Grundkurs Deutsche Literatur, 6. Stunde Zur formellen Analyse von
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Grundkurs Deutsche Literatur, 6. Stunde Zur formellen Analyse von
Grundkurs Deutsche Literatur, 6. Stunde Zur formellen Analyse von Gedichten I 1. Metrum, Versfuß Die Metrik (Verslehre) untersucht den taktmäßig-rhythmischen Bau der gebundenen dichterischen Sprache. Mit dem Metrum (Versfuß) ist die Zahl und Folge von betonten Silben (Hebungen) und unbetonten Silben gemeint. Das Metrum (der Versfuß) stellt die kleinste metrische Einheit dar. Unten steht das Zeichen - für eine Hebung und das Zeichen ᴗ für eine Senkung. Die wichtigsten Metren sind die folgenden: ᴗ- Jambus: „Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!“ (J. W. Goethe: Willkommen und Abschied) -ᴗ Trochäus: „Sah‘ ein Knab ein Röslein stehn [...]“ (J. W. Goethe: Heideröslein) ᴗᴗ- Anapäst: „Wenn die Grasblüte stäubt von der winzigen Spindel […] (Elisabeth Langgässer: Panische Stunde) -ᴗᴗ Daktylus: „Herz nun so alt und noch immer nicht klug […] (Friedrich Rückert: Herbsthauch) Anapäste und Daktylen treten selten in reiner Form auf. Außerdem kann ein Vers mit einem Auftakt beginnen. Es lacht in dem steigenden jahr dir Der duft aus dem garten noch leis Flicht in dem flatternden haar dir Eppich und ehrenpreis. (Stefan George: Das Jahr der Seele) Metrisches Schema der Anfangsverse: ᴗ - ᴗ ᴗ - ᴗ ᴗ - ᴗ ᴗ-ᴗᴗ-ᴗᴗZwei Möglichkeiten: a) Auftakt + 2 Daktylen + 1 Trochäus (zweite Verszeile mit unvollständigem Trochäus) b) Jambus + 2 Anapäste + Zeilensprung (Enjambement) Rhythmik und Gesamtgestimmtheit verweisen eher auf die zweite Alternative. Das Metrum sagt nicht alles über die rhythmische Bewegung aus, d. h. gleiches Metrum bedingt nicht immer denselben Rhythmus. Zu beachten sind ferner Akzente (Einzelbetonungen), Pausen (Zäsuren), Tempo, Klangfarbe, Sprachmelodie. J. W. Goethe: Wandrers Nachtlied II (Ein Gleiches) Über allen Gipfeln Ist Ruh’, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch. 2. Versausgänge Endet die Verszeile mit einer betonten Silbe (einer Hebung), sprechen wir von einem männlichen Versausgang. Ein Versausgang, der mit einer unbetonten Silbe (einer Senkung endet) heißt weiblich. Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden Was dieser heute baut, reist jener morgen ein: Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese sein auf der ein Schäfers Kind wird spielen mit den Herden. […] (Andreas Gryphius: Es ist alles eitel) Versausgänge hier: weiblich – männlich – männlich – weiblich 3. Reimschemata aabb abab abba abcabc aab ccb aba bcb cdc = Paarreim = Kreuzreim = umarmender Reim = verschränkter Reim = Schweifreim = Kettenreim 4. Versgestaltung Durch regelmäßige Reihung verschiedener Versfüße entsteht ein Vers. Der Vers in dem obigen Gedicht von Gryphius ist ein Alexandriner (er tauchte erstmals in den mittelalterlichen französischen Alexander-Epen auf). Im Deutschen tritt der Alexandriner als sechshebiger Jambus mit männlichen (12-silbig) oder weiblichem (13-silbig) Versausgang in Erscheinung. Häufig mit einer Zäsur (Pause) in der Mitte. Der Alexandriner wurde in der Barockliteratur auch im Drama gepflegt. Abgelöst wurde er hier vom Blankvers (von engl. blank verse, fi. silosäe). Der Blankvers ist ein ungereimter fünfhebiger Jambus, der männlichen oder weiblichen Ausgang haben kann: So seid Ihr es doch ganz und gar, mein Vater? Ich glaubt‘, Ihr hättet Eure Stimme nur Vorausgeschickt. Wo bleibt Ihr? Was für Berge, Für Wüsten, was für Ströme trennen uns Denn noch? Ihr atmet Wand an Wand mit ihr, Und eilt nicht, Eure Recha zu umarmen? (G. E. Lessing: Nathan der Weise) Der Blankvers klingt flüssiger und geschmeidiger als der ältere Alexandriner. Zum Eindruck der Flüssigkeit tragen u. a. Enjambements (sog. Zeilensprünge) bei (oben Zeile 2–3, 4–5), das heißt der Satz setzt sich über das Zeilenende hinaus fort und endet erst in der nächsten Zeile. Unter den aus der Antike übernommenen Versen sind der Hexameter und der Pentameter für die deutsche Literatur wichtig geworden. Der deutsche Hexameter ist ein ungereimter, mit einer betonten Silbe beginnender Sechsheber mit ziemlich freier Versfüllung, d. h. er kann sowohl eine als auch zwei Senkungen pro Hebung aufweisen, doch hat er nach der fünften Hebung fast immer zwei Senkungen, und er endet in der Regel weiblich: Nun erhob sich Achilleus vom Sitz vor seinem Gezelte, Wo er die Stunden durchwachte, die nächtlichen, schaute der Flammen Fernes schreckliche Spiel und des wechselnden Feuers Bewegung, Ohne die Augen zu wenden von Pergamos‘ rötlicher Feste. (J. W. Goethe: Achilleis) Der Pentameter ist in scheinbarem Gegensatz zu seinem Namen (gr. penta = ‚fünf‘) ebenfalls ein Sechsheber. Sein charakteristisches Merkmal ist, dass die dritte und vierte Hebung unmittelbar aufeinander folgen: Straßen, redet ein Wort! Genius, regst du dich nicht? (J. W. Goethe: Römische Elegien I) Im Gegensatz zum Hexameter, der der klassische Vers des Epos ist, kommt der Pentameter kaum allein, sondern nur in stetem Wechsel mit dem Hexameter vor; beide bilden zusammen ein Distichon. Das Distichon ist häufig der Grundvers einer Elegie (siehe unten) oder eines Epigramms: Verschiedene Dressuren Aristokratische Hunde, sie knurren auf Bettler, ein echter Demokratischer Spitz kläfft nach dem seidenen Strumpf. (J. W. Goethe) Eine durchaus deutsche Versart ist der Knittelvers. Er trägt seinen Namen (Knittel = ‚Knüppel‘, ‚grober Stock‘), weil er urwüchsig und gar ein wenig holprig und ungehobelt wirkt. Der Knittelvers ist ein Vierheber, bei dem Hebungen und Senkungen regelmäßig wechseln; er ist paarig gereimt. Es kommt häufig zu Tonbeugungen, d. h. eine in der natürlichen Wortbetonung unbetonte Silbe wird metrisch betont, eine natürlich betonte bleibt metrisch unbetont. Eins abents ich spaciret auß Auff ein schlafftrunk in ein wirtshaus, [...] (Hans Sachs: Die 7 clagenden mender) Anfangsmonolog des Faust in Goethes Drama Faust I: Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh' ich nun, ich armer Tor, Und bin so klug als wie zuvor! Der Madrigalvers ist sehr frei gestaltet; er kann zwei-, drei-, vier, und fünfhebig; jambisch, trochäisch oder auch daktylisch sein, doch lassen sich solche Metren immerhin noch erkennen. Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen; Ihr durchstudiert die groß‘ und kleine Welt, Um es am Ende gehen zulassen, Wie’s Gott gefällt. (Mephistopheles in der Universitätssatire in Faust I von Goethe) Die zweite Zeile reimt sich hier auf die vierte, aber die letztere ist von überraschender Kürze. Dadurch wird der scharfe Witz des Mephistopheles (des Teufels) veranschaulicht. Der freie Rhythmus hingegen lässt überhaupt kein Metrum mehr erkennen und ist ungereimt. Etwa in dem Gedicht Prometheus von J. W. Goethe, ein Gedicht aus seiner Sturm-und Drang-Zeit: Bedecke deinen Himmel, Zeus, Mit Wolkendunst! Und übe, Knaben gleich, Der Disteln köpft, An Eichen dich und Bergeshöh'n! Mußt mir meine Erde Doch lassen steh'n, Und meine Hütte, Die du nicht gebaut, Und meinen Herd, Um dessen Glut Du mich beneidest. Ich kenne nichts Ärmeres Unter der Sonn' als euch Götter! Ihr nähret kümmerlich Von Opfersteuern Und Gebetshauch Eure Majestät Und darbtet, wären Nicht Kinder und Bettler Hoffnungsvolle Toren. Da ich ein Kind war, Nicht wußte, wo aus, wo ein, Kehrt' ich mein verirrtes Auge Zur Sonne, als wenn drüber wär Ein Ohr zu hören meine Klage, Ein Herz wie meins, Sich des Bedrängten zu erbarmen. Wer half mir Wider der Titanen Übermut? Wer rettete vom Tode mich, Von Sklaverei? Hast du's nicht alles selbst vollendet, Heilig glühend Herz? Und glühtest, jung und gut, Betrogen, Rettungsdank Dem Schlafenden dadroben? Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert Je des Beladenen? Hast du die Tränen gestillet Je des Geängsteten? Hat nicht mich zum Manne geschmiedet Die allmächtige Zeit Und das ewige Schicksal, Meine Herren und deine? Wähntest du etwa, Ich sollte das Leben hassen, In Wüsten fliehn, Weil nicht alle KnabenmorgenBlütenträume reiften? Hier sitz' ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, weinen, Genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich! Bei freien Versen kann die Versgestaltung besonders bedeutsam sein, weil sie an keine „Regeln“ gebunden ist: Einer wird den Ball aus der Hand der furchtbar Spielenden nehmen. (Nelly Sachs: Einer wird den Ball)