Staatsdumawahl in der Russischen Föderation - Hanns

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Staatsdumawahl in der Russischen Föderation - Hanns
POLITISCHER BERICHT AUS DER
RUSSISCHEN FÖDERATION
Dr. Markus Ehm
Leiter der Verbindungsstelle Moskau
Nr. 15/2011 – 14. Dezember 2011
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Staatsdumawahl in der Russischen Föderation
„Einiges Russland“ erzielt knapp unter 50% Landesweite Proteste einer zunehmend selbstbewussteren Bevölkerung
Am 4. Dezember 2011 fand in der Russischen Föderation die sechste Staatsdumawahl statt. Die
Regierungspartei „Einiges Russland“ erlitt immense Einbußen (1). Nach der Abstimmung kam
es im Zusammenhang mit Fälschungsvorwürfen und sozialen Problemen zu zahlreichen Protesten im gesamten Land (2). Sowohl „Einiges Russland“ als auch die Staatsspitze werden sich mit
den politischen Forderungen der zunehmend selbstbewusster agierenden Bevölkerung auseinandersetzen müssen, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.
1.
Ergebnis und Reaktionen der Politik
„Einiges Russland“ erleidet schwere Verluste, verfügt aber weiterhin über die absolute Mehrheit (1). An der Staatsspitze und in der Regierungspartei regiert man nervös, die innerparlamentarische Opposition hingegen zeigt sich in Bezug auf das Resultat zufrieden (2).
a.
Wahlergebnis
Jeder Wähler hatte eine Stimme, mit der er sich für eine der sieben landesweit registrierten und
zur Abstimmung zugelassenen Parteien entscheiden konnte. Die Wahlbeteiligung lag bei 60,2%
und damit etwas niedriger als 2007 (63,7%).1 Das Ergebnis lautet wie folgt:
Partei
Einiges Russland (ER)
Gerechtes Russland (GR)
Profil
zentristisch, seit 2009 konservativ (Eigenverständnis), staatsnah (Beamtenpartei)
links-zentristisch, sozialdemokratisch (Eigenverständnis)
Liberal-Demokratische Partei
(LDPR)
nationalistisch
Kommunistische Partei (KPRF)
geläuterter Sozialismus
Jabloko
sozial-/linksliberal
Rechte Sache
liberal-konservativ
Patriotenpartei
nationalistisch
Stimmenanteil und
Mandate 20072
Stimmenanteil und
Mandate 20093
64,30%
315
49,30%
238
7,74%
38
13,20%
64
8,14%
40
11,65%
56
11,57%
57
19,20%
92
1,59%
0
3,30%
0
0
0,60%
0
0
1,00%
0
0,89%
Die Regierungspartei „Einiges Russland“, deren Vorsitzender Premierminister Wladimir Putin
ist, büßte absolut 12,79 Millionen Stimmen ein.4 Sie verliert ihre bisherige Zweidrittelmehrheit
und benötigt bei Verfassungsänderungen nun die Unterstützung einer anderen Fraktion. Die
bisher schon in der Staatsduma vertretenen Parteien „Gerechtes Russland, die LDPR und die
1
Profil vom 12.12.2011, S. 18.
2
Internetseite der Zentralen Wahlkommission der Russischen Föderation,
http://www.vybory.izbirkom.ru/region/region/izbirkom/action=show&[Link unvollständig, da zu lang].
3
Kommersant Wlastj vom 12.12.2011, S. 15.
4
„Einiges Russland“ vereinte 2007 insgesamt 44,71 Millionen Stimmen auf sich. 2011 entschieden sich
31,92 Millionen für die Partei um Premierminister Putin. Kommersant vom 06.12.2011, S.2.
KPRF konnten jeweils beachtliche Zugewinne verzeichnen. Wie bereits 2007 schaffte keine andere Partei den Einzug in das russische Unterhaus.
„Einiges Russland“ erzielte seine zehn besten Ergebnisse in denselben föderalen Subjekten wie
schon im Jahr 2007.5 Auf Rang eins liegt Tschetschenien (99,48%), gefolgt von Mordowien
(91,62%) und Dagestan (91,44%). Es fällt auf, dass die Regierungspartei insbesondere in den
russischen Republiken6 und stark moslemisch geprägten Gebieten überdurchschnittlich gut
abgeschnitten hat. Die schlechtesten Resultate weist „Einiges Russland“ im europäischen Teil
auf, sowohl im Norden als auch im Zentrum. Die geringste Zustimmung gab es in den Oblasten
Jaroslawl (29,04%) und Kostroma (30,74%). Im Moskauer Gebiet entschieden sich 32,97% der
Wähler für die Putin-Partei, im Leningrader Gebiet beträgt das Ergebnis 33,73%. Die Strategie,
Spitzenvertreter der föderalen Politik zu Listenführern und Zugpferden in den Regionen zumachen, scheiterte.7
„Gerechtes Russland“ verzeichnet seine höchsten Stimmenanteile überwiegend westlich des
Urals, und zwar in den Gebieten Nowgorod (28,18%), Wologda (27,15%), Swerdlowsk
(27,60%) und in Sankt-Petersburg (27,60%). Insbesondere in Sibirien punktet traditionell die
LDPR, diesmal zum Beispiel in Chanti-Mansijsk (22,51%), im Sabaikalskij Krai (19,18%) und in
Kamtschatka (18,61%). Die KPRF erzielte in mehreren großen Städten gute Ergebnisse, so zum
Beispiel in Irkutsk, Bratsk, Nowosibirsk und Wladiwostok.8 Bei den föderalen Subjekten liegen
die folgenden an der Spitze: Nischni Nowgorod (31,36%), Omsk (30,56%), Nowosibirsk
(30,25%) und Woronesch (29,69%).9
b.
Reaktionen der Politik
Staatspräsident Dmitrij Medwedew, welcher die föderale Liste von „Einiges Russland“ anführte, rang sich am Tag nach der Wahl zu der Aussage durch, dass es nun zu mehr sachlichen Auseinandersetzungen komme, was dem Land insgesamt zum Vorteil gereiche.10 Den Grund für das
schlechte Abschneiden von „Einiges Russland“ sah er darin, dass „die regionale Politik vor Ort
nicht so arbeite, wie es sein sollte“. Auch wenn er ein Signal der Wähler erkannt habe, so handele es sich nicht um einen Vertrauensentzug gegenüber der Partei, sondern um Verdruss gegen lokale Funktionäre. Und wenn dieser Personenkreis „Einiges Russland“ repräsentiere,
5
Das Folgende nach: Kommersant vom 06.12.2011, S. 2. Eine Tabelle mit den Ergebnissen in allen Regionen
befindet sich in der Komsomoljskaja Prawda vom 06.12.2011, S. 4.
6
Art. 65 Abs. 1 der Verfassung der Russischen Föderation (VRF) regelt die Zusammensetzung des Staates aus
sog. föderalen Subjekten, wobei es folgende Typen gibt: Republik, Krai, Oblast, Stadt mit föderaler Bedeutung, autonomes Gebiet („Oblast“) und autonomer Bezirk („Okrug“). Eine Republik hat ihre eigene Verfassung (Art. 5 Abs. 2 VRF) und kann eine eigene Amtssprache einführen (Art. 68 Abs. 2).
7
Nesawisimaja Gaseta vom 06.12.2011, S. 1 und 5: In Wolgograd führte Vize-Premier Wiktor Subkow die
regionale Parteiliste an. „Einiges Russland“ verlor im Vergleich zu 2007 ca. 22 Prozentpunkte. Der Leiter
der Präsidialadministration, Sergej Narijschkin, sollte in St. Petersburg Stimmen ziehen. Ergebnis: 25 Prozentpunkte weniger als bei der letzten Staatsdumawahl vor vier Jahren. Siehe dazu auch Kommersant vom
06.12.2011, S. 2, und Wedomosti vom 05.12.2011, S. 2.
8
Kommersant vom 06.12.2011, S. 2.
9
Kommersant-online vom 05.12.2011,
http://www.kommersant.ru/doc/1831713?stamp=634593022950694816.
10
Das Folgende nach: Kommersant vom 06.12.2011, S. 3.
dann wolle man eben nicht für diese Partei stimmen, so Medwedew. Außerdem schlug das
Staatsoberhaupt vor, Parteitage interessanter zu gestalten, also nicht im Stile der alten KPdSU.
Premierminister Wladimir Putin kündigte an, nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten der
Russischen Föderation personelle Konsequenzen zu ziehen.11 Er bezog dies auf die Regierungsmitglieder und die Führung der föderalen Subjekte, wobei dies vorsichtig und ohne Entlassung professioneller, also gut arbeitender Politiker geschehen solle. Putin, der auf dem Parteitag von „Einiges Russland“ am 27. November 2011 einstimmig zum Präsidentschaftskandidat bestimmt wurde, ließ verlautbaren, seinen Wahlkampf auf die Allrussische Volksfront zu
stützen.12 Sein Pressesprecher Dmitrij Peskow ging noch weiter. Er sagte Folgendes:13
„Putin war nie direkt mit einer Partei verbunden, deshalb
wird er als unabhängiger Politiker gesehen und nicht als
Parteimitglied. Deshalb sind das zwei unterschiedliche Dinge.“
Im Umfeld von „Einiges Russland“ selbst hörte man von unausweichlichen „ernsthaften Veränderungen im Personal- und Organisationsbereich“14. Der Gouverneur des sibirischen Gebietes
Tomsk erklärte das schlechte Abschneiden der Partei in seiner Region mit einer Protestwahl in
der regionalen Hauptstadt, resultierend aus steigenden Wohnnebenkosten und ungelösten
Problemen mit baufälligem Wohnraum. Die Vorsitzenden der Parteiverbände in den europäischen föderalen Subjekten Pskow und Wologda traten zurück.15 Die Tageszeitung Kommersant
schreibt, dass Putins Distanzierung von „Einiges Russland“ in der Partei so interpretiert werde,
als wolle sich der Premierminister von ihr lossagen; eventuell könne es auf der Basis der Volksfront sogar zur Gründung einer neuen Partei kommen.16
Nikolaj Lewitschew, Vorsitzender von „Gerechtes Russland“, sprach von einem Rekordergebnis
für seine Partei.17 Von Seiten der KPRF war zu vernehmen, dass die Bevölkerung „Einiges Russland“ die Unterstützung entzogen habe, und dass diese Partei praktisch in allen Städten eine
Niederlage erlitt.18 KPRF-Chef Gennadi Sjuganow begrüßte die neue Verteilung der politischen
Kräfte in der Staatsduma. Den Zuspruch der Wähler für die KPRF erklärte er mit ihrem Programm, welches die Bürger akzeptiert hätten.
2.
Fälschungsvorwürfe, Proteste und Äußerungen der Staatsspitze
Sowohl während des Wahlkampfes als auch am Wahltag selbst standen Vorwürfe der Manipulation im Raum (a). Bereits am Tag nach der Abstimmung kam es in Moskau zu Protesten, die sich
im Laufe der Woche auf russische Regionen ausweiteten (b). Eine enge Verbindung der parla11
Das Folgende nach: RBK online vom 06.12.2011, http://top.rbc.ru/politics/06/12/2011/628489.shtml?.
12
Rossijskaja Gaseta, Internetausgabe vom 08.12.2011, http://rg.ru/2011/12/08/shtab-anons.html.
13
Kommersant FM (Radiosender) vom 07.12.2011, http://kommersant.ru/doc/1832620.
14
Das Folgende nach: Kommersant vom 07.12.2011, S. 2.
15
Kommersant vom 08.12.2011, S. 2.
16
Kommersant vom 09.12.2011, S. 3.
17
So bei einem Treffen mit einer Delegation der Hanns-Seidel-Stiftung am 05.12.2011 in der Staatsduma.
18
Internetportal „Utro.ru“ vom 05.12.2011, http://pda.utro.ru/articles/2011/12/05/1014835.shtml.
mentarischen Opposition mit den Demonstrationen gibt es bis dato nicht (c). Medwedew und
Putin zeigten gegen Ende der Woche für die Proteste Verständnis (d).
a.
Vorwurf der Wahlfälschung
Bereits im Vorfeld der Wahl griffen Teile der russischen Medien das Thema „Wahlfälschung“
ausführlich auf. So beschrieb die regierungskritische „Nowaja Gaseta“ konkrete Manipulationsmethoden und erklärte gleichzeitig, wie Wahlbeobachter dagegen vorgehen können.19 Menschenrechtsorganisationen und die Nichtregierungsorganisation „Golos/Stimme“ wandten sich
in einem offenen Brief an die Vorsitzenden der Wahlkommissionen aller Ebenen und baten diese um Mut bei der Ausübung ihrer Tätigkeit.20 Zwei Tage vor der Wahl teilte „Golos/Stimme“ in
einer Pressemitteilung mit, dass der Druck auf diese Organisation zunehme, mit dem Ziel, ihre
Professionalität und Unabhängigkeit in Zweifel zu ziehen. Ihr Handeln erklärte „Golos/Stimme“
mit der Motivation ihrer aktiven Mitglieder, die als Bürger der Russischen Föderation die Beachtung der Gesetze erreichen wollten.
Am Wahltag selbst berichteten alle Parteien von landesweiten Unregelmäßigkeiten.21 „Einiges
Russland“ gab an, ihr lägen aus zahlreichen Regionen Nachrichten über Wählerkauf mit Geld
und Wodka durch die LDPR vor. Mit Hilfe von Gewaltandrohung seien Bürger zur Stimmabgabe
für die KPRF bewegt worden. Von „Gerechtes Russland“ war zu hören, dass Sozialarbeiter die
Stimme der von ihnen betreuten Person zu Gunsten der Regierungspartei abgegeben hätten. Im
Oblast Wolgograd sei Mitglieder der Territorialen Wahlkommission der Zugang zum Gebäude
verwehrt worden. Die LDPR berichtete davon, dass im sibirischen Gebiet Kemerowo vor Öffnung eines Wahllokals alle Wahlbeobachter außer diejenigen von „Einiges Russland“ den Raum
verlassen mussten. Bei ihrer Rückkehr sei die Wahlurne – bevor der erste Wähler kam – schon
zu einem Drittel gefüllt gewesen. Die KPRF vermerkte, dass ein Beobachter sein Wahllokal unter Gewaltanwendung habe verlassen müssen, als er eine Beschwerde schrieb. Er habe zu Papier gebracht, so die KPRF, dass ein ganzer Stapel an Wahlzetteln mit Kreuzchen zu Gunsten
einer Partei in die Urne geworfen worden sei (sog. „wbros/Einwurf“). Nach Presseangaben erfreute sich zudem das sog. „Wahlkarussell“ – eine organisierte Form der Mehrfachabstimmung
– besonderer Beliebtheit.22 Der Staatsdumaabgeordnete Gennadij Gudkow („Gerechtes Russland“) gab an, selbst eine solche „Karussellfahrt“ gestoppt zu haben. Nach Angaben der Organisation „Bürgerkontrolle“, die mit der Zentralen Wahlkommission zusammenarbeitet, lagen
bis 17.30 Uhr am Wahltag insgesamt 1.621 Eingaben vor, von denen 373 als eventuelle
Rechtsverletzungen betrachtet wurden und sich 38 bestätigten.23 „Golos/Stimme“ teilte mit,
19
Siehe dazu Nowaja Gaseta vom 30.11.2011, S. 4.
20
Nowaja Gaseta vom 28.11.2011, S. 3.
21
Das Folgende nach: Kommersant-online vom 04.12.2011, http://www.kommersant.ru/doc/1828455.
22
Das Folgende nach: Kommersant vom 06.12.2011, S.6. Beim sog. „Karussell“ machen Wähler von ihrem
Recht gebraucht, sich vom Wahlamt eine Bescheinigung ausstellen zu lassen, die zum Ausdruck bringt, dass
sie sich am Wahltag nicht in ihrem Wahlbezirk aufhalten werden. Mit diesem Beleg kann dann in einem beliebigen anderen Wahllokal einmalig gewählt werden. Im Wege der Manipulation wird angestrebt, dass der
Wahlvorstand nach der Stimmabgabe diese Bescheinigung nicht einbehält. Zum Beispiel wird im Pass ein
Zeichen angebracht, das bestimmte Mitglieder des Wahlvorstands kennen. So kann der Wähler nochmals
abstimmen. Die Effizienz wird gesteigert, wenn gleich mehrere solche Wähler in einem Bus unterwegs von
Wahllokal zu Wahllokal unterwegs sind.
23
Das Folgende nach: Kommersant-online vom 04.12.2011, http://www.kommersant.ru/doc/1831054.
dass sie bis kurz vor ein Uhr nachts des 5. Dezember insgesamt 1.300 Anrufe entgegen genommen habe; alle weiteren hätten aus Kapazitätsgründen nicht bearbeitet werden können.
Die Opposition reichte Hunderte von Klagen und Beschwerden bei den Gerichten, den Wahlkommissionen und den Staatsanwaltschaften ein.24 KPRF und „Gerechtes Russland“ sprachen
von massenweisen Fälschungen. Der Vorsitzende von „Gerechtes Russland“, Nikolaj
Lewitschew, macht auf eine Abweichung von zehn Prozentpunkten bei den Exit-Polls zu Gunsten von „Einiges Russland“ aufmerksam, was nicht innerhalb der gewöhnlichen Fehlertoleranz
liegen könne.25 Für Aufsehen sorgte eine Pressemeldung, wonach in der Stadt Moskau die amtlichen Ergebnisse der Regierungspartei von den Resultaten von zwei Exit-Polls um fast 20 Prozentpunkte nach oben abwichen (Exit-Polls: 27,6%; amtlich, nach Auszählung von 97,21% der
Stimmzettel: 46,5%).26 Das Allrussische Zentrum für die Erforschung der öffentlichen Meinung
(WZIOM) gab die landesweiten Exit-Polls wie folgt bekannt: „Einiges Russland“ – 48,5%; KPRF
– 19,8%; LDPR – 11,4%; Jabloko – 4,17%; Patriotenpartei und „Rechte Sache“ – jeweils unter
einem Prozent.27
b.
Proteste
Am Tag nach der Wahl kamen in Moskau ca. 7.000 Menschen zu einer Protestkundgebung zusammen. 300 Personen wurden verhaftet.28 Medienberichten zu Folge machten viele Teilnehmer erstmalig bei einer solchen Aktion mit. Eine 23-jährige Augenzeugin beschreibt die Demonstranten als
„intelligent, hauptsächlich Altersgenossen, alle auszeichnet gekleidet,
nüchtern, sich in einer normalen Sprache verständigend und niemand
wolle mit dem Kopf durch die Wand“.29
Am 6. Dezember riefen der Nationalist Wladimir Basmanow und der Abgeordneter der Staatsduma Ilja Ponomarew („Gerechtes Russland“) über soziale Netzwerke im Internet zu einer erneuten Protestaktion gegen die nach ihrer Ansicht nach gefälschten Wahlergebnisse auf.30 Am
selben Abend nahm die Polizei 569 Personen fest.31
Am Samstag, 10. Dezember, protestierten in Moskau auf einer genehmigten Veranstaltung etwa
40.000 bis 50.000 Menschen friedlich gegen die Wahlergebnisse.32 Die Polizei griff nicht ein.
Die Zusammensetzung der Demonstranten zeichnete sich durch Heterogenität aus. Zu den Teilnehmern zählten neben bekannten Vertretern der sog. nicht systemgerechten Opposition wie
Boris Nemzow überwiegend junge Leute im Alter von 18 bis 35 Jahren, die meisten von ihnen
24
Kommersant vom 09.12.2011, S. 3.
25
So bei einem Treffen mit einer Delegation der Hanns-Seidel-Stiftung am 05.12.2011 in der Staatsduma.
26
Wedomosti vom 06.12.2011, S. 1.
27
Kommersant-online vom 04.12.2011, http://www.kommersant.ru/doc/1831054.
28
Kommersant-online vom 06.12.2011, http://www.kommersant.ru/doc/1832220.
29
Profil vom 12.12.2011, S. 15, 17.
30
Kommersant vom 07.12.2011, S. 1.
31
Kommersant vom 08.12.2011, S. 5.
32
Das Folgende nach: Kommersant 12.12.2011, S. 1 und 3.
gebildet und den Eindruck hinterlassend, dass sich bei ihnen große Wut angestaut hat. Außerdem befanden sich zahlreiche Nationalisten unter den Protestierenden. Als Organisatorin trat
die Bewegung Solidarnost auf. Die Veranstaltung moderierte Wladimir Rijschkow, einer der CoVorsitzenden der nicht registrierten und nicht zur Wahl zugelassenen Partei „Parnas“. Die Teilnehmer vereinte der Wunsch, die „Gruppe um Putin“, so Jabloko-Mitbegründer Grigorij Jawlinskij, „von der Macht zu entfernen“. Es wurden folgende Forderungen beschlossen:
(1) Zügige Freilassung aller politischen Häftlinge;.
(2) Annullierung der gefälschten Wahlergebnisse;
(3) Rücktritt von Waldimir Tschurow, Leiter der Zentralen Wahlkommission;
(4) Zulassung aller Oppositionsparteien;
(5) Durchführung neuer Wahlen.
Das Staatsfernsehen, welches noch am Anfang der Woche die Demonstrationen verschwieg33,
berichtete diesmal ausführlich.34 Zudem fanden Protestaktionen in zahlreichen Städten des
Landes statt.35 Aus Wologda berichtet ein Teilnehmer, dass eine Veranstaltung mit etwa 1.000
Teilnehmern auf Antrag eines örtlichen KPRF-Abgeordneten als eine Art Fragestunde genehmigt
wurde. Jede Wortmeldung musste deshalb mit einer konkreten Frage an den Parlamentarier
enden. Zwei Drittel der Äußerungen befassten sich mit sozialen Problemen und der Lage auf
dem Arbeitsmarkt, ein Drittel mit dem Wahlkampf, der als „dreckig“ bezeichnet wurde. Fälschungen waren kein Thema.
c.
Stellungnahmen der sog. systemgerechten/parlamentarischen Opposition
Unbeeindruckt von den Demonstrationen begannen in der Staatsduma die Diskussionen über
die Verteilung von diversen Funktionen.36 Grigorij Jawlinskij von der Jabloko-Partei, welche den
Einzug ins Unterhaus verpasste, schlug den Abgeordneten vor, aufgrund der Fälschungsvorwürfe auf ihre Mandate zu verzichten.37 Von Seiten der KPRF wurde dies als „nicht zielführend“
bezeichnet. Nikolaj Lewitschew von „Gerechtes Russland“ sah keine Veranlassung für seine
Partei, die erkämpfte Stellung aufzugeben. Und der bisherige Vorsitzende der LDPR-Fraktion in
der Staatsduma, Igor Lebedew, bezeichnete Jawlinskijs Anregung als einen „Aufruf von leicht
gestörten Leuten“.
d.
Äußerungen der Staatsspitze
Staatspräsident Medwedew sprach am Tag nach der Wahl von „ehrlichen und gerechten, demokratischen Wahlen“38, ohne auf die zahlreichen Manipulationsvorwürfe von Seiten aller Parteien einzugehen. Am 8. Dezember äußerte sich Staatsoberhaupt Medwedew bei einer Auslandsreise in Prag zu den Protesten und Fälschungsvorwürfen dann jedoch wie folgt:39
33
Dieses Schweigen thematisierte der Radiosender Kommersant FM am Morgen des 07.12.2011.
34
Kommersant vom 12.12.2011, S. 2.
35
Siehe dazu Kommersant vom 12.12.2011, S. 2.
36
Kommersant vom 06.12.2011, S. 1 und 3.
37
Das Folgende nach: Kommersant vom 08.12.2011, S. 2.
38
Kommersant vom 06.12.2011, S. 3.
39
Kommersant vom 09.12.2011, S. 7.
„Die Fragen, welche zu den Wahlergebnissen zu hören sind, haben eine
Existenzberechtigung, genauso wie die Fragen über Rechtsverletzungen
beim Wahlablauf.“
Des Weiteren:40
„Es ist offensichtlich, dass es in unserer Gesellschaft zu mehr Konkurrenz
kommt und bei Weitem nicht nur eine Kraft die Möglichkeit hat, auf die
Staatsführung Anspruch zu erheben.“
Premierminister Putin sagte in Moskau gegen Ende der Woche das Folgende:41
„Wir müssen den Dialog mit denjenigen führen, die oppositionell eingestellt sind, ihnen die Möglichkeit zur Meinungsäußerung geben. Sie können von ihren durch die Verfassung garantierten Rechten auf Demonstration und Meinungsbildung Gebrauch machen.“
Nach der Großdemonstration am 10. Dezember in Moskau gab Staatspräsident Medwedew, der
sich weder mit den auf der Kundgebung geäußerten Losungen, noch mit der Resolution einverstanden zeigte, die Anweisung, sämtliche Eingaben aus den Wahllokalen, welche die Wahlgesetzgebung betreffen, zu prüfen.42
3.
Einschätzung und Fazit
Das Wahlergebnis bestätigt einen konstanten Trend: „Einiges Russland“ büßt deutlich an Zustimmung bei der Bevölkerung ein. Die russische Presse schreibt stellenweise sogar von einem
„vernichtenden Fiasko“ 43. Bei den Regionalwahlen im März dieses Jahres konnte sich die PutinPartei noch dank der Direktmandate überwältigende Mehrheiten sichern.44 Dieser Weg war ihr
jetzt verbaut, weil bei der Staatsdumawahl lediglich eine Partei gewählt werden konnte.
Die Gründe für diese Entwicklung sind vielschichtig. 2007 gestaltete sich die Großwetterlage
für „Einiges Russland“ freundlicher. Das Land hatte sich nach den turbulenten 90er Jahren stabilisiert, die Wohlstandskurve zeigte nach oben, die Weltwirtschaftskrise hatte noch nicht begonnen. Zwischenzeitlich wird an vielen Stellen über Stagnation geklagt. Wegweisende Reformen, so zum Beispiel die Diversifizierung der Wirtschaft, kommen nicht voran. Gleichzeitig erfährt die russische Öffentlichkeit insbesondere über das freie Internet davon, wie sich die
Machtelite zunehmend am Staatsbudget persönlich bereichert. Obwohl Verallgemeinerungen
der komplexen Situation nicht gerecht werden können, machte sich in der Bevölkerung mehr
und mehr Verdruss gegen die – sich bedienende – Beamtenschaft breit. So stufte unlängst ein
Leitartikel eines Wochenmagazins die Staatsdiener als einen von fünf Hauptfeinden der Klein-
40
Kommersant vom 09.12.2011, S. 1.
41
Kommersant vom 09.12.2011, S. 1.
42
Kommersant vom 12.12.2011, S. 1.
43
Nesawisimaja Gaseta vom 06.12.2011, S. 11.
44
Siehe dazu den Beitrag von Markus Ehm, hrsg. von der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Berichte aus dem Ausland, Politischer Bericht aus der Russischen Föderation, Nr. 07/2011 – 5. April 2011.
unternehmer ein.45 Mit diesem korrumpierten Teil der Beamtenschaft assoziieren viele Menschen „Einiges Russland“. Zu einer landläufigen Redensart wurde die Bezeichnung von „Einiges Russland“ als „Partei der Gauner und Diebe“46. Dass viele Menschen immer weniger dazu
bereit sind, diese Selbstherrlichkeit zu akzeptieren, zeigt ihre Tätigkeit als Wahlbeobachter für
andere Parteien.
Staatspräsident Medwedew hat einerseits Recht, wenn er die Abneigung gegen Funktionäre vor
Ort als Ursache für das schlechte Abschneiden seiner Partei ausmacht. Zum anderen greift diese Analyse viel zu kurz. Denn der Einsatz von Schwergewichten der föderalen Politik als Zugpferde in den Regionen brachte bei der Staatsdumawahl überhaupt keinen positiven Effekt.
Nicht einmal Medwedew selbst konnte als Spitzenkandidat die Partei zu einem überzeugenden
Ergebnis führen. Dass selbst Putin sich über seinen Pressesprecher hörbar von „Einiges Russland“ distanzierte, lässt zumindest die Vermutung zu, dass er sich um sein persönliches Ansehen sorgt, obwohl er sich noch Ende November von der Partei einstimmig zu deren Präsidentschaftskandidaten küren und mit Sprechchören feiern ließ. Ob ihm die Bevölkerung die vorgegebene Überparteilichkeit abnimmt, ist zu bezweifeln. Wie sich die Funktionäre verhalten werden, wird aufgrund der geringen ideologischen Bindung von „Einiges Russland“ weiterhin stark
von den Karriereaussichten abhängen. Insofern stellt sich die interessante Frage, wie die Partei
mit denjenigen Abgeordneten umgeht, die den Einzug in die Staatsduma nicht mehr geschafft
haben. Einer ersten Mitteilung zu Folge wurde die Fraktion zur Hälfte erneuert; ein Achtel der
neuen Fraktion gehöre der Partei überhaupt nicht an.47 Und mit einer stärker pluralistisch zusammengesetzten Duma steigen die Versuche der anderen Parteien, ihre eigenen Leute verstärkt im staats- und politiknahen Umfeld unterzubringen.
Obwohl die Menschen erstmals seit Anfang der 90ger Jahre zu Zehntausenden auf die Straße
gingen und die Fortsetzung der Proteste angekündigt wurde, sind zum jetzigen Zeitpunkt
grundlegende Veränderungen im politischen System nicht zu erwarten. Zunächst führt die Frage nach tragfähigen Alternativen zum derzeitigen Spitzenpersonal zu keiner schlüssigen Antwort. Zudem mangelt es der sog. nicht systemgerechten Opposition, die in der Bevölkerung nur
eine geringe Popularität besitzt48, an einem konkreten Programm. Sie vereint nur die ablehnende Haltung gegen „Einiges Russland“, die Staatsmacht im Allgemeinen und auch Premierminister Putin. Die agierenden Gruppen sind durch eine ausgeprägte Heterogenität gekennzeichnet, die tragfähige und fortdauernde Absprachen bisher nicht ermöglicht hat. Die Interessen und politischen Ziele sind grundlegend verschieden. Eine essentielle Differenz besteht
schon bezüglich der Frage, ob und wie an Wahlen teilgenommen werden soll. Während die
nicht registrierte Partei „Parnas“ dazu aufrief, den Stimmzettel durchzustreichen, warb die
Jabloko-Partei um Zustimmung für sich selbst. Obwohl die im Parlament vertretenen Parteien
umfangreiche Beschwerden wegen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl eingereicht haben, gibt es
derzeit keine Anzeichen dafür, dass sie letzten Endes eine Wiederholung der Abstimmung for-
45
Profil vom 24.10.2011, S. 8 bis 13.
46
Sie geht zurück auf einen Plakatwettwerb des Internetbloggers Aleksej Nawalnij. Als Sieger ging ein Plakat
hervor, dass einer Buchstabentafel ähnelt, wie Sie bei Augenärzten zur Überprüfung der Sehstärke zum Einsatz kommen. Die von oben nach unten kleiner werdenden Buchstaben geben den Ausspruch „Einiges Russland – Partei der Gauner und Diebe“ wieder. Kommersant Wlastj vom 15.03.2011, S. 38f.
47
Rossijskaja Gaseta, Internetausgabe vom 08.12.2011, http://rg.ru/2011/12/08/shtab-anons.html.
48
Kommersant vom 08.12.2011, S. 2.
dern werden. Die erkämpften Mandate und das gute Ergebnis sind Ansporn, erneute Risiken
nicht einzugehen.
Gleichwohl zeigt die Entwicklung der letzten Wochen, dass die Taktik der Staatsführung, die
Proteste totzuschweigen, jegliche Manipulationen kategorisch von der Hand zu weisen und zur
Tagesordnung überzugehen, nicht aufgeht. Sowohl Medwedew als auch Putin kamen den Demonstranten zumindest rhetorisch entgegen. Die Bevölkerung agiert zunehmend selbstbewusst
und organisiert sich insbesondere über soziale Netzwerke im freien Internet. Allerdings wird
sich erst noch zeigen, ob der Vorwurf der Wahlfälschung Anlass für anhaltende Proteste sein
wird. Während in Moskau zum gegenwärtigen Zeitpunkt bei vielen – überwiegend jungen, gut
ausgebildeten Menschen –der Wunsch nach ehrlichen Wahlen und einem Ende der obrigkeitlichen Gängelung durch den Staatsapparat im Vordergrund steht, zeigen Beispiele aus den Regionen, dass sich zunehmend ein breiter sozialer Protest formiert, der nicht zuletzt im schlechten
Wahlergebnis für „Einiges Russland“ zum Ausdruck kommt. Es wird die größere Herausforderung für die Politik sein, die sozialen Missstände in den Griff zu bekommen.
Moskau, 14. Dezember 2011
Dr. Markus Ehm
Leiter der Verbindungsstelle Moskau der Hanns-Seidel-Stiftung