PDF - Globetrotter
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Unterwegs durch drei Staaten Europas, von denen es einen gar nicht gibt Text und Fotos: Markus Siegfried und Daniel B. Peterlunger Moldawien? Die meisten raten von einem Besuch ab. Transnistrien? Nie gehört, so die Reaktion im Freundeskreis. Ukraine? Ach ja, soll aussergewöhnlich sein, Orange Revolution und so. In diesen drei kontrastreichen Ländern mit sowjetischer Vergangenheit gibt es viel zu entdecken: bezaubernde Landschaften, eigenartige Sitten, schöne Klöster und – ausser Ludmilla – freundliche und faszinierende Menschen. C hisinau?» Die Check-inAngestellte im Flughafen Zürich fragt stirnrunzelnd: «Wo liegt das?» Fängt gut an. Moldawien liegt in Südosteuropa, die Hauptstadt erreicht man via Wien in zweieinhalb Flugstunden. In Europas Armenhaus – das ist es laut Statistik – leben etwa vier Millionen Einwohner. Was die Medien über das unbekannte Land in Südosteuropa berichten – falls sie etwas melden –, macht nicht Mut: Von mafiösen Strukturen, Korruption, Organexport, Schmuggel und 56 GLOBETROTTER-MAGAZIN sommer 2009 Frauenhandel ist die Rede. Als wäre das noch nicht genug, zeichnet sich Moldawien auch noch durch das vollständige Fehlen touristischer Sehenswürdigkeiten aus. Ein touristisches Unding, ein Alptraum für Touristiker. Also: nichts wie hin! Plattenbauten à discrétion. Noch auf dem Flugfeld des überraschend modernen Flughafens von Chisinau drückt uns die Airline-Angestellte aufmunternd einen Stadtplan in die Hand. Nette Geste. Dann zeigt sie uns den Weg zu den Geldwechslern. Euros wechselt man problemlos in örtliche Lei. Mit dem Stadtplan in der Hand treten wir die dreissigminütige Fahrt ins Stadtzentrum an. In sowjetisch geprägten Städten – Moldawien war bis 1991 Teil der UdSSR – sind die von Plattenbauten gesäumten Strassen meist fadengerade, kreuzen sich in rechten Winkeln, hier und dort stehen martialisch aussehende Heldenstatuen oder andere kommunistisch inspirierte Betonscheusslichkeiten. Das alles macht die Orientierung einfach. So auch in Chisinau. Die Fahrt ist abschnittsweise wie ein Zeitsprung: zurück in die Sowjetunion. Aber auch Neuzeitliches gibts: Wo früher langweilige Schaufenster gähnten, glänzen osteuropa jetzt Werbeplakate für Billigflüge nach Moskau und in die Türkei. Im Zentrum steht das Hotel Chisinau. Geschlossen. Ebenso das grösste Hotel, das National. Seit Monaten wird renoviert, der Eröffnungstermin steht in den Sternen. Doch es ist bereits streng bewacht von Sicherheitsleuten. Unweit des Bahnhofs, beim Reiterstandbild, ragt das Hotel Cosmos imposant zweiundzwanzig Stockwerke hoch in den blauen Himmel. Der sowjetisch inspirierte Hotelname verspricht und hält, was wir erwarten: Rote Teppiche im dunklen Eingangsbereich, ein düsteres Treppenhaus, zwei klapprige Aufzüge und an der Rezeption Natalia, die uns mit einem professionellen Lächeln Schlüssel Nr. 619 überreicht. Er passt zu einem schlichten, aber sauberen Zimmer mit Balkon: Ausblick auf noch mehr Plattenbauten. Rolls-Royce, Gambler und Trainingsanzüge. Samstagabend auf dem grossen Boulevard «Stefan del Mare». Junge Leute und Familien flanieren entlang der Strasse und bewundern die Auslagen neuer Boutiquen, bevor sie einfache Restaurants in schäbigen Nebenstrassen aufsuchen. Im Café Nistru hingegen trinken muskulöse Männer mit Bürstenhaarschnitt Bier und spielen demonstrativ mit den Schlüsseln ihrer falsch parkierten Autos: Vor dem Lokal stehen ein brandneuer Rolls-Royce und ein schwarzer Hummer. Kioske bieten internationale Zigarettenmarken unverschämt billig an: Schmuggelware? Ein paar Schritte weiter bestaunen wettergegerbte Landfrauen in geblümten Kleidern Kosmetikawerbung im Weltformat. Ein Liebespaar schmust vor dem Nationaltheater, das gerade «Romeo und Julia» spielt. Strassenplakate annoncieren ein internationales Dokumentarfilmfestival und die Alt-Pop-Gruppe Uriah Heep. Im orientalisch anmutenden Chisinauer Bahnhof ist die Atmosphäre von Begegnung, Aufbruch und Abschied geprägt. Und von Hoffnung. Frauen verabschieden ihre jungen Männer, die nach Moskau fahren, um dort zu arbeiten. Moldawien leidet unter hoher Arbeitslosigkeit. Die Schaffnerin mit der grossen Mütze drängt zur Abfahrt. Pünktlich soll der Nachtzug losfahren. 60 Franken, 600 Lei, kostet die 28-Stunden-Fahrt in die russische Metropole. In Chisinau ist es dunkel geworden. Umso heller strahlen die Leuchtreklamen der Casinos. Mindestens ein Dutzend gibts. Eines besuchen wir. Das schummrige Plüschdesign betört sofort. An den Spieltischen sitzen schlecht rasierte Männer in Trainingsanzügen und nippen einheimischen Cognac, während sie ihre Jetons setzen. Bardame Eleonora schenkt uns Bier ein. Die 33-jährige Mutter eines Kindes arbeitet hier seit sieben Jahren jede Nacht von 11 Uhr abends bis um 6 Uhr morgens. Sie wohnt zweieinhalb Zugstunden von Chisinau entfernt und verdient etwa 200 Franken monatlich. In Moldawien ein guter Lohn. Doch er reicht nur knapp zum Überleben. Ihr Ehemann ist Chauffeur, aber seit Monaten arbeitslos. Eleonaras Lohn hält die Familie über Wasser. Doch die junge Frau wirkt müde. Aber sie sagt sanft: «Besser diese als gar keine Arbeit.» Hinter ihrem Rücken hängt ein kitschig-schönes Alpenbild. Ob sie manchmal in Gedanken dorthin verreist? «Ein Bier!», ruft ein Spieler. Bevor sie es serviert, flüstert sie uns zu: «Die meisten Spieler sind Polizisten, die hier das Geld verspielen, das sie uns auf der Strasse für irgendwelche Vergehen abknöpfen – selbstverständlich ohne Quittung.» «Niet Foto». Am nächsten Morgen. Ein Morgenessen wie zu Sowjetzeiten: Sauerteigbrot, Fisch, kalte Eier. Dazu lauwarmes Fleisch vom Vortag, Tee, Kaffee und als Krönung Mineralwasser mit Salzgeschmack. Doch Natalias Lächeln an der Rezeption entschädigt für alles. Und sie hat einen Tipp parat: Orheiul Vechi, eine Klosteranlage in einer fantastischen Kalksteinlandschaft, schwärmt sie, sei nur 40 Kilometer entfernt. Natalia verweist uns zur Autovermietung beim Hoteleingang. Öffentliche Busse seien unzuverlässig, meint sie, auf direktem Weg fahre sowieso keiner hin. Automiete also. Eilfertig legt uns Ludmilla, Mitarbeiterin der Mietagentur, einen Prospekt – ihr einziger, wie sie betont – und die Tarifliste vor. Die Preise sind vernünftig. Wir wollen buchen. Ludmilla geht den Autoschlüssel holen. Wir warten. Es dauert. Um uns die Zeit zu vertreiben, fotografieren wir den currygelben Prospekt, nicht ahnend, was das bewirken wird. Endlich kommt Ludmilla zurück. Sie schaut uns kurz an, knallt wutentbrannt den Autoschlüssel aufs Pult, schnappt sich blitzschnell den Prospekt und schnauzt uns an: «Niet Foto!» Wir sind verdutzt. «Ihr kriegt den Wagen nicht!», schreit sie. Wir staunen und fragen weshalb. «Niet Foto!», wiederholt sie, als hätten wir den Lageplan der nicht vorhandenen moldawischen Atomraketen fotografiert und nicht den mickrigen Prospekt, der einen Lada anpreist. Wir entschuldigen uns wortreich. Erfolglos. Ludmilla bleibt hart: «Niet Foto! Niet Car.» Ein klarer Fall. Doch wir wollen es nicht glauben. Dann schiebt sich langsam aus dem Hintergrund der kräftige Mechaniker der Autovermietung heran. Er sagt nichts. Es ist eine Szene wie aus einem schlechten Film: Der Mann guckt wie ein Henker, der seinen Auftrag noch vor dem Mittagessen erledigen will. Sein Blick erleichtert uns die Entscheidung: Abgang. Gerade als wir beschliessen, mit dem öffentlichen Bus zu fahren, begegnen wir Viktor. Er spricht fliessend Englisch und ist von überwältigender Hilfsbereitschaft. Er telefoniert Sowjetische Erinnerung. Hotel Cosmos und Reiterdenkmal in Chisinau (ganz oben). Gastfreundschaft. Prosit im Dorfladen (Mitte). Religion. Die orthodoxe Kirche lebt (unten). mehrmals, erklärt die Lage und findet die Lösung: Eine halbe Stunde später biegt ein Wagen um die Ecke: Viktors Kumpel Igor wird uns fahren. Mit der Verständigung haperts, doch Igor zeigt uns immer wieder Interessantes am Strassenrand, während wir gemächlich Richtung Norden rollen. Durch eine sanfte, grüne Landschaft, die beruhigend wirkt. Bei einem Weiler bieten Bauern Gemüse, Früchte und Wein feil. Anderswo gibts Melonen und Birnen. Dann wieder stille Seen, Wäldchen und kleine Dörfer mit russisch-orthodoxen Zwiebelturmkirchen. Ein schönes Land. 57 Infos zu Moldawien und Transnistrien Grösse Moldawiens: 33 843 km² (inkl. Transnis trien). Damit etwa ein Viertel kleiner als die Schweiz. Einwohner: 4,4 Mio. Beste Reisezeit: Mai bis September. Wetter wie in der Schweiz, aber etwas wärmer. Anreise: Flüge ab der Schweiz mit Austrian Airlines via Wien. Einreise: CH- und EU-Bürger benötigen bis 90 Tage Aufenthalt einen gültigen Pass. Die abtrünnige Provinz Transnistrien erteilt bei der Einreise ein Visum, das jedoch nur einen halben Tag gültig ist. Kostenlose Verlängerung mit Übernachtungsnach weis und Registrierung bei der Polizei. Transportmittel: In Chisinau sind Taxis billig. Sammeltaxis oder Busse verkehren zwischen Städten und Dörfern. Autostopp ist üblich, man wird schnell mitgenommen. In jedem grösseren Hotel gibt es eine Auto vermietung, die billigste im Hotel Cosmos, Kleinwagen für ca. Fr. 50.–/24 Stunden. Ausflug nach Orheiul Vechi mit Sammelbus via Branesti (umsteigen) für ca. Fr 5.– oder mit Taxi Fr. 30.– bis 50.– je nach Verhand lungsgeschick. Unterkunft: Das im Text erwähnte Hotel Cosmos in Chisinau entspricht einem Zweibis Dreisternehotel und kostet Fr. 80.–/DZ. Das Hotel Codru ist das beste Haus in Chisinau, ein DZ gibt es ab Fr. 120.–. In Tiraspol gibt es im Dreisternehotel Hotel Timoty ein DZ ab Fr. 90.– (nur 22 Betten). Es ist das ein zige Touristenhotel der Stadt. Privatunterkunft gibt es ab Fr. 35.– p.P. Hilfreiche Kontaktadressen: Für Transfers, Hotelbuchungen oder Wohnungsvermittlung: Moldawien: www.moldovatour.com; Transnistrien: www.spectrumtravel.md Spezialtipps: Weinfestival in Moldawien, jeweils 2. Oktoberwoche; Restaurant Krikowa in Tiraspol für moldawische und ukrainische Gerichte, grosse Weinauswahl; Cognac Kwint aus transnistrischer Produktion. MOL DAWIEN TR ANSNISTRIEN UKR AINE Orheiul Vechi R U MÄ N I E N Chisinau Tiraspol Odessa 58 GLOBETROTTER-MAGAZIN sommer 2009 Madame Nelly weiss, was war. Kurz vor Orheiul Vechi senkt sich die Strasse in ein malerisches Tal: Hier fliesst in weiten Schlaufen der Fluss Raut. Beim einzigen Hotel checken wir ein, als einzige Gäste. Im Hotelanbau befindet sich eine kleine Ausstellung zur Geschichte von Orheiul Vechi. Madame Nelly, so stellt sie sich vor, ist dafür verantwortlich. Die freundliche Dame ist 33 Jahre alt, im Hauptberuf Lehrerin und spricht fliessend Französisch. Während sich draussen der Himmel verfinstert und es zu regnen beginnt, erzählt sie uns von Moldawiens abtrünniger Provinz Transnistrien im Osten. Plötzlich bricht die Sonne durch und verzaubert die Landschaft. Auf einer Krete steht eine Kirche. Ein Tunnel im Fels verbindet sie mit einer geheimen, unterirdischen Kirche, die den Mönchen als Versteck vor kommunistischen Verfolgern diente. Und vor 2200 Jahren wurde hier auf einem Kultplatz jeweils vor der Aussaat ein archaisches Ritual – Menschenopfer – durchgeführt. Am Wegrand zur Kirche sitzt ein Junge und verkauft selbst gebastelte Tonkirchlein. Das ist bislang der einzige «Souvenirladen» weit und breit. Wie lange noch? Einheimischen ist Orheiul Vechi ein beliebtes Wochenendziel. Die Frauen tragen ihre besten Kleider, wagen sich sogar in High Heels auf den Naturpfad, der zur Kirche hochführt. Männer treten sonntäglich-sportlich an: im Trainingsanzug. Auf dein Wohl, Tribuchan! Ein schöner Wanderweg entlang dem Fluss führt ins 1200-Seelen-Dorf Tribuchan. Es sind bloss zwei, drei Kilometer bis dahin. Aber die dehnen sich, erleben wir doch unterwegs, was moldawische Gastfreundschaft bedeutet. Ein Fischer und ein Bauer laden uns zum völkerverbindenden Umtrunk ein. Ihr selbstgekelterter Weisswein schmeckt wie frischer Sauser. Und wirkt: Angeheitert legt der Bauer einen zirkusreifen Spagat hin. Später treffen wir Jugendliche, die eine Party feiern. Ein weiterer Umtrunk ist Pflicht. Am späten Nachmittag erreichen wir Tribuchan, ein liebevoll gepflegtes Dorf. Die farbigen Ziehbrunnen und schmucken Gärten sind eine Augenweide. Auch die Pferdegespanne, die über die Dorfstrasse holpern. In zwei Dorfläden, angeschrieben mit «Alimentari», begegnen wir freundlichen offenen Menschen. Hier hat man Zeit. Und alle sprechen ein paar Worte Französisch. Kein Wunder, Madame Nelly lebt hier und unterrichtet die Zeitsprung. Die eindrücklichen Begegnungen mit dem beschaulichen Landleben in der Fluss landschaft von Orheiul Vechi versetzen in alte Zeiten (oben). osteuropa Dorfjugend. Drei Jungs führen vor, was sie sonst noch können: Auf einem knatternden russischen UralMotorrad mit Seitenwagen zeigen sie akrobatische Fahrkünste. So überwältigend die Gastfreundschaft der Moldawier ist, umso mehr überrascht das Hotelkonzept in Orheiul Vechi: Um 21.30 Uhr erklärt die Hotelchefin, jetzt sei Schluss, sie und alle Angestellten würden nach Hause, nach Tribuchan gehen, und wir sollen – sil vous plaît – ins Bett. Sie werde das Hotel von aussen schliessen. Gute Nacht. Shopping in Branesti. Punkt 12 Uhr wird eine Marschrutka, ein Sammeltaxi, zurück nach Chisinau fahren, erklärt uns die Hotelchefin beim Frühstück. Noch haben wir etwas Zeit, um durch Reben, Raps- und Rübenfelder zu spazieren und die Ruhe zu geniessen. Dann sind wir bereit. Pünktlich. Eine Stunde später: keine Marschrutka weit und breit. «Am Nachmittag!», beruhigt eine Hotelangestellte und fügt hinzu: «Sagen wir, im Verlauf des Nachmittags oder etwas später.» Wir entscheiden, ins nächste Dorf zu wandern. Kaum unterwegs, rauscht einer der seltenen Traktoren heran und nimmt uns auf dem Anhänger mit. Wind im Gesicht, Staub in den Haaren, freier Blick in die Landschaft – schade, fährt der Traktor nur nach Branesti. Dort soll eine Marschrutka anhalten. Irgendwann, bestimmt heute. Im Dorfladen, betreut von der charmanten Rodia, warten und trinken wir Kaffee, derweil sie uns ihr Sortiment erklärt. Und wir kaufen ein: zwei praktische Tauchsieder und ein Paar Socken aus Russland, eine Tüte Zwieback aus Rumänien, eine grosse Flasche Wasser aus Moldawien, zwei Brötchen aus dem Dorf, zwei Kaffees – macht alles zusammen: fünf Franken. Die Marschrutka trifft ein. Einreisehürden und ein Engel. In Chisinau müssen wir die Lösung für eine reisetechnische Unmöglichkeit finden: Wir wollen einen Staat besuchen, den es offiziell gar nicht gibt, der aber grosszügig und kostenlos Visa ausstellt. Bloss sind sie nur einen halben Tag Plattenbau. Autorenunterkunft in Tiraspol (oben). Schwere Jungs. «Ural», die Motorradlegende mit Seitenwagen (unten links). Dorfidylle. In Tribuchan scheint die Welt noch in Ordnung zu sein (unten Mitte). Unterwegs. Marschrutka heissen die Kleinbusse in Moldawien (unten rechts). lang gültig. Kein Witz. Die Statistik von Transnistrien – dies die übliche Bezeichnung des «Staates» – registriert jährlich 40 touristische Besucher. Immerhin. Seit dem blutigen Konflikt von 1991/92 deklariert sich die von Moldawien abgespaltene Ostprovinz, in der eine halbe Million Menschen lebt, als PMR, als Pridnestrovje Moldauische Republik. Sie ist von keinem einzigen anderen Staat anerkannt. Was also müssen wir tun, um diese Republik länger als einen halben Tag zu besuchen? Dank dem Internet kommt der Kontakt mit der transnistrischen Agentur Spectrum Travel zustande. Eine Lilly Beltek mailt: «Zum Visum: kein Problem. Sie müssen, weil alle Hotels voll sind, eine Wohnung mieten, dann wird das Visum verlängert. Wie immer kostenlos.» Na also, geht doch. Eine Zweitwoh- nung in Transnistrien war schon immer unser Traum. Wir antworten sofort: «Danke, bereiten Sie bitte den Mietvertrag vor. Wir bleiben zwei Nächte. Geht das?» Lilly muss ein Schutzengel für Reisende sein, sie mailt: «Okay, ich erwarte Sie an der Grenze.» Leichten Herzens verlassen wir unser Chisinauer Hotel, um ein Taxi zu finden. Transnistrien, Land der schönen Zweitwohnungen. An der Grenze gilt ein striktes Foto- grafierverbot. Umso heftiger wird im Landesinnern fotografiert: nämlich für die Pässe der Transnistrier, die jeweils drei Porträts unterschiedlichen Datums enthalten müssen – laut Vorschrift. Damit ist der Alterungsprozess des Passinhabers auf einen Blick ersichtlich. Fälschungssicher! Schönheitsoperationen sind hier noch nicht im Schwang. Nach den Grenzformalitäten, ja, es ist als hätten wir eine «normale» Landesgrenze überquert, rollen wir über die Brücke des Grenzflusses Dnjestr. Auf der Einfallstrasse in die Hauptstadt Tiraspol erreichen wir innert Minuten Südosteuropas modernstes Fussballstadion. Das 2002 gebaute Sheriff-Tiraspol mit Rasen- 59 Odessa. Am früher einmal geschäftigen Hafen der Schwarzmeermetropole (oben). Transnistrien. Ideologisch näher bei Russland als bei Moldawien (unten links). Wertvoll. Juri zeigt die Kirchenschätze des grössten Klosters Transnistriens (unten rechts). heizung bietet 13 000 Zuschauern Platz. Genug Sitze für die russische Friedenstruppe, die in Transnistrien stationiert ist. Tiraspol wirkt herausgeputzt, sauber. Leninstatuen, Panzerdenkmale, Plattenbauten – ein Open-Air-Sowjet-Museum. Das neue FastFood-Restaurant Andys Place setzt einen Kontrastpunkt. In einer Papeterie können wir 60 GLOBETROTTER-MAGAZIN sommer 2009 Geld wechseln. Das Land hat eine eigene Währung: Rubel. Auch schöne Briefmarken gibts. Aber keinen Postversand. Briefe werden über die Grenze nach Moldavien gebracht und von dort verschickt. Wir treffen Lilly Beltek, unseren Reiseschutzengel. Sie führt uns zu unserer Mietwohnung in einem der hässlichsten Plattenbauten der Stadt. Der Wohnblock besitzt zwölf Eingänge. Alle sind sich zum Verwechseln ähnlich. Hausnummern gibts keine. Im Treppenhaus zur Wohnung 606 ist es dunkel. Die Wohnungstüre ist eine lederbezogene Mehrfachtüre, die mehrere Schlösser sichern, wie es in Plattenbauten sowjetischer Machart üblich ist. Die Dreizimmerwohnung ist frisch renoviert und sehr wohnlich, die Küche sehr gut ausgestattet. Wir sind angenehm überrascht: Besser als ein Dreisternehotel! Und da wir jetzt eine Adresse haben, steht einer Visumsverlängerung nichts mehr im Wege. Oder fast nichts. Engel Lilly instruiert uns, was wir auf dem Immigrationsbüro sagen sollen und was nicht – nachdem sie fünfmal alleine reinging und fünfmal mit neuen Regeln rauskam. Doch es klappt. Im Quartiersupermarkt kaufen wir ein und lernen dabei Alexej kennen. Der Dozent der Tiraspoler Universität ist überrascht, Ausländer anzutreffen. Auf Englisch erzählt er uns, wie es hier so läuft: Es gäbe eine mafiaähnliche Organisation, den Sheriff-Clan. Das Firmenkonglomerat Sheriff kontrolliere nahezu die ganze Wirtschaft des 500 000-Seelen-Staates und auch die Politiker. Sheriff besitzt TV-Stationen, Fabriken, Import-Export-Firmen, Handynetze, Tankstellen, den Internetzugang, einfach alles. Eine kleine Elite teile sich Macht und Geld, sagt Alexej. Die osteuropa Mehrheit der Einwohner müsse mit tiefen Löhnen auskommen, die gerade zum Überleben reichen. Er träumt davon, an einer Universität in Deutschland oder in der Schweiz zu lehren. Hier, in diesem eigentlich nicht existierenden Staat, sieht er für sich keine Zukunft. «Haben Sie das supermoderne Sheriff-Tiraspolstadion gesehen?», fragt er. Wir bejahen. «Eigenartig, dass das Stadium zugleich Mercedes-Hauptsitz ist», meint er schmunzelnd und verabschiedet sich schnell, als ein Mann sich in unsere Nähe stellt. Unser Nachhauseweg führt am Nachtclub Plasma vorbei. Sein Eingang ist ein Schilderwall: Verboten sind Hunde, Messer, Pistolen, Flaschen, Pfefferspray, Boxhandschuhe. Und eine Gesichtskontrolle gibts auch. Wir dürfen rein. Keiner drin. Alle ausgefiltert? Derweil ist vor dem Eingang eine junge Frau mit zwei Pferden eingetroffen, die sie für nächtliche Stadtausritte vermietet. «Das Geschäft läuft nicht schlecht», sagt sie. Juri, Hüter der Kirchenschätze. Mit öf- fentlichen Verkehrsmitteln, Trolley- oder Minibussen, erreicht man jedes Ziel innerhalb der Stadt oder in der näheren Umgebung. Fünf Kilometer südlich Tiraspols liegt das Kistkany, das grösste Kloster Transnistriens. Mit dem Minibus fahren wir hin. Das Klostertor steht offen. Drinnen empfängt uns freundlich Juri, ein Mönch. In einem Sprachmix aus Russisch, Italienisch, Lateinisch und Französisch, gespickt mit ein paar Brocken Englisch, erzählt er uns begeistert von seinem Kloster. Alles will er uns zeigen. Einfach alles. Er redet ohne Pause. Als ob er erst gestern ein zehnjähriges Schweigegelübde beendet hätte. Er führt uns durch den schön bepflanzten Innenhof zu drei unterschiedlichen Kirchen: russische, griechische und moldawische Architektur. Beeindruckend. Das Innere der 140-jährigen Kirchen ist prachtvoll. Renoviert mit Geld aus der Schatulle des Patriarchen von Odessa im Nachbarland Ukraine. Zwölf Mönche leben hier, die Akademie wird gerade ausgebaut. «Die Kirche spürt Rückenwind», meint Juri und treibt uns auf den 68 Meter hohen Glockenturm. Der Blick reicht weit ins grüne Land: bis zur moldawisch-transnistrischen Grenze. Wieder unten schliesst Juri eine Kammer auf und zeigt uns seine Schätze: Ikonen aus dem 17. Jahrhundert, noch ältere Bibeln und reich verzierte Kreuze. Juri strahlt. Und wir müssen weiter, in die Ukraine. Zwei Tage sind zu schnell vorbei. Am Stadtausgang von Tiraspol tankt unser Taxifahrer bei einer neuen, schneeweissen Zapfstelle. Wir wollen das Bijou fotografieren. «Njet Foto!», ruft der Tankwart. Die Tankstelle ist angeschrieben: Sheriff Petrol. Epilog in der Ukraine. Bloss 102 Kilometer sind es bis Odessa. Die gute Strasse führt durch flaches Land mit saftig gelben Rapsfeldern. Streckenweise folgt sie einer nicht mehr benutzten Eisenbahnlinie, die am Schwarzen Meer endet. Je näher wir Odessa kommen, desto staubiger sind die Strassen, desto mehr Verkehr gibts, die Luft wird stickig. Wo weht die Schwarzmeerbrise, die schon Dichter besangen? Dann sind wir da, mitten in der Stadt. Der Kontrast zum bisher Gesehenen könnte grösser nicht sein: Die Stadtverwaltung hat viel Geld in die Renovation der alten Kulturpaläste gesteckt. Die herausgeputzten Fassaden vermitteln das Flair einer sich rasch wandelnden Kulturstadt. Aber die teuren Geschäfte an der piekfeinen Prachtstrasse bieten dieselben Markenprodukte an wie jede Stadt an der nördlichen Mittelmeerküste. Doch bloss ein paar Strassenzüge weiter sieht es aus wie auf Bildern aus dem Zweiten Weltkrieg: baufällige, teilweise eingestürzte Häuser mit grauschwarzen Fassaden. Unten im Hafen jedoch, da liegen glänzende, moderne Millionärsyachten. Eine Kunstgalerie am Wasser trumpft mit surrealen Gemälden auf. Auf einer Pier treffen wir einen braungebrannten Seemann, Nikolaj. «Früher lagen hier 350 Schiffe, Frachter, Fähren», sagt der Sechzigjährige, der sein ganzes Arbeitsleben mit Schiffen verbrachte. «Heute gibts hier kein einziges anständiges Schiff mehr. Alles wurde ins Ausland verhökert!» Mit resignierter Miene fügt er hinzu: «Dafür haben wir jetzt Demokratie!» Am Nachmittag findet im Stadtzentrum eine Kundgebung statt: Es ist Europatag. Studenten blasen blaue Ballone mit gelben Sternen auf. Aus Boxen dröhnt fetzige Musik. Dann erklingt die ukrainische Nationalhymne: Jetzt stehen alle stramm, auch die Gäste in den Strassencafés. Odessas Jugend träumt bei Rockmusik von einer europäischen Zukunft, von der EU. Nicht nur sie, viele Ukrainer fühlen sich Europa näher als Russland. Mit Blick auf das tiefblaue Schwarze Meer lassen wir die grünen Hügel Moldawiens, das absurde Transnistrien und die Menschen, denen wir begegneten, vor dem geistigen Auge Revue passieren: so viel Unterschiedliches, so viele Gegensätze auf kleinstem Raum! Es kommt uns vor, als wären wir monatelang unterwegs gewesen – und doch reisten wir bloss sechs Tage lang durch einen so nahen und doch so fernen, unbekannten Teil Europas. [email protected] [email protected] © Globetrotter Club, Bern Kloster. Aussicht vom hohen Glockenturm aufs Hinterland von Tiraspol (links). Mahnmal. Sowjetpanzer erinnern an kriegerische Zeiten (unten Mitte). EU. Die ukrainische Jugend träumt von einem Beitritt (ganz unten). 61