Historische Halle Rieckhallen Carl Andre: Sculpture as Place, 1958

Transcription

Historische Halle Rieckhallen Carl Andre: Sculpture as Place, 1958
Carl Andre:
Sculpture as Place,
1958 – 2010
14
13
12
11
Rieckhallen
7–10
6
5
4
3
2
1
Historische
Halle
Eingang /
Entrance
EINFÜHRUNG
Mit mehr als 300 Arbeiten ist Carl Andre: Sculpture as Place,1958 – 2010
die bis dato umfangreichste Einzelausstellung des bedeutenden
US-amerikanischen Künstlers. Im Hamburger Bahnhof – Museum für
Gegen­­wart wird sein minimalistische Werk mit Arbeiten aus über
fünf Jahr­zehnten vorgestellt: Rund 50 Skulpturen, über 150 Gedichte,
die selten ausgestellten Assemblagen „Dada Forgeries“ ebenso wie
eine Auswahl von Fotografien und Ephemera machen die historischen
Veränderungen und Entwicklungen in seinem Werk erfahrbar.
Dieses Begleitheft enthält einen einführenden Text zu Carl Andres
Skulpturen, kurze Informationen zu einer Auswahl der ausgestellten
Werke und die Grundrisse der Ausstellungsräume mit den
Werk­beschriftungen.
Den Auftakt bilden vier große Bodenskulpturen in der lichtdurchfluteten
Historischen Halle des ehemaligen Bahnhofsgebäudes. In den Rieckhallen,
die ehemals als Lager- und Speditionshallen genutzt wurden, entfaltet
sich das Werk dann entlang einer losen Chronologie. Der architektonische
Kontext des Hamburger Bahnhof tritt in einen Dialog mit den von Andre
verwendeten Materialien und lässt überdies Bezüge zu seiner prägenden
Zeit bei der Eisenbahn Anfang der 1960er Jahre zu, während der er ­
als Bremser arbeitete. Er nannte sie seine „sculptural finishing school“.
Anlässlich der Ausstellung haben Besucherinnen und Besucher
die seltene Gelegenheit, alle gezeigten Bodenskulpturen aus Metallplatten
zu betreten. Wir verdanken es dem überaus großen Wohlwollen der
Leihgeber, dass die Werke auf diese einzigartige Weise und damit in der
Form erlebt werden dürfen, die der Künstler für sie vorsah. Wir bitten ­
Sie, dies zu respektieren und den Werken im Sinne des Künstlers zu begegnen. Wir behalten uns ­vor, diese Regelung bei Bedarf wieder aufzuheben.
Bitte behalten Sie Ihre Schuhe an und betreten Sie die Boden­
skulpturen nicht mit hohen Absätzen oder nassen Schuhen.
Kinderwagen und Rollstühle dürfen nicht auf die Skulpturen be­fördert
werden. Bitte rennen Sie nicht auf den Werken. Bitte berühren ­­
Sie die Werke nicht mit ihren Händen. Nicht mehr als 3 Personen
dürfen gleichzeitig eine Skulptur betreten. Wenn Sie Fragen haben,
wenden Sie sich gerne an die Aufsichten. Vielen Dank!
INTRODUCTION
Encompassing more than 300 works, Carl Andre: Sculpture as Place,
1958 – 2010 is the largest solo show to date of this major American
artist. The Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart presents Andre’s
minimalist oeuvre by exhibiting works from over five decades.
Approximately 50 sculptures, more than 150 poems, a group of rarely
exhibited assemblages known as “Dada Forgeries”, and a selection of
photographs and ephemera allow audiences to trace the historical
shifts and evolutions in his artistic production.
This booklet includes an introductory text on Andre’s sculptures,
short descriptions of selected individual works, and an annotated floor
plan of the galleries.
The exhibition opens with four large sculptures, which are located in
the light-filled Historic Hall of the former train station. Following the
chronology of Andre’s artistic production, the presentation then unfolds
in the Rieckhallen, a row of converted storage and freight warehouses.
Overall, the architectural context of the Hamburger Bahnhof enters into a
dialogue with Andre’s materials echoing with allusions to the artist’s
time spent working in the early 60s for the railroads as a freight brakeman.
He called this period his “sculptural finishing school”.
In this exhibition, visitors have the rare opportunity to access all of
the presented metal floor sculptures by walking on them. We are indebted ­
to the individuals and foundations that loaned the works that they can be
experienced according to the way the artist planned them. We kindly ­
ask you to treat the works carefully and with respect. We reserve the right
to withdraw this opportunity as appropriate.
Please keep your shoes on at all times. Do not access the floor
sculptures if you are wearing high heels or wet shoes. Buggies
and wheelchairs are not allowed on the sculptures. Please do not
run. Please do not touch the works with your hands. Access ­
to the sculptures is limited to three persons at a time. If you have
any questions please do not hesitate to ask one of our guards.
Thank you very much!
SKULPTUR ALS ORT
Carl Andre (geb. 1935 in Quincy, Massachusetts, lebt in New York City) hat
den Blick auf die Skulptur grundlegend verändert. Beeinflusst von Constantin
Brâncus� i und Frank Stella fand er Mitte der 1960er Jahre zu einer radikal
neuen Auffassung von Skulptur, die ihn zu einer der zentralen Figuren der
Minimal Art machte. Andre arbeitet mit Roh- und Industriematerialien,
so etwa mit Metallen, wie Stahl, Kupfer, Aluminium und Magnesium, mit
Gesteinen und Baustoffen, beispielsweise Schamotte-, Ziegel- oder Kalk­
steinen, aber auch mit Holz. In Rasterstrukturen, geometrischen Feldern und
linearen Bahnen ordnet der Künstler Platten, Blöcke, Barren und andere
Materialeinheiten zu raumgreifenden Skulpturen an. Er war einer der ersten
Künstler, die primär ortsspezifisch arbeiteten: „Ich bin kein Atelierkünstler,
ich bin ein Ortskünstler“, so erklärt er selbst diese Haltung. Der Umgebungs­
raum ist stets Teil des Werkes, die häufig begehbare Skulptur wird zum
Ort („sculpture as place“) und definiert die Rolle des Publikums neu.
In Abgrenzung zur klassischen Bildhauertradition begann Andre ab
1960 auf jegliche künstlerische Materialbearbeitung zu verzichten. Die vertikale Ausrichtung der Skulptur gab er zugunsten einer horizontalen Flächig­
keit auf. Er holte die Skulptur vom Sockel und machte sie als Bodenarbeit
begehbar. Der Körpererfahrung des Publikums wurde dadurch eine zentrale
Bedeutung zugesprochen.
Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte der Bildhauerei
identifizierte Andre drei wichtige Momente, die entscheidend für das
Verständnis seiner Kunst sind: Skulptur als Form, Skulptur als Struktur und
Skulptur als Ort. Er beschreibt diese drei Momente folgendermaßen: „Zu
Zeiten, als Form eine Rolle spielte, interessierten sich die Menschen für die
Freiheitsstatue, weil Bartholdi sie modelliert hatte und wegen der Form­
gebung des Kupferblechs [...] Dann fingen die Leute an, sich für das Thema
Konstruktivismus zu interessieren, und Bartholdis Form interessierte sie
nicht mehr. Jetzt interessieren sie sich für die innere Struktur von Eiffels
Gußeisen Konstruktion [...] Heute sind Bildhauer nicht einmal mehr an Eiffels
Konstruktion interessiert. Also denke ich an Bedloe’s Island als Ort. ­Ich
be­nutze ‚Ort’ als eine Art Aphorismus, der für mich zuzutreffen scheint,
nämlich daß ich von der Form in der Skulptur zur Struktur der Skulptur
gekommen und jetzt beim Ort in der Skulptur angelangt bin.“
Den vierten zentralen Eckpfeiler der Skulpturenauffassung Andres
­bildet die Materialität. Im Jahr 1991 stellte er fest: „Meine ersten Untersuch­
ungen der Skulptur bezogen sich auf die Faktoren der Form, der Struktur
und ­­des Ortes. Heute realisiere ich, dass ich dabei den für mich wichtigsten
Faktor nicht berücksichtigt habe: Die Materialität. Die Eigenschaften der
Materialien sind der wichtigste Bestandteil meiner Skulpturen.“ Ende ­
der 1950er Jahre, zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn hatte Andre Holz
und Plastik mit Sägen oder Bohrern bearbeitet. Aus dieser kurzen frühen
Phase sind nur wenige Arbeiten erhalten. Schon bald entwickelte er ein
Interesse an den Eigenschaften fabrikgefertigter Materialien, deren Form,
Gewicht und Oberflächenbeschaffenheit. „Anstatt in das Material zu
­schneiden, benutze ich es als einen Schnitt im Raum“, so beschreibt Andre
seine Abkehr von der künstlerischen Materialbearbeitung. Der „Cut“ ist
dabei weniger eine Darstellung, die man betrachtet, als eine Art „Lokalität“,
ein Ort, den das Publikum erleben kann.
SCULPTURE AS PLACE
Carl Andre (b. 1935, Quincy, Massachusetts, lives in New York City) has
lastingly redefined our traditional concept of sculpture. Influenced by
Constantin Brâncus� i and Frank Stella, he forged a fundamentally new
understanding of sculpture in the mid-1960s, making him one of the leading figures of Minimal Art. The artist works with raw and industrial
­materials: metals (primarily steel, copper, aluminium, and magnesium),
rocks and construction materials (such as bricks and limestone), but also
wood. Using grid-like structures, geometric patterns, and straight lines, ­
the artist sorts and arranges slabs, blocks, ingots, and other units of often
factory-finished material to create large-scale sculptures on the floor.
Andre was one of the first artists to create works that were primarily site-­
specific, declaring: “I am not a studio artist, I am a location artist”. The­
surrounding space is thereby integrated into the work itself, the sculpture —
which often can be walked on — becomes place, radically redefining ­
the role of the spectator in the process of reception.
From 1960 onward, in order to subvert the traditions of classical sculpture, Andre abandoned any artistic treatment of his materials. He also
gave up sculpture’s vertical alignment in favor of horizontal flatness. Andre
took the sculpture off its pedestal and literally made it accessible to the
visitor. Bodies in space, including the visitors themselves, gained a new
and imminent role.
In the course of his exploration of the history of sculpture Andre
identified three central moments that remain crucial for understanding his
­art: sculpture as form; sculpture as structure; and, finally, sculpture as
place. This is how he described these three moments: “In the days of form,
people were interested in the Statue of Liberty because the modeling of
Bartholdi and the modeling of the copper sheet that was the form of the
Statue of Liberty. [...] Then people came to be interested in structure and
they were not interested in Eiffel’s cast iron interior structure [...] Now
sculptors aren’t even interested in Eiffel’s structure anymore. They’re
interested in Bedloe’s Island and what to do with that. So I think Bedloe’s
Island as a place. I use place as a kind of aphorism that seems to work
for me about shifting from form in sculpture to structure in sculpture to what
I wound up with as place in sculpture.”
Matter is the fourth central pillar of Andre’s notion of sculpture.
While always important for his work he did not realize its great significance
however until later. In 1991 he stated: “My original analysis of sculpture
included the factors of form, structure and place. Now I realize that I left
out the one factor most important to me: matter. The properties of matter
are the most important content of my sculpture.” At the beginning of
his artistic career in the late 50s Andre modified wood and plastics by using
saws and drills. Only a few works are preserved from this early phase.
Soon, he developed an interest in the characteristics of prefabricated
materials — their respective form, weight and surface structures. Andre
described his shift from manipulating material artistically to exploring how
the material impacted the surrounding space as follows: “Rather than ­
cut into the material, now I use the material as the cut in space.” His idea
of a sculptural “cut” is expressed in the specific contrast of the sculptures
towards and within the architecture of the exhibition space. The cut is
less a representation to be looked at but rather a kind of locus — a place
the viewer can experience.
Eingang / Entrance
HISTORISCHE
HALLE
6-Metal Fugue (for Mendeleev)
1995
Quadrat aus 216 Platten mit
insgesamt 1296 Teilen (36 × 36) /
square made of 216 plates ­with
1296 units (36 × 36)
Private Collection
Bis / until 29. August 2016
07515 Karlsplatz
1992
Rot-Zeder / Western red
cedar; 84 Teile / units
Friedrich Christian Flick
Collection
Rieckhallen
Zeitlos 5 × 7
1988
Verwitterter Stahl / Weathered steel;
35 Teile / units
Courtesy the artist and Konrad
Fischer Galerie, Düsseldorf
Lament for the Children
New York, 1976 (zerstört / destroyed), Wolfsburg, 1996
(erneut ausgeführt / remade)
Beton / concrete; Quadrat aus
100 Teilen / 100-unit square
Courtesy the artist and Paula
Cooper Gallery, New York
HISTORISCHE HALLE
In der über zehn Meter großen Arbeit 6-Metal Fugue (for Mendeleev) ­von
1995 verweist Andre bereits im Titel auf das Periodensystem. Die system­a­
tische Übersicht über die chemischen Elemente wurde 1869 von dem
Chemiker Dmitri Mendelejew entwickelt, dem Andre diese Arbeit widmete.
Entsprechend ihrer Anordnung im Periodensystem hat Andre 1296 Metall­
quadrate aus Magnesium, Aluminium, Eisen (hier: Stahl), Kupfer, Zink ­
und Blei angeordnet. Die gesamte Fläche lässt sich auf sechs mal sechs
­quadratische Teilbereiche aufgliedern, die aus jeweils 36 kleinen quadratischen Platten bestehen. Innerhalb dieser Struktur werden vom ersten ­
bis zum letzten quadratischen Teilbereich alle Materialkombinationen durchgespielt. In Anlehnung an das musikalische Kompositionsprinzip der Fuge,
bei der ein Thema verschiedenartig wiederholt wird, variiert Andre den
Reinheitsgrad der sechs Metalle in systematischer Weise. „Das Perioden­
system der Elemente ist für mich das, was für den Maler das Farbspektrum
ist”, beschreibt Andre diesen Einfluss, und er nennt sich in Anlehnung ­an
den Maler William Turner den „Turner der Materie“, der sich an dem Perioden­­system wie an einer Farbpalette bedient, um seine Kunst zu schaffen.
Die Bodenarbeit Zeitlos 5×7 (1988) aus Stahl wurde für genau diese Stelle ­in
­der Historischen Halle geschaffen. Sie ist benannt nach der gleichnamigen
Ausstellung Zeitlos. Kunst von heute im Hamburger Bahnhof, ­Berlin ­des
Schweizer Kurators Harald Szeemann. Die Ausstellung fand 1988 in dem
stark sanierungsbedürftigen Bahnhofsgebäude statt, das 1996 als Museum
der Gegenwart eröffnete. Die Präsentation dieser Arbeit ist eine Hommage
an den Künstler, der immer ortspezifisch arbeitet und auf den jeweiligen
Ausstellungsraum und -kontext reagiert.
Die Präsentation in der Historischen Halle ist nur bis zum
29. ­August 2016 zu sehen.
HISTORIC HALL
The title of the work 6-Metal Fugue (for Mendeleev) (1995) refers to the
periodic table of the elements. This systematic diagram was developed by
the chemist Dmitri Mendeleev in 1869; Andre dedicated this work to him.
Andre arranged 1296 metal squares made from magnesium, aluminum, iron
(here: steel), copper, zinc, and lead according to their position in the
­periodic system. The entire rectangle is made up of 36 square sub-areas
that each also consist of 36 smaller units. A refracted series of squares,
this sculpture contains each possible material combination. Following the
compositional principle of the musical fugue where a certain motif is
repeated in a variation of ways Andre systematically plays with the purity
grade of the six metals. “The periodic table of elements is for me what ­
the color spectrum is for the painter,” said Andre, who, in reference to the
painter William Turner, would also call himself the “Turner of matter.”
The floor work Zeitlos 5×7 (1988) consists of steel and was made precisely­
for this location in the Historic Hall. It is named after the eponymous exhibition Zeitlos. Kunst von heute im Hamburger Bahnhof Berlin, which was
curated by the Swiss curator Harald Szeemann. The exhibition took place
in 1988 when the building was still in dire need of renovation before it
opened as a contemporary art museum in 1996. The presentation of this
work is a homage to an artist who has always been congenially inspired ­by
the exhibiton space and context.
The presentation in the Historic Hall is on view only until
29 August 2016.
1
Tau and Right Threshold
(Element Series)
New York, 1960 (Entwurf /
proposed), Minneapolis,
1971 (Ausführung / made)
Holz (ohne nähere Angabe) /
wood (not specified);
3 Teile / units
Wexner Center for the Arts
Pyramid (Square Plan)
New York, 1959 (zerstört /
destroyed), Orleans, Massachusetts
1970 (erneut ausgeführt / remade)
Weymouth-Kiefer / Eastern pine;
Stapel aus 74 Teilen / 74 unit-stack
Dallas Museum of Art; General
Acquisitions Fund and matching
funds from The 500, Inc.
Lever
New York, 1966
Schamotteziegel / fire brick;
137 Teile / units
National Gallery of Canada,
Ottawa;
erworben / purchased 1969
Herm (Element Series)
New York, 1960 (Entwurf /
proposed), New York, 1976
(Ausführung / made)
Rot-Zeder / Western red cedar,
1 Teil / unit;
Solomon R. Guggenheim Museum,
New York; Geschenk Angela K.
Westwater, 1986
1
DE Der erste Raum der Rieckhallen ist den frühen Arbeiten Carl Andres
gewidmet. Seine dreiteilige Element Series wurde 1960 konzipiert, konnte
aber aus ökonomischen Gründen erst 1970 realisiert werden: Jeweils
a­us einem bis drei Teilen bestehend, beginnt die Reihe mit einem einzelnen
Block (Herm), wird dann zu einer Doppeleinheit und schließlich zu einer
­dreiteiligen Einheit (Tau and Right Threshold). Mit der Element Series
begann Andre, Materialien in ihrem industriellen Rohzustand zu verwenden.
Viele Werke aus dieser frühen Zeit, so auch Pyramid (Square Plan), die
ursprünglich im Jahr 1959 entstand, wurden – häufig aus Platzgründen –
­zerstört oder gingen verloren, so dass der Künstler sie Jahre später ­
(in ­diesem Fall 1970) für eine Ausstellung erneut herstellte.
Die 1966 für die Ausstellung Primary Structures: Younger American and
British Sculptors im Jewish Museum in New York entstandene Arbeit Lever
bedeutete Andres Durchbruch als Künstler. Die Skulptur besteht aus 137
aneinandergelegten Schamottesteinen: preiswerten feuerfesten Steinen aus
hart gebranntem Ton, die für Auskleidungen von Öfen und Kaminen verwendet werden. Für Lever werden die Steine in einer geraden Linie an der ­Wand
beginnend in den Raum gelegt. Andre beschrieb diese in die Horizontale
wirkende Skulptur gleichzeitig als Pfad, Schnitt und gefallene Säule.
EN The first room in the Rieckhallen is dedicated to Carl Andre’s early
works. While planned in 1960, for economic reasons his three-part Element
Series was not realized until 1970. A progressive arrangement of blocks,
the series starts with the single-unit Herm, followed by a two-unit, and ­
a three-unit element (Tau and Right Threshold). Element Series marks the
beginning of Andre’s usage of unaltered materials. Many works from ­
this early period, including Pyramid (Square Plan) originally produced in
1959, were destroyed or lost for lack of space, and they had to be remade
by the artist for later exhibitions (in this particular case in 1970).
The work Lever, which Andre created in 1966 for the exhibition Primary
Structures: Younger American and British Sculptors at the Jewish Museum
in New York, represents his artistic breakthrough. The sculpture consists ­
of 137 firebricks — an affordable, fire-resistant brick made from hard-fired
clay that is used to outfit the interior walls of ovens and chimneys. For
Lever, these bricks are arranged in a straight line jutting out of the wall into
the gallery space. Andre explained this horizontal sculpture in simultaneous
terms of path, cut, and fallen column.
2
D
E
L
M
C
F
K
N
B
G
J
O
A
H
I
P
2
GEDICHTE
DE „Mein bildhauerisches Interesse an Elementen oder Teilen wird von
meinem Interesse an Worten als Teilen der Sprache gespiegelt.“ Während
Carl Andre einige seiner Skulpturen aus ökonomischen Gründen erst Mitte
der 1960er Jahre realisieren konnte, verschaffte ihm das Schreiben voll­
kommene künstlerische Autonomie. Frühe Experimente mit dem Medium
Sprache machte er schon während seiner Zeit an der Phillips Academy,
einem Eliteinternat in Andover, Massachusetts Anfang der 1950er Jahre. Zu
einer ersten Reife gelangten seine Gedichte dann etwa zur Zeit seines
Umzugs nach New York im Jahr 1957. Der Zeitraum von 1960 bis 1965 war
Andres produktivste dichterische Phase.
Die hier präsentierte Auswahl zeigt, inwiefern Andres Dichtung mit
­seinem materialistischen und modularen Ansatz in der Bildhauerkunst korrespondiert, ja diesen sogar vorwegnimmt. Von Anfang an illustrieren seine
Gedichte sein Bestreben nach der Demontage einer traditionellen Auf­
fassung von Lyrik und schreiben ihre bahnbrechende Kraft sogar bis in die
Grammatik fort. Andre bildet weniger Sätze als Figuren und fordert seine
Rezipientinnen und Rezipienten auf, nach Linien, Säulen und Blöcken zu
suchen, anstatt die Sprache allein von ihrer Bedeutung her zu entschlüsseln.
Beim Verfassen seiner Schreibmaschinengedichte folgte er im Wesent­
lichen drei Mustern: dem Raster, der Liste und der mathematischen
Sequenz. Er verwendete austauschbare Sprachpartikel als modulare Ein­
heiten, die er eher aufreihte als konjugierte. Sein Schreiben beläuft sich auf
das Zitieren, Sortieren und Neukombinieren von Textfragmenten aus
­verschiedenen Quellen, vor allem Büchern und Dokumenten. Ähnlich wie
Andre Industriegebiete nach Materialien für seine Skulpturen absuchte,
durchforstete er als Dichter literarische Werke wie beispielsweise das Buch
Indian History, Biography, and Genealogy von Ebenezer W. Peirce aus ­­
dem Jahr 1878, um daraus Teile künstlerisch zu nutzen. Dieses Buch war
auch­­die Hauptquelle für America Drill, eines von Andres dichterischen
Haupt­werken aus dem Jahr 1963 (das als Faksimile-Version aufwendig reproduziert wurde und in Raum 13 gezeigt wird). Bis in die 1990er Jahre wurden
seine ­Gedichte zumeist als gerahmte Arbeiten an Wände gehängt, bevor er
für die Präsentation seiner Arbeiten auf Papier eigene Vitrinen entwickelte.
Aus restauratorischen Gründen wechselt die Präsentation der
Gedichte zur Hälfte der Ausstellungslaufzeit.
2
POETRY
EN “My interest in elements or particles in sculpture is paralleled by my
interest in words as particles of language”, Carl Andre said in 1975. ­
While he could not materialize his most radical sculptural concepts until the
­mid-1960s, the simple format of his poetry (typewriter ink on paper)
afforded him a complete autonomy from the very start of his investigations.
Andre’s earlier incursions in experimental verse can be tracked to his
years at Phillips Academy in Andover, Massachusetts, but his first mature
poems coincide with his arrival to New York in 1957. The years between
1960 to 1965 were Andre’s most productive phase as a poet.
The selection of poems presented here illustrates how far Andre’s
poetry accompanied, and even foreshadowed, his materialist and modular
take on the art of sculpture. Since their earliest formulations, Andre’s poems
have shown his effort to dismantle any traditional notion of lyricism, ex­tending their breaking force to grammar itself. Andre often composes figures
rather than sentences, inviting the reader to look for connections between
lines, columns, and blocks instead of deciphering language for its meaning.
Andre’s typing methods are essentially based on three patterns: ­
the grid, the list, and the mathematical sequence. He uses interchangeable
particles of language as modular units, aligned rather than conjugated.
His writing is essentially an art of quoting, sorting, and recombining verbal
matter from pre-existing sources of all kinds, especially books and documents that Andre deemed relevant. Replicating the way he scavenged
the margins of industrial sites in search of materials, Andre was also the
poet who searched through, and extracted from, literary works such as
Ebenezer W. Peirce’s Indian History, Biography, and Genealogy from 1878.
This book was also the main source for America Drill, one of Andre’s major
poetic works from 1963 (which is presented in Room 13 as an elaborate
facsimile version). Until the 1990s Andre’s poems were generally presented
as framed wall pieces when the artist devised specific vitrines for the
­presentation of his works on paper.
For conservation reasons the poems will be rotated after 2 months.
3
Steel-Magnesium Square
Düsseldorf, 1969
Stahl, Aluminium / steel, aluminium
Quadrat aus 100 Teilen /
100-units square /
Courtesy the artist and Konrad
Fischer Galerie
64 Tin Square
New York, 1976
Zinn / tin; Quadrat aus 64 Teilen /
64-unit square, Privatsammlung /
Private Collection
Neubrückwerk
Düsseldorf, 1976
Rot-Zeder / Western red cedar;
19 Teile / units
Musée d’Art Contemporain,
Montreal
Magnesium-Magnesium Plain
New York, 1969
Magnesium; Quadrat aus 36
Teilen / 36-unit square
Privatsammlung / Private Collection
Sand-Lime Instar
New York, 1966 (zerstört /
destroyed), New York, 1995
(erneut ausgeführt / remade)
Kalksandziegel / sand-lime brick;
8 rechteckige Einheiten aus
120 Teilen, 2 Teile hoch /
eight 120-unit rectangular solids,
2 units high
Courtesy the artist and Konrad
Fischer Galerie, Düsseldorf
3
DE Die Bodenskulptur Equivalents I–VIII (1966), die aus acht Einheiten zu je
120 zweireihig gelegten Kalksandsteinen besteht, wurde in ihre Einheiten
zerlegt verkauft. Aus diesem Grund fertigte Andre im Jahr 1995 eine neue
Arbeit, die er Sand-Lime Instar nannte. Er wählte hier den lateinischen
Begriff „instar“ (= gleichwie, so groß wie, so viel wie), dessen Bedeutung
mit derjenigen von „equivalent“ zusammenfällt. Die Tatsache, dass die acht
Einheiten als Gesamtfläche wiederum grob ein Rechteck bilden, zeigt, ­
dass Andre hier auch die Zwischenräume als Teil des Werkes anerkennt.
Wie eine Vielzahl seiner Arbeiten verweist auch die Skulptur Neubrückwerk
im Titel auf ihren ursprünglichen Entstehungskontext: Sie entstand 1976 – ebenso wie die in der Historischen Halle gezeigte Arbeit Karlsplatz – für eine
Ausstellung in der Konrad Fischer Galerie in der Düsseldorfer Neubrückstrasse. Der dort ansässige Galerist Konrad Fischer eröffnete 1967 seine
wegbereitende Galerie für Minimal Art mit einer Einzelausstellung Andres.
EN The floor-bound work Equivalents I–VIII (1966) consists of a double
row arranged from eight units of 120 sand-lime bricks. Because the original
was sold in eight separate units Andre remade the work in 1995, titling ­
it Sand-Lime Instar. Here, the Latin term “instar” (= equal to, as big as, as
much as) is synonymous with the meaning of “equivalent”. The fact that ­
the total area of units forms a rectangle proves that Andre also counts the
interstices between the bricks as parts of the work.
As is generally the case with Andre’s works, the title of the sculpture
Neubrückwerk refers to its original context of production: It was made in
1976 (when he also made Karlsplatz that is presented in the Historic
Hall) for an exhibition at the Konrad Fischer Galerie on Neubrückstrasse in
Düsseldorf. By the way, it also happened to be a solo exhibition by Andre
that the Düsseldorf-based gallerist Konrad Fischer presented when first
opening his pioneering gallery for minimal art in 1967.
“My work doesn’t mean anything,
it’s just the presentation of
materials in the clearest form
I can make it.”
— Carl Andre, 2013
„Meine Arbeit bedeutet nichts. Es geht mir bloß darum Materialien in der
größtmöglichen Klarheit der Form zu präsentieren.“
4
Passport
1960
Farbfotokopien / photocopies (1970);
88 Blätter / sheets
Courtesy Paula Cooper Gallery,
New York
Vitrine
4 PASSPORT
DE Die Arbeit Passport nimmt in Carl Andres Werk einen besonderen
Stellenwert ein. Es handelt sich um ein Skizzenbuch, in dem Andre
­unterschiedliche Alltagsmaterialien festgehalten hat. Abbildungen historischer Kunstwerke, beispielsweise von Francisco de Goya, Constantin
Brâncus� i und Arshile Gorky, mischen sich mit Porträts seiner Freunde, wie
etwa Frank Stella, oder von ihm bewunderter Personen, wie Lord Byron
oder Ralph Waldo Emerson.
1969 erschien Passport als Schwarz-Weiß-Kopie in der von Seth
Siegelaub herausgegebenen und von Andres damaliger Galeristin Virginia
Dwan publizierten Anthologie Seven Books of Poetry. Obwohl die Original­
version von 1960 durch traditionelle Techniken wie Collage, Tusche- ­
und Bleistiftzeichnungen entstand, entschied sich der Künstler 1970 eine
Farb-Edition zu produzieren, mit Hilfe der damals neuen und noch nicht
kommerziell erhältlichen Xerox-Technologie (Kopierverfahren). Die Original­
version war ein gebundenes Buch; die Überarbeitung von 1970 erlaubte ihm,
das Werk als Einzelseiten anzulegen, die er gerahmt ausstellen konnte.
EN The work Passport occupies a place of exception in Carl Andre’s
­production. It is a scrapbook memorializing disparate materials from Andre’s
everyday life containing reproductions of historical works of art (for
instance by Francisco de Goya, Constantin Brâncus� i, and Arshile Gorky),
portraits of his friends (for example Frank Stella), and figures he admired
such as Lord Byron or Ralph Waldo Emerson.
In 1969 a black-and-white version of Passport appeared in the anthology Seven Books of Poetry edited by Seth Siegelaub and published by
Virginia Dwan (at the time Andre’s dealer). Though the original version of
Passport was made using traditional techniques of collage, ink, and pencil
drawing, in 1970 Andre decided to produce a color edition using then-­
cutting-edge Xerox technology that was not yet commercially available.
While the original version was a bound book, the revision from 1970
allowed him to exhibit the work as framed single pages.
5
Gianfranco Gorgoni
Auswahl aus / selections from The New Avant-Garde:
Issues for the Art of the Seventies 1970
12 Gelatinesilberabzüge / gelatin silver prints;
Ausstellungsexemplare / exhibition copies
Gianfranco Gorgoni Collection
FeLL
New York, 1961
Stahl / steel; Winkel aus ­
2 Teilen / 2-unit ell
MJS Collection, Paris
Hollis Frampton
Alle Arbeiten:
Gelatinesilberanzüge /
all works:
gelatin silver prints
Collection the artist;
Courtesy Paula Cooper
Gallery, New York
Von links nach rechts / left to right
Untitled (Negative Sculpture)
New York, 1958
Acryl / acrylic
Raymond and Patsy Nasher
Collection, Nasher Sculpture
Center, Dallas
1 First Ladder by Carl Andre,
ca. 1958
2–4 Untitled (Negative
Sculpture) by Carl Andre
ca. 1958
5 Chalice by Carl Andre
ca. 1959
4 Corner Slant Stack
New York, 1964
Acryl / acrylic;
10 Teile / units
MJS Collection, Paris
Demeter
New York, 1964
Alnico-Magnete (glänzend) / Alnico magnets (bright); Rechteck
aus 8 Teilen / 8-unit rectangle
Addison Gallery of American Art,
Phillips Academy, Andover,
Massachusetts; Geschenk von / gift of Maud Morgan, Addison
Art Drive, 1992
Persephone
New York, 1964
Alnico-Magnete (matt) / Alnico
magnets (dull); Rechteck aus 20
Teilen / 20-unit rectangle
Addison Gallery of American Art,
Phillips Academy, Andover,
Massachusetts; Geschenk von / gift
of Maud Morgan, Addison Art Drive,
1992
Gordon „Diz“ Bensley
Quincy
1971
(Nachdruck / reprint 2013)
48 Gelatinesilberabzüge / gelatin silver prints;
Ausstellungsexemplare / exhibition copies
Sammlung des Künstlers / Collection the artist;
Courtesy Paula Cooper Gallery, New York
Vitrine
6 Baboons by Carl Andre
ca. 1959
7 Machine Cut by Carl Andre
ca. 1959
8 Maple Spindle Exercise
by Carl Andre
ca. 1959
9–12 Untitled by Carl Andre
ca. 1960
13–23 Found Steel Object
Sculptures by Carl Andre
ca. 1960–61
24 Untitled by Carl Andre
ca. 1960
25 A Marat by Carl Andre
ca. 1959
5
FOTOGRAFIE / PHOTOGRAPHY
DE Abgesehen von den Fotografien von Hollis Frampton zur Dokumentation
von Andres frühen Skulpturen hält die Fotografie erst spät Einzug in sein
Werk und manifestiert sich hauptsächlich in Form verschiedener Kollaborationen. Die erste lässt sich auf Frühling 1970 datieren. Zu jener Zeit ­traf sich
Andre mit dem Fotografen Gianfranco Gorgoni im New Yorker Meatpacking
District, wo Andre mit Vorliebe nach Material suchte. Das Ergebnis dieser
Zusammenarbeit wurde in dem von Grégoire Müller herausgegebenen Buch
The New Avant-Garde: Issues for the Art of the Seventies publiziert.
Gemeinsam mit Gordon „Diz“ Bensley – einem Fotografen, der ihn an der
Phillips Academy unterrichtet hatte – gestaltete Andre ein Porträt seiner
Heimatstadt Quincy. Daraus entstand die Künstlerpublikation Quincy, die 1973
seine Ausstellung in der Addison Gallery of American Art begleitete.
Lediglich in der späteren Arbeit 15 Years (1977–1992): Scenes and Variations
(Raum 13) fotografierte er selbst Orte seines Alltagslebens, die er sodann
nummerierte, klassifizierte und durchmischte.
In einer Vitrine werden frühe bildhauerische Arbeiten des Künstlers
gezeigt: fünf kleinformatige Modelle aus verschiedenen gefundenen
Materialien wie gegossenem Beton, Acryl oder Stahl, die sein späteres
künstlerisches Vokabular vorstellen.
EN Except for photographs by Hollis Frampton documenting his early
sculptures, photography enters Andre’s work in rare instances, mainly ­in
the form of collaborations. The first dates from spring 1970, when Andre
and photographer Gianfranco Gorgoni strolled through New York’s
Meatpacking District—one of Andre’s scavenging sites—as part of the book
project The New Avant-Garde, edited by Grégoire Müller. Again trying ­
to make a visual statement about the origins of his work, Andre set out to
portray his hometown of Quincy, Massachusetts, with the help of Gordon
“Diz” Bensley, a photographer who had been his teacher at Phillips Academy
in Andover. The result was Quincy Book, a small publication that accom­
panied Andre’s exhibition at the Addison Gallery of American Art in 1973.
Only in the later work 15 Years (1977–1992): Scenes and Variations did
Andre himself hold the camera to capture the spaces of his everyday life,
which he then numbered, classified, and shuffled.
In the vitrine, Andre’s earliest sculptures are presented — five smallscale models made from various found materials such as cast concrete,
acrylic, or steel, which introduce the artist’s later artistic vocabulary.
6
Seventh Copper Cardinal
Turin, 1973
Kupfer / copper; Reihe aus
7 Teilen / 7-unit line
Fundación Almine y
Bernard Ruiz-Picasso para
el Arte, Brussels
8005 Mönchengladbach Square
Mönchengladbach, 1968
Warmgewalzter Stahl / hot-rolled
steel; Quadrat aus 36 Teilen / 36-unit square
Collection MJS, Paris
9 × 27 Napoli Rectangle
Neapel, 2010
Warmgewalzter Stahl / hot-rolled
steel; Rechteck aus 243 Teilen /
243-unit rectangle
Privatsammlung / Private Collection
Ferox
New York, 1982
Verwitterter warmgewalzter Stahl / weathered hot-rolled steel;
Dreieck aus 91 Teilen / 91-unit
triangle Courtesy the artist and Paula
Cooper Gallery, New York
4-Segment Hexagon
Brüssel / Brussels, 1974
Blaustahl / blue steel; netzartiges
Sechseck aus 158 Teilen /
158-unit cellular hexagon
Centre Pompidou, Paris,
Musée National d’Art Moderne /
Centre de Création Industrielle
Eight Reserved Steel Corner
New York, 1978
Verwitterter warmgewalzter
Stahl / weathered hot-rolled
steel; Dreieck aus 36 Teilen / 36-unit triangle
Staatliche Museen zu Berlin,
Nationalgalerie,
Sammlung Marzona
12 Mixed Pipe & Track Run
Den Haag, 1969
Stahl / steel; Reihe aus 12 Teilen / 12-unit line
Collection Stella Lohaus, Antwerpen
Historische Halle / Historic Hall
6
DE Von Anfang an waren Carl Andres Bodenskulpturen dazu gedacht,
betreten zu werden. Damit sind sie weniger sichtbare Objekte als
­Platt­formen zur Befragung ihrer jeweiligen Umgebung und Standorte der
Betrachtung. Ihre Unscheinbarkeit ist demnach ein strategischer Aspekt. Die
hier gezeigten „Squares“ (Vierecke, Quadrate) und „Plains“ (Ebenen,
Flächen) aus Stahl und Kupfer verfügen über eine maximale Höhe von ­0,8
Zentimetern. Sie existieren in verschiedenen Formen und Größen, sie bilden
Quadrate, Rechtecke, in den Ausstellungsraum hinein ragende Geraden
oder bedecken Raumecken. Dabei weisen sie diverse Material­eigenschaften
und Oberflächenbeschaffenheiten auf. Wie unterschiedlich ein und dasselbe Material aussehen kann, zeigen die verschiedenen Bodenskulpturen
aus Stahl. Sie führen nicht nur zu verschiedenartigen Ästhetiken bei der
Betrachtung von Skulptur und Umraum, sondern auch zu unterschiedlichen
Erfahrungen beim Betreten der Skulptur.
Carl Andre ist heute vor allem für seine Werkgruppe der flachen geometrischen Bodenskulpturen aus Metallplatten bekannt. Er schuf sie ­von
1967 bis 2010. Neben dem sehr frühen Werk 8005 Mönchengladbach
Square (1968), das anläßlich seiner ersten musealen Einzelausstellung im
Museum Abteiberg in Mönchengladbach entstand, wird seine letzte großformatige Arbeit 9 × 27 Napoli Rectangle (2010) gezeigt. Indem der Künstler
nach und nach Zugang zu größeren Materialmengen erlangte, konnte er
monumentaler arbeiten. Er beschreibt die ökonomischen Bedingungen seines Kunstschaffens wie folgt: „Ich musste mit Materialien arbeiten, die
überhaupt erhältlich waren – dies mag krass klingen, ist aber ziemlich materialistisch im Marxistischen Sinne, denn man kann nicht etwas machen,
wenn es für einen nicht existiert. Mit anderen Worten: Wenn man keine
Kontrolle über die Produktionsmittel hat, kann man nichts produzieren, also
muss man die Produktionsmittel finden, die man kontrollieren kann.“
6
EN Originally meant to be walked upon by viewers, Carl Andre’s floor
sculptures are less visible objects than they are platforms for the interrogation of their surroundings. Their inconspicuousness is thus a strategic
choice. The steel and copper “squares” and “plains” presented here are
not higher than half a centimeter; they exist in a variety of forms and sizes,
creating squares or rectangles as well as lines that jut out into the gallery
or cover the corners of a space. Their individual material and surface
characteristics can be very diverse and Andre’s steel floor sculptures
demonstrate how different the same material can look. This however does
not only produce a variegated sense of aesthetics regarding the sculptures
and their environments but also produces a set of different experiences ­
in the viewer.
Today, Carl Andre is most famous for his series of flat geometric floor
sculptures made from metal plates, which he created from 1967 to 2010.
One early example is the piece 8005 Mönchengladbach Square (1968)
which he created on the occasion of his first solo museum exhibition at the
Museum Abteiberg in Mönchengladbach. His last large-scale work is 9 × 27
Napoli Rectangle (2010). Progressively gaining access to a larger number
of materials the artist expanded the scope of earlier explorations, reclaiming
larger surfaces. This is how he described the economic conditions of his
art practice: “I had to work with materials that were available at all – this
may sound crass, but it is rather materialistic in the Marxian sense that you
cannot do something that does not exist for you. In other words,
if you don’t have control of the means of production you cannot produce
anything, so you have to find the means of production that you can control.”
Scatter Piece
New York, 1966
33 Kugellager, 13 Axialscheiben,
9 Teile von Aluminiumröhren,
14 rechteckige Plexiglaskörper,
7 Aluminiumbarren / 33 ball
bearings, 13 pulley discs,
9 pieces of aluminum channel,
14 Plexiglas rectangular
solids, 7 aluminum ingots
Courtesy the artist and
Paula Cooper Gallery, New York
7
Magnesium Ribbon
Antwerpen, 1969
Magnesium;
1 Band / continuous
strip
Sammlung Jonas
Lohaus, Kapellen,
Belgien
Tin Ribbon
New York, 1969
(Entwurf / proposed)
Marseille, 1997
(Ausführung / made)
Zinn / tin
Courtesy the artist
und / and Paula Cooper
Gallery, New York
8
Plumbsum
Düsseldorf, 1982
Blei / Plumb, 15-teilige, gestufte
Treppe mit 5 Reihen und jeweils
5, 4, 3, 2, 1 aneinander gelegten
horizontalen Blöcken / 15-unit step stack,
5 tiers (5, 4, 3, 2, 1) of horizontal
blocks, side by side
Staatliche Museen zu Berlin,
Nationalgalerie
Plumbnon
Düsseldorf, 1982
Blei / Plumb, 9-teiliger rechteckiger
Block, 3 × 3 vertikal geschichtete
Blöcke / 9-unit rectangular solid,
3 × 3 array of vertical solids
Staatliche Museen zu Berlin,
Nationalgalerie
Plumblock
Düsseldorf, 1982
Blei / Plumb, 12-teiliger rechteckiger
dreigeschossiger Block mit je
4 horizontalen Blöcken / 12-unit
rectangular solid, 3 tiers of 4
horizontal blocks
Staatliche Museen zu Berlin,
Nationalgalerie
Plumbell
Düsseldorf, 1982
Blei / Plumb, 18-teiliger rechteckiger
viergeschossiger Block mit 4 Blöcken
je Reihe um 2 vertikal aufeinander
gelegte Blöcke herum / 18-unit
rectangular solid, 4 horizontal tiers
of 4 blocks around 2 vertical, end
to end
9
Plumbond
Düsseldorf, 1982
Blei / Plumb, 12-teiliger rechteckiger
zweigeschossiger Block mit 6
Blöcken je Reihe / 12-unit rectangular solid, 2 horizontal tiers of 6
blocks
Staatliche Museen zu Berlin,
Nationalgalerie
13 Al Vein
Cleveland, Ohio 1991
Aluminium; 13 aneinandergefügte
Teile an einer Wand / 13 units end to end along wall
Courtesy the artist und / and
Paula Cooper Gallery, New York
10 Al Vein
Cleveland, Ohio 1991
Aluminium; 10 aneinandergefügte
Teile an einer Wand / 10 units end to end along wall
Courtesy the artist und / and
Paula Cooper Gallery, New York
10
15 Al Vein
Cleveland, Ohio 1991
Aluminium; 15 aneinandergefügte
Teile an einer Wand / 15 units end to end along wall
Courtesy the artist und / and
Paula Cooper Gallery, New York
KABINETTE / CABINETS
DE In den vier Kabinetten werden kleinformatige Skulpturen gezeigt, die
aus Sicherheitsgründen in Vitrinen oder in abgesperrten Räumen präsentiert
werden.
EN The four cabinets contain small sculptures which, for security reasons,
need to be kept in vitrines or closed-off spaces.
7
DE In diesem Raum werden zwei Beispiele aus der Werkgruppe der Ribbons
gezeigt. Hier bestimmen Material und Raumsituation die Form und Größe
der Skulpturen.
EN This room presents examples from the series Ribbons. The form and
size of this work is determined by the material and the respective space
given.
8
DE In dem Ausstellungskatalog des Den Haager Gemeentemuseums von
1969 beschreibt der Kurator Enno Develing die Arbeit Scatter Piece wie
folgt: „Da die Teile zu klein waren, um aufgereiht oder in einer anderen Art
von Struktur arrangiert zu werden, drehte Andre einfach die Tasche um ­
und ließ das Muster durch den zufälligen Akt des Schüttens entstehen. Die
kleine Größe der Teile machte es unmöglich, ein Verhältnis zur Umgebung
zu erhalten. Statt eines ‚Ortes‘ wäre die Arbeit zu einem Objekt geworden,
also wurde, damit sie als Determinante der Umgebung fungieren konnte, ­
ein zufälliges Schema notwendig.“
EN In an exhibition catalog from the Gemeentemuseum in The Hague ­
the curator, Enno Develing, provides the following description of the work
Scatter Piece: “The particles being too small to be lined up or joined ­
in another coherent pattern, Andre just turned the bag over and let the
­random spill make the pattern. The small size made it impossible to maintain a relationship with the environment when put into some order of
­pattern. Instead of ‘place’ the piece would have become an object, so ­
in order to function as a determinant for the environment a random pattern
was necessary.”
“I don’t want to make works that
hit you over the head or smash you
in the eye. I like works that you
can be in the room with and ignore
when you want to ignore them.”
— Carl Andre, 1974
„Ich wünsche nicht Kunst zu machen, die Dich zerdrückt, oder Dir ins Auge
schießt. Ich habe Arbeiten gerne, mit denen man in einem Raum ist, und die
man jederzeit ignorieren kann.”
11
46 Roaring Forties
Madrid, 1988
Verwitterter Stahl / weathered
steel; Rechteck aus 46 Teilen /
46-unit rectangle
Courtesy the artist und Konrad
Fischer Galerie, Düsseldorf
44 Carbon Copper Triads
Basel, 2005
Grafit, Kupfer; 44 Grafitblöcke, 44
Grafitziegel, 44 Kupferplatten /
graphite, copper; 44 graphite
blocks, 44 graphite bricks, 44
copper plates
Courtesy the artist, Galerie Tschudi,
Zuoz, und / and Sadie Coles HQ,
London
Redan
New York, 1964 (zerstört /
destroyed), New York, 1970 (erneut
ausgeführt / remade)
Kiefernbalken / fir timber;
27 Teile / units
Art Gallery of Ontario, Toronto;
erworben mit Unterstützung durch
den / purchased with assistance
from the Women’s Committee Fund,
1971
Pyramus and Thisbe
Düsseldorf, 1990
Rot-Zeder; 20 Teile in 2
Einheiten auf 2 Seiten
einer Wand / 20 units in
2 parts on 2 sides of
a wall
Courtesy the artist and
Paula Cooper Gallery,
New York
Breda
Den Haag, 1986
Belgischer Blaustein / Belgian blue
limestone; 97 Teile / units
Courtesy the artist and Konrad
Fischer Galerie, Düsseldorf
11
DE In Carl Andres Oeuvre finden sich zwei Arten von Werktiteln: Die
deskriptiven Titel beschreiben in sachlicher Form die Art und Anzahl der
verwendeten Materialeinheiten. Meist ist neben dem Datum auch der
Ausstellungsort im Titel genannt. So verweist 64 Tin Square, New York, 1976
auf die Tatsache, dass die Arbeit aus 64 quadratischen Zinnplatten besteht
und im Jahr 1976 in New York entstand. 44 Carbon Copper Triads, Basel,
2005 konfiguriert sich aus drei verschiedenen Einheiten: je 44 Grafitwürfeln,
Grafitkuben und Kupferquadraten, die in zufälliger Form angeordnet werden.
Die zweite Art der Betitelung ist weniger sachlich und beschreibend,
sondern lyrisch und assoziativ. Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit Breda
(1986), die ursprünglich für den Außenraum entstanden ist. Der Titel deutet
an, dass die Reihe der Kreuze aus belgischem Blaustein auf die gleich­
namige niederländische Stadt und deren historische Belagerungen Bezug
nimmt. Ebenso assoziativ verweist Pyramus und Thisbe (1990) auf das
babylonische Liebespaar in den „Metamorphosen“ des römischen Dichters
Ovids, das – wie die zweiteilige Holzskulptur – durch eine Wand voneinander
getrennt leben musste.
EN Carl Andre’s oeuvre is characterized by two methods of titling: On ­the
one hand he uses descriptive titles giving the type and number of employed
material units while often also stating the year and location of a respective
production. One example is 64 Tin Square, New York, 1976, another is
44 Carbon Copper Triads, Basel, 2005, which consists of three kinds of
units: 44 copper tiles, 44 graphite bricks and 44 graphite cubes randomly
arranged on the floor.
On the other hand Andre uses lyrical and associative titles. The work
Breda (1986) was originally created for an exterior space and consists
of ­­a row of crosses made from Belgian blue limestone; its title contains a
­reference to the historical siege of the fortified Dutch city. Similarly,
Pyramus and Thisbe (1990) conjures the Babylonian lovers from Ovid’s
Metamorphoses who were separated by a wall – like the two-piece
­sculpture is.
6-Metal Fugue (for Mendeleev), Wolfsburg, 1996
07515 Karlsplatz, Düsseldorf, 1992
Zeitlos 5 × 7, Berlin, 1988
Lament for the Children, Wolfsburg, 1996
Lever, New York, 1966
Pyramid (Square Plan), Orleans, Massachusetts 1970
Herm (Element Series), New York, 1976
Tau and Right Threshold (Element Series), Minneapolis, 1971
Steel-Aluminum Square, Düsseldorf, 1969
64 Tin Square, New York, 1976
Magnesium-Magnesium Plain, New York, 1969
Neubrückwerk, Düsseldorf, 1976
Sand-Lime Instar, New York, 1995
Untitled (Negative Sculpture), New York, 1958
FeLL, New York, 1961
4 Corner Slant Stack, New York, 1964
Demeter, New York, 1964
Persephone, New York, 1964
8005 Mönchengladbach Square, Mönchengladbach, 1968
Ferox, New York, 1982
Seventh Copper Cardinal, Turin, 1973
12 Mixed Pipe & Track Run, Den Haag, 1969
4-Segment Hexagon, Brussels, 1974
Eight Reserved Steel Corner, New York, 1978
9 × 27 Napoli Rectangle, Napels, 2010
Magnesium Ribbon, Antwerpen, 1969
Tin Ribbon, Marseille, 1997
Scatter Piece, New York, 1966
Plumbsum, Düsseldorf, 1982
Plumblock, Düsseldorf, 1982
Plumbnon, Düsseldorf, 1982
Plumbond, Düsseldorf, 1982
Plumbell, Düsseldorf, 1982
10 Al Vein, Cleveland, Ohio 1991
13 Al Vein, Cleveland, Ohio 1991
15 Al Vein, Cleveland, Ohio 1991
44 Carbon Copper Triads, Basel, 2005
Redan, New York, 1970
Breda, Den Haag, 1986
46 Roaring Forties, Madrid, 1988
Pyramus and Thisbe, Düsseldorf, 1990
ALTOZANO, New York, 2002
25 Cedar Scatter / 25 Cedar Solid, Düsseldorf, 1992
Uncarved Blocks, Vancouver, 1975
12
TRIER
1987
Dolomit / Dolomite; 144 Teile / units
Courtesy the artist und Konrad
Fischer Galerie, Düsseldorf
25 Cedar Scatter / 25 Cedar Solid
Düsseldorf 1992
Rot-Zeder / Western red cedar
Courtesy the artist and Konrad
Fischer Galerie, Düsseldorf
ALTOZANO
New York, 2002
Aluminium; Einheit aus 101
Teilen, zweigeschossige
Reihe an einer Wand / 101-unit, two-tiered row
along base of wall
Courtesy the artist und
Paula Cooper Gallery,
New York
12
DE 25 Cedar Scatter / 25 Cedar Solid (1992) zeigt zwei unterschiedliche
Arten, wie eine Skulptur in den Raum eingreifen und wie sie sich zu diesem
in ein Verhältnis setzen kann. Lose und scheinbar ohne System liegen 25
hölzerne Balken ohne kompositionelles Zentrum im Raum verteilt. Daneben
behauptet sich die geschlossene Einheit von 25 aneinandergerückten, aufrecht stehenden Blöcken als einheitliches Volumen im Raum. Die Anordnung
dieser Skulptur variiert von Ausstellungsort zu Ausstellungsort.
EN 25 Cedar Scatter / 25 Cedar Solid (1992) demonstrates two ways ­
in which a scupture can intervene in a space. Seemingly lacking a compositional center, 25 wooden beams are losely scattered around the space.
Next to it, 25 other, upright blocks are arranged as a unified, closed
volume in space. The way this sculpture is arranged varies from exhibition
space to exhibition space.
“As to truth to materials,
I just like matter a great deal
and the different properties
of matter, the different forms of
matter, different elements,
different materials. […] I don’t
want to make something else
out of it. I want wood as wood
and steel as steel, aluminium
as aluminium, a bale of hay as
a bale of hay. […] It’s that I
want to submit to the properties
of my materials.”
— Carl Andre, 1970
„Was die Materialgerechtigkeit betrifft: Ich mag einfach Materie sehr, ihre
verschiedenen Eigenschaften, verschiedenen Formen, verschiedenen
Elemente, verschiedenen Materialien. […] Ich möchte nichts anderes aus ihr
machen. Ich möchte Holz als Holz und Stahl als Stahl, Aluminium als
Aluminium und einen Heuballen als Heuballen. […] Ich möchte mich ganz
einfach den Eigenschaften meiner Materialien unterwerfen.“
13
Vitrine
The Sigh of Immortality
(auch / a.k.a. Platonic Love)
1963
Eisenstab, Zigarettenpackung /
iron rod, cigarette pack
Judd Foundation
EC. HO.
1988
Stahl, Karton / steel, cardboard
Privatsammlung / Private
Collection
A
B
C
D
E
Vitrine
13 DADA FORGERIES UND EPHEMERA
Carl Andres Werk beschränkte sich nicht nur auf die Produktion von
Skulpturen und Gedichten, sondern entwickelte sich vielfältig in Reaktion ­auf
verschiedene räumliche, politische und soziale Bedingungen. Er nahm ­
aktiv an den Debatten seiner Zeit teil, so beispielsweise zum Vietnamkrieg
oder der Frage nach Rechten für Kunstschaffende gegenüber Museen ­
und dem Kunstmarkt. Er schickte zahlreiche Statements an Kunst­zeit­
schriften oder beteiligte sich an politischen Publikationen. Ebenso trug er
dazu bei, den Fotokopierer als neues alltägliches Medium für Künstler­buchEditionen zu etablieren. Seine Leidenschaft für Diskussionen und intellek­
tuellen Austausch spiegelt sich auch in seiner breiten Korrespondenz ­mit
Künstlerkollegen, Kritikern, Kuratoren und Galeristen wider, die insbesondere
in Form von Postkarten stattfand. Diese Postkarten sind teils mit Nachrichten
in konventioneller Prosa versehen, teils als für die 1970er Jahre typische
serielle Mail Art gestaltet. Sie sind Zeugnisse seiner zahlreichen Reisen
und seinem Bedürfnis, seine Ideen mit Freunden und Bekannten ­zu teilen.
Andre ließ sich nicht einmal von Marcel Duchamps Meilenstein der
Kunstgeschichte, dem Readymade, beeindrucken. Dies wird in den skulpturalen Assemblagen, die er als „Dada Forgeries“ (forgery = Fälschung)
bezeichnete, deutlich. Er fabrizierte die Dada Forgeries als spielerische Ab­wandlungen seiner eigenen Künstleridentität, wobei er stilistisch Duchamps
Readymades folgte. Sie lesen sich als listige visuelle Ideen­spiele. Oft in
französischer Sprache betitelt, enthalten sie Verweise auf Themen der Kunst­
geschichte, Sex und Religion. Cask of Meats (1959) besteht aus einem
­literaturwissenschaftlichen Buch mit drei durch die Mitte gebohrten Löchern:
ein humorvolles Spiel sowohl mit dem als auch gegen das Buch. Ebenfalls
zu dieser Reihe gehören zwei freistehende Arbeiten, ­­die sich indirekt auf ­
die Figur des Jesus von Nazareth beziehen: Sigh of Immortality (1963)
evoziert das berühmte Gleichnis vom Kamel (hier eine Zigarettenschachtel ­
der Firma Camel) und vom Nadelöhr (hier ein Eisenstab), während EC. HO.
(1988) die Wörter Pontius Pilatus („ecce homo“) auf einer Pappe zeigt.
Margit Endor und Balzac enthalten kunsthistorische Verweise (ersteres
evoziert Constantin Brâncus� is berühmte Schlafende Muse und letzteres
besteht aus einer gefundenen „Replik“ von Auguste Rodins Statue).
Beide stammen aus dem Jahr 1989, in dem Andre zum zweiten Mal die Dada
Forgeries ausstellte.
A
Cask of Meats
1959
Modifiziertes Buch / modified book
Collection Eileen and Michael
Cohen, New York
Balzac
1989
Glasglocke, Brot mit Beschriftung
in Tinte / bell jar, bread with ink
inscription
Collection L. Brandon Krall
C
Memorial to the Silver Certificate
1963
Holz, Papier-Collage, Münze / wood, paper collage, coin
Estate of Reno Odlin; Courtesy
Galerie Arnaud Lefebvre, Paris
Margit Endormie
1989
Tennisball mit Beschriftungen in
Tinte, verbogene Metallfeder /
tennis ball with ink inscription,
bent metal spring
Collection L. Brandon Krall
Ma Melon
1983
Kautschuk, Plastik / rubber, plastic
Collection Jenny van
Driessche, Belgium
D
Lion of Judah
1990
Gefundene Eisenobjekte / iron found objects
Collection Francis Mistiaen,
Brüssel / Brussels
Monument to Contraception
1989
Holz, Aluminium / wood,
aluminium
Privatsammlung, New York
Sculpture Incorporating Three
Red Discs
1988
Gefundener Draht, Bakelit mit
Aufschrift in Grafit / found wire,
Bakelite with graphite inscription
Collection Julian Lethbridge
STOP THE GAME WHOSE ONLY
RULE
IS ITS NAME
1989
Kiefernschichtholz mit
Beschriftung in Grafit,
Kupfernägel / laminated pine with
graphite inscription, copper nails
Collection L. Brandon Krall
The Rim of Apostasy (for JP)
1989
Holz, Metall / wood, metal
Addison Gallery of
American Art, Phillips
Academy, Andover,
Massachusetts; Geschenk
von / donation by Werner
Kramarsky, 2006
B
The Birth of Knowledge
1994
Hölzerner
Tennisschlägerrahmen,
ledergebundenes Buch / wood
tennis-racket frame, leatherbound book
Courtesy the artist und Paula
Cooper Gallery,
New York
La Terre Dupee
1988
Holz / Wood
Yale University Art Gallery,
New Haven, Connecticut;
Richard Brown Baker, B.A.
1935, Collection
Objet d’Arte
1989
Fundholz, Eisen / found wood, iron
Collection Yvon Lambert, France
Dark Twist
1986
Tabak, Papier, Plastikröhre,
Blechdose / tobacco, paper, plastic
tube, tin box
Collection Jenny Van
Driessche, Belgium
E
Foot Candle
2002
Schuh aus Leder und schwarzem
Stoff, Kerzenhalter aus
Pressglas, Kerze / leather and
black cloth shoe, pressed glass
candlestick holder, candle
Collection L. Brandon Krall
L’oeuvre incommencee
2003
Leinwand, Ton / canvas, clay
Courtesy Galerie Arnaud
Lefebvre, ParisW
The Young Person’s Rectangular
History of Music
1991
Bemaltes Buch / painted book
Collection L. Brandon Krall
The Golfing Party of Brancusi,
Satie, & John Quinn
1990
Nickelstahl mit
Gewinde / threaded nickel-steel;
4 Teile / 4 units
Collection Jenny Van Driessche,
Belgium
13 DADA FORGERIES AND EPHEMERA
Carl Andre’s oeuvre was never limited to the production of sculptures and
poetry, but rather developed in different ways as a reaction to various
­spatial, political, and social environments and conditions. Intensely present
in the debates of his time (the Vietnam War, the rights of art workers
against museum, and art market policies), Andre sent numerous statements
and letters to editors of art magazines and contributed to the production ­
of political publications. He also helped pioneer the use of the photocopy as
a common medium for artist book editions. His passion for debate and
intellectual exchange is also manifested in the numerous correspondences
he maintained with fellow artists and other peers like critics, curators ­
and art dealers, especially in the form of postcards. At times conveying
messages in conventional prose, and at times serialized in the ­manner of
1970s mail art, these card collections speak of Andre’s numerous travels
and ­his constant need to share ideas with friends and acquaintances.
Andre also would not let himself be too impressed even by Marcel
Duchamp’s milestone of art history, the Readymade. This can be seen in
the assemblage sculptures, which Andre named Dada Forgeries.
Following the style of Duchamp’s readymades, Andre fabricated the Dada
Forgeries as playful aberrations of his own identity as an artist. They can
be read as sly visual puns, in many cases titled in French, and often
­conveying references to art history, sex, and religion. Cask of Meats (1959)
consists of a book of literary criticism with a three-inch hole drilled through
its center, and is one among several jests executed with and against
books. Also from this series, two free-standing works obliquely reference
the figure of Jesus of Nazareth: Sigh of Immortality (1963) evokes the
famous parable of the camel (here a pack of cigarettes of the same name)
and the eye of the needle (represented by an iron rod), while EC. HO.
(1988) reproduces the words of Pontius Pilate (“ecce homo”) on a piece ­of
cardboard. Margit Endor and Balzac contain art-historical references ­
(the former evoking Constantin Brâncus� i’s famous “sleeping muse”; the
latter is a found “replica” of Auguste Rodin’s statue). They are both ­
from 1989, the year of Carl Andre’s second exhibition of Dada Forgeries.
“I have an imaginary graph or
map upon which there are three
vectors or three lines of force
which create a point where the
three converge. The first vector is
my subjective condition, myself,
my own history, needs, talents.
The second, or space vector is the
physical objective condition
wherein I work, the kind of location
where the sculpture will be and
whether it is inside or outside. The
economic condition is the third
vector, the economics of traveling
to the site and the materials.”
— Carl Andre, 1970
„Ich stelle mir einen Graphen oder eine Karte vor, auf dem oder der sich
drei Vektoren oder drei Fluchtlinien in einem Schnittpunkt treffen. Der erste
Vektor ist dabei meine subjektive Situation, ich selbst, meine eigene
Geschichte, Bedürfnisse, Begabungen. Der zweite, auch Raumvektor, ist die
angetroffene räumliche Situation, in der ich zur Arbeit schreite – eine Art
Ort, an dem sich die Skulptur befinden wird und je nach dem, ob es sich
um ein Innen oder Außen handelt. Die ökonomische Situation ist der dritte
Vektor: die Ökonomie der Reise an den jeweiligen Ort und der Materialien.“
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Uncarved Blocks
Vancouver, 1975
Rot-Zeder / Western red cedar;
47 Teile / units
Kunstmuseum Wolfsburg
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DE Wie auch bei der Element Series, die im ersten Raum der Rieckhallen
gezeigt wird, handelt es sich bei Uncarved Blocks (1975) um ein ansteigendes Ensemble aus Sets mit zunächst zwei und dann fünf Einheiten. Sie
unterscheiden sich durch ihre Ausrichtung nach Nord, Süd, Ost und West.
Jedes Set weist auf einen oder zwei imaginäre Wege oder Pfade, ähnlich
wie ein Wegweiser. Die Kombinationen ermitteln sich aus der sich wieder­
holenden Form eines Holzblocks, der jeweils auf seinen unterschiedlichen
Seiten lagert. Im Titel weist diese Arbeit („uncarved“ = nicht geschnitzt,
behauen) gleichsam als Quintessenz der Ausstellung auf den Kern seines
bildhauerischen Schaffens, das von dem Prinzip des Unbearbeiteten
getragen wird.
EN Like the Element Series, which is presented in the first gallery of the
Rieckhallen, Uncarved Blocks 1975 is a progressive ensemble, evolving
from two- to five-unit sets. Sets of identical size are differentiated by their
orientation — north, south, east, and west. Each set points toward one
or more imaginary “ways” or paths, not unlike a direction pole. The combinations are determined, and limited, by the repeated shape of a single
timber block resting on each of its sides. By emphasizing the principle of
the “unaltered”, this work’s title ultimately summarizes the core of
Andre’s sculptural practice that is also the essence of this exhibition.
BIOGRAFIE
Carl Andre wurde 1935 in Quincy, Massachusetts geboren. Nach seinem
Studium an der Phillips Academy in Andover, Massachusetts, diente er in
der Armee und bereiste Europa, bevor er 1957 nach New York zog.
Während er sich gleichzeitig mit der bildenden Kunst und Dichtung beschäftigte, arbeitete er von 1960 bis 1964 für die Bahn (Pennsylvania Railroad),
was seine bildhauerische Tätigkeit beeinflusste. Seinen Durchbruch erlebte
er mit der Ausstellung in der Tibor de Nagy Gallery in New York 1965.
Des Weiteren nahm er an zahlreichen bedeutenden Ausstellungen dieses
Jahrzehnts teil, darunter Primary Structures: Younger American and British
Sculptors, Jewish Museum, New York (1966), Documenta 4, Kassel (1968)
und Live in Your Head: When Attitudes Become Form – Works / Concepts /
Processes / Situations / Information, Kunsthalle Bern (1969). 1970 zeigte das
Solomon R. Guggenheim Museum in New York eine erste Retrospektive
seines Werkes. Neben vielen öffentlichen Aufträgen und Einzelausstellungen
umfasst Andres 50-jährige Laufbahn große Überblicksausstellungen wie
die vom Laguna Gloria Art Museum organisierte internationale
Wanderausstellung (1978 bis 1980) sowie Ausstellungen im Krefeld Haus
Lange / Haus Esters und dem Kunstmuseum Wolfsburg (1996), Musée
Cantini, Marseille (1997) und Museum Kurhaus Kleve (2011). Carl Andre zog
sich 2010 als Künstler in den Ruhestand zurück und lebt in New York City.
BIOGRAPHY
Carl Andre was born in Quincy, Massachusetts, in 1935. After his studies
at the Phillips Academy in Andover, Massachusetts, he served in the army
and traveled to Europe, then relocated to New York City in 1957. While
carrying out simultaneous investigations in art and poetry, Andre worked
for the Pennsylvania Railroad between 1960 and 1964, an inseparable
experience from his evolution as a sculptor. Immediate acclaim followed
his first solo exhibition at the Tibor de Nagy Gallery, New York, in 1965,
and he participated in several landmark exhibitions of that decade, such
as Primary Structures: Younger American and British Sculptors, Jewish
Museum, New York (1966), Documenta 4, Kassel, Germany (1968),
and Live in Your Head: When Attitudes Become Form – Works /Concepts /
Processes / Situations / Information, Kunsthalle Bern (1969). In 1970 the
Solomon R. Guggenheim Museum, New York, presented the first retrospective of his work. Alongside numerous public commissions and solo
exhibitions, Andre’s five-decade career includes large-scale surveys organized by the Laguna Gloria Art Museum, Austin (1978, touring internationally
through 1980), Krefeld Haus Lange/Haus Esters and Kunstmuseum,
Wolfsburg, Germany (1996), Musée Cantini, Marseille (1997), and Museum
Kurhaus Kleve, Germany (2011). Retired from his art practice since 2010,
Andre lives in New York City.
BIBLIOGRAPHIE (AUSWAHL) / SELECTED BIBLIOGRAPHY
About Carl Andre: Critical Texts Since 1965. Herausgegeben von / Edited by
Paula Feldman, Alistair Rider, and Karsten Schubert. London, 2006.
Andre, Carl and Hollis Frampton. Twelve Dialogues, 1962–1963.
Herausgegeben von / Edited by Benjamin H. D. Buchloh. Halifax, 1980.
Carl Andre: Extraneous Roots. Herausgegeben von / Edited by Rolf Lauter
and Susanne Lange. Frankfurt am Main: Museum für Moderne Kunst,
1991.
Carl Andre Sculptor 1996: Krefeld at Home, Wolfsburg at Large. Stuttgart /
Krefeld: Hause Lange and Haus Esters; Wolfsburg: Kunstmuseum,
1996.
Carl Andre: Sculptor 1997. Marseille: Musée Cantini, 1997.
Carl Andre: Sculpture 1959 –1977. New York: Jaap Reitman; Austin: Laguna
Gloria Art Museum, 1978.
Carl Andre: Sculpture as Place, 1958 – 2010. New York: Dia Art Foundation,
2014.
Cuts: Texts 1959 – 2004. Edited by James Meyer. Cambridge, MA: MIT Press,
2005.
Rider, Alistair. Carl Andre: Things in Their Elements. London: Phaidon Press,
2011.
IMPRESSUM / IMPRINT
Dieses Heft erscheint anlässlich der Ausstellung / This booklet is published on the occassion of the exhibition
Carl Andre: Sculpture as Place, 1958 – 2010 im / at
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin,
Staatliche Museen zu Berlin, 5. Mai –18. September 2016.
Carl Andre: Sculpture as Place, 1958 – 2010 ist
organisiert von der / is organized by Dia Art Foundation
in Zusammenarbeit mit der / in partnership with the
Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für
Gegenwart – Berlin, Staatliche Museen zu Berlin.
Die internationale Ausstellungstournee wird ermöglicht
durch die / The international tour of the exhibition is
made possible by lead support from Henry Luce Foundation
und / and Terra Foundation for Amercian Art. Weitere
Unterstützung der Ausstellungstournee erfolgt durch die /
Additional tour support is provided by the Fundación
Almine y Bernard Ruiz-Picasso para el Arte; The Brown
Foundation, inc. of Houston; the National Endowment
for the Arts; und / and Sotheby’s.
Der vorliegende Text basiert auf dem von Yasmil Raymond
und Manuel Cirauqui zur Retrospektive in der Dia:Beacon
verfassten Begleitheft und wurde gemäß der im Hamburger
Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin gezeigten
Ausstellung umgearbeitet bzw. ergänzt. This text is based
on the exhibition guide published by Dia Art Foundation
and written by Yasmil Raymond and Manuel Cirauqui. It was
edited for the exhibition at Hamburger Bahnhof – Museum
für Gegenwart – Berlin.
Design
Studio Laurenz Brunner
(Laurenz Brunner, Malin Gewinner, Julia Novitch)
Übersetzung / Translation
Anna-Sophie Springer
Druck / Printing
DZA Druckerei zu Altenburg GmbH
AUSSTELLUNG / EXHIBITION
Kuratorin / Curator
Lisa Marei Schmidt
Wissenschaftliche Museumsassistentin / Assistant Curator
Veronika Riesenberg
Praktikanten / Curatorial interns
Viktor Hömpler, Charlotte Sarrazin
Kunstvermittlung / Education and outreach programme
Daniela Bystron, Anne Fäser
Restauratorische Betreuung / Conservation
Carolin Bohlmann, Eva Riess
Registrarin / Registrar
Ulrike Gast
Depotverwalter / Storage manager
Tommy Seewald
Sekretariat / Office Hamburger Bahnhof Katherine Israel Koedel
Art Handling
Lutz Bertram Art Handling und Objektbetreuung
Licht / Light
Victor Kegli