Fotos von Klaus Leidorf
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Fotos von Klaus Leidorf
Marginalien Die Explosion der Besucherzahlen, die Exzesse, die Trachtenmanie – all das hat auch mit der medialen Reproduktion der Wiesn zu tun. Endlos berichten Privatsender, die gerade ihre Krawallreports auf Mallorca abgedreht haben, von Madln, die ihre Büstenhalter auf die Figur des Engel Aloisius (Ein Münchner im Himmel) im sündigen Hofbräu-Zelt werfen. Die TV-Teams befeuern den Gigantismus und Exhibitionismus weiter, der Rückkopplungseffekt greift: Mehr Bilder von blanken Busen führen zu mehr blanken Busen führen zu mehr Bildern von blanken Busen. Wacker halten die städtischen Organisatoren dagegen, loben mantrahaft die Gemütlichkeit des Familienfests, während sich die Burschen die Krüge über den Kopf ziehen. Auch gibt es den Vorstoß einiger Wirte, nur noch TV-Teams einzulassen, die sich verpflichten, in den Zelten ausschließlich brave Bilderbuchgemütlichkeit zu filmen. Noch ist kein Allheilmittel für die Rückkehr zu einem Oktoberfest gefunden, wie es vor 200 Jahren zu Ehren der Hochzeit von König Ludwig I. und der tugendsamen Therese gefeiert wurde. Derweil finden andere auf der Wiesn durchaus heilsame Ruhe. In der Rangliste der am häufigsten besuchten Orte für Konfrontationstherapien steht das Oktoberfest weit oben. Menschen, die Massen fürchten, proben in der bierseligen Schunkelei mit Therapeuten den Ernstfall – und werden nicht selten als geheilt entlassen. Claudia Fromme Mark Twain über das Interview Ein neu entdeckter Text des Autors (dt. Erstveröffentlichung) Niemand lässt sich gern interviewen, und trotzdem sagt niemand Nein dazu; denn Interviewer sind höflich und von sanften Manieren, auch wenn sie nur daherkommen, um zu vernichten. Ich will nicht so verstanden werden, als würde ich sagen wollen, sie kämen jemals bewusst, um zu vernichten, oder wüssten hinterher, dass sie etwas vernichtet haben; nein, ich meine, ihre Einstellung ist eher die eines Wirbelsturms, der in der freundlichen Absicht daherkommt, ein vor Hitze vergehendes Dorf zu kühlen, und hinterher auch nicht weiß, dass er dem Dorf alles angetan hat, nur keinen Gefallen. Der Interviewer redet einen zu mit allem Möglichen über schöpferische Schaffenskraft, aber er begreift nicht, dass man sie eher 92 als einen Nachteil ansieht. Leute, die einem Wirbelsturm die Schuld geben, tun das nur, weil sie nicht bedenken, dass kompakte Materie nicht die Idealvorstellung eines Wirbelsturms von Symmetrie darstellt. Leute, die einen Interviewer kritisieren, tun das, weil sie nicht bedenken, dass er schließlich auch nur ein Wirbelsturm ist, wenn auch, wie wir anderen alle, als Ebenbild Gottes; dass ihm eine Beschädigung selbst dann nicht bewusst ist, wenn er den Staub deiner Asche über ganze Kontinente ausstreut, sondern dabei bloß denkt, dass er dir das Leben angenehm macht; und dass man ihm nur dann gerecht wird, wenn man ihn nach seinen Absichten beurteilt, nicht nach seinen Taten. Das Interview ist keine geglückte Erfindung. Vielleicht ist es die armseligste aller Möglichkeiten, dem näherzukommen, was einen Menschen ausmacht. Zuallererst ist der Interviewer das Gegenteil einer Inspiration, weil man Angst hat vor ihm. Man weiß aus Erfahrung, dass man hier nicht mehr zwischen zwei Katastrophen wählen kann. Ganz egal, was er als ema aufbringt, man weiß auf den ersten Blick, es wäre besser gewesen, er hätte das andere ema aufgebracht; nicht dass das andere besser gewesen wäre als dieses, aber immerhin wäre es nicht dieses gewesen; und jeder Wechsel muss und würde eine Verbesserung sein, obwohl man in Wirklichkeit weiß, dass er das nicht ist. Ich bin möglicherweise nicht verständlich hier: Wenn es so ist, dann habe ich mich verständlich gemacht – etwas, was man nicht kann, es sei denn, ich mache mich nicht verständlich, weil ja das, was ich zeigen will, das ist, was man bei einer solchen Gelegenheit fühlt, und nicht das, was man denkt – denn man denkt nicht; das ist keine intellektuelle Veranstaltung; es ist nur ein wirres und kopfloses Herumlaufen im Kreis. Man wünscht sich nur noch stumm, man hätte es nicht getan, obwohl man wirklich nicht weiß, was man sich da wünscht, nicht getan zu haben, und im Grunde ist es einem auch egal: Darum geht es gar nicht, man wünscht sich nur, man hätte es nicht getan, das Was ist von geringerer Bedeutung und hat mit dem Fall nichts zu tun. Verstehen Sie, was ich meine? Ist es Ihnen auch schon so gegangen? Also, das ist genau das Gefühl, das man beim Lesen des gedruckten Interviews hat. Ja, man hat Angst vor dem Interviewer, und das ist keine Inspiration. Man schließt seine Muschelschale, man geht in Habachtstellung, man versucht, farblos zu werden; man Mark Twain Foundation Marginalien 93 Marginalien versucht, listig zu sein, und redet um die Sache herum, ohne etwas zu sagen; und wenn man das dann gedruckt sieht, macht es einen krank, wenn man sieht, wie gut einem das alles gelungen ist. Die ganze Zeit, bei jeder neuen Frage, passt man auf, um herauszufinden, worauf der Interviewer jetzt hinauswill, und man überlistet ihn. Ganz besonders, wenn er mit Tricks versucht, einen dahin zu bringen, dass man irgendetwas Humorvolles sagt. Und in Wahrheit versucht er das die ganze Zeit. Er zeigt es so offenkundig, er arbeitet dafür so unverblümt und schamlos, dass schon sein erster Versuch dieses Reservoir verschließt und der zweite es vollends abdichtet. Ich glaube nicht, dass seit der Erfindung dieser unheimlichen Tätigkeit jemals etwas Humorvolles zu einem Interviewer gesagt worden ist. Aber er muss etwas „Charakteristisches” mitnehmen, al- so erfindet er die humorigen Stellen selbst und streut sie beim Niederschreiben des Interviews ein. Die Stellen sind immer extravagant, oft zu wortreich und üblicherweise in einen „Dialekt” eingebettet – einen nicht-existenten und unmöglichen Dialekt dazu. Diese Behandlung hat manchen Humoristen vernichtet. Aber das ist nicht das Verdienst des Interviewers, weil das ja nicht seine Absicht war. Es gibt viele Gründe, warum ein Interview ein Fehler ist. Ein Grund: Der Interviewer scheint nie darüber nachzudenken, dass es klug wäre – nachdem er durch eine Unmenge Fragen dies und das und jenes vorgebracht hat, bis er etwas gefunden hat, das ungehemmt und mit Interesse hervorströmt –, sich auf dieses eine ema zu beschränken und das Beste daraus zu machen und all das Mark Twain, Selbstporträt, „Painting my great picture” leere Zeug wegzuwerfen, die er vorher eingeheimst hat. Daran denkt er nicht. Mit schlafwandlerischer Sicherheit schneidet er den Redefluss mit einer Frage über irgendetwas anderes einfach ab; und auf der Stelle ist seine kleine Chance, etwas zu bekommen, was die Mühe des Nachhausetragens lohnt, vertan, und zwar für immer. Es wäre viel besser gewesen, er wäre bei der Sache geblieben, über die der Interviewte so interessiert sprach, aber man würde es nie schaffen, ihm das klarzumachen. Er weiß nicht, wann man ihm Metall liefert und wann man ihm Schlacke hinwirft, er kann nicht unterscheiden zwischen Dreck und Dukaten; das ist ihm alles eins, er bringt alles, was man sagt; dann sieht er selbst, dass das unreifes Zeug ist und nicht der Rede wert, also versucht er es zu flicken, indem er etwas von sich selber einfügt, von dem er denkt, es sei etwas Reifes, in Wirklichkeit ist es verfault. Zugegeben, er meint es gut, aber das tut auch der Wirbelsturm. Mark Twain, A Tramo Abroad Nun haben seine Unterbrechungen, seine Art, einen von ema zu ema abzulenken, in gewisser Weise eine ernstzunehmende Wirkung: Man steht am Ende da wie einer, der sich nur halb zu jedem ema geäußert hat. Im Allgemeinen hat man von seiner Antwort gerade so viel untergebracht, dass man beschädigt wird; niemals kommt man an die Stelle, wo man seine Position zu erklären und zu rechtfertigen meinte. 94 Der Originaltext (geschrieben 1890 oder 1891) lag jahrzehntelang unentdeckt in der Mark-Twain-Stiftung in Berkeley, wurde erst im Juli 2010 gefunden und von PBS Newshour erstmals gedruckt. Dies hier ist die erste Übersetzung aus dem Amerikanischen (von Philipp Reuter).