Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
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Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
4 RegioPol eins + zwei 2011 Urbane Zukunft in der Wissensökonomie 5 Gunter Dunkel und Arno Brandt Zur Kultur der Finanzdienstleistungen Einige Betrachtungen zu den urbanen Standortqualitäten im 21. Jahrhundert aus der Sicht der regionalen Kreditwirtschaft D as Neue hatte schon immer einen guten Klang, auch wenn bei ihm stets eine Note von Unsicherheit mitschwang. Das ist in dieser Zeit, die von vielen als Umbruchphase beschrieben wird, nicht anders. Der Strukturwandel zur Wissensökonomie setzt einige bislang sicher geglaubte Gewissheiten einem begründeten Zweifel aus oder dementiert sie sogar (vgl. Stiglitz 1999). Allerdings hat uns die noch immer nicht ganz überstandene Finanz- und Wirtschaftskrise auch gezeigt, dass längst nicht alle ökonomischen Regeln nun außer Kraft gesetzt sind. Offensichtlich war die einseitige Fokussierung auf Deregulierung ebenso eine Sackgasse wie der Glaube an eine von der Realwirtschaft dauerhaft unabhängige Entwicklung der Finanzdienstleistungen. Auch die Industrie hat sich von einem oft beschworenen Auslaufmodell zu einem Wirtschaftszweig mit neu erwachtem Ansehen gewandelt. Diese Irrwege und schwierigen Orientierungen scheinen jedoch ein normaler Bestandteil im Wandel zu sein und nehmen den Veränderungen, denen wir uns derzeit gegenüber sehen, nichts von ihrer Prägnanz. Welche Ansprüche lassen sich also heute an einen modernen Wirtschaftsstandort stellen? Dieser Aufsatz möchte sich der Beantwortung dieser Frage mit einigen Beobachtungen und Überlegungen aus der Sicht der regionalen Kreditwirtschaft annähern. Regionalbanken leben ja den oft zitierten Grundsatz des „think global, act local“ immer schon aus einem institutionalisierten Selbstverständnis heraus. Das scheinen keine schlechten Voraussetzungen im Übergang zur wissensbasierten Ökonomie zu sein. Globalisierung Seit dem Ende der Blockkonfrontation und dem Fall des „eisernen Vorhangs“ wurde mit dem Beginn des Übergangs zur Wissensökonomie auch eine neue Phase der Globalisierung eingeleitet. Es waren vor allem die dynamischen Innovationen in den Informations- und Telekommunikationstechnologien, die es inzwischen möglich machen, Waren, Kapital, Informationen und Prozesse über die Kontinente hinweg relativ einfach und mit frü- her ungeahnter Geschwindigkeit zu steuern. Globali sierung bedeutet heute aber nicht nur Wettbewerb der Unternehmen, sondern vielmehr auch Wettbewerb zwischen den Standorten. Dabei treten nicht mehr nur die Staaten in Konkurrenz zueinander, sondern in verstärktem Maß die einzelnen Regionen. Die Globalisierung ist jedoch kein homogener Prozess. Auf der einen Seite beobachten wir einen dynamischen Nachholprozess vor allem in China, aber auch in Indien, Brasilien und anderen Schwellenländern, ein Prozess, der weltweit Güter und Dienstleistungen in Bewegung bringt. Auf der anderen Seite haben nicht zuletzt die Turbulenzen in der Eurozone gezeigt, dass der gemeinsame Binnenmarkt der EU teilweise noch sehr fragmentiert ist. Insbesondere die für eine gemeinsame Währungszone mangelnde Mobilität des Produktionsfaktors Arbeit trug nicht wenig zur Krisenanfälligkeit des Raumes bei. Wettbewerb der Regionen heißt daher auch immer Wettbewerb um Arbeitsplätze. Und Wettbewerb in der Wissensökonomie bedeutet vor allem Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte. Im Strukturwandel von der Industrie- zur Wissensökonomie bilden die Verfügbarkeit hochqualifizierter und teils spezialisierter Arbeitskräfte in einer Region sowie die Nähe zu unternehmensorientierten Dienstleistern und FuE-Einrichtungen, entscheidende Standortargumente. Diese Entwicklung stellt nicht zuletzt auch die regionalen Kreditinstitute vor neue Herausforderungen. Zum einen, weil durch den Strukturwandel das Ausgleichsziel unter Druck gerät, zum anderen, weil auch die Regionalbanken sich den Wachstumsmärkten und -zentren nicht ohne Wettbewerbsnachteil entziehen können. Raumwirkung der Wissensökonomie Die wissensbasierte Ökonomie tendiert dazu, sich auf bestimmte Orte zu konzentrieren, sie b ildet ein weltumspannendes Netz mit deutlichen Knotenpunkten der Wissensproduktion und -distribution (vgl. Brandt 2008). Nicht zufällig ballen sich auch die w issensintensiven Dienstleistungen bevorzugt in den urbanen Zentren. b Bin Mao Tower (rechts) und World Financial Center (links) in Pudong, Shanghai 6 RegioPol eins + zwei 2011 Dort finden sie einen hochwertigen Ressourcenpool an qualifizierten Arbeitskräften, Zuliefermärkten und eine gut ausgestattete Kommunikations- und Transportinfrastruktur. Diese zentralen Knoten werden von den Metropolen gebildet und die Volkswirtschaften sind auf die Anschlussfähigkeit dieser Standorte in zunehmendem Maße angewiesen. Daher verwundert es nicht, dass diese großen Agglomerationen sich auch zunehmend als die Zentren der wissensbasierten Finanzdienstleistungen etablieren. Für die NORD/LB als führende Regionalbank in Norddeutschland ist es von besonderer Bedeutung, sich in den Metropolen gut und sichtbar zu positionieren. Im norddeutschen Raum gilt dies vor allem für die Städte Hannover und Hamburg, aber auch Schwerin oder Magdeburg. Metropolregionen gelten heute denn auch als die Motoren der ökonomischen Entwicklung in Europa. Mit „Metropole“ wurden früher vorwiegend Weltstädte bezeichnet, zumindest aber großstädtische Agglome rationen. Heute tritt die Metropolregion im Zeitalter der Wissensökonomie weit über die administrativen Grenzen hinaus und ihre Reichweite ergibt sich in erster Linie aus ihren spezifischen Funktionen. Deshalb finden sich inzwischen auch nicht nur Metropolregionen mit klarem Zentrum wie Berlin, Hamburg oder München, sondern auch polyzentrische Metropolregionen wie sie Hannover-Braunschweig-Göttingen und Wolfsburg bilden. In ganz Europa haben sich inzwischen etwa 120 Metropolregionen etabliert, allein in Deutschland existieren mittlerweile elf derartige räumliche Strukturen. Und wenn wir die Metropolregionen eben noch als zentrale Knoten bezeichnet haben, müssen wir uns auch anschauen, was über diese Knoten in die Volkswirtschaften beziehungsweise in die globalen Netze eingespeist wird. Im Wesentlichen sind dies Güter, Personen und – zunehmend wichtiger – Wissen. Der Faktor Wissen Man kann das Wissen von den anderen beiden Komponenten den – Gütern und Menschen – kaum trennen. Wissen wird eben nicht nur über die Datenleitungen transportiert, sondern zu einem bedeutenden Teil eben auch exklusiv über die Menschen, die Wissensträger selbst. Das ist heute im Internetzeitalter nicht so selbstverständlich, wie es zunächst klingt. Schließlich werden heutzutage Informationen allgemeinster bis persönlichster Art in einem unablässigen Strom getwittert und gebloggt und nahezu in Echtzeit ins globale Netz eingespeist. Informationen und Wissen spielen auch im Kreditgeschäft eine zentrale Rolle. Die Banken benötigen möglichst viel Informationen, um die Ausfallrisiken zu reduzieren. Gerade den regionalen Banken dienen sie aber auch dazu, vorhandene Potentiale rechtzeitig und effektiv unterstützen zu können. Letztlich erfolgen die Entscheidungen über eine Kreditvergabe ohne Sicherheit hinsichtlich der Rückzahlung durch den Kunden. Das Problem der „asymmetrischen Informationsverteilung“ verweist darauf, dass der Kreditkunde mehr Informationen über die konkrete Verwendung seines Kredites besitzt als die kreditgebende Bank. Die Kreditwirtschaft muss also bestrebt sein, eine möglichst weitgehende Kenntnis über die Verlässlichkeit und die Pläne ihrer Kunden zusammenzutragen. Aber das allein reicht heute nicht aus, um innovative Projekte ausreichend bewerten zu können. Die Schnelllebigkeit der globalisierten, wissensbasierten Ökonomie erfordert ebenso ein Wissen über die maßgeblichen wirtschaftlichen und politischen Trends, über technologische Entwicklungen und nicht zuletzt über die Positionierung der eigenen Region. Die regionale Kreditwirtschaft ist in dieser Hinsicht im Vorteil, weil der Kontakt zu den Kunden vielfach auch ein persönlicher ist. Dieser Punkt darf nicht unterschätzt werden. Das Wissen wird in der wissensbasierten Ökonomie ja sowohl als Produktionsfaktor als auch als Produkt bedeutsam und gilt zunehmend als treibende Größe des Wirtschaftswachstums. Im Gegensatz zu Informationen sind Erfahrungen und Kompetenzen jedoch kaum im globalisierten Netz zu beschaffen. Sie sind ihren Trägern oft nicht einmal ausreichend bewusst, um angemessen dokumentiert zu werden, sondern kommen erst im Augenblick ihrer Anwendung zum Vorschein. Dieses implizite Wissen („tacit-knowledge“) ist also nicht kodifizierbar, sondern personengebunden und wird vornehmlich im persönlichen Austausch („face-toface“) weitergegeben (Kujath 2008). Dazu bedarf es aber in der Regel eines gewissen Vertrauensverhältnisses und der räumlichen Nähe, die nicht nur jenes befördert, sondern auch die Gelegenheiten schafft, explizites und implizites Wissen zu verbinden. Informationen und Wissen sind also nicht deckungsgleich, nicht alles ist kodifizierbar. Es reicht deshalb nicht aus, Wissen zu sammeln und abzuspeichern. Ohne ausreichend qualifiziertes Personal, das dieses Wissen anwenden, vermehren und weitergeben kann, bleibt es ziemlich nutzlos. Wir brauchen also die entsprechend klugen Köpfe, um das Wissen, das vornehmlich über die Knoten der Metropolregionen in unsere Volkswirtschaft strömt, auch verarbeiten zu können. Und um die Innovationen zu initiieren, auf die ein Hochlohnstandort wie Deutschland zur Sicherung seiner künftigen Wettbewerbsfähigkeit angewiesen ist. Bildung und Qualifikation Aufgrund der immer schneller voranschreitenden Entwicklung und der damit verbundenen geringeren Halbwertzeit von Wissen und Technologie ist die wissensbasierte Ökonomie gekennzeichnet durch wesentlich verkürzte Produktzyklen. Besonders in Bereichen wie der Informations- und Kommunikationsbranche wird dies deutlich. Aber auch in den „klassischen Industrien“ wie der Automobilbranche, die ebenfalls den wissensin- Urbane Zukunft in der Wissensökonomie tensiven Wirtschaftsbereichen zuzuordnen ist, konnte man in den vergangenen Jahren eine deutliche Verkürzung des Technologiezyklus beobachten. Folgerichtig müssen sich die Neuentwicklungen in verhältnismäßig kurzen Zeiträumen amortisieren, um die Entwicklungskosten einzuspielen. Neben der kürzeren Lebenszeit von Produkten sind mittlerweile auch ganze Branchen von kürzeren Lebenszyklen betroffen. Investitionen in der Wissensökonomie können deshalb nur dann eine maximale Effizienz erreichen, sofern sie auch Investitionen in Humankapital darstellen. Für die Unternehmen bedeutet das nicht nur verstärkte Anstrengungen in Aus- und Weiterbildung sowie in Forschung und Entwicklung, sondern auch den Aufbau einer flexiblen und offenen Unternehmenskultur, die in der Lage ist, sich ständig wandelnde Anforderungen produktiv aufzunehmen. Sie sind in der Wissensökonomie gefordert, sich als lernende Organisationen zu bewähren. Das betrifft nicht zuletzt auch die Kreditwirtschaft. Die kurze Lebensdauer der Produkte und der steigende Anteil von Wissen erfordern eine Risikoabschätzung, die neben einer kundigen Brancheneinschätzung auch Fragen des Urheberrechts und des Patentschutzes beinhaltet. Zudem finden wissensintensive Produk tionsprozesse ohne Rücksicht auf nationale Grenzen statt. Banken müssen also zunehmend eine fundierte Abschätzung der Entwicklungspfade innovativer Tech no logien und neuer Wachstumsfelder vornehmen können. Angesichts dieser Entwicklungen sind Banken mit einer steigenden Komplexität und vermehrten Unsicherheiten in ihren Geschäftsfeldern konfrontiert. Dadurch steigen gleichzeitig auch die Qualifikationsanforderungen an die Mitarbeiter. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat uns noch einmal deutlich vor Augen geführt, dass Innovation und Kreativität nicht nur in der (Finanz-)Produktentwicklung gefragt sind, sondern auch in der Folgeabschätzung. Aus- und Weiterbildung, eine effek tive Wissensorganisation (Kiesewetter /Windels 2008) und eine effektive Kommunikation des Risikomanagements werden so für die Institute zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Die Politik sieht sich dagegen in der Pflicht, mehr als bisher dem heute schon manifesten Fachkräftemangel und der sich abzeichnenden demografischen Entwicklung zu begegnen. Im OECD-Durchschnitt verfügt Deutschland immer noch über eine zu geringe Studierquote, was sich zunehmend als erheblicher Standortnachteil auswirken könnte. Umso bedenklicher sind die hohen Quoten von Schulabgängern ohne jeglichen Abschluss. Es sind nicht nur dringend gesuchte Arbeitskräftereserven, die auf diese Weise ungenutzt bleiben; für die Kommunen akkumuliert sich hier im Laufe der Jahre ein enormes Problempotenzial. In der wissensbasierten Ökonomie werden Bildung und Qualifikation zu den Schlüsselressourcen zählen. Insbesondere Fachkräfte und Hochschulabsolventen werden künftig stärker nachgefragt. Der Anteil von einfachen und Hilfstätigkeiten an allen Erwerbsformen in 7 Deutschland wird dagegen künftig noch weiter sinken, während die Anteile der höheren bis hochqualifizierten Tätigkeiten kontinuierlich steigen (vgl. Brandt 2005). A ngesichts einer immer noch (im OECD-Maßstab) unterdurchschnittlichen Abiturienten- und Studierquote in Deutschland, wird sich der schon heute spürbare eklatante Mangel an Fachkräften und vor allem an Hochschulabsolventen weiter verschärfen. Nach Prognosen des Statistischen Bundesamtes wird sich so bis zum Jahr 2030 ein Defizit von 1,4 Millionen hochqualifizierter Erwerbstätiger ergeben (Meyer / Wolter 2007: 93). Schon 2015 werden mehr als ein Drittel aller Erwerbspersonen mit Hoch- oder Fachhochschulabschluss ein Alter von 50 bis 64 Jahren aufweisen, während der studierte Nachwuchs rapide auf 19 Prozent abnimmt. Eine wichtige Beschäftigungsreserve stellen zunehmend die älteren Arbeitnehmer dar. Es wird in Zukunft darauf ankommen, diese Gruppe in stärkerem Maße als bisher in Beschäftigtenverhältnisse einzubinden. Dazu werden gegebenenfalls gesonderte Weiterbildungsmaßnahmen erforderlich sein. Vergleichbares gilt auch für Frauen, die nach einer Babypause den Wiedereinstieg in ihren Beruf planen. Wir müssen also in Bildung investieren und dafür sorgen, dass wir die Zahl derer, die ohne Abschluss die Schule verlassen, minimieren und die Zahl der Abitu rienten maximieren. Bildung im Zeitalter der Wissensökonomie fängt im Kindergarten an und hört auf der Hochschule noch nicht auf. Wenn Kommunen und ins besondere Metropolregionen sich nicht auch darüber sehr intensiv den Kopf zerbrechen, werden sie als Anziehungspunkte Schwierigkeiten bekommen. Denn selbst wenn die großen Städte weiter auf Zuwanderung hoffen können – und das ist mancherorts noch gar nicht ausgemacht – schon angesichts des demografischen Wandels wird das Reservoir, aus dem sie schöpfen können, immer kleiner. Die Rolle der regionalen Kreditinstitute in der Standortfrage Die Sparkassen, die genossenschaftlichen Banken und vom Prinzip her auch die Landesbanken haben ein konkretes und langfristiges Interesse an der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung ihres Geschäfts gebietes. Die regionale Bindung verknüpft die wirtschaftliche Prosperität dieser Institute mit dem Wohlergehen ihrer Region. Deshalb sind Sparkassen nicht zufällig oft wichtige Akteure in Netzwerken regionaler Wirtschaftförderung. Durch die flächendeckende Verbreitung der Sparkassen in allen Regionen Deutschlands wird die Versorgung mit kreditwirtschaftlichen Dienstleistungen auch in strukturschwachen Regionen gewährleistet (Gärtner 2003). Während sich die großen Geschäftsbanken an diesen Prozessen nur wenig beteiligen und ihre Verankerung in der Fläche eher abnimmt, behalten die regionalen Banken als Plattform der lokalen Wirtschaft ihre wichtige Rolle. 8 RegioPol eins + zwei 2011 Beim Aufbau von Beschäftigung und der Lösung struktureller Probleme in den Regionen ist das Angebot von Finanzinstrumenten alleine häufig nicht ausreichend. Daher werden Sparkassen oft auch beratend t ätig. Dabei bringen Sparkassen und Landesbanken ihr Wissen über Finanzierungsmöglichkeiten und -konzepte sowie über die Rahmenbedingungen an Kapitalmärkten in die Zusammenarbeit mit Kommunen und Unternehmen ein. In vielen regionalen Wachstumsinitiativen und Wirtschaftsförderungsnetzwerken ist auch das nichtmonetäre Engagement der regionalen Kreditinstitute mittlerweile ein unverzichtbarer Bestandteil der Konzepte. Landesbanken und Sparkassen beschränken sich in ihrer nichtfinanziellen Förderung regionaler Initiativen und Projekte jedoch nicht nur auf rein wirtschaftliche A spekte. Die Institute fördern viele Vorhaben in den Bereichen Soziales, Kunst/Kultur, Sport, Schulen, Umwelt, Verbraucherschutz sowie Forschung und Wissenschaft. In dieser Hinsicht können die Landesbanken und Sparkassen bereits auf eine lange Tradition verweisen. Die Institute tragen auf diesem Wege zur Steigerung der Lebensqualität bei, unterstützen das bürgerschaftliche Engagement vor Ort und schaffen vielfach die Basis für eine vitale kulturelle Szene. Für dieses Engagement haben sie jedoch mehr als nur einen guten Grund. Standortfaktor Kultur Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass nicht nur die materielle und ökonomisch-strukturelle Basis der Standorte über die erfolgreiche Behauptung im wirtschaft lichen Strukturwandel entscheidet. Auch bei annähernd gleichen Voraussetzungen ergeben sich vielfach abweichende Entwicklungspfade. Innovative Standorte zeichnen sich eben nicht nur durch das Vorhandensein spezifischer Ressourcen, sondern auch durch die Flexibilität zur bedarfsgerechten Anpassung und die Fähigkeit zur Neuorientierung aus. Die Effektivität von Innovationsprozessen speist sich nicht allein aus ökonomischen Austauschbeziehungen, sondern verdankt sich heute in besonderem Maße auch den sozialen und kulturellen Ressourcen eines Stand ortes. Daher spielen neben den harten Faktoren wie Lage, Verkehrsanbindung und Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte auch weiche Faktoren wie Positionierung, Image und Lebensqualität, aber auch Kreativität und E xperimentierfreude für die Städte eine immer wichtigere Rolle. In der Wissensökonomie nimmt der Faktor Arbeit eine herausragende Stellung ein. Insbesondere die hoch qualifizierten Arbeitskräfte profitieren von der steigenden Nachfrage und stellen wachsende Ansprüche nicht nur an ihre Arbeit, sondern auch an das Unternehmen und das Umfeld. Heute sind es gerade die entstandardisierten und enttakteten Tagesabläufe, die viele Hochqualifizierte und Kreative veranlassen, den kulturellen Qualitäten ihres Wohnortes größere Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Das führt schließlich dazu, dass „in Zukunft nicht mehr nur die Menschen zu den Arbeitsplätzen wandern, sondern umgekehrt die Arbeitsplätze zu den (qualifizierten) Menschen“ (Häußermann, Läpple, Siebel 2008: 249). Damit kehrt sich auch für das Standortmarketing die Perspektive um: Künftig werden die Städte weniger um Investitionen als vielmehr um jene Menschen konkurrieren, die von den wissensbasierten Branchen nachgefragt werden. Der Katalog an relevanten Standortfaktoren wird auf diese Weise erheblich erweitert. Wissen, Kommunikation und Kreativität sind zentrale Faktoren im modernen Wertschöpfungsprozess und bestimmen so auch immer stärker das Selbstverständnis und die Außendarstellung eines Unternehmens. Das schlägt sich in der Unternehmenskultur nieder, aber auch bei der Planung von Büroräumen, die zunehmend auf die Optimierung des Kommunikationsflusses zwischen den einzelnen Mitarbeitern oder Teams abstellt. Die kreativen Köpfe brauchen eine stimulierende Arbeitsumgebung mit Freiräumen, ästhetischen Raumqualitäten und flachen Hierarchien, um effizient arbeiten zu können. So gibt es heute immer weniger abgeschottete private Arbeitsplätze, sondern viel Gemeinschaftsfläche und offen und transparent gestaltete Büroräume. Die Ausgestaltung ihres Arbeitsplatzes soll die Mitarbeiter motivieren und inspirieren. Offenheit und Kreativität, diese Attribute lagen auch im Fokus der Architektur des neuen NORD/LB Hauptsitzes in Hannover. Die Formensprache des Bauwerkes richtet sich erkennbar sowohl nach innen, wie nach außen. Und damit versinnbildlicht es auch unseren A nspruch als Regionalbank, sowohl an den Qualitäten unseres Standortes (bzw. unserer Standorte) zu partizipieren, aber auch Verantwortung für die regionale Entwicklung zu übernehmen. In dieser Hinsicht kann die NORD/LB auf eine lange Tradition als Unterstützerin künstlerischer, kultureller, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Projekte, Einrichtungen und Initiativen verweisen. Das machen wir in dem Bewusstsein, dass unsere dauerhafte Entwicklung untrennbar mit einer dauerhaften Entwicklung unseres gesellschaftlichen Umfelds verbunden bleibt. Die großen Städte waren da seit jeher die bevorzugten Orte, nicht nur für technische, sondern auch für soziale und kulturelle Experimente. Dadurch erst wurden sie auch zu Zentren der Innovation. Und das hat sich immer auch im Stadtbild niedergeschlagen. Ein urbanes Milieu, das differenzierte Lebensstile und Kreativität fördert, wird in der entstehenden Wissensgesellschaft daher zunehmend als entscheidender Faktor der Standortattraktivität angesehen. Als der Eiffelturm zur Weltausstellung 1889 errichtet wurde, war er zunächst auch höchst umstritten. Neues kann also durchaus sperrig sein. Aber auf diese Weise wirkt es auch produktiv. Eine experimentierfreudige und innovationsorientierte Kultur wird sich auch die Freiheit nehmen, spielerisch mit neuen Formen umzugehen Urbane Zukunft in der Wissensökonomie Ausblick: Eine Kultur des Wissens und Lernens Regionale Kreditinstitute müssen auf die Standortfrage in der Wissensökonomie mit einer Doppelstrategie reagieren: Sie müssen intern dafür Sorge tragen, dass Wissen in ausreichendem Maße generiert und in den Informationskreislauf des Unternehmens eingespeist wird. Das geht in Richtung Wissensmanagement, das bedeutet mehr bereichsübergreifende Kommunikation, mehr Interdisziplinarität und eine bessere Vernetzung. Vor allem brauchen sie dafür hochqualifizierte Mitarbeiter und die gehen heute nicht mehr an jeden Standort. Die bevorzugen innovative und kreative Orte. Darum lohnt es sich für Regionalbanken auch, kulturelle Initiativen und Projekte zu unterstützen, also in dieser Hinsicht auch nach außen zu wirken, Anstöße zu geben, Frei räume zu schaffen. Eine lebendige Kulturszene kommuniziert heute besser als jede Marketingbroschüre die Qualitäten eines Standortes. Deshalb aber sind auch nicht nur der Staat und die Wirtschaft aufgefordert, sich den Bedingungen der W issensökonomie zu stellen. Wir bedürfen insgesamt einer innovationsfreundlichen und lernbereiten Kultur. Lebenslanges Lernen darf kein bloßes Schlagwort bleiben, es muss Eingang finden in den kulturellen Kodex unserer Einstellungen und Leitbilder. Nur auf diese Weise werden wir die Chancen und Potenziale der W issensökonomie ausschöpfen können. Die Zukunft für den Produktionsstandort Deutschland kann nur darin liegen, sich mit Spitzentechnologie und Spitzendienstleistungen auf dem Weltmarkt zu behaupten. Und damit das auch in Zukunft gewährleistet bleibt, müssen wir bei der Jugend das Interesse an Bildung und Forschung wecken. Indem wir auch deutlich machen, dass uns neues Wissen voranbringt und wir bereit sind, gegebenenfalls eben auch neue Wege zu beschreiten. Das kann aber nur gelingen, wenn wir auch den Raum und die Gelegenheit zum Experimentieren lassen. Und wenn wir uns offen genug zeigen, neue Erkenntnisse und Ideen auch in Handeln umzusetzen. Aber – und auch das hat uns die letzte Krise gelehrt – sollten wir dabei auch so frei bleiben, nicht jedem neuen Trend hinterherzulaufen. Manchmal können Experi mente ja auch Altbewährtes bestätigen. Quellen: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) 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Das ist auch gut so. Sie alle haben jetzt die Plattform, sich nicht nur im Netz zu artikulieren, sondern auch in der wirklichen Welt. Wenn man aber davon ausgeht, dass der Wandel, den wir mit dem Stichwort „Internet“ verbinden, gewaltiger ist als jeder technologische Wandel der letzten Jahrhunderte, weil er auch die kognitiven Fähigkeiten von Menschen beeinflusst, und dass die Veränderungen, mit denen wir zu tun haben, fundamental eingreifen werden in die Art und Weise, wie Gesellschaften nicht nur miteinander kommunizieren, sondern auch wie Politik künftig sein wird, wie aber auch Arbeitsplätze gestaltet werden, dann erscheint es zwingend notwendig, sich auch kritisch mit diesen Fragen zu befassen. Es spricht vieles dafür, dass das heutige Geschehen mit der Debatte zu vergleichen ist, die im späten 19. Jahrhundert im Zeichen der industriellen Revolution geführt wurde. Heute wird gern vergessen, dass es damals zumindest über weite Strecken der Industria lisierung bis hin zum Kommunismus eine Phase der puren Euphorie gab. Was wir mit „Fordismus“ bezeichnen, die neue Arbeitsteilung und Arbeitsökonomie nach Stoppuhr, wurde sowohl von amerikanischen Kapita listen wie beispielsweise auch von Lenin bejubelt. Erst b Innenhof des Britischen Museums, London später trat dann eine Phase ein, wo man sich kritischer mit den Wirkungen dieser damals unglaublichen indus triellen Veränderung auseinandersetzte. Heute erleben wir die zweite Phase dieser industriellen Revolution, und sie ist deshalb so besonders interessant, weil sie jetzt den „geistigen Arbeiter“ betrifft, also nicht mehr die Manufaktur im klassischen Sinn, den Handwerker, den industriellen Arbeitsplatz, sondern das Büro, die Me dien, die Universitäten und schließlich die Gesellschaft und alles, was in irgendeinem Sinne früher als white collar Arbeit bezeichnet wurde. Wir erleben derzeit nicht nur die Industrialisierung von Information, sondern auch von Intelligenz, letztlich auch die Industrialisierung von Informationsvermittlung. Wenn man diese Entwicklung mit dem Blick des 19. Jahrhunderts betrachtet, ist man sicherlich geneigt anzunehmen, dass sie als wahrscheinlich noch größerer Wandel als der damalige in die Geschichte eingehen wird. Was war, was ist und was sein wird Erik Schmidt, der Chef von Google, äußerte vor nicht allzu langer Zeit sinngemäß: Wir wissen, was sie getan haben, wir wissen, was sie tun, wir wissen, was sie tun werden. Diese Aussage hätte noch vor fünf oder zehn Jahren als ein Satz aus einem Science-fiktion-Roman gegolten. Heute haben wir Internet-Dienste wie bei spielsweise Facebook, die gehen genau diesen Fragen nach: Was wissen wir über Menschen, was machen wir mit dem Wissen über Menschen, wie können wir dieses Wissen verkaufen und wie können wir voraussagen, was Menschen tun? Wenn vom Internet oder Web die Rede ist, sollte auch – so trivial es klingt – thematisiert werden, dass hinter der Oberfläche dieser Systeme natürlich Computer stehen. Das Web ist eine lächelnde Oberfläche, aber in den Maschinenräumen des Internets arbeiten eben Computer, digitale Systeme. Diese digitalen Systeme arbeiten nicht nur im Internet, sondern überall. Sie arbeiten in geschlossenen Systemen, bei den Behörden, beim Staat; sie arbeiten relativ gut zusammen, und sie arbeiten 12 RegioPol eins + zwei 2011 immer besser zusammen, selbst wenn sie Teile von geschlossenen Systemen sind. Es ist also von einer Kommunikation des Menschen mit Maschinen die Rede, auch dann, wenn vom Internet gesprochen wird. Noch in den 60er Jahren hat sich niemand vorstellen können, welche Entwicklung die Computerisierung nehmen wird. Es gibt diesen berühmten Satz von IBM aus den 50er Jahren: „Wir brauchen 5 Computer in Amerika.“ Später herrschte die Idee vor, in jeder Stadt würde künftig ein Computer wie ein Postamt eingerichtet und alle Leute würden dort hingehen und ihre Rechenarbeiten erledigen lassen. Der ganz große Swift entstand eigentlich erst durch einen Mann, den man zunächst gar nicht verstand, den Nobelpreisträger Herb Simon. Zu dieser Zeit waren Computer riesige Maschinen, die im Keller standen, und kaum jemand konnte sich vorstellen, ein derartiges Gerät mal im Büro stehen zu haben. Es war Herb Simon, der diesen Paradigmenwechsel u. a. mit dem Satz einleitete: „Information ist nicht kostenlos.“ Die Währung für Information ist Aufmerksamkeit. Jede Werbeanzeige im Netz, jeder Text, der gelesen werden will, ringt um Aufmerksamkeit. Herb Simon hat darauf hingewiesen, dass man mit den Computern nicht nur rechnen, sondern auch Symbole manipulieren kann. Unter Symbolen werden in diesem Zusammenhang alle Bilder, Pixel oder Buchstaben bezeichnet, grundsätzlich also alles, was in der Interaktion mit Computern eingesetzt wird. Das war in den 70er J ahren. Gerd Gigerenzer hat die faszinierende Geschichte erzählt, wie die Einführung des PCs verlaufen ist. Personalcomputer tauchten zuerst – abgesehen vom Militär – im Bereich der Medizin auf, vor allem in den Praxen, anschließend in den Behörden. Gigerenzer bezeugt sehr gut, wie dieses Bild immer stärker wurde: Der Computer denkt, und wir denken auch, also sind wir auch alle wie Computer. Allerdings hat noch in den 80er Jahren niemand vorhergesehen, was aus dem Internet entstehen könnte. 1989, 1990 gibt es die ersten starken Hinweise darauf, was uns bevorstehen könnte, aber auch noch relativ zurückhaltend. Im Jahr 2000 wird dann zum ersten Mal ein Aufsatz veröffentlicht, in dem die Rede von den Netz-Imigrants ist, also jenen, die schon im Netz geboren sind. Diese These ist jedoch schon längst wieder veraltet und überflüssig. Seither bekamen wir es in einer atemberaubenden Geschwindigkeit mit Systemen zu tun, die eine weitere Veränderungsstufe durch Maschinen einleiten, als neuestes Beispiel das iPad von Apple. Intelligente Maschinen Was bedeutet diese Kommunikation zwischen Mensch und Maschinen, und wo führt sie uns hin? Zunächst wäre die Frage zu klären, ob wir hier inzwischen mit intelligenten Maschinen kommunizieren und neue Vernetzungsgrade mit der Gesellschaft und den Menschen erreichen, die erst aufgrund dieser Maschinenintelligenz möglich geworden sind. Das berühmteste Science-Fiction-Beispiel ist natürlich „2001: Odyssee im Weltraum“. Der Computer HAL wird immer intelligenter, irgendwann ist er intelligenter als der Mensch und dominiert sogar den Menschen. Das war ein Paradigma der Science-FictionLiteratur über Jahrzehnte, fast über 100 Jahre. Die Entwicklung künstlicher Intelligenz war noch in den 80er Jahren ein großes Thema mit entsprechenden Forschungsansätzen, aber irgendwann ist die Idee etwas erlahmt. Das lag daran, dass man plötzlich etwas anderes feststellte, und das ist es, womit wir es heute zu tun haben. Computer und ihre Berechnungsmöglichkeiten werden intelligent, aber nicht dadurch, dass wir sie intelligent programmieren, sondern – und das geschieht vor allem im Internet – weil man festgestellt hat, dass sie eigentlich nichts anderes brauchen als permanenten menschlichen Input, also menschliche Kommunikation: menschliche Anfragen, menschliche Datensuche, menschliche Äußerungen auf allen Ebenen, die möglich sind. Sofern eine kritische Masse erreicht ist, können die modernen Algorithmen tatsächlich über Vernetzung Zusammenhänge herstellen, von denen man sich vorher eigentlich keinen Begriff machte. Dieser Vorgang wird deutlich, wenn man beispielsweise im Internet Bücher bestellt. Anschließend empfiehlt Amazon dem Käufer mehr oder minder gut das nächste Buch und trifft damit eine Voraussage. Ein anderes Beispiel ist eine Software namens Apple Genius. Wer sich bei iTune Musik runterlädt und diese Software zulässt, wird von Apple immer wieder Empfehlungen erhalten. Dabei wird der MusikGeschmack des Käufers analysiert und in der Zentral datenbank bei Apple mit dem Geschmack unzähliger anderer Menschen verglichen. Das funktioniert überraschend gut. Das alles ist unglaublich hilfreich, aber was hier mit Büchern oder mit Musik und mit vielem anderen geht, geht eben auch mit Menschen. Die deutschen Schriftsteller sollten sich einmal damit befassen. Das große Thema des gesamten Abendlandes ist die Liebe. Die Liebe hat ein Charakteristikum in der abendländischen Fantasie, und zwar seit der Antike, und das ist ihre totale Unberechenbarkeit. Der Blitz, Liebe auf den ersten Blick, das ist ein platonisches Motiv. In den Romanen des 19. Jahrhunderts taucht dieses Motiv immer wieder auf. Wenn sich zwei treffen, war es wie eine Erscheinung usw. Heute gibt es im Internet eine Reihe von Partnerschaftsvermittlungen oder Kontaktbörsen, und man muss sagen, diese Systeme sind relativ gut. Sie werden immer besser, sie bringen sehr viele Menschen zusammen, und sie tun es dadurch, dass sie algorithmisch in hoch komplexer Weise nicht nur Interessen von Menschen berechnen, sondern eine Vernetzung von vielen verschiedenen Daten herstellen. Künftig müssen Literatur und Kunst berücksichtigen, dass auch die Liebe nur ein Algorithmus ist. Eine Liebesszene des Jahres 2010 in einem Café: Flaubert z. B. würde sagen, es war wie eine Erscheinung; Mann sieht Frau oder Frau sieht Mann und es gibt den großen Moment der Annäherung, des Erkundens des anderen. Künftig wird es jedoch so sein, dass man in vielen Fällen nichts anderes tun muss, als sein Handy auf diesen Menschen zu halten und den Auslöser zu drücken. Urbane Zukunft in der Wissensökonomie 13 Das große Thema des gesamten Abendlandes ist die Liebe. Die Liebe hat ein Charakteristikum in der abendländischen Fantasie, und zwar seit der Antike, und das ist ihre totale Unberechenbarkeit. Die entsprechende Software existiert bereits. Sie heißt Racket Nacer. Es gibt eine weitere bei Google, die angeblich noch viel besser sein wird. Die Kamera erkennt das Gegenüber, sofern das Foto im Netz vorhanden ist, und die Software kann dann aus den Informationen, die dieser Mensch z. B. in Facebook oder anderswo von sich preisgegeben hat, eine Skizze entwerfen, in der die Interessen dieses Menschen bis hin zu seiner gesamten Lebensgeschichte dokumentiert sind. Die totale Berechenbarkeit Aufgrund dieser völlig neuen Informationen, die weithin abrufbar sind, werden sich auch neue soziale Verhältnisse auf einer ganz pragmatischen empirischen Ebene einstellen. Diese Veränderung ist groß und fundamental und sie funktioniert auf allen Ebenen. Sie betrifft die s ozialen Ebenen gesellschaftlichen Umgangs, geht aber auch ganz stark in die Bereiche des Erkennens von Wissen, von Kognition und von Arbeit. Spätestens hier fängt es an, besonders interessant zu werden, vor allem, wenn man sieht, wie diese Entwicklung alle Bereiche durchdringt. Wir treten ein in eine Phase der Berechenbarkeit und Kodifizierung menschlichen Verhaltens, menschlicher Produktivität oder vielleicht von allem, was den Wert des Menschen im klassischen Sinne ausmacht. Die entsprechenden Algorithmen sind bereits vorhanden. Der notwendige Ansatz besteht jetzt aber nicht darin, zu sagen, das wird immer effektiver und mächtiger und muss daher abgeschaltet werden. Sondern die entscheidende Frage ist: Können wir mit einem Bildungssystem, mit einem Menschenbild und mit Anforderungen, die eigentlich aus dem 19. Jahrhundert kommen, das überhaupt noch bewältigen? Die deutsche Universitätsreform zum Beispiel – der Bologna-Prozess – ist faktisch deshalb ein Desaster, weil sie im Grunde Kreativität zu einem von Computern total berechenbaren System macht. Darum diese unglaubliche Verschulung der deutschen Universität. Bologna ist genau die falsche Antwort auf diese Frage. Was hat es mit dieser Berechenbarkeit nun auf sich? Nehmen wir das Beispiel Google. Wenn man bei Google einen Suchbegriff eingibt, stellt man Google zwar eine Frage, man gibt Google aber gleichzeitig auch eine Antwort. Diese Antwort sagt, dieser Mensch interessiert sich für die entsprechenden Begriffe und klickt diese Seiten an. Dieser Mensch bleibt solange mit dem Cursor auf diesem Punkt, er kommt von dieser Seite usw. Bei einer genügend großen Masse von Informationen von entsprechend vielen Menschen, und bei Google kann man von Milliarden sprechen, ist es natürlich möglich, zahlreiche Muster herauszufinden. An dieser Stelle spätestens müssen wir allmählich erkennen, dass wir Menschen leider so unterschiedlich nicht sind, wie wir immer glauben, sondern dass es wirklich möglich ist, Profile, die sehr weitgehend sind, von Menschen zu erstellen, nicht nur für private Unternehmen, sondern auch für die Industrie. Die Folgen dieses Verfahrens haben sich in den letzten Jahren gezeigt. Ein Beispiel betrifft die physiologischen Wirkungen. Die zeigen sich vor allem in der Veränderung der Arbeitswelt durch die digitalen Systeme. Seit ungefähr sechs, sieben Jahren wird der Begriff Multitasking zur Ideologie. Es wird gesagt, Frauen können besonders gut multitasken, Männer können es angeblich schlechter. Diese Argumentation kommt aus der Computerwelt. Multitasking bedeutet, viele Dinge gleichzeitig zu machen. Wir wissen heute, dass das eine Ideologie ist, die nicht stimmt. Multitasking ist dem Menschen nicht möglich. Selbst Leute, die permanent diesen ständigen Informationswechseln ausgeliefert sind, können es nicht lernen. Weil das Gehirn es nicht kann. Es passiert jedoch etwas anderes. Es werden offenbar bestimmte Gehirnregionen verändert bzw. anders angeregt. Ein geläufiges Beispiel ist die merkwürdige Ungeduld am Computer, wenn es etwas dauert, bis eine Website hochgeladen wird. Dabei handelt es sich nur um Sekunden, aber als Nutzer fühlt man sich heute schon regelrecht genervt. Es scheint so zu sein, dass es eine Region im Gehirn gibt, die auf Belohnungen wartet. Dieses Zentrum wird korrumpiert und in Mitleidenschaft gezogen, stattdessen wird etwas anderes aktiviert durch diese Kombination 14 RegioPol eins + zwei 2011 Multitasking und Computer: die Erwartung auf sofortige Belohnung, einhergehend mit der Ausschüttung von entsprechenden Hormonen. Adaption der Gesellschaft Daraus folgt: Wir müssen in der „wirklichen“ Gesellschaft Gegenmaßnahmen ergreifen. Wenn wir uns künftig permanent im Internet bewegen und jetzt dort auch Bücher lesen, sind wir auch permanent dieser Veränderung ausgesetzt. Die Gesellschaft muss daher auf der Ebene des wirklichen Lebens erkennen, dass auch andere Dinge wichtig sind. Neurophysiologen vergleichen diese Veränderungen mit den Folgen der Fließbandarbeit im 20. Jahrhundert, nur dass es diesmal den Kopf betrifft. Es handelt sich beispielsweise um Kreativität, und manche empfehlen schon die Integration von Übungen zur Meditation und Kontemplation z. B. in den Schulunterricht, in die Ausbildung, in die Arbeitsplätze. Als die industrielle Revolution ihren Lauf nahm, konnte am Anfang auch niemand sehen, was das bedeutet. Dann merkte man plötzlich, dass die Muskeln der Menschen nicht gut für die Maschinen geeignet waren, die Arbeiter wurden zu schnell krank, nicht zuletzt, weil sie vom Land kamen. Die Maschinen brauchten sehr diffizile Bewegungen von Menschen. Daher kam das berühmte Ballet der Moderne. Also musste man die Menschen anpassen. Man kann heute feststellen, dass die Idee der Fitnessstudios, des Muskelaufbaus, bis hin zu der Frage von Ernährung, K alorien usw. aus dem Bereich der Arbeitsoptimierung des späten 19. Jahrhunderts stammt. Es ging also darum, den Körper anzupassen, damit er nicht krank wird. Interessanterweise waren es die Gewerkschaften, die damals sagten, wir wollen, dass hier etwas geändert wird. Jetzt, im 21. Jahrhundert, suchen wir die Schuld bei uns selber. Heute sagen wir, ich bin vergesslich oder ich habe dieses Kurzzeitgedächtnis oder ich kann Multitasking nicht, aber wir adressieren nicht mehr an einen Arbeitgeber oder einen Unternehmer, sondern die Menschen sind auf diesen guten Trick reingefallen, zu sagen, ich bin selber schuld, offenbar kann ich es nicht. Heute weiß man aber, dass schon aus neurologischen Gründen niemand dazu wirklich in der Lage ist. Es wird künftig darauf ankommen, die Gesellschaften entsprechend zu adaptieren. Das, was damals für die Muskeln des Körpers galt, gilt jetzt für die Muskeln des Gehirns. Es gilt jetzt für den Geist. Auch das Hirn ist letztlich ein Muskel. Deshalb müssen wir die Ideen auf ganz neue Weise in die Gesellschaften integrieren, eben alles das, was digitale Systeme nicht können. Dazu gehören Kontemplation, Kreativität, Künstlertum und auch Toleranz und Intuition. Ein anderes Beispiel ergibt sich durch die Flugverbote infolge des Vulkanausbruchs auf Island. Diese Vulkan aschegeschichte basiert auf einer Simulation, die aus England kam. Diese Simulation ist zunächst nicht durch Daten korreliert worden. Was sie auslöste, war gar kein Prozess mehr von Entscheidungen, sondern von Automatismen. Es gab gar keinen Ermessensspielraum mehr, die Luftgesellschaften beriefen sich interessanterweise auf den gesunden Menschenverstand, auf Intuition und dergleichen. Das heißt nicht, dass Simulationen oder Modellierungen immer falsch sind; aber in vielen Unternehmen in Deutschland sind Simulationen oder Prognosen über menschliche Kreativität, über den Wert von Menschen, Taxonomie, schon flächendeckend im Einsatz. Sofern diese Systeme genug Daten über alle Mitarbeiter haben, können sie voraussagen, was ein Mitarbeiter in 15 Jahren noch wert ist. Das wird wieder zur Grundlage von Entscheidungen. Da stellt sich jedoch die Frage: Was passiert, wenn ein Personalchef in dem Mitarbeiter was ganz anderes sieht. Hat er dann gegen das System eine Chance? Wer entscheidet künftig? Das ist die Frage, die sich derzeit aufdrängt. Wir steuern in eine Sozialisation hinein, die leider auch hirnphysiologisch gefördert wird, die darauf hinausläuft, dass die Gesellschaft immer mehr auf Systeme vertraut, die angeblich unfehlbar sind. Man darf den Internetdiskurs nicht immer nur im Hinblick auf Märkte führen. Wir müssen auch die Veränderungen in der Gesellschaft in den Blick bekommen. Da- Urbane Zukunft in der Wissensökonomie mit sind wir wieder bei Facebook und letztlich dem, was den Kern der sozialen Netzwerke ausmacht. Es geht da rum, dass sie tatsächlich im ganzen Netz verbreitet sind, und jeder, der sich bei Facebook registriert und auf eine Seite beispielsweise von Mercedes geht, dort plötzlich seine eigenen Freunde trifft, weil Facebook die Daten mit den Websites austauscht. Soziale Netzwerke wie Facebook und andere streben danach, das gesamte Leben ihrer Nutzer digital zu erfassen. Deshalb brauchen wir als Gegenmittel intuitive Institutionen in unserer Gesellschaft. Mittlerweile kann man schon ganze Lebensläufe durch Algorithmen berechnen lassen. Auch dafür werden Facebook-Daten benutzt. Aber auch viele andere. Facebook beispielsweise sammelt den Beziehungsstatus von Menschen, also verheiratet, ledig, geschieden. Auf diese Weise gewinnt der Dienst einen Beziehungsüberblick über viele Menschen. Auch in diesem Fall werden wieder Korrelationen hergestellt, die von Außenstehenden gar nicht abzusehen sind. Das Entscheidende bei algorithmischen Berechnungen ist immer der abwesende Dritte. Man muss gar nicht selbst bei Facebook registriert sein, um dort digital abgespeichert zu sein; es reicht schon, wenn ein Freund sich dort mit seinen Kontakten eingeschrieben hat. Facebook organisiert beispielsweise seine Mitglieder nicht nur nach dem Alphabet, sondern auch nach Sympathie. Man kann über Computer feststellen, wer der größte Sympathieträger in einem sozialen Netzwerk ist. Wenn es gelingt, diesen Sympathieträger zu überzeugen von einer Marke oder von einem Produkt, dann ist der natürlich ein hervorragender Botschafter für dieses Produkt in seinem Freundeskreis. Auch das ist alles durchaus legitim. Es steht nur zu befürchten, dass hier eine Monetarisierung sozialer Beziehungen eintreten könnte. Dieser Aspekt funktioniert übrigens auch auf der Ebene des Staates. Die sehr intransparent agierenden Dienste wie Google und Yahoo sind dabei nur die eine Seite. Der Staat hat, anders als Google, ein Gewaltmonopol. Der Staat kann Dinge durchsetzen und exekutieren. In diesem Zusammenhang kommt der Datensicherheit eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Es handelt 15 sich hier nicht um einzelne Adressen oder um das Alter und Geschlecht der Menschen. Worum es geht, ist ein Abbild ihres gesamten digitalen sozialen Verhaltens und die Rekonstruktion des Gleichen in der wirklichen Welt. Wer heute mit einem Handy zwei oder mehr Telefonate macht, hinterlässt deutliche digitale Spuren. Das Handynetz hat zum Teil sehr kleine Räume, sogenannte Zellen. So kann etwa ein Krankenhaus über vier oder fünf Zellen verfügen, und es lässt sich so theoretisch nachverfolgen, wer öfter aus der Krebsabteilung oder der Gynäkologie heraus kommuniziert. In „Science“ haben französische Wissenschaftlicher vor Kurzem festgestellt, dass es möglich ist, von einem Handy ausgehend, mit einer 90-prozentigen Wahrscheinlichkeit das Kommunikations-, aber auch Bewegungsverhalten des Nutzers in den nächsten fünf Monaten vorherzusagen. Das ist keine Science-Fiction. Deshalb brauchen wir nicht nur eine Medienpädagogik, sondern ein Bewusstsein dafür, dass Datenschutz viel mehr ist als das, was wir uns bislang darunter vorgestellt hatten. Ein gutes Stichwort ist der Datenpass. Das würde nicht nur bedeuten, dass wir einmal im Jahr gesagt bekommen, was über uns gespeichert ist, sondern auch, wie das mit anderen Daten korreliert, so dass wir in die Lage versetzt werden, unser digitales Bild zu überprüfen. Diese Debatte sollte jedoch nicht gegen das Netz oder dafür geführt werden. Das Internet ist da und geht nicht wieder weg, es wird geradezu mit Lichtgeschwindigkeit stärker und mächtiger. Was wir jedoch dringend brauchen, ist die Adaption der Gesellschaft an dieses Netz. Das heißt nicht, dass wir alle zu Informa tikern werden müssen, sondern dass wir ein Gegen gewicht stärken müssen in dieser Gesellschaft und den Institutionen. Dass man sagen kann: Ich entscheide mich gegen die vorausberechnete These über diesen Menschen, meine Intuition sagt was anderes. Ob das ein Kredit ist oder eine Karriereprognose – wenn man bei dieser Debatte erst einmal angekommen ist, dann werden auch andere Menschen einsteigen, die Pädagogen beispielsweise und auch die Künstler. 16 RegioPol eins + zwei 2011 Urbane Zukunft in der Wissensökonomie 17 „Der kurze Traum“ revisited: Aussicht auf eine neue Prosperität? Interview mit Professor Burkart Lutz Professor Lutz, Ihr Buch „Der kurze Traum immerwährender Prosperität“ erfährt fast 30 Jahre nach seiner Veröffentlichung angesichts der Weltwirtschaftskrise eine ganz neue Aktualität. Darin spielt der Begriff der „Prosperitätskonstellation“ eine zentrale Rolle. Der Begriff der Prosperitätskonstellation und ihr Zusammenhang mit Krisen ist von hoher Bedeutung, wenn man die Logik der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften erfassen und analysieren will. In der Diskussion lassen sich hierbei meiner Überzeugung nach bis weit zurück ins 19. Jahrhundert zwei grundlegende Verlaufsmuster unterscheiden. Das eine, weit verbreitete Muster, das mir grundsätzlich fehlerhaft zu sein scheint, unterstellt die Existenz eines einheitlichen, durchgängigen und verbindlichen Entwicklungsmusters, das einerseits zwar einer gewissen Krisendynamik unterworfen ist, aber andererseits in der Gesamttendenz doch sehr eindeutig immer mehr Wachstum und immer größeren Reichtum hervorbringt. Gemäß dieser Überzeugung, die beispielsweise die wachstumstheoretische Diskussion der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts dominierte, ist Prosperität der Normalfall. Krisen, die jeder raschen Entwicklung immanent sind, wirken vor allem als Heilmittel für alle die Probleme, die sich in der zurückliegenden Wachstumsphase aufgebaut haben. Damit wird angenommen und von vielen Autoren akzeptiert, dass im Prozess der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung immer wieder Krisen konjunktureller oder struktureller Art auftreten können, dass soziale Konflikte ausbrechen und dass krisenhafte Erscheinungen sich kumulieren, die große Teile des gesamten Systems erfassen. Zugleich wird jedoch angenommen, dass die Krise, wird sie vernünftig gesteuert, ausreichend viele und ausreichend starke Innovationen hervorbringen kann, von denen sich das Wachstum neu entfaltet. Dann kommt das ganze System in die Krise. Die Krise bringt dann aber wiederum die technischen, organisatorischen, ökonomischen und geopolitischen Innovationen b Anstreicher in Kochi, Indien hervor, die ihrerseits notwendig sind, damit sich das Wachstum auf einer neuen Basis neu entfalten kann. Diese Sichtweise der herkömmlichen Entwicklungsmodelle halte ich für grundlegend falsch. Wenn man einmal die Geschichte der zwei Jahrhunderte moderner Entwicklung Revue passieren lässt, sieht man sehr schnell, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen Perioden und ihren jeweiligen Prosperitäts phasen und Krisen viel stärker sind, als dies mit einem einheitlichen Entwicklungsschema vereinbar wäre. Deshalb versuchte ich, im „kurzen Traum“ und in verschiedenen anderen Publikationen, ein Modell zu formulieren, innerhalb dessen die historisch sehr unterschiedlichen Verläufe von kapitalistischer Prosperität und Krise gemäß ihrer jeweils besonderen Dynamik und in ihrem Zusammenhang erklärbar sind. Dieser Sichtweise liegt allerdings die nicht leicht zu handhabende Überzeugung zugrunde, dass sich die konkreten Muster von Wachstum und Krise vor und nach der Krise grundlegend unterscheiden. Was heißt das? Jede Entwicklungsphase bringt einen spezifischen Umgang mit Ressourcen mit sich, hat bestimmte Organisationsformen, bestimmte Formen sozialer Ungleichheit, Ausbeutung u. Ä. Mir geht es mit dem Begriff der Prosperitätskonstellation vor allem darum, diese unverwechselbaren Besonderheiten einer jeweiligen Wachstumsphase deutlich zu machen, wobei der Begriff der Prosperitätsphase ausreichend Raum dafür lassen muss, gleichzeitig die großen Unterschiede herausarbeiten, die zwischen ihnen bestehen. In historischer Perspektive heißt dies, dass die Überwindung der großen Krisen nur auf eine Art und Weise zustande kommen kann, die sehr wenig mit der gesamten vorausgegangenen Entwicklung zu tun hat, wie etwa das Beispiel der großen Weltwirtschaftskrise der späten 20er Jahren und ihre Überwindung durch den „fordistischen“ Wohlfahrtskapitalismus nach dem zweiten Weltkrieg sehr deutlich erkennen lässt. Wenn wir die Prosperitätskonstellationen vor und nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 betrachten: Welche Unterschiede sind für Sie ausschlaggebend? 18 RegioPol eins + zwei 2011 Wir können historisch sehr gut belegen, dass wir ab 1900 in eine sich zunehmend verschärfende Weltwirtschaftskrise hineingeraten sind. Für viele erschien schließlich ein großer Krieg als einziger Ausweg. Ich bin in der Tat rückblickend davon überzeugt, dass der 1. Weltkrieg eng mit einer sich Schritt für Schritt aufbauenden Krise verbunden war, die sich nach der Auseinandersetzung um die Aufteilung der Kolonialländer zugespitzt hatte. Allerdings brachte der Krieg selbst keine Lösung. Die Krise, die in den letzten Jahren vor dem Kriegsausbruch begonnen hatte, dauerte an, und zwar mindestens bis weit in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein. Man kann heute darüber diskutieren, ob der 2. Weltkrieg ohne die offenkundigen, massiven Fehler aller Beteiligten vermeidbar gewesen wäre. Allerdings war sicherlich aus der damaligen Perspektive noch in den 30er Jahren allenfalls ein Armutskeynesianismus als Alternative denkbar, während die stürmische Expansion, die dann tatsächlich nach dem 2. Weltkrieg einsetzte, in der gesamten Zwischenkriegszeit als reine Utopie erscheinen musste. Und nun geht auch diese Prosperitätskonstellation der Nachkriegszeit offenkundig zu Ende – wohl vor allem, weil sie einen großen Teil der Ressourcen verzehrt hat, die als „Treibstoff“ unerlässlich schienen und noch heute vielen unerlässlich scheinen. Was zeichnete Ihrer Ansicht nach diese Prosperitätskonstellation nach dem 2. Weltkrieg aus? Sie hatte zumindest drei einzigartige Merkmale, die es in dieser Form vorher nie gegeben hat. Das erste Merkmal ist ein doch über lange Zeit hinweg kontinuierliches, zeitweise sehr starkes ökonomisches Wachstum. Zweitens: Die Generalisierung einer besonderen Lebens weise, und zwar einer Lebensweise, die entsprechend dem fordistischen Modell in erheblichem Umfang auf der Verfügbarkeit von technischen Geräten verschiedenster Art gründete (Pkw, elektrische Haushaltsgeräte etc.). Drittens beginnt diese Prosperitätskonstellation ganz vorsichtig über sich selbst nachzudenken, es setzt also ein Zwang zur Reflexion über die eigene Gesellschaft ein. Sehen Sie diesen Reflexionszwang schon für die 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts als gegeben an? Es ist doch unglaublich, was wir in den entwickelten Nationen in den 50er, 60er Jahren zustande gebracht haben. Das geht nicht ohne einen bestimmten Grad an Reflexion. Aber gleichzeitig muss man sagen, jede Prosperitätskonstellation erbt auch Leistungen der Vergangenheit. Da werden Institutionen mitgeschleppt, da werden Macht- und Einflusskonstellationen fortgesetzt, da wird an Formen der Produktion und der Übermittlung von Wissensbeständen aus der vorausgegangenen Prosperitätskonstellation angeknüpft. Alles dieses zerfällt ja auch in der Krise nicht sofort und vollständig. Letztlich bedeutet das, was wir in den 50er und 60er Jahren erlebt haben, doch nur, dass zunächst eine Fülle an Nachlassbeständen früherer historischer Phasen nutzbar gemacht und dann sukzessive verbraucht wurden. Für uns Heutige stellt sich damit die sehr dringliche Frage, wie dieses reflexive Moment in den künftigen Entwicklungsverläufen bewahrt und gestärkt werden kann. Ein wenig Hoffnung ist wohl gestattet. So gibt es gute Gründe für die Annahme, dass ein Teil der Governance-Diskussion der letzten Jahre in eine Richtung weist, in der ganz überraschend neuartige Formen von Bündnissen und Zusammenschlüssen oder auch von horizontalen Netzen sichtbar werden. Stuttgart 21 ist ein sehr schönes Beispiel hierfür, war es doch noch vor Kurzem gänzlich unvorstellbar, dass das Stuttgarter Bürgertum auf die Straße geht und sich Wasserwerfern entgegenstellt. Gehen wir doch noch einmal kurz zurück: Können Sie uns die Ursachen skizzieren, die den Niedergang der Prosperitätskonstellation der Nachkriegszeit bereits Anfang der 70er Jahre eingeleitet haben? Es war einfach die Erschöpfung jener Ressourcen, deren Mobilisierung, deren Nutzbarmachung die große Prosperität erst begründet haben. Einige Stichworte müssten eigentlich genügen: Eine sehr hohe Anzahl von Urbane Zukunft in der Wissensökonomie rwerbspersonen wurde in das System der Lohnarbeit E integriert. Deutschland war 1945 noch in weiten Teilen ein Agrarland. Eine große Zahl von Arbeitskräften, Männer wie Frauen, waren in der Landwirtschaft, im Handwerk, im Tante-Emma-Einzelhandel und in persönlichen Diensten beschäftigt. Wir hatten in der Berufszählung 1950, wenn ich das recht erinnere, etwa eine halbe Million Erwerbstätige in häuslichen Diensten. Zu jener Zeit waren wir eher erstaunt darüber, wie die Amerikaner lebten, die elegant gekleidet waren, die große Autos fuhren, aber keine Dienstboten hatten und selber ihre Schuhe putzten. Ich bin übrigens auch überzeugt davon, dass die Rivalität zwischen den beiden Atommächten, der so genannte Kalte Krieg, wesentlich zur Prosperität nach dem 2. Weltkrieg beigetragen hat, u. a. weil unter dem Druck der halbmilitärischen Bedrohung des kalten Krieges Institutionen und Strukturen durchgesetzt werden konnten, die in einer Konstellation ruhiger, langfristig ge sicherter kapitalistischer Prosperität sicher nicht durchsetzbar gewesen wären. War es nicht auch so, dass mit den katastrophischen Ereignissen nach 1929 auch neue Ideen entstanden, die ein neues Verhältnis von Staat und Markt auf die Agenda rückten und auf breiter Front politisch durchsetzungsfähig machten? Zweifellos war in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein großes Reservoir von Konzepten und Ideen verfügbar, die zu einem Gutteil noch vor dem 1. Weltkrieg, z. B. bei den Kathedersozialisten oder bei den Fabians in England, entwickelt wurden und mit deren Hilfe auf teilweise recht großer Stufenleiter im Wohnungsbau oder in der Versorgung mit alltäglichen Gütern beispielsweise genossenschaftliche Lösungen erprobt wurden, auf die dann nach dem 2. Weltkrieg zurückgegriffen werden konnte. Sie haben jetzt nicht die Theorien und Konzepte John M. Keynes erwähnt. War das Absicht? 19 Nein, Keynes war und bleibt bis heute sicherlich ein sehr wichtiger und sehr innovativer Vordenker. Doch teilte er viele Ideen mit anderen. Und ich vermute, dass auch die klügsten Ideen wenig bewirkt hätten, wenn nicht nach dem 2. Weltkrieg ganz neuartige strukturelle Faktoren eine Entwicklung ermöglicht hätten, auf die zu hoffen nur sehr wenige den Mut hatten. Es gibt eine ganz gängige Argumentation in der aktuellen ökonomischen Debatte, die den Sozialund Wohlfahrtsstaat betrifft. Diese Debatte stellt darauf ab, dass der Wohlfahrtsstaat ja erst einmal ökonomisch ermöglicht werden muss. Erst durch mehr Wertschöpfung gibt es, so lautet die Argumentation, auch die Ressourcen, um den Wohlfahrtsstaat zu finanzieren. Ich habe den „Kurzen Traum“ auch so gelesen, dass der Wohlfahrtsstaat umgekehrt auch einen Wertschöpfungsmechanismus in Gang gesetzt hat. Ja, sicherlich. Wir haben nach dem 2. Weltkrieg in den großen westlichen Industrienationen einen wirklichen Entwicklungssprung erlebt, dessen wesentliche Voraussetzung darin lag, dass die Sozialpolitik tiefgreifende Veränderungen in Gang setzte, die z. B. Lohnarbeit überhaupt erst attraktiv machten. Man darf nicht vergessen: Wir hatten um 1945 in den Westzonen mehr Bauernhöfe als jemals zuvor in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Dort waren viele hunderttausend Männer und Frauen als Arbeitskräfte gebunden. Wie hat man es geschafft, einen Mobilisierungsprozess in Gang zu setzen, der dem modernen Sektor in so kurzer Zeit eine solche Masse von Arbeitskräften zuführte? Ich denke, man kann gut belegen, dass die Sozialpolitik Mobilisierungsvoraussetzung war und nicht Mobilisierungsfolge. Das scheint mir ein elementarer Zusammenhang zu sein, der unter anderem auch erklärt, warum wir in der Nachkriegszeit einen zunehmenden, hohen Politikbedarf hatten, der sich in der Zeit des Kalten Krieges natürlich vor allem in der Sprache des Freund-Feind-Gegensatzes und der Bedrohung durch die Sowjetunion artikulierte. Der beste Beleg hier- 20 RegioPol eins + zwei 2011 für ist in den Nachkriegsjahrzehnten der enge Zusammenhang zwischen der geografischen Entfernung zur sowjetischen Grenze und der Schnelligkeit und Gründlichkeit, mit der die neuen wohlfahrtskapitalistischen Konstellationen entstanden. Je größer die räumliche Nähe der verschiedenen Industrienationen zur Sowjetunion, je größer der davon ausgehende Bedrohungsdruck war, desto tiefgreifender und schneller setzten die wohlfahrtsstaatlichen Reformen ein, die dann zur Prosperität führten. Wir haben bereits festgestellt, dass es keinen kontinuierlichen Wandel gibt. In der theoretischen Diskussion – auch in Texten von Burkart Lutz – kommt in diesem Zusammenhang immer wieder der Begriff der „großen Krise“ vor. Was ist eigentlich der entscheidende Unterschied zwischen einer großen und einer kleinen Krise? Was man üblicherweise als kleine Krisen bezeichnet, sind im wesentlichen konjunkturelle Turbulenzen. Wir wissen seit dem frühen 19. Jahrhundert, dass markt gesteuerte Entwicklungen immer wieder Turbulenzen hervorbringen und dass diese „kleinen Krisen“ eng mit der Abfolge von Krisen und Prosperitätsphasen zusammenhängen. Diese Abfolge wird sehr häufig (und wohl zu Recht) als Ausdruck marktendogener Mechanismen und Instabilitäten, die sich im Systemzusammenhang abspielen und allenfalls kleinere Veränderungen in den Strukturen hervorrufen. Die große Krise ist hingegen eine Krise, deren Bewältigung das System in großen Teilen überfordert. Solche Krisen können sich manchmal aus einer normalen Konjunkturkrise entwickeln, doch ist ihre Überwindung nicht auf systemimmanente Weise, sondern nur mittels einer wirklichen Neukonfiguration möglich. Kann man sagen, dass große Krisen zwar nicht die Selbstheilungskräfte für einen neuen Aufschwung in sich bergen und insofern nicht aus sich selbst heraus eine neue Prosperitätskonstellation begründen, aber dass sie Auslöser von Suchbewegungen sind? In diesem Sinne führen sie dazu, dass nolens volens Kräfte erzeugt werden, die in einem mehrjährigen, möglicherweise auch jahrzehntelangen Prozess eine neue Prosperitätskonstellation begründen. Ich würde nicht sagen, große Krisen sind Auslöser und werden irgendwann eine neue Prosperitätskonstellation begründen, und würde lieber sagen: Große Krisen können dies bewirken. Aber niemand kann ausschließen, dass ihnen dies misslingt. Ich meine, wenn eine Prosperitätskonstellation sich erschöpft hat und dann die Weltwirtschaft erst in eine kleine Krise oder eine Folge von kleinen Krisen gerät und dann in eine große Krise rutscht, dann gibt es keinen Ausweg aus dieser Krise ohne politische Reflexion und ohne politisches Handeln. Ich würde es also Ihre Frage insofern noch ein bisschen schärfer formulieren. Und ich fürchte, dass mich nicht nur der Alterspessimismus zu der Befürchtung treibt, dass in unserem Falle das Problemlösungspotenzial der Gesellschaft nicht ausreicht, das zu tun, was notwendig wäre, eine neue Prosperität in Gang zu setzen. Aber über kurz oder lang muss ein Ausweg gefunden werden, der jenseits der traditionellen Bahnen liegt? In meinem Buch „Kurzer Traum“ sage ich, wenn man in eine große Krise hineinrutscht ist, dann gibt es keine Patentlösung, um wieder herauszufinden. Der Glaube, dass es ausreicht, auf das gleiche Repertoire zurückzugreifen, mit dem man frühere mehr oder minder große Krisen bewältigt hat, um uns aus der aktuellen Weltwirtschaftskrise herauszuführen, kann sich als trügerisch erweisen. Ich glaube nicht, dass es erfolgreich sein kann, das überlieferte Instrumentarium zu nehmen, es ein bisschen anzupassen und hier und da zu ergänzen und dann reinzuklotzen – natürlich mit weit mehr Geld als dies früher möglich war. Das halte ich für eine Illusion. Ich denke allerdings: Je stärker der von der Krise ausgelöste Problemdruck wird, desto mehr wird es zu Suchprozessen kommen, von denen freilich niemand weiß. Urbane Zukunft in der Wissensökonomie wo sie letztlich hinführen. Diese Suchprozesse stehen aber für ein wachsendes Bedürfnis nach neuen Ansätzen. Das stimmt mich in gewisser Weise zuversichtlich. Auf der anderen Seite weiß man natürlich überhaupt nicht, was politisch letztlich vor sich gehen wird. Die herrschende Lehrmeinung der ökonomischen Theorie der letzten 30 Jahre hat im Kern darauf abgestellt, auf die Selbstheilungskräfte des Marktes zu setzen, und die Aufgabe staatlicher Institutionen da rin gesehen, die Inflation im Griff und die Zinsen möglichst niedrig zu halten, um unter diesen Voraussetzungen eine Wachstumsdynamik zu ermöglichen. Ansonsten habe der Staat sich geflissentlich zu bescheiden. Diese Denkweise scheint mir in dieser Weltwirtschaftskrise in eine fundamentale Defensive geraten zu sein. Ob das Adjektiv fundamental zulässig ist, weiß ich nicht. Doch kommen zumindest überraschende Äußerungen von Leuten, von denen man vorher so etwas nicht erwartet hätte. Erwarten Sie von diesen Neuformierungsprozessen und damit auch aus dem wissenschaftlichen Bereich, Impulse für neue Zukunftsstrategien? Das kann sehr wohl kommen. Ich halte das Ergebnis dieser Prozesse allerdings für hochgradig offen. Da kann sehr viel gleichzeitig passieren und was sich dann schließlich aus der Vielfalt von einzelnen Ereignissen und Veränderungsprozessen als handlungsfähige Konzepte herauskristallisiert, ist jetzt, im Vorhinein nicht zu sagen. Dies schließt aber keineswegs aus, dass der Ablauf von Prozessen dieser Art durch eine nachdrückliche und ermutigende Förderung des Nachdenkens in nicht unerheblichem Maße beeinflusst wird. Was sind eigentlich die Blockierungen, die neue Problemlösungen, auch im Sinne einer neuen Prosperitätskonstellation, verhindern? 21 Die Prosperitätskonstellation nach dem 2. Weltkrieg war in vieler Hinsicht die weitaus erfolgreichste in der Menschheitsgeschichte. Dieser Erfolg wurde im Wesentlichen bezahlt durch eine hochgradige, auf bestimmten Gebieten sogar vollständige Funktionalisierung der verfügbaren materiellen und intellektuellen Ressourcen. Hierzu gehörte nicht zuletzt ein uneingeschränktes Vertrauen in die Kräfte des Marktes als der Pfadfinder, der uns in eine sonnige Zukunft führt. Die Stärke dieser Prosperitätskonstellation, die bis in die späten 70er Jahre anhielt, bewirkte, dass ein Großteil der verfügbaren materiellen, finanziellen und kognitiven Ressourcen als Abbild des Handlungsbedarfs und der Handlungsstruktur strukturiert, organisiert, aufgestellt wurde, die sich auf dem Höhepunkt der Nachkriegsprosperität herausgebildet hatten. Dies ist ein sehr weites und kompliziertes Feld, beginnend mit den großen Reformen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung über die Abgrenzung der Ressortzuständigkeiten in der Politik, die Strukturierung der Disziplinen in der Wissenschaft etc. Nahezu mit all dem, was vor Jahrzehnten entstand und auf mehr oder weniger effiziente Weise dem Erkenntnis- und Handlungsbedarf der 50er und 60er Jahre entsprach, müssen wir uns bis heute unter teilweise bereits tief greifend veränderten Verhältnissen recht und schlecht arrangieren. Wir ahnen, dass wir uns zur Bewältigung der aktuellen bzw. sich vor unseren Augen schrittweise herausbildenden Problemlagen auf eine ganz neue Konfiguration von Handlungspotenzialen, von Denkstrukturen und Ressourcenverteilung einlassen müssten, die allenfalls in sehr groben, unscharfen Konturen erkennbar sind. Entscheidend ist, dass die zukünftige Prosperitätskonstellation, wenn es denn zu einer solchen kommt, substanziell mehr Vorausdenken erfordern wird, als alles, was wir bisher historisch gekannt haben. Nicht wenige Wissenschaftler, auch Wirtschaftswissenschaftler wie Joseph Stiglitz oder die Theoretiker aus dem Kreis der französischen Regulationsschule, haben im Zusammenhang mit der 22 RegioPol eins + zwei 2011 Weltwirtschaftskrise davon gesprochen, dass sich diese große Krise auch als Geburtshelfer einer neuen Wissens- oder Innovationsökonomie erweisen könnte. Das halte ich für eine Illusion. Warum? Ich halte die Überzeugung, dass neue Technologien in der Lage seien, ein blockiertes Wachstum wieder in Gang zu bringen, für reine Illusion. Kein Zweifel, es wird an nicht wenigen Stellen darüber nachgedacht, ob die Zukunft nicht einem qualitativen Prosperitätsmodell an Stelle des immer noch dominanten quantitativen Modells gehören wird und welcher Pfad gegebenenfalls vom einen zum anderen führen könnte. In diesen Zusammenhang gehört z. B. auch die neue Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, die sich mit neuen Wohlstandsindikatoren befasst. Ich meine, dies alles weist in die richtige Richtung. Doch handelt es sich bisher um jeweils einzelne Prozesse und Experimente, die sicher spannend und unterstützenswert sind. Aber der große Durchbruch ist dies sicherlich noch nicht. Gleiches gilt auch für mehr oder weniger spontanes Handeln auf lokaler Ebene, die möglicherweise zunehmend Bedeutung erlangt. Aber das reicht alles nicht – das ist meine Befürchtung –, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich wirklich etwas grundsätzlich Neues vollzieht. Wir werden sehen, was in China in den nächsten 10 Jahren passiert, wo man inzwischen, wenn ich das richtig sehe, mächtige Denkfabriken aufgebaut hat. Bei dem Ansatz der Wissensökonomie geht es ja nicht um technische Innovationen, sondern um die These, dass Wissen zur entscheidenden Produktivkraft wird. Es geht sowohl um Verwissenschaftlichungsprozesse als auch um die wachsende Rolle von tacit knowledge in den Industrie- und Dienstleistungsunternehmen. Daraus erklärt sich möglicherweise eine neue Qualität der ökonomischen Entwicklung. Es handelt sich um Veränderungen, die sich nicht nur auf technologische Lösungen reduzieren lassen, sondern gerade auch um organisatorische bzw. institutionelle Arrangement, die sich insbesondere auch auf die Bewältigung gesellschaftlicher Problemfelder beziehen lassen. In diesen Erklärungsansätzen steckt meines Erachtens wesentlich mehr als die vermeintlich dominante Rolle technologischer Innovationen, wie wir sie etwa von Schumpeter oder Kondratieff kennen. Die Wissensökonomie wird in der neuerlichen ökonomischen Debatte als ein System von Austauschbeziehungen diskutiert, in dem z.B. der Preismechanismus nicht mehr in der herkömmlichen Form funktioniert. Stattdessen herrschen dort hybride Institutionen zwischen Markt und Hierarchie, also Kooperationsbeziehungen bzw. Netzwerke vor. Es geht um neue Regulationsanforderungen, weil sich z. B. das geistige Eigentum – Joseph Stiglitz sagt: „Wissen ist ein globales öffentliches Gut“ – nicht mehr in der Weise marktförmig organisieren lässt, wie es in der öko nomischen Welt der Vergangenheit der Fall war. Das sind vielleicht Aspekte, die im Zusammenhang mit unserem Gespräch über die Chancen einer neuen Prosperitätskonstellation spannend sein könnten. Ich sehe in diesem Zusammenhang große Chancen und große Gefahren. Es gibt Chancen, weil es hier um eines der Felder geht, auf denen tatsächlich Neues entstehen kann. Aber ich sehe diese Entwicklungen zugleich auch kritisch, weil ein Gutteil dieser Wissensproduktion sich selbst wieder in den herkömmlichen Strukturen vollzieht und damit selbst der Gefahr der Monetarisierung unterliegt. Wir sollten uns noch einmal vergegenwärtigen, in welchem Ausmaß wir in den letzten 50 Jahren unsere entwickelten Gesellschaften durchorganisiert und funktionalisiert haben. In den damit entstandenen sozioökonomischen Strukturen und den in sie eingelassenen Grenzziehungen und Formen der Arbeitsteilung sind mächtige Apparate bestrebt, sich immer größere Teile der Wissensbestände und der Wissensverwertung zu unterwerfen. Die Perspektive der Wissensgesellschaft Urbane Zukunft in der Wissensökonomie kann unzweifelhaft etwas Neues bewirken. Ich halte „Wissen“ in diesem Kontext trotzdem für einen sehr problematischen Begriff. Er beinhaltet gleichzeitig sowohl sehr starke positive als auch sehr negative Elemente. Ich glaube auch nicht daran, dass es sozusagen die eine große Lösung gibt. Das wäre ein fundamentalistischer Irrtum. Es gibt nicht den einen Weg, der zum Guten führt und auf dem man sich möglichst strikt halten muss, um aus der Krise herauszufinden. Ein solcher Ansatz, glaube ich, ist auf unsere Diskussion nicht anwendbar. Ich würde dem entgegenhalten, dass das Neue, das mit dem Begriff des Wissens in unserer Debatte um die Wissens- oder die Innovationsökonomie verbunden wird, geradezu ein neues Verhältnis von Markt und Staat und zivilgesellschaftlichen Institutionen impliziert. Die großen Probleme unserer Zeit und die großen Themen der Zukunft, also z.B. der Klimawandel, die Notwendigkeit der Ressourceneffizienz oder die demografische Herausforderung, werden gesellschaftlich nur in den Griff zu bekommen sein, wenn es uns gelingt, unsere Wissenspotenziale in der Zukunft neu zu organisieren. Ja, oder inwieweit wir dies bereits organisiert haben müssen, damit der Prozess der Erneuerung wirklich in Gang kommen kann. Ich bin immer noch oder immer w ieder erschrocken darüber, wie stark die Institutionen, Organisationen der Vergangenheit in der Gegenwart immer noch wirksam sind. Aber da müsste man wirklich noch mal eine wissenschaftssoziologische Diskussion führen. Dieses alles spricht aber – und da sind wir uns, glaube ich, völlig einig – für die hohe und möglicher weise überlebensentscheidende Bedeutung einer offenen Diskussionskultur. Vielen Dank für das Gespräch. Das Gespräch führte Dr. Arno Brandt. 23 24 RegioPol eins + zwei 2011 Urbane Zukunft in der Wissensökonomie 25 Simone Strambach Herausforderungen der Wissensökonomie Strukturen, Prozesse und neue Dynamiken im globalen Strukturwandel D er Begriff der „Wissensökonomie“ als Analyseperspektive des gegenwärtigen globalen Strukturwandels ist mittlerweile in der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Debatte fest etabliert. Dennoch herrscht keineswegs Einigkeit über die Frage, welche Strukturen und Prozesse für Wissensökonomien kennzeichnend sind, zu welchen sich insbesondere Hochlohnländer wie Deutschland entwickeln. Selbst eine eindeutige und generell akzeptierte Definition von „Wissen“ konnte sich bis heute noch nicht durchsetzen. Dieser Beitrag beleuchtet drei Aspekte etwas genauer: Zu Beginn geht es um die Frage, was „Wissen“ zum einen als „Ware“ und zum anderen als „Produktionsfaktor“ in ökonomischen Handlungszusammenhängen kennzeichnet. Daran anschließend wird anhand von Makroindikatoren ein kurzes Schlaglicht auf Strukturen und Prozesse geworfen, die als Beleg für die zunehmende Wissensbasierung wirtschaftlicher Aktivitäten von hochentwickelten Volkswirtschaften angeführt werden können. Abschließend werden neue Dynamiken im globalen Strukturwandel diskutiert, die durch die zunehmende Internationalisierung von Innovation und Wissen entstehen und zu neuen Formen der Wissensentstehung führen. Diese Entwicklungen stellen Unternehmen und Regionen gleichermaßen vor neue Herausforderungen. Kennzeichen der Wissensökonomie In der wissenschaftlichen Debatte wird die Frage, was eigentlich eine Wissensökonomie ausmacht, sehr heterogen diskutiert. Einigkeit besteht jedoch darin, dass die systematische Erzeugung, Kommerzialisierung und Kommodifizierung von Wissen wesentliche Merkmale dieses Transformationsprozesses von hochentwickelten Gesellschaften darstellen. Wissen war stets ein wichtiger Faktor für wirtschaftliche Entwicklungen, insbesondere für Innovation und technischen Fortschritt. Im Rahmen des globalen Strukturwandels hat die Beziehung zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Wissen jedoch quantitative und qualitative Veränderungen erfahb Holzskulptur auf der Zugspitze ren. „Wissen“ gewinnt nicht nur als Produktionsfaktor eine wachsende Bedeutung in wirtschaftlichen Trans aktionen, sondern entwickelt sich zunehmend zu einem immateriellen Gut, das mit einem Preis versehen und gehandelt werden kann. Im Vergleich zu vergangenen Jahrzehnten ist die Wertschöpfung wirtschaftlicher A ktivitäten in der „modernen“ Wissensökonomie direkter mit der Produktion, der Verteilung, der Nutzung und insbesondere auch mit der Kommerzialisierung von W issen verbunden (vgl. Foray/Lundvall 1996, OECD 1996, Stehr 1994). Das dynamische Wachstum von Märkten für immaterielle Güter und wissensintensive Dienstleistungen sowie die empirisch beobachtbaren Internationa lisierungsprozesse von Wissen und Innovation sind Ausdruck dieser Entwicklungen. Als Treiber dieses Transformationsprozesses fungieren neue Informations- und Kommunikationstechnologien, die wesentlich dazu beitragen, dass auch Erfahrungswissen, sogenanntes implizites Wissen, welches an Personen gebunden und in Unternehmen, Netzwerken und Regionen eingebettet ist, kodifiziert und schneller transferiert werden kann. In Verbindung mit neuen Transporttechnologien und gesunkenen Transport kosten ermöglichen sie die steigende räumliche und zeitliche Trennung von Unternehmensfunktionen. Outsourcing- und Offshoring-Prozesse, die auf der Ebene der Produktion bereits früh eingesetzt haben, umfassen inzwischen nicht nur Dienstleistungsfunktionen, sondern auch wissensintensive Unternehmensprozesse. Als Folgen dieser vertikalen Desintegration und Restrukturierungsprozesse kann einerseits die drastisch gestiegene Komplexität von Produktionssystemen festgehalten werden, zum anderen die weitere Differenzierung der internationalen Arbeitsteilung. Die Ausprägung von globalen Wertschöpfungsketten und von komplexen, vernetzten Produktions- und Dienstleistungssystemen führt zu steigender Intensivierung internationaler funktionaler Integration wirtschaftlicher Aktivitäten. Für Wissensökonomien stellen neue Transport-, Informations- und Kommunikationstechnologien eine ganz wesentliche Infrastruktur dar. Sie ermöglichen die 26 RegioPol eins + zwei 2011 Abbildung 1: Immaterielle Wissensprodukte in ökonomischen Handlungszusammenhängen Materielles Gut Wissen als immaterielles Gut Steuerungsmedium Nutzen Wert Eigentumsrechte Preis Marktwert ist unabhängig vom Kontext Wert wird bei Gebrauch aufgezehrt Gehen beim Verkauf an den Kunden über Vertrauen, Reputation, soziale Netzwerke Marktwert ist kontextsensitiv, abhängig von der Handlungssituation Wert vermehrt sich bei Gebrauch Verbleiben trotz Verkauf beim Anbieter Quelle: Eigener Entwurf. erforderliche Koordination und Organisation wirtschaftlicher Aktivitäten über Länder- und Regionsgrenzen hinweg. Allerdings fungieren sie nicht nur als Voraus setzung, sondern gleichzeitig auch als Verstärker der zunehmenden Wissensbasierung. So entstehen virtuelle Räume der Interaktion und Kommunikation, in denen relativ unabhängig von Zeit und geographischem Raum vorhandenes Wissen ausgetauscht, kombiniert und neues Wissen generiert wird. Durch neue IuK-Technologien wird der Ausbreitung internationaler ökonomischer Beziehungen und der Ausweitung des Informations- und Wissenstransfers eine neue Qualität und Beschleu nigung verliehen. Diese Dynamik wiederum befördert die Nachfrage nach wissensintensiven Informationsund Dienstleistungsgütern und das Wachstum von immateriellen Wissensmärkten für komplexe und vernetzte Produktions- und Dienstleistungsprozesse. Die steigende Wettbewerbsintensität, die durch die gegenwärtige Globalisierung ausgelöst wird, in Ver bindung mit den technologischen Möglichkeiten der zunehmenden Handelbarkeit von Wissen, haben den Effekt, dass Innovationszyklen kürzer werden und dass die Wissensbasis von Unternehmen, von Branchen, aber auch von Regionen schneller veraltet und untergraben wird. Wesentliche Strukturmerkmale von wissensbasierten Ökonomien sind daher nicht nur der Umfang der „Wissenswertschöpfung“ und die Intensität, in der Wissen als Produktionsfaktor und als Gut genutzt wird, sondern dass aufgrund dieser Dynamik Lernen als der zentrale Prozess betrachtet werden kann (Foray/Lundvall 1996, Kujath/Zillmer 2010, Strambach 2004). Die sich wechselseitig bedingende Verbindung von Wandel und Lernen bestimmt den hohen Stellungswert, welcher Lernprozessen für die Innovations- und Wettbewerbs fähigkeit von Akteuren in der wissensbasierten Öko nomie zugesprochen wird. Akteure, die mit schnellen Veränderungen konfrontiert werden, sind gezwungen, durch Lernprozesse sich diesem Wandel anzupassen. In wissensbasierten Ökonomien hängt die Fähigkeit, kom- parative Vorteile aufrechtzuerhalten, eng von der Lern fähigkeit ab. So ist es für Unternehmen nicht mehr ausreichend, Innovationen nur punktuell zu generieren, sondern sie müssen diese kontinuierlich durch die gezielte Suche nach neuem Wissen oder die Kombination von bereits vorhandenem Wissen entwickeln und in Form von neuen Produkten, Prozessen und Dienstleistungen vermarkten. Für die A rbeitskräfte bedeutet dies ebenfalls, dass einmal erworbene Kompetenzen auf dem A rbeitsmarkt wissensbasierter Ökonomien nicht ausreichend sind, sondern dass das sogenannte „lebenslange Lernen“, die permanente und systematische Weiter bildung zur wesentlichen Herausforderung wird (vgl. OECD 1996). Die hohe Bedeutung von Lernprozessen in wissens basierten Ökonomien hängt darüber hinaus auch mit den besonderen Eigenschaften zusammen, die „Wissens güter“ in ökonomischen Transaktionen auszeichnen. Diese werden im Folgenden detaillierter dargestellt. „Wissen“ als ökonomisches Gut Während in früheren Jahrzehnten die beiden Begriffe Information und Wissen noch weitgehend synonym verwendet wurden, besteht in der interdisziplinären Forschung zur Ökonomie des Wissens inzwischen weitgehend Einigkeit, dass Wissen viel mehr ist als nur Informationen, die als funktional oder thematisch strukturierte Daten definiert werden. Wissen dagegen basiert auf Erfahrungen, ist durch Heuristiken und Bewertungen gefärbt und wird als eine Handlungsressource individueller und kollektiver Akteure betrachtet (vgl. Stehr 1994, Sveiby 1997). Informationen werden erst zu Wissen, wenn Akteure damit handeln, wenn sie Probleme lösen oder etwas in Bewegung setzen. Wissen ist ein interaktives und immaterielles Gut, das die konventionellen ökonomischen Qualitäten von materiellen Waren nur bedingt besitzt (vgl. Abbildung 1). Urbane Zukunft in der Wissensökonomie Verantwortlich sind hierfür insbesondere die inhärente implizite D imension und der kumulative Charakter von Wissen sowie dessen Kontextabhängigkeit. Die schon als klassisch zu bezeichnende Unterscheidung von implizitem und explizitem Wissen von Polanyi (1985) verweist d arauf, dass Wissen unterschiedliche Dimensionen beinhaltet. Während explizites Wissen durch die Kodifizierung in systematischer Weise verarbeitet, übertragen und gespeichert werden kann, ist das bei einem anderen Teil von Wissen, dem sogenannten implizitem und „tacit“ Wissen, nicht der Fall (vgl. Polanyi 1985). Es ist an den Erfahrungshintergrund, an Interpretationen, an mentale Modelle, Überzeugungen und Wahrnehmungen von Personen gebunden und wird von diesen meist als selbstverständlich erachtet (vgl. Nonaka/Takeuchi 1997). Für kreative Prozesse, für die Entwicklung von neuen „Wissensgütern“ und Innovationen wird gerade diesem impliziten Wissen ein hoher Stellenwert beigemessen, obwohl oder gerade weil es schwer formalisierbar, kommunizierbar und übertragbar ist. Trotz vermehrter Kommunikationsmöglichkeiten über das Internet und digi taler Vernetzung spielen daher in Herstellungsprozessen von komplexen Wissensprodukten räumliche Nähe und Face-to-Face-Kontakte – nicht unbedingt permanent jedoch temporär – für Austausch von implizitem Erfahrungswissen eine entscheidende Rolle. Die Eigenschaften der Ware „Wissen“ als Gut oder Ware unterscheiden sich in ökonomischen Handlungszusammenhängen erheblich von denjenigen der materiellen Güter. Letztere haben einen Nutzen und können unabhängig vom Herstellungskontext ausgetauscht und verbraucht werden. Der Wert von materiellen Waren steckt meist im Produkt selbst, daher ist auch der Preis der dominierende Steuerungsmechanismus der Transaktionsprozesse auf Märkten für materielle Güter. Da gegen sind der Nutzen und der Marktwert von immate riellen Gütern in hohem Maße kontextsensitiv und abhängig von der spezifischen Handlungssituation (vgl. Sveiby 1997). Wissen besitzt in unterschiedlichen Situationen einen unterschiedlichen (Markt-)Wert, es ist damit nicht in einem schlichten Sinne „objektiv“. Beratungskonzepte für ein Großunternehmen beispielsweise sind zum Teil von geringem Wert oder sogar „wertlos“ für Kleinunternehmen. Das erfolgreiche Marketingkonzept für eine spezifische Automarke kann für das Branding eines anderen Herstellers nur von geringem Wert sein. In der Interaktion zwischen den Akteuren – dem Wissensanbieter und dem Nachfrager – entsteht ein großer Teil des Wertes der Ware Wissen. Dies hat zur Folge, dass immaterielle Wissensprodukte und wissensintensive Dienstleistungen verkauft werden, bevor sie endgültig fertiggestellt bzw. produziert sind. Diese spezifischen Eigenschaften von Wissen erschweren die Standardisierung und die Qualitätsbe urteilung von immateriellen Wissensprodukten. Zwar wird technologisches und nicht-technologisches Wissen heute in viel stärkerem Maße als in früheren Jahren durch Preise bewertet und gehandelt, nicht nur die Informationsgüter, auch die Wissensvermittlung und -gene- 27 rierung folgen zunehmend den Marktgesetzen; dennoch bleiben Vertrauen, Reputation und soziale Netzwerke ganz wesentliche Mechanismen für die Steuerung von Transaktionen auf fluiden Wissensmärkten mit Produkten, die primär rein immateriellen Werten und Normen folgen. Unterschiede bestehen maßgeblich auch darin, dass der Wert von materiellen Produkten mit dem Gebrauch und der Nutzung aufgezehrt wird. Sie nutzen sich in der Verwendung ab, werden verbraucht und verlieren an Wert. Bei Wissen dagegen ist das nicht der Fall. Es hat einen kumulativen Charakter und vermehrt sich durch die Anwendung, da es mit Erfahrungswissen, implizitem Wissen und Kontextwissen vergrößert und angereichert wird. Investitionen in Wissen sind eher mit „increasing returns“ als mit „decreasing returns“ verbunden (vgl. Dosi 1996). Dies hat zur Folge, dass auch wenn die Eigentumsrechte bei der Veräußerung von Wissensgütern genau wie bei materiellen Produkte in den Besitz des Kunden übergehen, sie dennoch in gewisser Weise Eigentum des Produzenten bleiben und von diesem weiter verwendet werden können. Es ist mit Schwierigkeiten verbunden, die weitere Verwendung von vorhandenem Wissen zu verhindern, insbesondere wenn es sich nicht um technische Artefakte oder Prozesse handelt. Wie Forschungen zu Wissensspillovers zeigen, kann vorhandenes Wissen unbeabsichtigt zu anderen Akteuren diffundieren und von diesen als positive Externalität genutzt werden. Zumindest in Teilen ist bereits existierendes Wissen ein öffentliches Gut. Das trifft in besonderem Maße auf explizites Wissen in digitalisierter Form zu, das relativ rasch verbreitet werden kann und entgegen der Intension des „Produzenten“ die Eigenschaften eines Kollektivgutes annehmen kann (Kujaht/Zillmer 2010). Eine zentrale Herausforderung in der Wissens ökonomie ist daher die Gestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen von Eigentums- und Urheberrechten in der Art, dass „immaterielle Wissensgüter“ ähnlich wie materielle Produkte privatwirtschaftlich vermarktet werden können, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung von Anreizen für den ungehinderten Austausch von W issen. Diese sind für die Exploration und Generierung von neuen Wissensprodukten unabdingbar. Strukturen und Prozesse Indikatoren auf der Makroebene erlauben lediglich eine begrenzte Abbildung der dargestellten komplexen wissensbasierten Interaktions- und Transaktionsprozesse innerhalb und zwischen Unternehmen, Netzwerken und Branchen. Es lässt sich jedoch anhand empirischer Makroindikatoren im langfristigen wirtschaftlichen Strukturwandel von Hochlohnländern eine kontinuierliche Verschiebung hin zu forschungs- und wissensintensiven Wirtschaftszweigen nachweisen. Die OECD schätzt, dass bereits 1996 über 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der größten OECD-Ökonomien auf wissensintensiven wirtschaftlichen Aktivitäten beruhte (OECD 1996: 9). 28 RegioPol eins + zwei 2011 Abbildung 2: Anteil der Beschäftigten in hochwertige und Spitzentechnologiesektoren des Verarbeitenden Gewerbes, 1997 – 2008 14 12 Anteil in % 10 8 6 4 2 0 1997 1998 1999 Deutschland EU 27 Finnland 2000 2001 2002 Schweden Spanien Tschechische Republik 2003 2004 2005 2006 2007 2008 UK Quelle: Eigene Darstellung nach Eurostat 2010b. Insbesondere die Entwicklungen von Erwerbs- und Beschäftigungsstrukturen belegen, dass diese Länder einen solchen Transformationsprozess durchlaufen. So ist die Zahl der Erwerbspersonen mit tertiärem Bildungsabschluss, der von Universitäten, Fachhochschulen und technischen Hochschulen verliehen wird, permanent gestiegen. In Ländern wie beispielsweise Finnland und Schweden hatte im Jahre 2008 bereits jede zweite erwerbstätige Person einen Universitätsund Hochschulabschluss. Der wachsende Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften spiegelt sich ebenfalls in den Erwerbslosenzahlen wider. Diese dokumentieren, dass Erwerbspersonen mit akademischem Bildungsabschluss in wesentlich geringerem Ausmaß von Erwerbslosigkeit betroffen sind. Für Deutschland liegt die Erwerbslosenquote der Arbeitnehmer ohne tertiären Bildungsabschluss um ein Fünffaches über derjenigen mit dieser Qualifikation. In den 27 Ländern der EU ist der Anteil der Humanressourcen in Wissenschaft und Technologie im letzten Jahrzehnt kontinuierlich gewachsen. Lag der durchschnittliche Anteil im Jahr 2000 noch bei 34 Prozent , waren es im Jahr 2008 bereits knapp 40 Prozent. Die nordeuropäischen Länder Schweden und F innland führen diese Entwicklung mit einem Anteil von 50 Prozent an. In Deutschland waren in Wissenschaft und Technologie 2008 rund 45 Prozent der Human ressourcen tätig. Es lässt sich darüber hinaus beobachten, dass auch innerhalb des produzierenden Gewerbes die wissensintensiven Tätigkeitsbereiche wachsen oder weniger stark von Beschäftigungsabbau betroffen sind. Industrielle produzierende Tätigkeiten unterlagen bereits seit den 1970er Jahren dem Abbau und der Verlagerung an Standorte mit niedrigen Lohnkosten. Forschungsintensive Spitzentechnologiesektoren, wie die Luftfahrt oder die Halbleiterindustrie, waren davon weniger stark betroffen. In vielen europäischen Ländern blieben deren Beschäftigungsanteile gleich oder sind sogar gering fügig gewachsen. Aber auch hier kann in den jüngeren Jahren seit 2002 und 2003 festgestellt werden, dass die Beschäftigung zurückgeht. Dies ist auf Verlagerungsprozesse, vor allem nach Osteuropa, zurückzuführen. Tschechien und andere osteuropäische Länder bieten ein großes Potenzial an hochqualifizierten Arbeitskräften und weisen ein dynamisches Wachstum in Spitzentechnologiesektoren auf (vgl. Abbildung 2). Vermehrt werden auch Schwellenländer, wie China und Indien, die in den letzten Jahren gezielt in ihre Innovationssysteme, in Bildung und Forschung investiert haben, zu Zielstand orten der Auslagerung von wissensintensiven Tätigkeiten. Letztere unterliegen ebenfalls Prozessen der Standardisierung und Modularisierung und können damit an räumlich entfernten Standorten erbracht werden. Empirisch erkennbar ist dies beispielsweise am Offshoring von Softwareentwicklung und von standardisierbaren Geschäftsprozessen in asiatische Länder. Der wirtschaftliche Strukturwandel hochentwickelter Volkswirtschaften hin zu wissensbasierten Ökonomien ist nicht nur durch den starken Bedeutungszuwachs von Dienstleistungen gekennzeichnet, sondern auch durch Urbane Zukunft in der Wissensökonomie 29 Abbildung 3: Anteil der Beschäftigten in wissensintensiven Dienstleistungsbereichen 60 50 Anteil in % 40 30 20 10 0 1997 1998 1999 Deutschland EU 27 Finnland 2000 2001 2002 Schweden Spanien Tschechische Republik 2003 2004 2005 2006 2007 2008 UK Quelle: Eigene Darstellung nach Eurostat 2010a. die kontinuierliche Ausdifferenzierung des Dienstleistungssektors. Deutlich werden anhand von empirischen Makroindikatoren erhebliche Strukturveränderungen. Die einzelnen Dienstleistungsbranchen unterscheiden sich in ihrer Entwicklungsdynamik und wirtschaftlichen Bedeutung ganz wesentlich in den europäischen Ländern. Im Dienstleistungssektor sind sowohl dynamisch wachsende als auch stagnierende und rückläufige Bereiche vorhanden. Unternehmensorientierte Dienstleistungen, die nicht für den privaten Konsum produziert werden, sondern von Unternehmen oder öffentlichen Institutionen nachgefragt werden, sind ein solches dynamisch wachsendes Segment. Sie sind Indikator dafür, dass die Trennung zwischen Produktion und Dienstleistungen die gegenwärtige Arbeitsteilung nur unzureichend widerspiegelt. Nicht die Substitution, sondern gerade das Zusammenspiel und die Interaktion zwischen wissensintensiver industrieller Produktion und darauf bezogenen Dienstleistungen besitzt erhebliche Bedeutung im Rahmen der technologischen sozioökonomischen Strukturveränderungen. Es sind vor allem die wissensintensiven unter den unternehmensorientierten Dienstleistungen, die sich als Wachstumsträger in OECD-Ländern erweisen. Dazu zählen beispielsweise technische und Engineering Dienste, IT-Dienstleistungen, Unternehmens- und Wirtschaftsberatung, Forschung & Entwicklung, Design, Werbung oder Marketing. In Deutschland beispielsweise hat sich die Anzahl der umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen im Bereich der wissensintensiven unternehmensorientierten Dienste im Zeitraum von 1996 bis 2008 um 152.238 erhöht. Das entspricht einem relativen Zuwachs von 49 Prozent , der gesamtwirtschaftlich über alle Branchen betrachtet, um ein Dreifaches über dem Wachstum der Unternehmensanzahl aller Wirtschaftszweige lag. Auch der größte Teil des Beschäftigungszuwachses der letzten Jahre entfällt auf wissensintensive Dienstleistungen. Die Wachstumsrate der Beschäftigung lag in den Jahren 1999 bis 2008 im Vergleich zu den Dienstleistungen insgesamt ebenfalls um ein Dreifaches höher (vgl. Abbildung 3). Man geht davon aus, dass sie fast 40 Prozent der Wertschöpfung erwirtschaften (vgl. EFI 2009), obwohl sie im internationalen Vergleich strukturell noch weniger entwickelt sind. Wissensintensive unternehmensorientierte Dienstleistungen entwickeln sich zu einem wesentlichen Treiber / zentralen Element der wissensbasierten Wirtschaft (vgl. Doloreux/Freel/Muller 2008, Strambach 2008). Forschungen auf der Mikroebene verdeutlichen, dass diese Unternehmen durch ihre immateriellen „Produkte“, die spezialisiertes Expertenwissen, Forschungs- und Entwicklungsleistungen und Problemlösungs-Know-how verbinden, einen wichtigen Beitrag zur Wissensdiffusion und Wissensentstehung leisten. In regionalen und nationalen Ökonomien übernehmen sie wesentliche Funktionen des Transfers, der Integration und der Adaption von Wissen. Durch ihre innovativen Dienstleistungsprodukte transferieren sie externes technologisches und nicht-technologisches Experten- und Management wissen an die Nachfrageseite. Sie tragen zum Austausch von Erfahrungswissen und „best practices“ aus unter- 30 RegioPol eins + zwei 2011 Abbildung 4: Exporte der Kreativwirtschaft 1996 – 2005 in Mio. Dollar 400.000 350.000 300.000 250.000 200.000 150.000 100.000 50.000 0 1996 1997 1998 Welt (gesamt) Entwickelte Ökonomien (gesamt) Sich entwickelnde Ökonomien 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 Asien Amerika Europa Quelle: Eigene Darstellung nach UNCTAD 2008: 262ff. schiedlichen Branchenkontexten bei. Im Rahmen von Problemlösungsprozessen für die Nachfrager integrieren sie vorhandenes, disziplinär und räumlich getrenntes Wissen und passen dieses an die spezifischen Bedürfnisse und Erfordernisse der Kunden an. Ein signifikanter Entwicklungsprozess, der Wissensökonomien kennzeichnet, ist darüber hinaus die Bedeutungszunahme von Innovationen für wirtschaftliche Wertschöpfungsprozesse, welche nicht primär auf technologisch wissenschaftsbasiertem Wissen beruhen. Dienstleistungsinnovationen und das dynamische Wachstum sowohl von unternehmensorientierten Dienstleistungen als auch von sogenannten „Kreativindustrien“ oder der „Kulturwirtschaft“ sind empirische Belege dafür. Wie bei allen neu entstehenden Wirtschaftsbereichen, die quer zu bestehenden Klassifikat ionen von Industriebranchen verlaufen, besteht derzeit noch keine einheitliche Definition oder Abgrenzung von Subsektoren, die unter Kreativoder Kulturwirtschaft subsummiert werden. Gemeinsam ist den vorhandenen unterschiedlichen Modellen, dass sie überwiegend erwerbswirtschaftlich orientierte Unternehmen erfassen, die sich mit der Schaffung, Produktion, Verteilung und medialen Verbreitung von kulturellen/kreativen oder medialen Gütern und Dienstleistungen befassen (UNCTAD 2008). Diese Unternehmen erzielen ihre primäre Wertschöpfung durch die immateriellen, symbolischen und ästhetischen Attribute ihrer Produkte 1 und Dienstleistungen. Die Basis ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten bildet die Kommodifizierung von sogenanntem „symbolischen Wissen“ über Kultur, über Wertvor stellungen, über gesellschaftliche Normen und soziale Repräsentationen. Ausschlaggebend für den Marktwert und die Nachfrage sind weniger der direkte Nutz- oder Gebrauchswert der Güter und Dienstleistungen, sondern deren symbolische und soziale Bewertung, beispielsweise bezogen auf die Zuschreibung von Lebensstilen, Sozialstatus oder ethischen Normen. Der erste Weltbericht über die Strukturen und Entwicklungen der Kreativwirtschaft, der im Jahr 2008 von UNCTAD (United Nations Conference on Trade and Development) in Zusammenarbeit mit mehreren UN-Organisationen erarbeitet wurde, verdeutlicht die Dynamik des globalen Austauschs von Gütern der Kreativwirtschaft1. Das Handelsvolumen der Kreativwirtschaft hat sich in den letzten zehn Jahren weltweit fast verdoppelt. Man geht heute von einem globalen Handelsvolumen dieser Branchen von über 420 Milliarden Dollar aus (vgl. Abbildung 4). Das bedeutet, dass die Kreativwirtschaft bereits über 3,5 Prozent des Welthandels ausmacht. Europa hat in diesem neuen Wirtschaftszweig unter den hochentwickelten Ländern eine sehr gute Position. UNCTAD schätzt, dass Europa in dieser Gruppe die Hälfte des Welthandels im Jahr 2005 dominierte. Die empirische Analyse auf globaler Ebene lässt erkennen, dass die Im Folgenden wird von Kreativwirtschaft gesprochen. Diese Terminologie scheint sich als übergeordneter Begriff in verschiedenen Analysen auf nationaler und regionaler Ebene durchzusetzen. Die Kreativwirtschaft umfasst mehrere Subsektoren, unter anderen die Kulturwirtschaft. Zur genauen Abgrenzung und Defini tion, die dem Weltbericht unterliegt (siehe UNCTAD 2008: 13ff). Urbane Zukunft in der Wissensökonomie Gruppe der sich entwickelnden Länder bislang diesen Wirtschaftsbereich noch kaum erschließen konnte. A llerdings spielen die aufstrebenden Schwellenländer Asiens, wie China und Indien, in dieser Gruppe schon eine beachtliche Rolle. Das dynamische Wachstum der Kreativwirtschaft, das global bezogen in allen Groß regionen festgestellt werden kann, wird als eine viel versprechende Perspektive für die Zunahme der Handelsströme zwischen Ländern, sowohl der entwickelten als auch der sich entwickelnden Ökonomien, bewertet. Der Kreativwirtschaft wird im globalen Strukturwandel ein hohes Potenzial zugesprochen, Einkommen und A rbeitsplätze zu schaffen sowie durch soziale Integration und kulturelle Diversität Entwicklung zu befördern (UNCTAD 2008). Betrachtet man die räumliche Organisation von wissensintensiven und kreativen Dienstleistungsbranchen genauer, offenbart diese jedoch ein vermeintliches Paradoxon. Obwohl Wissen an Handelbarkeit gewinnt und IuKTechnologien den Austausch und die Kodifizierung erleichtern, konzentrieren sich diese wirtschaftlichen Aktivitäten in urbanen Agglomerationsräumen. Diese Konzentrationen scheinen sich zu verstärken und wachstumsstarke Ballungsräume wie die Metropolregionen profitieren von diesen Entwicklungen. Für wissensintensive unternehmensorientierte und kreative Dienstleistungsunternehmen, die verschiedene Arten von Wissen – neben technologischem auch nicht-technologisches und symbolisches Wissen – in ihren Produkten kombinieren, haben Standorte in urbanen Agglomerationsräumen wesentliche Vorteile. Dazu zählen beispielsweise die hochwertige verkehrs- und kommunikationstechnologische Infrastruktur, die schnelle Erreichbarkeit von Kunden und Absatzmärkten und vielfältige Möglichkeiten des Aufbaus von Kooperationsnetzwerken zur Wissensproduktion in komplexen Projekten. Urbane Räume bieten die notwendigen flexiblen Arbeitsmärkte mit einem großen Potenzial an hoch qualifizierten A rbeitskräften. Entscheidend für diese Konzentrationen sind darüber hinaus dynamische Agglomerationsvorteile, die aus der Informationsdichte und aus schwer fassbaren W issensspillover-Effekten resultieren. Impulse für die Entstehung von wissensintensiven Dienstleistungsinnovationen werden in starkem Maße vom Markt vermittelt. Die Größe, Dichte und Heterogenität von urbanen Metropolregionen bieten vielfältige Möglichkeiten, von externen Wissensquellen zu lernen und vorhandenes Wissen anzureichern oder neu zu kombinieren. Allerdings können Infrastrukturausstattung oder Agglomerationsvorteile allein nicht erklären, dass Metropolregionen unterschiedliche sektorale Spezialisierungen wissensintensiver unternehmensorientierter und kreativer Dienstleistungsbranchen aufweisen, die sich langfristig als relativ stabil erweisen. Diese spezifischen Profile verdeutlichen Entwicklungspfade, die sich tendenziell im zeitlichen Verlauf verstärken, bedingt durch das komplexe Zusammenspiel von kumulativen, lokalen Lernprozessen, Wissensspillovers und der Herausbildung von standortgebundenen Institutionen und 31 Netzwerken (Simmie/Strambach 2006). Für Städte und Regionen ist es daher schwierig sich in wissensinten siven Dienstleistungsbranchen und kreativen Sektoren zu positionieren, in denen sie bisher nicht etabliert waren. Dies wird in Deutschland insbesondere an den urbanen Räumen der neuen Bundesländer deutlich, die durch unterdurchschnittliche Entwicklungen von wissensintensiven und kreativen Dienstleistungsbranchen gekennzeichnet sind. Neue Dynamiken in der Wissensökonomie Jüngere Forschungen zur Wissensökonomie liefern zunehmend signifikante empirische Belege für Veränderungen und neue Dynamiken in wissensbasierten Ökonomien. Sichtbar wird ein qualitativer Wandel in der Organisation von Innovation, der mit neuen Formen der Wissensproduktion verbunden ist. Innovationen basieren in steigendem Maße auf der Integration von verteiltem unternehmensexternen und -internen Wissen und erfolgen zunehmend in Arbeitsteilung (Schmitz/Strambach 2009). Prozesse der Modularisierung und Auslagerung betreffen inzwischen nicht nur wissensintensive Dienstleistungsaktivitäten, sondern, wie die Internationalisierung von F&E-Aktivitäten zeigt, die Wissensproduktion selbst. Durch den technologischen Wandel und die fortschreitende Fragmentierung und Ausweitung von globalen Wertschöpfungsketten haben Innovationsprozesse an Komplexität gewonnen. Bei der Entwicklung von neuen Technologien, Produkten, Prozessen und Dienstleistungen kommt es stärker darauf an, unterschiedliche hochspezialisierte Wissensbestände zusammenzuführen und zu kombinieren, die in verschiedenen sektoralen, technologischen oder räumlichen Kontexten lokalisiert sind. Die wachsende Bedeutung von externem Wissens für Innovationsprozesse wird empirisch besonders erkennbar an der Internationalisierung von Forschung und Entwicklung (F&E), die in den jüngeren Jahren an Geschwindigkeit gewonnen hat, in zunehmendem Maße Schwellenländer einschließt und nicht mehr nur auf die Anpassung von Technologie an ausländische Märkte ausgerichtet ist (OECD 2008). Unternehmen in Deutschland beispielsweise investieren in steigendem Maße in F&E im Ausland, nicht nur aus Kostengründen, sondern auch um Zugang zu spezialisierten und lokalisierten Wissensbasen zu bekommen. Umgekehrt lässt sich auch feststellen, dass ausländische Unternehmen viel stärker als in früheren Jahren in spezifische Wissensdomänen in Deutschland investieren (vgl. Abbildung 5). Multinationale Unternehmen sind wesentliche Akteure der Wissensökonomie, die zum internationalen Austausch räumlich dispers verteilten Wissens und der internationalen Zirkulation von hochqualifizierten Arbeitskräften beitragen. Während in den 1970er Jahren ungefähr 4.000 dieser Unternehmen vorhanden waren, expandierte ihre Zahl erheblich. Man geht davon aus, 32 RegioPol eins + zwei 2011 Abbildung 5: F&E-Gesamtaufwendungen 1995 – 2007 Ausländische Unternehmen in Deutschland 14 Mrd. Euro Töchter deutscher Unternehmen im Ausland 14 12 12 10 10 8 8 6 6 4 4 2 2 0 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 0 Mrd. Euro 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 Quelle: Stifterverband Wissenschaftsstatistik 2010: S. 42. dass im Jahre 2005 bereits mindestens 61.000 multi nationale Unternehmen weltweit tätig waren. Einige dieser Unternehmen investieren in absoluten Zahlen international mehr als gesamte Volkswirtschaften in F&E, und damit in den Aufbau und den Transfer von W issen (UNCTAD 2005). Daran zeigt sich bereits, dass die internationalen räumlichen Verflechtungen von F&E eine starke Ausweitung erfahren haben. Die unter liegenden Ursachen zeichnen ein komplexes vielschichtiges Bild und können nicht allein auf niedrige Kosten zurückgeführt werden, wie empirische Studien verdeutlichen. Die Internationalisierung von Innovationsaktivitäten geht inzwischen weit über den Teilbereich der F&E hinaus. Auch Innovationsprozesse in wissensintensiven Dienstleistungen wie Design, Marketing oder Branding, die weniger auf analytisch wissenschaftsbasiertem W issen, sondern vielmehr auf symbolischem Wissen fußen, werden stärker netzwerkbasiert entwickelt. Innovationen, die auf sogenannten kombinatorischen Wissensentstehungsprozessen basieren, gewinnen in der Wissensökonomie erheblich an Bedeutung. Als beobachtbarer Ausdruck dieses Wandels kann die Entstehung neuer Branchen angesehen werden, welche an der Schnittstelle verschiedener Wissensbasen angesiedelt sind. Unternehmen aus Bereichen wie Biotechnologie, Nanotechnologie oder regenerativen Energien ent wickeln Innovationen und neues Wissen nicht nur in Feldern, welche lange Zeit separiert waren, ihre Ent wicklung ist zudem von hoher Wachstumsdynamik geprägt. Auch die Entstehung von neuen Geschäftsmodellen und Dienstleistungsinnovationen, beispielsweise in der Gesundheitswirtschaft oder der Kreativwirtschaft, erfordert die Zusammenführung und Kollabora tion heterogener unternehmensinterner und externer Akteure, die unterschiedliche Positionen in der Wertschöpfungskette besetzen und/oder in unterschied lichen Branchenkontexten und Räumen lokalisiert sind. Der Wandel von Wissensdynamiken durch die Internationalisierung von Innovation und durch neue Formen der Wissensentstehung stellt Unternehmen und Regionen gleichermaßen vor neue Herausforderungen. Die kumulative Wissensbasis und Spezialisierungen auf der Ebene von Unternehmen und Regionen, bilden zwar nach wie vor die Ausgangsbasis für Innovationsprozesse, es zeichnet sich jedoch ab, dass es wichtiger wird, Wissen, das an verschiedene Trägern, Institutionen, Disziplinen und Branchen gebunden ist, zu kombinieren, zu integrieren und in Innovationsprozessen lokal zu verankern. Diese Verankerung kann nicht als einfache Aufgabe oder punktuelles Ereignis angesehen werden, sondern ist ein komplexer dynamischer Organisationsprozess, bei dem vielfältige kognitive und oft auch kulturelle Barrieren die erforder liche Integration der Wissensteile erschweren. Die soziale Dimension wirtschaftlichen Handels hat bei der Entstehung und dem Austausch von immateriellen Wissensprodukten eine ungleich größere Bedeutung als bei Trans aktionen, die auf materielle Güter gerichtet sind. Bei Innovationen, die auf derartigen kombinatorischen Wissensdynamiken basieren, müssen von den Akteuren vielfältige technologische, organisatorische, sektorale und räumliche Grenzen überwunden werden, die die Kommunikation, den Austausch von Erfahrungswissen und die Produktion von neuem Wissen behindern. Urbane Zukunft in der Wissensökonomie Quellen: Dosi, G. (1996): The contribution of economic theory to the understanding of a knowledge-based economy. In: OECD (Hg.): Employment and growth in the knowledge-based economy. Paris, S. 81 – 92. Doloreux, D.; Freel, M.; Muller, E. (2008): Special issue: Knowledge-intensive business Services (KIBS). In: International Journal of Science and Technology Management, 10 (2, 3, 4). 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United Nations Publication – New York, Genf. 33 34 RegioPol eins + zwei 2011 Urbane Zukunft in der Wissensökonomie 35 Peter Hall Die Zukunft der Städte im Zeitalter der wissensbasierten Ökonomie I m Verlauf der letzten drei Jahrzehnte wurde immer offensichtlicher, dass der Abschied von der alten, fertigungsbasierten Wirtschaft, die das 19. und frühe 20. Jahrhundert geprägt hat, zu neuen räumlichen Disparitäten führt. Mit dem Übergang zur dienstleistungsbasierten Wissensökonomie haben sich in den entwickelten Volkswirtschaften der Welt deutliche Unterschiede in der Leistungsfähigkeit von Städten und Regionen herauskristallisiert. Eine Reihe von Studien haben in den letzten Jahren eingehende Vergleiche europäischer Städte im Hinblick auf diese äußerst wichtige Frage vorgenommen. Die erste war der Bericht „State of the English Cities“ (Zustand der englischen Städte), der 2006 von der britischen Regierung veröffentlicht wurde. Er weist auf die „wachsende Erkenntnis des zweischneidigen Charakters vieler ökonomischer Veränderungen in Städten hin. Die Suche nach wirtschaftlichem Wachstum hat nicht immer zu sozialer Gerechtigkeit geführt; tatsächlich war sie häufig mit sozialer Aus grenzung verbunden.“ Und er betont, schrumpfende große Industriestädte mit überkommenen Wirtschaftsstrukturen, „weniger qualifizierten Arbeitskräften und beachtlichen Gemeinschaften von Einwanderern sind anderen Schwierigkeiten ausgesetzt als schnell wachsende, auf Hightech-Branchen basierende Städte.“ Britische Städte weichen vom europäischen Muster ab Der Bericht zeigt große Unterschiede zwischen den europäischen Städten in der Bruttowertschöpfung (BWS) pro Kopf. Die meisten Städte in Europa spielen gewissermaßen oberhalb ihrer nationalen Liga: Sie zeigen eine bessere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als der Durchschnitt ihres Landes, aber interessanterweise gilt dies für die Städte in Großbritannien nicht. Ihre ökonomische Performance bleibt nicht nur hinter den Städten des europäischen Festlandes in Ländern wie Deutschland und Frankreich zurück, sondern liegt sogar unter dem nationalen Durchschnitt im United Kingdom (vgl. b Shell Center, London Abbildung 1). Dabei zeigt sich auch, dass viele der am schnellsten wachsenden Städte und Gemeinden in England im südlichen Teil des Landes liegen, in Gegenden, die früher einmal landwirtschaftlich geprägt waren, die jetzt aber vom Wachstum in den Hightech-Branchen und im Dienstleistungssektor allgemein profitieren. Dagegen erweisen sich die Städte mit der geringsten Leistungsfähigkeit im Wesentlichen als die alten Indus triestädte und -gemeinden im Norden Englands – ein entscheidender Unterschied. Im Hinblick auf die Anzahl von Arbeitsplätzen in der wissensbasierten Ökonomie erweisen sich europäische Städte grundsätzlich als stark, obwohl erneut die eng lischen Städte weniger leistungsfähig sind als ihre Pendants auf dem europäischen Festland. Europäische Städte sind auch hoch innovativ, aber wieder gibt es große Unterschiede zwischen sehr erfolgreichen Städten, insbesondere in Deutschland und Skandinavien, und alten Industriestädten. Die Bedeutung von Hochschulbildung, gemessen an der Zahl der Studierenden an Universitäten und anderen Hochschuleinrichtungen, zeigt ein differenzierteres Bild. Auch hier scheinen die großen UK-Städte trotz ihrer starken Universitäten proportional weniger Anziehungskraft auf Studierende auszuüben als kleinere Orte wie Oxford und Cambridge und daher grundsätzlich hinter vergleichbaren Regionen zurückzubleiben. Im Vergleich mit dem europäischen Festland ist das ein äußerst ungewöhnlicher Befund. Bei Hightech-Fertigungsprozessen sind Städte tendenziell stark, aber auch dort gibt es gravierende Unterschiede: Vielen britischen Städten gelingt es wieder nicht, im Vergleich mit dem nationalen Durchschnitt angemessen abzuschneiden. Und ein ähnliches Bild zeichnet sich in den Hightech-Dienstleistungssektoren ab, die überall in Europa von großer Bedeutung sind und eine hohe ökonomische Dynamik aufweisen. Das Grundmuster ist also eindeutig: UK-Städte liegen hinter vielen Städten auf dem europäischen Festland und auch hinter dem UK-Durchschnitt zurück. Das bedeutet, dass es in Groß britannien die kleineren Städte oder Gemeinden sind, die besser dastehen als die Großstädte. RegioPol eins + zwei 2011 Abbildung 1: Nationale und städtische wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit: Ein Vergleich BIP pro Einwohner (in Euro) 2001 80.000 BIP der Städte Nationales BIP 70.000 60.000 50.000 40.000 30.000 20.000 10.000 Liverpool Newcastle Manchester Birmingham Looda Bristol Barcelona Lille Toulouse Lyon Turin Mailand Helsinki Stockholm Rotterdam Amsterdam Kopenhagen Dortmund Stuttgart München 0 Frankfurt 36 Quelle: State of the English Cities report, 2006. Soziale Ungleichheit nimmt zu Der britischen Studie von 2006 kann eine neuere Untersuchung von 2007 gegenübergestellt werden: ein Benchmarking der europäischen Städte (State of European Cities Report), der von ECOTEC für die Europäische Kommission durchgeführt wurde. Die Studie zeigt auf diesem Feld europaweit sehr große Abweichungen. Die größte bestand zwischen den westeuropäischen Staaten und den neuen EU-Mitgliedern, die in den Jahren 2004/2007 beigetreten sind und zu diesem Zeitpunkt noch zurücklagen. Aber die gute Nachricht dieser Studie war, dass sich osteuropäische Städte selbst dann von einem niedrigen Niveau aus sehr schnell nach vorne bewegten und in einigen Fällen manche der größeren osteuropäischen Städte wie Prag oder Warschau nach drei Jahren begannen, Konvergenzen zu zeigen. Es gibt hier auch ermutigende Nachrichten für das UK: Obwohl London immer noch besser dasteht als jede andere Stadt, beginnen einige der so genannten provinziellen Kernstädte wie Manchester, Leeds und Newcastle zu London aufzuschließen. Die Untersuchung von 2007 bestätigt die frühere UK-Studie: Viele Städte – besonders in Großbritannien – schneiden unterdurchschnittlich ab und bleiben hinter den nationalen Vergleichszahlen zurück. Selbst einige der bedeutenden Hauptstädte wie London, Paris und Madrid zeigen eine hohe Arbeitslosigkeit. Eine gute Leistungsfähigkeit ist tendenziell auf Städte in Nordwest- und Nordeuropa beschränkt, während zu diesem Zeitpunkt die süd- und osteuropäischen Städte noch unterhalb des Durchschnitts liegen. Die wichtigste Erklärung für Beschäftigungswachstum in den Städten ist die Demografie: Es gibt immer noch einen starken Bevölkerungszuwachs in vielen dieser leistungsfähigen Städte, der eine Art Kreislauf mit sich bringt: Eine starke Wirtschaftsleistung lockt neue Zuwanderer in die Stadt und eine schwache Wirtschaftsleistung bewirkt das Gegenteil. Einige Städte in Westeuropa zeigen auch starke natürliche Zuwächse aus Zuwandererfamilien und diese Kinder werden ins Erwerbsleben eintreten – t atsächlich haben es einige von ihnen bereits getan und eine entscheidende Frage wird dann sein, wie gut sie für die Teilhabe an der neuen Wissensökonomie gerüstet sind. Dies ist ein Problem, weil die Unterschiede bei den Einkommen innerhalb der Städte am größten sind, in denen die Arbeitslosigkeit insgesamt am höchsten ist. Und im UK zeigt eine neue Studie von Danny Dorling an der Universität Sheffield größere Einkommensunterschiede in unseren Großstädten auf, als wir sie über viele Jahre hatten – in einem Vergleich seit dem Ende des ersten Weltkrieges 1918 und einem anderen seit den 1850er Jahren, auf dem Höhepunkt der industriellen Revolu Urbane Zukunft in der Wissensökonomie tion. Dies ist ein alarmierender Befund für größere Disparitäten in den Städten, vergegenwärtigt durch den offensichtlichen Gegensatz zwischen sehr gut ausgebildeten, hoch qualifizierten und spezialisierten Personen, die in der Wissensökonomie vorwiegend in Branchen wie Finanzdienstleistungen oder Medien arbeiten und sehr hohe Gehälter und Boni bekommen, und auf der anderen Seite sehr schlecht bezahlten, kürzlich in die Städte zugewanderten Menschen, die elementare Dienstleistungen verrichten. Vielleicht ist dies eine Art Zwischenstation, die sich letztendlich selbst auflösen wird, sobald die Kinder der Einwanderer das Bildungssystem durchlaufen und sich damit für die neuen Berufe in der New Economy qualifizieren. Aber es ist nicht davon auszugehen, dass das automatisch passiert – wenigstens für eine lange Zeit –, weil es, wie ebenfalls in Danny Dorlings neuer Studie hervorgehoben wird, ziemlich große Bildungsunterschiede zwischen den Kindern von Beschäftigten der Wissensökonomie, die die besten Schulen besuchen können, und den anderen Kindern, die oft in die am schlechtesten beurteilten Schulen gehen müssen und daher die schlechtesten Leistungen hervorbringen. Das ist ein sehr wichtiges Thema für die britische Politik und auch in anderen europäischen Staaten. Ein sinnvoller Weg zum Vergleich von Städten, der im ECOTEC-Bericht gegangen wird, benutzt den so genannten Lissabon-Benchmark – ein zusammengesetztes Maßsystem, das auf der Lissabon-Agenda der EU basiert und Produktivität, Anteil der Erwerbstätigen, Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer, Langzeitarbeitslosigkeit, ältere arbeitsfähige Personen, Bildungsniveau der Jugend und Jugendarbeitslosigkeit misst (vgl. Abbildung 2). Es zeigt sich wieder ein bemerkenswerter Gegensatz zwischen westeuropäischen Städten mit absolut brillanter Leistungsfähigkeit – sehr stark sind besonders London, Paris und Madrid – und der sehr viel schwächeren Leistung (nach Zahlen von 2007) von ost- und südeuropäischen Städten. Dies offenbart scheinbar ein anhaltendes Problem. Es ist komplex, weil es keine absolute Beziehung zur Stadtgröße gibt, eher eine subtilere zu ei- 37 ner Reihe von Faktoren einschließlich Zu- und Abwanderung sowie eine Verbindung mit den unterschiedlichen Geschwindigkeiten beim Übergang von der alten Fertigungswirtschaft zur neuen wissensbasierten Ökonomie. Erfolgsfaktor: Anschluss an Wissensökonomie Die Studie entwickelt ein Kategoriensystem von europäischen Stadttypen. Wie Abbildung 3 zeigt, haben die Analysten die Städte in dreizehn Typen unterteilt und diese wiederum in drei Hauptgruppen zusammengefasst und sie hinsichtlich ihrer Wirtschaftsleistung (auf der vertikalen Skala) und Einwohnerzahl (auf der horizontalen Skala) angeordnet. Es zeichnet sich ab, dass die wirklich erfolgreichen Städte in der oberen rechten Ecke diejenigen sind, die den Übergang zur Wissensökonomie am schnellsten bewältigen, und umgekehrt befinden sich unten links die alten Industriestädte, die teilweise recht erfolglos versuchen, den Wandel zu vollziehen. Die Verfasser des Berichtes legen dar, wie diese unterschiedlichen Stadttypen bei einzelnen Indizes – Schaffung von Arbeitsplätzen, qualifizierte Arbeitskräfte und multimodale Verbindungen – verschiedene Leistungsniveaus aufweisen. Die erste, sehr interessante Hauptgruppe stellen die so genannten internationalen Drehkreuze: die großen Städte, die die Wachstumsliga anführen. Sie sind reich und wachsen; sie beinhalten etablierte Hauptstädte wie London, Paris und Madrid, denen es gut geht, die aber mit lokaler Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben. Diese etablierten Hauptstädte zeigen im Allgemeinen eine sehr starke Performance, wenn auch etwas geringer als die der zweiten Kategorie, der so genannten Wissenszentren. Die dritte Kategorie in dieser Hauptgruppe sind so genannte neu definierte Hauptstädte, im Wesent lichen aus Osteuropa: Ihre Einwohnerzahlen sinken aufgrund von Abwanderung, aber ihre Wirtschaft wächst und ihre wirtschaftliche Entwicklung ist in den Jahren seit 2007 sehr positiv. 38 RegioPol eins + zwei 2011 Abbildung 2: Die Lissabon-Agenda: Städtische Leistungsfähigkeit im Vergleich Kanaren (ES) Größe der Kreise ist relativ zur Kernstadt*-Bevölkerung im Jahr 2001 5.000.000 1.000.000 500.000 100.000 Guadeloupe Martinique Réunion Französisch-Guayana (FR) * Metropolregion London und Paris et petite couronne (Paris mit den drei angrenzenden Departments) Madeira Der Lissabon-Benchmark Kategorien nach Quintilen (Fünftelwerten) in Kernstädten 2001 5 stark 4+ 3 mittel 21 schwach Daten nicht verfügbar Quelle: State of the European Cities Report, 2007. Azoren (PT) Der Indikator basiert auf den folgenden Variablen: 1) BIP pro Einwohner in KKS 2) Anteil der Einwohner in Selbstständigkeit + in abhängi ger Beschäftigung an der gesamten Einwohnerzahl der 15- bis 64-Jährigen 3) Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer 4) Langzeitarbeitslosigkeit (kontinuierlich für mehr als ein Jahr) in der Bevölkerungsgruppe der 55- bis 65-Jährigen 5) Schüler in weiterführenden Bildungseinrichtun gen + Studierende in Hochschuleinrichtungen 6) Jugendarbeitslosigkeit (kontinuierlich für mehr als sechs Monate) in der Bevölkerungsgruppe der 15- bis 24-Jährigen Der Indikatorwert ist nicht dargestellt, wenn mehr als 3 Variablen nicht verfügbar sind. Urbane Zukunft in der Wissensökonomie Die nächste Hauptgruppe im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit, die spezialisierten Dienstleistungszentren, beinhaltet sechs Typen. Der erste Typ sind die nationalen Dienstleistungszentren: Dieses sind Orte wie Hannover, Brünn in Tschechien, Sevilla in Spanien oder Utrecht in den Niederlanden. Es geht ihnen einigermaßen gut, weil sie eine große administrative Rolle spielen, manchmal natürlich als Landeshauptstädte wie im Fall von Hannover. Die nächste Kategorie in dieser Hauptgruppe der spezialisierten Zentren sind die so genannten Transformationszentren: Dies sind alte Industriestädte, die bei der Anpassung an die New Economy mehr oder weniger erfolgreich sind. Es ist eine sehr interessante Gruppe; sie beinhaltet eine Reihe von britischen Städten wie Glasgow und Birmingham sowie auch Städte wie Lille in Frankreich, Turin, in letzter Zeit sehr erfolgreich in Italien, oder Pilsen in Tschechien. Die dritte Gruppe sind die so genannten Gateways, die im Wesentlichen transportorientiert sind, oft Hafenstädte wie Antwerpen, Marseille, Santander, Neapel (Napoli), Genua (Genova) oder Rotterdam. Sie vollziehen einen Wandel zur New Economy, aber der nimmt sehr oft die Form von kapitalintensiver Beschäftigung an wie bei Container häfen, die nicht sehr viele Menschen beschäftigen, sodass solche Städte eigentlich oft durch relativ hohe Arbeitslosenquoten und insgesamt etwas unqualifizierte Arbeitskräfte charakterisiert sind. Der nächste Typus ist eine andere Gruppe spezialisierter Zentren, die modernen Industriezentren: Diese Hightech-„Kraftwerke“ Europas weisen tatsächlich starke Wirtschaftsleistungen auf. Es sind oft mittelgroße oder sogar relativ kleine Städte wie Augsburg in Deutschland, Cork in der Republik Irland oder Tilburg in den Niederlanden, gemeinsam mit ein oder zwei osteuropäischen Städten wie Posen sowie Göteborg in Schweden. Die nächste Gruppe ist eine noch mehr spezialisierte, die so genannten Forschungszentren, kleinere Städte mit einem hohen BIP pro Kopf, einschließlich solcher Beispiele wie Darmstadt in Deutschland, Karlsruhe nahe Bayern in Süddeutschland, Grenoble in den französischen Alpen, Eindhoven in den Niederlanden oder – ein 39 hervorragendes Beispiel – Cambridge in England. Diese finden sich unter den erfolgreichsten Städten und trotzdem sind es relativ kleine Städte, die dort angesiedelt sind, wo sich früher ländliche, landwirtschaftliche Gebiete abseits der Hauptindustrieregionen befanden. Eine weitere Kategorie hier sind die so genannten Besucherzentren, touristische Orte wie Verona in Italien, Krakau in Polen oder Trier in Deutschland; dies sind Städte, die hochspezialisiert auf touristische Dienstleistungen sind. Sie haben ein durchschnittliches BIP pro Kopf, manchmal mit einigen Problemen durch eine einkommensschwache Bevölkerung und saisonale Beschäf tigung. Die dritte Hauptgruppe besteht aus den so genannten regionalen Zentren und hier fangen wir an; einige der Problemfälle Europas zu sehen. Die erste Kategorie ist besonders problematisch, sogenannte deindustrialisierte Städte: Sie enthält viele UK-Städte – Sheffield ist ein Beispiel – und auch viele kleinere Städte in Nordengland, Schottland, Wales und ebenso belgische Städte wie Charleroi oder Lüttich sowie eine Reihe osteuropäischer Städte, einschließlich einiger Städte in den neuen deutschen Bundesländern wie Halle oder Kattowitz in Polen, oft alte Kohlebergbau- oder Schwerindustriestädte, die Schwierigkeiten mit dem Übergang in die neue Wissensökonomie haben. Ein zweiter Typus in dieser Gruppe sind die regionalen Marktzentren, die eine Schlüsselrolle in ländlichen Gemeinden spielen, aber manchmal unter schwachen Anbindungen an den Rest der Welt leiden. Sie sind im Allgemeinen in früheren industriellen Gebieten zu finden: Erfurt in Deutschland, das die Landeshauptstadt von Thüringen ist, Reims im Nordosten Frankreichs oder Palermo auf Sizilien. Es geht ihnen relativ gut, aber sie haben einige Probleme. Eine verwandte Kategorie, die so genannten Regionalzentren öffentlicher Versorgungsleistungen, sind gewöhnlich wieder kleinere Orte in üblicherweise ländlichen Gebieten – Schwerin in Deutschland, Odense in Dänemark, Lublin in Polen oder Umeå ganz im Norden Schwedens. Sie verzeichnen ein starkes Wachstum der Verwaltung in Regionen, die ei- 40 RegioPol eins + zwei 2011 Abbildung 3: Dreizehn Stadttypen: Wirtschaftsleistung nach BIP/Kopf 200 BIP pro Kopf – im Vergleich zum Landesdurchschnitt 175 Neu definierte Hauptstädte 150 Spezialisierte Zentren 125 Regionale Zentren 50 Wissenszentren Etablierte Hauptstädte Forschungszentren 100 75 Internationale Drehkreuze Satellitenstädte Besucherzentren Regionale Marktzentren Regionalzentren öffentl. Versorgungsleistungen Moderne Industrie zentren Nationale Dienstleistungs zentren Gateways Transformations zentren Deindustrialisierte Städte 25 0 100.000 250.000 350.000 800.000 1.000.000 2.000.000 Einwohner der Kernstadt Quelle: State of European Cities Report, 2007. gentlich relativ ländlich geprägt sind, sind aber schwächer im Bereich der marktwirtschaftlichen Dienstleistungen. Und eine andere Kategorie hier – hoch spezialisiert – sind so genannte Satellitenstädte einschließlich unserer britischen New Towns; solche Orte sind Stevenage, aber auch kleinere, dicht an größeren Städten gelegene Plätze, wie zum Beispiel Gravesham östlich von London am Thames Gateway (Themse- Mündungsgebiet) oder Worcester, nahe bei Birmingham in den englischen West Midlands. Diese sind, anders als die letzten drei Typen, im Allgemeinen leistungsfähig, weil sie Pendlerstädte sind; sie schicken Arbeitskräfte in die benachbarte große Dienstleistungsstadt, die dann ihre Gehälter zurück in ihre Heimatstadt bringen und sie dort ausgeben und damit eine Art lokaler ökonomischer Basis schaffen. Das erweist sich als ziemlich erfolg reiches Rezept und führt in einigen Teilen Europas, wie in Südostengland, zum Entstehen riesiger so genannter Metropolregionen, die sich bis ungefähr 160 Kilometer von London entfernt erstrecken und zu denen bis zu 50 dieser kleineren Städte und Gemeinden gehören, die alle in gewisser Weise London untergeordnet oder von London abhängig sind. Die Metropolregion Randstad in den Niederlanden ist ein ähnliches Beispiel und v ielleicht auch die Regionen um München und Stuttgart herum sowie besonders das Rhein-Main-Gebiet rund um Frankfurt. Dieses sind also die Haupttypen, die in der ECOTEC-Studie von 2007 über die Leistungsfähigkeit europäischer Städte charakterisiert sind. Vor Ort sein, um teilhaben zu können Die Abbildung 3 zeigt im Wesentlichen, dass es spezialisierte Orte gibt, die den Übergang in die neue Wissensökonomie hervorragend gemeistert haben (oben rechts) und die sich von den viel weniger erfolgreichen Städten (unten links), hauptsächlich kleineren älteren Industriestädten einschließlich einer Reihe in Osteuropa, abheben. Dazwischen befindet sich eine mehr gemischte Gruppe von Städten mit einer mäßig guten ökonomischen Leistungsfähigkeit, die aber einige Probleme haben. Verschiedene Analysen der Performance dieser Stadttypen zeigen ein einheitliches Bild, das zudem die Feststellungen der UK-Studie bestätigt. Und das wesentliche Ergebnis liegt in der Erkenntnis, dass einigen kleineren Städten der Übergang zur New Economy grundsätzlich leicht fällt, teilweise, weil sie beispielsweise über Universitäten und starke Forschungszentren verfügen; während es im Gegensatz dazu einige Städte extrem schwierig finden, diesen Wandel zu bewerkstelligen, weil sie die Last alter Industrien zu tragen haben, die mehr oder weniger im Verschwinden begriffen sind und deren frühere Arbeitskräfte unzureichend ausgebildet oder zu wenig qualifiziert sind, um als Pfeiler der neuen Dienstleistungsgesellschaft zu fungieren. Trotzdem vollziehen einige größere Städte, besonders die größten Hauptstädte, den Wandel zum wissensbasierten Dienstleistungsgewerbe – zum Beispiel Finandienst leistungen und Medien – relativ erfolgreich. Allerdings Urbane Zukunft in der Wissensökonomie 41 Abbildung 4: Vier große städtische Motoren des Wirtschaftswachstums Museen Multimedia Kreativ & Kulturell Live-Unterhaltung Tourismus Lebensversicherung Derivatenhandel Tourismus Finanz- & Unternehmensdienstleistungen International Banking Allgemeiner Einzelhandel Fertigung Macht & Einfluss Restaurants Spezialisierte Unternehmensdienstleistugen Dezentrale Einrichtungen Quelle: Four World Cities report, 1997. lassen sie auf ihrem Weg einige Bevölkerungsgruppen zurück, die nicht in gleicher Weise am Übergang zur New Economy beteiligt sind. Damit häufen sich in manchen Quartieren dieser Städte die Probleme. Dieser Punkt ist in Abbildung 4, einer 1997 für die britische Regierung durchführten Studie (Four World Cities) veranschaulicht, die den Informationsaustausch in der neuen Wissensökonomie in den Mittelpunkt stellt, speziell in vier Sektoren: erstens Finanz- und Unter nehmensdienstleistungen, zweitens Macht und Einfluss (oder Führung und Kontrolle), womit Regierungs- und wirtschaftliche Zentralen gemeint sind, drittens Kreativund Kulturwirtschaft und viertens städtischer Tourismus. Jeder dieser Bereiche hat eine lokale, eine nationale und eine internationale Komponente. Ein aufschlussreiches Beispiel bietet der Tourismus: Der Londoner geht ins Theater oder besucht Kunstgalerien oder Museen, um sich die neuen Ausstellungen anzusehen, aber er sitzt oder steht dort Seite an Seite mit Menschen aus anderen britischen Regionen und auch vielen Besuchern aus anderen Teilen Europas und von überall auf der Welt. Dasselbe Prinzip lässt sich auf j eden der anderen Sektoren anwenden. Noch viel interessanter ist allerdings, dass diese vier Hauptsektoren hoch synergetisch miteinander verbunden sind und v iele der entscheidenden Aktivitäten in den Räumen zwischen ih- nen erfolgen. Also, zwischen Tourismus und der Kreativund Kulturwirtschaft gibt es Theater, Gale r ien und Nachtleben; zwischen Kreativ- und Kulturwirtschaft und Macht und Einfluss existieren Werbung und unterschiedliche Arten von Öffentlichkeitsarbeit sowie die Medien; zwischen Finanz- und Unternehmens dienstleistungen gibt es juristische Dienstleistungen, Wirtschaftsrecht, Rechnungswesen und Marketing, und zwischen dem Macht- und Einflusssektor und dem Tourismus finden wir Restaurants, Geschäfte, Ausstellungen und Konferenzen. Tatsächlich sind solche Aktivitäten in fast allen der Zwischenräume zu lokalisieren. Somit – nicht nur in London, sondern in allen erfolgreichen Städten – werden all diese Aktivitäten gleichzeitig in einer sehr erfolgreichen synergetischen Weise in die Hauptsektoren eingespeist und von ihnen genährt. In der Studie haben wir dieses für vier wirklich globale Metropolen gezeigt: London, New York, Paris und Tokio. Dasselbe Prinzip kann auch auf viele kleinere Städte angewendet werden. Insgesamt dienen jeder dieser Sektoren und die dazwischenliegenden Aktivitäten gleichzeitig in einer sehr erfolgreichen Art und Weise der lokalen, der nationalen und der globalen Wirtschaft. Deshalb ist eine der interessantesten Fragen für die heutige Politik, inwieweit sich diese synergetischen Beziehungen in den großen europäischen Hauptstädten wie 42 RegioPol eins + zwei 2011 Die große Gefahr für den Aufholprozess dieser Städte besteht darin, dass sie alle versuchen zu konkurrieren, indem sie das Gleiche tun. London, Paris, Madrid und Berlin nach unten und nach außen ausbreiten können. Können sie auf das nächste Niveau von Städten ausgreifen oder übertragen werden und dann auf die nächste Ebene darunter, die kleineren Städte, einschließlich jener ehemaligen Industriestädte, die oft die allergrößten Probleme haben? Der letzte Punkt ist – wie man es dreht und wendet, dass viele dieser Aktivitäten Face-to-Face stattfinden: Man muss dort sein, um daran teilhaben zu können. Das gilt ebenso für den Touristen wie für den Händler in einer Londoner Bank oder den Angestellten, der in einem Büro in der Konzernzentrale eines Großunternehmens arbeitet – man muss sich Face-to-Face treffen. Bei dem Vorfall im Frühjahr 2010, als die Vulkanaschewolke aus Island den Flugverkehr zum Erliegen brachte, mussten wir feststellen, wie destruktiv der Ausfall persönlicher Begegnungen tatsächlich sein kann. Wir warten noch auf die Berechnung der wirtschaftlichen Einbußen, die die Weltwirtschaft durch diesen Verlust der Face-toFace-Synergien erlitten hat. Das Ergebnis wird in einem zentralen Punkt veranschaulichen, wie Städte funktionieren. Der letzte Punkt ist also, dass einige dieser Aktivi täten von den großen in kleinere Städte exportier werden können, Museen und Galerien können eröffnet und Tourismus kann in kleineren Städten außerhalb der großen Hauptstädte gefördert werden. Zum Teil können Medienaktivitäten verlagert werden. Im Jahr 2011 lagert die BBC einen wichtigen Teil ihrer gesamten Aktivitäten von London nach Manchester aus und es wird sich zeigen, wie gut das funktioniert. Aber das Paradoxon ist, dass in dem Moment der Auslagerung in die Peripherie immer neue Aktivitäten in den großen Städten entstehen, um den vakanten Platz einzunehmen. Dieser Vorgang stellt einen Prozess ständiger Auffrischung dar, was bedeutet, dass die anderen Städte in diesen Bereichen vielleicht etwas wachsen können, dass aber die wirklich großen Städte ihnen tendenziell überlegen bleiben. Lebensqualität und kreative Milieus Richard Floridas berühmtes Argument besagt, dass die New Economy auf eine neue kreative Klasse angewiesen ist, dass diese neue Klasse tendenziell gern an bestimmten Orten lebt wie etwa San Francisco und an anderen nicht, dass sie nicht von harten Faktoren angelockt wird, nicht einmal von einem guten Flughafen, sondern von eher unbestimmbaren weichen Faktoren wie der Lebensqualität oder einer offenen und freien Stadtatmosphäre. Florida argumentiert weiter, dass er den Erfolg einer Stadt, sich auf diese neue kreative Ökonomie zuzubewegen, anhand der Anzahl von künstlerisch tätigen Leuten wie Schriftstellern, Designern, Musikern, Schauspielern, Regisseuren usw. messen kann, weil diese einen zuverlässigen Indikator für den Erfolg der jeweiligen Stadt darstellen. Hier gilt es, einen Augenblick innezuhalten: So attraktiv das Argument auch ist, es stellt sich doch die Frage nach Ursache und Wirkung. Vielleicht ist es so, dass diese erfolgreichen Orte zufällig von den ökonomischen Sektoren dominiert werden, die solche kreativen Menschen in großen Mengen beschäftigen. Außerdem könnte es eher ein Kreislauf sein: Angenommen, es gibt eine Stadt, die erfolgreich wachsende wirtschaftliche Aktivitäten in der Wissensökonomie verzeichnet, das würde vorübergehend begabte Arbeitskräfte anziehen, die dann kommen und wiederum neue Aktivitäten und neues Wachstum generieren. Die Ökonomie im Bereich der San Francisco Bay wäre ein klassisches Beispiel. Und das führt zu der entscheidenden Frage, wie städtische Lebensqualität, ein heutzutage häufig benutzter Begriff, sich zur städtischen Kreativität verhält. Es gibt viele Indizes für die Lebensqualität in einer Stadt; einer der bekanntesten stammt aus der Economist Intelligence Unit und er zeigt zehn Spitzenstädte, die interessanterweise alle entweder in Kanada oder Australien oder in zwei europäischen Ländern, nämlich der Schweiz und Österreich liegen (vgl. Abbildung 5). Keine ist eine wirklich große Stadt, und es ist ebenso interessant, dass keine eins der großen Kraftpakete der Welt ist. Hinsichtlich Urbane Zukunft in der Wissensökonomie 43 Abbildung 5: Indizes für städtische Lebensqualität, 2007 Beste Lebensqualität Schlechteste Lebensqualität Rang Rang 1Vancouver 2Melbourne 3Wien 4Perth 5Toronto 6Helsinki 7Adelaide Calgary 9Genf Sydney Zürich 98,8 98,2 97,9 97,3 97,0 96,9 96,6 96,6 96,1 96,1 96,1 140Harare 139Dhaka 138Algier 137 Port Moresby 136Lagos 135 Karachi 134 Douala 133 Abidjan 132 Dakar 131 Colombo 36,8 36,9 37,8 38,9 39,7 41,4 46,0 46,6 46,8 48,1 Quelle: Economist Intelligence Unit. Vancouver beispielsweise, einer in den letzten Jahren außergewöhnlich erfolgreichen Stadt und von der EIU stets als Nummer eins bezüglich der Lebensqualität bewertet, stellt sich die eigentliche Frage: Was geschieht dort? Jeder, der nach Vancouver fährt, weiß, dass die Lebensqualität dort hervorragend ist. Und dank der Arbeit von Thomas Hutton von der University of British Columbia weiß man auch, dass die Stadt voll von kleinen, neuen Start-up-Unternehmen im so genannten Kreativwirtschaftssektor ist. Also stellt sich Vancouver ein wenig wie ein kleines San Francisco dar, mit dem gleichen Ambiente, das die Wissensarbeiter erfolgreich angezogen hat, die wiederum die Wissensökonomie wachsen lassen. Und deshalb kann man argumentieren, dass Städte weltweit versuchen sollten, diesem Rezept zu folgen. Dieses Argument aufgreifend, sollen im Folgenden drei Arten von kreativen Städten unterschieden werden. Erstens alt-etablierte Metropolen wie London, Paris und New York; zweitens die Städte, die Favoured Sunbelt Cities genannt werden: San Francisco, Vancouver und Sydney sind gute Beispiele dafür; und drittens die Städte, die hier als Renaissance-Städte bezeichnet werden sollen. Diese sind besonders interessant, weil sie einige jener problematischen, alten Industriestädte wie Glasgow, Bilbao, Manchester und Newcastle-Gateshead umfassen. Vom passiven Kulturkonsum zur aktiven Schaffung von Kultur London wird heute durch das Norman Foster-Gebäude symbolisiert, den Swiss Re Tower (im Volksmund „die Gurke“ genannt) in der City of London und den fünf Kilometer entfernten Bürogebäudekomplex Canary Wharf. Aber Städte wie diese bieten scheinbar alles: Sie sind etablierte bzw. sogar alt-etablierte Plätze mit 2.000-jähriger Geschichte. Sie haben die Museen, die Galerien, die Theater, sie haben die Kultur, sie haben große Universitäten und alles, was urbanes Leben attraktiv macht. Die zweite Kategorie von Städten ist in gewisser Weise interessanter, weil sie noch rätselhafter ist. Die Orte liegen am Wasser, sie haben Zugang zum Meer, sie haben Berge, sie haben ein gutes Klima und sie haben ein sehr gutes Stadtambiente, das sie oftmals sorgfältig entwickelt und kultiviert haben. Sie haben auch andere Vorteile: gute Universitäten, zum Beispiel im Bereich der San Francisco Bay gibt es die University of California Berkeley und die Stanford University, im Bereich von Vancouver die University of British Columbia und die Simon Fraser University. Deshalb sind sie auch in diesem Bereich konkurrenzfähig und sie sind sogar kulturell ziemlich gut aufgestellt – nicht in der gleichen Größenordnung, im gleichen Maßstab oder auf dem gleichen Niveau wie vielleicht London, Paris oder Berlin, aber sicherlich attraktiv genug, um Städtetouristen anzulocken. Damit schneiden sie in den internationalen Rankings gut ab. Aber den interessantesten Fall stellt die dritte G ruppe dar, die Renaissance-Städte. Sie werden durch Bilbaos Guggenheim-Museum symbolisiert. Es sind alte Industrie- oder Hafenstädte; sie wurden über die letzten 20 bis 30 Jahre relativ rasant deindustrialisiert und sie suchen nach einer neuen Rolle. Und deshalb versuchen sie, mit den wirklich gut etablierten Metropolen und Sunbelt Cities zu konkurrieren, in einigen Fällen sind diese Bemühungen sogar von Erfolg gekrönt. Wie erklärt sich das? Nun verfügen sie oft ebenfalls über etablierte Einrich- 44 RegioPol eins + zwei 2011 tungen wie Museen, Kunstgalerien und Universitäten, die vor allem aus ihrer ökonomischen Blütezeit im neunzehnten Jahrhundert stammen, als das Geld durch die damals erfolgreichen Industrien eingenommen wurde und in Form privater und auch öffentlicher Ausgaben in diese kulturellen Einrichtungen floss, die die Städte sich heute wieder zunutze machen. Sie wecken auch ein bestimmtes Interesse, eine neue Nachfrage nach etwas, das industrieller Archäologie-Tourismus genannt werden kann. Am eindrucksvollsten ist dies in Deutschlands Ruhrgebiet beim außerordentlich erfolgreichen Emscher Park zu beobachten. Aber solche Versuche finden schließlich auch in vielen anderen dieser Städte statt und das macht die erfolgreichen zu einem besonders interessanten Fall. Die große Gefahr für den Aufholprozess dieser Städte besteht darin, dass sie alle versuchen zu konkurrieren, indem sie das Gleiche tun. Eine Renaissance-Stadt kann sich nicht einfach auf die Eröffnung neuer Kunstgalerien oder neuer Museen verlassen; sie muss den passiven Kulturkonsum als Tor zur aktiven Schaffung von Kultur nutzen. Das ist das Prinzip, das in britischen Städten wie Glasgow und Gateshead erfolgreich umgesetzt wird, wo die neuen Einrichtungen Galerien oder Veranstaltungsorte für Musik und gleichzeitig auch Orte sind, die aktiv neue Generationen von Artisten oder Musikern ausbilden und schulen. All dies braucht viel Phantasie, denn wenn jeder Ort beginnt, so auszusehen wie alle anderen (wie die amerikanische Schriftstellerin Gertrude Stein einmal sagte „es gibt kein ‚dort‘ dort“), dann lässt sich kein Ort vom anderen unterscheiden. Also muss man einige verrückte Ideen entwickeln, um etwas in Bewegung zu setzen. Das ist das, was vor 30 Jahren in Manchester passiert ist, wo ein paar besonders verrückte Leute neue Märkte für eine neue Musik geschaffen und damit die jungen Leute in die Nachtclubs gelockt haben. Diese jungen Leute beschlossen, dass Manchester ein attraktiver Ort ist und kamen an die dortige Universität, viele blieben anschließend und jedenfalls einige von ihnen bauten eine neue Ökonomie auf. Eine kürzlich veröffentlichte MIT-Studie hat diesen Punkt explizit herausgestellt: Dort wurde eine Reihe von Städten weltweit betrachtet, die „New Century Cities“ genannt wurden, Städte überall in der Welt, alte und neue, die es schaffen, sich in der einen oder anderen Weise auf Basis der New Economy selbst ein neues Image zu verpassen. Und die wichtigsten Charakteristika dieser erfolgreichen Städte sind erstens ein Fokus auf die neuen Kreativindustrien, die ein Narrativ entwickeln, das die Stadt praktisch im Kontext mit ihren ökonomischen Zielen als identifizierbare Marke nach außen tragen kann; zweitens eine Strategie der städtischen Regeneration, die sehr kohärente, gemischt genutzte Umgebungen, speziell zum Leben und Arbeiten, mit einer sehr hohen städtischen Lebensqualität entwickelt; drittens eine allgegenwärtige, flächendeckende Technologie, insbesondere – zum jetzigen Zeitpunkt – WiFi- Systeme; viertens neue, oft unkonventionelle Formen der Ausbildung, die Universitäten, Öffentlichkeit und Wirtschaft zusammenbringen, die wiederum eine Art Nährboden-Funktion für neue Prozesse, Organisationen und Produkte haben und als lebende Laboratorien bezeichnet werden können. Und schließlich, müssen komplexe, flexible Organisationen vorhanden sein, die all das bewerkstelligen können. Es muss noch einmal in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen werden, dass diese neue Studie erst der Einstieg ist, um die Schlüsselfaktoren für das Wachstum dieser neuen Zentren zu identifizieren, und die Univer sitäten auf der ganzen Welt sind aufgerufen, dem MIT zu folgen, um diese Prozesse etwas besser verstehen zu können. Chancen erkennen und aufgreifen Was lässt sich also zusammenfassend daraus lernen? Erstens, dass es vielleicht nicht nur ein einziges Rezept gibt, um den Wandel von der alten Industriewirtschaft zur neuen Wissensökonomie zu vollziehen, es gibt nicht nur einen einzigen Typ Ort, der dafür geeignet ist. Zweitens, dass man, wenn man Entscheidungsträger oder Urbane Zukunft in der Wissensökonomie Planer in einer dieser ehemaligen Industriestädte ist, seine Stadt zu einer Renaissance-Stadt machen kann, sofern man genügend Phantasie hat oder verrückte Leute ermuntert und anlockt, die ausreichend Phantasie haben. Die Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen, eine städtische Atmosphäre und eine spürbare Energie in einer Stadt zu schaffen, die etwas in Gang setzen können, wie diese verrückten Leute in Manchester es in den 1970ern vorgemacht haben. Sobald das erreicht ist, heißt es abzuwarten, gelegentlich sollten hier und da auch ein paar Anstöße gegeben werden, wenn sich ein Fortschritt abzeichnet: Beispielsweise baut man seine Universität aus oder entwickelt weniger konventionelle Arten der (Aus-)bildung. Es ist also eine Frage des Aufgreifens und Nutzens von Chancen, sobald und wo sie sich ergeben. Und auf dieser Basis, denke ich, kann jede Stadt mitspielen. Quellen: European Union Regional Policy (2007), State of European Cities Report: Adding Value to the European Urban Audit. Brussels: European Commission, DG Regio. G. B. Office of the Deputy Prime Minister (2006), State of the English Cities: A Research Study. By Parkinson, M. et al. Two volumes, London: ODPM. Llewelyn-Davies and Bartlett School of Planning, University College London (1996), Four World Cities: A Comparative Study of London, Paris, New York and Tokyo. London: Comedia. 45 46 RegioPol eins + zwei 2011 Urbane Zukunft in der Wissensökonomie 47 Walter Siebel Die Zukunft der europäischen Stadt – Anmerkungen zu einer aktuellen Diskussion D ie europäische Stadt ist ein in der Stadtforschung seit Längerem intensiv diskutiertes Konzept. Soeben ist wieder ein Sammelband zum Thema dieses Beitrags erschienen (Frey/Koch 2011). Auch in der Politik ist die europäische Stadt populär. „Ausgangspunkt und Leitvorstellung aller stadtentwicklungspolitischen Maßnahmen und Aktivitäten des Bundes ist die „Europäische Stadt“, so der Städtebaubericht 2008 der Bundesregierung. Die von 26 Staaten der EU 2007 verabschiedete „Leipzig Charta für eine nachhaltige europäische Stadt“ führt den Begriff im Titel. Doch im Lichte wachsender wissenschaftlicher und politischer Aufmerksamkeit ist der Begriff nicht klarer geworden. Aus der Stadtforschung hört man begriffliches Getöse. Frey (2011) hat allein 49 „Stadtkonzepte in der europäischen Stadt“ identifiziert. Liest man die politisch-programmatischen Papiere, so ist die europäische Stadt etwas Wunderschönes: eine sozial integrierte, ökonomisch prosperierende, kulturell produktive und nach haltige Stadt, kurz etwas, was sich wohl jeder überall auf der Welt genauso wünscht. Aber wo bleiben dann die Besonderheiten dieses Stadttypus, die es rechtfertigen würden, ihn im Unterschied zu anderen als spezifisch europäisch zu definieren? Über zwei solche besonderen Merkmale besteht in der Diskussion zur europäischen Stadt weitgehend Konsens: ■ ■ Die Gestalt der europäischen Stadt als kompakter Stadt mit einer dichten Mischung von Wohnen, A rbeiten und Erholung. Diese Auffassung wird – auch als normatives Leitbild – von vielen Architekten und Stadtplanern vertreten. Die europäische Stadt als demokratisch legitimiertes, handlungsfähiges Subjekt ihrer eigenen Entwicklung, eine auf Max Weber zurückgehende Definition, die von den meisten Sozialwissenschaftlern geteilt wird. Im Folgenden werden Tendenzen diskutiert, die beide Characteristica infrage stellen und solche, die sie stützen könnten. b Guggenheim-Museum, Bilbao Die traditionelle Gestalt der europäischen Stadt kann mit drei Merkmalen beschrieben werden: ■ ■ ■ Stadt-Land-Gegensatz – das Gegenüber von hochgetürmter Stadt und plattem Land. Die Stadtkrone von Rathaus, Markt und Kirche. Dichte, Vielfalt und Mischung der städtischen Funktionen Wohnen, Arbeiten, Erholung. Diese Gestalt ist längst im Siedlungsbrei der großen Agglomerationen untergegangen. Die Entwicklung der Militärtechnik machte die einengenden Festungsgürtel sinnlos, moderne Verkehrsmittel und der gewachsene Wohlstand ermöglichten Wohnweisen, die buchstäblich keinen Platz in der kompakten europäischen Stadt gefunden hatten. Stadtplanerische Leitvorstellungen wie die Gartenstadt und später die Charta von Athen haben ebenfalls eine Rolle gespielt. Aber der entscheidende Grund für das Verschwinden der traditionellen Gestalt der europäischen Stadt liegt in der Tatsache, dass die Gesellschaft, die diese Stadtgestalt hervorgebracht hat, verschwunden ist. Der Stadt-Land-Gegensatz hat sich aufgelöst. Demokratie, Marktwirtschaft, Kleinfamilie und Konsumentenhaushalt finden sich heute auf dem Land ebenso wie in der Stadt. Wall und Graben, wo es sie überhaupt noch gibt, markieren keinen Gegensatz zwischen verschiedenen Gesellschaften mehr, wie das im Mittelalter der Fall war. Die Stadtkrone ist zu einem leeren Symbol geworden: Das Rathaus hat seine Macht verloren, der Marktplatz ist ökonomisch irrelevant und der Kirche fehlen die Gläubigen. Stadt aber ist eine gesellschaftliche Tatsache, die sich räumlich formt. Mit dem Verschwinden ihrer gesellschaftlichen Grundlagen ist die überkommene Gestalt der europäischen Stadt – so scheint es – obsolet geworden. Seit einiger Zeit aber wird von einer Renaissance der Stadt gesprochen. Diese These wird mit den teilweise wieder steigenden Einwohnerzahlen in den Kernstädten empirisch untermauert. Dafür gibt es theoretische Erklärungen, die vermuten lassen, dass es sich um mehr als ein nur vorübergehendes Phänomen handelt. 48 RegioPol eins + zwei 2011 Der Trend, der im 20. Jahrhundert die Entwicklung der Städte zu deren Lasten geprägt hatte, die Suburbanisierung, verliert an Kraft. Das hat verschiedene Gründe. Einmal erodiert die soziale Basis der Suburbanisierung. Der Wunsch nach dem Einfamilienhaus im Grünen ist an die familiale Lebensweise gebunden. Diese aber verliert absolut und relativ an Bedeutung. Immer mehr Erwachsene leben in neuen Haushaltsformen jenseits der klassischen Drei-Generationen-Kernfamilie. Und bei denen, die diese Lebensweise eingehen, verliert die F amilienphase relativ an Gewicht im Lebenslauf. Die Phase vor der Ehe und die nach dem Zusammenleben mit Kindern werden beide immer länger, weil später g eheiratet wird und weil angesichts der gestiegenen L ebensdauer die Eltern nach dem Auszug der Kinder in der Regel noch zwanzig bis dreißig Jahre vor sich haben. Sie finden sich dann aber häufig in einer Wohnform, dem Einfamilienhaus, und an einem Standort, in Suburbia, die für diese Phase des „leeren Nests“ weniger geeignet sind. Zum Zweiten erodiert die ökonomische Basis der Suburbanisierung. Suburbanisierung hängt mit dem Wunsch nach dem Eigenheim zusammen. Dieser Wunsch ist in der Regel leichter im Umland der Städte zu realisieren. Eigentumsbildung im Wohnungsmarkt setzt nicht so sehr ein hohes als ein langfristig sicher kalkulierbares Einkommen voraus als Bedingung für die Kreditwürdigkeit eines Haushalts. Deshalb haben Beamte die höchste Eigentumsquote. Angesichts der Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt erfüllen immer weniger Haushalte diese Voraussetzung. Hinzu kommt, dass die staatliche Subventionierung des Wohneigentums eingeschränkt worden ist. Schließlich drittens schwinden die Zeitstrukturen die die Suburbanisierung ermöglicht haben. Es gibt immer mehr Haushalte, bei denen zwei Erwachsene an verschiedenen Orten zu verschiedenen und flexiblen Zeiten berufstätig sind. In den modernen Dienstleistungsberufen verwischen sich zudem die ehemals festen Grenzen von Arbeit und Freizeit. Damit werden große Distanzen zwischen Wohnort und den attraktiven innerstädtischen Arbeitsmärkten in jeder Hinsicht zu teuer. Mit dem Schwinden ihrer sozialen, ökonomischen und zeitlichen Voraussetzungen wird Suburbanisierung nicht aufhören. Junge Familien mit kleinen Kindern werden auch in Zukunft das Einfamilienhaus im Grünen suchen. Aber Suburbia verliert an Gewicht gegenüber der Kernstadt. Deren überkommene städtebauliche Strukturen wiederum haben sich weitgehend erhalten – trotz der Zerstörungen durch die alliierten Bomben im zweiten Weltkrieg und trotz der zweiten Stadtzer störung durch Stadtplanung und Immobilienwirtschaft in den 60iger Jahren. Diese erstaunliche Beharrungskraft ist kaum durch die technische Widerständigkeit der gebauten Substanz zu erklären, sie hat vielmehr ökonomische und kulturelle Gründe: ■ In die Struktur der Stadt sind gesellschaftliche Interessen im wahrsten Sinne des Wortes investiert. ■ Dass die deutschen Städte nach 1945 weitgehend entlang der alten Strukturen wieder aufgebaut wurden, lag an den in den technischen Infrastrukturen über Jahrzehnte akkumulierten öffentlichen Investitionen, an der Trennung von öffentlichem und privatem Eigentum und an der Struktur des privaten Grundeigentums. Das Kanalsystem, die Straßen und das Grundbuch, nicht die Gebäude sind der cantus firmus der Stadtstruktur. Jede europäische Stadt mit ihren Plätzen, Straßen und Gebäuden ist ein Stein gewordenes Buch individueller und kollektiver Erinnerungen. Deshalb ist die Stabilität der Stadtstruktur nicht nur im Geldbeutel und den Eigentumsverhältnissen sondern auch in den Köpfen der Menschen verankert. Die europäische Stadt ist der Ort, an dem die moderne Gesellschaft entstanden ist. Im Gang durch eine europäische Stadt kann der Bürger der heutigen Gesellschaft sich seiner eigenen Geschichte vergewissern. Vormoderne Städte in China dagegen waren Sitz despotischer Herrschaft und religiöser Kulte. Dort im Gegensatz zu Europa gibt es deshalb keine ökonomisch und politisch einflussreiche Schicht, die sich im Interesse der Wahrung ihrer eigenen historisch vermittelten Identität für die Bewahrung der historischen Substanz der Städte einsetzen würde. In Europa dagegen ist die Erinnerungsfunktion der gebauten Stadt mit den Instrumenten des Denkmalschutzes bewehrt und im Bewusstsein der Bürger präsent. Die Dynamik der Suburbanisierung wird schwächer, aber sie wirkt fort. Eigentumsverhältnisse und historisch verankerte Identitäten sind Beharrungskräfte und Widerstände. Die bisher genannten Argumente könnten also nur erklären, dass das Verschwinden der europäischen Stadt langsamer vonstatten geht, aber es würde dadurch nicht aufgehalten. Doch es lassen sich Argumente für die Überlebensfähigkeit der städtebaulichen Struktur der europäischen Stadt anführen: ökonomische, die wachsende Bedeutung urbaner Milieus in wissensbasierten Ökonomien, und soziale, die Attraktivität der Innenstädte als Wohn- und Lebensort für hochqualifizierte Arbeitskräfte mit nicht-familialen Lebensweisen. Eine oft genannte ökonomische Ursache für die Renaissance der Kernstadt ist der Strukturwandel zur Wissensgesellschaft, denn der Wissensökonomie wird eine Affinität zur europäischen Stadt zugeschrieben. Gerade die rein technisch gesehen an keine bestimmten Standorte gebundenen Betriebe der new economy konzentrieren sich in erstaunlichem Maße auf die Kernstädte und hier sogar auf einzelne Straßenzüge und Viertel. Erklärt wird dies u.a. mit der Unterscheidung von zwei Wissenstypen. Informationen seien mittlerweile ubiquitär verfügbar. Aber das „tacit knowledge“, das zu einem produktiven Umgang mit Informationen erst befähige, werde vorwiegend in urbanen Milieus erzeugt und weitergegeben (Läpple 2004: 410 f.; Brake 2011). Ähnlich sind die Urbane Zukunft in der Wissensökonomie Kreativwirtschaft und die Kulturproduktion auf die städtischen Agglomerationen angewiesen. Für diese Branche typisch sind kleine Betriebe und äußerst flexible und prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Ihre Produktionen werden häufig nach dem Jam-Session-Modell organisiert: Für ein bestimmtes Vorhaben werden hoch spezialisierte Arbeitskräfte benötigt, die für eine beschränkte Zeit intensiv projektförmig zusammenarbeiten, um dann wieder auseinanderzugehen. Das ist nur möglich, wenn einerseits – aus Sicht der Betriebe – ein genügend differenziertes Arbeitskräftepotenzial kurzfristig verfügbar ist, also möglichst viele Spezialisten in prekären Arbeitsverhältnissen in räumlicher Nähe, und andererseits – aus Sicht der Arbeitskräfte – eine genügend dichte Nachfrage nach ihren Leistungen besteht, also möglichst viele Betriebe mit kurzfristig zu bewältigenden, anspruchsvollen Projekten. Große, kompakte und heterogene Städte können die entsprechenden Voraussetzungen bieten: ein dichtes Nebeneinander einer Vielzahl spezialisierter Betriebe und ein differenziertes Angebot hoch qualifizierter Arbeitskräfte. Das wiederum ist Voraussetzung für die Bildung häufig auch informeller Netzwerke, die den Betrieben und Arbeitskräften erlauben, mit der notwendigen Flexibilität auf die schnell wechselnden Chancen und Krisen ihrer Branche zu reagieren. Soziale Ursachen liegen in den Präferenzen der Angehörigen der kreativen Klassen für urbane Wohnstand orte (Florida 2002). Ähnliches gilt für Migranten. Zuwanderung war schon immer auf die großen Städte gerichtet und hier auf ihre meist in der Kernstadt oder deren unmittelbaren Rand liegenden billigen Wohngebiete. Schließlich ist der Wandel der Rolle der Frau für eine neue Attraktivität der Kernstadt für Arbeiten und Wohnen verantwortlich (Siebel 2004b: 45): Früher konnte man, und in der Regel war es ein Mann, sich auf seinen Beruf konzentrieren, weil man über einen privaten Haushalt verfügte, geführt von einer Hausfrau, die einem den Rücken frei hielt von allen außerberuflichen Verpflichtungen. Heute gibt es immer mehr beruflich qualifizierte Frauen, die selber Karriere machen wollen und deshalb ihrerseits Entlastung von außerberuflichen Pflichten einfordern. Der englische Soziologe Ray Pahl hat das einmal in einer Diskussion auf den Punkt gebracht: „a professional woman needs a wife“. Nun sind die neuen (Haus-)Männer noch rarer als die alten Hausfrauen. Wenn immer mehr Menschen eine berufliche Karriere anstreben, die soziale Voraussetzung dafür, der Hausfrauenhaushalt, aber nicht mehr zur Verfügung steht, ergibt sich ein Dilemma, aus dem nur zwei Wege herausführen: Die radikale Reduktion aller außerberuflichen Verpflichtungen, was in erster Linie den Verzicht auf Kinder beinhaltet, und das Leben in einer modernen Dienstleistungsstadt. Moderne Städte sind als Formen der Vergesellschaftung des privaten Haushalts zu beschreiben. Mit ihrer Fülle an marktförmig und staatsförmig organisierten Güter- und Dienstleistungsangeboten versorgen sie jeden, sofern er über genügend Geld verfügt, mit allem, wofür man früher einen privaten Haus- halt benötigte. Ohne die Dienstleistungsmaschine Stadt wäre die berufszentrierte Lebensweise des modernen Singles gar nicht möglich. Neue Lebensweisen jenseits der traditionellen Familie, geänderte Zeitstrukturen und die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft, der Zuzug von Migranten, die Präferenzen der Angehörigen der kreativen Klasse und die berufliche Emanzipation der Frauen, all das begründet eine neue Attraktivität der funktionsgemischten, kompakten europäischen Stadt für Wohnen und Arbeiten. Stadtpolitiker haben diese A rgumente und insbesondere die Thesen Floridas begierig aufgegriffen, weil man gerne daran glauben möchte, dass urbane Lebensqualität und Wirtschaftsförderung eine sich gegenseitig steigernde, harmonische Einheit bilden. Das aber ist eine gefährliche Illusion. F loridas Theorie der kreativen Klasse vernachlässigt systematisch die negativen Seiten der „kreativen Stadt“. Er bietet im Kern ein in den Bereich der Kultur- und Kreativwirtschaft verschobenes Plädoyer für eine Politik der Gentrifizierung zugunsten gut verdienender und hoch qualifizierter Arbeitskräfte. Nach Peck (2005) steigt parallel zur Zahl der hoch qualifizierten Kreativen die der schlecht bezahlten, niedrig qualifizierten und unsicheren Arbeitsplätze in den personenbezogenen Dienstleistungen, ein Phänomen, das nicht nur für die kreative Stadt gilt, sondern schon seit Langem in allen Dienstleistungsstädten zu beobachten ist (Häußermann/Siebel 1995). Und eben diese billigen haushalts- und personenbezogenen Dienstleister sichern die Voraussetzungen für den aufwendigen Lebensstil von Floridas kreativer Klasse (Siebel 2008). Helbrecht (2011) hat diese Kritiken an der sozialen Blindheit von Floridas Theorie mit zwei Argumenten vertieft: Einmal würden viele Angehörige der kreativen Klasse objektiv zum Prekariat zählen, nur heroisierten sie subjektiv ihre prekären Arbeits- und Einkommensverhältnisse zum frei gewählten Lebensstil einer NeoBoheme: „Wenig Geld zu verdienen, nicht fest angestellt zu sein, keine Renteneinzahlungen vorzunehmen, wird als bewusste Entscheidung für persönliche Autonomie stilisiert – und nicht als Konfliktlinie oder gar Aus beutungsverhältnis einer flexiblen Ökonomie gewertet“ (ebenda: 126). Zum andern sei es mit der von Florida so hervorgehobenen Toleranz der kreativen Klasse nicht weit her. Sobald die Kreativen etwas älter geworden sind, geheiratet haben und beginnen, sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder zu machen, verhalten sie sich genauso, wie sich die bürgerliche Mittelschicht immer verhalten hat: Wenn sie nicht gleich nach Suburbia fliehen, so kaufen sie ein Haus am Rand der Innenstadt in einer sozial homogenen Nachbarschaft von Ihresgleichen und achten darauf, dass ihre Kinder ordentliche, d. h. unterschichtsfreie Schulen besuchen. Wenn einerseits ein großer Teil der sogenannten Kreativen zum Prekariat zu zählen ist – ca. die Hälfte der 150.000 Beschäftigten in der Berliner Kulturwirtschaft 49 50 RegioPol eins + zwei 2011 verdienen durchschnittlich unter 18.000 Euro (Manske 2009: 9, nach Helbrecht: 131) – und wenn andererseits die arrivierten Kreativen sich in sozial homogene Enklaven z urückziehen, dann trägt die kreative Klasse selber zur Einkommenspolarisierung und zur sozialräumlichen Verinselung der Stadt bei. Kurz, hinter der schönen Kulisse der kreativen Stadt wird die alte Politik zugunsten einkommensstarker und qualifizierter Arbeitskräfte betrieben und dabei eine weitere soziale und räumliche Polarisierung der Stadt in Kauf genommen. Die Zielkonflikte der Stadtpolitik zwischen ökonomischem Wachstum, sozialer Gerechtigkeit und nachhaltiger Stadtentwicklung sind unaufhebbar, und wer sie übersieht, wird eine Stadtpolitik betreiben, die diese Konflikte verschärft. Die Nebenfolgen einer selektiven Politik zugunsten der sogenannten Kreativen sind nicht Absicht. Aber sie können gerade im Rahmen einer solchen Politik durchaus funkt ional sein. Die seit Längerem mit der Entwicklung der Dienstleistungsgesellschaft einhergehende Polarisierung der Einkommensstruktur hat einen Markt für personen- und haushaltsbezogene Dienstleistungen entstehen lassen, auf dem die Nachfrage einkommensstarker Hochquali fizierter nach Entlastung von außerberuflichen Verpflichtungen auf ein entsprechendes Angebot billiger Arbeitskräfte trifft (Häußermann/Siebel 1995: 81ff.). Die Arbeitsplätze in diesem Bereich sind typischerweise schlecht bezahlt, niedrig qualifiziert, unsicher, zeitlich hoch flexibel und weiblich. Das erlaubt keine allzu großen Distanzen zwischen dem Wohnort der Anbieter und der Nachfrager. Die sozialräumliche Verinselung der Stadt zu einem dichten Nebeneinander von gentrifizierten Quartieren einkommensstarker Berufstätiger und Wohngebieten der Armen ist daher eine weitere Voraussetzung für das Zustandekommen eines solchen Marktes (Sassen 2004). Ein großer Teil der haushaltsbezogenen Dienstleistungen ist informell organisiert. Viele, insbesondere irreguläre Migranten sind auf dieses Arbeitsmarktsegment angewiesen. Nach Schätzungen leben vier bis sechs Millionen irreguläre Migranten in Europa, die in den Städten bis zu fünf Prozent der Bevölkerung stellen, in Berlin zwischen 100.000 und 250.000 (Buckel 2011: 251). So kann innerhalb der Städte eine internationale Arbeitsteilung entstehen, bei der „irreguläre Hausarbeiterinnen … einen enormen Beitrag zur beruflichen Karriere von Frauen in mittleren und höheren Beschäftigungsverhältnissen“ leisten (ebenda: 249 f.). Deshalb ist vielleicht gar nicht zu erwarten, dass irreguläre Migration demnächst, sei es durch Legalisierung, sei es durch effektivere Repression, aus den Städten Europas verschwinden wird. Stattdessen könnte sich jene eigenartige Form lokaler Governance verbreiten, die Simone Buckel am Beispiel von Den Haag und Barcelona beschreibt: In einem Gemenge aus Repression, humani tären Motiven, Laisser-faire und stillen Interessen etabliert sich ein Zusammenspiel zwischen staatlichen Verboten, kommunalen Kontrollen und Hilfen seitens zivilgesellschaftlicher Organisationen. So werden die irregulären Migranten in einem prekären Schwebezustand gehalten, der ihnen ermöglicht, zu bleiben und sie zugleich zwingt, gleichsam jede Arbeitsbedingung zu akzeptieren. Dabei subventionieren Staat und Kommune häufig die zivilgesellschaftlichen Akteure, die den irregulären Migranten Gesundheitsversorgung und Rechtsberatung anbieten, und erzeugen gleichzeitig die irreguläre Migration, indem sie beispielsweise Migranten nach Abschluss der Ausbildung eine Arbeitserlaubnis oder Wohnung verweigern. Das zweite weitgehend unstrittige Merkmal der europäischen Stadt betrifft die Stadt als handlungsfähiges und demokratisch legitimiertes Subjekt ihrer eigenen Entwicklung. Die mittelalterlichen freien Reichsstädte waren souveräne, staatsähnliche Subjekte. Die SteinHardenbergischen Reformen haben in Preußen eine kommunale Selbstverwaltung etabliert, die im Grundgesetz der Bundesrepublik (Art. 28 GG) bekräftigt worden ist. Aber der Handlungsspielraum kommunaler Politik wird systematisch eingeschränkt. Das betrifft an erster Stelle ihre finanziellen Spiel räume. Weil die Finanzverfassung die Einnahmen der Urbane Zukunft in der Wissensökonomie 51 Die Zielkonflikte der Stadtpolitik zwischen ökonomischem Wachstum, sozialer Gerechtigkeit und nachhaltiger Stadtentwicklung sind unaufhebbar. Kommunen an die Zahl der Einwohner bindet, hat der Rückgang der Einwohnerzahlen aufgrund der demografischen Entwicklung und von Abwanderung negative Folgen für die kommunalen Finanzen. Wenn die Zahl der Einwohner sinkt, verliert die Kommune einwohnergebundene Zuweisungen, Einkommenssteueranteile und Gewerbesteuer. Die Schätzungen schwanken: Am höchsten sind die Verluste in den Stadtstaaten: Bremen rechnet mit Mindereinnahmen in Höhe von 3.300 Euro jährlich pro Abwanderungsfall, gleich ob es sich um einen Säugling handelt oder einen gut verdienenden Berufs tätigen. Für normale Städte werden die Verluste auf 1.500 Euro pro Jahr geschätzt (Göschel 2007: 35). Da die A bwanderer ins Umland weiterhin die zentralörtlichen Einrichtungen der Kernstadt nutzen, verringern sich die Ausgaben der Kommunen nicht entsprechend. Ins Umland wandern die Mobilitätsfähigen und das sind in erster Linie jüngere und einkommensstärkere Bewohner der Stadt. Die Risikogruppen bleiben zurück, eine der Ursachen für eine aus der Sicht der Kernstadt negative soziale Arbeitsteilung zwischen Suburbia und Kernstadt, bei der die Problemgruppen sich in der Stadt konzentrieren. Hinzu kommt die Neigung von Bund und Ländern, den Kommunen neue Aufgaben zuzuweisen, ohne ihnen die entsprechenden Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, z. B. bei den Unterbringungskosten für Langzeitarbeitslose. In der Konsequenz hat sich der Anteil der Sozialausgaben an den kommunalen Ausgaben in den alten Bundesländern zwischen 1980 und 2004 von unter zwölf Prozent auf nahezu 22 Prozent fast verdoppelt. Im selben Zeitraum wurde der Anteil der Sachinvestitionen mehr als halbiert: Er sank von 30,4 Prozent auf 13 Prozent (Gemeindefinanzbericht 2004: 83). Schließlich hat die Globalisierung einen Finanzmarkt etabliert, in dessen unkalkulierbare Krisen die Kommunen mehr und mehr eingebunden sind, teils durch eigene Schuld: Viele Kommunen haben sich z. B. auf Cross-Border-LeasingGeschäfte eingelassen, durch die sie in die Finanzmarktkrise hineingerissen wurden. Zweitens werden die politischen Gestaltungsspielräume der Städte eingeengt. Viele infrastrukturelle Leistungen sind nicht mehr in den engen Grenzen einer Kommune zu erbringen. Wasser, Energie, Müll und ÖPNV sind deshalb Anlässe, regionale Zweckverbände zu gründen. Zudem drängt eine neoliberale Ideologie die Kommunen dazu, so viel wie möglich zu privatisieren. Mittlerweile werden über die Hälfte der kommunalen Finanzmittel außerhalb der öffentlichen Kommunalverwaltungen ausgegeben. Aber auch hier trifft die Städte selber ein Teil der Schuld: Viele haben ihre Wohnungsbestände an internationale Investoren verkauft. Sie verlieren aber mit den ehemals gemeinnützigen Wohnungsbauträgern die wichtigsten Partner einer sozial verantwortlichen Stadtteilpolitik. Drittens kann man von einer Erosion der politischen Basis kommunaler Politik sprechen. Der Idealtypus des Stadtbürgers, der sein Schicksal über Eigentum und Geschäft mit dem Geschick der Stadt verbunden hat, ist keine relevante Figur mehr. Die ökonomische Entwicklung der Stadt wird mehr und mehr von abwesenden Investoren mit entsprechend überlokalen Orientierungen dominiert. Und auch auf Seiten der Bewohner wächst die Zahl der Bürger, die aus sehr unterschiedlichen Gründen kein Interesse an der Politik der Stadt haben. Für die internationalen Eliten wie die transitorischen Migranten, die sich nur vorübergehend in einer Stadt aufhalten, fungiert die Stadt als eine Art Hotel. Und welcher Hotelgast möchte sich schon mit den Angelegenheiten des Managements befassen? Auch die wachsende Zahl der Städter mit multilokalen Lebens stilen dürften nur geringes Engagement für lokale Politik aufbringen, schon weil ihnen „die durch die multi lokale Situation bedingten, subjektiven Kosten der Beteiligung an Parteien oder Bürgerinitiativen schlichtweg zu hoch“ sind (Petzold 2011: 163). Auf der anderen Seite verfügen Arme und Migranten, also gerade die sozialen Gruppen, die besonders auf die lokale Situation angewiesen sind, häufig nicht über die subjektiven bzw. rechtlichen Voraussetzungen für ein Engagement in der Lokalpolitik. Schließlich schwindet auch die alltagspraktische Bindung der Bürger an ihre Stadt. Solange die Stadt die 52 RegioPol eins + zwei 2011 Einheit des Alltags ihrer Bürger darstellte, das heißt, solange der Bürger einer Stadt, in der er wohnte, dort auch seine Arbeit hatte, seine Kinder zur Schule schickte und die ö ffentlichen Einrichtungen nutzte, solange existierte eine Stadtbürgerschaft, die in sich selbst die Konflikte zwischen den städtischen Funktionen Arbeiten, Wohnen, Erholung und Verkehr austragen musste. Heute ist der Alltag vieler Bürger regional organisiert, arbeitsteilig über verschiedene Gemeinden hinweg. Man wohnt in A, arbeitet in B, versorgt sich in C und fährt dorthin mit dem Auto durch D. Damit sehen sich die Städte Kundengruppen gegenüber, die sehr spezialisierte Erwartungen kompromisslos erfüllt haben wollen: von A ein durch nichts gestörtes Wohnen, von B einen expandierenden und gut erreichbaren Arbeitsmarkt, von C ein Einkaufszentrum mit vielen Parkplätzen und von D eine kreuzungsfreie Schnellstraße. Damit verlieren die Städte die politische Basis für die Kernaufgabe kommunaler Politik, nämlich einen Ausgleich zu finden zwischen den häufig konfligierenden Anforderungen der unterschiedlichen städtischen Funktionen. Angesichts ihrer Finanzmisere, der Einengung ihrer Gestaltungsspielräume und der Erosion der Stadtbürgerschaft droht die Kommunale Selbstverwaltung zur leeren Hülle zu werden, sodass von der Stadt als einem demokratisch legitimierten und handlungsfähigen Subjekt ihrer eigenen Entwicklung kaum noch die Rede sein kann. Staatsrechtler haben allein schon bezüglich der bisherigen Praxis der Privatisierung kommunaler Aufgaben „Zweifel an(gemeldet), ob die vom Grundgesetz gewollte kommunale Selbstverwaltung überhaupt noch bestehen kann, weil sie bereits so ausgehöhlt sei, dass (Art. 28 GG) Abs. 2 auf sie nicht mehr passt“ (Sterzel 2010: 277, Anm. 810). Aber auch hier gibt es Argumente, die es zumindest als notwendig erscheinen lassen, dass auch in Zukunft Städte als handlungsfähige politische Subjekte fortbestehen: Sngesichts zunehmend differenzierter und individualisierter Problemlagen sind lokal formulierte Politiken effektiver und effizienter als zentrale Vorgaben. 1. Die Stadt als Labor. Insbesondere die deutschen Städte waren Experimentierfelder moderner wohlfahrtsstaatlicher Politiken. Schon zu den Hochzeiten einer liberalen Staatsauffassung haben die Städte im Zuge des sogenannten Munizipalsozialismus eine umfangreiche Infrastruktur aufgebaut und wirtschaftspolitische sowie sozialpolitische Maßnahmen angewandt, die später im Zuge des sich entwickelnden Wohlfahrtsstaats vom Nationalstaat übernommen wurden. Man kann den Ausbau des modernen Wohlfahrtsstaates auch als einen Prozess der Zentralisierung kommunal entwickelter Politiken beschreiben. Die Vielzahl autonomer lokaler Einheiten fungiert als heuristisches System zur Erzeugung unterschiedlicher Antworten auf differenzierte Problemlagen. Die kommunale Selbstverwaltung erlaubt, neue Lösungen für gewandelte Probleme zunächst einmal in ausgewählten Kommunen zu erproben. So nutzt das Programm Experimenteller Wohnungs- und Städtebau (EXWOST) der Bundesregierung einzelne Städte als Experimentierfelder, um neue Antworten auf neue Probleme der Städte zu formulieren und zu testen, bevor sie in Bundesprogrammen und Gesetzen verallgemeinert werden. Das aber setzt voraus, dass die Kommunen über ausreichende Handlungsmöglichkeiten und Kompetenzen verfügen, um adäquate Problem lösungen entwickeln zu können. 2. Mit dem Wandel von wachstumsdominierten Entwicklungen zu Schrumpfungsprozessen sind Probleme entstanden, die sich hierarchischer Steuerung entziehen. Zu den Verteilungsaufgaben der öffentlichen Hand ist die Aufgabe getreten, Innovationen zu organisieren. Das aber ist in hierarchischen Strukturen nicht möglich (Siebel et al 2001). 3. Mit der räumlichen Konzentration ökonomisch, sozial und kulturell von Ausgrenzung bedrohter Gruppen muss Sozialpolitik stärker auf die Besonder heiten der jeweiligen lokalen Situation eingehen können. Das verlangt stärker dezentrale Vor-OrtPolitiken. Ähnlich wird die kommunale Ebene bei Urbane Zukunft in der Wissensökonomie den neuen Steuerungstechniken eines aktivierenden Sozialstaats eine wichtigere Rolle spielen, als ihr im Rahmen einer umverteilenden Sozialpolitik zukam. 4. Zuwanderung war und ist auf die großen Städte gerichtet. Das war immer durch die Hoffnung motiviert, sich als Städter aus politischen, ökonomischen und sozial beengten Verhältnissen befreien zu können. Fast 40 Prozent der Einwohner Stuttgarts und Frankfurts haben Migrationshintergrund, bei den Kindern sind es bereits 60 Prozent. Vor allem in den großen Städten entscheidet sich, ob die Migranten integriert oder an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Angesichts der demografischen Entwicklung werden die großstädtischen A rbeitsmärkte immer stärker auf Menschen mit Migrationshintergrund angewiesen sein. Die großen Städte sind die Motoren der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung. Wenn die europäische Stadt ihr altes Versprechen auf ein besseres Leben gegenüber den heutigen Migranten nicht mehr erfüllen kann, d. h. wenn die Migranten keinen Zugang zu höheren Schulen und zu qualifizierten Arbeitsplätzen finden, wenn also die Stadt von einem Ort der Integration zu einem Ort der Ausgrenzung wird, dann wird das die Zukunftsfähigkeit nicht nur der Städte infrage stellen sondern die der ganzen Gesellschaft. Eine funktionsfähige kommunale Selbstverwaltung ist nicht nur durch das Grundgesetz garantiert. Sie ist auch in vielerlei Hinsicht funktional notwendig. Wenn es die Gesellschaft sich gar nicht leisten kann, die Stadt als demokratisch legitimiertes handlungsfähiges Subjekt aufzugeben, dann ist die Hoffnung nicht illusionär, dass die europäische Stadt als politisches Subjekt Bestand haben wird. Quellen: Brake, Klaus (2011): „Reurbanisierung“ – Globalisierung und neuartige Inwertsetzung städtischer Strukturen „europäischen Typs“. In: Frey/Koch 2011, S. 300– 323. 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Sie ist die Essenz des Urbanen, die in der Stadt ihre Apotheose erreicht. Mit dem Phänomen des Urbanen war immer schon jenes des Suburbanen verbunden: jener unscharf begrenzte Bereich, der bereits in der Antike den Übergang der Stadt zur umliegenden Landschaft gekennzeichnet hat. Jahrhundertelang privilegierter Wohnsitz derjenigen, die sich neben einem Stadtpalais auch eine Vorortvilla leisten konnten, wurde er Mitte des 19. Jahrhunderts als Alternative zur verkommenen, verschmutzten, zugebauten und übervölkerten Großstadt entdeckt, die auch den mittleren und niedrigen Einkommensschichten zugänglich gemacht wurde. Antistädtische Traditionen Die Ideologien, auf denen solche stadtarchitektonischen Visionen von ländlichen oder sogar klösterlichen Gemeinschaften aufbauten, haben sich als nicht tragfähig erwiesen, spuken aber als großartige Bilder durch die gesamte neuere Stadtbaugeschichte. Dazu zählt Charles Fouriers Phalanstère-Modell aus dem frühen 19. Jahrhundert ebenso wie Ebenezer Howards Gartenstadtidee, das Modell der ciudad lineal, der linearen Stadt von Arturo Sorìa y Mata, ebenso wie die Lebens- und Produktionsgemeinschaften der sowjetischen Desurbanisten der zwanziger Jahre. Fourier beispielsweise, Handelsgehilfe von Beruf und Sozialtheoretiker aus Leidenschaft, war fest davon überzeugt, dass alle Menschen, die ein Phalanstère gesehen und sich von seinen Vorzügen überzeugt hätten, sofort auch selbst eine solche Kommune gründen wollten und b International Forum, Tokyo die alten Städte vor lauter ländlichen Phalanstère-Neugründungen sich schließlich ganz entvölkern würden. Schließlich sah ein solches Phalanstère auch so prächtig aus wie das Schloss von Versailles – und wäre innen noch viel komfortabler gewesen. Dennoch hielt sich die Begeisterung der zukünftigen Kommunarden so sehr in Grenzen, dass nicht einer dieser Volkspaläste gebaut wurde. Der Parlamentsstenograf Howard, von den englischen Reformbestrebungen seiner Zeit beeindruckt, zeichnete 1898 in seinem überaus erfolgreichen Buch „Tomorrow: A Peaceful Path to Real Reform“ den Weg zu einem Besseren zwischen Stadt und Land, in jener town country, die als Gartenstadt die Vorzüge beider LebensOrte, des urbanen wie des ländlichen, in sich vereinigen sollte. Auch er ging davon aus, dass die unglücklichen Bewohner der übervölkerten, lärmenden und dreckigen Industriestädte diesen den Rücken kehren würden, sobald sie seiner Alternative gewärtig würden. Dem Establishment riet er gönnerhaft zum Umdenken, „oder London wird, nicht nur ein ‚verkommenes Dorf’ ..., auch noch ein verlassenes sein“. Howard wurde zum Patron einer bedeutenden internationalen Bewegung, die überall auf der Welt Gartenstädte plante und auch in großer Zahl realisierte; die Metropolen ersetzten sie dennoch nicht. Der Ingenieur und Unternehmer Sorìa y Mata, der neben anderem einen automatischen Theodolithen und ein Anzeigegerät für Hochwasser erfand, bekam sogar die Chance, ein Stück seiner prinzipiell unendlichen BandStadt zu verwirklichen: Kleine, mittlere und große frei stehende Häuser mit weitläufigen Privatgärten, ordentlich aufgereiht zu beiden Seiten einer Verkehrsarterie. Ihr Vorzeigestück war eine mittig angeordnete Straßenbahn trasse, Hauptschließungselement und Fortschrittssymbol zugleich. 1894 wurde zwischen Chamartin und Concepción vor den Toren Madrids mit dem Bau einer Fünf-Kilometer-Siedlung begonnen, die sich einige Jahrzehnte bewährte. Heute ist sie ganz von der urbanen Masse eingeschlossen und bis zur Unkenntlichkeit überformt, von eben der traditionellen, chaotischen, aber lebensstrot- 56 RegioPol eins + zwei 2011 zenden Großstadt also, die sie eigentlich überwinden sollte. Ein knappes Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution schlug eine Gruppe eigenwilliger sowjetischer Architekten und Stadtplaner vor, das gesamte Land mit einem Siedlungsnetz zu überziehen, das die Linien der von Lenin gewollten und durchgesetzten Elektrifizierung der jungen sozialistischen Nation nachzeichnen sollte. Dabei folgten sie Visionen des Parteivorsitzenden, die manches vorwegzunehmen scheinen, was unsere kapitalistische Informationsgesellschaft propagiert: „In der heutigen Zeit, da die Übertragung elektrischer Energie über weite Entfernungen möglich ist und da die Techniken des Transports verbessert wurden, gibt es überhaupt keine technischen Widerstände dagegen, die Bevölkerung mehr oder weniger gleichmäßig über das ganze Land neu anzusiedeln und doch weiterhin Nutzen zu ziehen aus den Schatzkammern von Wissenschaft und Kunst, die sich über Jahrhunderte in nur wenigen Zentren angehäuft haben.“ Später gingen dieselben Planer dazu über, nur zwischen den neuen Industriekombinaten Band-Städte spannen zu wollen, in denen die Arbeiter wohnen, sich versorgen und erholen sollten. Kurz darauf wurde das Modell noch einmal modifiziert: Die Knotenpunkte der Kombinate sollten entfallen, die Industrie in die BandStädte integriert werden. Alle drei Siedlungssysteme hätten jegliche städtische Konzentration, sei sie alt oder neu, grundsätzlich erübrigt. Die Einsicht, warum dies geschehen müsste und auch würde, verdankte der Planer Nikolaj Miljutin wiederum seiner intensiven LeninExegese: „Die moderne Stadt ist das Produkt einer merkantilen Gesellschaft und wird mit ihr verschwinden, indem sie allmählich in die sozialistische Industrielandschaft übergeht.“ Doch auch diese Ideen blieben auf dem Papier, und sämtlichen desurbanistischen Bemühungen zum Trotz wuchsen wie in ganz Europa auch in der Sowjetunion die großen Städte wie Moskau und St. Petersburg alias Leningrad immer rascher. Allerdings nicht dadurch, dass sie ihr Zentrum verdichteten und am verdichteten Zentrum anbauten, sondern dadurch, dass sie in zunehmend fragmentierten und aufgelockerten peripheren Ansiedlungen explodierten. Heute wohnen in Europa etwa zwei Drittel der Bevölkerung in dem, was neutral als Peripherie und zunehmend abschätzig als urban sprawl bezeichnet wird. Zeitgenössische Städtebau-Theorien und der Mythos von Suburbia Lange Zeit ein blinder Fleck auf der Landkarte der städtebaulichen Disziplin, wurde Suburbia in den achtziger und neunziger Jahren auch zum Gegenstand analytischer und theoretischer Auseinandersetzungen. In seinem Buch Zwischenstadt, dem er den Untertitel „Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land“ beifügte, setzte sich Thomas Sieverts mit der verstädterten Landschaft oder verlandschafteten Stadt aus einander. Er begriff sie als neuartigen Stadt- und Strukturtyp, der ebenso neuartige Planungsinstrumente erforderte, um produktiv transformiert zu werden. Als Untersuchungsgebiet wählte er die Rhein-Main-Region und stellte fest, dass die diffuse Peripherie (etwa mit ihren konversionsbedingten Brachflächen) auch in die Kernstadt vordringe. Er rief dazu auf, die Zwischenstadt auch als ein Feld neuer, nicht zuletzt gestalterischer Möglichkeiten zu begreifen. Ähnlich, aber umfassender und abstrakter argumentierten Franz Oswald und Peter Baccini in ihrem Forschungsansatz Netzstadt. Sie gingen nicht von Räumen, sondern von Materie, Energie, Stoffflüssen und ökonomischen Zwängen aus. Sie unterschieden vier Aktivitätsfelder (Ernähren und Erholen, Reinigen, Wohnen und A rbeiten, Transportieren und Kommunizieren) und gelangten zu sechs Flächenkategorien: Verkehrssysteme, Siedlungen, Gewässer, Wälder, landwirtschaftliche Flächen, Brachen. Diese untersuchten sie nach den sechs Analysekriterien Dichte, Diversität, Flexibilität, Identi fikation, Ressourceneffizienz und Autarkiegrad. Hauptziele waren die dauerhafte Verbesserung der kultur landschaftlichen Qualitäten und die Schaffung eines Urbane Zukunft in der Wissensökonomie ökologischen Gleichgewichts in den verschiedenen Regionen. In ihren Szenarien, die sie am Beispiel der Kreuzung Schweizer Mittelland entwickelten, demon strierten sie den Umbau bestehender urbaner Systeme auf dem Weg zu einer umweltverträglichen Lebensform. Die Verdichtung, die sie dabei forderten, war nicht bau licher Art, sondern auf die Stoffflüsse und die Aktivitätsfelder bezogen. Radikaler, aber auch auswegloser deutete Rem Koolhaas das Phänomen Stadt. Er ging davon aus, dass das marktbeherrschte System der zeitgenössischen Welt sämtliche Werte, die einst Architektur und Städtebau bestimmten, umgestürzt habe. Sowohl die historische Stadt mit ihren Denkmälern und gewachsenen Strukturen als auch die Stadt der Moderne mit ihrem funktio nellen Anspruch und ihrem sozialen Programm seien obsolet geworden. Die eine sei das Steckenpferd von Nostalgikern, die andere ein Hirngespinst von Idealisten: Heute lebten wir in der „generischen Stadt“, einem universellen Phänomen, das keinerlei Modell gehorcht und fern jeglicher Steuerungsmöglichkeit auswuchert. In ihr sei die Geschichte so gut wie ausgelöscht, das urbane Gefüge zunehmend aufgelöst und instabil, und das Stadtgebilde dementsprechend artifiziell. Antidote zu diesem pessimistischen Befund einer allgegenwärtigen diffusen, anarchistischen Stadt aus shopping malls und junk space zeigte Koolhaas nicht auf. Eher tat dies die von ihm unmittelbar beeinflusste Architektengruppe MVRDV, die für die Rhein-Ruhr-City, die sie als unentdeckte Metropole bezeichnete, das ironisch einnehmende Programm Region Maker entwickelte. Die jungen holländischen Architekten erklärten, die Komplexität der globalisierten Welt vermöge durch die klassischen Planungsinstrumente nicht mehr e rfasst zu werden, und schufen neue Werkzeuge zur Visualisierung und Verräumlichung von geradezu karika tural überzogenen „typischen“ identifizierbaren Regionen. Dabei beschwörten sie extreme Szenarien (park scenario, archipelago scenario, campus scenario, network scenario) als große Ideen einer parametrischen Zukunftsvision, die zwischen hyperverdichteten Mega 57 strukturen und entleerten Landschaftsräumen oszilliert. Einen anderen Ansatz verfolgte, ebenfalls im Fahrwasser von Koolhaas’ Sicht auf die Stadt, Francine Houben mit ihrer Arbeit Mobility – a room with a view. Sie ging vom Individuum aus, das sich mit dem Automobil im öffentlichen Raum bewegt. Sie entwickelte eine Strukturierung dieses öffentlichen Raums auf regionaler sowie überregionaler Ebene, um ihn wahrnehmbar und unterscheidbar zu machen. Ihr Hauptuntersuchungsgebiet war die niederländische Randstadt, für welche sie die Werkzeuge einer Ästhetik der Mobilität entwickelte. Dabei arbeitete sie sowohl mit der typologischen Differenzierung der Autobahn in Fahrbahn, Randstreifen und Feld, als auch mit der visuellen Verdichtung von Einzelobjekten in der Landschaft, die dadurch auch (und gerade) bei hoher Geschwindigkeit lesbar werden sollten. Gingen alle diese Ansätze im Grundsatz von ökonomischem Wachstum, Beschleunigung der Lebensrhythmen und, mit Ausnahme der Zwischenstadt, von urbanistischer Expansion aus, so machten sich die Vertreter des New Urbanism die gegenteiligen Hypothesen zueigen: Verlangsamung, Anhalten, Schrumpfung. Ausgangspunkt ihrer Forschung und Planung bildete der urbane Raum, von dessen Qualifizierung sie sich auch eine Stärkung des sozialen Zusammenhalts versprachen. An dieser Qualifizierung arbeiteten sie transdisziplinär auf drei Ebenen. Auf der Ebene des Masterplans, der Gesamtanlage, Parzellierung und öffentliche Räume festlegt; auf jener der Codes, einem Regulativ von Gebäudetypen und Bauelementen und auf jener der Charette, den kurzen und intensiven Entwurfs-Sitzungen, an welchen sämtliche Betroffenen im Sinne einer aktiven Partizipation teilnehmen. Ihr ursprüngliches Untersuchungsund Handlungsgebiet waren die nordamerikanischen Suburbs, aber durch die Gründung des Congress for European Urbanism, der aus dem Congress for the New Urbanism hervorging, geriet auch die europäische Stadt zu einem wichtigen Betätigungsfeld. 58 RegioPol eins + zwei 2011 Umwertungen, oder: Das historische Zentrum als modernes Lehrstück Bei aller Unterschiedlichkeit haben sämtliche zeitgenössischen städtebaulichen Theorien eines gemeinsam: Sie gehen, euphorisch oder widerstrebend, vom Primat der Peripherie aus. Ob politisch, sozial, ökonomisch oder einfach nur faktisch legitimiert: Suburbia ist nicht nur die Stadt der Gegenwart, sondern auch jene der Zukunft. Sie vermag zwar befragt, analysiert, kritisiert, korrigiert und modifiziert zu werden, wird aber nicht grundlegend in Frage gestellt. Dabei, so scheint es, wäre es ebenso ein Versuch wert, den entgegengesetzten Weg zu beschreiben: vom Stadtzentrum auszugehen, um die Peripherie zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verändern. Zumal die Ablehnung oder gar Verunglimpfung der historischen Stadt mitnichten eine Erfindung unserer Zeit ist. Spätestens seit der Aufklärung war das alte Stadtzentrum, die überkommene Stadt des Mittelalters oder der Renaissance, die sich in Europa in der Regel auf den Ruinen der antiken Stadt eingenistet hatte, Inbegriff all dessen, wovon man sich im modernen Städtebau verabschieden wollte. Für den Marquis de Pombal war sie eine obsolete Struktur, die in Lissabon das Erdbeben von 1755 ausradiert und unbedingt durch eine neue, den neuen Anforderungen entsprechende ersetzt zu werden hatte. Für Ildefonso Cerdá war sie innerhalb seines Ensanche für Barcelona wie ein Tuberkulosefleck in einer Lunge: Da es ihm nicht gestattet wurde, den Fleck selbst zu entfernen, tröstete er sich damit, dass die Innenstadtbewohner ihren Heimatort wohl freiwillig verlassen w ürden, um sich in den quadratischen Wohnblöcken zwischen dem großzügigen und hygienischen Straßenraster seiner Stadterweiterung niederzulassen. Für George Eugène Haussmann war sie, jedenfalls in Paris, ein Krankheitsherd und ein „fast unbenützbares Labyrinth“, in dem sich hauptsächlich Kriminelle und Aufständische verbargen und das es gewaltsam aufzubrechen galt. Für Le Corbusier war sie eine Maschine, die nicht mehr funktionierte und mithin durch eine neue er- setzt zu werden hatte, wofür er wortgewaltig zu radikalen „chirurgischen“ Operationen aufrief. Noch für Hans Scharoun war sie ein unbrauchbares Überbleibsel aus der Geschichte, das etwa in Berlin die Bombardements des Zweiten Weltkriegs „mechanisch“ aufgelockert hatten (ein bemerkenswerter Euphemismus für die tabula rasa, die etwa Roberto Rossellinis Film „Germania ora zero“ dokumentiert), womit endlich die Chance eines überfälligen „Neubaus“ gegeben wäre. Ist das historische Stadtzentrum wirklich die unbrauchbare Spolie, als welche sie Scharen von Planern und Architekten deklariert haben, von ihren Funktionen entkleidet und ausgehöhlt, nur als Freilichtmuseum tauglich, das von nostalgischen Touristen aufgesucht wird? Und, wenn dem so wäre: Woher kommt es, dass alle diejenigen, die es noch dürfen oder es sich leisten können, nach wie vor in den historischen Stadtzentren wohnen, sofern diese nicht architektonisch und sozial bis zur Unkenntlichkeit beschädigt worden sind? In den Innenstädten von Paris, London, Mailand oder Zürich leben immer noch Menschen, und diese Menschen empfinden ihren zentralen Wohnort als Privileg, um das sie beneidet werden. In der Tat ist die Innenstadt nach wie vor nicht nur ausgesprochen funktionstüchtig, sondern überwiegend ein Ort hervorragender Lebensqualität. Man kann dort gut wohnen, zumeist in großen und ruhig gelegenen Räumen, mit Blick auf eine architektonisch attraktive Umgebung. Man kann dort gut arbeiten, oft in umgenutzten Häusern, die offene, kommunikative und reizvolle Situationen schaffen. Man kann sich dort gut bilden, erholen und amüsieren. Und zwischen alledem kann man sich gut bewegen, weil die Entfernungen in wenigen Gehminuten zurückgelegt werden können. Hinzu kommt, dass die Wege angenehm sind: Sie führen durch schön gestaltete und belebte Gassen, Straßen und Plätze voller Läden, Cafés und Restaurants. Gerade dieses System von öffentlichen Räumen, dieses, um das Wort von Haussmann zu verwenden, „Labyrinth“ erweist sich als vielleicht wichtigstes Element des historischen Stadtzentrums. Es ist so fein vernetzt wie Urbane Zukunft in der Wissensökonomie 59 Bei aller Unterschiedlichkeit haben sämtliche zeitgenössischen städtebaulichen Theorien eines gemeinsam: Sie gehen, euphorisch oder widerstrebend, vom Primat der Peripherie aus. nie wieder in der Geschichte der Stadt, die vor allem aus kurzatmigen ökonomischen Gründen zunehmend gröbere Strukturen hervorgebracht hat; und durch eben diese feine Vernetzung schafft es nicht nur direkte Verbindungen zwischen den verschiedenen Punkten der Stadt, sondern dazwischen auch zahllose Gelegenheiten der geplanten und ungeplanten Begegnungen und damit des zwischenmenschlichen Austausches. Dies macht die alte Stadt zum Kommunikationsdispositiv: also zu dem, was heute jedes aufgeklärte Privatunternehmen, jede fortschrittliche und ambitionierte öffentliche Institution mehr oder minder künstlich zu reproduzieren versucht. Die zeitgenössische Bildungs- und Arbeitswelt erfindet alle möglichen Apparate und Strukturen, um das Vermögen an Informationen, das sie verwaltet, aber oft mangelhaft verwertet, besser zirkulieren zu lassen; die historische Stadt ist ein Modell für vorbildliches Knowledge Management. Genau im Gegensatz zu dem, was Le Corbusier unentwegt behauptet hat, ist sie eine extrem effiziente Maschine. Die alte Stadt ist freilich noch viel mehr als dies. Entstanden in einer Zeit, als die urbs noch Abbild ihrer c ivitas und mithin kein Durcheinander von Funktionen waren, sondern ein Wesen, förderte sie eine auch individuelle, persönliche Beziehung mit eben diesem Wesen. Diese Beziehung ist eine kontinuierliche physische, intellektuelle und emotionale Auseinandersetzung. Sie erlaubt Lernen und Erinnern und damit gemeinsame Identifikationen jenseits aller Ungleichheit. Mit anderen Worten: Sie fördert die Konstruktion und Verfeinerung einer Gemeinschaft. Insofern ist das historische Stadtzentrum ein Lehrstück; insofern ist es aber auch unersetzbar. Es ist ein Lehrstück, weil viele seiner Eigenschaften extrapoliert und in neue städtische Projekte übertragen werden können und müssen, um analoge positive Eigenschaften zu erzielen. Es ist unersetzbar, weil zwar alles nachgeahmt werden kann, nur nicht seine Geschichtlichkeit und seine Materialisierung, die das besitzt, was die Denkmalpflege den „Alterswert“ nennt. Anders ausgedrückt: Die historische Stadt ist eng mit dem Leben der Menschen ver- knüpft und authentisch. Diese Authentizität und diese Verknüpfung mit dem Leben vermag keine noch so perfekte Nachahmung zu reproduzieren. Und beide Qualitäten sind in einer Welt der Globalisierung, des Surrogats und der Entfremdung von geradezu unschätzbarem Wert. Bausteine einer Theorie der städtischen Dichte Zu den zentralen Eigenschaften, die aus dem Lehrstück des historischen Zentrums extrapoliert und in neue städtebauliche Projekte übertragen werden können und müssen, gehört die städtische Dichte: Sie ist, gerade weil sie auf verschiedenen Ebenen greift, aktueller und moderner denn je. Für die bauliche Dichte sprechen zunächst einfache funktionale Gründe. Je enger die Häuser zusammen rücken, desto besser ist ihre Verbindung untereinander: So können sich bequeme und durchaus auch kreative Synergien bilden. Und je enger auch die unterschiedlichen Nutzungsbereiche der Stadt zusammenrücken, die Wohnviertel, die Arbeitsstätten, die Kulturbauten und die Freizeiteinrichtungen, umso eher und öfter wird zwischen ihnen ein Austausch stattfinden. Dabei entfallen die langen Wege, welche die Peripherie verlangt, und ebenso die aufwändigen Verkehrserschließungen. Vieles kann zu Fuß erreicht werden, und das Automobil kann wenigstens ansatzweise aus der Stadt herausgehalten werden. Dies umso mehr, als die klassische räumliche Trennung von Arbeit und Privatleben in der modernen Gesellschaft zunehmend aufgehoben wird. Dieser Lebensart kommt die Nähe von Haus und Arbeitsort, wie sie die gotische Stadt bereits vorgeführt hat, wieder stark entgegen. Zudem wollen auch und gerade diejenigen Menschen, die ein berufszentriertes Leben führen, ihre Zeit nicht mit langen Wegen verschwenden – und schon gar nicht mit außerberuflichen Pflichten. In der städtischen Dichte entwickelt sich auch dafür leichter ein entspre- 60 RegioPol eins + zwei 2011 chendes Angebot wie Haushaltshilfen, Lieferservice, C atering und Wäscherei. Nicht zuletzt deswegen ist die City ein kongeniales und inspirierendes Umfeld für kreative Berufsleute. Auch denjenigen, die in der eigenen Wohnung arbeiten, fällt es dort leichter, ein soziales und professionelles Netz zu knüpfen. Zusammengefasst: Die räumliche Nähe erleichtert alle Funktionen der Stadt, vom Wohnen zum Arbeiten über die Freizeit, und minimiert dabei den Verkehr. Dadurch fördert sie gerade jene Mischung von Aktivitäten, die Urbanität ebenso attraktiv wie inspirierend macht. Damit erhält die physische städtische Dichte auch eine sozialpolitische Dimension. Die historisch mit der Stadt verbundene Hoffnung auf Emanzipation, die im Satz „Stadtluft macht frei“ zusammengefasst wurde und bereits in der Antike, vor allem aber im Mittelalter einen handfesten Hintergrund hatte, besteht heute ebenso, wenngleich unter veränderten Umständen. Es sind nicht mehr die unterdrückten Bauern und bedrohten Händler, die in der Stadt eine neue Freiheit finden, sondern die Zuwanderer, denen im differenzierten Arbeitsmarkt und in der metropolitanen Anonymität die Chance eines ökonomisch gesicherten und sozial integrierten Lebens geboten wird. Auch dafür steht das urbane Zusammenrücken. Doch bietet die städtische Dichte nicht nur den Menschen, die von der Fremde kommen, eine bessere Lebenschance: Auch diejenigen, welche die moderne Gesellschaft tendenziell wieder ausgrenzt, finden in ihr Schutz und Komfort, nämlich die Alten. In einem dichten Stadtgewebe können sie, auch wenn sie nicht mehr sonderlich mobil sind, vom Lebensmittelladen bis zum Arzt und von der Wohnung der Nachbarn bis zum Kino alles besser erreichen. Weiterbildung bleibt ebenso möglich wie die Pflege sozialer Kontakte. Da die moderne Gesellschaft, zumindest die europäische, immer älter wird, gerät Dichte aus gesellschaftspolitischen Gründen zu einem modernen Postulat. Aber auch aus ökonomischen Gründen. Das Leben in der Peripherie scheint preiswert zu sein, weil dort die Mieten respektive die Grundstückskosten in der Regel niedriger liegen als in der Stadt, ist es aber in Wahrheit nicht. Die langen Wege ins Büro, zum Einkaufszentrum, zum Multiplexkino oder einfach ins Stadtzentrum schlagen, zumal sie sich periodisch wiederholen, im Familienbudget zu Buche; vor allem wenn sie nicht mit öffent lichen Verkehrsmitteln, sondern mit dem Privatwagen zurückgelegt werden. Dieser ist in den weitläufigen Vorortsiedlungen, in denen man bis zur nächsten Bushaltestelle kilometerweit laufen muss, oft die einzige Option. Das Automobil wird in der Peripherie zum unverzicht baren Hilfsmittel, und zwar nicht nur für jede Familie, sondern letztlich für jeden Einzelnen: Nicht umsonst spricht man neuerdings von Zwangsmobilität. Allein in der Schweiz hat laut einem Bericht des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE) die Zahl der Pendler seit 1970 um 41 Prozent zugenommen, rund zwei Drittel der Erwerbstätigen arbeiten nicht in der Gemeinde, in der sie wohnen. Parallel dazu haben sich der Einkaufsverkehr (vor allem zwischen Wohnung und Einkaufszentren) und der Freizeitverkehr exponentiell entwickelt. Und die täglichen Fahrten kosten nicht nur Geld, sondern auch Zeit. Ein europäischer Pendler verliert im Durchschnitt 12 bis 14 Stunden Zeit pro Monat im Vergleich zu einem Innenstadtbewohner; das entspricht sechs Kinofilmen, fünf Restaurantbesuchen oder vierzehn Joggingrunden. Das Leben in der Peripherie ist mithin sowohl für diejenigen unwirtschaftlich, die auf das Geld schauen müssen, als auch für diejenigen, die es sich zwar leisten könnten, aber mit ihrer Freizeit sorgsam haushalten. Dichte ist indessen nicht nur für den Einzelnen ökonomisch vorteilhaft, sondern auch für die Gemeinschaft. Jede Vorortsiedlung setzt aufwändige Verkehrs erschließung, Kanalisation und Anschlussleitungen voraus; Einrichtungen, die eine kompakte Ansiedlung in geringerem Maße benötigt und besser auslastet. Die Jahreskosten für Bau, Betrieb und Werterhalt der Straßen, Wasser-, Abwasser- und Elektrizitätsversorgung pro Einwohner betragen bei verdichteter Bebauung weniger als 1.000 Schweizer Franken; bei einer Einfami lienhaus-Siedlung mehr als das Doppelte. In der gesamten Schweiz könnten laut einer Rechnung von ProNatura Urbane Zukunft in der Wissensökonomie jährlich bis zu zwei Milliarden Franken an Infrastrukturen eingespart werden, wenn man verdichtet bauen würde. Suburbia ist das Produkt eines Wohlstands, der in der Geschichte der Menschheit einmalig war und wohl kaum aufrechterhalten zu werden vermag. Wenn unsere Gesellschaft ihre Lebensqualität unter veränderten ökonomischen Bedingungen bewahren will, wird sie sich von manchem verabschieden müssen, was sich im Unterhalt und in der Benutzung als zu kostspielig erweist: darunter von weiten Teilen der Zwischenstadt. Dies legen bereits einfache marktwirtschaftliche Überlegungen nahe. Weltweit befinden sich die Städte in einem Wettbewerb um die besten Fachleute der verschiedenen Berufssparten, weil diese für ihre Ökonomie unverzichtbar und für ihre Prosperität entscheidend sind. Sie können sie nur anziehen und halten, wenn sie ihnen attraktive berufliche Chancen und hohe Lebensqualität bieten. Beides ist in dichten Ansiedlungen eher gegeben als in der Peripherie: die auch unter diesem A spekt zum Auslaufmodell gerät. Freilich nicht nur aus ökonomischen, sondern auch und vor allem aus ökologischen Gründen. Der gegenwärtige Landschaftsverbrauch durch Baulandausweisung ist unverantwortlich: In der Schweiz beträgt er etwa einen Quadratmeter pro Sekunde. Und auch abgesehen von der Naturzerstörung, die sie rein flächenmäßig mit sich bringt, stellt jede Ansiedlung eine Umweltbedrohung dar: Eine Stadt mit einer Million Einwohner verbraucht täglich 9.500 Tonnen fossiler Brennstoffe, 2.000 Tonnen Nahrungsmittel, 650.000 Tonnen Wasser und 31.500 Tonnen Sauerstoff; zugleich produziert sie 500.000 Tonnen Schmutzwasser, 28.500 Tonnen Kohlendioxyd und jede Menge anderer Abfälle. Von diesen anderen, also soliden Abfällen werden etwa in Manila 7.000 Tonnen pro Tag produziert. Und eine Stadt wie Jakarta, deren Fläche sich seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts verachtfacht hat, benötigt hundertmal mehr Ressourcen, als seine eigene produktive Fläche hergibt. Die Energie- und Verschmutzungsbilanz verschlechtert sich exponentiell, wenn die Stadt nicht mehr eine Stadt ist, sondern Suburbia. Neben dem erhöhten 61 Energieverbrauch durch den motorisierten Verkehr sind der erhöhte Heizbedarf der einzelstehenden Häuser mitsamt der damit zusammenhängenden Emissionen daran schuld. Hinzu kommt die Versiegelung von unverhältnismäßig großen Naturflächen, womit das ökologische Gleichgewicht zusätzlich belastet wird. Geselligkeit und Verfeinerung des Menschen Doch ist und bleibt das ausschlaggebende Argument zugunsten der städtischen Dichte das kulturell-politische. Gleichzeitig mit der Entstehung der antiken Stadt begann man, das Wort urban sowohl für all das zu verwenden, was mit Stadt zusammenhing, als auch für einen entsprechend zivilisierten menschlichen Umgang. Seitdem wurde die Stadt als der Ort betrachtet, in dem sich der Mensch als soziales Wesen entwickeln und verfeinern konnte. David Hume hat dies in seinem Essay „Von der Verfeinerung in den Künsten“ souverän auf den Punkt gebracht: „Je mehr sich diese verfeinerten Künste fortbilden, um so geselliger werden die Menschen; und es ist auch nicht denkbar, dass sie sich etwa, sobald sie genügend Wissens- und Gesprächsstoff angesammelt haben, damit zufriedengäben, für sich allein zu bleiben, oder mit ihren Mitbürgern in jener distanzierten Art zu leben, welche ignoranten und barbarischen Nationen eigen ist. Sie ziehen gruppenweise in die Stadt, lieben es, Wissen aufzusaugen und auszuteilen, ihren Geist und ihre guten Manieren vorzuführen, ihren Geschmack in Konversation und Lebensführung, in Kleidung oder Einrichtung. Neugier lockt den Klugen an, Eitelkeit den Narren, und das Vergnügen beide. Überall formieren sich besondere Clubs und Gesellschaften. Beide Geschlechter begegnen sich in einer leichten und geselligen Art und Weise, und der Charakter wie auch das Benehmen der Menschen verfeinern sich entsprechend.“ Ganz im Sinn der europäischen Aufklärung, zu deren exponiertesten Protagonisten er zählt, beschwört Hume die Stadt als Dispositiv zu Verbesserung und Verfeine- 62 RegioPol eins + zwei 2011 rung des Menschen; und den Antrieb dieses Dispositivs entdeckt er in der Neigung, ja der Leidenschaft, „Wissen aufzusaugen und auszuteilen“. Dabei geht es nicht, wie der Aufklärung zuweilen diskreditierend unterstellt wird, um eine mechanische, additive Anhäufung von Kenntnissen, sondern um individuelle und ganzheitliche Vervollkommnung. Mit ihren anspruchsvollen zwischenmenschlichen Verkehrsformen bietet die städtische Kultur hierfür das Modell, aber auch die konkrete Herausforderung. Darauf weist auch Alfred Döblin hin, der mit seinem Roman „Berlin Alexanderplatz“ 1929 die zeitgenössische Großstadt vorbehaltlos zur eigenen Sache machte, wenn er fünf Jahre zuvor im Aufsatz „Der Geist des naturalistischen Zeitalters“ schreibt: „Die Städte sind Hauptorte und Sitze der Gruppe Mensch. Sie sind der Korallenstock für das Kollektivwesen Mensch. Hat es da einen Sinn, Land und Stadt gegenüberzustellen? Man kann an den Städten manches schwach und gefährlich finden, man kann in dem Streit der Triebe, die in den Städten arbeiten, Partei ergreifen. Man kann aber nicht die Städte selbst, die Brennpunkte des Gesellschaftstriebes, ablehnen oder überhaupt bewerten.“ Als Döblin solcherlei äußerte, war die Großstadt, die seit Jahrtausenden existierte, erstmalig zum Mythos geworden. Sie galt als Brennpunkt des Massenzeitalters, als Entstehungsort fortschrittlicher Kultur, als Zivilisa tionsmaschine par excellence; und sie wurde als die gigantische Schmiede angesehen, in welcher der „neue Mensch“ geschaffen wurde. Bereits Georg Simmel hatte in „Die Großstädte und das Geistesleben“ die Vergeistigung als Grunddimension des Daseins dargestellt und damit kühn sämtliche späteren Großstadt-Theorien vorweggenommen. In vermutlich unbewusster Anlehnung an Hume beschrieb Heinrich Mann in seinem Essay „ Berlin“ 1921 die große Stadt als den einzigen Hort gegen das Antizivilisatorische, wo allein die Verfeinerung der Sitten stattfinden könne, der Einzug der „gesitteten Formen“ und der Verkehr der „verfeinerten, kritischen und tapferen Gesichter“. Und wenn es auch nicht an Stimmen fehlte, die mit Oswald Spengler gegen die „dämonischen Steinwüsten“ wetterten, blieb das „symphonische“ metropolitane Zusammenwirken von Mensch, Architektur und Maschine für den überwiegenden Teil der Öffentlichkeit ebenso faszinierend, wie es Walter Ruttmann in seinem berühmten Berlin-Film aus dem Jahr 1929 eindringlich darstellte. Öffentliche Räume für die res publica Bereits damals war klar, dass es nicht genügt, viele Menschen auf engem Raum anzusiedeln, um Kultiviertheit und Sittenverfeinerung aufkommen zu lassen; aber auch, dass ohne dichte Ansiedlung Urbanität so gut wie unmöglich ist. Eine zentrale Rolle spielten und spielen dabei die öffentlichen Räume, die weitaus mehr sind als hübsche Zutaten für schöngeistige und privilegierte, auf jeden Fall aber weltfremde Faulenzer. Bevor er techno- kratisch besetzt und kommerziell umgewidmet wurde, war der Stadtraum der Ort, wo das Individuum sich im Sinne Humes verfeinern und eben dadurch in die Lage versetzt werden konnte, sich im Sinne Döblins auf seine Mitmenschen einzulassen. Er war mit anderen Worten der Ort der res publica schlechthin: in dem sie geboren, erfunden, gepflegt und verwaltet wurde. Tatsächlich ist der Geburtsort der modernen Demokratie nicht ein Wald oder ein Park, auch nicht eine Patriziervilla oder eine Anwaltskanzlei, sondern ein urbaner Raum: die Agora von Athen. Die politische Geschichte unserer Zivilisation, die helle wie die düstere, wurde auf den Plätzen unserer Städte gemacht: Auf dem Forum Romanum wurden die Zwölf Tafeln aufgestellt, das älteste und grundlegendste Rechtsdokument des antiken Rom, und dort wurden auch Tiberius Sempronius Gracchus und seine Gesinnungsgenossen von den A nhängern der reaktionären Senatspartei erschlagen; auf der Piazza della Signoria in Florenz ließ die Inquisi tion Gerolamo Savonarola verbrennen; auf dem Campo de’ Fiori im mittelalterlichen Herzen Roms wurde Giordano Bruno hingerichtet; auf der Pariser Place de la Révolution (ursprünglich ausgerechnet Place de Louis XI, dann Place Neuve, heute Place de la Concorde) fiel ein Großteil der französischen Aristokratie unter der Guillotine; der auf dem Berliner Königsplatz versammelten Menge verkündete Philipp Scheidemann das Ende des Kaiserreichs und die Geburt der Republik; von der Mailänder Piazza di San Sepolcro nahm der italienische Faschismus seinen Anfang, um über die demagogischen Triumphe von Piazza Venezia in Rom auf der trostlosen Fläche von Piazzale Loreto, wiederum in Mailand, ein gleichermaßen trostloses Ende zu finden; auf dem Roten Platz in Moskau wurden die Riten des Realen Soz ialismus abgehalten; die Protestkundgebungen auf dem Prager Wenzelsplatz führten zur Überwindung der polnischen Diktatur. Die Kirchen schufen sich Plätze und Straßenzüge, um Predigten und Prozessionen wirkungsvoll abzuhalten, die wirtschaftlichen Mächte die Grand’Place in Brüssel, den Alten Markt, heute Rynek Glowny in Krakau, die P iazza degli Affari in Mailand. Und für die großen Spiele, für die Turniere, Wettkämpfe, Theatervorführungen und Stadtfeste wurden eigens Plätze wie der Campo in Siena oder die Piazza Castello in Turin oder der Largo di Palazzo in Neapel oder die Place Royale (heute Place des Vosges) in Paris eingerichtet. Heute sind die Mechanismen der Politik, der Religion, der Ökonomie und der Kultur subtiler und diffuser, aber auf die urbanen Räume können und wollen sie nicht verzichten. Nach wie vor finden große politische Kund gebungen nicht nur im Fernsehen, sondern auch und in erster Linie im urbanen Raum statt. Nach wie vor verleiht der Papst seinen Ostersegen urbi et orbi auf jenem Petersplatz in Rom, den Gian Lorenzo Bernini für Alexander VII. gestaltet hat. Nach wie vor drängen die multinationalen Großbanken an die noblen städtischen Straßen, Alleen und Esplanaden. Nach wie vor finden Feste und Konzerte auf den Domplätzen, den Marktplätzen, den Urbane Zukunft in der Wissensökonomie Hauptplätzen der europäischen (und nicht nur europäischen) Metropolen statt. Denn nach wie vor sind diese der Ort der Öffentlichkeit par excellence. So haben sich auch die Vorhersagen nicht bewahrheitet, in der neuen Ära der ubiquitären Telekommunikation würde die Funktion der Stadt als Begegnungsort obsolet werden. Im Gegenteil: Gerade jene Menschen, die viel mit dem Computer arbeiten, wollen nicht isoliert bleiben und suchen verstärkt die persönliche Begegnung. Und gerade diese wird mit zunehmender Dichte der Stadt wahrscheinlicher. Dabei hat das Internet auch die integrative Funktion der urbanen Ballungsräume nicht übernehmen können. Diese integrative Funktion ist umso bedeutsamer geworden, je mehr die vor allem ökonomisch bedingten Migrationsströme die Kulturen zusammenwürfeln. Dabei sind die zufälligen Begegnungen, die durchaus auch Irritationen hervorrufen, die beste Gewähr gegen Fragmentierung und Extremismus. Denn sie zeigen die Unterschiede auf, aber auch die Möglichkeiten, trotz der Unterschiede dadurch zusammenzuleben, dass man über sie hinweg kommuniziert. Dies ist nicht nur Überlebensstrategie, sondern Bereicherung. Die Städte sind öffentliche Einrichtungen für die Produktion individueller Erlebnisse. Je dichter die Stadt, umso mehr Erlebnisse birgt sie: nicht nur zur Sittenverfeinerung und Erbauung, sondern auch zum produktiven Vergnügen. Für die neue Stadt des Zusammenrückens Es ist kein Zufall, dass die neue Stadt des Zusammenrückens, die neue Stadt der Dichte bislang nicht realisiert wurde; ebenso wie es kein Zufall ist, dass die Peripherie so ausgedehnt und so ausgefranst ist, wie sie ist. Die Letztere ist weniger ein Produkt falscher Planung als ein Produkt falscher Präferenzen: politisch gewollt und mit gesetzlichen Instrumenten und finanziellen Anreizen forciert. Diese Anreize, diese Instrumente und dieser Wille müssen umgepolt werden. Doch zunächst (und bis zu einem gewissen Grad auch unabhängig davon) müssen für die Stadt der Dichte architektonische Leitbilder entwickelt werden. Tatsächlich führt die architektonische Umsetzung des Dichtepostulats nicht zu einer von vornherein definierten Stadtform. In den rund zehn Jahrtausenden, in denen dichte Städte existieren, sind die unterschiedlichsten Typologien entwickelt worden, um möglichst viele Menschen auf möglichst wenig Boden anzusiedeln. Sie sind von Ort zu Ort, von Klima zu Klima, von Technologie zu Technologie und vor allem von Kultur zu Kultur verschieden. Auf dieser Verschiedenheit wird eine zeitgenössische Stadtarchitektur der Dichte aufbauen. Sie muss in die Vergangenheit zurückblicken, um von ihr zu lernen; etwa von den vielfältigen und attraktiven Großwohnanlagen, die das pauschal diskreditierte späte 19. Jahrhundert in fast allen euroäischen Metropolen entwickelt hat; etwa in Berlin die großartige Hofanlage von Riehmers Hof 63 garten mit der Miethausgruppe St. Bonifatius, den (heute zerstörten) Goethepark oder die erfolgreich revitalisierten Hackeschen Höfe. Und sie wird mit Expe rimenten in die Zukunft weisen müssen, die aus den neuen Lebensgewohnheiten und sozialen Strukturen ebenso neue Wohnformen erfinden, die Nähe und Ab geschirmtheit zugleich ermöglichen. Auch hierfür gibt es bereits vielversprechende zeitgenössische Ansätze. Mit solcherlei Experimenten wird man nicht aufs Land ziehen, um es weiterhin frohgemut in Bauland zu verwandeln, sondern zunächst in die Stadtgebiete. Sie bergen selbst in zentralsten Bereichen Brachflächen, die erfindungsreich bebaut und intelligent genutzt werden können. Vor allem aber wird man sich die Peripherie mit ihren untergenutzten oder ganz und gar ungenutzten Grundstücken vornehmen müssen. Allein in der Schweiz summieren sie sich zu einer Fläche, die jener der Stadt Genf entspricht und Raum für 13.000 Betriebe mit insgesamt 140.000 Menschen und für Wohnungen und Wohnfolgeeinrichtungen für 190.000 Menschen böte. Es gilt also, neue Verdichtungsstrategien zu entwickeln, die den besonderen Bedingungen und dem besonderen Charakter der Vorstadt gerecht werden. Dabei wird man manche Überraschung erleben. So ist beispielsweise Los A ngeles, jene kalifornische Megalopolis, die aus 177 Städten besteht, das am dichtesten bewohnte Gebiet der Vereinigten Staaten von Amerika: dichter als New York oder Chicago. Los Angeles gehört aber auch zu den Großstädten, die am wenigsten Wolkenkratzer hat. Mit anderen Worten: Die Hochhausstadt ist nicht notwendige Bedingung für Dichte. Natürlich würde der Befund anders aussehen, wenn man den Vergleich mit Manhattan und dem Loop ziehen würde. Immerhin zeigt das Beispiel, dass Dichte keine stadttypologische Konditionierung bedeutet; und dass es im zeitgenössischen Urbanismus nicht um die Quantität, sondern um die Qualität der Dichte gehen muss. Für diesen Wert gibt es kein objektives und vor allem kein allgemein gültiges Maßsystem. Nimmt man ihn ernst, verabschiedet man sich ein für allemal von den stereotypen Bildern, die der Topos der dichten Stadt heraufbeschwört. Und stellt sich der Herausforderung eines schier unübersehbaren Feldes von neuen baulichen Formen des städtischen Zusammenrückens, die darauf warten, entdeckt, geprüft und umgesetzt zu werden. Die Architektur der Dichte wird überall anders sein, flächendeckend oder aufgetürmt, einheitlich oder gegliedert, geometrisch oder diffus. Die Option der Dichte steht nicht zur Debatte, weil sie funktional, ökonomisch, ökologisch, gesellschaftlich und kulturpolitisch unvermeidlich ist; ihre Umsetzung hingegen wohl. So werden unsere Städte das bleiben, was sie, wenn sie den Namen verdienen, immer waren: Orte der Vielfalt, der Unterschiedlichkeit und der Überraschung. 64 RegioPol eins + zwei 2011 Urbane Zukunft in der Wissensökonomie 65 Klaus R. Kunzmann Von der europäischen Stadt, über die Stadt des Wissens und die kreative Stadt, zum Archipel der Stadtregion I n Zeiten der Globalisierung stehen nicht nur Staaten und Märkte im Wettbewerb, sondern auch Städte. Sie konkurrieren um Investitionen, um kulturelle, sportliche und politische Events, um Medienaufmerksamkeit, insbesondere aber um hoch qualifizierte Arbeitskräfte. Dieser Wettbewerb veranlasst Städte, ihre Stadtentwicklungspolitik darauf auszurichten. Sie fördern Museen, lassen sie bevorzugt von berühmten Architekten errichten, damit die Projekte als Leuchttürme über die lokalen Grenzen hinausstrahlen. Sie preisen mit schönen Worten die Vorzüge der Stadt und merken oft gar nicht, dass es dieselben Merkmale sind, die andere Städte auch zur Schau stellen. Sie initiieren Ereignisse, die heute Events heißen, um erhöhte Medienaufmerksamkeit zu erzielen. Städte bewerben sich um sportliche, kulturelle, wirtschaftliche oder auch politische Großereignisse, weil sie wissen, dass nur aus der Alltagsroutine der kommunalen Politik herausragende Ereignisse, wie Festivals, Olym piaden oder politische Gipfelgespräche, zusätzliche finanzielle Mittel in die Stadtkasse bringen, die überregionale oder gar internationale Medien auf die Stadt aufmerksam machen und Journalisten, Investoren und Touristen anziehen. Wie Unternehmen der Immo bilienbranche zeigen auch Städte Präsenz auf inter nationalen Immobilenmessen, den Jahrmärkten der Investoren- und Bürgermeistereitelkeiten, um gebaute Stadtvisionen an den Mann oder die Frau zu bringen, oder zumindest, um die Standortvorzüge der Stadt zu dokumentieren. Bei diesem Standort-Wettlauf geht es um Arbeitsplätze und hoch qualifizierte, kreative Arbeitskräfte, um Talente, um Investoren und Investitionen, um steuerzahlende Bewohner und Betriebe, auch darum, erfolgreiche Unternehmer, eingesessenen Handel, lokales Kapital und die besten Wissenschaftler und Absolventen der Universitäten und Hochschulen am Ort zu halten. Dieser globale Wettbewerb findet statt. Das Geschäft mit dem Wettbewerb veranlasst Marktfor schungsinstitute und Beratungsunternehmen mit Hilfe mehr oder weniger nachvollziehbarer Indikatoren Rangfolgen der Attraktivität, der Wirtschaftskraft, der Kreativität, der Nachhaltigkeit oder auch der allgemeinen b Brechthaus, Augsburg Lebensqualität zu erstellen. Dieser Wettbewerb zwingt Städte, sich mehr darum zu kümmern, was an anderen Orten geschieht, auch städtische Außenpolitik zu betreiben, die über Städtepartnerschaften hinausgeht. Immer wieder wird der globale Wettbewerb als Vorwand genutzt, um kommunale Projekte durchzusetzen, die in der lokalen Bevölkerung umstritten sind. Die Geschehnisse um Stuttgart 21 sind das beste Beispiel dafür. Doch alle diese Rankings und das darauf reagierende Benchmarking verschärfen den Wettbewerb der Städte nur noch weiter. Die europäische Stadt Es sind ganz unterschiedliche Erfahrungen und Anliegen, die die europäische Stadt zu einem viel diskutierten Paradigma der Stadtentwicklung gemacht haben. Es sind die Bebachtungen über die gesichtslose Entwicklung von sich immer weiter ausdehnenden Stadtlandschaften. Es ist die Angst vor dem Verlust der Identität europäischer Städte durch konsumorientierte Strategien des Handels, der mit der Renaissance innerstädtischen Lebens einhergeht. Es ist vielleicht aber auch die Furcht vor dem Verlust europäischer Identitäten vor dem Hintergrund urbaner Entwicklungen in Asien, Afrika und Lateinamerika. Mit vielen Worten haben Historiker und Soziologen, Architekten und Urbanisten, Städtebauer und Raumplaner die Schönheit, aber insbesondere die kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Errungenschaften der europäischen Stadt beschrieben. Die europäische Stadt ist eine Stadt mit viel Urbanität in ihren historischen Stadtkernen, mit ihren Kirchen, Palästen und Bürgerhäusern mit prächtigen Repräsentationsbauten feudaler Vergangenheit, mit Gassen, Boulevards, Passagen und Marktplätzen, mit öffentlichen Parks und Unterhaltungsvierteln. Es ist diese europäische Stadt, die Architekten und Urbanisten am Herzen liegt, die Fremdenverkehrsmanager preisen und die werbeträchtige Journale zwischen Anzeigen für Luxuskarosserien, Modelabel und Luxus 66 RegioPol eins + zwei 2011 küchen beschreiben, in denen schlank machende Essensrezepte mit Produkten regionaler Küche erprobt werden. Dieses identitätsstiftende Bild der europäischen Stadt wird in klugen Essays und theoretischen Annäherungen in wissenschaftlichen Journalen, stadtpolitischen Schriften dokumentiert. Es wird in Diplomarbeiten und Dissertationen hundertfach analysiert und beschworen. Im fachlichen Diskurs wird die europäische Stadt meist den gesichtslosen, suburbanisierten Stadtlandschaften gegenübergestellt, die im letzten Jahrhundert in Nordamerika entstanden sind und die in Asien, Afrika und Lateinamerika gegenwärtig entstehen, weil immer mehr Menschen vom Land in die großen Städte ziehen, um Beschäftigung zu finden, aber auch um die verlockenden Konsum- und Unterhaltungsangebote von Metropolen zu nutzen. Der Diskurs über die europäische Stadt ist ein Diskurs zwischen Sehnsucht und sozialer Wirklichkeit und vielleicht auch ein Diskurs, der das drohende Ende der (alten) europäischen Stadt betrauert, die natürlich nicht am Ende ist. Aber es ist ein Hinweis darauf, dass die neuen Städte der Geschichte, die Städte des 21. Jahrhunderts in Asien entstehen, und zwar in einer atemberaubenden Geschwindigkeit, die alles, was Europa erfahren hat, bei Weitem übersteigt. Bei all diesen Huldigungen der europäischen Stadt wird ihre Vergangenheit leicht verklärt. Dabei war die europäische Stadt, deren Luft angeblich so frei machte, immer auch eine Stadt der sozialen Polarisierung, mit einer feudalen oder bürgerlichen Oberklasse, die schon im Mittelalter die sozial schwächeren und kulturell andersartigen Stadtbewohner an den Rand oder sogar vor die Mauern der Stadt verdrängte. Die europäische Stadt ist daher auch die Stadt sozialer Gegensätze und Armutsinseln, die Stadt, die von Grundbesitzern dominiert und immer wieder von Grundstücksspekulanten manipuliert wird. Diese europäische Stadt ist aber auch die Stadt der Bürgergesellschaften, die Stadt von mutigen und weitsichtigen, wie von ängstlichen und engstirnigen Bürgerinitiativen, von mächtigen und ohnmächtigen Bürgermeistern. „Europäische“ Städte gibt es überall in Europa. Das sind Paris natürlich, auch London, Berlin und Rom. Das sind Mailand, Madrid, Neapel und Lissabon, Kopenhagen, Stockholm und Helsinki, Amsterdam und Antwerpen, oder Prag, Krakau und Budapest. Doch in diesen Städten sind es in der Regel nur die historischen Stadtkerne, die die Bilder der europäischen Stadt bestimmen, nicht die verstädterten Vorstadtlandschaften, in denen inzwischen mehr Menschen leben und arbeiten als in den konsumorientierten und verkehrsberuhigten Kernen der großen Städte. Die europäische Stadt, das sind aber auch die europäischen Industriestädte, die seit der Industrialisierung mehr als ein Jahrhundert lang die wirtschaftliche und politische Dominanz Europas sicherten, wie Manchester, Sheffield und Newcastle-upon-Tyne oder Liverpool, wie Dortmund, Leipzig, Essen und Oberhausen oder auch Städte wie Lille, Brescia oder Turin. Es sind Städte, deren Wachstum und wirtschaftlicher Aufschwung den neuen industriellen Technologien der Massenproduktion zu verdanken ist, ebenso wie dem weltweiten Export der dort produzierten Massengüter und der vor- und nachgelagerten Dienstleistungen. Diese Städte waren der geographische Hintergrund für die moralisch und politisch motivierten Schilderungen der sozialen Folgen der Industrialisierung. Die Lebensbedingungen in den Massenquartieren dieser Industriestädte waren es, die die Stadtbewohner zur Flucht in das ländliche Umfeld veranlassten, sobald sie sich dies leisten konnten. Europa ist vor allem auch ein Kontinent mit tausenden lebendigen und attraktiven Klein- und Mittelstädten. Dort werden noch Traditionen gepflegt, dort sind Stadt und Land noch in symbiotischem Austausch und der lokale Handel ist noch nicht von globalen Ketten verdrängt, weil er noch von lokalen Familien getragen und nicht von Absolventen internationaler Business Schools auf internationale Konsumströmungen ausgerichtet ist. Der museale Erhalt der historischen Stadtlandschaft wird nicht mehr in Frage gestellt, auch wenn es immer wieder zu Auseinandersetzungen um allzu profitorientierte Eingriffe von Investoren in die historische Bausubstanz kommt. Urbane Zukunft in der Wissensökonomie Doch diese großen und kleinen europäischen Städte sind nur ein kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit Europas mit ihren unterschiedlichen kulturellen Traditionen. Denn die europäische Stadt, das sind auch die weniger attraktiven, versiedelten Stadtlandschaften zwischen Autobahnausfahrten und historischen Innenstädten, geplant von denjenigen, sie sich auf das bauliche und planerische Erbe von Bürgerstädten und feudalen Residenzstädten berufen. Die europäische Stadt, das sind eben auch die in Jahrzehnten wie Lebensringe eines Baumes gewachsenen Stadtquartiere an lauten vorstädtischen Einfallstraßen von Autobahnknoten, Flughafenstädten und gentrifizierten Dörfern, das sind neue Industriegebiete, Logistikzentren, Verbrauchermärkte und ausgelagerte Wissenschaftsparks. Es sind mehr oder weniger urbane Stadtlandschaften, die in Dortmund oder München nicht viel anders aussehen als in Osaka, Nanjing oder Cleveland. Es sind oft nur noch die Schriftzüge der Reklametableaus, die die Nationalität der Stadt verraten. Diese andere Realität der europäischen Stadt ist weder für die Mitglieder der ständig wachsenden Wissensgesellschaft, noch für die der Kreativwirtschaft und schon gar nicht für diejenigen attraktiv, die die finanziellen Möglichkeiten haben, „schöne“, bequeme und vor allem auch vorzeigbare Standorte mit hoher Lebensqualität für ihre Lebens- und Arbeitsräume zu wählen. Diese andere Wirklichkeit der europäischen Stadt nachhaltig und planvoll zu verändern, hat in einer polarisierten und multi-kulturellen Gesellschaft keine Chance, denn die maßgeblichen raumgestaltenden Kräfte der Raumentwicklung in Stadtregionen sind die individuellen Bedürfnisse und Rechte der Grundbesitzer in einer demokratischen Gesellschaft, etablierte Rechtssysteme und der Einfluss der Banken, großer internationaler Investoren und der Immobilienwirtschaft, auch die Macht der regionalen Bauwirtschaft und ihrer vielfältigen Zulieferindustrien. Sie alle haben meist nur wenig Interesse, die gestalterische Entwicklung dieser Räume zu beeinflussen. Abgesehen von kontrovers diskutierten, neu- urbanistischen Experimenten retrospektiver Gartenstadtbewegungen gibt es allerdings auch keine überzeugenden, Konsens findenden Modelle dafür. Ratio- 67 nales Handeln von Infrastrukturplanern und die Gemeinschaft der Architekten und Planer haben die Räume der Stadtregion im öffentlichen Auftrag aufgeschlossen und gestaltet. Wenn dann die Ergebnisse dieser Planungen den selbst gestellten Anforderungen nicht oder nur punktuell genügen, dann liegt dies an der Ohnmacht der Planer, Entwicklungen zu kontrollieren oder noch besser: räumliche Entwicklungen im öffentlichen Interesse vorzudenken und gestalterisch zu begleiten. Vielleicht auch an der Ausbildung von Architekten, die wenig Interesse und Kompetenz an urbanen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen vermittelt bekommen, oft auch meinen, mit dem Verweis auf die Notwendigkeit einer neuen theoretischen Urbanistik, schönere Städte zu schaffen. Eine neue Entwicklung macht sich seit einem Jahrzehnt überall in Europa bemerkbar. Eine junge Generation von kreativen Menschen ist trotz elektronischer Kommunikationstechnologien darauf angewiesen, dort zu wohnen und zu arbeiten, wo sie schnell Kontakt finden, wo sie unterschiedliche Lebensbedürfnisse in nur wenigen Stunden eines Tages befriedigen können. Sie suchen Wohnungen und Lofts in den dicht bebauten Stadtkernen mit Anschluss an leistungsfähige öffentliche Verkehrssysteme. Sie konkurrieren bei der Wohnungssuche mit gelangweilten, vereinsamten, kinderlosen, staumüden und pensionierten Stadtbürgern, die aus ihren suburbanen Gartenstadt-Residenzen gerne wieder in die Kernstädte ziehen möchten, sofern sie über die dafür erforderlichen finanziellen Mittel verfügen. Selbst die großen Einkaufszentren kommen wieder in die lebendige, Konsum anregende und mischgenutzte europäische (Innen-)Stadt zurück, nachdem sie zwei Jahrzehnte lang auf der grünen Wiese, vor den imaginären Toren der Städte, die automobile Erreichbarkeit hochgehalten haben. Dieses neue Interesse an urbanen Lebensund Konsumformen führt auch dazu, dass manche Städte versuchen, durch aufwendige Rekonstruktionen ihre im Krieg von Bomben und in der Nachkriegszeit von Investoren, Wohnungsbaugesellschaften und Architekten zerstörten Innenstädte zu rekonstruieren und zu neuem 68 RegioPol eins + zwei 2011 Leben in historischer Dekoration zu erwecken. Vieles davon wird getrieben von der Sehnsucht nach der identitätsstiftenden europäischen Stadt, aber auch von den Erfolgen der Touristik-Industrie, die immer mehr zu einem tragenden Eckpfeiler lokaler Ökonomien geworden ist. Der Glaube an den Markt, der alles regelt, die Rationalität und die Rekrutierungsmechanismen des politischen Systems in einer festgefahrenen Parteienlandschaft sowie das Misstrauen gegenüber dem öffentlichen Sektor sind die drei wesentlichen Faktoren, die die Entwicklung der europäischen Stadt bestimmen. Wirtschaftliche Interessen des privaten Sektors wie der öffentlichen Hand dominieren Entscheidungsprozesse um Standortfestlegungen und Baugenehmigungen. Die von Wahlterminen und Medienmacht und individuellen Karriereplänen bestimmte Rationalität politischer Entscheidungsprozesse auf allen fünf Handlungsebenen in Europa sowie die politische Rationalität des Parteiensystems lassen wenig Spielräume für öffentliche Interventionen in den Markt der Raumentwicklung, auch wenig Chancen für Experimente, es sei denn, einzelne Persönlichkeiten zeigen Mut und Gestaltungswillen. Schließlich mindert auch die von Interessenvertretern und Akteuren der Wirtschaft geforderte Verschlankung der Verwaltung die Kompetenz und Professionalität dieser Verwaltung, die nun mit weniger kompetentem Personal und weniger Zeit für Recherchen, Abwägung und Entscheidungsvorbereitung zu agieren hat. So ist es kein Wunder, dass immer weniger Architekten und Planer eine Karriere im öffentlichen Dienst als attraktive Berufsperspektive und Alternative zu einer Tätigkeit in einem renommierten Architektur- und Planungsbüro betrachten. Das Diktat der Zeit, die nicht zu verlieren ist, lässt keinen Raum für Beratung und Überzeugung, für das langsame Reifen von Ideen und Konzepten, für die gestalterische Begleitung der Stadtentwicklung in Stadtregionen. Die institutionellen Bemühungen, die seit einiger Zeit darauf abzielen, die Baukultur sowie die Qualität des Bauens und der Städte in Deutschland zu verbessern, werden an der nicht ganz so schönen Wirklichkeit des Bauens in den Stadtregionen nicht viel ändern können. Schöne Worte und mahnende Appelle verändern die Wirklichkeit der Raumentwicklung in Stadtregionen in Europa nicht. Auch die von einigen renommierten Architekten dominierte Debatte über die verlorene Schönheit der Städte, die sie meist nur dann wahrnehmen, wenn sie das nähere Umfeld ihrer vom weltweiten Himmel der Designstudios herabgeseilten Architekturjuwelen beeinträchtigen, wird die marktorientierte Wirklichkeit der gebauten Umwelt in Stadtregionen nicht besonders beeindrucken. Die europäische Stadtregion des 21. Jahrhunderts ist eben so, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten historisch gewachsen ist, ohne viel Hoffnung auf großräumige Schönheit und Harmonie. Sie ist der Spiegel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft Europas. Die Stadt des Wissens In den letzten Jahren hat ein politisches Handlungsfeld des weltweiten Wettbewerbs neue stadtpolitische Aufmerksamkeit gefunden: das weite Feld des Wissens. Wissen ist im 21. Jahrhundert zu einer zentralen Ressource wirtschaftlicher Entwicklung in Europa geworden. Dort wo Bodenschätze, Land- und Fortwirtschaft, Handel oder industrielle Produktion und Logistik wirtschaftliches Wachstum nicht mehr sichern können, kommt den Wissensindustrien an einem Ort oder in einer Region zunehmend politische und strategische Bedeutung zu. Wissensindustrien, das ist einer der vielen Begriffe, der aus dem angloamerikanischen Wissenschaftsjargon in die deutsche Sprache übertragen wurde. Wissensindustrien sind alle die Einrichtungen an einem Ort, die W issen generieren: Universitäten, Hochschulen und Schulen, Wissenschafts- und Technologieparks, Forschungsinstitute und Denkfabriken, Archive und Bibliotheken, also alle die Einrichtungen, die Wissen erforschen und lehren, aber auch Wissen sichern und bewahren und es in virtuellen Netzen verbreiten. Es sind letztlich aber auch die lokalen Handels- und Handwerks- Urbane Zukunft in der Wissensökonomie 69 Wissensstädte sind Zukunftsstädte. Sie sind Zukunftsräume, weil hier Wissen für die Zukunft erforscht und entwickelt wird, weil hier Zukunftswissen gelehrt und gelernt wird. betriebe, die oft über Generationen hinweg Wissen traditionell bewahren und weiterentwickeln, die aber in der zeitgeistigen Euphorie über Talente zu schnell vergessen werden. In jeder Stadt gibt es Wissen, das sich dort über Jahrhunderte angesammelt hat. Aber was macht eine Stadt zu einer Stadt des Wissens? Was ist eine Wissensstadt? Was ist eine Stadt des Wissens? Und: Wann ist eine Wissensstadt international wettbewerbsfähig? Darüber gehen die Meinungen noch etwas auseinander. Doch es gibt konsens fähige Merkmale. Im Grunde ist jede Stadt eine Stadt des Wissens, eine Stadt also, in der all diejenigen, die dort wohnen und arbeiten, Wissen akkumuliert haben. In jeder Stadt wird Wissen produziert. Die Stadt war immer eine Stadt des Lernens, in der Bürger ihren Beruf ausüben und ihre Karriere planen, in der sie lernen, innovative und kreative Lösungen für die lokalen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen zu finden, in der sie aber auch lernen, miteinander umzugehen. Insbesondere aber ist eine Stadt des Wissens, eine Stadt ■ ■ ■ ■ ■ mit einer dichten und diversifizierten Hochschulund Forschungslandschaft mit wissenschaftlichen Einrichtungen, die ein hohes internationales Renommee haben, das Spitzenkräfte aus der ganzen Welt anlockt; mit einem feinmaschigen und vielfältigen Netz von Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen, das von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft genutzt wird; in der die Hochschulen und Forschungseinrichtungen gut und sichtbar in das bauliche und gesellschaftliche Umfeld eingebunden sind; in der die international mobile kreative Klasse gerne lebt, weil sie hier neben der kreativen Arbeit auch ihren Familien ein attraktives Umfeld bieten kann, also attraktive Wohnlagen, internationale Schulen, Sport- und Freizeiteinrichtungen, weil sie sich jederzeit mit dieser Region identifizieren kann und nicht nur zur Arbeit oder zum Studium einpendeln; in der Wissen ein vermarktbares Produkt ist und zusätzliches Geld in die lokale Ökonomie bringt, das ■ ■ ■ ■ ■ andernorts erwirtschaft wird; in der die Interessen der Wissenschaftseinrichtungen auch in den politischen Gremien der Stadt angemessen vertreten sind; die eine Medienlandschaft hat, der die institutionellen und individuellen Belange der Wissensgesellschaft ein besonderes Anliegen sind; die attraktiv ist für wissenschaftliche Tagungen und Kongresse; in der der Wissenserwerb für die gesamte Bevölkerung der Region zugänglich ist, nicht nur für ausgewählte Zielgruppen; in der sich das besondere Wissensprofil über A rchitektur sichtbar auch in der Innenstadt manifestiert, nicht irgendwo in verschlossenen und nicht allgemein zugänglichen Lernfabriken am Stadtrand. Wissensstädte sind Zukunftsstädte. Sie sind Zukunftsräume, weil hier Wissen für die Zukunft erforscht und entwickelt wird, weil hier Zukunftswissen gelehrt und gelernt wird. Dort wachsen Ideen und entstehen innovative Projekte. Dies gilt für ein Land, eine Region, eine Stadt, aber insbesondere für die Quartiere, die Standorte von Wissenseinrichtungen in einer Stadtregion sind. Aber nicht nur die wissenschaftlichen Einrichtungen, sondern auch ihr räumliches Umfeld sind gesellschaftliche Lernfelder. Dort manifestiert sich das Profil einer Wissensstadt, dort entstehen emotionale Bindungen und Erinnerungen, die meist sehr viel nachhaltiger sind als Stadtmarketingbemühungen. Die räumliche Einbindung solcher Räume in die Stadt, in die Region, ihre ästhetische Gestaltung und ihre funktionale Struktur sind ein wichtiges Handlungsfeld für lokale und regionale Stadtentwicklungspolitik. Wissens räume brauchen Zukunftsqualität! Wissensstädte sind Zukunftsstädte. Doch diese Zukunft muss erarbeitet, erkämpft und durchgesetzt und in kleinen Schritten verwirklicht werden. Der globale Wettbewerb um die besten Forscher und Studierenden zwingt Hochschulen und Forschungsinstitutionen, sich stärker national wie international zu profilieren, ihre Strukturen zu verändern, mehr Forschungs- 70 RegioPol eins + zwei 2011 mittel einzuwerben und ihre Ausbildungsangebote für hoch qualifizierte Studierende noch attraktiver zu machen. Sie müssen nach Wegen suchen, wie sie den schwierigen Spagat zwischen regionaler Versorgungsfunktion und globaler Attraktivität schaffen. Große Metropolen tun sich hier leichter, einfach weil sie mehr Einwohner haben, mehr wirtschaftliche Macht, eine sehr viel stärker diversifizierte lokale Ökonomie, mehr politische Unterstützung, auch außerhalb der Stadtgrenzen gelesene Medien. Aber auch traditionelle und international renommierte Universitätsstädte wie Oxford und Cambridge, S alamanca, Leiden und Uppsala, oder Heidelberg, Münster und Aachen gelingt es, in diesem Wettbewerb um die besten Forscher und Studierenden mitzuhalten. Die Bedeutung einer Stadt als Wissensstandort, als Knoten im globalen Netz der Wissensindustrien wird zunehmend zu einem wichtigen Standortfaktor. Europa ist allerdings dabei, in diesem Wettbewerb weiter an Boden zu verlieren Zuerst waren es die Vereinigten Staaten, die ihre Universitäten zu den führenden Einrichtungen von Forschung und Lehre in der Welt machten und Englisch als Wissenschaftssprache hegemonial durchsetzten. Nun setzt auch die rasante Entwicklung der Wissens industrien in Asien, insbesondere in China und Indien, Europa zusätzlich unter Druck. Die neue Bedeutung des Wissens in der globalisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts veranlasst immer mehr Städte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ihre Stadt- und Standortpolitik darauf auszurichten. Sie bemühen sich, die bauliche Integration der Wissensindustrien zu verbessern, Fehler der expansiven Hochschulentwicklungsplanung früherer Jahrzehnte zu korrigieren, den Standort für Studierende und Wissenschaftler aus dem Ausland attraktiver zu machen, Technologie- und Wissenschaftsparks in öffentlich- privater Partnerschaft zu entwickeln, um Arbeitsplätze für innovative und kreative Absolventen der Hochschulen am Ort zu schaffen, und vor allem das Wissen in der Stadt sichtbar zu machen. Beispiele dafür finden sich an vielen europäischen Wissensstandorten. Doch das Verhältnis von Stadt und lokalen Wissensindustrien ist nicht immer harmonisch, nicht ohne Kon- flikte. Beide Partner, Stadt und Wissensindustrien, müssen sich als Partner begreifen, können die globalen Herausforderungen und anstehenden Aufgaben nur gemeinsam bewältigen. Doch das Handeln der Stadt, ihrer Verwaltung und ihrer politischen Gremien, folgt in der Regel anderen Logiken als denen, die den Entscheidungen einer Universität und ihrer wissenschaftlichen Einrichtungen zugrunde liegen. Eine Stadt bemüht sich, die technische, soziale und kulturelle Infrastruktur bereitzustellen, insbesondere Kindergärten und Schulen und Krankenhäuser. Sie fördert die lokale Wirtschaft, lenkt individuelles Bauen in geordnete Bahnen, schützt das kulturelle und architektonische Erbe und sorgt dafür, dass ihre Bürger größtmögliche individuelle Mobilität haben. Sie ist konfrontiert mit den Problemen der Integration von Migranten. Sie muss lokale Antworten auf die großen ökologischen Hausforderungen der Welt finden und ihren Beitrag dazu liefern. Sie kämpft auf höheren Ebenen des politischen Handelns um mehr finanzielle Zuwendungen und Projekte. Sie bemüht sich, vor Ort mehr Steuern einzutreiben, um die stets wachsenden Bedürfnisse ihrer Bürger und der Wirtschaft auch befriedigen zu können. Und sie tut dies mit Hilfe einer Verwaltung, die immer mehr Regelungen auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene mit immer weniger Personal bewältigen muss, weil sie ja schlank sein soll, und weil dort im Tagesstress der Aufgabenbewältigung und des mehr oder weniger kommunikativen Handelns kaum noch Zeit für die Gegenwart, und schon gar nicht für die Zukunft bleibt. Die lokalen Wissensindustrien, insbesondere die Hochschulen, haben ganz andere Sorgen. Sie müssen heute in Deutschland vor allem exzellent sein, anders als noch vor 40 Jahren, als sie die Order hatten, die ungeschöpften Bildungsreserven für die Bewältigung des strukturellen Wandels zu mobilisieren. Daneben sollen sie aber trotzdem auch immer mehr Studierende aufnehmen und diese immer besser ausbilden. Auch Universitäten sind heute dem Informationsterror modischer Rankings ausgesetzt, das sich vor angloamerikanischen Wissensindustrien verbeugt, deren quantitative Indikatoren umstritten sind, weil Urbane Zukunft in der Wissensökonomie sie regionale Kriterien hinter internationalen Kriterien vernachlässigen. Dabei müssen sie sich mit den strukturellen Folgen einer wenig überzeugenden Bologna-Reform auseinandersetzen. Sie müssen Englisch als Unterrichts- und Forschungssprache akzeptieren, um Studierende und Wissenschaftler aus dem Ausland anzulocken. Die Univer sitäten berufen exzellente Lehrende und Forschende und bemühen sich, mehr externe Forschungsmittel einzuwerben. Sie kämpfen um einen Platz auf der Förderliste der Exzellenzinitiativen und setzen für diesen fast olympischen Wettbewerb viel Zeit und personelle Ressourcen ein. So ganz nebenbei müssen die Hochschulen auch kontinuierlich um die bauliche Infrastruktur und die Wohnsituation von Studierenden und Lehrenden sorgen. Dafür gibt es in den Rankings in der Regel keine Kriterien, also gibt es zur Bewältigung dieser Aufgaben auch nur wenige Planstellen. Die sehr unterschiedlichen Herausforderungen und Handlungslogiken bestimmen die jeweiligen Entscheidungsprozesse. Da bleibt auf beiden Seiten nur wenig Zeit, um unabhängig von anstehenden Standortentscheidungen über gemeinsame Strategien für die Zukunft des Wissens in der Stadt nachzudenken, es sei denn, es gibt einen besonderen Anlass, wie die Bewerbung um den Titel Stadt der Wissenschaft des Stifter verbands der deutschen Wissenschaft. Meist sind auch die strukturellen Voraussetzungen, um diesen wichtigen Dialog vor Ort zu intensivieren, nicht gegeben. Es gibt zu wenig qualifizierte Stäbe, die sich in der Stadt wie in der Universität dieser Fragen kontinuierlich annehmen und entsprechendes Wissen ansammeln. Andere Aufgaben haben kommunalpolitische bzw. hochschulpolitische Priorität. Und es gibt natürlich auch keine Mittel, diese Aufgaben nach außen zu vergeben. Dabei müssen Städte, die sich im globalen Wettbewerb der Wissensstädte behaupten und profilieren möchten, ihre Politiken und Handlungslogiken überprüfen und auf diese neuen Herausforderungen ausrichten. Sie müssten gemeinsam Mittel und Wege erkunden, wie sie durchsetzbare Strategien für eine glaubhafte Profilierung als Stadt des Wissens entwickeln und umsetzen können. 71 Jahresempfänge, gelegentliche Treffen der jeweiligen Spitzen, freundliche Worte in Hochglanzbroschüren oder schön gesetzte elektronische Auftritte im weltweiten virtuellen Netz genügen dafür nicht. Was tun Städte in Europa und anderswo, um ihre Wissensindustrien zu stärken? Die zunehmende politische und wirtschaftliche Bedeutung von Wissensindustrien hat viele Städte in Europa und darüber hinaus veranlasst, die Stadt als Wissensstandort zu profilieren. Wissen als neue Ressource ersetzt die traditionelle Industrie, aber auch die von Wirtschaftsförderern lange gehätschelte Neue I+K Ökonomie. Und Wissen passt auch so gut in das kreative Fieber der Stadtpolitik, das die Kreativwirtschaft und die kreative Klasse als neues Handlungsfeld und kommunale Zielgruppe erfasst hat. Neben vielfältigen Aktivitäten zur Intensivierung der sachlichen und kommunikativen Zusammenarbeit zwischen den oft sehr zerstreut liegenden Wissenseinrichtungen in einer Stadt werden vielerorts Anstrengungen unternommen, das städtebauliche Umfeld von Wissenseinrichtungen, also insbesondere das der lokalen Hochschulen und Technologieparks zu verbessern. Dabei geht es in Regel darum, die ursprünglich vorwiegend an funktionalen Erfordernissen ausgerichteten Standorte für die Nutzer, also die Wissenschaftler und Studierenden, aber auch für Besucher und die im Umfeld der Wissensindustrie lebenden und arbeitenden Bewohner der Stadt, attraktiver zu machen, sie funktional und räumlich besser in die Stadtstruktur und Stadtlandschaft zu integrieren, insbesondere um die ganzjährige Aufenthaltsqualität zu verbessern. Dafür werden, meist im Rahmen von sehr aufwendigen und langwierigen internen und lokalen Abstimmungsprozessen, neue Leitbilder und städtebauliche Masterpläne in Auftrag gegeben und erstellt sowie strategische Konzepte entwickelt, die die schrittweise Umsetzung entsprechender Leitbilder möglich machen sollen. Ich will Ihnen anhand einiger Beispiele zeigen, zu welchen Initiativen und Aktionen die neuen Herausforderungen der Wissensgesellschaft an anderen Orten führen. Was lässt sich aus all den Beispielen und Erfahrungen 72 RegioPol eins + zwei 2011 für eine Stadt ableiten, die sich als Stadt des Wissens „positionieren“ möchte? Welche Wege lassen sich finden, die Dimension Wissen in einer Stadt zu stärken. Jede Wissenslandschaft ist ein Unikat. In manchen Städten reicht die Geschichte 1000 Jahre zurück, in anderen, wie in Bielefeld, Dortmund, Passau, Potsdam oder Oldenburg, oft weniger als 50 Jahre. Die räumliche Gesamtkonstellation, die Wertesysteme der lokalen Wissenskulturen und gesellschaftlichen Milieus, die Haltungen der beteiligten Akteure vor Ort sowie die jeweiligen finanziellen und ökonomischen Rahmenbedingungen bestimmen immer die jeweiligen lokalen Strategien. Sie entscheiden über die inhaltlichen Schwerpunkte und sie bestimmen die Prioritäten des politischen Handelns. Trotzdem lässt sich eine Reihe von Grundsätzen formulieren, die die weitere Entwicklung von Städten zu wettbewerbsfähigen Wissensstädten leiten können: ■ Wissen in der Stadt braucht kommunale Zuneigung: Eine Stadt des Wissens kann sich nur entwickeln, wenn die kommunalen Entscheidungsträger ihre lokalen Wissensindustrien mit der gleichen Auf merksamkeit behandeln wie ihre industriellen Unternehmen, die Dienstleistungsbetriebe und den Handel, wie ihre Schulen und Krankenhäuser oder den öffentlichen Nahverkehr. ■ Wissenschaft braucht Offenheit in der Stadt. In einer Stadt, deren Gesellschaft nicht offen ist für neue Gesellschaftsmodelle, für interkulturelle Herausforderungen, für Experimente, wo Andersdenkende ausgegrenzt und Pioniere nicht Pioniere sein können, können Wissensindustrien nicht gedeihen, kann eine Wissensstadt nicht wachsen. ■ Wissenschaft in der Stadt braucht kommunale Diskurse. Wissen in der Stadt kann nur gedeihen, wenn es kommunale Diskursarenen gibt, in denen kontinuierlich Wissen und Erfahrungen ausgetauscht werden. ■ Wissensorte müssen ubiquitär sichtbar sein und dies an vielen Standorten in der Stadt, sie müssen auffallen durch außergewöhnliche Architektur, kommunikative Plätze und tradierte Veranstaltungen und sie müssen im Vorbeigehen entdeckt werden können und ohne GPS auffindbar sein. ■ Wissenschaft braucht auch Lebensqualität. Wissensarbeiter haben auch Anspruch auf Lebensqualität. Ihre Bedürfnisse und die ihrer Familien und Gäste prägen das Umfeld der Wissensorte. Und diese Bedürfnisse sind sehr vielfältig. ■ Wissenschaft braucht Räume für Wissenspioniere in der Stadt: Innovationen geschehen nicht in den Villenvierteln einer Stadt und auch nicht immer in den Wissenschaftsbüros am Rande der Hochschulen. Es sind Räume, die nicht in den Flächennutzungsplänen einer Stadt kategorisiert sind, auch Räume, die vielleicht nur für ein paar Jahre ohne Investitionsaufwand zwischengenutzt werden. ■ Wissenschaft muss auch in den politischen Gremien einer Stadt vertreten sein, damit die Belange der Wissensindustrien in der kommunalen Entwicklungsplanung auch berücksichtigt werden. ■ Eine Wissenschaftsstadt braucht eine glaubhafte Stadtaußenpolitik. In Zeiten weltweiter wirtschaftlicher Netze muss eine Stadt ihre Außenbeziehungen strategisch entwickeln und pflegen, um präsent zu sein, um Menschen für die Stadt zu gewinnen und um Erinnerungen an die Stadt zu nutzen. ■ Wissenschaft braucht Gastfreundschaft, denn ohne Gastfreundschaft gewinnt eine Stadt keine Freunde, und Gastfreundschaft schafft Gelegenheiten zu Dialogen und gemeinsamen Initiativen. ■ Die Wissenschaftsstadt braucht Geduld. Vieles geht nicht von heute auf morgen. Visionen brauchen Zeit zum Reifen, auch Zeit, um Moden und Eintagsfliegen zu überleben. Der globale Wettbewerb um die besten Forscher und Studierenden zwingt Städte und ihre Hochschulen und Forschungseinrichtungen dazu, sich stärker national wie international zu profilieren. Die Hochschulen müssen nach Wegen suchen, wie sie den schwierigen Spagat Urbane Zukunft in der Wissensökonomie 73 Hochschulen müssen nach Wegen suchen, um den schwierigen Spagat zwischen regionaler Versorgungsfunktion und globaler Attraktivität zu schaffen. zwischen regionaler Versorgungsfunktion und globaler Attraktivität schaffen. Und die Städte müssen ihnen dabei helfen. Dies kann nur gelingen, wenn Wissensindustrien und Stadt daran gehen, die Herausforderungen und anstehenden Aufgaben gemeinsam zu bewältigen. Städte, die sich im globalen Wettbewerb der Wissensstädte behaupten und profilieren möchten, müssen ihre Politiken und Handlungslogiken überprüfen und auf diese neuen Herausforderung ausrichten. Es macht keinen Sinn, nur einfach mehr Wissenseinrichtungen am 0rt zu haben und größer zu werden, auch wenn Masse Macht bedeutet. Es kommt darauf an, dass das, was besteht, auch höchsten Qualitätsstandards entspricht. Städte und Wissensindustrien können nur erfolgreich sein, wenn sie unter aktiver Beteiligung aller Bürger und Unternehmen am Ort Mittel und Wege erkunden, wie sie den Wandel von der Industriestadt über die Dienstleistungsstadt zu einer Stadt des Wissens gestalten. Die kreative Stadt Die kreative Stadt ist das jüngste der drei Paradigmen der Stadtentwicklung, das Urbanisten, Raumplaner, aber nun auch Stadtökonomen begeistert. Sie hoffen, dass sie damit den richtigen Weg zu einer zukunftsorientierten Stadtentwicklung des 21. Jahrhunderts gefunden haben. In sehr kurzer Zeit hat dieses Leitbild breite, Fachdisziplinen übergreifende Akzeptanz gefunden, auch wohlwollende Resonanz in Politik und Gesellschaft. Und es findet diese Resonanz, weil Kreativität in der Gesellschaft breite Zustimmung findet, jedenfalls solange sie nicht mit Chaos, Graffiti, Hausbesetzungen und Unsicherheit assoziiert wird. Das Paradigma der kreativen Stadt verlangt nicht die Abkehr von lieb gewonnenen Lebensstilen, wie es die Umweltbewegung postuliert, und es macht auch kein schlechtes Gewissen wie das Leitbild der sozialen Stadt. Wer kann ernsthaft etwas gegen kreatives Handeln in Wirtschaft und Gesellschaft haben, im öffentlichen Sektor und in privaten Unternehmen, die weltweit um Kunden und Absatzmärkte konkurrieren? Viele Städte Europas wollen kreativ sein, London, Berlin, Mailand und Amsterdam erheben diesen Anspruch, auch Hamburg, München und Leipzig. Selbst Dortmund hat die Kreativität als kommunales Handlungsfeld entdeckt. Jedenfalls stellen sich immer mehr Städte in ihren Marketingbroschüren oder auf internationalen Immobilienmessen als kreative Städte dar, um junge „Talente“ am Standort zu halten, an dem sie ausgebildet werden. Es geht dabei immer um hoch oder zumindest um höher qualifizierte Arbeitskräfte. Diese möchten an Orten leben, die einen breiten, flexiblen und offenen Arbeitsmarkt und hohe Lebensqualität bieten, ein gutes Image haben und hohe, überregionale Mobilität ermöglichen. Die meisten dieser Standortwünsche haben mit Kreativität nicht viel zu tun. Sie hindern aber weder Planer noch Wirtschaftsförderer und Stadtmarketing-Manager, das Hohelied der krea tiven Stadt zu singen, denn dieses Leitbild lässt sich viel leichter kommunizieren als das der nachhaltigen oder der sozialen Stadt. Es gibt viele Gründe, warum das Paradigma der kreativen Stadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts so erfolgreich ist, warum es in den Politjargon ganz unterschiedlicher stadtbezogener Disziplinen Eingang gefunden hat, warum es so schnell sowohl in die stadtpolitische Praxis wie in akademische Seminare eingedrungen ist. Die wesentlichen Gründe sind: ■ Kreativität ist ein positives Konzept. Das macht es unangreifbar, jedenfalls solange es nicht in kreatives Chaos mündet. Im Kindergarten oder in der Schule wird Kreativität gefördert. Kreativität ist Voraussetzung für innovatives Tun. In der Bildenden Kunst wie in der Musik ist Kreativität unverzichtbar. In der beruflichen Weiterbildung wird kreatives Handeln geschult. Kreative Menschen werden bewundert. Institutionen mit kreativen Menschen genießen Vertrauen. Kreativität ist ein offenes Konzept, in dem sich alle wiederfinden können. Es spricht Raumplaner an und natürlich Architekten und Soziologen. Praktiker wie Wissenschaftler können sich in den Diskurs schnell einbringen. 74 RegioPol eins + zwei 2011 ■ ■ ■ Der positive Charakter und die Offenheit der Konzeption haben wesentlich zur schnellen Verbreitung des Paradigmas der kreativen Stadt beigetragen. Auch wenn ihre Aussagen nicht immer uneingeschränkte Zustimmung fanden, so haben die inzwischen in aller Welt gelesenen Bücher von Richard Florida und Charles Landry an vielen Orten akademische und stadtpolitische Diskurse in Gang gesetzt. Es war, als ob die Gemeinschaft derjenigen, denen die Zukunft der Stadt am Herzen liegt, nur auf diese Anstöße gewartet hat. Und in der Folge entstanden und entstehen viele empirische Untersuchungen, lokale und regionale Studien, Diplom- und Doktorarbeiten und immer mehr Bücher, die das Paradigma der kreativen Stadt aufgreifen. Bei der Suche nach neuen urbanen Arbeitsplätzen kam den Städten das Zauberwort von der kreativen Ökonomie gerade recht. Noch vor einem Jahrzehnt kaum ernst genommen, wird die Kreativw irtschaft inzwischen erheblich überschätzt. Wiederum ist es die definitorische Offenheit des Begriffs der Kreativwirtschaft, die es erlaubt, sehr breite wie auch enge Eingrenzungen dessen vorzunehmen. Zwar gibt es inzwischen klare Definitionen, was zu Kreativwirtschaft zu rechnen ist und was nicht, aber letztlich ist die Interpretation den jeweiligen lokalen oder regionalen lnstitutionen überlassen. Im Grunde wird inzwischen jeder Beschäftigte in der Wissensgesellschaft dazu gerechnet. Die in der Regel klein strukturierte, aber lokal wie überregional gut vernetzte Kreativwirtschaft gilt als Hoffnungsträger für lokale Ökonomien in der Stadt. Trotzdem sichert die Kreativwirtschaft in einer Stadt, wohlwollend definiert, doch meist nicht mehr als zehn Prozent der lokalen Arbeitsplätze. Kultur gilt als Garant für Urbanität und Lebensqualität. Sie profiliert das internationale Image einer Stadt. Für Medien ist die kreative Stadt eine Stadt der Kulturinseln und Museumsquartiere, der Festivals und spektakulärer Kunst-Ausstellungen. Museumsbauten in vielen Städten Europas hatten in den 1990er Jahren eine neue Welle der Kulturbegeisterung ausgelöst und die Bedeutung der Kultur als Standort- und Imagefaktor unterstrichen. Neue Ikonen der kulturellen Infrastruktur wurden in Auftrag gegeben. Je spektakulärer die Bauten und je berühmter die Architekten waren, die ihre architektonischen Signatur-Leuchttürme vom Himmel fallen lassen, desto größer ist die Medienaufmerksamkeit und desto stolzer waren dann auch die Stadtväter, die diese Bauten zu Lasten einer breiten Kulturförderung ermöglichten. Das bestehende kulturelle Angebot einer Stadt erleichtert die Einwerbung von kulturellen Events und Kongressen. Es zieht Touristen an und lastet die Hotels aus. ■ Bei der Suche nach neuen Nutzern brachgefallener Industrie- und Lagerbauten in den vom strukturellen Wandel betroffenen Städten ist die Kreativwirtschaft eine willkommene stadtverträgliche „Branche“. Die Umwandlung von großen, für die Massenproduktion errichteten Industrieanlagen in Lofts und Ateliergebäude, in Galerienviertel und Kulturquartiere hat an vielen Orten in Europa das Gesicht heruntergekommener Stadtviertel nachhaltig verbessert. Selbst die nicht legale Nutzung leer stehender Bauten durch kreative Stadtbürger und Hausbesetzer wurde in manchen Städten zwar nicht legalisiert, aber als kreativer Anstoß für eine behutsame Stadterneuerung in Kauf genommen. Dort, wo Künstler und Hausbesetzer den Boden vorbereiten, lassen sich dann Architekten, junge Immobilien-Entwickler, Modedesigner und alternative Szene-Verlage, aber auch kulturwirtschaftsbezogene Anwaltskanzleien und Logistik-Dienstleister nieder. Dort ist dann auch die kreative Stadt sichtbar. ■ Niedrige Geburtenraten, zunehmende Alterungsprozesse, steigende Anteile von höher qualifizierten Erwerbstätigen, aber auch wachsende Anteile von Migrantenhaushalten verändern Standortpräferenzen sowie Wohn- und Mobilitätsbedürfnisse von Stadtbewohnern. Wer kann, verlässt öde Vor- und heterogene Zwischenstädte und kehrt zurück in Urbane Zukunft in der Wissensökonomie dicht bebaute Stadtquartiere, deren urbane Aufenthaltsqualität sie zu mehr oder weniger kreativen Quartieren gemacht hat. Unter den Schlagworten Reurbanisierung oder Urban Renaissance gilt die selektive Rückkehr in die Stadt als zusätzlicher Motor der kreativen Stadt. ■ Die kreative Stadt ist besonders für Medien und Stadtmarketing-Agenturen attraktiv. Für sie ist die Erfolgsgeschichte Berlins, der Stadt, die zwar arm, aber sexy ist, Ansporn, die Saga von der kreativen Stadt als Magnet für Image-Kampagnen und Tourismusprojekte zu nutzen als Anlass für Themenhefte und Sonderveröffentlichungen. Die Kreativität einer Stadt, die durch Reportagen, Geschichten und Fotoserien Bilder dokumentiert wird, verkauft sich gut und zieht insbesondere Bildungsreisende und junge Touristen an. Erst als die Bundeshauptstadt Berlin die Kreativität als Markenzeichen entdeckt hat, bekam der von Bonn nach Berlin zwangsver lagerte Regierungssitz eine über die politische Rolle hinausgehende urbane Vision, die weltweit kommuniziert wird. ■ Erst wenn Stadtplanung, Wirtschaftsförderer und Kulturämter, ja auch die lokale Sozialverwaltung, ihre sektoralen Politiken projekt- oder quartier bezogen aufeinander abstimmen, kann die gemeinsame Vision von der kreativen Stadt neue Entwicklungsschübe einer bewohnerorientierten Stadtentwicklung auslösen. Sachbezogene Konflikte lassen sich durch den Bezug auf den synergetischen Gewinn von Kreativität leichter bewältigen als ideologiebeladene Konflikte um ökologisch und sozial motivierte Stadtvisionen. Die kreative Stadt ist eine gute Tarnkappe für zukunftsorientierte stadtpolitische Maßnahmen, die sonst keine breite Zustimmung der Bürger finden würden. Das Thema ist zum Buzz-Wort der Stadtpolitik geworden, für Touristik-Manager und Wirtschaftsförderer, für Planer und für das politikberatende Gewerbe. 75 Alle diese Gründe für den Erfolg der kreativen Stadt bedingen und verstärken sich gegenseitig. Sie zeigen, dass die kreative Stadt ein sehr bequemes Plug-in-Konzept ist, das es allen Akteuren der Stadtentwicklung leicht macht, sich mit ihren eigenen mehr oder weniger kreativen Aktionen und Visionen einzuklinken. In der kreativen Stadt können sich alle wiederfinden. Hinzu kommt, dass die kreative Stadt auch das viel beschworene Paradigma der europäischen Stadt (ohne deren Vor-, Zwischen- und Hinterstadtwüsten) widerspiegelt. Jede Stadt hat krea tive Quartiere, nicht nur Berlin, Hamburg oder Zürich. Aber die kreativen Räume machen meist nur einen Bruchteil der ansonsten ganz gewöhnlichen Räume einer Stadt aus, in der überall kreative Menschen leben und arbeiten, ohne dass dies in ihren physischen L ebensund Arbeitswelten sichtbar wird. Die kreative Stadt ist eine Chance für eine neue Stadtpolitik, ein Katalysator für eine zukunftsorientierte Stadtentwicklungsplanung, die die Realität neuer lokaler Ökonomien, neuer Werte und Lebensstile zum Anlass nimmt, urbane Lebens- und Arbeitswelten unter ökologischen und sozialen Herausforderungen neu zu gestalten und in partnerschaftlichen und kommunikativen Prozessen umzusetzen. Die kreative Stadt ist Anlass, die kulturelle Identität der europäischen Stadt(-mitte) zu erhalten, sie ist auch eine Mahnung, die kulturelle Ausbildung in Schulen und Hochschulen ernst zu nehmen. Urbane Kreativität, das haben die Erfahrungen in vielen europäischen Städten gezeigt, kann nur in Räumen geschehen, die offen sind für neue Ideen, für Veränderungen und für Versuche, Grenzen zu überwinden, in Räumen, in denen Widersprüche sichtbar und Konflikte unvermeidbar sind. Sind alle Widersprüche überwunden und Konflikte gelöst und haben die lokalen und regionalen Medien neue Orte als Orte der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und Orte der Repräsentation von zeitgeistigen Lebensstilen entdeckt, zieht die kreative Karawane weiter. Dann bleiben in der Regel Stadtteile zurück, die als gemischt genutzte Orte zu den bürgerlichen Wohnlagen einer Stadt gehören. Besonders gut lässt sich dies in Paris beobachten, Montmartre und 76 RegioPol eins + zwei 2011 Montparnasse, einst kulturelle Symbol-Quartiere in der Stadt, sind schon längst nicht mehr die kreativen Labore, als die sie weltweit betrachtet werden. In Paris sind es heute eher die heruntergekommenen Stadtrandquartiere an den Nahtstellen zwischen etablierter Urbanität (mit einigen kleinen dunklen Flecken) und gesichtslosen Vorstädten mit ihren sozialen Brennpunkten. In denen Kreativität entsteht. Wenn es darum geht, die kreative Stadt zu fördern, so ist dies immer eine schwierige Gratwanderung zwischen bewusstem Laissez-faire oder absichtlicher Vernachlässigung einerseits und gezielter Intervention mit katalytischen Projekten und integrierten Strategien andererseits. Auf der einen Seite sollen die urbanen Bedürfnisse derjenigen befriedigt werden, die sich kreativ betätigen. Auf der anderen Seite soll das Eingehen auf deren Standortwünsche und Bedürfnisse nicht zur schleichenden Gentrifizierung der Lebenswelten führen und die alteingesessenen Bewohner zwingen, ihre ständig teurer werdenden Standorte zu verlassen. Die wirklich Kreativen sind oft die ersten Verlierer der kreativen Stadt, da sie wie Pionierpflanzen den Boden aufbereiten, dessen Früchte dann andere ernten. Es macht daher auch wenig Sinn, im Flächennutzungsplan einer Stadt ein Gebiet als kreatives Quartier auszuweisen. Im Gegenteil: Urbane Kreativität entsteht in der Regel vor allem dort, wo nichts geregelt, nichts angeordnet, nichts von oben gestaltet wird, also dort, wo Freiräume für urbane Ent deckungen bewusst für neue Initiativen offengehalten werden. Noch etwas kommt hinzu: Kreative Stadtbewohner sind Nomaden. Sie sind ständig auf der Suche nach Orten, an denen sie sich zu bestimmten Zeitabschnitten ihres Lebens für eine begrenzte Zeit aufhalten möchten. Und sie sind immer mehr kosmopolitane Nomaden, die heute in Amsterdam, morgen in Berlin oder auch für ein paar Jahre in Hongkong oder New York leben und arbeiten möchten, um sich dort von anderen kulturellen Milieus inspirieren zu lassen. Neue weltumspannende Kommunikationsmöglichkeiten erleichtern es ihnen, trotz ihres Nomadentums auch global vernetzt zu bleiben. Oft werden sie erst dann sesshaft, wenn sie ihre wirtschaftliche Existenz an einem Ort so aufgebaut haben, dass der Wegzug von solch einem Ort mit all seinen lokalen Netzen zum Verlust dieser Existenz führen würde. Die kreative Stadt ist ein Paradigma der Euphorie. Ein Wechsel auf eine bessere Zukunft in ihren ganz unterschiedlichen Ausprägungen erinnert sie an die unsichtbaren Städte von Italo Calvino. Sie macht Hoffnung auf eine Zukunft der Stadt, die geprägt ist von kommunikativem Handeln und kreativen Räumen, von Kooperation und lebenslangem Lernen, von Tradition und Moderne. Die Euphorie der kreativen Stadt trägt auch dazu bei, die tagtäglichen Herausforderungen zu verdrängen, mit denen Städte in Zeiten der Globalisierung konfrontiert sind. Auch diese Herausforderungen bedürfen neuer Kreativität. Sie sind mit Festen und schönen Worten nicht zu bewältigen, auch nicht in Hamburg. Archipel Stadtregion Die europäische Stadt, die Stadt des Wissens und die kreative Stadt beschreiben drei Zugänge zur Stadt, drei Perspektiven auf dem Wege in die Zukunft der Stadt in Europa. Sie beschreiben aber auch drei Inseln im großen Archipel der Stadtregion, denn nicht Städte, sondern große polyzentrische, multifunktionale Stadtregionen bestimmen die zukünftige Raumentwicklung in Europa. Diese Stadtregionen sind fragmentiert, oft auch polarisiert. Einzelne Inseln dieser Stadtregion sind spezialisiert, auf Funktionen des Wohnens, der Logistik, der Sport- und Freizeiteinrichtungen. Die Flughäfenstädte mit all den flughafenbezogenen Nutzungen in ihrem näheren Einzugsbereich sind eine solche Insel, aber auch die aus der Stadtmitte ausgelagerten Wissenschaftsund Technologiequartiere oder die Orte, an denen all die infrastrukturellen Nutzungen zusammenkommen, die die Stadtregion braucht, aber nicht gerne im urbanen Schaufenster zeigt. Bewohner aller dieser Räume sind Ortsbürger, die seit Generationen dort ansässig sind, Zuwanderer, die aus den Kernstädten ins Umland gewandert sind, weil sie hier Arbeit gefunden haben oder weil sie ihren Traum vom Eigenheim hier erfüllen können, temporäre Bewohner, die einen bestimmten Lebensabschnitt hier verbringen, oder auch Migranten, die nur dort bezahlbare Behausungen in der Nähe ihrer Arbeitsstätten zugewiesen bekommen haben. Drei Entwicklungen werden die zukünftige innere räumliche Struktur dieser europäischen Stadtregionen stark bestimmen: neue Arbeitsformen der post-industriellen Gesellschaft, ressourcenschonende Mobilitätsstrategien und die zunehmend multikulturelle, kosmopolitane Zusammensetzung der Bevölkerung. ■ In der Folge von Globalisierungsprozessen werden strukturelle Veränderungen lokaler und regionaler Ökonomien in Europa die zukünftige Entwicklung europäischer Stadtregionen sehr beeinflussen. Multinationale Unternehmen werden weiterhin weltweit ihre Produktions- und Vertriebsstandorte nach wirtschaftlichen Kriterien wählen und Teile ihrer A ktivitäten nach Asien oder in Zukunft auch nach Afrika verlagern, weil sie dort billiger produzieren können, zunehmend besser qualifizierte Arbeitskräfte finden und nicht zuletzt auch größere Märkte finden. Damit sind sie weitgehend unabhängig von lokalen und regionalen Bedingungen und öffent lichen Interventionen in Europa. Lokale und regionale Ökonomien hingegen werden sich noch stärker als in der Vergangenheit auf regionale Märkte beschränken. Damit und aufgrund ganz anderer Fer tigungs methoden, clusterstrukturierter Produktions- und Vertriebsnetze und kleinräumiger Standortlogiken kann die extreme räumliche Arbeitsteilung, die den Städten in Europa von der Industrialisierung über mehr als ein Jahrhundert lang aufgezwungen war, in Teilen wieder rückgängig gemacht werden. Immer mehr werden dann gemischt genutzte Strukturen Urbane Zukunft in der Wissensökonomie ■ ■ und kleinbetriebliche Organisationseinheiten arbeitsteilige Raumstrukturen überflüssig machen. Dies wird die Mischung von Arbeitsorten, Wohnorten und wohnungsnahen Bildungs- und Erholungsräumen in der europäischen Stadt erleichtern und Zeitregime verändern. Veränderungen im Mobilitätsverhalten der Stadtbevölkerung in Europa zeichnen sich ab. Die Dominanz des täglich individuell genutzten Autos wird sich abschwächen, auch wenn gegenwärtig genutzte Technologien durch Elektrofahrzeuge ersetzt werden. Neue verdichtete und funktional gemischte innerstädtische Quartiere, flexiblere Zeitregime, immer kleinteiliger organisierte lokale Ökonomien und verbesserte Nutzungsmöglichkeiten individueller und öffentlicher Verkehrsmittel, aber auch veränderte umweltbewusste Wertesysteme einer neuen Generation von Stadtbewohnern werden neue Mobilitätsstrategien mit sich bringen. Die demografische Zusammensetzung der Stadt bewohner in Europa wird immer multikultureller werden. Durch den Zuzug aus dem Mittelmeerraum, Südosteuropa und dem mittleren Osten, aus Nordafrika und den ehemaligen Kolonien hat sich die demografische und kulturelle Zusammensetzung der städtischen Bevölkerung immer mehr verändert. Manche von einheimischen Bürgern verlassenen Stadtquartiere sind im Laufe von Jahrzehnten zu ethnischen Inseln geworden, in denen eigene kulturelle und wirtschaftliche Traditionen gepflegt werden. Natürlich gab es in den Städten Europas schon immer multikulturelle Strukturen und von fremden kulturellen Traditionen geprägte Stadtquartiere. Doch internationale Entwicklungen im letzten halben Jahrhundert haben die multikulturelle und kosmopolitane Struktur der Städte in Europa zunehmend verwandelt. Mehr als ein Viertel der Bewohner von London, Frankfurt oder Amsterdam sind heute als Ausländer registriert. Diese gebildeten, gut verdienenden ausländischen Bürger sind in der Regel gut integriert und oft nur in der Statistik als Ausländer aufgeführt. Dagegen konzentrieren sich Migranten und Asylanten in der Regel in weniger attraktiven Stadtquartieren, die dann von den traditionell dort wohnenden Stadtbürgern verlassen wurden. Auch wenn die neuen Bewohner schon längst Staatsbürger mit nationalen Pässen geworden sind und in der zweiten oder sogar dritten Generation viel kulturelle Identität verloren haben oder sie bewusst verlieren möchten, um sich in das andersartige kulturelle Umfeld besser zu integrieren, so bestimmen doch andersartige kulturelle Wertesysteme immer auch die bauliche und strukturelle Gestaltung einzelner Inseln der Stadtregion. Diese drei Entwicklungen werden sich im Bild der Städte und Stadtregionen in Europa niederschlagen. Es wird notwendig sein, eine auf diese Entwicklungen angepasste neue Baukultur in den Städten zu formulieren. 77 Die diversen Räume in der fragmentierten Stadtregion verfügen nur selten über den funktionalen Nutzungen entsprechende administrative Grenzen. Politische und administrative Zuständigkeiten im urbanen Archipel überlappen sich oder fluktuieren zwischen lokalen und regionalen Gebietskörperschaften, politischen Gremien und halböffentlichen Institutionen. Nur mühsam gelingt es dort, gemeinsame stadtregionale Interessen zu artikulieren und gemeinsam zu handeln. Und je weniger bedeutsam einzelne Teilräume für Profilierung, Außenwirkung und Außenkontakte der fragmentierten Stadtregion sind, desto geringer ist die politische Aufmerksamkeit, die ihnen von einflussreichen Akteuren und Meinungsmachern gewidmet wird. Die europäische Stadtregion der Zukunft wird ihre musealen und dekorativen Kerne dort erhalten, wo wirtschaftliche Interessen sie stützen und wo lokale Traditionen sie vor den Begehrlichkeiten von Investoren von Konsumwelten schützen. Sie werden dort erhalten, wo Bewohner der Stadtregion bereit sind, die höheren Kosten für deren Nutzung und Erhalt zu tragen. Darüber hinaus wird die Stadtregion auch in Zukunft nicht anders aussehen als heute, ein Mosaik von funktionalen, untereinander polarisierten Teilräumen, die der Logik des Marktes und den individuellen Wünschen von Grundbesitzern folgen, in denen gestalterische Ambitionen wenig Chance haben und Interventionen der öffentlichen Hand sich auf Maßnahmen beschränken, die die funktionale Ordnung betreffen. Die europäische Stadt in den Köpfen ihrer Bewunderer und Pomotoren wird sich immer mehr verklären und von der Wirklichkeit der Stadtregionen in Europa entfernen. Die „europäische Stadt“ der Zukunft wird von der Erinnerung leben. Doch die Paradigmen der Stadt des Wissens und der kreativen Stadt, aber auch die der nachhaltigen und der sozialen Stadt werden Wege in die Zukunft der Stadtregion in Europa weisen. Es wird dann stark davon abhängen, welche strategischen Maßnahmen einzelne Stadtregionen ergreifen können und werden, um die mit diesen Entwicklungen verbundenen Herausforderungen zu begegnen und sie konstruktiv für lokale Ökonomien sowie den Erhalt und die Verbesserung der Lebensqualität aller Stadtbewohner zu nutzen. Quellen: Kunzmann, Klaus R. (1997): The Future of the City Region in Europe. in: Mastering the City. North-European City Planning 1900 – 2000, NAI Publishers/ EFL Publications, Rotterdam, S. 16 – 29. Kunzmann, Klaus R. (2010): Die Europäische Stadt in Europa und anderswo. Frey, Oliver und Florian Koch, Hrsg. Die Zukunft der europäischen Stadt: Stadtpolitik, Stadtplanung und Stadtgesellschaft im Wandel. Wiesbaden, VS Verlag S. 36 – 54. Kunzmann, Klaus R. (2010): Städte des Wissens im globalen Wettbewerb. Festvortrag anlässlich des Jahresempfangs der Universität Bielefeld am 8. Oktober 2010. Unveröffentlichtes Manuskript. Kunzmann, Klaus R. (2010): Die Kreative Stadt: Stadtentwicklung zwischen Euphorie und Verdrängung? In: Internationale Bauausstellung (IBA) Hamburg, Hg., Kreativität trifft Stadt – Zum Verhältnis von Kunst, Kultur und Stadtentwicklung im Rahmen der IBA Hamburg. Berlin, jovis, S. 202 – 213.