Rodrigo García Picknick auf Golgatha

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Rodrigo García Picknick auf Golgatha
Rodrigo García
Picknick auf Golgatha
(Originaltitel: „Gólgota Picnic“)
Aus dem Spanischen von Klaus Laabs
(c) henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2013. Als unverkäufliches Manuskript
vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der
Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und
Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder
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TEXT DES EINVERNEHMENS – Text der Gebote
Wahrlich, ich sage euch, wer keinen Sinn für Humor hat, versteht
nichts vom Leben
Wer nicht über die Ideen der Anderen staunen kann, weiß nicht das
Leben zu nehmen, wie es ist
Der Sturz ist sanft, ich bin es, der stürzt, ich kann den Moment des
Sturzes bestimmen, und ich kann ihn unendlich ausdehnen
Zwischen den Wolken lasse ich es mir gut gehen
Ich will die Erde nicht betreten
Chaos säen kann ich nicht: Das habt ihr schon getan
Die Erde mit Waffen bestücken kann ich nicht: Das habt ihr schon getan
Ihr könnt nicht von mir lernen, wie man kleine Kinder fickt: Das habt
ihr schon getan
Ihr könnt nicht von mir lernen, wie man durch Hunger tötet: Das habt
ihr schon getan
Ich kann die Obszönität nicht steigern, ihr würdet mich auslachen und
sagen: Das können wir schon
Ihr könnt nicht von mir lernen, wie man ganze Dörfer und Städte von
der Landkarte ausradiert, ihr könnt nicht von mir die Techniken lernen,
mit denen man einen Holocaust zu Ende bringt: Das habt ihr schon
getan
Ihr könnt nicht von mir lernen, wie man Bomben vom Himmel wirft
und so die Erde beben lässt: Das habt ihr schon getan
Ich kann euch keine neuen Seuchen schicken, ich kann nicht meine
Zeit damit vergeuden, als Feuer, Plage und Auslöschung vom Himmel
zu stürzen, um euch zu peinigen: Das stellt ihr selbst schon ganz gut
mit euch selbst an
Ahmt meinen Sturz nach, macht ihn wie ich
Springt in die Leere der Stille und der Einsamkeit und genießt die
Andacht
Ergebt euch der Ekstase des Alleinseins
Man sagt, dass der böse Geist als gefallener Engel zur Erde
herabkommen wird, um die Menschen weiter zu verwirren. Darauf
könnt ihr aber lange warten, ihr werdet sehen, das passiert nie
Ich sage euch nicht, springt aus dem Fenster. Ich sage euch, springt in
euch selbst hinein, genießt den Absturz, und lasst euch dabei von
niemandem stören
Die Einsamkeit ist das Einzige, was ihr sicher habt
‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’ hat nichts gebracht, das war
nur, um von den schlimmsten Gräueln abzulenken, ich sage euch:
Nehmt voreinander Reißaus
Das sage ich euch bei meinem Sturz ohne Ende, der mein Platz auf der
Welt und mein Zustand der Gnade ist, meine Erfüllung
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Dies sind die Worte des gefallenen Engels
Glücklich die, die auf dem Asphalt zerschellen oder unter die
Straßenbahn kommen.
Mein Fall endet nie. Meine Marter berührt nie den Grund
Der Sturz geschieht in einem Abgrund im Innern. Der Sturz ist eine Art
Aufbrausen,
eine Art Lossprudeln. Wie eine Welle, auf der sich Gischt bildet
Die Gischt scheint das Feuer in uns zu löschen. Das Aufschäumen
spritzt alles voll, verflüssigt sich und ergießt sich
Dreißig Minuten Maximalfeuer, und alles verdampft. Das ist der
Ursprung des Mysteriums
Wie lange noch? Bis an unserem tiefsten Grund nichts mehr zu
verbrennen ist
Es wird morgens um sechs Uhr zehn sein – mir gefällt der Gedanke, mit
dem beginnenden Tag zu verlöschen –, wenn der Puls zu schlagen, zu
verdampfen aufhört, das aufgelöste Fleisch klebt schon am Topfboden,
der Geruch bleibt an der Decke hängen, an den Tischbeinen, an den
Tapeten
und das Feuer gibt sich alle Mühe der Welt, den Boden eines leeren
Suppentopfs durchzubrennen
Der Topf wird schwarz
Wer zeigen will, dass er bereit ist, der soll sich trauen und den Topf mit
den Händen ergreifen
Ich habe ein Gedicht, um es denen zuzuflüstern, die nicht zuhören:
Eine Bürde, die nicht lastet. Ein Stein, der nicht verwittert. Ein
lautloses Getöse. Ein unsichtbarer Glanz. Eine gebremste
Höchstgeschwindigkeit. Weisheit ohne Titel. Hoffnungslose Hoffnung.
Lückenhafte Vollständigkeit. Eine Schnulze, die eine Schnulze sein
will. Der Grund des in die Erde gegrabenen Lochs. Ich habe den Tag
heute als Aufzählung von Schnittpunkten, von Winkeln verstanden. Ein
Gedicht für dich, wenn du nicht zuhörst.
Ich bin keiner Versprechungen würdig und erst recht keiner
Hoffnungen. Ich lasse Andere die Versprechungen machen und Andere
sie nicht halten
Wenn sie mir mit dem klassischen „das ist versprochen“ kommen,
halte ich den Mund und überlasse denen, die etwas versprechen, die
titanenhafte Anstrengung, das Versprechen zu erfüllen,
und die unvermeidlichen Ausreden, nachdem sie es gebrochen haben
Das Versprechen ist, wo ich nicht sein will: die Zukunft
Rechnet nicht mit mir für die Zukunft
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Man verspricht sich ewige Liebe, wie man in der Autowerkstatt
Blechschäden repariert
Hoffnungen sind etwas Anderes. Hoffnungen stelle ich nur für den
persönlichen Gebrauch her
Ich mache sie nie öffentlich: Sich eines Wunschtraums bewusst werden
heißt seiner in uns selbst Herr werden
Wenn ich einen Wunschtraum in mir trage, will ich nicht, dass er ans
Tageslicht kommt, ich hüte mich davor, den Mund aufzumachen
Ich habe alle möglichen Hoffnungen angezettelt:
Ich habe sie durch Rauchzeichen verkündet, an die Wand gepinnt oder
angeklebt
Ich habe sie aufgeschrieben
und um sie herum komplexe Theorien erfunden,
ich habe sie geträumt – was am vulgärsten ist, das Schlimmste, was
man mit einem Wunschtraum tun kann, ist, ihn auf die Höhe der
Träume zu heben,
weil die Träume eine nicht enden wollende Kette von Feigheiten sind:
Wer träumt, handelt nicht –
ich habe sie miteinander verknüpft, manchmal verflüssigt
und sie sogar in den Ofen gesteckt
Stets war das Ergebnis ein kleines Fiasko
Nicht, dass ich es ein Scheitern nennen würde, das Wort ist zu groß
dafür
Nicht, dass ich etwas Endgültiges wie das Scheitern auf eine Stufe mit
einem Hirngespinst von Hoffnung stellen würde
Weder Scheitern noch Hoffnung haben das verdient
Sehnsüchten gebe ich mich im Privaten hin, und dann stellt sich
heraus, dass ich nicht die Werkzeuge dazu habe, sie Wirklichkeit
werden zu lassen
Bald gibt es keine Feinde mehr. Wir werden Ruhe und Gleichheit haben
Wir werden in Übereinstimmung leben. Wir werden an Gleichwertigkeit
glauben. Wir werden alle zueinander passen. Wir werden alle
zusammenhalten. Am Ende werden wir Sklaven sein
Es ist keine falsche Bescheidenheit, wenn ich sage, es fehlt mir an
einem unverwechselbaren Timbre in der Stimme, oder an einer
charakteristischen Art, wie ich mich bewege, oder an einem
wiedererkennbaren Stil, wie ich mich kleide, oder an einer Art zu
sprechen, die nur mir eigen ist
Mein Mangel an Persönlichkeit ist so schwerwiegend, dass man nicht
einmal sagen könnte, das Charakteristikum meiner Persönlichkeit wäre
mein Mangel an Persönlichkeit
Ich habe zu Hause keine Spiegel. Und wenn ich in ein Hotel komme,
nehme ich alle Spiegel von der Wand und drehe sie um, und die man
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nicht abnehmen kann, verhänge ich mit einem abgetragenen T-Shirt
oder mit alten Zeitungen.
Die kleine Dicke, die bei mir nebenan wohnt,
geht regelmäßig joggen,
jeden Sonntag um neun,
doch die Natur ist gnadenlos,
die Dicke kriegt kein Gramm Fett runter,
sie versaut sich nur die Sonntage,
indem sie den ganzen Vormittag
im gelben Jogginganzug
im Park Runde um Runde dreht
und dabei scheiß Musik hört
mit einem wunderbaren Apparat:
Dank mp3 kann man laufen wie blöd, ohne dass die Lieder darunter
leiden
Du kannst Schubert hören, ohne dass Schubert etwas passiert, und
wenn du noch so lange durch die öffentlichen Parks trottest und dir
dabei die Ohren mit Schubert zustopfst
Die Leute suchen sich aber was Anderes aus, wenn sie joggen gehen;
sie suchen sich Ich steh auf Benzin aus oder irgendwelchen anderen
Schrott, der den Rhythmus vorgibt
Ich habe mich mal sechsmal hintereinander im Auto überschlagen, mit
der festen Absicht auszuprobieren, ob Bachs Matthäuspassion das
aushält
Es regnete in Strömen, und im Radio lief die Passion
Ich verlor die Kontrolle über den Wagen und raste direkt auf die
Betonstreben zu, die die beiden Fahrtrichtungen der Autobahn
voneinander trennen, dann überschlug ich mich, als würde mich der
leibhaftige Teufel auf dem Spieltisch auswürfeln, und die zerborstenen
Autofenster prasselten auf mich nieder wie der Regen zu Jakobi
Mit dem Fuß trat ich auf die Bremse, mit einer Hand hielt ich das
Lenkrad fest, mit der anderen versuchte ich, mir das Gesicht
abzudecken, damit die Splitter von der Frontscheibe nicht einen
Schweizer Käse aus meinen Lippen machten, mit dem linken Ohr hörte
ich, wie sich auf dem Rücksitz mein Labrador beschwerte, und mit dem
rechten lauschte ich andachtsvoll der Matthäuspassion. Kein Ton
entging mir
Der BMW- und der Daimlertechnologie sei gedankt, dass wir im Auto
keine CDs mehr mitnehmen müssen
Bei einem mp3-Player kann man einen Frontalzusammenstoß haben
oder in eine Schlucht stürzen, ohne dass man befürchten muss, dass
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das Lied aus der Rille springt, man kann es Note für Note verfolgen,
man kann es mitträllern oder pfeifen, erhaben steigt das Lied zu dir auf
Dann passierte bei meinem Autounfall das Unvorhersehbare, ehrlich
gesagt, mit dem Feuer hatte ich nicht gerechnet
Als das Auto zu brennen anfing, als es brannte wie diese Pillen, die die
Leute in Madrid oder Paris kaufen, um Grillkohle damit anzuzünden
– die Großstädter haben keine Ahnung, wie man Feuer macht mit ein
paar Stöcken und Papier und einem Feuerzeug –,
als der Wagen also brannte wie diese Pillen, die sie bei Leroy Merlin
verkaufen, fing die Matthäuspassion zu schmelzen an, und in
Nullkommanichts war die Party vorbei
Kurz darauf hatte ich als Musik das Gejaule von meinem Hund auf dem
Hintersitz und das Feuergeprassel
Wobei, in diesem Fall gab es gar kein Feuergeprassel, sondern
stattdessen den entzückendsten Klang, den ich in meinem Leben
gehört habe, den Klang des Fiebers
Der hörte sich so an wie ein Kontrabass aus der Ferne
Die Flammen waren Fieber und Krach zugleich, sie waren kein Brennen,
sondern das, was man die Hitze des Gefechts nennt, die Glut der
Leidenschaft
Da begriff ich, weshalb mich dieses Inferno von Bruder Angelico, das
ich in Florenz öfters gesehen hatte, immer so aufwühlte
Ich hörte die Musik des Gemäldes und verspürte, wie seine Hitze auf
meiner Haut brannte
Es war eine angenehme Hitze, die mich dabei überkam
Ich war schon drauf und dran, im Feuer einzuschlafen, als mir der
Gedanke kam, in Nullkommanichts würde sich auf der Straße ein
Rettungswagen zeigen, und das kotzte mich an. Es ging mir so was von
auf die Eier, dass ein Rettungseinsatz unterwegs war
Ich hatte Visionen
– und wie sollte ich auch keine haben, wenn zu diesem Zeitpunkt des
Unfalls mein Schädel gebrochen war und die Autositze und meine
Klamotten in dieses Dunkelrot gefärbt waren, das niemand so malen
will, wie es ist –
Ich sah, wie die Feuerwehrleute und die Sanitäter meinen Körper aus
dem brennenden Autowrack herauszogen, wie sie die Flammen mit
riesigen Feuerwehrspritzen bekämpften und mich von dem
Schrotthaufen wegbrachten, nackt, angekohlt, blutüberströmt
Ein Festival der Farben auf meinem Körper
Ich sah mich selbst im Mittelpunkt der Kreuzabnahme von Roger van
der Weyden, um mich herum Typen mit Geräten, mit denen sie mich
aus dem Autoblech schnitten
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Und ich sah mich anstelle des Christus von Rubens, als das Kreuz
aufgerichtet wird, als ein paar bärenstarke Kerle, denen Gott kalt am
Arsch vorbeigeht, auf Golgatha das Kreuz aufpflanzen, dieses schwere
Holzteil
Und ich sah, wie später mein Leichnam abgenommen wurde, die Haut
grau oder grün, wie Mantegna sie malen würde, die Kamera auf die
Füße gerichtet, und wie sie später in dem Twin Peaks-Film aussehen
würde, wenn man den Leichnam von Laura Palmer im
Leichenschauhaus sieht
Und natürlich ist da auf dem Rubens-Bild dieser Hund
Der allgegenwärtige Hund von Rubens
Der universale Köter
Der Hund, der Bescheid weiß
Der Erzählerhund
Der Erklärerhund
Der Feuerwehrhund
Der Hofmalerhund
Der listige Hund
Das verschmitzte Hündchen
Der treue Freund
Der Hund, der sein Frauchen und ihre Freundinnen fickt
Das Fickhündchen von Rubens
Der Dödelhund
Rubens nannte seinen Hund Dödelhund oder Fickhund
Auf dem ganzen riesigen Rubens-Bild, auf dem sich starke Männer,
dicke Frauen, Pferde, Kinder und Christus tummeln, ist der Hund der
Einzige, der nie jemanden verraten hat
Es ist ein Bild, das von Verrat und Betrug erzählt, weshalb die
Hauptfigur der treue Hund ist
Die Hauptfigur auf dem Kruisoprichting ist Rubens, der den Hund für
sich sprechen lässt
Wenn du genau hinsiehst, befindet sich die Hälfte der Pfote außerhalb
des Bildes, sie befindet sich im Atelier des Malers
Der Hund geht auf Abstand, er kommt mit rein ins Bild, um ein paar
Retuschen vorzunehmen, bleibt aber mit einer Pfote draußen, und
dann kehrt er ins Atelier des Malers zurück, er geht raus aus dem Bild,
und das Bild bleibt ohne Hund, ohne Anmut und ohne Wahrheit
Schaut es euch an, hier habe ich es
Mich erregte es, mich mitten in dieser ikonographischen Sauerei
stecken zu sehen, unter dem brennenden Autowrack, blutend wie ein
Schwein
Ich wollte es, wie man so sagt, in meiner Erinnerung für immer als
einen Schatz hüten
Zum Teufel mit den Schätzen, die wir wie einen Schatz hüten!
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