Rodrigo García Picknick auf Golgatha
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Rodrigo García Picknick auf Golgatha
Rodrigo García Picknick auf Golgatha (Originaltitel: „Gólgota Picnic“) Aus dem Spanischen von Klaus Laabs (c) henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2013. Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle Medien. Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH Alte Jakobstraße 85/86 10179 Berlin [email protected] Tel.: 030 - 4431 8888 TEXT DES EINVERNEHMENS – Text der Gebote Wahrlich, ich sage euch, wer keinen Sinn für Humor hat, versteht nichts vom Leben Wer nicht über die Ideen der Anderen staunen kann, weiß nicht das Leben zu nehmen, wie es ist Der Sturz ist sanft, ich bin es, der stürzt, ich kann den Moment des Sturzes bestimmen, und ich kann ihn unendlich ausdehnen Zwischen den Wolken lasse ich es mir gut gehen Ich will die Erde nicht betreten Chaos säen kann ich nicht: Das habt ihr schon getan Die Erde mit Waffen bestücken kann ich nicht: Das habt ihr schon getan Ihr könnt nicht von mir lernen, wie man kleine Kinder fickt: Das habt ihr schon getan Ihr könnt nicht von mir lernen, wie man durch Hunger tötet: Das habt ihr schon getan Ich kann die Obszönität nicht steigern, ihr würdet mich auslachen und sagen: Das können wir schon Ihr könnt nicht von mir lernen, wie man ganze Dörfer und Städte von der Landkarte ausradiert, ihr könnt nicht von mir die Techniken lernen, mit denen man einen Holocaust zu Ende bringt: Das habt ihr schon getan Ihr könnt nicht von mir lernen, wie man Bomben vom Himmel wirft und so die Erde beben lässt: Das habt ihr schon getan Ich kann euch keine neuen Seuchen schicken, ich kann nicht meine Zeit damit vergeuden, als Feuer, Plage und Auslöschung vom Himmel zu stürzen, um euch zu peinigen: Das stellt ihr selbst schon ganz gut mit euch selbst an Ahmt meinen Sturz nach, macht ihn wie ich Springt in die Leere der Stille und der Einsamkeit und genießt die Andacht Ergebt euch der Ekstase des Alleinseins Man sagt, dass der böse Geist als gefallener Engel zur Erde herabkommen wird, um die Menschen weiter zu verwirren. Darauf könnt ihr aber lange warten, ihr werdet sehen, das passiert nie Ich sage euch nicht, springt aus dem Fenster. Ich sage euch, springt in euch selbst hinein, genießt den Absturz, und lasst euch dabei von niemandem stören Die Einsamkeit ist das Einzige, was ihr sicher habt ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’ hat nichts gebracht, das war nur, um von den schlimmsten Gräueln abzulenken, ich sage euch: Nehmt voreinander Reißaus Das sage ich euch bei meinem Sturz ohne Ende, der mein Platz auf der Welt und mein Zustand der Gnade ist, meine Erfüllung 5 Dies sind die Worte des gefallenen Engels Glücklich die, die auf dem Asphalt zerschellen oder unter die Straßenbahn kommen. Mein Fall endet nie. Meine Marter berührt nie den Grund Der Sturz geschieht in einem Abgrund im Innern. Der Sturz ist eine Art Aufbrausen, eine Art Lossprudeln. Wie eine Welle, auf der sich Gischt bildet Die Gischt scheint das Feuer in uns zu löschen. Das Aufschäumen spritzt alles voll, verflüssigt sich und ergießt sich Dreißig Minuten Maximalfeuer, und alles verdampft. Das ist der Ursprung des Mysteriums Wie lange noch? Bis an unserem tiefsten Grund nichts mehr zu verbrennen ist Es wird morgens um sechs Uhr zehn sein – mir gefällt der Gedanke, mit dem beginnenden Tag zu verlöschen –, wenn der Puls zu schlagen, zu verdampfen aufhört, das aufgelöste Fleisch klebt schon am Topfboden, der Geruch bleibt an der Decke hängen, an den Tischbeinen, an den Tapeten und das Feuer gibt sich alle Mühe der Welt, den Boden eines leeren Suppentopfs durchzubrennen Der Topf wird schwarz Wer zeigen will, dass er bereit ist, der soll sich trauen und den Topf mit den Händen ergreifen Ich habe ein Gedicht, um es denen zuzuflüstern, die nicht zuhören: Eine Bürde, die nicht lastet. Ein Stein, der nicht verwittert. Ein lautloses Getöse. Ein unsichtbarer Glanz. Eine gebremste Höchstgeschwindigkeit. Weisheit ohne Titel. Hoffnungslose Hoffnung. Lückenhafte Vollständigkeit. Eine Schnulze, die eine Schnulze sein will. Der Grund des in die Erde gegrabenen Lochs. Ich habe den Tag heute als Aufzählung von Schnittpunkten, von Winkeln verstanden. Ein Gedicht für dich, wenn du nicht zuhörst. Ich bin keiner Versprechungen würdig und erst recht keiner Hoffnungen. Ich lasse Andere die Versprechungen machen und Andere sie nicht halten Wenn sie mir mit dem klassischen „das ist versprochen“ kommen, halte ich den Mund und überlasse denen, die etwas versprechen, die titanenhafte Anstrengung, das Versprechen zu erfüllen, und die unvermeidlichen Ausreden, nachdem sie es gebrochen haben Das Versprechen ist, wo ich nicht sein will: die Zukunft Rechnet nicht mit mir für die Zukunft 6 Man verspricht sich ewige Liebe, wie man in der Autowerkstatt Blechschäden repariert Hoffnungen sind etwas Anderes. Hoffnungen stelle ich nur für den persönlichen Gebrauch her Ich mache sie nie öffentlich: Sich eines Wunschtraums bewusst werden heißt seiner in uns selbst Herr werden Wenn ich einen Wunschtraum in mir trage, will ich nicht, dass er ans Tageslicht kommt, ich hüte mich davor, den Mund aufzumachen Ich habe alle möglichen Hoffnungen angezettelt: Ich habe sie durch Rauchzeichen verkündet, an die Wand gepinnt oder angeklebt Ich habe sie aufgeschrieben und um sie herum komplexe Theorien erfunden, ich habe sie geträumt – was am vulgärsten ist, das Schlimmste, was man mit einem Wunschtraum tun kann, ist, ihn auf die Höhe der Träume zu heben, weil die Träume eine nicht enden wollende Kette von Feigheiten sind: Wer träumt, handelt nicht – ich habe sie miteinander verknüpft, manchmal verflüssigt und sie sogar in den Ofen gesteckt Stets war das Ergebnis ein kleines Fiasko Nicht, dass ich es ein Scheitern nennen würde, das Wort ist zu groß dafür Nicht, dass ich etwas Endgültiges wie das Scheitern auf eine Stufe mit einem Hirngespinst von Hoffnung stellen würde Weder Scheitern noch Hoffnung haben das verdient Sehnsüchten gebe ich mich im Privaten hin, und dann stellt sich heraus, dass ich nicht die Werkzeuge dazu habe, sie Wirklichkeit werden zu lassen Bald gibt es keine Feinde mehr. Wir werden Ruhe und Gleichheit haben Wir werden in Übereinstimmung leben. Wir werden an Gleichwertigkeit glauben. Wir werden alle zueinander passen. Wir werden alle zusammenhalten. Am Ende werden wir Sklaven sein Es ist keine falsche Bescheidenheit, wenn ich sage, es fehlt mir an einem unverwechselbaren Timbre in der Stimme, oder an einer charakteristischen Art, wie ich mich bewege, oder an einem wiedererkennbaren Stil, wie ich mich kleide, oder an einer Art zu sprechen, die nur mir eigen ist Mein Mangel an Persönlichkeit ist so schwerwiegend, dass man nicht einmal sagen könnte, das Charakteristikum meiner Persönlichkeit wäre mein Mangel an Persönlichkeit Ich habe zu Hause keine Spiegel. Und wenn ich in ein Hotel komme, nehme ich alle Spiegel von der Wand und drehe sie um, und die man 7 nicht abnehmen kann, verhänge ich mit einem abgetragenen T-Shirt oder mit alten Zeitungen. Die kleine Dicke, die bei mir nebenan wohnt, geht regelmäßig joggen, jeden Sonntag um neun, doch die Natur ist gnadenlos, die Dicke kriegt kein Gramm Fett runter, sie versaut sich nur die Sonntage, indem sie den ganzen Vormittag im gelben Jogginganzug im Park Runde um Runde dreht und dabei scheiß Musik hört mit einem wunderbaren Apparat: Dank mp3 kann man laufen wie blöd, ohne dass die Lieder darunter leiden Du kannst Schubert hören, ohne dass Schubert etwas passiert, und wenn du noch so lange durch die öffentlichen Parks trottest und dir dabei die Ohren mit Schubert zustopfst Die Leute suchen sich aber was Anderes aus, wenn sie joggen gehen; sie suchen sich Ich steh auf Benzin aus oder irgendwelchen anderen Schrott, der den Rhythmus vorgibt Ich habe mich mal sechsmal hintereinander im Auto überschlagen, mit der festen Absicht auszuprobieren, ob Bachs Matthäuspassion das aushält Es regnete in Strömen, und im Radio lief die Passion Ich verlor die Kontrolle über den Wagen und raste direkt auf die Betonstreben zu, die die beiden Fahrtrichtungen der Autobahn voneinander trennen, dann überschlug ich mich, als würde mich der leibhaftige Teufel auf dem Spieltisch auswürfeln, und die zerborstenen Autofenster prasselten auf mich nieder wie der Regen zu Jakobi Mit dem Fuß trat ich auf die Bremse, mit einer Hand hielt ich das Lenkrad fest, mit der anderen versuchte ich, mir das Gesicht abzudecken, damit die Splitter von der Frontscheibe nicht einen Schweizer Käse aus meinen Lippen machten, mit dem linken Ohr hörte ich, wie sich auf dem Rücksitz mein Labrador beschwerte, und mit dem rechten lauschte ich andachtsvoll der Matthäuspassion. Kein Ton entging mir Der BMW- und der Daimlertechnologie sei gedankt, dass wir im Auto keine CDs mehr mitnehmen müssen Bei einem mp3-Player kann man einen Frontalzusammenstoß haben oder in eine Schlucht stürzen, ohne dass man befürchten muss, dass 8 das Lied aus der Rille springt, man kann es Note für Note verfolgen, man kann es mitträllern oder pfeifen, erhaben steigt das Lied zu dir auf Dann passierte bei meinem Autounfall das Unvorhersehbare, ehrlich gesagt, mit dem Feuer hatte ich nicht gerechnet Als das Auto zu brennen anfing, als es brannte wie diese Pillen, die die Leute in Madrid oder Paris kaufen, um Grillkohle damit anzuzünden – die Großstädter haben keine Ahnung, wie man Feuer macht mit ein paar Stöcken und Papier und einem Feuerzeug –, als der Wagen also brannte wie diese Pillen, die sie bei Leroy Merlin verkaufen, fing die Matthäuspassion zu schmelzen an, und in Nullkommanichts war die Party vorbei Kurz darauf hatte ich als Musik das Gejaule von meinem Hund auf dem Hintersitz und das Feuergeprassel Wobei, in diesem Fall gab es gar kein Feuergeprassel, sondern stattdessen den entzückendsten Klang, den ich in meinem Leben gehört habe, den Klang des Fiebers Der hörte sich so an wie ein Kontrabass aus der Ferne Die Flammen waren Fieber und Krach zugleich, sie waren kein Brennen, sondern das, was man die Hitze des Gefechts nennt, die Glut der Leidenschaft Da begriff ich, weshalb mich dieses Inferno von Bruder Angelico, das ich in Florenz öfters gesehen hatte, immer so aufwühlte Ich hörte die Musik des Gemäldes und verspürte, wie seine Hitze auf meiner Haut brannte Es war eine angenehme Hitze, die mich dabei überkam Ich war schon drauf und dran, im Feuer einzuschlafen, als mir der Gedanke kam, in Nullkommanichts würde sich auf der Straße ein Rettungswagen zeigen, und das kotzte mich an. Es ging mir so was von auf die Eier, dass ein Rettungseinsatz unterwegs war Ich hatte Visionen – und wie sollte ich auch keine haben, wenn zu diesem Zeitpunkt des Unfalls mein Schädel gebrochen war und die Autositze und meine Klamotten in dieses Dunkelrot gefärbt waren, das niemand so malen will, wie es ist – Ich sah, wie die Feuerwehrleute und die Sanitäter meinen Körper aus dem brennenden Autowrack herauszogen, wie sie die Flammen mit riesigen Feuerwehrspritzen bekämpften und mich von dem Schrotthaufen wegbrachten, nackt, angekohlt, blutüberströmt Ein Festival der Farben auf meinem Körper Ich sah mich selbst im Mittelpunkt der Kreuzabnahme von Roger van der Weyden, um mich herum Typen mit Geräten, mit denen sie mich aus dem Autoblech schnitten 9 Und ich sah mich anstelle des Christus von Rubens, als das Kreuz aufgerichtet wird, als ein paar bärenstarke Kerle, denen Gott kalt am Arsch vorbeigeht, auf Golgatha das Kreuz aufpflanzen, dieses schwere Holzteil Und ich sah, wie später mein Leichnam abgenommen wurde, die Haut grau oder grün, wie Mantegna sie malen würde, die Kamera auf die Füße gerichtet, und wie sie später in dem Twin Peaks-Film aussehen würde, wenn man den Leichnam von Laura Palmer im Leichenschauhaus sieht Und natürlich ist da auf dem Rubens-Bild dieser Hund Der allgegenwärtige Hund von Rubens Der universale Köter Der Hund, der Bescheid weiß Der Erzählerhund Der Erklärerhund Der Feuerwehrhund Der Hofmalerhund Der listige Hund Das verschmitzte Hündchen Der treue Freund Der Hund, der sein Frauchen und ihre Freundinnen fickt Das Fickhündchen von Rubens Der Dödelhund Rubens nannte seinen Hund Dödelhund oder Fickhund Auf dem ganzen riesigen Rubens-Bild, auf dem sich starke Männer, dicke Frauen, Pferde, Kinder und Christus tummeln, ist der Hund der Einzige, der nie jemanden verraten hat Es ist ein Bild, das von Verrat und Betrug erzählt, weshalb die Hauptfigur der treue Hund ist Die Hauptfigur auf dem Kruisoprichting ist Rubens, der den Hund für sich sprechen lässt Wenn du genau hinsiehst, befindet sich die Hälfte der Pfote außerhalb des Bildes, sie befindet sich im Atelier des Malers Der Hund geht auf Abstand, er kommt mit rein ins Bild, um ein paar Retuschen vorzunehmen, bleibt aber mit einer Pfote draußen, und dann kehrt er ins Atelier des Malers zurück, er geht raus aus dem Bild, und das Bild bleibt ohne Hund, ohne Anmut und ohne Wahrheit Schaut es euch an, hier habe ich es Mich erregte es, mich mitten in dieser ikonographischen Sauerei stecken zu sehen, unter dem brennenden Autowrack, blutend wie ein Schwein Ich wollte es, wie man so sagt, in meiner Erinnerung für immer als einen Schatz hüten Zum Teufel mit den Schätzen, die wir wie einen Schatz hüten! 10