Kritik von Faust-Inszenierungen auf DVD

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Kritik von Faust-Inszenierungen auf DVD
Winfried Lintzen
Kritik von Faust-Inszenierungen auf DVD
Inhalt
Stein-Inszenierung……………………………………………………1
Gründgens-Inszenierungen …………………………………………16
Dorn-Inszenierung ………………………………………………… 19
1 Inszenierung von Peter Stein
Zusammenfassung:
Als störend an der Inszenierung und ihrer DVD-Fassung könnte empfunden werden:
- Die Faust-Darstellung wird durch Manieriertheit weitgehend entdifferenziert, vorhersehbar und
eintönig.
- Die mühlose Textverständlichkeit hat keine Priorität sondern wird durch Stimm- und
Sprechgestaltung trotz deren Virtuosität oft erschwert.
- Das Bühnenbild ist oft auf eine Weise stilisiert, die nichts vermittelt, nicht "anmutet", sondern nur als
Zeichen zu verstehen ist: z.B. "das soll jetzt Gebirge sein".
- Die Kameraführung wirkt teilweise geradezu närrisch und stört die Aufmerksamkeit. (Das zeigt den
Dilletantismus des Öffentlich-Rechtlichen-Rundfunks bezüglich Kunst und Kultur.)
Die DVD-Fassung darf nicht mit der Inszenierung verwechselt werden und die Inszenierung
nicht mit dem Stück!
Übersicht:
(1) Faust-Darstellung …………………………………………………………2
(2) Mummenschanz und Schauderfest ………………………………………..3
(3) Helenaakt …………………………………………………………………..5
(4) Himmelfahrt (Epilog) ………………………………………………………8
(5) Bühnenbild ………………………………………………………………...10
(6) Sprechbehandlung. Eine wahrnehmungspsychologische Kritik ………..….11
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(1) Faust-Darstellung
•
Eine Bewertung kann ich mir nicht verkneifen: Bruno Ganz spielt virtuos, aber zu
sehr: Schon nach den ersten Versen des Eingangsmonologs wird Ganz´s manieriertes
Spiel ziemlich vorhersehbar und redundant. Man hat den Eindruck, ins Puppenspiel
versetzt zu sein. Es mutet an wie eine Faust-Karikatur. Viele Betonungen, Dehnungen
aber auch Retardierungen und Zäsuren sind künstlich und unmotiviert. Auf mich wirkt
dieser Faust wie eine Verzeichnung und es ist mir ein Rätsel, was Stein und Ganz
damit verbunden haben mögen. (Zu diesem Problem vergl. auch:
"Sprechbehandlung".)
•
Der erste Kommentar einer theatererfahrenen Zuschauerin beim Eingangsmonolog
des Faust war: "Ein bepißter alter Greis". Sie fand das klasse, Faust so darzustellen.
Vermutlich ist diese Reaktion aber eher eine Erleichterung darüber, daß endlich mal
einer die Patina abmacht. Daß das auf eine Weise geschieht, die die darunterliegende
Figur unnötig und wenig sinnig verbiegt, steht auf einem anderen Blatt... Ich fürchte,
daß diese Faust-Darbietung bei vielen Zuschauern eine weitere Beschäftigung mit dem
Drama eher demotiviert, weil sie sich fragen: was gehen mich die Leiden eines
solchen Sonderlings an?
•
Wieso ein solcher Faust, eine derart wunderliche Persönlichkeit, vom Dichter
ausersehen sein soll, durch alle Lebensirrtümer geschleust zu werden, ist nicht
nachvollziehbar. Einen Alzheimerpatienten würde niemand mehr auf Weltreise
schicken...
•
Ein Spannungsbogen, der einen differenzierten Eindruck von einer persönlichen Krise
vermittelt, kann nicht entstehen, weil man so einem Mann nicht mehr zutraut,
differenziert und kreativ zu verstehen und zu bewältigen, was in ihm vorgeht, sondern
nur noch: sonderbare stereotype Denk- und Handlungsmuster abzuspulen.
•
Natürlich kann man Faust so verstehen und darstellen: hölzern, ekelhaft und
schmierig, wie Stein seine Intention in der Probendokumentation verrät. Aber wenn
aus dem Faust ein allzu wunderlicher Kauz wird, der niemandem mehr gefährlich
werden kann, weil sich niemand mehr mit ihm identifizieren mag und weil man für ihn
nur noch Mitleid empfinden kann: dann ist das Thema verfehlt. Daß ein wunderlicher
Mensch wunderlich ist, um das zu zeigen, braucht niemand ein Drama zu schreiben.
2
Aber wie selbst das Starke und Unwunderliche am Menschen qua Menschsein nicht
verhindert, daß der Mensch "so wunderlich als wie am ersten Tag" bleibt: das gilt es
zu zeigen!
•
Bei der Faust-Figur kommt es darauf an, sie so darzustellen, daß sie selbst in ihrer
Pathologie noch Züge von Souveränität und Stärke hat: die Pointe liegt ja gerade
darin, dass auch überdurchschnittliche, "starke", intelligente und intellektuelle
Menschen an ihrer Beschränktheit und Unreflektiertheit scheitern können. Der Faust
der Stein-Inszenierung ist keine schillernde Figur, an der Stärken und Größe des
Menschlichen zugleich mit seinen Grenzen und mit seinen Diskrepanzen zwischen
Anspruch und Wirklichkeit deutlich werden. Stein und Ganz geben dem Text keine
Chance, selbst zum Vorschein kommen zu lassen, was in ihm von dem
Abgeschmackten, Gestörten, Fragwürdigen, Beschränkten, ja vielleicht Abseitigen des
Faustischen angelegt ist.
•
Der Text sagt selbst, was für einen Faust er möchte: Manto, die Seherin, nennt Faust
einen Halbgott, Chiron, der Kentaur, bestätigt ihr das, obgleich er Faust wegen seines
Vollkommenheitsanspruchs für verrückt hält. Manto dagegen liebt Leute, die
Unmögliches Begehren. Sie nennt Faust "verwegen". - Bruno Ganz Faust-Darstellung
zeigt keine Persönlichkeit, der man Verwegenheit zuschreiben würde, deren hoher
Anspruch ans Leben Respekt abnötigen würde. Er wirkt eher wie ein hysterischer
Onkel, der völlig den Sinn für Realität verloren hat - nicht weil er Unmögliches im
Sinn hat, sondern weil er das bloße Fantasieren über das Unmögliche mit dem
Begehren, dem Bemühen, dem Engagement für das Unmögliche verwechselt, und
schließlich irgendwann in frustriertem Selbstmitleid feststellt, daß die Welt schlecht
ist, weil sie ihm das Unmögliche nicht an die Haustür geliefert hat.
(2) Mummenschanz und Schauderfest
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Mummenschanz und klassische Walpurgisnacht ("Schauderfest"): beides sind Feste,
auf denen fantastische mythologische Figuren auftreten, teilweise sogar mit denselben
oder nahverwandten Inhalten (Seismos und Holzfäller, Furien und Lamien, Zwerge
und Gnome). Für das Erleben ist es wichtig, daß der Zuschauer die
Unterschiedlichkeit beider Feste deutlich wahrnimmt, nur dann entsteht, was Goethe
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hier geleistet haben will: eine spezielle Erkenntnisquelle zu erzeugen durch "sich
ineinander abspiegelnde Gebilde". Dafür müßte der Unterschied zwischen
allegorischem und lebendigem Mythos, zwischen höfischer Kultur und menschlichem
Erleben der Naturkräfte eindeutiger markiert werden. Es müßte ein klares Konzept
von Ähnlichkeiten und Unterschieden erkennbar werden, sonst entsteht keine
Spiegelung sondern Redundanz! Freilich schwer genug: Bei beidem geht es um
Rausch und Ausgelassenheit, Festlichkeit und Heiterkeit. Doch die von Naturgeistern
bevölkerte südliche Walpurgisnacht müßte in einem rauschhafteren Sinne rauschhaft
und in einem gelösteren Sinne heiter sein als der nordische menschengemachte
Mummenschanz.
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Spezielles Inszenierungsproblem: der Text. Beim Anschauen von Steins klassischer
Walpurgisnacht geschieht es mir, daß ich einen regelrechten Signalschreck bekomme,
sobald die Sirenen auftauchen: "O je, jetzt kommt wieder soviel Fülltext!" Der Text
wird chorisch und in sirenenhaftem Singsang dargeboten. Das ist hochvirtuos
gemacht. Doch dieser Singsang erschwert nicht nur das Textverständnis erheblich, er
wirkt auch sehr schnell entnervend und wird bald langweilig, weil er schnell
vorhersehbar wird und nichts mehr Neues, Gehaltvolles zum Erleben beiträgt, sondern
nur noch als "Erkennungszeichen" fungiert. - Der Text ist hier das primäre
Rauschmittel! Alles andere Inszenierungswesen muß ihm bedingungslos dienen. Sonst
streicht man ihn besser. Jedes andere Verfahren macht ihn zum Füllstoff und erzeugt
nervtötende Längen. (Zu diesem Problem vergl. auch: Chöre.)
•
Nereus: Steins Inszenierung dieser Figur ist beispielhaft für eine andere "Technik",
wie man einen klassischen Text unattraktiv machen kann. Schon sein Kostüm scheint
mir mißlungen, es ist nicht beeindruckend sondern gibt Rätsel auf: Soll das ein
Fischschuppenleib sein und sollen das Wasserpflanzen sein, da, auf seinem Kopf? Und
die komischen Bewegungen: sollen das vielleicht fischige Bewegungen sein? Naja,
kann man dafür halten, ganz sicher ist man nicht. Es vermittelt keinen Eindruck, es
vermittelt gar nichts, man ist abgelenkt von den Fragen, die Kostümierung und
Bewegung aufgeben, man ist in Anspruch genommen von ihrer Dechiffrierung ("Hä,
was soll das jetzt bedeuten?"). Das geht dem Text und seinem Erleben sowie dem
Erleben des Zusammenhangs verloren. Zudem scheint es sich eher um einen jovialen
Gesellen statt um einen Griesgram zu handeln. Das Griesgrämige nimmt man ihm
nicht so recht ab. Dadurch wird die Pointe vermasselt: Ein alter Mann ist verbittert
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über die Menschen, weil niemand auf ihn gehört hat (Goethe bringt hier ein burn-outinduzierendes, nach heutigen Maßstäben "unprofessionelles" Beratungskonzept genial
auf eine "poetische Formel"); dennoch zeigt die Freude über seine Töchter, daß er - im
Gegensatz zu Faust - durch die Frustrationen über das Leben nicht im geringsten am
Leben zweifelt sondern es grundsätzlich bejaht.
(3) Der Helenaakt
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Der dritte Akt zeichnet sich dadurch aus, daß es kaum Handlung und umsomehr Text
gibt. Nichts ist prädestinierter dafür, langweilig zu werden. - Und so erlebe ich auch
Steins Inszenierung. Woran liegt das?
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Das, was es dort an Lebendigkeit gibt: den Wechselgesang, die tänzerischen
Bewegungen oder das Umhergehen, erlebe ich meist (nicht immer) als künstlich, als
zu gespielt (freilich auf hohem Niveau), als "unmotiviert": An vielen Stellen wird mir
nicht klar, warum jemand geht und warum er dorthin geht, wohin er geht. Es scheint,
als ob Stein fürchtet, daß der Text allein nicht reicht und daß sich deshalb da auf der
Bühne was bewegen muß. Aber wenn sich was bewegt, sollte das gezielt mit dem Text
verbunden sein! Jede Bewegung, die sich nicht aus den Erfordernissen einer
Verlebendigung der gerade gesprochenen Worte ergibt, ist überflüssig, eben
"unmotiviert", wirkt aufgesetzt und irritiert als zusätzliche Information das Erleben.
Mit "unmotivierter" Lebendigkeit hat es zudem generell die Bewandtnis, daß sie
schnell einförmig wird, so wie alles Willkürliche und Zufällige, dem nichts zu
entnehmen ist, zu einem "Rauschen" wird, d.h. daß man sie, ähnlich wie das
Stimmengewirr auf einer Party, zu einer Masse von Irrelevantem vereinheitlicht,
gleichwohl aber unbewußt aufmerksam bleibt, ob in dem Rauschen nicht doch noch
etwas Relevantes auftaucht bzw. ob man etwas Brauchbares "entziffern" kann, z.B.
den eigenen Namen. Das ist unterschwelliger Stress. Es gibt in Steins Inszenierung
sozusagen "Bewegungsrauschen" und "Wechselgesangsrauschen", ja, selbst (vor allem
bei Bruno Ganz) "Deklamationsrauschen" (was ich damit meine finden Sie unter
"Sprechbehandlung").
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Die Eintönigkeit der chorischen Rezitation resultiert daraus, daß sie keinen natürlichen
Sprachfluß gestattet und daher die Möglichkeiten der Sprachgestaltung schnell
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erschöpft sind. Es wirkt gestelzt und es klingt alles gleich - und umso gleicher, je
weniger man versteht, denn auch das Sprachverständnis ist eingeschränkt. Aber selbst,
wo die Worte gut verständlich sind, leidet der Text unter Steins chorischer Darbietung:
Durch die unvorhersehbaren Wechsel zwischen einzeln und chorisch gesprochenen
Passagen geschieht zweierlei: Einerseits wird der Text zerpuzzelt, der Hörer kann der
Bedeutung nur mit Anstrengung und Einschränkungen folgen, weil er mehr als genug
damit zu tun hat, die Puzzelteile zusammenzusetzen. Zweitens erlebe ich diesen
Wechselgesang ähnlich wie die Kameraführung: jeder Wechsel ist eine zusätzliche
Information, die die Informationsverarbeitung zusätzlich belastet. - Es würde sich
lohnen, einmal genau zu untersuchen, wo die Chorische Rezitation bei Stein einen
Gewinn bringt (z.B. bei den Lamien) und wo sie zum Problem wird. (Weitere
Hinweise unter "Chöre").
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Komisch finde ich es, wenn Helena ihren Gefährtinnen, die mit ihr aus dem Schiff
gestiegen sind, erzählt, daß sie gerade vom Strande kommt und Schiff gefahren ist.
Das scheint eine Kleinigkeit aber ich erlebe es so, als ob dem Text dadurch die Luft
rausgelassen wurde: Was Helena sagt, wird dadurch eigentümlich redundant.
Außerdem entsteht ein Störimpuls, weil der Zuschauer irritiert ist: Warum sagt sie das
jetzt denen, die es schon wissen? Ich finde es interessant, wie hier die
Bedeutungsentfaltung eines Textes performativ gestört werden kann. (Vielleicht bin
ich hier ja zu zwanghaft. Aber wenn, dann ist das hier vielleicht gerade brauchbar im
Sinne von "Tick als Vergrößerungsglas" (Adorno), weil es etwas aufspürt, das andere
vielleicht sowenig stört, daß sie es nicht benennen können, aber eben doch stört...) (Natürlich könnte man diesen Effekt der performativen Bedeutungsdiffusion auch
künstlerisch nutzen, aber das wäre dann Regietheater...)
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Faust und Lykeus spielen m.E. in dieser Szene die Potenzen ihres Textes und ihrer
Rollen nicht aus. Auch halte ich Steins Interpretation hier für problematisch: daß Faust
Lykeus für sich (Faust) sprechen lässt, als "Stimme seines Herrn" (Programmbuch
S.157). Ich halte es für plausibler, daß hier zwei Männer um die gleiche Frau
konkurrieren.
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Eigentümlich steif wirkt Euphorion, steif und stilisiert. Christian Nickel spielt
Euphorions Euphorie so brav-bierernst, so aseptisch, daß jeder merkt: aha, das soll
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jetzt Euphorie sein. Jedenfalls ist in dieser Szene keine Spur davon, daß es sich bei
"Faust 2", laut Aussage seines Autors, um "sehr ernste Scherze" handelt...
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Als ich die Euphorion-Szene nach meinen psychotherapeutischen Studien wieder las,
war ich frappiert: Goethe hat hier ein pathogenes Beziehungsmuster begriffen, das erst
im 20. Jahrhundert reflexiv zugänglich wurde: daß jemand einem anderen nicht sein
eigenes Leben lassen kann, weil er ihn zur Stabilisierung seines eigenen seelischen
Gleichgewichts benötigt. (Ein anderes Beispiel dieser Art ist die Figur des Stephan
Trofimowitschs in Dostojewskies "Dämonen", dort sieht man noch besser und
erschreckender, was dadurch alles angerichtet werden kann... Vgl. dazu: H.E.Richter,
"Patient Familie" sowie H. Bauriedl, "Beziehungsanalyse). - Alle Kommentare, wie
auch das Programmbuch, beeilen sich, darauf hinzuweisen, daß Goethe bei der Gestalt
des Euphorion Lord Byron im Sinn gehabt habe. Der Hinweis ist ja ganz nett, aber
wenig hilfreich zum Verständnis der Szene. Er führt eher dazu, daß man alles zu
schwer nimmt und es auch bei Stein zu bierernst geraten ist... Und daran ist nicht
zuletzt schuld, daß man die Lebendigkeit des Chors wegen der Schwerfälligkeit und
Stilisiertheit seiner chorischen Rezitation und der ständigen Anspannung und
Anstrengung beim akustischen Textverständnis, nur erahnen aber kaum erleben kann.
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Jedenfalls: daß es sich hier um das Thema: "Pubertät unter pathogenen Bedingungen"
handelt, erschließt sich mir nicht aus dem Erleben. Ich habe noch keinen Kommentar
gelesen, der einfach mal davon ausgeht, daß Goethe hier in erster Linie die
Faustgeschichte weiter schreiben wollte und nicht eine steife-barocke Allegorie über
die Problematik der byronschen Dichtung. - Möglicherweise hat Goethe hier sein
eigenes Versagen als Vater "verarbeitet". Jedenfalls passt es ganz zu der Linie, mit der
Goethe das "Faustische" zeichnet: Egozentrik, die sich selbst als solche nicht begreift
und dadurch ein Versagen ans andere reiht...
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Faust ist fortpflanzungsunfähig: bereits das zweite Kind stirbt, bevor es erwachsen ist
und zwar nicht aus schicksalhafter Krankheit sondern wegen Fausts
Beziehungsunfähigkeit. Er bekommt erst im Himmel die Chance, sich um den
Nachwuchs verdient zu machen, als "Lehrer" der "Seligen Knaben". (Hoffen wir für
ihn, daß sie ihm nicht auf der Nase rumtanzen...)
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Problematisch finde ich auch in dieser Szene wieder Steins "Versatzstückphilosophie":
Euphorion tatsächlich mit einer Umhängeharfe auszustatten und buchstäblich fliegen
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zu lassen! Das ist zuwenig "Kontrapunkt": die Inszenierung parallelisiert die Worte,
fügt nichts hinzu, wiederholt nur, was die Worte schon sagen, "ikonographiert" den
Text - es ist wie eine Melodie in Terzgängen. - Ein Euphorion, der einfach nur auf
einen Tisch klettert, ist unter Umständen ausdrucksstärker, als dieses ganze
mechanisierte Inzenierungswesen...
(4) Epilog
Aus dem Begleitbuch zur Aufführung geht hervor, wie genau Stein wußte, was hier zu tun ist
und die Schauspieler entsprechend instruierte. Liest man das, freut man sich auf eine
gelungene Inszenierung der Schlußszene. Doch meine Enttäuschung war riesig. Egal, woran
das liegt, es gilt, zu analysieren, was man dort sieht und Lehren daraus zu ziehen:
•
Die Einsiedler: Sie wirken klerikal und uniform. (Das wird durch die
Kameraeinstellung noch verstärkt, da der Zuschauer nicht mal ihren Standort im Raum
wahrnehmen kann. Aber dafür kann Stein natürlich nichts.) Das giftgrüne Licht im
Hintergrund soll wohl den Wald andeuten. - Was schafft das alles für eine
Atmosphäre? Eine, die hilfreich ist für das Verständnis des Textes? - Es ist mir
rätselhaft, wieso Stein es vorzieht, mit Versatzstücken (Grün für Wald, Kutte für
Mönch) etwas vom Werk eins zu eins treu abzubilden, statt sich zu überlegen, wie er
im Rahmen der Konzeption seines Bühnenbildes eine gehaltvolle Atmosphäre
schaffen kann, wie er Bilder schaffen kann, die etwas erzählen, das konvergent ist mit
dem Gehalt und der Form des Textes, ihm aber gleichwohl eine "dritte Dimension"
hinzufügen.
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Problematisch finde ich vor allem die eintönige und bestenfalls marionettenhafte Art
des Vortrags: keimfrei und ziemlich unlebendig oder von aufgesetzter hölzerner
Lebendigkeit. Es ist mir ein Rätsel, wie Stein das durchgehen lassen konnte. (Aber
vielleicht waren die Schauspieler auch einfach erschöpft!) Ich denke, in dieser Szene
kommt alles darauf an, hinter den Bildern das Leben zu erwecken! Gerade in dieser
Szene sollten Verspieltheit, Spontaneität und Authentizität obwalten. Es ist nicht
einzusehen, warum Mephisto soviel "echter" wirkt, als der Pater Profundus. Einsiedler
sind Menschen, die die Konflikte des Lebens kennen und zwar so sehr, daß sie ihrer
nicht Herr wurden und vor ihnen "aus der Welt" geflohen sind, aber ohne ihr Streben
nach persönlichem Wachstum dafür aufgeben zu wollen. - Und jeder der Einsiedler
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benennt ja auch die Heftigkeit der Konflikte, die das Leben ihn spüren ließ... Doch
davon ist bei Stein nicht viel zu spüren...
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Die "Seligen Knaben" in Form einer sitzenden jungen Frau darzustellen ist wohl die
einfallsloseste Variante. Wieder ist mir ein Rätsel, was Stein damit verband. Auch hier
ist der Ausdruck relativ monoton und aseptisch. Die seligen Knaben sind bei Goethe
höchst aktiv: sie "schweben" und "wallen", "regen" sich in luftigem Ringelrein und
packen ihr Geschenk aus (Faust). Sitzen vermittelt da einfach die falsche Botschaft!
Das "friert" den Gehalt des Textes ein, entdifferenziert ihn und nimmt ihm die
Lebendigkeit. - Den "Seligen Knaben" ist nur beizukommen, wenn man sie genau so
darstellt, wie ihr Name und die dahinter stehende Vorstellung anmutet: ironisch und
surrealistisch, tröstlich und doch auch durchwebt von der Tragik und Traurigkeit des
"Plötzlichen Kindstods"...
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Richtig ist unter solchen Bedingungen, daß dann noch ein Rätsel inszeniert wird: was
sollen die vier Lebensalter: Faust als Baby, Kind, Jugendlicher und Erwachsener?
Nachdem die Szene so aseptisch, blaß, zweidimensional und einfallslos ablief, musste
noch irgendwas kommen, noch irgendein Denk- und Erlebnisreiz. Aber ob der
hilfreich ist, ist die andere Frage: Rätsel hemmen das Erleben, weil man sich fragt:
"Was heißt das denn jetzt? Wie soll ich das denn jetzt erleben?" - Als wenn der Text
nicht bedeutungsträchtig genug wäre! Dafür darf man ihn aber nicht so somnabul
darbieten. Ist doch wahr! Die reden doch alle wie bekifft! Kein Wunder, das sich das
Vogelgezwitscher am Schluß in ein so unangenehmes Fiepen steigern muß: irgendwie
muß man die Zuschauer nach soviel Rammdösigkeit ja wieder wach kriegen...
•
Es ist wirklich schade, dass der Epilog so vermasselt ist (zumindest auf der DVD).
Hier käme alles darauf an, so zu inszenieren, daß die mythologischen Figuren ihren
poetischen Gehalt entfalten können! Wie gesagt: Goethe war ein Geschichtennarr! Er
hatte Sinn für das, was die Geschichten, die sich Menschen erzählen, von Seligen
Knaben, Engelhierachien, Gottesmüttern und -söhnen, Büßerinnen und Einsiedlern,
was diese Geschichten vom Menschlichen sichtbar machen. Er wollte damit an die
Kreativität, die darin zum Ausdruck kommt, anknüpfen und ein Band zwischen den
Menschen verschiedener Kulturen und Zeiten knüpfen ("Intertextualität"). Er wollte
keine philosophische Abhandlung schreiben über Schuld, Sühne, Liebe, Solidarität,
über alles, was "soziale Intelligenz" ausmacht, sondern es stellte sich ihm die Frage,
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wie er soziale Intelligenz poetisch, d.h. bildhaft, anschaulich, erlebnishaft, suggestiv
darstellen konnte und dafür griff er auf entsprechende Figuren der christlichen
Mythologie und des Volksglaubens zurück.
(5) Kostüme und Bühnenbild
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Die eins zu eins Abbildungen des Textes sind in dieser Inszenierung an vielen Stellen
offenbar wichtiger als Schaffen von Athmosphäre. Die Abbildung ist dabei indifferent
gegen den Ausdrucksgehalt: Nereus wird so ausstaffiert, daß man sieht, daß er ein
Meerwesen ist, bei den Phorkiaden soll man auch sehen, worum es geht: daß sich drei
Frauen eines Auges und eines Zahns bedienen. Stein hat wohl Angst gehabt, daß die
Zuschauer sonst die Surrealistik des Textes nicht glauben. Es ist ein Aspekt von
Inszenierungskunst, solche "Veranschaulichung" zu leisten. Steins Lösung zeigt
jedoch, daß Veranschaulichung nicht auf Kosten des Erlebens gehen darf, sonst ist
mehr verloren als gewonnen. Drei Greisinnen zu zeigen, einfach so, ohne jeden
requisitorischen Kommentar wäre hier ungleich erlebnisreicher, weil das Erleben
durch die Ausstaffierung nicht so abgelenkt und verstellt würde.
•
Atmosphäre kann auch nicht entstehen durch unmotiviert-widersprüchliche
Assoziationen: Fabrikhalle und Meeresfest passen nicht zusammen - es sei denn, man
will darstellen, daß sich das Meeresfest in einem Industriehafen abspielt, der just da
errichtet wurde, wo die Meergeister immer feiern. Das wäre ja wieder in Ordnung.
Dahinter stände ein Prinzip. Aber einfach ein Stahlgerüst mitten in der Szenerie stehen
zu lassen: dabei bleibt etwas ungestaltet ohne daß man erkennen kann, warum
ausgerechnet das jetzt ungestaltet bleibt, wo doch alles mögliche andere gestaltet
wurde! Es muß die Regel erkennbar sein und die Regel muß als Interpretation des
Textes, als aus dem Text motiviert erkennbar sein, oder als Stiftung eines
Zusammenhangs zwischen Text und Welt. Wenn da so unmotiviert ein ungestaltetes
Stahlteil in die Szene einbezogen wird, dann braucht Stein die Sirenen auch nicht in
einem sirenenhaften Singsang auf Kosten der Textverständlichkeit leiern zu lassen!
Warum hier ein besonderer Aufwand für eine besondere Gestaltung und dort nicht?
Bei soviel Aufwand in allen möglichen Einzelheiten, wo wäre das Problem, die
Stahlträger in irgendeiner Form zu verkleiden, zu "gestalten"? "Durchbrochenheit":
gut. Aber wenn dieses Prinzip der modernen Ästhetik zum Freibrief wird, einfach hier
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mal was zu machen und dort mal was zu lassen, dann ist das nicht modern sondern
Schlamperei! Der Eindruck entsteht, als ob sich die Ausstattung nicht nach dem Text
richtet sondern nach logistischen Gegebenheiten. - Chiron z.B. gefällt mir gut, es ist
eine artige Verspieltheit, die der "Heiterkeit" der Szene gerecht wird. Aber ich finde es
fraglich, ob eine Inszenierung hilfreich ist dabei, ein Gefühl von "Einheit" über die
großen Divergenzen des Textes herzustellen, wenn sie ihre Prinzipien und Konzepte
von Szene zu Szene wechselt ohne daß es vom Gehalt des Textes her motiviert wäre:
Einen Zentauren darzustellen in dem Stil, wie die Meerkatzen ist ziemlich aufwändig,
vor allem, wenn er so "naturalistisch" wirken soll, wie die Meerkatzen. Aber entweder
entschließt man sich dazu, oder man legt beiden das gleiche Prinzip von Stilisierung
zu Grunde. Sonst wirkt es wie das Spiel eines Pianisten, der an schwierigen Stellen
langsamer spielt... (Die opulente Ausstattung der Hexenküche hat eine andere Art von
Nachteil: Sie ist so toll, daß man nur schauen will und darüber der Text zur
Nebensache wird, zur Kulisse...)
•
Das Inszenierungsprinzip der Eins-zu-Eins-Umsetzung und der symbolisierenden
Ausstattung vermasselt auch den Epilog. Das ganze Konzept halte ich für unglücklich:
Hier unbedingt die Spiralsymbolik mit hineinbringen zu wollen. Das ist ein
intellektueller Zusammenhang! Das Theater ist kein Hörsaal, man sollte da nicht zu
denken geben sondern zu erleben! Das Denken kommt dann von ganz allein! Was ist
der Erlebnisgehalt dieser sonderbaren wackeligen stahlgerüstartigen Konstruktion?
Das ist alles viel zu ausgedacht und dem Text übergestülpt. Äußere Symbole und
Denkanstöße sollen hier den Text erklären, statt daß der Text eine Chance bekommt,
sich selbst zu erklären.
(6) Sprechbehandlung
Wenn ein Ausnahmeregisseur wie Stein mit jahrzehntelanger Inszenierungserfahrung sein
"Opus Magnum" schafft und dafür einen Theaterapparat zur Verfügung hat, der in der
Theatergeschichte kaum seinesgleichen hat, dann muß man wohl davon ausgehen, daß es sich
dabei auch um ein Optimum an künstlerischem Gelingen handelt. Doch um es rundheraus zu
sagen: So bemerkenswerte Einzelleistungen diese Aufführung auch aufweist (die Margarete,
ein Mephisto (Oest), Auerbachs Keller, die Lamienszene, die Grablegung u.v.a.) und so
wichtig sie für die Theatergeschichte auch sein mag: mein erster Eindruck war: "ein großer
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Aufwand, schmählich ist vertan!" - Die Faustdarstellung von Bruno Ganz - so virtuos sie sein
mag - finde ich höchst fragwürdig, so wie überhaupt Grundprinzipien der Textbehandlung bei
Solisten und Chören. Andere "Fragwürdigkeiten" treten dahinter stark zurück und wären
durchaus tolerabel. Aber die Darbietung des Textes halte ich an vielen zentralen Stellen für
misslungen. Doch ob dem so sei oder nicht: es kommt darauf an, aus den Fragen, die sich hier
stellen, zu lernen.
Deklamation: Ein wesentliches Prinzip der Inszenierung scheint die Überzeichnung zu sein, in
Reinkultur bei Bruno Ganz, aber so extrem nur bei ihm (Bsp.: "Mir eeeekelt lange vor allem
Wissen"...) Die Worte werden zu überzeichneten Ausdrucksgesten benutzt. Nicht der Text
steht im Mittelpunkt sondern die Inszenierungsidee: jedes Wort soll offenbar dafür benutzt
werden, zu zeigen, was der Faust für ein wunderlicher Kauz ist. Ein solches Konzept bewährt
sich da, wo Worte fehlen, wo man mit anderen Mitteln und in anderem Zeitrahmen zeigen
muß, was man zeigen will. Hier gibt es weiß Gott genug Worte und genug Zeit! Warum lässt
Stein nicht die Worte selber für sich sprechen? Mir scheint daß hier ein Prinzip des
Puppenspiels genutzt wurde. Ich kann mir vorstellen - und halte es für lehrreich, das einmal
ohne Ironie zu überdenken - daß der Effekt, der "Eindruck" der Inszenierung sich nicht
wesentlich ändern würde, wenn Bruno Ganz im Eingangsmonolog durch eine chinesische
Stabpuppe ersetzt würde.
Ich bin ja kein Fachmann, aber ich schätze, das, was ich an Steins Sprechbehandlung als
ungünstig und störend, ja "stressend" erlebe, müsste sich wahrnehmungs- und
rezeptionspsychologisch fassen lassen:
•
Wir sind von Natur aus darauf programmiert, allem Ungewöhnlichen besondere
Aufmerksamkeit zu schenken. Das Ungewöhnliche hebt sich heraus, drängt sich in
den Vordergrund. Deshalb ist man bei überzeichnender Deklamation mehr darauf
aufmerksam, wie etwas gesagt wird, als was gesagt wird. So ist man bei Ganz ständig
von seinem Text abgelenkt dadurch, wie "komisch" er spricht. Der Gehalt des Textes
gerät in den Hintergrund, die Entfaltung des Erlebens ist durch das Verwundern über
die ungewöhnliche Aussprache beeinträchtigt. Darüberhinaus entsteht eine Art
Monotonie: es wird vorhersagbar, daß Ganz bei der nächsten Gelegenheit freudiger
oder ärgerlicher Erregung wieder einen Vokal lang zieht, "nach derselben Manier".
Das sich heraushebende Überzeichnete bildet eine Einheit, eine die Zeit übergreifende
"Gestalt". Und da die Überzeichnung sich überall der gleichen sehr beschränkten
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Anzahl von Mitteln bedient, hat diese "Gestalt" monotone, wenig differenzierte Züge,
sie wird im wahrsten Sinne des Wortes "eintönig". - Ich denke, Stein hat nicht erkannt,
daß die Form der Darbietung des Textes im Hintergrund bleiben muß, sich nicht in
den Vordergrund spielen darf, weil sonst keine Einheit zwischen Gehalt und
Expression eines Sprechaktes entsteht. Wahrscheinlich würde ein ähnlicher Effekt
entstehen, wenn es einen Filter gäbe, der bei ganz normalem Alltagsreden die
Sprachmelodie hervorhebt. Die Eigenart des Sprechens ist ja, daß es eine Divergenz
gibt zwischen dem beschränkten Arsenal an Möglichkeiten des stimmlichen
Ausdrucksverhaltens und der Unendlichkeit dessen, was sich inhaltlich in der Sprache
ausdrücken läßt. Das Ausdrucksverhalten in den Vordergrund zu rücken muß daher
zur Monotonisierung führen, weil es die Bedeutungsdiversität nivelliert, indem sie sie
in den Hintergrund abdrängt. - Außerdem entsteht noch eine Art
"Binnenentdifferenzierung", weil das "natürliche" verbale Ausdrucksverhalten
"elastischer" und differenzierter ist, als jede Form von "Manier" es sein kann. Mir
scheint hier etwas Analoges zu dem vorzuliegen, was Musikethnologen bei der
griechischen Volksmusik beschrieben haben: als es in den 60ziger Jahren "Mode"
wurde, die Instrumente elektronisch zu verstärken, entdifferenzierte und trivialisierte
sich diese Musik, weil viele Feinheiten vom elektronischen Klang oder mit
elektronischen Instrumenten nicht mehr darstellbar waren. Ein ähnlicher
"Verstärkereffekt" stellt sich offenbar bei der "Verstärkung" deklamatorischen
Ausdrucksverhaltens ein.
•
Die Erlebnisfähigkeit wird zusätzlich eingeschränkt, weil die Aufmerksamkeit stets
damit beschäftigt ist, aus dem überzeichnenden Sprechgesang den Sinn herauszulesen,
z.B. bei der Stelle: "Mir ekelt lange vor allem Wissen". Ganz schreit das "e" fast und
zieht es unnatürlich in die Länge. Daß der Ekel hier ein ganz besonderer Grund zur
Wut ist, erschließt sich aus Lautstärke und Langgezogenheit, aus der ganzen
Übertriebenheit des Ausdrucks. Genau das ist das Problem: Man muß den Gehalt einer
Deklamationsgeste "erschließen" anhand von morphologischen Qualitäten, so wie man
eine gezackte Linie als "zornig" erleben kann. Auch wenn das relativ spontan
geschieht: es ist ein Vermittlungsschritt mehr. Die Überzeichnung des Ausdrucks ist
Bedeutungsträger, nicht der Ausdruck selbst. Die Überzeichnung führt dazu, daß
gewissermaßen "Expressionszeichen" an die Stelle der Expression treten: Ständig sind
es Qualitäten des Ausdrucksverhaltens, die weniger für sich selbst sprechen, sondern,
wie Zeichen, dasjenige vertreten, von dem sie sprechen. Durch diese erhöhte
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Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit entsteht eine Art Tunnelblick: größere
Zusammenhänge können nur sehr eingeschränkt und undifferenziert zu einem Erlebnis
zusammengefasst werden.
•
Es entsteht auch ein erhöhter hermeneutischer Aufwand: "Hm, daß Faust hier
ungehalten ist, ist ja klar, aber warum er hier so furchtbar heftig wird, kann ich
unmittelbar nicht nachvollziehen - aha, das könnte vielleicht daher kommen, weil..." Auch das nimmt dem Erleben Aufmerksamkeit und führt darüberhinaus noch zu der
oben ("Faustdarstellung") beschriebenen Verzeichnung: Je weniger unmittelbar
nachvollziehbar ein Verhalten ist, je "kauziger" wirkt es.
•
Selbst die weniger übertrieben deklamierten Passagen (ab "wer lehrt mich nun" bis
"Dem Wurme gleich ich" und dann wieder ab "Doch warum heftet sich mein Blick"
bis "Was sucht ihr") sind "verseucht" von der Manieriertheit, weil man ständig einem
Rückfall in sie gewärtig sein muß und weil man dem Faust das weniger Manierierte
auch schon gar nicht mehr abnimmt.
•
Das "Falsche" an dieser Sprechweise liegt m.E. schon allein darin, daß sie das
akustische Verständnis erschwert. (Wieder ist die Stelle mit "eeeekelt" dafür ein gutes
Beispiel.) - Der Text muß nicht nur verständlich sein, er muß mühelos verständlich
sein! Jede Mühsal beim Textverstehen geht auf Kosten des Erlebens, weil es dem
Erleben Aufmerksamkeit raubt, weil es Stress macht, weil es die "Hingabe" an den
Text massiv beeinträchtigt. Mit Anstrengung zu verstehen ist nicht viel besser, als gar
nicht zu verstehen.)
•
Chöre: Ein analoges Problem gibt es bei Steins Behandlung des Chors: man erlebt
nicht die Bedeutung des Geschauten sondern muß sie erschließen: man muß erst
darauf kommen, daß ein Sprecherwechsel mitten im Satz bedeuten soll: "dem andern
ins Wort fallen". Vielleicht bin ich ja phantasielos, aber ich habe es nicht als "ins Wort
fallen" erlebt, erst dem Programmbuch konnte ich entnehmen, daß es das bedeuten
sollte. - Beim "Chor" ist der Verlust der natürlichen Elastizität des sprachlichen
Ausdrucksverhalten natürlich genau gewollt: das Abschleifen individueller
Ausdrucksvarianzen, die Entdifferenzierung zugunsten einer "höheren" Macht: dem
Kollektiv. - Dennoch ist die Frage, ob man die Poesie mancher Texte nicht gegen das
chorische Prinzip durchsetzen sollte - denn die chorische Rezitation eines poetischen
Textes ist etwa so, als ob man sich beim Betrachten eines Rubensgemäldes eine rote
Brille aufsetzt. Ferner braucht der Zuschauer Sicherheit: hier mal eine Passage solo
sprechen zu lassen und plötzlich spricht ein anderer oder ein Teil des Chores weiter:
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wenn der Zuschauer ständig darauf gefasst sein muß, daß es wieder akustisch
anstrengend und interpretatorisch entdifferenziert wird, dann kann er sich dem
Geschehen nicht wirklich hingeben, dann bleibt es eine Rezeption unter Stress.
•
Reime: Eine Entdifferenzierung des verbalen Ausdrucksverhaltens tritt auch ein, wenn
die Textform statt der Textinhalt die Sprechgestaltung bestimmt. - Auch hier gilt: ist
die Betonung des Endreims nur häufig genug, erwartet der Zuschauer sie schon wie
einen Stromschlag und bleibt unterschwellig ständig unter Stress: "Wann kommt
wieder das Verbogene?" Verbogen nenne ich das, weil ein Vers, der auf den Reim hin
gesprochen wird, die ganze Aufmerksamkeit auf diesen Reim zieht und der Gehalt
aller anderen Wörter nivelliert wird. Dieser Effekt ist um so größer, wenn er
erwartbar, vorhersehbar ist. - Es ist mir ein Rätsel, wieso Stein für diesen
wahrnehmungspsychologischen Effekt offenbar weder Sensibilität noch Bewusstsein
hat. - Es ist wie: als ob der Beleuchter die Beleuchtung immer auf alles richten würde,
was Rot ist, egal ob sich da gerade was Wichtiges abspielt oder nicht. Ganz deutlich
wird die Wirkung dieses Prinzips und kann von jedem Leser selbst ausprobiert
werden, bei folgenden Versen: "Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen, der Erde
Weh, der Erde Glück zu tragen, mit Stürmen mich herum zu schlagen und in des
Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen". Weitere Stellen:
"Nun kenn ich deine würdigen Pflichten, du kannst im Großen nichts vernichten..."
"Der Gott, der mir im Busen wohnt, kann tief mein innerstes erregen, Der über allen
meinen Kräften trohnt, er kann nach außen nichts bewegen..."
"stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit, ins Rollen der Begebenheit..."
(Extrem unsinnig scheint es auch im 4. Akt bei Vers 10598).
•
Ein weiteres Problem: Die vom Rhythmus geforderten Wortverkürzungen oder
-dehnungen ("Sternelein", statt "Sternlein") macht Stein oft nicht mit. Er findet diese
"vertretbare Minimalaktualisierung" klasse, wie der Probendokumentation zu
entnehmen ist: "das ist das Salz" (Programmbuch S. 107). Ich finde es läppisch.
Wenigstens dort, wo es für die Verständlichkeit nichts bringt. Dort wirkt es einfach
deplaziert, z.B. "erquickliches" statt "erquicklich" sprechen zu lassen, gerade im 3.
Akt, für dessen Aussage noch mehr als für die anderen, die Sprachform (und d.h.: der
Rhythmus) konstitutiv ist. (Man mache die Probe aufs Exempel: Vers: 8536 "...auch
sprach er kein erquicklich Wort".) - Wenn schon eine Silbe mehr, dann dort, wo
dadurch der Text fasslicher wird, z.B. könnte man ein "auch" einfügen an folgender
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Stelle: "und sollt ihr weiter mich nicht treiben, Mächte, wer ihr [auch] seid!"(Vers
8658). - An dieser Stelle der Inszenierung wird auch deutlich was hoch artistische
Sprachform an Umsichtigkeit bei der Sprechgestaltung erfordert: die Pause von
Corinna Kirchhof hinter "treiben" ist m.E. zu lang. So wusste ich einen Augenblick
nicht, ob sich das "ihr" auf Helenas Mädchen bezieht (zumal sie die kurz vorher
adressiert). Natürlich war das nur eine ganz kurze Desorientierung - aber das reicht,
um die Auffassung von der Sache abzulenken und dadurch das Texterleben in seiner
Entfaltung zu beeinträchtigen. Schade! (Egal, ob Frau Kirchhof das versehentlich
passiert ist oder ob Stein es durchgehen ließ oder ob es als interpretatorische Freiheit
gemeint ist: es ist eine lehrreiche Stelle.) (Übrigens werden auch einige Namen
unrichtig ausgesprochen, z.B. "Äskulap" (Chironszene) und "Sardanapal"
(Hochgebirge 4.Akt). Ist das Absicht? Kaum vorstellbar, daß Stein die richtige
Betonung nicht kennt oder die falsche durchgehen ließ. - Aber auf solche
Kleinigkeiten sollte man nicht zuviel Wert legen...)
•
Freilich bin ich mir unsicher, ob ich, der Laie, mir so ein Urteil anmaßen darf. Doch
alles, was ich beim Anschauen der DVD erlebe, legt mir nahe, daß diese Inszenierung
auf langen Strecken den Anforderungen des Textes nicht wirklich gerecht wird:
Erschwerung der akustischen Verständlichkeit zugunsten einer fragwürdigen
Sprechästhetik; Ignorierung vieler Möglichkeiten, das Sinnverständnis zu erleichtern;
Entnervung durch "emergente" Monotonie und massive Beeinträchtigung des Erlebens
durch unökonomische und wenig sinnige Beanspruchung der Aufmerksamkeit.
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Ich frage mich, ob das Absicht war, oder ob Stein die wahrnehmungspsychologischen
Tatsachen weder theoretisch reflektiert noch bei den Proben bemerkt hat. Ich vermute
hier einen professionalitätsbedingten mangelnden Abstand zum Endprodukt: Stein
weiß, was er sich wie vorzustellen hat, aber ich frage mich, ob er sich auch vorstellen
kann, was für eine Vorstellung im Zuschauer entsteht.
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Die Gründgens Inszenierungen (Kino- und Hörspielfassung)
(1) Faust-Film (Faust 1)
•
Will Quadflieg "hastet" durch den Text, der Text scheint nur Staffage zu sein für eine
klischeehaft grimmige Faustgrimasse. Tempo und Dynamik sind fast monoton und
ziemlich vorhersagbar, es gibt nur minimale Modulationen in Stimme, Mimik und
Geste. Die wirken dann aber auch um so "erquickender". Doch im Ganzen wird der
Text nicht ausgespielt. Es entsteht ein holzschnittartiger Eindruck.
•
Diese "Inszenierungsphilosophie" betrifft hauptsächlich alle Szenen, in denen Faust
alleine oder mit Mephisto auftritt. Die "Hast" kommt zwar auch in den anderen
Szenen immer wieder durch, aber vor allem die Schülerszene oder auch viele Szenen
der Margaretentragödie sind "ausgespielter". · Die "Gelehrtentragödie" wirkt dadurch
viel flüchtiger und fragmentarischer als die Geschichte von Margarete, sie bekommt
fast so etwas episodisches wie die Tanz-, die Schüler-, die Kneipen- und die
Hexenszene. - Hinzu kommt, daß die Streichfassung zum Verständnis des Textes
wichtige Passagen dem Tempo opfert, so daß schon allein inhaltlich eine
Verzeichnung entsteht.
•
Das ganze Ausmaß der Ambivalenz Fausts kommt durch so ein Verfahren nicht zur
Anschauung. Je weniger Anschauung eine Inszenierung bietet, je schemenhafter, je
erlebnisärmer sie ist, desto weniger trägt eine Inszenierung auch zum Verständnis des
Textes bei. Die Zuschauer müssen dann die Schemen mit ihrem mitgebrachten Wissen
selber ausfüllen, sie erleben nichts dazu, es wird ihnen nichts geboten, was sie nicht
schon selber kennen (hier: einen grimmigen Faust in seinem faustischen Grimm). Die
Figuren werden so auf eine Wiedererkennungs- und Erinnerungsfunktion reduziert.
Mit dieser Verarmung und Klischierung der Faustfigur geht Goethes
Auseinandersetzung mit dem Thema Ambivalenzkonflikte, die zu den größten
Unruhestiftern im Menschenleben gehören, verloren. -
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(2) Faust 1+2 als Hörspiel
•
Der "Hörspielfaust" ist im Eingangsmonolog noch deutlich erlebnisärmer: Man stellt
sich einen gemütlichen, onkelhaften, dickbäuchigen älteren Herrn vor, der behaglich
im Ohrensessel sitzt und seinen Enkeln erzählt, daß er auch mal Philosophie studiert
hat und daß es das überhaupt nicht gebracht hat. Viele andere Szenen sind aber
lohnenswert, vor allem die Chironszene. Auch der Helenaakt ist gewinnend.
Allerdings hört sich die Helena doch etwas hausbacken an und der Faust etwas zu
salbungsvoll (doch das nannte man damals wohl "theatralisch"). Die Chöre im
Helenaakt sind gut anhörbar und der Sinn der Chöre vermittelt sich gut - im Gegensatz
zu den Chören der Steininszenierung. Allerdings ist die Hörspielfassung teilweise
entstellend und wenig sinnreich gestrichen. (Das gälte es im Einzelnen zu begründen.)
•
Es ist interessant: meist da, wo Faust und Mephisto nicht dabei sind, ist die
Inszenierung interessanter. Der Beginn des 4. Aktes: Monolog und Dialog bis zum
Auftritt des Kaisers wirkt einförmig. Will Quadflieg muß hier wieder die grimmige
Faustgrimmasse aufsetzen, nachdem er im einleitenden Monolog sehr salbungsvoll
rezitieren musste. (Bsp: Vers 10231: "Und, weit hinein sie in sich selbst zu drängen":
wie Quadflieg hier spricht, erinnert mich an die Art, wie man Kindern vorliest: dick
aufgetragen, man will ihnen ja schließlich vormachen, was "faustischer Drang"
bedeutet.) Es wirkt auf mich etwas marionettenhaft: es hat etwas von der Steifheit,
Ungelenkheit und Stilisiertheit des Puppenspiels. (Und in der Tat: spätestens bei der
Baucis glaubt man sich in die Augsburger Puppenkiste versetzt.) Das scheint Absicht
zu sein. Aber ich kann dem Beabsichtigten nichts entnehmen. Es ist mir rätselhaft, was
die daran gut fanden. Ich finde es nur verarmt. (So verarmt wie die Streichfassung.)
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Hinzu kommt, daß - übrigens auch bei Stein - manchmal zuviel Wert darauf gelegt
scheint, die Reime zu betonen (s.u. Reime). Offenbar ist das eine besondere
Sprechtradition. Doch auf mich wirkt es bestenfalls verbogen, manchmal aber nah am
Rande dilletantischen Leierns. (Bsp: Verse 10379f: wie der Kaiser "empörten" auf
"verheerten" reimt.) Ich weiß wirklich nicht, wer sich ausgedacht hat, daß das sinnvoll
oder schön sein soll. Ich finde es nur glitschig. Ich empfinde Reime als so stark, daß
man sie nicht noch extra zu betonen braucht. Haben die nie ausprobiert, was passiert,
wenn man die Verse ganz normal spricht? Der Reim spricht doch für sich!
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3 Dorn-Inszenierung
Mein erster Eindruck: eine Inszenierung für 12jährige: Das Faustische wird auch von Dorn ins
marionettenhafte kolportiert, so gekonnt und stimmig das im Einzelnen von Helmut Griem
auch gemacht ist. Faust ist ein komischer Kauz, der niemandem gefährlich werden, über den
man nur lachen, den man nur bedauern kann.
Folgekosten der Kolportage: auch Textpassagen wie "was kann die Welt mir schon
gewähren" verlieren viel von ihrer Expression. Viele andere Einzelheiten nimmt man einem
solchen Faust nicht mehr ab ("aus dieser Sonne quillen meine Leiden..." - "Kannst du mich
schmeichelnd je belügen..."). Das Existentialistische "am End auch ich zerscheitern" geht
verloren: man sieht einen unfreiwillig komisch leidenden Kauz. Die Kolportage des "alten"
Faust überschattet selbst die "Liebeslieder" des "jungen", wie z.B. Fausts Entrücktheit in
Margaretes Zimmer.
Überhaupt scheint das Grundprinzip der Inszenierung zu sein: Hässlichkeit, Alter,
Unförmigkeit und Lächerlichkeit zu exponieren. Es wirkt platt, die Gottesmutter abstoßend
hässlich und eher zum fürchten zu gestalten. Es ist keine Kunst und sehr einseitig, auf diese
Weise den Katholizismus zu kritisieren. - So kommt man dem nicht bei! Im Gegenteil: "Man
fühlt die Absicht und man ist verstimmt!"
Der Mephisto: sehr unprätentös, anfangs dadurch ein wenig zu unausgespielt zu oberflächlich,
mit zuviel Vertrauen darauf, daß der Text allein schon subtil und süffisant genug ist. Im
Zweifel ist das freilich besser als eine aufgesetzte Originalität. Insgesamt finde ich Romualt
Pekny als Mephisto weit überzeugender als Hunger-Bühler bei Stein.
Die Streichfassung der Studierzimmerszenen hat zwar Hand und Fuß, macht es sich aber
einfach (obwohl, das ist ja durchaus erlaubt).
Im weiteren Verlauf zeigt sich das Problem der Streichfassungen ähnlich wie bei Gründgens:
die Szene in Auerbachs Keller ist unverhältnismäßig lang, gemessen an den
Studierzimmerszenen. Man kann sie aber auch schlecht noch weiter kürzen, wenn sie nicht
verstümmelt wirken soll. - Diese Mißproportionaliät setzt den Streichfassungen eigentlich
enge Grenzen. Doch die Regisseure fürchten wohl, daß das Publikum zu wenig Zeit hat...
Andererseits gibt es z.B. in der Hexenküche unnötige Längen. Das ist lehrreich. - Das die
Szene "Straße" weggelassen wurde, ist unverzeihlich. Es ist eine der wichtigsten Szenen: hier
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wird dem Unbewussten auf die Finger geschaut: man sieht, wie Faust seinen Betrug an
Margarete vor sich selbst kaschieren will.
Margaretes erstes großes Solo mit Kästchen hat zu viele Verlegenheitslösungen um Zeit zu
sparen.
Einiges ist unüberzeugend, z.B. Mephistos Wut, als er über den Verbleib des Kästchens
Bericht erstattet. Ist dabei auch sprachlich schwer verständlich, jedoch auch hier voll
süffisanter Einzelheiten virtuoser Schauspielkunst.
Überhaupt ist die Textverständlichkeit stellenweise mangelhaft. Ich verstehe nicht, wieso
Regisseure immer wieder virtuose Sprachgestaltung so überdehnen, daß man sich anstrengen
muß, die Worte zu verstehen. Das ist dann eigentlich auch nicht virtuos, weil es einem der
konstituierenden Parameter nicht gerecht wird. - Jede Anstrengung beim akustischen
Verständnis geht auf Kosten der Erlebnisfähigkeit!
Aber trotz allem wird man des Schauens nicht satt. So sehr man die Maschen auch
durchschaut: sie sind verdammt gut gemacht und im Einzelnen einfalls- und erlebnisreich
dabei aber immer sinnig und stimmig, im Dienste des Stücks.
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