2/2007
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Zentrum für politischpolitisch-ökonomische und ethische Bil Bildung ethik-report Nr. 2 März 2007 Informationen und Rezensi Rezensionen zu ethischen Themen aus TagesTagespresse, Fachzeit Fachzeitschriften, Gremien und von Fachtagun Fachtagungen herausgegeben von Mitgliedern des Zent Zentrums für poli politischtisch-ökonomische und ethische Bildung Editorial • Themenüberblick Presse- und Literaturspiegel • • • • Sterbehilfedebatte in Europa Unregelmäßigkeiten bei Sterbehilfeorganisation Einsames Sterben in der Großstadt Internationale Richtlinien für Stammzellforscher Rezension Leibnizstraße 3 88250 Weingarten Tel.: 0751/501-8293 E-Mail:www.ph-weingarten.de/zpe • Matthias Möhring-Hesse (Hrsg.): Streit um die Gerechtigkeit. Themen und Kontroversen im gegenwärtigen Gerechtigkeitsdiskurs. Schwalbach 2005 Dokumentation • Peter Dabrock: Was ist überhaupt Selbstbestimmung? In: Frankfurter Rundschau vom 15.02.07 2 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, in der Märzausgabe des ethik-reports geht onalen Stammzellforschung hat sich eine es um sechs bio- und sozialethische The- Gruppe von namhaften Stammzellfor- menschwerpunkte: Die Sterbehil Sterbehi l fedebatte schern entschlossen, ihren Kolleginnen in Europa hat sich in den letzten Mona- und Kollegen internationale Richtli Richtli nien ten vor allem im Zusammenhang mit Ge- für setzesänderungsvorhaben in den verschie- Diese sehen ein Klonverbot für Menschen denen Ländern intensiviert. Zur Diskussion und Mischwesen sowie bessere Selbstkon- stehen die ethischen und rechtlichen Fra- trollverfahren vor. Stammzellforscher vorzuschlagen. gen nach der Legitimation von aktiver Sterbehilfe und assistierter Selbsttötung. Der Rezensionsteil thematisiert den Streit Wir schildern anhand einiger, z.T. spekta- um die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit Der mit gleichlau- kulärer Fälle den Diskussionsstand in eini- tendem Titel von dem Frankfurter Ethiker gen Ländern Europas. In dieser Diskussion Matthias Möhring-Hesse herausgegebene spielen zunehmend auch die UnregelmäUnregelmä- Sammelband gibt eine gute Übersicht über ßigkeiten bei Sterbehilfeorganisatio Sterbehilfeorganisati on en, en , aktuelle Themen und Kontroversen im wie sie am Beispiel der Schweizer „Digni- gegenwärtigen Gerechtigkeitsdiskurs. tas“ zu Tage traten, eine Rolle. Wir geben die von ehemaligen Mitarbeitern dieser Der Dokumentationsteil widmet sich der Organisation erhobenen Vorwürfe wieder Frage: Was ist überhaupt SelbstbestimSelbstbestim- als Beispiel für die prekäre Praxis organi- mung? In einem bemerkenswerten Text sierter Tötungshilfen. Häufiger Anlass für erörtert der Marburger Theologe und Phi- suizidale gesellschaftliche Trends ist die losoph Peter Dabrock das Problem, ob und Einsamkeit. Einige Aufsehen erregende wie bei Demenzkranken der vor ihrer Fälle geben Anlass, über das einsame Krankheit für den Fall der Lebensbedro- Sterben in Großstädten nachzudenken hung geäußerte Wille in Übereinstimmung und Abhilfemöglichkeiten zu suchen. Nach zu bringen ist mit den Äußerungen im Fall etlichen forschungsethisch höchst proble- der akuten Demenzerkrankung. Soll bzw. matischen Vorgehensweisen in der embry- darf der Arzt die frühere Willensäußerung 3 höher gewichten als den durch bestimmte Lebenszeichen bekundeten Lebenswillen Für die Redaktion: des Demenzkranken? Soll bzw. darf er lebenserhaltende Maßnahmen weiterführen Hans-Martin Brüll oder beenden? Weil der Artikel eine e- und thisch qualifizierte Äußerung zur aktuell Siegbert Peetz anstehenden Bundestagsdebatte darstellt, haben wir ihn eingefügt. PressePresse- und Literatur Literaturspiegel Sterbehilfedebatte in Europa umfrage 53 % der Befragten für die AbIn verschiedenen Ländern Europas ent- schaltung der Beatmungsmaschine aus, steht aufgrund spektakulärer Einzelfälle 25 % sind dagegen. Geringer ist die Zu- ein Änderungsdruck auf die Parlamente, stimmung für ein Abschalten bei Patien- die Sterbehilfe gesetzlich neu zu regeln. ten, die bewusstlos sind und ihren Willen nicht mehr äußern können. 41 % befür- Polen worten den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen, 38 % sprechen sich dage- Der 32-jährige Janusz Switaj ist seit sei- gen aus. Der Fall Switaj hat eine große nem 18. Lebensjahr wegen eines Motor- Resonanz gefunden, weil der Betroffene radunfalles gelähmt und hat gerichtlich im Fernsehen und auf seiner Homepage beantragt, seine Beatmungsmaschine ab- (www.switaj.eu) trotz vielfältiger Hilfs- zuschalten, die ihn bis dato leben lässt. Er und Spendenangebote von prominenten organisierte landesweit eine Volksab- Polinnen und Polen weiterhin öffentlich stimmung für das Recht auf Sterbehilfe. sein Recht auf seinen selbst veranlassten Zurzeit ist in Polen die aktive Sterbehilfe Tod fordert. Im Mai wird entschieden verboten und wird mit einer Haftstrafe sein, ob Switaj mit seiner Volksabstim- von bis zu fünf Jahren geahndet. Im Fall mung Erfolg hat und das polnische Par- Switaj sprachen sich in einer Meinungs 4 lament in Sterbehilfefragen neu ent- tendem Recht auch künstliche Ernährung scheiden muss. ablehnen. Zugleich verlangen die Unterschreiber des Frankreich Offenen Briefes die Einstellung des Verfahrens gegen ihre Kollegen in Perigueux. 2.134 Ärzte und Pflegekräfte haben in Dort hatten eine Ärztin und eine Kran- einem Offenen Brief bekannt, aktive kenschwester einer an Bauchspeicheldrü- Sterbehilfe geleistet zu haben. Sie hätten senkrebs erkrankten Frau ein tödliches Situationen erlebt, in denen das physische Präparat verabreicht. Die Patientin war und psychische Leid der Patienten uner- im Endstadium ihrer Krankheit und ist an träglich geworden sei. Sie hätten deshalb der Injektion auf eigenen Wunsch gestor- todbringende Medikamente gereicht, um ben. das grausame Leiden abzukürzen. Im Einklang mit ihrem Gewissen und auf Italien Wunsch der Patienten hätten sie diesen mit Medikamenten geholfen, in Würde zu Ausgangspunkt für die aktuelle Sterbehil- sterben. fediskussion in Italien war der Fall des Die Unterzeichner fordern eine Reform Muskeldystrophie-Patienten des Sterbehilfegesetzes in Frankreich und Welby. Dieser bat schon seit Monaten um ähnliche gesetzliche Regeln wie in den die Abschaltung des Beatmungsgerätes Niederlanden und Belgien. Dort ist aktive durch den behandelnden Anästhesisten. Sterbehilfe und die Beihilfe zur Selbsttö- Dieser kam der Bitte nach und führte so tung unter bestimmten Bedingungen ge- den Tod des 60-jährigen Patienten her- setzlich erlaubt. Das Gesetz zur Sterbehil- bei. Das Verhalten des Arztes führte zu fe war in Frankreich erst 2005 verab- einer landesweiten Debatte um die Zuläs- schiedet worden. Es verbietet die aktive sigkeit der aktiven Sterbehilfe. Vor allem Sterbehilfe und enthält präzise Regeln für unter Anästhesisten wurde der Fall disku- Fälle mit einer unheilbaren Krankheit. tiert. So kritisierte der Präsident des ita- Ärzten ist es danach erlaubt, die Behand- lienischen Anästhesistenverbandes Vin- lung Todkranker einzustellen oder so zu cenzo begrenzen, wie es vom Patienten ge- Wunsch nach Tötung wünscht ist. Patienten können laut gel- gründe oft in unzureichenden Maßnah- Carpino seinen Pergiorgio Kollegen. Der – so Carpino – 5 men gegen das Leiden. Auch bei Patien- Die zuständige Regierung von Andalusien tenverfügungen müsse es dem Arzt aus gab den Ärzten Anfang März die Erlaub- Gewissensgründen möglich sein, dem To- nis, den lebenserhaltenden Beatmungsap- deswillen des Patienten zu widersprechen. parat abzustellen. Sie tat dies gegen das Man könne von Medizinern „nicht zur bestehende Gesetz, das die aktive Sterbe- gleichen Zeit verlangen, alles Mögliche hilfe in Spanien verbietet. Die andalusi- für die Rettung menschlichen Lebens zu sche Regierung stützt sich in ihrer Ent- tun und sie zu beenden, indem man die scheidung auf zwei Gutachten, deren Ver- Geräte abschalte. fasser im Abstellen des Beatmungsgerätes keine aktive Sterbehilfe erkennen konn- Spanien ten. Der Kranken stehe das vom Gesetz her gestützte Recht zu, eine medizinische Im Mittelpunkt der spanischen Sterbehil- Behandlung abzulehnen. fedebatte stand das Schicksal der an un- Der Fall Echevarria löste eine heftige De- heilbarem Muskelschwund leidenden In- batte in Spanien aus. Der Rechtsphilosoph maculada Echevarria. Sie ist seit 20 Jah- Jose ren wegen ihrer Krankheit bettlägerig. meint: „Wenn Echevarria das Gerät von Zuletzt konnte sie wegen der Lähmungen Anfang an abgelehnt hätte, wäre sie ge- nur noch mit schwacher Stimme reden storben, ohne dass jemand protestiert sowie ihre Fingerspitzen und ihre Ge- hätte“. Die Biochemikerin Natalia Lopez sichtsmuskeln bewegen. Die Lähmungen Moratalla hält dagegen: „Der Fall Eche- erschwerten vor allem ihre Atmung, so varria ist reine und knallharte Euthana- dass sie auf ein Beatmungsgerät ange- sie.“ Diese Auffassung vertritt auch die wiesen war. Seit Oktober 2006 forderte katholische Kirche. Der Primas der katho- sie öffentlich, sterben zu dürfen: „Es ist lischen Kirche, Kardinal Antonio Caniza- ungerecht, so leben zu müssen“, lautete res, sieht im Verhalten der Ärzte eine ihre Begründung. Sie musste aufgrund illegale Handlung und wertet diese als ihrer Krankheit ihren einzigen Sohn mit einen „Anschlag auf die Würde und das acht Monaten zur Adoption freigegeben, Leben“. Die Position der Kirche führte ihr Mann war bei einem Verkehrsunfall dazu, dass Echevarria zum Sterben in ein gestorben. nicht-kirchliches werden Miguel Serrano Ruiz-Calderon Krankenhaus musste. Im vorherigen verlegt San- 6 Raffael-Krankenhaus, das dem katholi- kennen sich darin offen für den begleite- schen Orden San Juan de Dios gehört, ten Freitod. Alle suchen Sterbehilfe bei waren die Ärzte zunächst bereit, dem der „Dignitas“, einer Sterbehilfeorganisa- Todeswunsch der Patientin zu entspre- tion in der Schweiz. Einige hatten im No- chen. Allerdings mussten die Ärzte einen vember 2006 noch vor, mit deren Hilfe in Rückzieher machen, weil die Ordenslei- der Schweiz zu sterben, einige sind be- tung in Rom untersagte, die Geräte abzu- reits in Zürich gestorben. Die Betroffenen stellen. sind zwischen 32 und 82 Jahre alt. So unterschiedlich ihre Krankheiten und Le- Deutschland bensläufe sind, sie eint der Wunsch, sich selbst zu töten und dabei die Hilfe Dritter Noch in diesem Frühjahr soll auf Wunsch in Anspruch zu nehmen. Was sind ihre der Bundesjustizministerin Zypries und Motive? Fast alle berichten vom Ende der Fraktionsvorsitzenden aller Parteien ihrer Kräfte. („Ich bin jetzt an einem ein neues Gesetz beschlossen werden, das Punkt, wo ich einfach nicht mehr kann…“ die Rechtsverbindlichkeit von Patienten- (Anke Holiet, gestorben am 13.11.06 in verfügungen näher regeln soll. Wir be- Zürich). Auch sprechen betroffene Men- richteten in unserer letzten Ausgabe über schen davon, weitere krankheitsbedingte die drei parteiübergreifenden Gruppenan- Einschränkungen nicht akzeptieren zu träge. Im Mittelpunkt der Diskussion wollen. („Noch kann ich selbständig at- steht die Frage, ob Patientenverfügungen men und aufrecht sitzen. Ständig liegen für alle Menschen mit einem schweren wäre nicht mehr tolerabel für mich.“ Ste- Leiden gelten oder ob sie sich ausschließ- fan Guhl) Ängste vor einer unsteuerbaren lich auf kranke Menschen in Todesnähe Verschlechterung des Zustandes spielen beziehen sollen. eine Rolle. („Irgendwann müsste ich dann Begleitet wird der parlamentarische Pro- wieder ins Krankenhaus, und das endet zess von einer gesellschaftlichen Diskussi- dann unschön. Da habe ich so einen on, die vor allem von Befürwortern einer Schiss vor.“ Werner Volz, gestorben am möglichst liberalen Lösung angeführt 3.07.06 in Zürich).Unerträgliche Schmer- wird. Der STERN hatte bereits im Novem- zen sind oft der Ausgangspunkt für den ber 2006 Testimonien von zwölf schwer Todeswunsch. („Meine Schmerzen sind kranken Menschen abgedruckt. Sie be- kaum noch zu ertragen. Medikamente 7 wirken nicht.“ Ernst B.) Die Selbsttötung Leben beenden", mahnte der Mainzer als letzter Ausdruck von Freiheit spielt bei Bischof und Vorsitzende der Deutschen einigen Patienten eine Rolle. („Ich bin ein Bischofskonferenz. Hier verlaufe bei allen extrem freiheitsliebender Mensch […] Zu differenzierten Erfahrungen im Raum von dieser Freiheit gehört für mich auch, das Leben und Tod eine grundsätzliche Gren- Ende selbst bestimmen zu können.“ Hilke ze. Lehmann mahnte, Hilfen, Wege und Addo) Auf die Hilfe anderer angewiesen Mittel in ethisch vertretbarer Weise ein- zu sein, nicht mehr nützlich zu sein, sind zusetzen, da man sonst den Druck in die Hauptmotive einiger Schwerkranker Richtung aktiver Sterbehilfe kaum auf- für eine assistierte Selbsttötung („Wenn halten könne. Der Bischof rief dazu auf, ich nicht mehr lesen kann. Und wenn ich der Frage nach dem Leiden nicht auszu- meinen Darm gar nicht mehr entleeren weichen. Der Mut zur Erkenntnis des Lei- kann und auf die Hilfe anderer angewie- dens schließe auch die Teilnahme und das sen bin. Dann ist Schluss.“ (Ingrid Schir- Mit-Leiden ein. Der Christ dürfe nie das ling) „Aber ich will nicht jahrelang hilflos Leid rhetorisch abschwächen, so Leh- in einem Pflegeheim liegen, wie ein Baby mann. Die letzte und im Grunde einzige versorgt werden und für die Gesellschaft Antwort auf das Leiden der Welt könne kein nützliches Mitglied mehr sein. So ein der Christ nur geben, wenn er auf Jesus Ende wünsche ich mir nicht.“ Irmgard und auf das Kreuz zeige. Auch Gott habe Christians) in Jesus Christus das menschliche Leid Gegenüber der vom Stern und von der nicht verklärt, sondern "als der völlig Gesellschaft für Humanes Sterben in Schuldlose hat er das Unvermeidliche Gang gesetzte Medienkampagne zuguns- übernommen und bis zum bitteren Ende ten der Freigabe des assistierten Suizids durchlitten". werden kritische Stimmen laut. Zuletzt wandte sich Kardinal Lehmann gegen die Quellen: deutlich wahrnehmbare Tendenz zur aktiven Sterbehilfe. Diese müsse in jeder Oliver Link: Lasst uns sterben. In: STERN Form verboten bleiben. Gleichzeitig wür- vom 23.11.06, 28-40. digte er die Hospizarbeit und die Palliativmedizin. "Wir dürfen mit vielen Mit- N.N.: Gegen aktive Sterbehilfe. In: KNA teln das Leid lindern, aber nicht aktiv das vom 15.03.07 8 N.N.: Italiens Anästhesisten gegen SterN.N.: Spanien: Unheilbare Kranke durfte behilfe. In: Ärzteblatt vom 27.02.07 sterben. In: Die Zeit vom 15.03.07 N.N.: Spitzenpolitiker in Frankreich deHans-Hagen Bremer: Schluss mit der Heuchelei. Porträt des französischen Arztes Denis Labayle. In: Der Tagesspiegel vom 09.03.07 battieren um Sterbehilfe. In: KNA vom 15.03.07 N.N.: Volksabstimmung über Sterbehilfe N.N.: Französische Mediziner an Sterbehilfe beteiligt. In: Ärzteblatt vom in Polen. In: Nachrichtendienst oe24 vom 02.03.07 08.03.07 Unregelmäßigkeiten bei Sterbehilfeorganisa Sterbehilfeorganisation Zwei ehemalige Mitarbeiter der Schweizer ger Sterbehilfeorganisation „Dignitas“ erheben „Dignitas“-Aussteiger, der Theologiestu- schwere Vorwürfe gegen die Gepflogen- dent Ignaz Reutinger, berichtet von hohen heiten der Organisation im Zusammen- Summen, die von Todeswilligen an den hang mit deren Verhalten bei der Sterbe- „Dignitas“-Chef Minelli in bar gezahlt hilfe. Kritisiert wird die kurze Zeit zwi- wurden. schen dem Verschreiben der tödlichen Diese Summen, die Rede ist von über Substanzen durch einen Schweizer Arzt 10.000 €, sind höher als die von Minelli und der Nachricht über die vollzogene angegebenen. Er spricht von 3.500 € pro Selbsttötung. Meist seien es nur drei Sterbefall. Minelli bestreitet zwar die Hö- Stunden. Diese Tatsache widerspricht der he der Summen, bestätigt aber gleichzeitig Eigenwerbung der „Dignitas“. Die ehema- gegenüber dem Schweizer Fernsehen, dass lige Stellvertreterin des „Dignitas“-Chefs er das Bargeld der Todeswilligen persön- Ludwig A. Minelli, Soraya Wernli, behaup- lich zur Bank bringe. Die Zürcher Staats- tet – bisher unwidersprochen -, dass Tö- anwaltschaft hat Ermittlungen gegen Mi- tungshandlungen von Dritten durchge- nelli aufgenommen. Betäubung führt werden. In zwei Fällen habe ein Arzt das todbringende Barbiturat nach vorheri- Quelle: gespritzt. Der zweite 9 N.N. Sterbekosten. Vorwürfe gegen die Züricher Sterbehilfeorganisation „Dignitas“. In Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.02.07 Einsames Sterben Sterben in den Groß Großstädten Zu spät entdeckte Tote in Stuttgart und wesen. Zu dieser und vergleichbaren Si- die ZDF-Serie „2030 – der Aufstand der tuationen kommt es vor allem in Groß- Alten“ waren Anlässe für zwei Interviews städten, wenn verschiedene Signale in der zur Problematik der Einsamkeit im Alter – Umgebung der Toten nicht wahr- oder vor allem in Großstädten. Besonders krass ernst genommen werden: ein überquellen- machte der Tod eines 79-jährigen alten der Briefkasten, längere Rechnungsrück- Mannes aus Polen in Stuttgart-Rot auf stände, das Unterbleiben von Arzt- oder dieses gesellschaftliche Problem aufmerk- Behördenbesuchen oder der ausbleibende sam. Es dauerte 15 Monate, bis er in sei- Einkauf im Stammgeschäft. Selbst dann, ner Sozialwohnung der städtischen Woh- wenn Behörden oder Vermietern eine feh- nungsbaugesellschaft aufgefunden wurde. lende Präsenz von alten Menschen gemel- Der Stuttgarter Sozialamtsleiter Walter det wird, dürfen sie nur bedingt die Woh- Tattermusch stellt in einem Interview der nung des Betroffenen aufsuchen oder die- Stuttgarter Zeitung fest, dass man einsa- se gar aufbrechen. Ein fremdes Endringen mes Sterben in einer Großstadt nicht ver- in die Privatsphäre des Einzelnen ist ge- hindern könne. Auch der für die Woh- setzlich stark geschützt, kann aber gleich- nungsgesellschaft „SWSG“ zuständige So- zeitig die Vereinsamung fördern. Ein Kon- zialarbeiter Peter Steudler konstatiert, dass trollbesuch wird - so Steudler - meist von auch die „SWSG“, in deren Sozialwohnung den Betroffenen abgelehnt. Der Vereinsa- der Verstorbene 17 Jahre gelebt hatte, es mung letztlich nicht verhindern könne, dass Steudler durch verschiedene Maßnahmen Menschen in ihren Wohnungen einsam abgeholfen werden: Mieter können über sterben. Allerdings seien die Umstände im die Kasse der Wohnungsbaugesellschaft vorliegenden Fall menschenunwürdig ge- ihre Miete selbst einzahlen. Bei Nichter- könnte laut Tattermusch und 10 scheinen wird durch Sozialarbeiter nach- meinde zu organisieren. Da die Verwandt- geschaut. Einige Wohnungsgesellschaften schaft aufgrund der Mobilität der Gesell- stellen Pförtner und Sozialarbeiter ein, die schaft nicht (mehr) im näheren Umkreis einen engen Kontakt zu den Mietern pfle- wohnt, sind alte Menschen verstärkt auf gen. Auf freiwilliger Basis können Mieter fremde Hilfe im näheren Umkreis ange- in anderen Projekten wöchentlich eine wiesen. In einem Projekt „Seniorennetz- Karte als Lebenszeichen abgeben oder sich werk“ werden Bedürfnisse der Senioren in Telefonketten einklinken. In jedem Fall erhoben und an verschiedenen Orten Initi- ist Eigenverantwortung stärker gefragt, ativen von und für Senioren zum Zweck wenn es darum gehrt, ein rechtzeitiges von deren besserer Vernetzung ins Leben Auffinden bei plötzlich eintretendem Tod gerufen. Entscheidend dabei ist, dass trag- zu architektonisch fähige Beziehungen vor Ort entstehen, muss sich nach Auffassung beider einiges damit Anonymität durchbrochen werden verändern. So seien zunehmend wohnge- kann. Schwarz sieht in dieser bürger- meinschaftsfähige Wohnungen für die schaftlichen Vernetzung auch ein Mittel älter werdende Gesellschaft zu bauen. gegen die Tendenz zur Befürwortung von Auf den Gemeinschaftsbezug als Prophyla- aktiver Sterbehilfe. „Es gilt nicht, den xe gegen die Vereinsamung im Alter setzt Sterbewillen alter Menschen zu fördern, auch Philipp Schwarz vom Forum Katholi- sondern ihren Lebenswillen und zwar sche Sozialarbeit. Nach seiner Auffassung durch menschliche Berührung und Zuwen- gilt es Unterstützung im Nahbereich in dung“, lautet sein Fazit. ermöglichen. Auch Gruppen, Nachbarschaft und Kirchenge- Internationale Richtlinien für Stammzellfor Stammzellforschung Angesichts des Klonfälschungsskandals in schaft für Stammzellforschung (ISSCR) Südkorea und grundlegender ethischer ruft alle Forscher, die mit menschlichen Bedenken gegen die Stammzellforschung Embryonen arbeiten, dazu auf, sich selbst in der Bevölkerung haben sich führende auf diverse Standards zu verpflichten. Stammzellforscher zu ethischen Standards Nach diesen Standards ist es verboten, verpflichtet. Die Internationale Gesell- Menschen zu klonen. Das Erzeugen von 11 Mischwesen zwischen Tier und Mensch ist Quelle: zu begrenzen. Eingeschränkt werden soll N.N.: Grenzen fürs Land der grenzenlosen auch die finanzielle Entlohnung von Ei- Möglichkeiten. In: Stern vom 01.02.07 zellspenderinnen. Gänzlich untersagt werden alle Eingriffe, die aus wissenschaftlicher Sicht nicht nötig sind. Kernstück der Ethikregelungen ist die Errichtung eines übergeordneten Aufsichtsgremiums für die Arbeit mit menschlichen embryonalen Stammzellen. Das Gremium dient der Selbstkontrolle, vor allem für eine Reihe von strittigen Versuchen, die in den Richtlinien aufgeführt sind. Die ISSCR fordert eine internationale Datenbank für Quellen: Beate-Maria Link: „Das Riesenproblem heißt Einsamkeit“. Das Ein Interview mit Philipp Schwarz vom Forum Katholische Sozialarbeit über Leben im Alter. In: Katholisches Sonntagsblatt vom 16.02.07 N.N.: „In einer Großstadt kann man einsames sterben nicht verhindern“. Zwei vergessene Tote in kurzer Zeit: der Sozialamtsleiter Walter Tattermusch und der Sozialarbeiter Peter Steudler fordern mehr Eigenverantwortung. In: Stuttgarter Zeitung vom 19.02.07 alle menschlichen Stammzelllinien, die nach den ethischen Standards erzeugt wurden. Zudem verpflichten sich die Wissenschaftler, ihre Materialien sämtlich anderen Forschern zugänglich zu machen. Die Fachzeitschriften für Stammzellforschung werden zudem gebeten, nur solche Forschungsergebnisse zu veröffentlichen, die den ethischen Standards des ISSCR genügen. Die ethischen Richtlinien wurden von 27 Forschern, Ethikern und Juristen aus 14 Ländern erarbeitet. Beteiligt waren u.a. der deutsche Stammzellforscher Hans Schöler und der Miterschaffer des Klonschafes „Dolly“, der Schotte Ian Wilmut. Infos zum Forum Katholische Seniorenarbeit: Christine Czeloth-Walter Jahnstraße 30 70597 Stuttgart Tel.: 0711/9791282 Mail: [email protected] Net: www.forum-katholischeseniorenarbeit.de 12 Rezension Matthias MöhringMöhring-Hesse(Hrsg.): Streit um die Gerech Gerechtigkeit. Themen und Kontroversen im gegenwärtigen Gerechtigkeitsdis Gerechtigkeitsdiskurs. Schwalbach 2005 Der Streit über die Gerechtigkeit führt zu schen Verständnis von Gerechtigkeit, stellt einer Vervielfältigung der Gerechtigkeits- deren Kritik vor und entwickelt dagegen begriffe, der Gerechtigkeitstheorien sowie sein eigenes Konzept einer „Moral gleicher der gerechtigkeitsrelevanten Themen. Die- Achtung“, zeigt aber auch die Grenzen se Feststellung des Herausgebers Matthias seines eigenen Ansatzes auf. Möhring-Hesse in der Einleitung zum Ob mit der Chancengleichheit mehr Ge- kleinen Sammelband „Streit um Gerech- rechtigkeit erzielt werden kann, themati- tigkeit“ ist der Auftakt eines lesenswerten siert der Artikel von Walter Pfannkuche. Überblickes zu Themen und Kontroversen Chancengleichheit bietet zwar eine gewis- im gegenwärtigen Gerechtigkeitsdiskurs. se Kompensation für soziale Ungleichhei- Zunächst bereiten die beiden Autoren Ste- ten, allerdings bleibt nach Meinung des fan Liebig und Bodo Lippl das empirische Verfassers offen, was denn genau mit dem Feld, das aktuelle Forschungsergebnisse zu Begriff Chancengleichheit jeweils gemeint den Einstellungen der Deutschen gegen- ist. Pfannkuche spricht sich für eine „faire über Gerechtigkeitsfragen vorstellt und Chancengleichheit“ aus, die aber nur Sinn erläutert. Das Hauptergebnis: Die Bundes- im Rahmen einer gerechten Gesellschaft deutschen mache. akzeptieren immer stärker marktliberale Gerechtigkeitsvorstellungen, Die Frage, ob die Gleichstellung der Ge- die egalitaristischen treten demgegenüber schlechter zu mehr Gerechtigkeit führt, immer stärker in den Hintergrund. Dass es wird von Christa Schnabl bearbeitet. Sie zunehmend zu größeren sozialen Un- kritisiert, dass in der feministischen Theo- gleichheiten kommt, wird eher fatalistisch rie die positiven und korrektiven Elemente hingenommen. Der Glaube an die Gerech- der Geschlechterdifferenz zu wenig Be- tigkeit schwindet, so das Fazit der beiden rücksichtigung gefunden hätten. Sie plä- Autoren. diert daher für eine Sozialethik, die Ge- Bernd Ladwig beschreibt in seinem Beitrag rechtigkeit auf Gleichheit und Differenz diese Abwendung von einem egalitaristi- bezieht. 13 Den Verschiebungen in der Gerechtigkeits- zweiten als gleichwertiges Gesellschafts- theorie widmen sich die Beiträge von ziel neben der Verteilungsgerechtigkeit, Matthias Möhring-Hesse, Hermann-Josef und in der dritten wird Anerkennung Große Kracht, Mattias Iser und Burkhard selbst zum Inbegriff von Gerechtigkeit. In Liebsch. Möhring-Hesse versucht eine seiner Kritik an diesen drei Konzepten un- Vermittlung zwischen zwei Parteien im terscheidet er zwei Formen der Anerken- Gerechtigkeitsstreit. Ist die Grundlage der nung: Anerkennung als Bedürfnis und als Gerechtigkeit das „Richtige“ im Rahmen Status. Im ersten geht es um die psychi- einer Sollensethik, oder soll sich Gerech- schen Bedingungen der Möglichkeit von tigkeit am „Guten“, d.h. an der Vorstel- Autonomie, im zweiten Begriff geht es um lung vom erfüllten Leben in einer guten den Schutz aller Menschen als gleichbe- Gesellschaft orientieren? Bei aller Sympa- rechtigter Subjekte und ihrer Lebensinte- thie für die Partei des „Richtigen“, erkennt ressen vor Schädigungen und Verletzun- er auch deren Schwäche, dass sich nämlich gen. Anerkennung ist dann mehr als Ge- alles und jedes an einem bedingungslosen, rechtigkeit und eröffnet die Perspektive kulturenthobenen einer „anständigen Gesellschaft“. Sollen festmachen könnte. Der Frage, inwieweit „Gerechtig- Burkhard Liebsch weist in seinem Beitrag keit“ vom „Gemeinwohl“ als sozialethi- auf den Zusammenhang von Ungerechtig- schem Leitbegriff abgelöst werden soll, ist keit und Gerechtigkeit hin. Solange Men- der Beitrag von Große Kracht gewidmet. schen Er hält den Gemeinwohlbegriff nur für verlangen sie umso mehr nach Gerechtig- bedingt tauglich, „Gerechtigkeit“ als Leit- keit und provozieren so die Frage nach norm abzulösen. In ihm steckt zwar eine einer besseren Gesellschaft. Allerdings kritische Kraft gegenüber einseitigen libe- besteht hier die Gefahr der Überforderung, ralen eine und es bedarf bestimmter Regeln, die die überzeugende Theorie des Gemeinwohls sei Gerechtigkeit vor der Selbstgerechtigkeit allerdings noch nicht in Sicht. Das Ver- schützen. hältnis von Anerkennung und Gerechtig- Im Schlussteil des Buches geht es um ver- keit durchleuchtet Iser. Er stellt drei un- schiedene gerechtigkeitsrelevante Themen: terschiedliche Konzepte hierzu vor. In der Auf die globale Bedeutung von Gerechtig- ersten Konzeption gilt Anerkennung als keit weisen Matthias Möhring-Hesse und ein geringerwertiges Anspruchsziel, in der Bernhard Emunds hin. Bei der Realisierung Gerechtigkeitsvorstellungen, Ungerechtigkeiten wahrnehmen, 14 von gerechten Verhältnissen kommt ange- werden fair in die Diskussion eingebracht. sichts der extremen Armut den Entwick- Ein Blick in die lungsländern die erste Verantwortung zu. zeigt auch, dass eine neue Generation von Die Mitverantwortung der reichen Länder Sozialethikern angetreten ist auf der Su- besteht darin, die Förderung der Entwick- che nach neuen, theoretisch firmen Ant- lungsländer ermöglichen. worten auf Herausforderungen der Gesell- Hans-Richard Reuter betont den Zu- schaft, die sich angesichts zunehmender kunftsaspekt von Gerechtigkeit, indem er sozialer Ungleichheiten die Gerechtigkeits- die intergenerationelle Gerechtigkeit the- frage immer wieder wird stellen müssen. politisch zu matisiert. „Grundlinien einer Theorie ‚starker’ Nachhaltigkeit“ sind das Thema von Konrad Ott. Er widmet sich in seinem Beitrag ebenfalls Fragen der intergenerationellen Gerechtigkeit mit einem besonderen Akzent auf der Verteilung natürlicher Ressourcen zwischen der jetzigen und künftigen Generation. „Stark“ wird die Nachhaltigkeit durch die Maßgabe, dass der jetzige Naturbestand im Interesse künftiger Generationen (mindestens) konstant gehalten werden soll. Mit dem vorliegenden Sammelband wird ein ansprechendes Kaleidoskop auf der Höhe der aktuellen sozialethischen Reflexion geboten. Wie ein roter Faden zieht sich durch alle Beiträge die Frage nach dem Verhältnis von Gleichheit und Gerechtigkeit hindurch. Wiewohl die meisten Autoren vorwiegend egalitäre Positionen beziehen, kommen die Gegenargumente zugunsten einer stärkeren Tolerierung sozialer Ungleichheiten nicht zu kurz und Hans-Martin Brüll angefügte Autorenliste 15 Dokumentation Peter Dabrock Was ist überhaupt Selbstbe Selbstbe stimmung? stimmung? In Deutschland leben 1,2 Millionen Demenz Demenzkranke, kranke, und ihre Zahl wird steigen. Sie können sich nicht mehr in der für uns ge gewohnten Weise äußern. Aber sie können auf andere Art ausdrücken, was sie wollen. Politiker, die nun Patientenverfügun Patientenverfügun gen per Gesetz Gesetz stärken möchten, müssen das be berücksichtigen. Nennen wir sie weiterhin Margo - wie in der offensichtlich das Wort des Theologen der Fachwelt üblich, die ihren Fall so kon- Dietrich Bonhoeffer greift: "Verantwor- trovers diskutiert: Margo ist dement, tung ist die Bereitschaft zur Schuldüber- macht aber trotz dieser Krankheit einen nahme". Soll man Margos Vorausverfü- lebensglücklichen Eindruck. Nun bekommt gung aus den Zeiten voller Einsichts- und die als so zufrieden beschriebene Margo Geschäftsfähigkeit folgen und die demen- eine Lungenentzündung. Vermutlich wird te Person in den fast sicheren Tod schi- sie diese Infektion gut überstehen, wenn cken, oder sieht man in der gegenwärtigen ihr ein einfaches Antibiotikum verabreicht Lebenszufriedenheit der verwirrten Margo wird. Andernfalls würde Margo sterben. In auch einen Ausdruck von Lebenswillen, den Tagen vor ihrer Demenz hat Margo dem Vorrang vor der Patientenverfügung eine Patientenverfügung abgefasst. Darin zu geben ist? hat sie nach einem dokumentierten Beratungsgespräch mit ihrer Ärztin festgelegt, dass im Falle von Demenz bei Lebensbedrohung durch eine zusätzliche Erkrankung oder Verletzung keine lebenserhaltenden Maßnahmen eingeleitet werden dürfen. Ärzte und Pflegende werden vor eine dramatische Entscheidung gestellt, in Auch der Lebensschutz gilt nicht absoabsolut Keineswegs sollte man diesen Konfliktfall als Arbeitsbeschaffung für Aufmerksamkeit suchende Ethiker abtun. Der demo- 16 grafische Wandel bringt eine erwartete tung der Evangelischen Kirche in Deutsch- Verdopplung von Demenzkranken in den land, der Gesetzentwurf des Abgeordneten nächsten 25 Jahren auf dann etwa zwei Rene Röspel (SPD) und die Grundsatzer- Millionen mit sich. Sieben Millionen Men- wägungen von Wolfgang Bosbach (CDU) schen, die nach Schätzung der Hospizstif- sprechen sich, bei allen Unterschieden im tung eine Patientenverfügung abgefasst Detail, für eine Reichweitenbeschränkung haben, solcher verlangen dafür schon heute Rechtssicherheit. Patientenverfügungen auf die Sterbephase oder zumindest den Zustand irreversiblen Verlustes der Bewusstseinsfä- In seiner Stellungnahme zu Patientenverfügungen hat der Nationale Ethikrat in der berühmt-berüchtigten Empfehlung 13 eine klare Position zum Fall Margo eingenommen: Wenn eine Patientin die Demenzsituation in der Vorausverfügung antizipiert hat, dann ist unter Beachtung weiterer formaler Voraussetzungen der Patientenverfügung Vorrang gegenüber wie es so verräterisch heißt - "Anzeichen von Lebenswillen" einzuräumen. In der Flut von Stellungnahmen und Gesetzentwürfen, die in Deutschland zur nun anstehenden gesetzlichen Regelung vorliegen, schlagen sich Rheinland-Pfalz, die Bioethikkommission die als Kutzer- Kommission bekannt gewordene Expertengruppe des Bundesministeriums für Justiz und die Gesetzentwürfe der FDP wie des Abgeordneten Stünker (SPD) auf die Seite des Nationalen Ethikrates. Die Enquetekommission der letzten Legislaturperiode, die Kammer für Öffentliche Verantwor- higkeit aus. Jenseits solcher Abzählreigen - wer unterstützt wen? - sollte man sich aber vor allem Rechenschaft darüber ablegen, welche ethischen Kriterien die Urteilsbildung prägen sollten. Hinter den jeweiligen Optionen verbergen sich oft konkurrierende Menschen- und Gesellschaftsbilder. Schaut man in die Fachliteratur, werden immer wieder Selbstbestimmung, aber auch Fürsorge, Lebensschutz und Menschenwürde erwähnt. Deren Verhältnis zueinander bleibt jedoch oft unklar. "Irgendwie" - so lautet die subkutane Botschaft - ist alles zu bedenken. Dabei sollte vor dem Hintergrund der modernen, Pluralität regulierenden und gestaltenden Kulturen von Verfassungsrecht, allgemeiner Ethik und öffentlichem Vernunftgebrauch klar sein, welches ethische Kriterium zuvörderst zu beachten ist: die Selbstbestimmung. 17 In der normativen Bewertung von Margos Positionen berufen sich auf den Men- Fall geht es primär nicht um die Fürsorge- schenwürde-Schutz. Ja, wir empfänden es Dimension. So wünschenswert Fürsorge geradezu als klassischen Ausdruck einer gegenüber einer Dementen oder einem Verletzung der Menschenwürde, wenn ein Sterbenden ist, so sehr darf dieses Kriteri- echtes Selbstbestimmungsrecht von Staats um guten Lebens nicht ein so fundamen- wegen nicht geachtet oder geschützt wür- tales Anrecht wie das der Selbstbestim- de. So sehr also Menschenwürde Selbstbe- mung aufheben. Auch der Lebensschutz stimmung grundiert, so sehr muss sie sich gilt nicht absolut. Das verdeutlichen nicht daran bewähren, echte Selbstbestimmung nur die konfliktethischen Fälle von Solda- zu schützen. teneinsatz, finalem Rettungsschutz oder in ganz anderer Hinsicht der Schwangerschaftskonflikt, sondern schon die als sinnlos erachtete medizinische Intervention. Opinio communis der Ethik und des Verfassungsrechtes ist, dass das konditionale Gut Leben an der Menschenwürde gebrochen werden kann: Eine aufgezwungene Lebensverlängerung stellt beispielsweise eine Missachtung der Selbstbestimmung, des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und damit der Menschenwürde dar. Warum dann aber nicht - wie üblich, mag man denken - gleich die Menschenwürde als hinreichend unterscheidendes Kriterium postulieren? Der Rückgriff auf das zuhöchst zu achtende und zu schützende Gut unterscheidet an dieser Stelle ethisch nicht präzise genug. Ob der Vorrang der Patientenverfügung oder der Anzeichen von Lebenswillen behauptet wird, beide Entgegen einer primär auf Lebensschutz setzenden Position muss deshalb festgehalten werden: Selbstbestimmung ist das entscheidende ethische Kriterium in der Frage der Reichweite von Patientenverfügungen. Aber auch eine einseitige, Selbstbestimmung nur mit souveräner Autonomie identifizierende Auffassung muss sich die Frage stellen lassen: Was ist überhaupt Selbstbestimmung? Nur die Vorausverfügung einer philosophisch als selbstbewusst bezeichneten, juristisch als geschäfts- oder einsichtsfähig erachteten Person? Oder müssen auch Margos "Anzeichen von Lebenswillen" als völlig legitimer Ausdruck von Selbstbestimmung geachtet werden? Dann aber wird die Frage nach der vorrangig zu schützenden Form von Selbstbestimmung vertrackter. Sie lautet dann: Hat eine vorausverfügte, kognitiv komplexe Selbstbestimmung einen Vorrang vor einer aktuellen, aber we- 18 niger komplexen Form? Der Streit um die Da war der Wunsch der Vater des GeGe- Reichweite dankens danken s von Patientenverfügungen erweist sich damit als ein Streit um die Semantik von Selbstbestimmung. Die zweite Position, die der nicht verlängerbaren Autonomie, wird prominent von In diesem Streit um Selbstbestimmung Rebecca Dresser, immerhin Mitglied im lassen sich typisierend drei Positionen Bioethikrat des amerikanischen Präsiden- erkennen: Die ersten beiden wurden inten- ten, vertreten. Ihre Ansicht kann prägnant siv und extensiv vor allem in der analyti- mit dem Hauptsatz der Verdachtsherme- schen Philosophie diskutiert. Die erste neutik charakterisiert werden: "Da war der Position, nennen wir sie die der verlänger- Wunsch der Vater des Gedankens." Hier baren Autonomie, geht davon aus, dass wird nämlich behauptet: Margo könne als sich im Menschen höhere und niedere autonome Persönlichkeit gar nicht ab- Sphären von kommunizierbaren Intentio- schätzen, was eine demente Margo emp- nen finden. Ob man diese höhere Sphäre fände und wolle. Folglich müsse von zwei Selbstbewusstsein, oder unterschiedlichen Personen ausgegangen critical interests nennt, sie haben Vorrang werden. Es zähle nur der Wille der aktuel- vor den niedrigeren, egal ob diese als len, zweiten Person Margo. Zwar ist die nicht-selbstbewusstes Streben, personale Vermutung richtig, dass man in gesunden Persistenz oder experiental interests be- Tagen schwerlich voraussehen kann, wie zeichnet werden. Die anthropologisch und man sich in kranken oder behinderten moralisch höher zu bewertenden Aus- wieder erfindet, aber deswegen gleich die drucksäußerungen strahlen auf solche Identität der Person zu leugnen, geht in Zeiten aus, in denen die Person nur noch jeder Hinsicht zu weit. Sämtliche Voraus- über die niedrigeren verfügt. Entsprechend verfügungen und Verträge, die auf Zu- genießen Patientenverfügungen, zumin- kunft hin ausgerichtet sind, verlören ihre dest die, in denen die Demenz-Situation Grundlage. Während die erste Position antizipiert wurde, einen Vorrang vor An- sich nicht in solche absurden Konsequen- zeichen von Lebenswillen. Margos Patien- zen verstrickt, verbreitet sie doch ein hoch tenverfügung obsiegt über ihr aktuelles problematisches Lebensglück. Aktuelle Äußerungen dementer Personen Persönlichkeit Lebensqualitätsurteil: sind auf Grund geringerer kognitiver 19 Komplexität von geringerer moralischer wortenden und kommunikativen Charakter und rechtlicher Bedeutung als Vorausver- menschlicher Existenz bereits eine hinrei- fügungen komplexerer Art. chende und zu schützende Würdigung. Eine Alternative im Verständnis von Selbstbestimmung bietet eine dritte Position. Sie sieht Selbstbestimmung nicht nur genealogisch, sondern auch in ihrer Geltung bleibend begründet in Relationen und Kommunikationen. Offenheit von und auf andere hin, Sozialität, Verletzlichkeit und Passivität gehören konstitutiv in dieses Selbstbestimmungskonzept. Vertreten wird es zum einen von christlicher Anth- Diesen Ansatz bestätigt die Leibphänomenologie, wenn sie leibliche Selbstbestimmungsformen auch unterhalb kognitiver Reflexionen kennt. Solche Ausdrucksformen leiblichen Selbstseins finden sich in unterschiedlichen Phasen und Situationen des Lebens ganz selbstverständlich unterschiedlich: beim Kind anders als beim älteren Menschen, beim Schachspiel anders als beim ritualisierten Gesang. ropologie. Nach ihr erschließt die Recht- Die Kommunikationswege haben sich fertigung des gottlosen Sünders den Sinn verscho versch oben der Menschenschöpfung. Danach gründet die Auszeichnung des Menschen nicht in Schließlich zeigen jüngste, auch metho- irgendwelchen Eigenschaften, sondern in disch belastbare empirische Ergebnisse aus der ungeschuldeten Wahl Gottes: "Du der Gerontologie, allen voran die Arbeiten darfst sein!" Selbstbestimmung heißt im aus dem Institut von Andreas Kruse in christlichen Kontext daher zunächst: als Heidelberg, dass eine demente Person als Person, so wie man ist, Antwort auf das eine selbstbestimmungsfähige Person an- Von-Gott-Angesprochensein sein zu dür- sprechbar ist. Allerdings haben sich die fen. Deshalb rechnet eine theologische Kommunikationswege Anthropologie damit, dass es weit jenseits von eher kognitiven hin zu eher affektiven des biologisch oder sozial standardisierten oder leiblichen Ausdrucksweisen. Diese Normalitätsspektrums Formen der Selbst- Personen dann auf die ihnen eigentümli- bestimmung gibt. Umgekehrt heißt dies: chen Ausdrucksweisen anzusprechen, er- Selbstbestimmung muss nicht einfach mit scheint nicht nur ihnen angemessen, son- souveräner Selbstgesetzgebung identifi- dern auch als ein Gebot der Menschen- ziert werden, sondern erfährt in dem ant- würde. Auf Margos Fall bezogen bedeutet verschoben: weg 20 dies: Margo eignet auch im Stadium der der Deutung leiblicher Willensäußerungen Demenz Selbstbestimmung. Selbstbestim- die Interpretation, ob ein Lebenswille vor- mung darf gerade in solchen Fällen, in liegt, oft unsicher. Um also im Zweifelsfall denen es um Leben und Tod geht, nicht einerseits vorsichtsorientiert dem Lebens- nur mit juristischer Einsichtsfähigkeit i- schutz Genüge zu tun, um andererseits dentifiziert werden. Die allgemeine Regel aber auch das grundsätzliche Recht, Pati- in der Medizin, dass aktuelle Willensäuße- entenverfügungen als Akt von Selbstbe- rungen vorausverfügten unbedingt vorzu- stimmung zu achten, nicht zu konterkarie- ziehen sind, wenn sie jene aufheben, muss ren, schlagen Dieter Birnbacher und ich hier gelten. trotz unterschiedlicher ethischer Ansätze gemeinsam eine Verfahrenslösung vor, die Gegenüber den beiden ersten Positionen hat die These, dass bei Dementen kein Verlust, sondern eine Transformation von Selbstbestimmung stattgefunden hat, mehrere Vorteile: Der grundlegenden Passivität und Sozialität im Selbstbestimmungsbegriff wird Rechnung getragen. Abwertende Lebensqualitätsurteile über das Leben und die Ausdrucksintensität von Behinderten werden vermieden. Patientenverfügungen werden nicht einfach grundsätzlich ausgehebelt. Gelten diese doch solange als Ausdruck von Selbstbestimmung, wie keine anderen leiblichen Ausdrucksgesten gegenteilige Anzeichen von Lebenswillen vermitteln. beiden Anliegen Rechnung trägt. Diese Intention wird dann erfüllt, wenn zum einen grundsätzlich die Patientenverfügung als verbindlicher Wille geachtet wird, ihre Aufhebung also die Beweislast zu tragen hat. Zum anderen muss bei allen am Fall beteiligten Personen - Betreuenden, Angehörigen, dem Ärzte- und Pflegeteam - einhellig jeder Zweifel ausgeräumt sein, dass noch Anzeichen von Lebenswillen vorliegen könnten. Kann darüber keine Einigkeit erzielt werden, sollte das Vormundschaftsgericht angerufen werden. Dass in einem solchen Fall jede verantwortliche Entscheidung die Bereitschaft zur Schuldübernahme beinhaltet, braucht nicht - erst Recht nicht im Glauben - geleugnet zu werden. Ein Vorschlag, das Problem zu lö lösen Das vorgeschlagene Verfahren dürfte die Dennoch bleibt trotz der Fortschritte in verbleibende Spannung bei Entscheidun- 21 gen unter Bedingungen der Endlichkeit jedoch weitgehend beachten. Es baut weder so hohe Verfahrenshürden auf, dass das Rechtsinstitut der Patientenverfügung, das so viele wünschen, gänzlich ins Leere laufen würde, noch redet es einem Mechanismus das Wort, der die Sondersituation einer Demenzerkrankung unberücksichtigt ließe. In jedem Fall wird die anstehende Gesetzgebung offenbaren, wie sehr unsere Gesellschaft das Selbstbestimmungsrecht von Dementen und überhaupt von so genannten geistig Behinderten achtet und schützt. Quelle: Peter Dabrock: Was ist überhaupt Selbstbestimmung? In: Frankfurter Rundschau vom 15.02.07 Der dokumentierte Text ist eine Kurzfassung eines Artikels, der Mitte Mai 2007 im Heft 02/2007 der Zeitschrift für medizinische Ethik erscheinen wird. Zum Autor: Peter Dabrock, Theologe und Philosoph, ist Juniorprofessor für Sozialethik am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps- Universität Marburg. Er ist außerdem Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Zahlreiche Veröffentlichungen zu bioethischen Themen u. a. 2004: Menschenwürde und Lebensschutz. Herausforderungen theologischer Bioethik.