevölkerung, nicht
ihren Begabungen und nicht ihrer Ausbildung entspre­
chend in der Kunstproduktion vertreten sind. Eine andere
Frage wäre, warum mehr Männer E-Gitarre als Harfe
spielen?
Spätestens seit Simone de Beauvoir wissen wir, dass
das Geschlecht ein Konstrukt ist, das uns zugeschrieben
wird. Das Leben besteht dann daraus, sich immer wieder
zu versichern, dass es auch wirklich stimmt, eine Frau
oder ein Mann zu sein. Doch so einfach ist es nicht mit den
Identitäten. Neben den polarisierten Zuschreibungen
«Mann» und «Frau» lenkt «Transgender» oder «Queer»
die Aufmerksamkeit auf die unzähligen psychosozialen
Geschlechtsidentitäten. Jenseits der vermeintlich natür­
lichen heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit, die nach
wie vor Ausschlüsse produziert, geht es um alle Ge­
schlechter und Sexualitäten, um Homosexuelle, Schwule
und Lesben, Bisexuelle, Trans*Personen, Intersexe,
TransInterQueers, Falschsexuelle … Wenn das nicht neue
sprachliche Zeichen braucht! Der Unterstrich «_» wird
als Zeichen eingesetzt, das Möglichkeiten offenlässt, der
Zwischenraum beziehe diejenigen Menschen ein, welche
nicht in das ausschliessliche Frau-Mann-Schema hin­
einpassen oder nicht hineinpassen wollen. Oder das
Gender-Sternchen. Das Sternchen wird als Suffix für eine
beliebige Anzahl von Zeichen zwischen zwei Grenzen
verwendet. Dann also Liebe_r Leser_in … oder wenn Sie
wollen … Lieb* Les*, alles Gute und viel Glück im neuen
Jahr!
Andrina Jörg, Madeleine Rey, Redaktion
e fraag
von Simon Froehling
Illustration von Naomi Bühlmann
Seite 36/37
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Legen,
kleben,
lügen
im Raum verteilt sind. Alles zusammen – Objekte,
Figuren; Stadt, Kunst und künstliche Natur – tritt in
einen Dialog, der die physikalischen Gesetzmässig­
keiten geschickt umgeht.
Silvie Zürchers Anliegen ist es, die gesellschaftlich
definierten Grenzen von Geschlecht zu überschreiten,
und sich anzueignen, was dem sogenannt anderen
Geschlecht vorbehalten scheint. Ihre Figuren «plädie­
ren für komplexere Menschen, die die binäre, von
Kultur, Medizin und Politik vorgeschriebene Auftei­
lung der Geschlechter nicht akzeptieren und in denen
sich Unvereinbares zusammenfindet», so die Kuratorin
Kathleen Bühler in der Publikation zur Ausstellung.
Zürchers zweite in Bern gezeigte Arbeit «I Wanna Be a
Son» ist eine Serie von Fotocollagen, bei der ihr Ge­
sicht auf Männerkörper montiert ist. «Mich beschäftigt
die Frage, warum eine Frau, die in einer Lederjacke
breitbeinig an einer Bar ein Bier trinkt, als männlich,
burschikos oder unweiblich angesehen wird, und nicht
einfach als eine Frau, die in einer Lederjacke in be­
quemer Haltung ein Bier trinkt. Es geht um die Zuord­
nung von Eigenschaften wie zum Beispiel Draufgän­
gertum, Tapferkeit, Mut, Verwegenheit – Eigenschaften,
die immer noch als männliche empfunden werden.
Mich interessieren die Momente, in denen ich mich als
Frau wie eine Nachahmung, unzureichende Kopie ­von
etwas empfinde.» Der in der Maskerade hergestellte
Körper (die «Verkleidung» als Mann) entlarvt – im Sinne
der Queer-Theoretikerin Judith Butler – das Original
selbst als eine Kopie, denn weder «Frau» noch «Mann»
gibt es als feste Grösse.
Doch der Raum, in dem Kategorien verschwimmen
und sich auflösen, drückt bei Silvie Zürcher eher ein
Unbehagen aus als eine Euphorie angesichts des globa­
lisierten Supermarkts der Möglichkeiten: Für welches
«Doing Gender», also für welches Ausagieren und
Herstellen von sozialem Geschlecht sich entscheiden,
welches Kleidungsstück anziehen, welche Pose wählen,
mit welcher Stimme sprechen? Unsicherheiten scheinen
auf, wo Stabilitäten und Konventionen verschwinden.
Auch bei Pascal Häusermann ist das Verfehlen oder
Scheitern Fluchtpunkt der Auseinandersetzung mit
Geschlecht. In seiner 16-teiligen Werkserie «Megalo­
mania» (Grössenwahn) überblendet Häusermann
Abbildungen adoleszenter Männer aus der Modewerbung
in Lifestyle-Magazinen und der Webseite «how t­ o
spend it» (ein Inlay der Financial Times) mit Motiven
des Holzschnitt-Zyklus der Johannes-Offenbarung ­von
Albrecht Dürer. So passiert es etwa, dass ein löwen­
ähnliches Geschöpf hinter einem Anzugsherren
hervor­lugt oder der Kopf eines Models mit einem Heili­
genschein versehen ist.
Wenn die glatten Luxus-Oberflächen der Mode­
werbung mit den Holzschnitten Dürers konfrontiert
werden, transferieren sich moralethische Fragen ­­
vom 15. Jahrhundert ins Heute. Denn schon bei Dürer
ist die Kritik offen formuliert: Geistloser Materialis­
mus mündet in die Apokalypse. So verbindet sich bei
Häusermann die Verdammnis der heidnischen und
lasterhaften Menschheit mit der gegenwärtigen Krise
von Angela Wittwer
In der thematischen Gruppenausstellung
«Das schwache Geschlecht. Neue Manns­
bilder in der Kunst» entwerfen die
Künstler_innen Silvie Zürcher und Pascal
Häusermann eine gesellschaftskritische
Perspektive auf Geschlechterverhält­
nisse. Das künstlerische Mittel der Collage
ermöglicht ihnen, tradierte Vorstellungen
von Geschlecht zu zitieren, diese aber
auch durcheinanderzubringen und neu
zusammenzusetzen.
Das Porträt Napoleon I. direkt neben Manets «Le Déjeu­
ner sur l’herbe», Fotos nackter Frauen mit Silikon­
brüsten neben ausgestopften Tierkörpern, eine Säulen­
halle mit Adonis-Skulpturen und barocke Decken­
gewölbe; Kronleuchter, stapelweise aufgeschichtete
Bücher, ein Landschaftsgemälde aus der Zeit der
­Romantik; Schneeglöckchen, Tannenbaum und ein
TV-Gerät mit Mattscheibe. Dazu ein Vergnügungspark
in der Nacht und Stadtlandschaften mit Hochhäusern,
Fernsehtürmen, engelsflügeligen Brunnen und Skulp­
turen, Pforten und Minaretten. – Und mitten in diesem
Gewimmel von Kunstgeschichte, Bürgertum, kultu­
reller Globalisierung und mediatisierter Gegenwart sitzt
eine junge Frau auf Polsterlandschaften, seriell ver­
vielfacht, gelangweilt, den Blick ins Leere gerichtet. Ihr
Kopf scheint aufgesetzt auf einen hübsch drapierten
Körper.
Das Gesicht ist das der Künstlerin Silvie Zürcher
und der beschriebene Raum findet sich als Foto-Collage
auf der Vorderseite ihrer Arbeit «Paravent», einem
tatsächlichen Paravent. Das fünfteilige Holzobjekt teilt
den Raum, in dem es sich befindet, in ein Vorne und
Hinten, in ein Innen und Aussen. Gleichzeitig ist der
Paravent Bildträger. So teilt dieser Paravent den Raum
nicht nur, sondern vervielfacht ihn gleichzeitig, indem
er auf der Bildebene vorbehaltlos zitiert und überein­
anderlagert, und so Räume entstehen lässt, in denen
sich einander unähnliche Dinge begegnen. In diesem
Bild-Raum geraten Vorstellungen von Geschlecht ­­
in Schwingung, denn auch die typisiert auftauchenden
und sich repetierenden Frauenfiguren verhalten sich
zur Gesamtkomposition wie gewöhnliche Objekte, die
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der neoliberalen und neokapitalistischen Werte. Das
vom ökonomischen Aufschwung begleitete und männ­
lich konnotierte Modell des Erfolgs, der sexuellen ­
und monetären Fitness ist durch die Finanzkrise und
gesellschaftliche Transformationsprozesse selbst in
die Krise geraten. Pascal Häusermann formuliert es so:
«Das Auflösen der männlichen Herrschaft in Ge­
schlechterbeziehungen führt zwangsläufig zu Konflik­
ten, zu offen und verdeckt ausgetragenen Machtkämp­
fen. Eine der typisch männlichen Reaktionen auf
die Ohnmacht ist diese der Aggression, des Starrsinns,
der Abschottung und eventuell auch der Gewalt. Das
alles sind Äusserungen des sich Gefangen-Fühlens.»
Neben dieser grundlegenden Verunsicherung sind
aber immer noch Momente von Heroisierung wirksam.
«Is this Ronald Reagan?» – «Maybe a very young Re­
agan …» – «And this one? He must be famous.» – «This
one looks like James Dean!» – Das mitgelauschte
Gespräch zweier Betrachterinnen von Pascal Häuser­
manns Arbeit macht deutlich: Starkult, Idealisierung
und Bildproduktion sind eng verknüpft. In Häuser­
manns Arbeit überlagern sich populärkulturelle und
massenmediale Bildproduktionen mit der Konstruk­
tion von Geschlechterbildern. In der Werbung wird ein
idealer männlicher Körper stilisiert, der sich misst ­
mit den Helden Hollywoods und den Figuren der Welt­
politik. Bilder sind immer auch Austragungsort von
Machtverhältnissen, von ihrer Aufrechterhaltung und
Stabilisierung.
Doch was für Möglichkeiten gibt es für die Kunst, in
diese Machtverhältnisse zu intervenieren, Gegen-­
Bilder zu erfinden? Pascal Häusermann verweist auf
die Darstellungen von Hermaphroditen in der Antike
und erinnert daran, dass hybride Formen und Ge­
schlechterrollen in der Kunst eine lange Tradition haben:
«Ich sehe die Kunst als prädestiniertes Spielfeld für
changierende Geschlechterdefinitionen. Das kreative
Schaffen erfindet da immer wieder noch unentdeckte
Rollen, welche die Tradition aus den Angeln heben.
Für mich persönlich bietet die Kunst die Möglichkeit,
um die Zementierung, die herkömmliche Wahrneh­
mung unseres Lebens und wie wir uns in der Gesellschaft
bewegen, zu durchbrechen.» Silvie Zürcher stimmt
dem zu: «Die Kunst bietet eine Bühne, auf der man
Behauptungen machen kann ohne Statistiken liefern
zu müssen. Die Kunst kann alles. Sie kann lügen,
schreien, unterstreichen, zerstören und im besten ­
Fall neue Bilder erschaffen, die überholte Denkmuster
lockern, um Wege für neue Ansätze zu ebnen.»
Pascal Häusermann, geboren 1973, ist Künstler und
Kurator und lebt in Zürich. Im Aargauer Kunsthaus war
er Gast der «Auswahl 09».
www.pascalhaeusermann.ch
Silvie Zürcher, geboren 1977, ist Künstlerin. Sie lebt in Zürich.
Silvie Zürcher und Pascal Häusermann zeigen ihre Arbeiten
bis 9. Februar 2014 im Kunstmuseum Bern in der Ausstellung
«Das schwache Geschlecht. Neue Mannsbilder in der Kunst.»
www.kunstmuseumbern.ch
Angela Wittwer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an
der Zürcher Hochschule der Künste und Künstlerin.
Seite 27
Silvie Zürcher, Ohne Titel, 2005 / 2006 Aus der Serie «I Wanna Be a Son», Collage, 34.5 × 50 cm
Courtesy Silvie Zürcher
Seite 28
Pascal Häusermann, Nr. 3, 2009
Aus der Serie «Megalomania», Monotypie, Ölfarbe, Schellack,
je 43 × 29 cm, Courtesy Pascal Häusermann
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exil / log
Thomas Kern aus London
A Room With a View – So soll dieser Brief beginnen. Es
muss sein. E.M. Fosters Roman mit demselben Titel sei
eines der 100 wichtigsten Bücher der englischen Litera­
tur, und so könnte ich ohne weiteres auch sagen, dass
die Aussicht aus meinem Atelier bestimmt eine der 100
besten Englands ist. Allein sie ist die Reise nach London
wert. Von Möriken nach Bow Road. Veränderung, Tape­
tenwechsel, einmal kräftig durchschütteln.
Vor mir liegen sechs Bahngleise von British Rail und
der DLR (Docklands Light Rail), links neben mir ein Au­
tobahnzubringer. Gleich dahinter London Concrete, wo
sieben Tage die Woche Beton gemischt wird. London ist
eine boomende Stadt. Der Immobilienmarkt ist heiss.
Wer kaufen kann, der kauft. Wer nicht, der zieht stadt­
auswärts. Die Geschichte ist dieselbe wie anderswo auch.
Dennoch, es ist erstaunlich. Vor 25 Jahren bewohnte ich
für kurze Zeit zusammen mit meiner Freundin ein Apart­
ment im Erdgeschoss einer in den 70er-Jahren gebauten
Wohnsiedlung. Der Council Estate, wie man hier sagt,
existiert noch. Ich stand vor ein paar Wochen draussen
vor der Wohnung, die heute ein paar hundert Meter süd­
lich des Shard im Schatten des derzeit höchsten Gebäu­
des in London steht. Die Glasscherbe schiesst wie eine
Rakete aus dem Bahnhof von London Bridge Station. So
etwas war für uns damals unvorstellbar.
Hinter London Concrete schliesst gleich eine weitere
Baustelle an. Hier blinken die Lichter von Lastwagen
und Baggern den ganzen Tag über. Rund um das Olym­
pische Stadion, den Olympischen Swimming Pool (von
Zaha Hadid, die derzeit zusammen mit Premierminister
Cameron als Teil einer offiziellen Wirtschaftsdelegation
in China weilt) und den sehr eigenartigen Orbit Tower
von Anish Kapoor entsteht hier der Queen Elisabeth
Olympic Park. Auf den kommenden Frühling soll er fer­
tig sein. Der Orbit hat zwischenzeitlich auch schon den
Namen geändert. Er heisst nun ArcelorMittal Orbit und
huldigt damit dem Hauptsponsor des verdrehten Turms,
dem indischen Stahlmagnaten Lakshmi Mittal, Gross­
britanniens reichstem Mann. Kapoor ist übrigens ein Sir
und für das Weglassen seines Namens bestimmt gut ent­
schädigt worden. Nun wissen wir auch, woher der Wind
weht in dieser Stadt. Und damit bin ich bei der Kunst.
London bietet dem kunstinteressierten Besucher ein
reiches Programm. Das kulturelle Grossereignis jeweils
im Oktober in London heisst Frieze. Eine Kunstmesse.
Kurz vor der Eröffnung treffe ich einen Kuratoren, der
sich ausführlich über die Funktion und sein Verhältnis
zu derartigen Anlässen äussert. Er überzeugt mich schlag­
artig von meinem Gefühl, dass dem Anlass auch ohne
meine Anwesenheit ein grosser Erfolg beschieden sein
wird. Also keine Neuentdeckungen meinerseits, sorry!
In der National Gallery hängt eines meiner liebsten
Gemälde, Venus und Cupido mit Spiegel, von Diego
Velàsquez, gemalt zwischen 1648 und 1651. Wieso aus­
gerechnet dieses Bild? Vielleicht weil es eines der ersten
Bilder war, das ich auch wirklich als Gemälde wahr­
nahm, dessen Pinselstriche ich sah, das mir den physi­
schen Akt des Malens bewusst machte (der sich doch
recht unterschied vom damals noch üblichen mechani­
schen Auslösen beim Fotografieren) und – weil ich da­
mals John Berger’s «Ways of Seeing» las. Ein Text, der
sich unter anderem auch mit diesem Bild befasste. Im
Jahr 1914 verübte die militante Suffragette Mary
Richardson ein Attentat auf das Gemälde. Mit einem
Fleischerbeil zerschlug sie das Glas und brachte dem
freiliegenden Bild dann mehrere Schnitte bei. Anlass für
den Anschlag war die tags zuvor erfolgte Verhaftung von
Emmeline Pankhurst (nach heutigem Standard wurde
sie des feministischen Terrorismus beschuldigt): «Ich
habe versucht, das Bild der schönsten Frau in der My­
thologie zu zerstören, als Protest gegen die Regierung,
die Mrs. Pankhurst zerstört hat, die schönste Gestalt
der modernen Geschichte.» Fast 40 Jahre später fügte
sie dem noch hinzu: «I didn’t like the way men visitors
gaped at it all day long …» Und hier stehe ich nun in
London und schaue mir den massakrierten, längst res­
taurierten Rücken an, verborgene Wunden unter Velàs­
quez’ Pinselstrichen, wenn auch nicht gerade tagelang.
Mein Atelier befindet sich im Osten der Stadt. Vor
vielen Jahren noch verirrte sich kaum ein Tourist in die­
sen Teil der Stadt. Hier lebten vor allem Immigranten
aus Pakistan und Bangladesch, zusammen mit dem
Geist von Jack the Ripper. Heute wird bei der Einfahrt
in die U-Bahn-Station von Aldgate East nicht nur der
Name der Station ausgerufen, sondern dem Reisenden
gleich noch ein Besuch der Whitechapel Gallery nahe­
gelegt. Dort wütet derzeit gerade Sarah Lucas, die einst
Klassenkameradin von Tracy Emin und Damien Hirst
war. Es ist einfach, diese Kunst auf den relativ ange­
strengten Gestus der Provokation zu reduzieren, aber
der Gedanke drängt sich auf. Vor dem Eingang der Aus­
stellung steht dann auch die Warnung: The exhibition
contains sexually explicit materials and is not recom­
mended for children. Ich sehe durchaus ein paar witzige
Sachen, vielleicht sogar das eine oder andere tiefgrün­
dige Objekt oder Bild. Doch die Ausstellung ist ein wil­
der Haufen und der Effekt nutzt sich sehr schnell ab und
man steht bald einmal mit hängenden Schultern zwi­
schen all den Brüsten, Penissen und Vaginas.
Abends, wenn es dunkel ist und ich nicht mehr foto­
grafieren mag, besuche ich Aktzeichnenkurse für
Amateurkünstler.
Thomas Kern ist Fotograf, Bildredaktor und Künstler.
Er war von Oktober bis Dezember 2013 im Atelier des Aargauer
Kuratoriums in London.
29
klein & Fein
Milchbüechli
von Tina B. Zimmermann und Florian Vock
– Du Flo, das JULI-Magazin hat spitzgekriegt, dass
ich beim Milchbüechli irgendwie die Finger drin habe,
ob ich was darüber erzählen könne …
– JULI, das ist Kultur und so, oder? Aber das sprichst
schon mit mir ab?
– Na klar doch, du bist ja Chefredaktor.
– Naja, aber das bedeutet vor allem koordinieren,
nicht bestimmen. Das Milchbüechli ist als Zeitschrift für
alle Jungen offen, die etwas schreiben wollen. Hauptsa­
che, aus ihrem Leben.
– Genau, und ich lektoriere das dann. Als Nicht­jugend­liche.
– Aber jugendlich charmant … Jedenfalls ist dieser
partizipative Gedanke ganz wichtig: Jeder Interessierte
kann Texte schicken, fotografieren, sich als Model mel­
den. Oder auch Heftli verteilen und Anlässe mitorgani­
sieren. Viermal im Jahr gibt es die falschsexuelle Jugend
gedruckt, aber mit Partys, beispielsweise im KiFF, und
Facebook sind wir auch sonst präsent. Und die Redakti­
onssitzungen sind offen für alle jungen falschsexuellen
Menschen, die sich einbringen möchten. Da tauchen im­
mer wieder neue, unbekannte Gesichter mit spannen­
den Geschichten auf
– Flo, sorry, ich unterbreche dich kurz: Das mit dem
«für die falschsexuelle Jugend» im Untertitel des Milch­
büechli solltest du vielleicht kurz erklären.
– Das «falschsexuell» soll provozieren, irritieren. Es
ist auch eine Selbstbezeichnung, «positiv pervers» quasi,
eine Aneignung von einem Begriff, der aneckt. Im Milch­
büechli versammelt sich unter den Falschsexuellen eine
bunte Vielfalt von Menschen. Sie kommen zu Wort und
zeigen ihre Lebensweisen, Identitätsvorstellungen,
Träume und Probleme. Einfach «normal» und «gleich»
zu sein, das würde uns langweilen. Wir sind ja nicht nor­
mal … Egal ob trans*, schwul, promisk oder queer.
– Aber jung seid ihr alle, ein Heft von Jugendlichen
für Jugendliche.
– Ja, am liebsten würden wir an jeder Schule auflie­
gen, in jedem Jugendlokal. Aber auch Nichtjugendliche
sollten uns lesen. Noch besser abonnieren oder Gön­
ner_innen werden.
– Was sagen denn junge LeserInnen zur Zeitschrift?
– Junge Lesben, Schwule, Bis und Trans*menschen,
aber vor allem viele, die sich nicht in einer solchen Ka­
tegorie wiedererkennen, freuen sich sehr über diese
Plattform. Es ist endlich wieder ein Ort, wo mensch sich
sieht und liest. Nicht so selbstverständlich in dieser
Schweiz, junge Falschsexuelle kennenzulernen.
– Apropos, Flo, wo haben wir uns eigentlich
kennengelernt?
– Im Kalb, nicht? Ich habe dort kistenweise Bücher
abgeholt, die noch heute mein halbes Regal füllen.
– Ja, genau, du bist ins sterbende Kalb gekommen,
hast in Büchern gewühlt und mir von einem Projekt er­
zählt. Mein Lektorinnenherz habt ihr gleich erobert.
Und nun schaue ich grad mal, was es Neues gibt unter
facebook.com/mibuli.
Florian Vock, 23, Baden, ist Chefredaktor des Milch­büechli,
studiert Soziologie und Philosophie und ist politisch enga­
giert bei der JUSO.
Tina B. Zimmermann, 36, Zürich, hat das Goldene Kalb ­­­
in Aarau gemetzget und lektoriert nun unter anderem das
Milchbüechli.
www.mibuli.ch
Foto: Milchbüechli 2013, Redaktionssitzung
30
Bildschirm
Tauchsieder
Geometrie in
Schwingung
Von Kuchenstücken
und Stromgitarren
von Ursula Huber
Letzthin an der Party: Ein männliches Wesen kommt, schneidet sich ein Stück Kuchen ab, isst es; ein weibliches Wesen
kommt, schneidet ein paar Stücke Kuchen für die anderen und
nimmt einen Keks. Was sagt uns das? Sagt uns das was? Oder
die Stromgitarrendiskussion: Warum spielen viel mehr Männer elektrische Gitarre als Frauen? Aber es spielen ja Frauen
elektrische Gitarre, und die sind so extrem cool – Courtney
Love zum Beispiel! Was sagt uns das? Kein Mensch hindert die
Frauen daran, massenweise Stromgitarre zu lernen, würde
man meinen. Oder die Koch-Problematik: Bei uns in der WG
kochen die Männer nicht. Obwohl auch die Frauen arbeiten,
d.h. einer Erwerbsarbeit nachgehen. Er habe jeweils abends
nicht so grossen Hunger, sagte der eine eines Tages zur Begründung. Was sagt uns das? Aber es gibt Männer, die kochen.
Ich kenne selber welche. Worum geht es? Dass statistisch gesehen mehr Männer als Frauen zu viel Kuchen alleine essen
und Stromgitarre spielen statt zu kochen? Und ist das nicht
alles biologisch bedingt, wegen der Steinzeit? Die Männer
müssen die Frauen beschützen – und dafür brauchen sie Kraft
(deshalb Kuchen essen) und müssen die Feinde abschrecken
(deshalb Lärm machen mit der Stromgitarre) und die Frauen
sind extrem froh, dass sie jemand beschützt und schauen dafür, dass es dem Beschützer gut geht (deshalb kochen und Kuchenstücke schneiden). Ganz abgesehen davon können sie
schneller fliehen, wenn sie nicht zu viel Kuchen selber gegessen haben; falls der Beschützer ausfällt oder seine Rolle irgendwie falsch interpretiert.
Wo waren wir? Eigentlich geht es ums Prinzip; um die Statistik;
um wissenschaftlich erhärtete Fakten, um immer wieder gemachte Erfahrungen: Die Emanzipation steckt erst in den Anfängen. Die Männer müssen mitziehen. Und die Frauen auch.
Solche radikalen Veränderungen bräuchten viiiiel Zeit, hat mir
ein männliches Wesen kürzlich gesagt. Das gehe nicht so von
einem Tag auf den anderen, schliesslich sei das eine jahrtausendealte Entwicklung (eine seit der Steinzeit), die da rumgerissen
werden müsse. Für das sei man eigentlich schon recht weit. Nur
noch ein paar Jahrzehnte (oder etwas länger) warten!
Dabei wäre es einfach. Statt differenzieren und verallgemeinern und theoretisieren und in die Steinzeit hineinprojizieren
und rechtfertigen und sich nicht wertgeschätzt fühlen und
Ausnahmen finden und Schuldzuweisungen machen: in jedem
Kopf die Schublade mit den Rollenbildern leeren. Und wieder
auffüllen mit Vorstellungen von Menschen beiderlei Geschlechts, die positive männliche und positive weibliche Eigenschaften kultivieren, zum Wohle ihrer Mitmenschen.
There’s more to life than this.
Mit minimalen Gesten erkundet die Tänzerin auf dem
9-minütigen Videofilm «Crossing of a Horizontal Body
with a Vertical One» die gleichermassen funktionale wie
ästhetische Architektur des Palacio Gustava Capanema,
dem Ministerium für Bildung und Gesundheit in Rio de
Janeiro. Die Tänzerin in Veronika Spierenburgs Video­
arbeit schreitet den modernistischen Bau ab, lotet das
in den 30er-Jahren unter der Leitung von Le Corbusier
konzipierte Gebäude mit ihrem Körper aus, erfasst da­
bei dessen Topologie und setzt ihm menschliches Mass
entgegen. In den Video-Stills scheinen viele Themen
auf, die von Spierenburg wiederkehrend in unterschied­
lichen Werken in den Fokus gerückt werden. Instituti­
onelle Architekturen wie beispielsweise Bibliotheken,
die Archive der Kultur beherbergen, dienen der Künst­
lerin genau so als Forschungsfeld und Ausgangsmaterial
für ihre Werke wie Wühlkisten auf Flohmärkten, die ei­
nen Wust an kulturellen Versatzstücken horten. Mit vor­
erst schlicht anmutenden Setzungen und Eingriffen
bringt Veronika Spierenburg in Fotografien Performan­
ces, Videos und Installationen eine aufgeladene Geo­
metrie in Schwingung, die immer auch im Verhältnis
zum Menschen steht. Sie schafft durch Neuanordnun­
gen visueller und akustischer Rhythmen dichte Über­
lagerungen in Raum und Zeit und legt dabei alte, kons­
truierte Ordnungen frei.
Im Kunsthaus Aarau präsentiert die diesjährige Trä­
gerin des Manor Kunstpreises Aarau in ihrer ersten in­
stitutionellen Einzelausstellung eine multimediale Ins­
tallation, welche von ihrer Auseinandersetzung mit den
spezifischen architektonischen Strukturen der drei Mu­
seen Kunsthaus Glarus, Östergötland Museum in Schwe­
den und Boijmans Museum in Rotterdam zeugt.
Veronika Spierenburg
Manor Kunstpreis 2013
Kunsthaus Aarau
FR, 24. Januar, 18 Uhr, Vernissage
SA, 25. Januar bis 21. April 2014
MI, 26. März, Rundgang und Gespräch
Ursula Huber wohnt in einer WG im Freiamt;
sie kann gut Gulaschsuppe kochen und unterrichtet an
der Bezirksschule.
Zur Ausstellung erscheint eine Publikation bei Edition Fink
unter dem Titel «Ecke, Hoek, Hörn».
Seite 32 / 33
Video-Stills aus «Crossing of a Horizontal Body
with a Vertical One», HD Video, 12 min.
www.veronikaspierenburg.com
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33
FEDERLESEN
Patti Basler, Slam-Poetin und
Rolf Keller, Präsident des Aargauer Kuratoriums,
über Genderfragen in der Kultur
Nachgefragt und aufgezeichnet
von Andrina Jörg
Prüfungen vorzubereiten), wie auch
sexueller Art. Mädchen und Frauen
erleben es täglich: sie werden nicht
ernst genommen, werden nach ihrem
Äusseren beurteilt und nicht auf­
grund ihrer Intelligenz – oder sie wer­
den plump angemacht.
Spitzenpositionen in der
Berufswelt besetzen meist
Männer. Wie sieht es im
Kulturbetrieb aus?
Rolf Keller In der Kulturwelt gibt es
viele Frauen in leitenden Positionen.
Das Bundesamt für Kultur hat eine
Direktorin, die Nationalbibliothek,
das Aargauer Kunsthaus oder das Mu­
seum für Kommunikation werden
von Frauen geführt.
Pat ti Basler Das sind Beamte oder
Quasibeamte. Bei den staatlichen
Stellen wird auf eine ausgeglichene
Besetzung der Posten geachtet. Alles,
was Richtung Kommerz geht, unter­
liegt den normalen marktwirtschaft­
lichen Regeln. Dort sind klar weniger
Frauen am Ruder.
Woher kommen die Unter­
schiede und wie steht es mit
der Gleichheit?
Rolf Keller Oft sind Frauen weniger
karriereversessen als Männer. Viel­
leicht prägen uns halt auch uralte
Rollenteilungen nach wie vor – Män­
ner als Jäger draussen, Frauen mit
den Kindern am Feuer in der Höhle.
Und biologische Unterschiede sind
naturgegeben, Männer können z.B.
nicht gebären, auch wenn viele das
gerne würden.
Patti Basler Ich hätte auch nichts da­
gegen, wenn der Mann das Kind aus­
tragen würde, dann würde meine
Karriere nicht unterbrochen! Evolu­
tionistische Erklärungsmodelle finde
ich jedoch billig, sie greifen zu kurz.
Wir sind eine zivilisierte Gesell­
schaft. Es gibt einige Studien dazu,
wie eingespielte Rollenmuster sich zu
ändern beginnen, wenn man die ge­
sellschaftlichen Modelle auf struktu­
reller Ebene ändert. Die Gesellschaft
spielt mindestens eine so grosse Rolle
wie das Individuum bei der Ausfor­
mung des sozialen Geschlechts und
der Ungleichheiten.
Rolf Keller Wir sollten unterscheiden
zwischen Gleichstellung und Chan­
cengleichheit. In der Schweiz haben
alle jungen Leute dieselben Chancen:
Alle, die wollen, können studieren, ei­
nen bestimmten Beruf wählen.
Gleichstellung dagegen ist leider
noch nicht überall erreicht, beispiels­
weise bei der Entlöhnung.
Patti Basler Die Chancengleichheit ist
auf einer rechtlichen Ebene vorhan­
den. Im realen Leben wird sie nie­
mals erreicht. Zu viele Faktoren
müssten neutralisiert werden. Chan­
cengleichheit muss dennoch ein Ziel
bleiben, wenn auch ein utopisches.
Patti, Du berichtest in Deinem
Blog darüber, wie Du als
Mädchen und Frau auf unter­
schiedlichste Weise diskrimi­
niert wurdest/wirst.
Patti Basler Ja, die Diskriminierungen
sind oder waren sowohl strukturell
bedingt (zum Beispiel musste ich in
die Hauswirtschaft, durfte nicht ins
Werken, die Knaben hatten weniger
Schule, dafür mehr Zeit, um sich auf
34
Rolf, wurdest Du aufgrund
Deines Geschlechts schon
diskriminiert?
Rolf Keller Ich habe bisher keine nen­
nenswerte Diskriminierung erlebt. Es
gab aber vor 15 oder 20 Jahren noch
mehr Ungleichbehandlung. Wenn
meine Frau und ich gemeinsam etwas
anschafften und den Kaufvertrag un­
terschrieben, wurde die Rechnung
immer an mich geschickt. Ist das nun
Diskriminierung? Und für wen? Für
die Frau, weil sie nicht ernst genom­
men wird als Handelspartnerin oder
für den Mann, der die gemeinsame
Rechnung bezahlen soll?
Wie geht Ihr gegen Diskrimi­
nierungen im Alltag vor?
Patti Basler Kürzlich hat einer meiner
Schüler voller Überzeugung zu mir
gesagt, Frauen seien dümmer als
Männer. Männer seien viel öfter Chef,
dies beweise ihre überlegene Intelli­
genz. Ich entgegnete, Mädchen hätten
im Schnitt die besseren Noten und
seien öfter an der Uni. Auch biolo­
gisch gesehen seien die Männer viel
weniger wichtig, für die Fortpflan­
zung brauche es nur einen Mann auf
hundert Frauen. Das Gespräch hat
das Weltbild des Schülers ins Wanken
gebracht.
Rolf Keller Ich unterrichte Erwach­
sene in Kulturmanagement, die seit
Langem im Berufsleben stehen. In
FEDERLESEN
der Mehrheit studieren Frauen bei
uns. Wir haben uns zum Beispiel im­
mer um geschlechtsneutrale Formu­
lierungen bemüht. Man kann ein­
wenden, das sei oberflächlich, aber
es prägt wohl mit der Zeit das Den­
ken. So ist für deutsche Studentin­
nen die weibliche Form beim Spre­
chen kaum ein Thema. Locker sagen
sie: ich als Anwalt, ich als Kulturma­
nager. Als Frau!
Ihr seid beruflich in verschie­
denen sozialen, kulturellen
Bereichen tätig. Wie sieht es mit
der Gleichstellung und den
Rollenbildern in Euren berufli­
chen Alltagen aus?
Patti Basler Auf der Bühne ist es klar:
Mann ist nicht gleich Frau. Wir arbei­
ten mit dem Körper, der entweder
männlich oder weiblich ist und wenn
er ein wenig beides ist, dann gibt es
ein Riesengeschwätz. Viele Probleme
in der Gleichstellung stellen sich erst
in einem späteren Lebensabschnitt
und oft nur den Frauen, die Kinder
haben. Mit 30 Jahren gehen viele in
die Mutterschaft und dann stagniert
die Karriere. Zumindest bei den Büh­
nenberufen. Ich bin die einzige Slam­
poetin von etwa 120 sehr aktiven
Slammern, die Mutter ist.
Rolf Keller Sicher, wenn eine Frau
Mutter wird, ändert sich vieles. Das
muss aber nicht heissen, dass nach­
her keine Chancengleichheit beste­
hen kann.
Patti Basler Die Unterschiede werden
gesellschaftlich aber nicht kompen­
siert. Regula Späni, Sportmoderato­
rin, hat mit 43 Jahren gesagt, sie höre
jetzt auf, denn Frauen hätten beim
Fernsehen ein Verfallsdatum. Beni
Turnheer ist 20 Jahre älter als sie und
moderiert fröhlich weiter. Das sind 20
Jahre Arbeitszeit! Es ist nicht ein­
leuchtend, dass eine Frau sagen
muss: Ich bin zu alt mit 40. Oder: Ich
habe jetzt ein Kind, ich kann nicht
mehr jeden Abend auf einen Poetry
Slam. Das muss sich in den Köpfen
der Frauen und Männer ändern.
Rolf, Du bist Präsident des
Aargauer Kuratoriums.
Wie nimmst Du da die Gen­
derthematik wahr?
Rolf Keller Bei der Gleichstellung und
auch bei der Chancengleichheit sehe
ich keine Differenz. Im Moment sind
zwar im Kuratorium mehr Männer als
Frauen. Als nächstes sollte wieder
eine Frau gewählt werden. Ich glaube
nicht, dass in der Kulturförderung ein
Unterschied besteht zwischen den
Geschlechtern. Letztes Jahr haben
mehr Männer Werkbeiträge erhalten,
dieses Jahr ist es ausgeglichener. Wir
haben das analysiert und deuten es
als Zufallsergebnis. Denkbar ist, dass
Frauen zurückhaltender sind bei der
Eingabe von Projekten.
Patti Basler Ich bin davon überzeugt,
dass Frauen bei der Gesuchstellung
viel zurückhaltender sind. Sie haben
das Gefühl, nicht zu genügen. Den
Knaben sagt man schon von klein auf,
sie sollen für ihre Anliegen einstehen,
die Mädchen werden zu Präzision und
Fleiss angehalten. Jungs, die grotten­
schlechte Texte produzieren, stehen
voller Selbstbewusstsein hin, Mäd­
chen getrauen sich oft nicht.
Jetzt sind wir wieder bei der
Frage nach der Herkunft
der Geschlechterdifferenzen.
Rolf Keller Für mich stellt sich schon
die Frage, wie diese Unterschiede der
Verhaltensweisen entstehen. Unsere
Tochter und unser Sohn sind jetzt 28
und 25 Jahre alt. Wir haben sehr da­
rauf geachtet, beide gleich zu erzie­
hen, aber es haben sich früh Unter­
schiede abgezeichnet. Klare Stereo­
typien. Ist das nun genetisch bedingt
oder sozial?
Patti Basler Es fängt damit an, dass
ich meinem Kind keine geschlechts­
neutralen Kleider anziehen kann.
Wenn ich einkaufen gehe, dann gibt
es in der Mädchenabteilung Rosarot
und Lillifee-Figürchen und in der
Knabenabteilung Hellblau und Bob
der Baumeister. Das prägt. Ist es tol­
35
ler, wenn ein Knabe sich für Motoren
interessiert als wenn ein Mädchen auf
Pferde steht? Eine Pferdepflegerin
verdient praktisch nichts, als Auto­
einkäufer kann man gutes Geld ma­
chen. Die Ungleichbehandlung ist im­
mer mit einer Wertung verbunden
und oft abwertend bei weiblich kon­
notierten Angelegenheiten.
Was haltet Ihr von Quoten­
frauen in der Förderung?
Rolf Keller Quoten finde ich keine
überzeugende Idee. Nicht weil ich da­
gegen bin, dass die Hälfte der Perso­
nen in einem Gremium Frauen sind.
Aber wenn Alibifrauen gewählt wer­
den, die sich nicht bewähren, kann
dies kontraproduktive Auswirkungen
haben. Man sollte grundsätzlich von
Qualifikationen und Eignungen
ausgehen.
Patti Basler Ich finde Quoten nicht
nur schlecht. Die Antwort auf die
Frage, wer qualifiziert ist, lautet an­
ders bei Frauen als bei Männern. Män­
ner ermuntern Frauen im Generellen
nicht. Es gibt dieses Männerbündleri­
sche. Wenn ich Männerrunden belau­
sche – das mache ich von Berufs we­
gen oft, in der Beiz etwa – bin ich be­
stürzt: Da sind Frauen kein Thema.
Wenn Männer das Sagen haben, wäh­
len sie, was ihnen ähnlich ist – da gibt
es Studien dazu. Dieser Teufelskreis
muss durchbrochen werden. Man
müsste Quoten machen, um Frauen
zu pushen, es braucht Vorbilder.
Rolf Keller ist Leiter des Studien­
zentrums Kulturmanagement a­ n
der Universität Basel und Präsident
des Aargauer Kuratoriums.
Patti Basler tourt als Slam-Poetin,
Moderatorin und Kabarettistin durch
die Schweiz. Nebenbei studiert sie
Erziehungswissenschaften und arbei­
tet als Lehrerin.
www.patti-on-tour.ch
Nächster Auftritt: DO, 9. Januar,
Frauenrechte beider Basel, Basel
36
Himmel & Hölle
e fraag
vom Simon Froehling
was sind das für hügel berge gipfel d alpe am änd
kän blik zrugg und git s es maass für sentimentalitäät
isch d fraag nach wi vil läbe passt in en chaschtewage
wi wiit wi schnell schaftt er s vollgaas devoo
wi schöön er isch de hoof under de hoochschpannigsläitig
mit irem totempfaal mit sine sächs ärm
und obe druf sitzt s wätter nööch zum aalange fasch
was für e schtadt häsch verlaa was für fründe
isch generell d fraag nach minere generatioon
nach alem was ungsäit blibe
wi luut s isch uf em land vo traktoore und chiisgruebe
vo chüe und schaaf vo frücht wo ghäied und bletter
und schtändig vom wind
was händ ir öichi müetere nie gfraagt und vätere
öichi eltere i irne häim
wi guet s ine gaat und rächt s ne gscheet
weli erinnerige paksch uus was bliibt i de chischte
hät lengscht söle uf d mulde
wi s schtinkt da usse vo güle de puur säit
s letscht maal vor de räge chunt und bliibt
wi chalt s dän wird und wi früe s na isch
wi richtig mer ales gmacht hät oder falsch
wi wiit mer choo isch mit welne muschter
und wi lang isch s heu scho dine
isch d fraag nach alem wo mer nie hät gwüsst
d realisatioon wi frömd na ales isch nöd nur i de nacht
was sind das für schterne konschtelatioone galaxie gaar
wi dunkel de gaarte
wi gfürchig jedes grüüsch
was hät sich grad bewegt
am morge nüüt nur di letschte öpfel modered
uf bäidne siite vom haag de schpaatherbscht süess
dehinder wäide wälder de fluss
wi bruun er flüüst und fridlich
wi de hund dööst und de alti kaater verbisse
über d fälder schliicht di gfroornig erde
wi vil hoffnig uf e muus und isch s erlaubt
es bizli rue en fride vilicht
di erschte bletter werded s bewiise
es chunt wider en früelig
was für es läbe söll me aafa nöi
isch di alti fraag nach wi vil ziit laa si zie
wi vil ziit verdammti ziit
Simon Froehling, geboren 1978, ist schweizerisch-­
australischer Doppelbürger und wuchs in Riniken bei Brugg
auf. Nach dem Abitur in Brisbane, Australien, sowie ­­
Studien- und Arbeitsaufenthalten in Berlin, Kairo und London,
lebte er 13 Jahre lang in Zürich, bevor er 2013 ins
Knonauer Amt zog. Zuletzt erschienen sein Roman «Lange
Nächte Tag» (bilgerverlag, 2010) sowie das Hörspiel
«Moi non plus»
(SRF Radio 1/Südwestrundfunk SWR 4, 2012).
Illustration: Naomi Bühlmann
37
Ein Dialog
zwischen
Kunst
und Medizin?
Kunst von
Michael
Günzburger
im Kantons­
spital Aarau
Dass Sadhyo Niederberger, Künstlerin und Kurato­
rin von «Kunst im Kantonsspital», «Arts and Medicine»
aufgreift, liegt auf der Hand. Sie tat dies schon mehr­
fach, zum Beispiel in «Schmerzgrenzen», doch mit der
Einladung von Michael Günzburger als «Artist in
Residence» dreht sie den Spiess um. Nicht Empfindun­
gen zwischen «krank» und «gesund» spiegeln sich
dieses Mal, sondern hauptsächlich die bildgebenden
Computerprogramme der medizinischen Forschung.
Dialogpartner für den Künstler waren zunächst die
Ärzte und erst jetzt kommt das Publikum hinzu. Dass
man im KSA auf das Ansinnen eines solchen Dialoges
eintrat, ist nicht selbstverständlich, entspricht aber
der von der Mediengesellschaft geforderten Öffnung
der Wissenschaft.
Michael Günzburger (*1974) sagt, sein wichtigstes
«Instrument» sei die Linie. Mit ihr könne er seine
Erkundungen visuell am besten um- und beschreiben.
«Linie» ist allerdings weit zu fassen und auch die The­
matik ist unbegrenzt. Sie fokussiert aber immer wieder
ein Kerninteresse, nämlich etwas Bild werden zu las­
sen, was nicht oder nur scheinbar existiert, vielleicht
auch so noch nie zum Bild wurde. Dies drückte er an
der «Auswahl 09» im Aargauer Kunsthaus mit einem
von einer goldenen Kordel umwickelten «Rahmen» aus,
der das Bild selbst nur als Potenzial zeigte. Ins Ge­
dächtnis eingeschrieben haben sich mir auch die fein­
ziselierten Monotypien ganzer Tiere und dass er sich
mit dem «Himmel» befasst, verwundert im Kontext
seines Interesses nicht.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, alle Kunst
habe mit Forschung zu tun. Im Aargau ist dieses
Thema vielfach diskutiert worden, man denke an Hugo
Suter, Max Matter, Markus Müller usw. Der eine Gene­
ration jüngere Günzburger steht in dieser Tradition,
von Annelise Zwez
Zunächst verneinen wir vermutlich einen Zusammen­
hang zwischen Kunst und Medizin. Indes: Sowohl die
Kunst wie die Medizin arbeiten mit Bildern. Schon
Albrecht Dürer (1471–1528) erkundete den Körper des
Menschen zeichnenderweise; um ihn zu verstehen. Das
macht die Medizin immer noch, aber die digitale Bild­
generierung macht die «Zeichnungen» heute komplex.
Tomografie, Zintigrafie, Ultraschall sind Stichworte.
38
wenn auch am Puls von heute. An «Arts and Medicine»
habe ihn gereizt, mit Menschen in Dialog zu treten, die,
wie er, mit dem Herstellen und Lesen von Bildern
beschäftigt sind, dabei aber auf die wissenschaftliche
Bildinformation fokussiert seien, während ihn das
Entstehen der Bilder an sich interessiere. Er verneint
ein medizinisches Interesse, diskutierte aber mit den
Radiologen intensiv über Bilderscheinung und – zum
Staunen der Ärzteschaft – über Fehlbilder, über Stör­
fälle, die hier «Artefakte» genannt werden. Unregel­
mässigkeiten haben Künstler schon immer fasziniert,
weil sie Erwartetes sprengen.
Die Besucher der Ausstellung im KSA erkennen
schnell, dass ein Objekt zentrale Bedeutung hat, denn
das wächsern anmutende, weisse, kleine Strahlenarte­
fakt wird auf einer grossen, schwarzen, samtenen Konst­
ruktion präsentiert. In der Begleitbroschüre erfährt
man, dass das einem Schneestern ähnelnde Objekt ein
3D-Ausdruck eines «gestörten» Tomografie-Bildes eines
menschlichen Hirns ist. Es materialisiert somit die Form
eines während der Tomografie an einem mikrokleinen
Gegenstand im Hirn (vermutlich Metall) entstandenen
Strahlenkranzes – etwas, das nur in einem Zeit-Bruch­
teil durch die angewandte Bildmethode entstand, aber
faktisch nie existierte.
Spätestens da wird klar, was den Künstler faszi­
nierte, wieso er Zeit investierte, die anspruchsvolle
Umwandlung des Tomografie-Stills in eine für einen
3D-Drucker lesbare digitale Struktur anzugehen und
dabei die noch junge Technik zusammen mit einem
Fachmann auszureizen. Denn der «Juwel» verkörpert
etwas grundsätzlich Nichtexistentes in einer bisher
nie realisierten Erscheinungsform.
Daneben zeigt die Ausstellung «Falschfarben» beti­
telte Malerei. Die Farbverläufe in zusammenhängenden
Hin- und Herbewegungen sind Übersetzungen von
Grauskalen wie sie die Tomografie nutzt, um die Dichte
von Knochen/Gewebe etc. anzuzeigen. Um diese zu
veranschaulichen, ordnen ihnen die Ärzte – und nun
auch Günzburger – Farben zu. Der Austausch zwischen
Kunst und Medizin ist ein wechselseitiger! – Die Arte­
fakte im Hinterkopf, überlagert sie der Künstler mit
schwarzen Lack-Klecksen, als wolle er die Ordnungen
mit dem Potenzial des Unberechenbaren aufladen.
Eingerahmt werden Strahlenartefakt und Falsch­
farben von Pinselstift-Zeichnungen, die im Operati­
onssaal entstandenen auf der einen, die 1:1-Monotypie
eines Operationsmantels auf der andern Seite. Die
Zeichnungen docken an die Tradition der Bild-Kunst
an, zeigen skizzenhaft das emotionale Moment dessen,
was für uns mit Medizin, mit Spital, mit krank und
gesund, mit Leben und Tod zusammenhängt. Der
Mantel mit seinen unterschiedlichen Transparenzen
hingegen nimmt gleichsam die Dichte-Skalen auf und
stellt sie in hintergründige Wechselwirkung zu den
Menschen, die ihn im Operationssaal tragen.
Annelise Zwez lebt als Kunstpublizistin in Twann/Biel.
Bevor sie 1998 ins Bernbiet zog, war sie ab 1972 im Aargau
als Kunstkritikerin tätig.
Bilder von Michael Günzburger:
S. 38: Strahlenartefakt, 2013, 3D-Druck aus Polymer
S. 39: Badge Kantonsspital Aarau, 2013
Michael Günzburger – Besser sehen
Bis 26. Januar 2014
Kantonsspital Aarau, Eingangshalle Hauptgebäude H1
MI, 15. Januar 2014, 19 Uhr
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Matinee: So, 23. Februar 2014, 11 Uhr, Konzert: Samuel Blatter,
ab 13 Uhr Rundreise zu den beteiligten Häuser
Forum: Mi, 12. März 2014, 20 Uhr
Ausstellung an vier Orten: Sankturbanhof Sursee, Stadtmühle Willisau,
Entlebucher Kunstverein, Kunsthaus Zofi ngen
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Hänger, Judith Leupi, Franziska Bieri, Karin Kurzmeyer,
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