Urbane Zukunft in der Wissensökonomie

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Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
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RegioPol eins + zwei 2011
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
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Gunter Dunkel und Arno Brandt
Zur Kultur der
Finanzdienstleistungen
Einige Betrachtungen zu den urbanen Standortqualitäten im 21. Jahrhundert
aus der Sicht der regionalen Kreditwirtschaft
D
as Neue hatte schon immer einen guten Klang,
auch wenn bei ihm stets eine Note von Unsicherheit mitschwang. Das ist in dieser Zeit, die von
vielen als Umbruchphase beschrieben wird, nicht
­anders. Der Strukturwandel zur Wissensökonomie setzt
einige bislang sicher geglaubte Gewissheiten einem
begründeten Zweifel aus oder dementiert sie sogar
­
(vgl. Stiglitz 1999). Allerdings hat uns die noch immer
nicht ganz überstandene Finanz- und Wirtschaftskrise
auch gezeigt, dass längst nicht alle ökonomischen Regeln nun außer Kraft gesetzt sind.
Offensichtlich war die einseitige Fokussierung auf
­Deregulierung ebenso eine Sackgasse wie der Glaube an
eine von der Realwirtschaft dauerhaft unabhängige Entwicklung der Finanzdienstleistungen. Auch die Industrie
hat sich von einem oft beschworenen Auslaufmodell zu
­einem Wirtschaftszweig mit neu erwachtem Ansehen gewandelt. Diese Irrwege und schwierigen Orientierungen
scheinen jedoch ein normaler Bestandteil im Wandel zu
sein und nehmen den Veränderungen, denen wir uns derzeit gegenüber sehen, nichts von ihrer Prägnanz.
Welche Ansprüche lassen sich also heute an einen
modernen Wirtschaftsstandort stellen? Dieser Aufsatz
möchte sich der Beantwortung dieser Frage mit einigen
Beobachtungen und Überlegungen aus der Sicht der
­regionalen Kreditwirtschaft annähern. Regionalbanken
leben ja den oft zitierten Grundsatz des „think global,
act local“ immer schon aus einem institutionalisierten
Selbstverständnis heraus. Das scheinen keine schlechten Voraussetzungen im Übergang zur wissensbasierten
Ökonomie zu sein.
Globalisierung
Seit dem Ende der Blockkonfrontation und dem Fall des
„eisernen Vorhangs“ wurde mit dem Beginn des Übergangs zur Wissensökonomie auch eine neue Phase der
Globalisierung eingeleitet. Es waren vor allem die dynamischen Innovationen in den Informations- und Telekommunikationstechnologien, die es inzwischen möglich machen, Waren, Kapital, Informationen und Prozesse
über die Kontinente hinweg relativ einfach und mit frü-
her ungeahnter Geschwindigkeit zu steuern. Globali­
sierung bedeutet heute aber nicht nur Wettbewerb der
Unternehmen, sondern vielmehr auch Wettbewerb zwischen den Standorten. Dabei treten nicht mehr nur die
Staaten in Konkurrenz zueinander, sondern in verstärktem Maß die einzelnen Regionen.
Die Globalisierung ist jedoch kein homogener Prozess. Auf der einen Seite beobachten wir einen dynamischen Nachholprozess vor allem in China, aber auch in
Indien, Brasilien und anderen Schwellenländern, ein Prozess, der weltweit Güter und Dienstleistungen in Bewegung bringt. Auf der anderen Seite haben nicht zuletzt
die Turbulenzen in der Eurozone gezeigt, dass der gemeinsame Binnenmarkt der EU teilweise noch sehr fragmentiert ist. Insbesondere die für eine gemeinsame
Währungszone mangelnde Mobilität des Produktionsfaktors Arbeit trug nicht wenig zur Krisenanfälligkeit des
Raumes bei.
Wettbewerb der Regionen heißt daher auch immer
Wettbewerb um Arbeitsplätze. Und Wettbewerb in der
Wissensökonomie bedeutet vor allem Wettbewerb um
qualifizierte Arbeitskräfte. Im Strukturwandel von der Industrie- zur Wissensökonomie bilden die Verfügbarkeit
hochqualifizierter und teils spezialisierter Arbeitskräfte
in einer Region sowie die Nähe zu unternehmensorientierten Dienstleistern und FuE-Einrichtungen, entscheidende Standortargumente.
Diese Entwicklung stellt nicht zuletzt auch die regionalen Kreditinstitute vor neue Herausforderungen. Zum
einen, weil durch den Strukturwandel das Ausgleichsziel
unter Druck gerät, zum anderen, weil auch die Regionalbanken sich den Wachstumsmärkten und -zentren nicht
ohne Wettbewerbsnachteil entziehen können.
Raumwirkung der Wissensökonomie
Die wissensbasierte Ökonomie tendiert dazu, sich auf
bestimmte Orte zu konzentrieren, sie b
­ ildet ein weltumspannendes Netz mit deutlichen Knotenpunkten der
Wissensproduktion und -distribution (vgl. Brandt 2008).
Nicht zufällig ballen sich auch die w
­ issensintensiven
Dienstleistungen bevorzugt in den urbanen Zentren.
b Bin Mao Tower (rechts) und World Financial Center (links) in Pudong, Shanghai
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Dort finden sie einen hochwertigen Ressourcenpool an
qualifizierten Arbeitskräften, Zuliefermärkten und eine
gut ausgestattete Kommunikations- und Transportinfrastruktur.
Diese zentralen Knoten werden von den Metropolen
gebildet und die Volkswirtschaften sind auf die Anschlussfähigkeit dieser Standorte in zunehmendem
­Maße angewiesen. Daher verwundert es nicht, dass diese großen Agglomerationen sich auch zunehmend als
die Zentren der wissensbasierten Finanzdienstleistungen etablieren. Für die NORD/LB als führende Regionalbank in Norddeutschland ist es von besonderer Bedeutung, sich in den Metropolen gut und sichtbar zu
positionieren. Im norddeutschen Raum gilt dies vor
­allem für die Städte Hannover und Hamburg, aber auch
Schwerin oder Magdeburg.
Metropolregionen gelten heute denn auch als die
­Motoren der ökonomischen Entwicklung in Europa. Mit
„Metropole“ wurden früher vorwiegend Weltstädte
­bezeichnet, zumindest aber großstädtische Agglome­
rationen. Heute tritt die Metropolregion im Zeitalter der
Wissensökonomie weit über die administrativen Grenzen hinaus und ihre Reichweite ergibt sich in erster Linie
aus ihren spezifischen Funktionen. Deshalb finden sich
inzwischen auch nicht nur Metropolregionen mit klarem
Zentrum wie Berlin, Hamburg oder München, sondern
auch polyzentrische Metropolregionen wie sie Hannover-Braunschweig-Göttingen und Wolfsburg bilden.
In ganz Europa haben sich inzwischen etwa 120 Metropolregionen etabliert, allein in Deutschland existieren
mittlerweile elf derartige räumliche Strukturen. Und
wenn wir die Metropolregionen eben noch als zentrale
Knoten bezeichnet haben, müssen wir uns auch anschauen, was über diese Knoten in die Volkswirtschaften
beziehungsweise in die globalen Netze eingespeist
wird. Im Wesentlichen sind dies Güter, Personen und –
zunehmend wichtiger – Wissen.
Der Faktor Wissen
Man kann das Wissen von den anderen beiden Komponenten den – Gütern und Menschen – kaum trennen.
Wissen wird eben nicht nur über die Datenleitungen
transportiert, sondern zu einem bedeutenden Teil eben
auch exklusiv über die Menschen, die Wissensträger
selbst. Das ist heute im Internetzeitalter nicht so selbstverständlich, wie es zunächst klingt. Schließlich werden
heutzutage Informationen allgemeinster bis persönlichster Art in einem unablässigen Strom getwittert und
gebloggt und nahezu in Echtzeit ins globale Netz eingespeist.
Informationen und Wissen spielen auch im Kreditgeschäft eine zentrale Rolle. Die Banken benötigen möglichst viel Informationen, um die Ausfallrisiken zu reduzieren. Gerade den regionalen Banken dienen sie aber
auch dazu, vorhandene Potentiale rechtzeitig und effektiv unterstützen zu können. Letztlich erfolgen die Entscheidungen über eine Kreditvergabe ohne Sicherheit
hinsichtlich der Rückzahlung durch den Kunden. Das
Problem der „asymmetrischen Informationsverteilung“
verweist darauf, dass der Kreditkunde mehr Informationen über die konkrete Verwendung seines Kredites besitzt als die kreditgebende Bank.
Die Kreditwirtschaft muss also bestrebt sein, eine
möglichst weitgehende Kenntnis über die Verlässlichkeit und die Pläne ihrer Kunden zusammenzutragen.
Aber das allein reicht heute nicht aus, um innovative Projekte ausreichend bewerten zu können. Die Schnelllebigkeit der globalisierten, wissensbasierten Ökonomie
erfordert ebenso ein Wissen über die maßgeblichen
wirtschaftlichen und politischen Trends, über technologische Entwicklungen und nicht zuletzt über die Positionierung der eigenen Region.
Die regionale Kreditwirtschaft ist in dieser Hinsicht
im Vorteil, weil der Kontakt zu den Kunden vielfach auch
ein persönlicher ist. Dieser Punkt darf nicht unterschätzt
werden. Das Wissen wird in der wissensbasierten Ökonomie ja sowohl als Produktionsfaktor als auch als Produkt bedeutsam und gilt zunehmend als treibende
­Größe des Wirtschaftswachstums. Im Gegensatz zu Informationen sind Erfahrungen und Kompetenzen jedoch
kaum im globalisierten Netz zu beschaffen. Sie sind
­ihren Trägern oft nicht einmal ausreichend bewusst, um
angemessen dokumentiert zu werden, sondern kommen
erst im Augenblick ihrer Anwendung zum Vorschein.
Dieses implizite Wissen („tacit-knowledge“) ist also
nicht kodifizierbar, sondern personengebunden und
wird vornehmlich im persönlichen Austausch („face-toface“) weitergegeben (Kujath 2008). Dazu bedarf es aber
in der Regel eines gewissen Vertrauensverhältnisses
und der räumlichen Nähe, die nicht nur jenes befördert,
sondern auch die Gelegenheiten schafft, explizites und
implizites Wissen zu verbinden.
Informationen und Wissen sind also nicht deckungsgleich, nicht alles ist kodifizierbar. Es reicht deshalb
nicht aus, Wissen zu sammeln und abzuspeichern. Ohne
ausreichend qualifiziertes Personal, das dieses Wissen
anwenden, vermehren und weitergeben kann, bleibt es
ziemlich nutzlos. Wir brauchen also die entsprechend
klugen Köpfe, um das Wissen, das vornehmlich über die
Knoten der Metropolregionen in unsere Volkswirtschaft
strömt, auch verarbeiten zu können. Und um die Innovationen zu initiieren, auf die ein Hochlohnstandort wie
Deutschland zur Sicherung seiner künftigen Wettbewerbsfähigkeit angewiesen ist.
Bildung und Qualifikation
Aufgrund der immer schneller voranschreitenden Entwicklung und der damit verbundenen geringeren Halbwertzeit von Wissen und Technologie ist die wissensbasierte Ökonomie gekennzeichnet durch wesentlich
verkürzte Produktzyklen. Besonders in Bereichen wie
der Informations- und Kommunikationsbranche wird
dies deutlich. Aber auch in den „klassischen Industrien“
wie der Automobilbranche, die ebenfalls den wissensin-
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
tensiven Wirtschaftsbereichen zuzuordnen ist, konnte
man in den vergangenen Jahren eine deutliche Verkürzung des Technologiezyklus beobachten. Folgerichtig
müssen sich die Neuentwicklungen in verhältnismäßig
kurzen Zeiträumen amortisieren, um die Entwicklungskosten einzuspielen. Neben der kürzeren Lebenszeit von
Produkten sind mittlerweile auch ganze Branchen von
kürzeren Lebenszyklen betroffen.
Investitionen in der Wissensökonomie können deshalb nur dann eine maximale Effizienz erreichen, sofern
sie auch Investitionen in Humankapital darstellen. Für
die Unternehmen bedeutet das nicht nur verstärkte Anstrengungen in Aus- und Weiterbildung sowie in Forschung und Entwicklung, sondern auch den Aufbau einer flexiblen und offenen Unternehmenskultur, die in der
Lage ist, sich ständig wandelnde Anforderungen produktiv aufzunehmen. Sie sind in der Wissensökonomie
gefordert, sich als lernende Organisationen zu bewähren. Das betrifft nicht zuletzt auch die Kreditwirtschaft.
Die kurze Lebensdauer der Produkte und der steigende Anteil von Wissen erfordern eine Risikoabschätzung, die neben einer kundigen Brancheneinschätzung
auch Fragen des Urheberrechts und des Patentschutzes
beinhaltet. Zudem finden wissens­intensive Produk­
tions­prozesse ohne Rücksicht auf nationale Grenzen
statt. Banken müssen also zuneh­mend eine fundierte
Abschätzung der Entwicklungspfade innovativer Tech­
no­
logien und neuer Wachstumsfelder vornehmen
­können.
Angesichts dieser Entwicklungen sind Banken mit
­einer steigenden Komplexität und vermehrten Unsicherheiten in ihren Geschäftsfeldern konfrontiert. Dadurch
steigen gleichzeitig auch die Qualifikationsanforderungen an die Mitarbeiter. Die Finanz- und Wirtschaftskrise
hat uns noch einmal deutlich vor Augen geführt, dass
­Innovation und Kreativität nicht nur in der (Finanz-)Produktentwicklung gefragt sind, sondern auch in der
­Folgeabschätzung. Aus- und Weiter­bildung, eine effek­
tive Wissensorganisation (Kiesewetter /Windels 2008)
und eine effektive Kommunikation des Risikomanagements werden so für die Institute zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor.
Die Politik sieht sich dagegen in der Pflicht, mehr als
bisher dem heute schon manifesten Fachkräftemangel
und der sich abzeichnenden demografischen Entwicklung zu begegnen. Im OECD-Durchschnitt verfügt
Deutschland immer noch über eine zu geringe Studierquote, was sich zunehmend als erheblicher Standortnachteil auswirken könnte. Umso bedenklicher sind die
hohen Quoten von Schulabgängern ohne jeglichen Abschluss. Es sind nicht nur dringend gesuchte Arbeitskräftereserven, die auf diese Weise ungenutzt bleiben;
für die Kommunen akkumuliert sich hier im Laufe der
Jahre ein enormes Problempotenzial.
In der wissensbasierten Ökonomie werden Bildung
und Qualifikation zu den Schlüsselressourcen zählen.
Insbesondere Fachkräfte und Hochschulabsolventen
werden künftig stärker nachgefragt. Der Anteil von einfachen und Hilfstätigkeiten an allen Erwerbsformen in
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Deutschland wird dagegen künftig noch weiter sinken,
während die Anteile der höheren bis hochqualifizierten
Tätigkeiten kontinuierlich steigen (vgl. Brandt 2005).
­A ngesichts einer immer noch (im OECD-Maßstab) unterdurchschnittlichen Abiturienten- und Studierquote in
Deutschland, wird sich der schon heute spürbare eklatante Mangel an Fachkräften und vor allem an Hochschulabsolventen weiter verschärfen. Nach Prognosen
des Statistischen Bundesamtes wird sich so bis zum Jahr
2030 ein Defizit von 1,4 Millionen hochqualifizierter
­Erwerbstätiger ergeben (Meyer / Wolter 2007: 93). Schon
2015 werden mehr als ein Drittel aller Erwerbspersonen
mit Hoch- oder Fachhochschulabschluss ein Alter von 50
bis 64 Jahren aufweisen, während der studierte Nachwuchs rapide auf 19 Prozent abnimmt.
Eine wichtige Beschäftigungsreserve stellen zunehmend die älteren Arbeitnehmer dar. Es wird in Zukunft
darauf ankommen, diese Gruppe in stärkerem Maße als
bisher in Beschäftigtenverhältnisse einzubinden. Dazu
werden gegebenenfalls gesonderte Weiterbildungsmaßnahmen erforderlich sein. Vergleichbares gilt auch
für Frauen, die nach einer Babypause den Wiedereinstieg in ihren Beruf planen.
Wir müssen also in Bildung investieren und dafür
­sorgen, dass wir die Zahl derer, die ohne Abschluss die
Schule verlassen, minimieren und die Zahl der Abitu­
rienten maximieren. Bildung im Zeitalter der Wissensökonomie fängt im Kindergarten an und hört auf der
Hochschule noch nicht auf. Wenn Kommunen und ins­
besondere Metropolregionen sich nicht auch darüber
sehr intensiv den Kopf zerbrechen, werden sie als Anziehungspunkte Schwierigkeiten bekommen. Denn selbst
wenn die großen Städte weiter auf Zuwanderung hoffen
können – und das ist mancherorts noch gar nicht ausgemacht – schon angesichts des demografischen Wandels
wird das Reservoir, aus dem sie schöpfen können, immer
kleiner.
Die Rolle der regionalen Kreditinstitute
in der Standortfrage
Die Sparkassen, die genossenschaftlichen Banken und
vom Prinzip her auch die Landesbanken haben ein konkretes und langfristiges Interesse an der ökonomischen
und gesellschaftlichen Entwicklung ihres Geschäfts­
gebietes. Die regionale Bindung verknüpft die wirtschaftliche Prosperität dieser Institute mit dem Wohlergehen ihrer Region. Deshalb sind Sparkassen nicht
zufällig oft wichtige Akteure in Netzwerken regionaler
Wirtschaftförderung. Durch die flächendeckende Verbreitung der Sparkassen in allen Regionen Deutschlands
wird die Versorgung mit kreditwirtschaftlichen Dienstleistungen auch in strukturschwachen Regionen gewährleistet (Gärtner 2003). Während sich die großen
­Geschäftsbanken an diesen Prozessen nur wenig beteiligen und ihre Verankerung in der Fläche eher abnimmt,
behalten die regionalen Banken als Plattform der lokalen
Wirtschaft ihre wichtige Rolle.
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Beim Aufbau von Beschäftigung und der Lösung
struktureller Probleme in den Regionen ist das Angebot
von Finanzinstrumenten alleine häufig nicht ausreichend. Daher werden Sparkassen oft auch beratend
­t ätig. Dabei bringen Sparkassen und Landesbanken ihr
Wissen über Finanzierungsmöglichkeiten und -konzepte
sowie über die Rahmenbedingungen an Kapitalmärkten
in die Zusammenarbeit mit Kommunen und Unternehmen ein. In vielen regionalen Wachstumsinitiativen und
Wirtschaftsförderungsnetzwerken ist auch das nichtmonetäre Engagement der regionalen Kreditinstitute
mittlerweile ein unverzichtbarer Bestandteil der Konzepte.
Landesbanken und Sparkassen beschränken sich in
ihrer nichtfinanziellen Förderung regionaler Initiativen
und Projekte jedoch nicht nur auf rein wirtschaftliche
­A spekte. Die Institute fördern viele Vorhaben in den Bereichen Soziales, Kunst/Kultur, Sport, Schulen, Umwelt,
Verbraucherschutz sowie Forschung und Wissenschaft.
In dieser Hinsicht können die Landesbanken und Sparkassen bereits auf eine lange Tradition verweisen. Die
Institute tragen auf diesem Wege zur Steigerung der
­Lebensqualität bei, unterstützen das bürgerschaftliche
Engagement vor Ort und schaffen vielfach die Basis für
eine vitale kulturelle Szene. Für dieses Engagement
­haben sie jedoch mehr als nur einen guten Grund.
Standortfaktor Kultur
Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass nicht nur die
materielle und ökonomisch-strukturelle Basis der Standorte über die erfolgreiche Behauptung im wirtschaft­
lichen Strukturwandel entscheidet. Auch bei annähernd
gleichen Voraussetzungen ergeben sich vielfach abweichende Entwicklungspfade. Innovative Standorte zeichnen sich eben nicht nur durch das Vorhandensein spezifischer Ressourcen, sondern auch durch die Flexibilität
zur bedarfsgerechten Anpassung und die Fähigkeit zur
Neuorientierung aus.
Die Effektivität von Innovationsprozessen speist sich
nicht allein aus ökonomischen Austauschbeziehungen,
sondern verdankt sich heute in besonderem Maße auch
den sozialen und kulturellen Ressourcen eines Stand­
ortes. Daher spielen neben den harten Faktoren wie Lage, Verkehrsanbindung und Verfügbarkeit qualifizierter
Arbeitskräfte auch weiche Faktoren wie Positionierung,
Image und Lebensqualität, aber auch Kreativität und
­E xperimentierfreude für die Städte eine immer wichtigere Rolle.
In der Wissensökonomie nimmt der Faktor Arbeit eine
herausragende Stellung ein. Insbesondere die hoch­
qualifizierten Arbeitskräfte profitieren von der steigenden Nachfrage und stellen wachsende Ansprüche nicht
nur an ihre Arbeit, sondern auch an das Unternehmen
und das Umfeld. Heute sind es gerade die entstandardisierten und enttakteten Tagesabläufe, die viele Hochqualifizierte und Kreative veranlassen, den kulturellen
Qualitäten ihres Wohnortes größere Aufmerksamkeit
zuteil werden zu lassen. Das führt schließlich dazu, dass
„in Zukunft nicht mehr nur die Menschen zu den Arbeitsplätzen wandern, sondern umgekehrt die Arbeitsplätze
zu den (qualifizierten) Menschen“ (Häußermann, Läpple,
Siebel 2008: 249). Damit kehrt sich auch für das Standortmarketing die Perspektive um: Künftig werden die
­Städte weniger um Investitionen als vielmehr um jene
Menschen konkurrieren, die von den wissensbasierten
Branchen nachgefragt werden. Der Katalog an relevanten Standortfaktoren wird auf diese Weise erheblich
­erweitert.
Wissen, Kommunikation und Kreativität sind zentrale
Faktoren im modernen Wertschöpfungsprozess und bestimmen so auch immer stärker das Selbstverständnis
und die Außendarstellung eines Unternehmens. Das
schlägt sich in der Unternehmenskultur nieder, aber
auch bei der Planung von Büroräumen, die zunehmend
auf die Optimierung des Kommunikationsflusses zwischen den einzelnen Mitarbeitern oder Teams abstellt.
Die kreativen Köpfe brauchen eine stimulierende Arbeitsumgebung mit Freiräumen, ästhetischen Raumqualitäten und flachen Hierarchien, um effizient arbeiten
zu können. So gibt es heute immer weniger abgeschottete private Arbeitsplätze, sondern viel Gemeinschaftsfläche und offen und transparent gestaltete Büroräume.
Die Ausgestaltung ihres Arbeitsplatzes soll die Mitarbeiter motivieren und inspirieren.
Offenheit und Kreativität, diese Attribute lagen auch
im Fokus der Architektur des neuen NORD/LB Hauptsitzes in Hannover. Die Formensprache des Bauwerkes
richtet sich erkennbar sowohl nach innen, wie nach
außen. Und damit versinnbildlicht es auch unseren
­
­A nspruch als Regionalbank, sowohl an den Qualitäten
unseres Standortes (bzw. unserer Standorte) zu partizipieren, aber auch Verantwortung für die regionale Entwicklung zu übernehmen. In dieser Hinsicht kann die
NORD/LB auf eine lange Tradition als Unterstützerin
künstlerischer, kultureller, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Projekte, Einrichtungen und Initiativen
verweisen. Das machen wir in dem Bewusstsein, dass
unsere dauerhafte Entwicklung untrennbar mit einer
dauerhaften Entwicklung unseres gesellschaftlichen
Umfelds verbunden bleibt.
Die großen Städte waren da seit jeher die bevorzugten Orte, nicht nur für technische, sondern auch für soziale und kulturelle Experimente. Dadurch erst wurden sie
auch zu Zentren der Innovation. Und das hat sich immer
auch im Stadtbild niedergeschlagen. Ein urbanes Milieu,
das differenzierte Lebensstile und Kreativität fördert,
wird in der entstehenden Wissensgesellschaft daher zunehmend als entscheidender Faktor der Standortattraktivität angesehen. Als der Eiffelturm zur Weltausstellung
1889 errichtet wurde, war er zunächst auch höchst umstritten. Neues kann also durchaus sperrig sein. Aber auf
diese Weise wirkt es auch produktiv. Eine experimentierfreudige und innovationsorientierte Kultur wird sich
auch die Freiheit nehmen, spielerisch mit neuen Formen
umzugehen
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
Ausblick: Eine Kultur des Wissens
und Lernens
Regionale Kreditinstitute müssen auf die Standortfrage
in der Wissensökonomie mit einer Doppelstrategie
­reagieren: Sie müssen intern dafür Sorge tragen, dass
Wissen in ausreichendem Maße generiert und in den
Informationskreislauf des Unternehmens eingespeist
­
wird. Das geht in Richtung Wissensmanagement, das
­bedeutet mehr bereichsübergreifende Kommunikation,
mehr Interdisziplinarität und eine bessere Vernetzung.
Vor allem brauchen sie dafür hochqualifizierte Mitarbeiter und die gehen heute nicht mehr an jeden Standort.
Die bevorzugen innovative und kreative Orte. Darum
lohnt es sich für Regionalbanken auch, kulturelle Initiativen und Projekte zu unterstützen, also in dieser Hinsicht
auch nach außen zu wirken, Anstöße zu geben, Frei­
räume zu schaffen. Eine lebendige Kulturszene kommuniziert heute besser als jede Marketingbroschüre die
Qualitäten eines Standortes.
Deshalb aber sind auch nicht nur der Staat und die
Wirtschaft aufgefordert, sich den Bedingungen der
­W issensökonomie zu stellen. Wir bedürfen insgesamt
­einer innovationsfreundlichen und lernbereiten Kultur.
­Lebenslanges Lernen darf kein bloßes Schlagwort bleiben, es muss Eingang finden in den kulturellen Kodex
unserer Einstellungen und Leitbilder. Nur auf diese
Weise werden wir die Chancen und Potenziale der
­
­W issensökonomie ausschöpfen können.
Die Zukunft für den Produktionsstandort Deutschland kann nur darin liegen, sich mit Spitzentechnologie
und Spitzendienstleistungen auf dem Weltmarkt zu
­behaupten. Und damit das auch in Zukunft gewährleistet
bleibt, müssen wir bei der Jugend das Interesse an
­Bildung und Forschung wecken. Indem wir auch deutlich
machen, dass uns neues Wissen voranbringt und wir
­bereit sind, gegebenenfalls eben auch neue Wege zu
­beschreiten. Das kann aber nur gelingen, wenn wir auch
den Raum und die Gelegenheit zum Experimentieren
lassen. Und wenn wir uns offen genug zeigen, neue
­Erkenntnisse und Ideen auch in Handeln umzusetzen.
Aber – und auch das hat uns die letzte Krise gelehrt –
sollten wir dabei auch so frei bleiben, nicht jedem neuen
Trend hinterherzulaufen. Manchmal können Experi­
mente ja auch Altbewährtes bestätigen.
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Frank Schirrmacher
Payback – Über die Rück­
gewinnung des Denkens
in Zeiten des Echtzeit-Internets
Z
unächst eine notwendige Vorbemerkung: Dieser
Beitrag stellt sich nicht in den Dienst einer
Maschinenstürmerei. Es gibt in Deutschland
­
zwar die Neigung, eine Diskussion für oder wider das Internet zu führen, aber es ist unsinnig zu sagen, man sei
gegen das Internet. Das wäre vergleichbar mit der Aussage, man sei gegen Demokratie oder gegen Gesellschaft.
Zweite Phase der industriellen
Revolution
Das Internet muss also zunächst als Faktum betrachtet
werden, und zwar als ein sehr folgenreiches. In den westlichen Gesellschaften – interessanterweise in Amerika
weniger als in Deutschland – gibt es im Augenblick überhaupt keinen Mangel an Evangelisten dieser neuen Zeit,
an Predigern und Anwälten, die ihre eigenen, durchaus
berechtigten Geschäftsinteressen haben. Das ist auch
gut so. Sie alle haben jetzt die Plattform, sich nicht nur
im Netz zu artikulieren, sondern auch in der wirklichen
Welt. Wenn man aber davon ausgeht, dass der Wandel,
den wir mit dem Stichwort „Internet“ verbinden, gewaltiger ist als jeder technologische Wandel der letzten Jahrhunderte, weil er auch die kognitiven Fähigkeiten von
Menschen beeinflusst, und dass die Veränderungen, mit
denen wir zu tun haben, fundamental eingreifen werden
in die Art und Weise, wie Gesellschaften nicht nur miteinander kommunizieren, sondern auch wie Politik künftig
sein wird, wie aber auch Arbeitsplätze gestaltet werden,
dann erscheint es zwingend notwendig, sich auch kritisch mit diesen Fragen zu befassen.
Es spricht vieles dafür, dass das heutige Geschehen
mit der Debatte zu vergleichen ist, die im späten
19. Jahrhundert im Zeichen der industriellen Revolution
geführt wurde. Heute wird gern vergessen, dass es
­damals zumindest über weite Strecken der Industria­
lisierung bis hin zum Kommunismus eine Phase der puren Euphorie gab. Was wir mit „Fordismus“ bezeichnen,
die neue Arbeitsteilung und Arbeitsökonomie nach
Stoppuhr, wurde sowohl von amerikanischen Kapita­
listen wie beispielsweise auch von Lenin bejubelt. Erst
b Innenhof des Britischen Museums, London
später trat dann eine Phase ein, wo man sich kritischer
mit den Wirkungen dieser damals unglaublichen indus­
triellen Veränderung auseinandersetzte. Heute erleben
wir die zweite Phase dieser industriellen Revolution, und
sie ist deshalb so besonders interessant, weil sie jetzt
den „geistigen Arbeiter“ betrifft, also nicht mehr die
­Manufaktur im klassischen Sinn, den Handwerker, den
industriellen Arbeitsplatz, sondern das Büro, die Me­
dien, die Universitäten und schließlich die Gesellschaft
und alles, was in irgendeinem Sinne früher als white collar Arbeit bezeichnet wurde.
Wir erleben derzeit nicht nur die Industrialisierung
von Information, sondern auch von Intelligenz, letztlich
auch die Industrialisierung von Informationsvermittlung. Wenn man diese Entwicklung mit dem Blick des
19. Jahrhunderts betrachtet, ist man sicherlich geneigt
anzunehmen, dass sie als wahrscheinlich noch größerer
Wandel als der damalige in die Geschichte eingehen
wird.
Was war, was ist und was sein wird
Erik Schmidt, der Chef von Google, äußerte vor nicht
­allzu langer Zeit sinngemäß: Wir wissen, was sie getan
haben, wir wissen, was sie tun, wir wissen, was sie tun
werden. Diese Aussage hätte noch vor fünf oder zehn
Jahren als ein Satz aus einem Science-fiktion-Roman
gegolten. Heute haben wir Internet-Dienste wie bei­
spielsweise Facebook, die gehen genau diesen Fragen
nach: Was wissen wir über Menschen, was machen wir
mit dem Wissen über Menschen, wie können wir dieses
Wissen verkaufen und wie können wir voraussagen, was
Menschen tun?
Wenn vom Internet oder Web die Rede ist, sollte auch
– so trivial es klingt – thematisiert werden, dass hinter
der Oberfläche dieser Systeme natürlich Computer stehen. Das Web ist eine lächelnde Oberfläche, aber in den
Maschinenräumen des Internets arbeiten eben Computer, digitale Systeme. Diese digitalen Systeme arbeiten
nicht nur im Internet, sondern überall. Sie arbeiten in geschlossenen Systemen, bei den Behörden, beim Staat;
sie arbeiten relativ gut zusammen, und sie arbeiten
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i­mmer besser zusammen, selbst wenn sie Teile von geschlossenen Systemen sind.
Es ist also von einer Kommunikation des Menschen mit
Maschinen die Rede, auch dann, wenn vom Internet gesprochen wird. Noch in den 60er Jahren hat sich ­niemand
vorstellen können, welche Entwicklung die Computerisierung nehmen wird. Es gibt diesen berühmten Satz von
IBM aus den 50er Jahren: „Wir brauchen 5 Computer in
Amerika.“ Später herrschte die Idee vor, in jeder Stadt würde künftig ein Computer wie ein Postamt eingerichtet und
alle Leute würden dort hingehen und ihre Rechenarbeiten
erledigen lassen. Der ganz große Swift entstand eigentlich
erst durch einen Mann, den man zunächst gar nicht verstand, den Nobelpreisträger Herb Simon. Zu dieser Zeit
waren Computer riesige ­Maschinen, die im Keller standen,
und kaum jemand konnte sich vorstellen, ein derartiges
Gerät mal im Büro stehen zu haben. Es war Herb Simon,
der diesen Para­digmenwechsel u. a. mit dem Satz einleitete: „Informa­tion ist nicht kostenlos.“ Die Währung für Information ist Aufmerksamkeit. Jede Werbeanzeige im Netz,
jeder Text, der gelesen werden will, ringt um Aufmerksamkeit. Herb Simon hat darauf hingewiesen, dass man mit
den Computern nicht nur rechnen, sondern auch Symbole
manipulieren kann. Unter Symbolen werden in diesem Zusammenhang alle Bilder, Pixel oder Buchstaben bezeichnet, grundsätzlich also alles, was in der Interaktion mit
Computern eingesetzt wird. Das war in den 70er J­ ahren.
Gerd Gigerenzer hat die faszinierende Geschichte erzählt, wie die Einführung des PCs verlaufen ist. Personalcomputer tauchten zuerst – abgesehen vom Militär – im
Bereich der Medizin auf, vor allem in den Praxen, anschließend in den Behörden. Gigerenzer bezeugt sehr
gut, wie dieses Bild immer stärker wurde: Der Computer
denkt, und wir denken auch, also sind wir auch alle wie
Computer. Allerdings hat noch in den 80er Jahren niemand vorhergesehen, was aus dem Internet entstehen
könnte. 1989, 1990 gibt es die ersten starken Hinweise
darauf, was uns bevorstehen könnte, aber auch noch
­relativ zurückhaltend. Im Jahr 2000 wird dann zum ersten Mal ein Aufsatz veröffentlicht, in dem die Rede von
den Netz-Imigrants ist, also jenen, die schon im Netz geboren sind. Diese These ist jedoch schon längst wieder
veraltet und überflüssig. Seither bekamen wir es in einer
atemberaubenden Geschwindigkeit mit Systemen zu
tun, die eine weitere Veränderungsstufe durch Maschinen einleiten, als neuestes Beispiel das iPad von Apple.
Intelligente Maschinen
Was bedeutet diese Kommunikation zwischen Mensch
und Maschinen, und wo führt sie uns hin? Zunächst wäre
die Frage zu klären, ob wir hier inzwischen mit intelligenten Maschinen kommunizieren und neue Vernetzungsgrade mit der Gesellschaft und den Menschen erreichen,
die erst aufgrund dieser Maschinenintelligenz möglich
geworden sind. Das berühmteste Science-Fiction-Beispiel ist natürlich „2001: Odyssee im Weltraum“. Der
Computer HAL wird immer intelligenter, irgendwann ist
er intelligenter als der Mensch und dominiert sogar den
Menschen. Das war ein Paradigma der Science-FictionLiteratur über Jahrzehnte, fast über 100 Jahre. Die Entwicklung künstlicher Intelligenz war noch in den 80er
Jahren ein großes Thema mit entsprechenden Forschungsansätzen, aber irgendwann ist die Idee etwas
erlahmt. Das lag daran, dass man plötzlich etwas anderes feststellte, und das ist es, womit wir es heute zu tun
haben. Computer und ihre Berechnungsmöglichkeiten
werden intelligent, aber nicht dadurch, dass wir sie intelligent programmieren, sondern – und das geschieht vor
allem im Internet – weil man festgestellt hat, dass sie
eigentlich nichts anderes brauchen als permanenten
­
menschlichen Input, also menschliche Kommunikation:
menschliche Anfragen, menschliche Datensuche, menschliche Äußerungen auf allen Ebenen, die möglich sind.
Sofern eine kritische Masse erreicht ist, können die
modernen Algorithmen tatsächlich über Vernetzung
­Zusammenhänge herstellen, von denen man sich vorher
eigentlich keinen Begriff machte. Dieser Vorgang wird
deutlich, wenn man beispielsweise im Internet Bücher
bestellt. Anschließend empfiehlt Amazon dem Käufer
mehr oder minder gut das nächste Buch und trifft damit
eine Voraussage. Ein anderes Beispiel ist eine Software
namens Apple Genius. Wer sich bei iTune Musik runterlädt und diese Software zulässt, wird von Apple immer
wieder Empfehlungen erhalten. Dabei wird der MusikGeschmack des Käufers analysiert und in der Zentral­
datenbank bei Apple mit dem Geschmack unzähliger
­anderer Menschen verglichen. Das funktioniert überraschend gut.
Das alles ist unglaublich hilfreich, aber was hier mit
Büchern oder mit Musik und mit vielem anderen geht,
geht eben auch mit Menschen. Die deutschen Schriftsteller sollten sich einmal damit befassen. Das große
Thema des gesamten Abendlandes ist die Liebe. Die
­Liebe hat ein Charakteristikum in der abendländischen
Fantasie, und zwar seit der Antike, und das ist ihre totale
Unberechenbarkeit. Der Blitz, Liebe auf den ersten Blick,
das ist ein platonisches Motiv. In den Romanen des
19. Jahrhunderts taucht dieses Motiv immer wieder auf.
Wenn sich zwei treffen, war es wie eine Erscheinung usw.
Heute gibt es im Internet eine Reihe von Partnerschaftsvermittlungen oder Kontaktbörsen, und man muss
­sagen, diese Systeme sind relativ gut. Sie werden immer
besser, sie bringen sehr viele Menschen zusammen, und
sie tun es dadurch, dass sie algorithmisch in hoch komplexer Weise nicht nur Interessen von Menschen berechnen, sondern eine Vernetzung von vielen verschiedenen
Daten herstellen. Künftig müssen Literatur und Kunst
berücksichtigen, dass auch die Liebe nur ein Algorithmus ist.
Eine Liebesszene des Jahres 2010 in einem Café:
Flaubert z. B. würde sagen, es war wie eine Erscheinung;
Mann sieht Frau oder Frau sieht Mann und es gibt den
großen Moment der Annäherung, des Erkundens des anderen. Künftig wird es jedoch so sein, dass man in vielen
Fällen nichts anderes tun muss, als sein Handy auf diesen Menschen zu halten und den Auslöser zu drücken.
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
13
Das große Thema des gesamten
Abendlandes ist die Liebe.
Die Liebe hat ein Charakteristikum
in der abendländischen Fantasie,
und zwar seit der Antike, und das ist
ihre totale Unberechenbarkeit.
Die entsprechende Software existiert bereits. Sie heißt
Racket Nacer. Es gibt eine weitere bei Google, die angeblich noch viel besser sein wird. Die Kamera erkennt das
Gegenüber, sofern das Foto im Netz vorhanden ist, und
die Software kann dann aus den Informationen, die
­dieser Mensch z. B. in Facebook oder anderswo von sich
preisgegeben hat, eine Skizze entwerfen, in der die Interessen dieses Menschen bis hin zu seiner gesamten
­Lebensgeschichte dokumentiert sind.
Die totale Berechenbarkeit
Aufgrund dieser völlig neuen Informationen, die weithin
abrufbar sind, werden sich auch neue soziale Verhältnisse
auf einer ganz pragmatischen empirischen Ebene einstellen. Diese Veränderung ist groß und fundamental und sie
funktioniert auf allen Ebenen. Sie betrifft die s­ ozialen Ebenen gesellschaftlichen Umgangs, geht aber auch ganz
stark in die Bereiche des Erkennens von Wissen, von Kognition und von Arbeit. Spätestens hier fängt es an, besonders interessant zu werden, vor allem, wenn man sieht, wie
diese Entwicklung alle Bereiche durchdringt. Wir treten ein
in eine Phase der Berechenbarkeit und Kodifizierung
menschlichen Verhaltens, menschlicher Produktivität oder
vielleicht von allem, was den Wert des Menschen im klassischen Sinne ausmacht. Die entsprechenden Algorithmen
sind bereits vorhanden. Der notwendige Ansatz besteht
jetzt aber nicht darin, zu sagen, das wird immer effektiver
und mächtiger und muss daher abgeschaltet werden. Sondern die entscheidende Frage ist: Können wir mit einem
Bildungssystem, mit einem Menschenbild und mit Anforderungen, die eigentlich aus dem 19. Jahrhundert kommen, das überhaupt noch bewältigen? Die deutsche
­Universitätsreform zum Beispiel – der Bologna-Prozess –
ist faktisch deshalb ein Desaster, weil sie im Grunde
­Kreativität zu einem von Computern total berechenbaren
System macht. Darum diese unglaubliche Verschulung
der deutschen Universität. ­Bologna ist genau die falsche
Antwort auf diese Frage.
Was hat es mit dieser Berechenbarkeit nun auf sich?
Nehmen wir das Beispiel Google. Wenn man bei Google
einen Suchbegriff eingibt, stellt man Google zwar eine
Frage, man gibt Google aber gleichzeitig auch eine Antwort. Diese Antwort sagt, dieser Mensch interessiert
sich für die entsprechenden Begriffe und klickt diese
Seiten an. Dieser Mensch bleibt solange mit dem Cursor
auf diesem Punkt, er kommt von dieser Seite usw. Bei
­einer genügend großen Masse von Informationen von
entsprechend vielen Menschen, und bei Google kann
man von Milliarden sprechen, ist es natürlich möglich,
zahlreiche Muster herauszufinden. An dieser Stelle spätestens müssen wir allmählich erkennen, dass wir Menschen leider so unterschiedlich nicht sind, wie wir immer
glauben, sondern dass es wirklich möglich ist, Profile,
die sehr weitgehend sind, von Menschen zu erstellen,
nicht nur für private Unternehmen, sondern auch für die
Industrie.
Die Folgen dieses Verfahrens haben sich in den letzten Jahren gezeigt. Ein Beispiel betrifft die physiologischen Wirkungen. Die zeigen sich vor allem in der Veränderung der Arbeitswelt durch die digitalen Systeme. Seit
ungefähr sechs, sieben Jahren wird der Begriff Multitasking zur Ideologie. Es wird gesagt, Frauen können besonders gut multitasken, Männer können es angeblich
schlechter. Diese Argumentation kommt aus der Computerwelt. Multitasking bedeutet, viele Dinge gleichzeitig
zu machen. Wir wissen heute, dass das eine Ideologie ist,
die nicht stimmt. Multitasking ist dem Menschen nicht
möglich. Selbst Leute, die permanent diesen ständigen
Informationswechseln ausgeliefert sind, können es nicht
lernen. Weil das Gehirn es nicht kann. Es passiert jedoch
etwas anderes. Es werden offenbar bestimmte Gehirnregionen verändert bzw. anders angeregt. Ein geläufiges
Beispiel ist die merkwürdige Ungeduld am Computer,
wenn es etwas dauert, bis eine Website hochgeladen
wird. Dabei handelt es sich nur um Sekunden, aber als
Nutzer fühlt man sich heute schon regelrecht genervt.
Es scheint so zu sein, dass es eine Region im Gehirn gibt,
die auf Belohnungen wartet. Dieses Zentrum wird korrumpiert und in Mitleidenschaft gezogen, stattdessen
wird etwas anderes aktiviert durch diese Kombination
14
RegioPol eins + zwei 2011
Multitasking und Computer: die Erwartung auf sofortige
Belohnung, einhergehend mit der Ausschüttung von
entsprechenden Hormonen.
Adaption der Gesellschaft
Daraus folgt: Wir müssen in der „wirklichen“ Gesellschaft
Gegenmaßnahmen ergreifen. Wenn wir uns künftig permanent im Internet bewegen und jetzt dort auch Bücher
lesen, sind wir auch permanent dieser Veränderung ausgesetzt. Die Gesellschaft muss daher auf der Ebene des
wirklichen Lebens erkennen, dass auch andere Dinge
wichtig sind. Neurophysiologen vergleichen diese Veränderungen mit den Folgen der Fließbandarbeit im 20.
Jahrhundert, nur dass es diesmal den Kopf betrifft. Es
handelt sich beispielsweise um Kreativität, und manche
empfehlen schon die Integration von Übungen zur Meditation und Kontemplation z. B. in den Schulunterricht, in
die Ausbildung, in die Arbeitsplätze. Als die industrielle
Revolution ihren Lauf nahm, konnte am Anfang auch niemand sehen, was das bedeutet. Dann merkte man plötzlich, dass die Muskeln der Menschen nicht gut für die
Maschinen geeignet waren, die Arbeiter wurden zu
schnell krank, nicht zuletzt, weil sie vom Land kamen.
Die Maschinen brauchten sehr diffizile Bewegungen von
Menschen. Daher kam das berühmte Ballet der Moderne.
Also musste man die Menschen anpassen. Man kann
heute feststellen, dass die Idee der Fitnessstudios, des
Muskelaufbaus, bis hin zu der Frage von Ernährung,
­K alorien usw. aus dem Bereich der Arbeitsoptimierung
des späten 19. Jahrhunderts stammt.
Es ging also darum, den Körper anzupassen, damit er
nicht krank wird. Interessanterweise waren es die Gewerkschaften, die damals sagten, wir wollen, dass hier
etwas geändert wird. Jetzt, im 21. Jahrhundert, suchen
wir die Schuld bei uns selber. Heute sagen wir, ich bin
vergesslich oder ich habe dieses Kurzzeitgedächtnis
oder ich kann Multitasking nicht, aber wir adressieren
nicht mehr an einen Arbeitgeber oder einen Unternehmer, sondern die Menschen sind auf diesen guten Trick
reingefallen, zu sagen, ich bin selber schuld, offenbar kann
ich es nicht. Heute weiß man aber, dass schon aus neurologischen Gründen niemand dazu wirklich in der Lage ist.
Es wird künftig darauf ankommen, die Gesellschaften
entsprechend zu adaptieren. Das, was damals für die
Muskeln des Körpers galt, gilt jetzt für die Muskeln des
Gehirns. Es gilt jetzt für den Geist. Auch das Hirn ist letztlich ein Muskel. Deshalb müssen wir die Ideen auf ganz
neue Weise in die Gesellschaften integrieren, eben alles
das, was digitale Systeme nicht können. Dazu gehören
Kontemplation, Kreativität, Künstlertum und auch Toleranz und Intuition.
Ein anderes Beispiel ergibt sich durch die Flugverbote infolge des Vulkanausbruchs auf Island. Diese Vulkan­
aschegeschichte basiert auf einer Simulation, die aus
England kam. Diese Simulation ist zunächst nicht durch
Daten korreliert worden. Was sie auslöste, war gar kein
Prozess mehr von Entscheidungen, sondern von Automatismen. Es gab gar keinen Ermessensspielraum mehr,
die Luftgesellschaften beriefen sich interessanterweise
auf den gesunden Menschenverstand, auf Intuition und
dergleichen.
Das heißt nicht, dass Simulationen oder Modellierungen immer falsch sind; aber in vielen Unternehmen in
Deutschland sind Simulationen oder Prognosen über
menschliche Kreativität, über den Wert von Menschen,
Taxonomie, schon flächendeckend im Einsatz. Sofern
diese Systeme genug Daten über alle Mitarbeiter haben,
können sie voraussagen, was ein Mitarbeiter in 15 Jahren noch wert ist. Das wird wieder zur Grundlage von
Entscheidungen. Da stellt sich jedoch die Frage: Was
passiert, wenn ein Personalchef in dem Mitarbeiter was
ganz anderes sieht. Hat er dann gegen das System eine
Chance? Wer entscheidet künftig? Das ist die Frage, die
sich derzeit aufdrängt. Wir steuern in eine Sozialisation
hinein, die leider auch hirnphysiologisch gefördert wird,
die darauf hinausläuft, dass die Gesellschaft immer mehr
auf Systeme vertraut, die angeblich unfehlbar sind.
Man darf den Internetdiskurs nicht immer nur im Hinblick auf Märkte führen. Wir müssen auch die Veränderungen in der Gesellschaft in den Blick bekommen. Da-
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
mit sind wir wieder bei Facebook und letztlich dem, was
den Kern der sozialen Netzwerke ausmacht. Es geht da­
rum, dass sie tatsächlich im ganzen Netz verbreitet sind,
und jeder, der sich bei Facebook registriert und auf eine
Seite beispielsweise von Mercedes geht, dort plötzlich
seine eigenen Freunde trifft, weil Facebook die Daten
mit den Websites austauscht. Soziale Netzwerke wie Facebook und andere streben danach, das gesamte Leben
ihrer Nutzer digital zu erfassen. Deshalb brauchen wir
als Gegenmittel intuitive Institutionen in unserer Gesellschaft. Mittlerweile kann man schon ganze Lebensläufe
durch Algorithmen berechnen lassen. Auch dafür werden Facebook-Daten benutzt. Aber auch viele andere.
Facebook beispielsweise sammelt den Beziehungsstatus von Menschen, also verheiratet, ledig, geschieden.
Auf diese Weise gewinnt der Dienst einen Beziehungsüberblick über viele Menschen. Auch in diesem Fall werden wieder Korrelationen hergestellt, die von Außenstehenden gar nicht abzusehen sind. Das Entscheidende
bei algorithmischen Berechnungen ist immer der abwesende Dritte. Man muss gar nicht selbst bei Facebook registriert sein, um dort digital abgespeichert zu sein; es
reicht schon, wenn ein Freund sich dort mit seinen Kontakten eingeschrieben hat.
Facebook organisiert beispielsweise seine Mitglieder
nicht nur nach dem Alphabet, sondern auch nach Sympathie. Man kann über Computer feststellen, wer der größte
Sympathieträger in einem sozialen Netzwerk ist. Wenn es
gelingt, diesen Sympathieträger zu überzeugen von einer
Marke oder von einem Produkt, dann ist der natürlich ein
hervorragender Botschafter für dieses Produkt in seinem
Freundeskreis. Auch das ist alles durchaus legitim. Es steht
nur zu befürchten, dass hier eine Monetarisierung sozialer
Beziehungen eintreten könnte.
Dieser Aspekt funktioniert übrigens auch auf der
Ebene des Staates. Die sehr intransparent agierenden
Dienste wie Google und Yahoo sind dabei nur die eine
Seite. Der Staat hat, anders als Google, ein Gewaltmonopol. Der Staat kann Dinge durchsetzen und exekutieren.
In diesem Zusammenhang kommt der Datensicherheit
eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Es handelt
15
sich hier nicht um einzelne Adressen oder um das Alter
und Geschlecht der Menschen. Worum es geht, ist ein
Abbild ihres gesamten digitalen sozialen Verhaltens und
die Rekonstruktion des Gleichen in der wirklichen Welt.
Wer heute mit einem Handy zwei oder mehr Telefonate
macht, hinterlässt deutliche digitale Spuren. Das Handynetz hat zum Teil sehr kleine Räume, sogenannte Zellen.
So kann etwa ein Krankenhaus über vier oder fünf Zellen
verfügen, und es lässt sich so theoretisch nachverfolgen, wer öfter aus der Krebsabteilung oder der Gynäkologie heraus kommuniziert. In „Science“ haben französische Wissenschaftlicher vor Kurzem festgestellt, dass es
möglich ist, von einem Handy ausgehend, mit einer
90-prozentigen Wahrscheinlichkeit das Kommunikations-, aber auch Bewegungsverhalten des Nutzers in
den nächsten fünf Monaten vorherzusagen. Das ist keine
­Science-Fiction.
Deshalb brauchen wir nicht nur eine Medienpädagogik, sondern ein Bewusstsein dafür, dass Datenschutz
viel mehr ist als das, was wir uns bislang darunter vorgestellt hatten. Ein gutes Stichwort ist der Datenpass. Das
würde nicht nur bedeuten, dass wir einmal im Jahr gesagt bekommen, was über uns gespeichert ist, sondern
auch, wie das mit anderen Daten korreliert, so dass wir in
die Lage versetzt werden, unser digitales Bild zu überprüfen. Diese Debatte sollte jedoch nicht gegen das
Netz oder dafür geführt werden. Das Internet ist da und
geht nicht wieder weg, es wird geradezu mit Lichtgeschwindigkeit stärker und mächtiger. Was wir jedoch
dringend brauchen, ist die Adaption der Gesellschaft an
dieses Netz. Das heißt nicht, dass wir alle zu Informa­
tikern werden müssen, sondern dass wir ein Gegen­
gewicht stärken müssen in dieser Gesellschaft und den
Institutionen. Dass man sagen kann: Ich entscheide
mich gegen die vorausberechnete These über diesen
Menschen, meine Intuition sagt was anderes. Ob das ein
Kredit ist oder eine Karriereprognose – wenn man bei
dieser Debatte erst einmal angekommen ist, dann werden auch andere Menschen einsteigen, die Pädagogen
beispielsweise und auch die Künstler.
16
RegioPol eins + zwei 2011
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
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„Der kurze Traum“ revisited:
Aussicht auf eine neue
Prosperität?
Interview mit Professor Burkart Lutz
Professor Lutz, Ihr Buch „Der kurze Traum immerwährender Prosperität“ erfährt fast 30 Jahre nach
seiner Veröffentlichung angesichts der Weltwirtschaftskrise eine ganz neue Aktualität. Darin spielt
der Begriff der „Prosperitätskonstellation“ eine
zentrale Rolle.
Der Begriff der Prosperitätskonstellation und ihr Zusammenhang mit Krisen ist von hoher Bedeutung, wenn man
die Logik der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Entwicklung in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften
erfassen und analysieren will. In der Diskussion lassen
sich hierbei meiner Überzeugung nach bis weit zurück
ins 19. Jahrhundert zwei grundlegende Verlaufsmuster
unterscheiden. Das eine, weit verbreitete Muster, das
mir grundsätzlich fehlerhaft zu sein scheint, unterstellt
die Existenz eines einheitlichen, durchgängigen und
verbindlichen Entwicklungsmusters, das einerseits zwar
einer gewissen Krisendynamik unterworfen ist, aber andererseits in der Gesamttendenz doch sehr eindeutig
immer mehr Wachstum und immer größeren Reichtum
hervorbringt. Gemäß dieser Überzeugung, die beispielsweise die wachstumstheoretische Diskussion der 60er
und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts dominierte, ist Prosperität der Normalfall. Krisen, die jeder raschen Entwicklung immanent sind, wirken vor allem als Heilmittel
für alle die Probleme, die sich in der zurückliegenden
Wachstumsphase aufgebaut haben. Damit wird angenommen und von vielen Autoren akzeptiert, dass im Prozess der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung immer wieder Krisen konjunktureller oder
struktureller Art auftreten können, dass soziale Konflikte
ausbrechen und dass krisenhafte Erscheinungen sich
kumulieren, die große Teile des gesamten Systems erfassen. Zugleich wird jedoch angenommen, dass die Krise, wird sie vernünftig gesteuert, ausreichend viele und
ausreichend starke Innovationen hervorbringen kann,
von denen sich das Wachstum neu entfaltet. Dann
kommt das ganze System in die Krise. Die Krise bringt
dann aber wiederum die technischen, organisatorischen, ökonomischen und geopolitischen Innovationen
b Anstreicher in Kochi, Indien
hervor, die ihrerseits notwendig sind, damit sich das
Wachstum auf einer neuen Basis neu entfalten kann.
Diese Sichtweise der herkömmlichen Entwicklungsmodelle halte ich für grundlegend falsch. Wenn man einmal die Geschichte der zwei Jahrhunderte moderner
Entwicklung Revue passieren lässt, sieht man sehr
schnell, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen Perioden und ihren jeweiligen Prosperitäts­
phasen und Krisen viel stärker sind, als dies mit einem
einheitlichen Entwicklungsschema vereinbar wäre.
Deshalb versuchte ich, im „kurzen Traum“ und in verschiedenen anderen Publikationen, ein Modell zu formulieren, innerhalb dessen die historisch sehr unterschiedlichen Verläufe von kapitalistischer Prosperität und Krise
gemäß ihrer jeweils besonderen Dynamik und in ihrem
Zusammenhang erklärbar sind. Dieser Sichtweise liegt
­
­allerdings die nicht leicht zu handhabende Überzeugung
zugrunde, dass sich die konkreten Muster von Wachstum
und Krise vor und nach der Krise grundlegend unterscheiden. Was heißt das? Jede Entwicklungsphase bringt einen
spezifischen Umgang mit Ressourcen mit sich, hat bestimmte Organisationsformen, bestimmte Formen sozialer
Ungleichheit, Ausbeutung u. Ä. Mir geht es mit dem Begriff
der Prosperitätskonstellation vor allem darum, diese unverwechselbaren Besonderheiten einer jeweiligen Wachstumsphase deutlich zu machen, wobei der Begriff der Prosperitätsphase ausreichend Raum dafür lassen muss,
gleichzeitig die großen Unterschiede herausarbeiten, die
zwischen ihnen bestehen.
In historischer Perspektive heißt dies, dass die Überwindung der großen Krisen nur auf eine Art und Weise
zustande kommen kann, die sehr wenig mit der gesamten vorausgegangenen Entwicklung zu tun hat, wie etwa
das Beispiel der großen Weltwirtschaftskrise der späten
20er Jahren und ihre Überwindung durch den „fordistischen“ Wohlfahrtskapitalismus nach dem zweiten Weltkrieg sehr deutlich erkennen lässt.
Wenn wir die Prosperitätskonstellationen vor und
nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 betrachten:
Welche Unterschiede sind für Sie ausschlaggebend?
18
RegioPol eins + zwei 2011
Wir können historisch sehr gut belegen, dass wir ab 1900
in eine sich zunehmend verschärfende Weltwirtschaftskrise hineingeraten sind. Für viele erschien schließlich
ein großer Krieg als einziger Ausweg. Ich bin in der Tat
rückblickend davon überzeugt, dass der 1. Weltkrieg eng
mit einer sich Schritt für Schritt aufbauenden Krise verbunden war, die sich nach der Auseinandersetzung um
die Aufteilung der Kolonialländer zugespitzt hatte. Allerdings brachte der Krieg selbst keine Lösung. Die Krise,
die in den letzten Jahren vor dem Kriegsausbruch begonnen hatte, dauerte an, und zwar mindestens bis weit
in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein. Man kann
heute darüber diskutieren, ob der 2. Weltkrieg ohne die
offenkundigen, massiven Fehler aller Beteiligten vermeidbar gewesen wäre. Allerdings war sicherlich aus der
damaligen Perspektive noch in den 30er Jahren allenfalls ein Armutskeynesianismus als Alternative denkbar,
während die stürmische Expansion, die dann tatsächlich
nach dem 2. Weltkrieg einsetzte, in der gesamten Zwischenkriegszeit als reine Utopie erscheinen musste. Und
nun geht auch diese Prosperitätskonstellation der Nachkriegszeit offenkundig zu Ende – wohl vor allem, weil sie
einen großen Teil der Ressourcen verzehrt hat, die als
„Treibstoff“ unerlässlich schienen und noch heute vielen
unerlässlich scheinen.
Was zeichnete Ihrer Ansicht nach diese Prosperitätskonstellation nach dem 2. Weltkrieg aus?
Sie hatte zumindest drei einzigartige Merkmale, die es in
dieser Form vorher nie gegeben hat. Das erste Merkmal
ist ein doch über lange Zeit hinweg kontinuierliches,
zeitweise sehr starkes ökonomisches Wachstum. Zweitens: Die Generalisierung einer besonderen Lebens­
weise, und zwar einer Lebensweise, die entsprechend
dem fordistischen Modell in erheblichem Umfang auf der
Verfügbarkeit von technischen Geräten verschiedenster
Art gründete (Pkw, elektrische Haushaltsgeräte etc.).
Drittens beginnt diese Prosperitätskonstellation ganz
vorsichtig über sich selbst nachzudenken, es setzt also
ein Zwang zur Reflexion über die eigene Gesellschaft ein.
Sehen Sie diesen Reflexionszwang schon für die
50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts als
gegeben an?
Es ist doch unglaublich, was wir in den entwickelten
­Nationen in den 50er, 60er Jahren zustande gebracht
haben. Das geht nicht ohne einen bestimmten Grad an
Reflexion. Aber gleichzeitig muss man sagen, jede Prosperitätskonstellation erbt auch Leistungen der Vergangenheit. Da werden Institutionen mitgeschleppt, da werden Macht- und Einflusskonstellationen fortgesetzt, da
wird an Formen der Produktion und der Übermittlung
von Wissensbeständen aus der vorausgegangenen Prosperitätskonstellation angeknüpft. Alles dieses zerfällt
ja auch in der Krise nicht sofort und vollständig. Letztlich
bedeutet das, was wir in den 50er und 60er Jahren erlebt
haben, doch nur, dass zunächst eine Fülle an Nachlassbeständen früherer historischer Phasen nutzbar gemacht und dann sukzessive verbraucht wurden. Für uns
Heutige stellt sich damit die sehr dringliche Frage, wie
dieses reflexive Moment in den künftigen Entwicklungsverläufen bewahrt und gestärkt werden kann. Ein wenig
Hoffnung ist wohl gestattet. So gibt es gute Gründe für
die Annahme, dass ein Teil der Governance-Diskussion
der letzten Jahre in eine Richtung weist, in der ganz
über­raschend neuartige Formen von Bündnissen und
Zusammenschlüssen oder auch von horizontalen Netzen sichtbar werden. Stuttgart 21 ist ein sehr schönes
Beispiel hierfür, war es doch noch vor Kurzem gänzlich
­unvorstellbar, dass das Stuttgarter Bürgertum auf die
Straße geht und sich Wasserwerfern entgegenstellt.
Gehen wir doch noch einmal kurz zurück: Können
Sie uns die Ursachen skizzieren, die den Niedergang
der Prosperitätskonstellation der Nachkriegszeit
bereits Anfang der 70er Jahre eingeleitet haben?
Es war einfach die Erschöpfung jener Ressourcen, deren
Mobilisierung, deren Nutzbarmachung die große Prosperität erst begründet haben. Einige Stichworte müssten eigentlich genügen: Eine sehr hohe Anzahl von
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
­ rwerbspersonen wurde in das System der Lohnarbeit
E
integriert. Deutschland war 1945 noch in weiten Teilen
ein Agrarland. Eine große Zahl von Arbeitskräften, Männer wie Frauen, waren in der Landwirtschaft, im Handwerk, im Tante-Emma-Einzelhandel und in persönlichen
Diensten beschäftigt. Wir hatten in der Berufszählung
1950, wenn ich das recht erinnere, etwa eine halbe Million Erwerbstätige in häuslichen Diensten. Zu jener Zeit
waren wir eher erstaunt darüber, wie die Amerikaner lebten, die elegant gekleidet waren, die große Autos fuhren,
aber keine Dienstboten hatten und selber ihre Schuhe
putzten.
Ich bin übrigens auch überzeugt davon, dass die Rivalität zwischen den beiden Atommächten, der so genannte Kalte Krieg, wesentlich zur Prosperität nach dem
2. Weltkrieg beigetragen hat, u. a. weil unter dem Druck
der halbmilitärischen Bedrohung des kalten Krieges Institutionen und Strukturen durchgesetzt werden konnten, die in einer Konstellation ruhiger, langfristig ge­
sicherter kapitalistischer Prosperität sicher nicht
durchsetzbar gewesen wären.
War es nicht auch so, dass mit den katastrophischen
Ereignissen nach 1929 auch neue Ideen entstanden,
die ein neues Verhältnis von Staat und Markt auf die
Agenda rückten und auf breiter Front politisch
durchsetzungsfähig machten?
Zweifellos war in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein großes Reservoir von Konzepten und Ideen verfügbar, die
zu einem Gutteil noch vor dem 1. Weltkrieg, z. B. bei den
Kathedersozialisten oder bei den Fabians in England,
entwickelt wurden und mit deren Hilfe auf teilweise
recht großer Stufenleiter im Wohnungsbau oder in der
Versorgung mit alltäglichen Gütern beispielsweise genossenschaftliche Lösungen erprobt wurden, auf die
dann nach dem 2. Weltkrieg zurückgegriffen werden
konnte.
Sie haben jetzt nicht die Theorien und Konzepte
John M. Keynes erwähnt. War das Absicht?
19
Nein, Keynes war und bleibt bis heute sicherlich ein sehr
wichtiger und sehr innovativer Vordenker. Doch teilte er
viele Ideen mit anderen. Und ich vermute, dass auch die
klügsten Ideen wenig bewirkt hätten, wenn nicht nach
dem 2. Weltkrieg ganz neuartige strukturelle Faktoren
eine Entwicklung ermöglicht hätten, auf die zu hoffen
nur sehr wenige den Mut hatten.
Es gibt eine ganz gängige Argumentation in der
­aktuellen ökonomischen Debatte, die den Sozialund Wohlfahrtsstaat betrifft. Diese Debatte stellt
darauf ab, dass der Wohlfahrtsstaat ja erst einmal
ökonomisch ermöglicht werden muss. Erst durch
mehr Wertschöpfung gibt es, so lautet die Argumentation, auch die Ressourcen, um den Wohlfahrtsstaat zu finanzieren. Ich habe den „Kurzen
Traum“ auch so gelesen, dass der Wohlfahrtsstaat
umgekehrt auch einen Wertschöpfungsmechanismus in Gang gesetzt hat.
Ja, sicherlich. Wir haben nach dem 2. Weltkrieg in den
großen westlichen Industrienationen einen wirklichen
Entwicklungssprung erlebt, dessen wesentliche Voraussetzung darin lag, dass die Sozialpolitik tiefgreifende
Veränderungen in Gang setzte, die z. B. Lohnarbeit überhaupt erst attraktiv machten. Man darf nicht vergessen:
Wir hatten um 1945 in den Westzonen mehr Bauernhöfe
als jemals zuvor in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Dort waren viele hunderttausend Männer und Frauen
als Arbeitskräfte gebunden. Wie hat man es geschafft,
einen Mobilisierungsprozess in Gang zu setzen, der dem
modernen Sektor in so kurzer Zeit eine solche Masse von
Arbeitskräften zuführte? Ich denke, man kann gut belegen, dass die Sozialpolitik Mobilisierungsvoraussetzung
war und nicht Mobilisierungsfolge. Das scheint mir ein
elementarer Zusammenhang zu sein, der unter anderem
auch erklärt, warum wir in der Nachkriegszeit einen zunehmenden, hohen Politikbedarf hatten, der sich in der
Zeit des Kalten Krieges natürlich vor allem in der Sprache des Freund-Feind-Gegensatzes und der Bedrohung
durch die Sowjetunion artikulierte. Der beste Beleg hier-
20
RegioPol eins + zwei 2011
für ist in den Nachkriegsjahrzehnten der enge Zusammenhang zwischen der geografischen Entfernung zur
sowjetischen Grenze und der Schnelligkeit und Gründlichkeit, mit der die neuen wohlfahrtskapitalistischen
Konstellationen entstanden. Je größer die räumliche
Nähe der verschiedenen Industrienationen zur Sowjetunion, je größer der davon ausgehende Bedrohungsdruck war, desto tiefgreifender und schneller setzten die
wohlfahrtsstaatlichen Reformen ein, die dann zur Prosperität führten.
Wir haben bereits festgestellt, dass es keinen kontinuierlichen Wandel gibt. In der theoretischen Diskussion – auch in Texten von Burkart Lutz – kommt
in diesem Zusammenhang immer wieder der Begriff
der „großen Krise“ vor. Was ist eigentlich der entscheidende Unterschied zwischen einer großen und
einer kleinen Krise?
Was man üblicherweise als kleine Krisen bezeichnet,
sind im wesentlichen konjunkturelle Turbulenzen. Wir
wissen seit dem frühen 19. Jahrhundert, dass markt­
gesteuerte Entwicklungen immer wieder Turbulenzen
hervorbringen und dass diese „kleinen Krisen“ eng mit
der Abfolge von Krisen und Prosperitätsphasen zusammenhängen. Diese Abfolge wird sehr häufig (und wohl zu
Recht) als Ausdruck marktendogener Mechanismen und
Instabilitäten, die sich im Systemzusammenhang abspielen und allenfalls kleinere Veränderungen in den
Strukturen hervorrufen.
Die große Krise ist hingegen eine Krise, deren Bewältigung das System in großen Teilen überfordert. Solche
Krisen können sich manchmal aus einer normalen Konjunkturkrise entwickeln, doch ist ihre Überwindung
nicht auf systemimmanente Weise, sondern nur mittels
einer wirklichen Neukonfiguration möglich.
Kann man sagen, dass große Krisen zwar nicht die
Selbstheilungskräfte für einen neuen Aufschwung in
sich bergen und insofern nicht aus sich selbst heraus
eine neue Prosperitätskonstellation begründen, aber
dass sie Auslöser von Suchbewegungen sind? In diesem Sinne führen sie dazu, dass nolens volens Kräfte
erzeugt werden, die in einem mehrjährigen, möglicherweise auch jahrzehntelangen Prozess eine neue
Prosperitätskonstellation begründen.
Ich würde nicht sagen, große Krisen sind Auslöser und
werden irgendwann eine neue Prosperitätskonstellation
begründen, und würde lieber sagen: Große Krisen können dies bewirken. Aber niemand kann ausschließen,
dass ihnen dies misslingt. Ich meine, wenn eine Prosperitätskonstellation sich erschöpft hat und dann die Weltwirtschaft erst in eine kleine Krise oder eine Folge von
kleinen Krisen gerät und dann in eine große Krise
rutscht, dann gibt es keinen Ausweg aus dieser Krise
ohne politische Reflexion und ohne politisches Handeln.
Ich würde es also Ihre Frage insofern noch ein bisschen
schärfer formulieren. Und ich fürchte, dass mich nicht
nur der Alterspessimismus zu der Befürchtung treibt,
dass in unserem Falle das Problemlösungspotenzial der
Gesellschaft nicht ausreicht, das zu tun, was notwendig
wäre, eine neue Prosperität in Gang zu setzen.
Aber über kurz oder lang muss ein Ausweg gefunden
werden, der jenseits der traditionellen Bahnen liegt?
In meinem Buch „Kurzer Traum“ sage ich, wenn man in
eine große Krise hineinrutscht ist, dann gibt es keine
­Patentlösung, um wieder herauszufinden. Der Glaube,
dass es ausreicht, auf das gleiche Repertoire zurückzugreifen, mit dem man frühere mehr oder minder große
Krisen bewältigt hat, um uns aus der aktuellen Weltwirtschaftskrise herauszuführen, kann sich als trügerisch
erweisen. Ich glaube nicht, dass es erfolgreich sein kann,
das überlieferte Instrumentarium zu nehmen, es ein
bisschen anzupassen und hier und da zu ergänzen und
dann reinzuklotzen – natürlich mit weit mehr Geld als
dies früher möglich war. Das halte ich für eine Illusion.
Ich denke allerdings: Je stärker der von der Krise ausgelöste Problemdruck wird, desto mehr wird es zu Suchprozessen kommen, von denen freilich niemand weiß.
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
wo sie letztlich hinführen. Diese Suchprozesse stehen
aber für ein wachsendes Bedürfnis nach neuen Ansätzen. Das stimmt mich in gewisser Weise zuversichtlich.
Auf der anderen Seite weiß man natürlich überhaupt
nicht, was politisch letztlich vor sich gehen wird.
Die herrschende Lehrmeinung der ökonomischen
Theorie der letzten 30 Jahre hat im Kern darauf abgestellt, auf die Selbstheilungskräfte des Marktes zu
setzen, und die Aufgabe staatlicher Institutionen da­
rin gesehen, die Inflation im Griff und die Zinsen möglichst niedrig zu halten, um unter diesen Voraussetzungen eine Wachstumsdynamik zu ermöglichen.
Ansonsten habe der Staat sich geflissentlich zu bescheiden. Diese Denkweise scheint mir in dieser Weltwirtschaftskrise in eine fundamentale Defensive geraten zu sein.
Ob das Adjektiv fundamental zulässig ist, weiß ich nicht.
Doch kommen zumindest überraschende Äußerungen
von Leuten, von denen man vorher so etwas nicht erwartet hätte.
Erwarten Sie von diesen Neuformierungsprozessen
und damit auch aus dem wissenschaftlichen Bereich, Impulse für neue Zukunftsstrategien?
Das kann sehr wohl kommen. Ich halte das Ergebnis dieser Prozesse allerdings für hochgradig offen. Da kann
sehr viel gleichzeitig passieren und was sich dann
schließlich aus der Vielfalt von einzelnen Ereignissen
und Veränderungsprozessen als handlungsfähige Konzepte herauskristallisiert, ist jetzt, im Vorhinein nicht zu
sagen. Dies schließt aber keineswegs aus, dass der Ablauf von Prozessen dieser Art durch eine nachdrück­liche
und ermutigende Förderung des Nachdenkens in nicht
unerheblichem Maße beeinflusst wird.
Was sind eigentlich die Blockierungen, die neue
Problemlösungen, auch im Sinne einer neuen Prosperitätskonstellation, verhindern?
21
Die Prosperitätskonstellation nach dem 2. Weltkrieg war
in vieler Hinsicht die weitaus erfolgreichste in der
Menschheitsgeschichte. Dieser Erfolg wurde im Wesentlichen bezahlt durch eine hochgradige, auf bestimmten
Gebieten sogar vollständige Funktionalisierung der verfügbaren materiellen und intellektuellen Ressourcen.
Hierzu gehörte nicht zuletzt ein uneingeschränktes Vertrauen in die Kräfte des Marktes als der Pfadfinder, der
uns in eine sonnige Zukunft führt. Die Stärke dieser Prosperitätskonstellation, die bis in die späten 70er Jahre
anhielt, bewirkte, dass ein Großteil der verfügbaren materiellen, finanziellen und kognitiven Ressourcen als Abbild des Handlungsbedarfs und der Handlungsstruktur
strukturiert, organisiert, aufgestellt wurde, die sich auf
dem Höhepunkt der Nachkriegsprosperität herausgebildet hatten. Dies ist ein sehr weites und kompliziertes
Feld, beginnend mit den großen Reformen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung über die Abgrenzung der
Ressortzuständigkeiten in der Politik, die Strukturierung der Disziplinen in der Wissenschaft etc. Nahezu
mit all dem, was vor Jahrzehnten entstand und auf mehr
oder weniger effiziente Weise dem Erkenntnis- und
Handlungsbedarf der 50er und 60er Jahre entsprach,
müssen wir uns bis heute unter teilweise bereits tief­
greifend veränderten Verhältnissen recht und schlecht
arrangieren.
Wir ahnen, dass wir uns zur Bewältigung der aktuellen bzw. sich vor unseren Augen schrittweise herausbildenden Problemlagen auf eine ganz neue Konfiguration
von Handlungspotenzialen, von Denkstrukturen und
Ressourcenverteilung einlassen müssten, die allenfalls
in sehr groben, unscharfen Konturen erkennbar sind.
Entscheidend ist, dass die zukünftige Prosperitätskonstellation, wenn es denn zu einer solchen kommt, substanziell mehr Vorausdenken erfordern wird, als alles,
was wir bisher historisch gekannt haben.
Nicht wenige Wissenschaftler, auch Wirtschaftswissenschaftler wie Joseph Stiglitz oder die Theoretiker aus dem Kreis der französischen Regulationsschule, haben im Zusammenhang mit der
22
RegioPol eins + zwei 2011
Weltwirtschaftskrise davon gesprochen, dass sich
diese große Krise auch als Geburtshelfer einer neuen Wissens- oder Innovationsökonomie erweisen
könnte.
Das halte ich für eine Illusion.
Warum?
Ich halte die Überzeugung, dass neue Technologien in
der Lage seien, ein blockiertes Wachstum wieder in
Gang zu bringen, für reine Illusion. Kein Zweifel, es wird
an nicht wenigen Stellen darüber nachgedacht, ob die
Zukunft nicht einem qualitativen Prosperitätsmodell an
Stelle des immer noch dominanten quantitativen Modells gehören wird und welcher Pfad gegebenenfalls
vom einen zum anderen führen könnte. In diesen Zusammenhang gehört z. B. auch die neue Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, die sich mit neuen
Wohlstandsindikatoren befasst. Ich meine, dies alles
weist in die richtige Richtung. Doch handelt es sich bisher um jeweils einzelne Prozesse und Experimente, die
sicher spannend und unterstützenswert sind. Aber der
große Durchbruch ist dies sicherlich noch nicht. Gleiches
gilt auch für mehr oder weniger spontanes Handeln auf
lokaler Ebene, die möglicherweise zunehmend Bedeutung erlangt. Aber das reicht alles nicht – das ist meine
Befürchtung –, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich wirklich etwas grundsätzlich Neues vollzieht. Wir werden sehen, was in China in den nächsten
10 Jahren passiert, wo man inzwischen, wenn ich das
richtig sehe, mächtige Denkfabriken aufgebaut hat.
Bei dem Ansatz der Wissensökonomie geht es ja nicht
um technische Innovationen, sondern um die These,
dass Wissen zur entscheidenden Produktivkraft wird.
Es geht sowohl um Verwissenschaftlichungsprozesse
als auch um die wachsende Rolle von tacit knowledge
in den Industrie- und Dienstleistungsunternehmen.
Daraus erklärt sich möglicherweise eine neue Qualität der ökonomischen Entwicklung. Es handelt sich
um Veränderungen, die sich nicht nur auf technologische Lösungen reduzieren lassen, sondern gerade
auch um organisatorische bzw. institutionelle Arrangement, die sich insbesondere auch auf die Bewältigung gesellschaftlicher Problemfelder beziehen lassen. In diesen Erklärungsansätzen steckt meines
Erachtens wesentlich mehr als die vermeintlich dominante Rolle technologischer Innovationen, wie wir sie
etwa von Schumpeter oder Kondratieff kennen. Die
Wissensökonomie wird in der neuerlichen ökonomischen Debatte als ein System von Austauschbeziehungen diskutiert, in dem z.B. der Preismechanismus
nicht mehr in der herkömmlichen Form funktioniert.
Stattdessen herrschen dort hybride Institutionen zwischen Markt und Hierarchie, also Kooperationsbeziehungen bzw. Netzwerke vor. Es geht um neue Regulationsanforderungen, weil sich z. B. das geistige
Eigentum – Joseph Stiglitz sagt: „Wissen ist ein globales öffentliches Gut“ – nicht mehr in der Weise
marktförmig organisieren lässt, wie es in der öko­
nomischen Welt der Vergangenheit der Fall war. Das
sind vielleicht Aspekte, die im Zusammenhang mit
unserem Gespräch über die Chancen einer neuen Prosperitätskonstellation spannend sein könnten.
Ich sehe in diesem Zusammenhang große Chancen und
große Gefahren. Es gibt Chancen, weil es hier um eines
der Felder geht, auf denen tatsächlich Neues entstehen
kann. Aber ich sehe diese Entwicklungen zugleich auch
kritisch, weil ein Gutteil dieser Wissensproduktion sich
selbst wieder in den herkömmlichen Strukturen vollzieht
und damit selbst der Gefahr der Monetarisierung unterliegt. Wir sollten uns noch einmal vergegenwärtigen, in
welchem Ausmaß wir in den letzten 50 Jahren unsere
entwickelten Gesellschaften durchorganisiert und funktionalisiert haben. In den damit entstandenen sozioökonomischen Strukturen und den in sie eingelassenen
Grenzziehungen und Formen der Arbeitsteilung sind
mächtige Apparate bestrebt, sich immer größere Teile
der Wissensbestände und der Wissensverwertung zu
unterwerfen. Die Perspektive der Wissensgesellschaft
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
kann unzweifelhaft etwas Neues bewirken. Ich halte
„Wissen“ in diesem Kontext trotzdem für einen sehr problematischen Begriff. Er beinhaltet gleichzeitig sowohl
sehr starke positive als auch sehr negative Elemente. Ich
glaube auch nicht daran, dass es sozusagen die eine große Lösung gibt. Das wäre ein fundamentalistischer Irrtum. Es gibt nicht den einen Weg, der zum Guten führt
und auf dem man sich möglichst strikt halten muss, um
aus der Krise herauszufinden. Ein solcher Ansatz, glaube
ich, ist auf unsere Diskussion nicht anwendbar.
Ich würde dem entgegenhalten, dass das Neue, das
mit dem Begriff des Wissens in unserer Debatte um
die Wissens- oder die Innovationsökonomie verbunden wird, geradezu ein neues Verhältnis von Markt
und Staat und zivilgesellschaftlichen Institutionen
impliziert. Die großen Probleme unserer Zeit und die
großen Themen der Zukunft, also z.B. der Klimawandel, die Notwendigkeit der Ressourceneffizienz oder
die demografische Herausforderung, werden gesellschaftlich nur in den Griff zu bekommen sein, wenn es
uns gelingt, unsere Wissenspotenziale in der Zukunft
neu zu organisieren.
Ja, oder inwieweit wir dies bereits organisiert haben
müssen, damit der Prozess der Erneuerung wirklich in
Gang kommen kann. Ich bin immer noch oder immer
­w ieder erschrocken darüber, wie stark die Institutionen,
Organisationen der Vergangenheit in der Gegenwart
­immer noch wirksam sind. Aber da müsste man wirklich
noch mal eine wissenschaftssoziologische Diskussion
führen. Dieses alles spricht aber – und da sind wir uns,
glaube ich, völlig einig – für die hohe und möglicher­
weise überlebensentscheidende Bedeutung einer offenen Diskussionskultur.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Dr. Arno Brandt.
23
24
RegioPol eins + zwei 2011
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
25
Simone Strambach
Herausforderungen
der Wissensökonomie
Strukturen, Prozesse und neue Dynamiken im globalen Strukturwandel
D
er Begriff der „Wissensökonomie“ als Analyseperspektive des gegenwärtigen globalen Strukturwandels ist mittlerweile in der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Debatte fest
etabliert. Dennoch herrscht keineswegs Einigkeit über
die Frage, welche Strukturen und Prozesse für Wissensökonomien kennzeichnend sind, zu welchen sich insbesondere Hochlohnländer wie Deutschland entwickeln.
Selbst eine eindeutige und generell akzeptierte Definition von „Wissen“ konnte sich bis heute noch nicht durchsetzen. Dieser Beitrag beleuchtet drei Aspekte etwas
genauer: Zu Beginn geht es um die Frage, was „Wissen“
zum einen als „Ware“ und zum anderen als „Produktionsfaktor“ in ökonomischen Handlungszusammenhängen
kennzeichnet. Daran anschließend wird anhand von
­Makroindikatoren ein kurzes Schlaglicht auf Strukturen
und Prozesse geworfen, die als Beleg für die zunehmende Wissensbasierung wirtschaftlicher Aktivitäten von
hochentwickelten Volkswirtschaften angeführt werden
können. Abschließend werden neue Dynamiken im globalen Strukturwandel diskutiert, die durch die zunehmende Internationalisierung von Innovation und Wissen
entstehen und zu neuen Formen der Wissensent­stehung
führen. Diese Entwicklungen stellen Unternehmen und
Regionen gleichermaßen vor neue Herausforderungen.
Kennzeichen der Wissensökonomie
In der wissenschaftlichen Debatte wird die Frage, was
eigentlich eine Wissensökonomie ausmacht, sehr heterogen diskutiert. Einigkeit besteht jedoch darin, dass die
systematische Erzeugung, Kommerzialisierung und
Kommodifizierung von Wissen wesentliche Merkmale
dieses Transformationsprozesses von hochentwickelten
Gesellschaften darstellen. Wissen war stets ein wichtiger Faktor für wirtschaftliche Entwicklungen, insbesondere für Innovation und technischen Fortschritt. Im Rahmen des globalen Strukturwandels hat die Beziehung
zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Wissen jedoch quantitative und qualitative Veränderungen erfahb Holzskulptur auf der Zugspitze
ren. „Wissen“ gewinnt nicht nur als Produktionsfaktor
eine wachsende Bedeutung in wirtschaftlichen Trans­
aktionen, sondern entwickelt sich zunehmend zu einem
immateriellen Gut, das mit einem Preis versehen und
­gehandelt werden kann. Im Vergleich zu vergangenen
Jahrzehnten ist die Wertschöpfung wirtschaftlicher
­A ktivitäten in der „modernen“ Wissensökonomie direkter mit der Produktion, der Verteilung, der Nutzung und
insbesondere auch mit der Kommerzialisierung von
­W issen verbunden (vgl. Foray/Lundvall 1996, OECD 1996,
Stehr 1994). Das dynamische Wachstum von Märkten für
immaterielle Güter und wissensintensive Dienstleistungen sowie die empirisch beobachtbaren Internationa­
lisierungsprozesse von Wissen und Innovation sind
­Ausdruck dieser Entwicklungen.
Als Treiber dieses Transformationsprozesses fungieren neue Informations- und Kommunikationstechnologien, die wesentlich dazu beitragen, dass auch Erfahrungswissen, sogenanntes implizites Wissen, welches
an Personen gebunden und in Unternehmen, Netzwerken und Regionen eingebettet ist, kodifiziert und schneller transferiert werden kann. In Verbindung mit neuen
Transporttechnologien und gesunkenen Transport­
kosten ermöglichen sie die steigende räumliche und
zeit­liche Trennung von Unternehmensfunktionen. Outsourcing- und Offshoring-Prozesse, die auf der Ebene
der Produktion bereits früh eingesetzt haben, umfassen
inzwischen nicht nur Dienstleistungsfunktionen, sondern auch wissensintensive Unternehmensprozesse. Als
Folgen dieser vertikalen Desintegration und Restrukturierungsprozesse kann einerseits die drastisch gestiegene Komplexität von Produktionssystemen festgehalten werden, zum anderen die weitere Differenzierung
der internationalen Arbeitsteilung. Die Ausprägung von
globalen Wertschöpfungsketten und von komplexen,
vernetzten Produktions- und Dienstleistungssystemen
führt zu steigender Intensivierung internationaler funktionaler Integration wirtschaftlicher Aktivitäten.
Für Wissensökonomien stellen neue Transport-, Informations- und Kommunikationstechnologien eine
ganz wesentliche Infrastruktur dar. Sie ermöglichen die
26
RegioPol eins + zwei 2011
Abbildung 1: Immaterielle Wissensprodukte in ökonomischen Handlungszusammenhängen
Materielles Gut
Wissen als
immaterielles Gut
Steuerungsmedium
Nutzen
Wert
Eigentumsrechte
Preis
Marktwert ist
unabhängig
vom Kontext
Wert wird bei
Gebrauch aufgezehrt
Gehen beim Verkauf
an den Kunden über
Vertrauen, Reputation,
soziale Netzwerke
Marktwert ist
kontextsensitiv,
abhängig von der
Handlungssituation
Wert vermehrt sich
bei Gebrauch
Verbleiben trotz
Verkauf beim Anbieter
Quelle: Eigener Entwurf.
erforderliche Koordination und Organisation wirtschaftlicher Aktivitäten über Länder- und Regionsgrenzen
­hinweg. Allerdings fungieren sie nicht nur als Voraus­
setzung, sondern gleichzeitig auch als Verstärker der zunehmenden Wissensbasierung. So entstehen virtuelle
Räume der Interaktion und Kommunikation, in denen
­relativ unabhängig von Zeit und geographischem Raum
vorhandenes Wissen ausgetauscht, kombiniert und neues Wissen generiert wird. Durch neue IuK-Technologien
wird der Ausbreitung internationaler ökonomischer
­Beziehungen und der Ausweitung des Informations- und
Wissenstransfers eine neue Qualität und Beschleu­
nigung verliehen. Diese Dynamik wiederum befördert
die Nachfrage nach wissensintensiven Informationsund Dienstleistungsgütern und das Wachstum von
­immateriellen Wissensmärkten für komplexe und vernetzte Produktions- und Dienstleistungsprozesse.
Die steigende Wettbewerbsintensität, die durch die
gegenwärtige Globalisierung ausgelöst wird, in Ver­
bindung mit den technologischen Möglichkeiten der
zunehmenden Handelbarkeit von Wissen, haben den
­
­Effekt, dass Innovationszyklen kürzer werden und dass
die Wissensbasis von Unternehmen, von Branchen, aber
auch von Regionen schneller veraltet und untergraben
wird. Wesentliche Strukturmerkmale von wissensbasierten Ökonomien sind daher nicht nur der Umfang der
„Wissenswertschöpfung“ und die Intensität, in der Wissen als Produktionsfaktor und als Gut genutzt wird, sondern dass aufgrund dieser Dynamik Lernen als der zentrale Prozess betrachtet werden kann (Foray/Lundvall
1996, Kujath/Zillmer 2010, Strambach 2004). Die sich
wechselseitig bedingende Verbindung von Wandel und
Lernen bestimmt den hohen Stellungswert, welcher
­Lernprozessen für die Innovations- und Wettbewerbs­
fähigkeit von Akteuren in der wissensbasierten Öko­
nomie zugesprochen wird. Akteure, die mit schnellen
Veränderungen konfrontiert werden, sind gezwungen,
durch Lernprozesse sich diesem Wandel anzupassen. In
wissensbasierten Ökonomien hängt die Fähigkeit, kom-
parative Vorteile aufrechtzuerhalten, eng von der Lern­
fähigkeit ab. So ist es für Unternehmen nicht mehr ausreichend, Innovationen nur punktuell zu generieren,
sondern sie müssen diese kontinuierlich durch die gezielte Suche nach neuem Wissen oder die Kombination
von bereits vorhandenem Wissen entwickeln und in
Form von neuen Produkten, Pro­zessen und Dienstleistungen vermarkten. Für die ­A rbeitskräfte bedeutet dies
ebenfalls, dass einmal erworbene Kompetenzen auf dem
­A rbeitsmarkt wissensbasierter Ökonomien nicht ausreichend sind, sondern dass das sogenannte „lebenslange
Lernen“, die permanente und systematische Weiter­
­
bildung zur wesentlichen Herausforderung wird (vgl.
OECD 1996).
Die hohe Bedeutung von Lernprozessen in wissens­
basierten Ökonomien hängt darüber hinaus auch mit den
besonderen Eigenschaften zusammen, die „Wissens­
güter“ in ökonomischen Transaktionen auszeichnen. Diese
werden im Folgenden detaillierter dargestellt.
„Wissen“ als ökonomisches Gut
Während in früheren Jahrzehnten die beiden Begriffe
Information und Wissen noch weitgehend synonym
verwendet wurden, besteht in der interdisziplinären
­
­Forschung zur Ökonomie des Wissens inzwischen weitgehend Einigkeit, dass Wissen viel mehr ist als nur Informationen, die als funktional oder thematisch strukturierte Daten definiert werden. Wissen dagegen basiert
auf Erfahrungen, ist durch Heuristiken und Bewertungen gefärbt und wird als eine Handlungsressource individueller und kollektiver Akteure betrachtet (vgl. Stehr
1994, Sveiby 1997). Informationen werden erst zu Wissen, wenn Akteure damit handeln, wenn sie Probleme
lösen oder etwas in Bewegung setzen.
Wissen ist ein interaktives und immaterielles Gut,
das die konventionellen ökonomischen Qualitäten von
materiellen Waren nur bedingt besitzt (vgl. Abbildung 1).
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
Verantwortlich sind hierfür insbesondere die inhärente
implizite D
­ imension und der kumulative Charakter von
Wissen ­sowie dessen Kontextabhängigkeit. Die schon
als klassisch zu bezeichnende Unterscheidung von implizitem und explizitem Wissen von Polanyi (1985) verweist d
­ arauf, dass Wissen unterschiedliche Dimensionen beinhaltet. Während explizites Wissen durch die
Kodifizierung in systematischer Weise verarbeitet, übertragen und gespeichert werden kann, ist das bei einem
anderen Teil von Wissen, dem sogenannten implizitem
und „tacit“ Wissen, nicht der Fall (vgl. Polanyi 1985). Es ist
an den Erfahrungshintergrund, an Interpretationen, an
mentale Modelle, Überzeugungen und Wahrnehmungen
von ­Personen gebunden und wird von diesen meist als
selbstverständlich erachtet (vgl. Nonaka/Takeuchi 1997).
Für kreative Prozesse, für die Entwicklung von neuen
„Wissensgütern“ und Innovationen wird gerade diesem
impliziten Wissen ein hoher Stellenwert beigemessen,
obwohl oder gerade weil es schwer formalisierbar, kommunizierbar und übertragbar ist. Trotz vermehrter Kommunikationsmöglichkeiten über das Internet und digi­
taler Vernetzung spielen daher in Herstellungsprozessen
von komplexen Wissensprodukten räumliche Nähe und
Face-to-Face-Kontakte – nicht unbedingt permanent
­jedoch temporär – für Austausch von implizitem Erfahrungswissen eine entscheidende Rolle.
Die Eigenschaften der Ware „Wissen“ als Gut oder
Ware unterscheiden sich in ökonomischen Handlungszusammenhängen erheblich von denjenigen der materiellen Güter. Letztere haben einen Nutzen und können
unabhängig vom Herstellungskontext ausgetauscht und
verbraucht werden. Der Wert von materiellen Waren
steckt meist im Produkt selbst, daher ist auch der Preis
der dominierende Steuerungsmechanismus der Transaktionsprozesse auf Märkten für materielle Güter. Da­
gegen sind der Nutzen und der Marktwert von immate­
riellen Gütern in hohem Maße kontextsensitiv und
abhängig von der spezifischen Handlungssituation (vgl.
Sveiby 1997). Wissen besitzt in unterschiedlichen Situationen einen unterschiedlichen (Markt-)Wert, es ist
­damit nicht in einem schlichten Sinne „objektiv“. Beratungskonzepte für ein Großunternehmen beispielsweise
sind zum Teil von geringem Wert oder sogar „wertlos“
für Kleinunternehmen. Das erfolgreiche Marketingkonzept für eine spezifische Automarke kann für das Branding eines anderen Herstellers nur von geringem Wert
sein. In der Interaktion zwischen den Akteuren – dem
Wissensanbieter und dem Nachfrager – entsteht ein großer Teil des Wertes der Ware Wissen.
Dies hat zur Folge, dass immaterielle Wissensprodukte und wissensintensive Dienstleistungen verkauft werden, bevor sie endgültig fertiggestellt bzw. produziert
sind. Diese spezifischen Eigenschaften von Wissen erschweren die Standardisierung und die Qualitätsbe­
urteilung von immateriellen Wissensprodukten. Zwar
wird technologisches und nicht-technologisches Wissen
heute in viel stärkerem Maße als in früheren Jahren
durch Preise bewertet und gehandelt, nicht nur die Informationsgüter, auch die Wissensvermittlung und -gene-
27
rierung folgen zunehmend den Marktgesetzen; dennoch
bleiben Vertrauen, Reputation und soziale Netzwerke
ganz wesentliche Mechanismen für die Steuerung von
Transaktionen auf fluiden Wissensmärkten mit Produkten, die primär rein immateriellen Werten und Normen
folgen.
Unterschiede bestehen maßgeblich auch darin, dass
der Wert von materiellen Produkten mit dem Gebrauch
und der Nutzung aufgezehrt wird. Sie nutzen sich in der
Verwendung ab, werden verbraucht und verlieren an Wert.
Bei Wissen dagegen ist das nicht der Fall. Es hat einen kumulativen Charakter und vermehrt sich durch die Anwendung, da es mit Erfahrungswissen, implizitem Wissen und
Kontextwissen vergrößert und angereichert wird. Investitionen in Wissen sind eher mit „increasing returns“ als mit
„decreasing returns“ verbunden (vgl. ­Dosi 1996). Dies hat
zur Folge, dass auch wenn die ­Eigentumsrechte bei der
Veräußerung von Wissens­gütern genau wie bei materiellen Produkte in den Besitz des Kunden übergehen, sie
dennoch in gewisser Weise Eigentum des Produzenten
bleiben und von diesem ­weiter verwendet werden können.
Es ist mit Schwierigkeiten verbunden, die weitere Verwendung von vorhandenem Wissen zu verhindern, insbesondere wenn es sich nicht um technische Artefakte oder Prozesse handelt.
Wie Forschungen zu Wissensspillovers zeigen, kann
vorhandenes Wissen unbeabsichtigt zu anderen Akteuren diffundieren und von diesen als positive Externalität
genutzt werden. Zumindest in Teilen ist bereits existierendes Wissen ein öffentliches Gut. Das trifft in besonderem Maße auf explizites Wissen in digitalisierter Form
zu, das relativ rasch verbreitet werden kann und entgegen der Intension des „Produzenten“ die Eigenschaften
eines Kollektivgutes annehmen kann (Kujaht/Zillmer
2010). Eine zentrale Herausforderung in der Wissens­
ökonomie ist daher die Gestaltung der institutionellen
Rahmenbedingungen von Eigentums- und Urheberrechten in der Art, dass „immaterielle Wissensgüter“ ähnlich
wie materielle Produkte privatwirtschaftlich vermarktet
werden können, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung
von Anreizen für den ungehinderten Austausch von
­W issen. Diese sind für die Exploration und Generierung
von neuen Wissensprodukten unabdingbar.
Strukturen und Prozesse
Indikatoren auf der Makroebene erlauben lediglich eine
begrenzte Abbildung der dargestellten komplexen wissensbasierten Interaktions- und Transaktionsprozesse
innerhalb und zwischen Unternehmen, Netzwerken und
Branchen. Es lässt sich jedoch anhand empirischer Makroindikatoren im langfristigen wirtschaftlichen Strukturwandel von Hochlohnländern eine kontinuierliche
Verschiebung hin zu forschungs- und wissensintensiven
Wirtschaftszweigen nachweisen. Die OECD schätzt, dass
bereits 1996 über 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
der größten OECD-Ökonomien auf wissensintensiven
wirtschaftlichen Aktivitäten beruhte (OECD 1996: 9).
28
RegioPol eins + zwei 2011
Abbildung 2: Anteil der Beschäftigten in hochwertige und Spitzentechnologiesektoren
des Verarbeitenden Gewerbes, 1997 – 2008
14
12
Anteil in %
10
8
6
4
2
0
1997
1998
1999
Deutschland
EU 27
Finnland
2000
2001
2002
Schweden
Spanien
Tschechische Republik
2003
2004
2005
2006
2007
2008
UK
Quelle: Eigene Darstellung nach Eurostat 2010b.
I­nsbesondere die Entwicklungen von Erwerbs- und
­Beschäftigungsstrukturen belegen, dass diese Länder
einen solchen Transformationsprozess durchlaufen. So
ist die Zahl der Erwerbspersonen mit tertiärem Bildungsabschluss, der von Universitäten, Fachhochschulen und technischen Hochschulen verliehen wird,
permanent gestiegen. In Ländern wie beispielsweise
­
Finnland und Schweden hatte im Jahre 2008 bereits­
jede zweite erwerbstätige Person einen Universitätsund Hochschulabschluss. Der wachsende Bedarf an
hochqualifizierten Arbeitskräften spiegelt sich ebenfalls
in den Erwerbslosenzahlen wider. Diese dokumentieren,
dass Erwerbspersonen mit akademischem Bildungsabschluss in wesentlich geringerem Ausmaß von Erwerbslosigkeit betroffen sind. Für Deutschland liegt die
Erwerbslosenquote der Arbeitnehmer ohne tertiären
­
Bildungsabschluss um ein Fünffaches über derjenigen
mit dieser Qualifikation. In den 27 Ländern der EU ist der
Anteil der Humanressourcen in Wissenschaft und Technologie im letzten Jahrzehnt kontinuierlich gewachsen.
Lag der durchschnittliche Anteil im Jahr 2000 noch bei
34 Prozent , waren es im Jahr 2008 bereits knapp 40 Prozent. Die nordeuropäischen Länder Schweden und
­F innland führen diese Entwicklung mit einem Anteil von
50 Prozent an. In Deutschland waren in Wissenschaft
und Technologie 2008 rund 45 Prozent der Human­
ressourcen tätig.
Es lässt sich darüber hinaus beobachten, dass auch
innerhalb des produzierenden Gewerbes die wissensintensiven Tätigkeitsbereiche wachsen oder weniger stark
von Beschäftigungsabbau betroffen sind. Industrielle
produzierende Tätigkeiten unterlagen bereits seit den
1970er Jahren dem Abbau und der Verlagerung an
Standorte mit niedrigen Lohnkosten. Forschungsintensive Spitzentechnologiesektoren, wie die Luftfahrt oder
die Halbleiterindustrie, waren davon weniger stark betroffen. In vielen europäischen Ländern blieben deren
Beschäftigungsanteile gleich oder sind sogar gering­
fügig gewachsen. Aber auch hier kann in den jüngeren
Jahren seit 2002 und 2003 festgestellt werden, dass die
­Beschäftigung zurückgeht. Dies ist auf Verlagerungsprozesse, vor allem nach Osteuropa, zurückzuführen.
Tschechien und andere osteuropäische Länder bieten
ein großes Potenzial an hochqualifizierten Arbeitskräften und weisen ein dynamisches Wachstum in Spitzentechnologiesektoren auf (vgl. Abbildung 2). Vermehrt
werden auch Schwellenländer, wie China und Indien, die
in den letzten Jahren gezielt in ihre Innovationssysteme,
in Bildung und Forschung investiert haben, zu Zielstand­
orten der Auslagerung von wissensintensiven Tätigkeiten. Letztere unterliegen ebenfalls Prozessen der Standardisierung und Modularisierung und können damit an
räumlich entfernten Standorten erbracht werden. Empirisch erkennbar ist dies beispielsweise am Offshoring
von Softwareentwicklung und von standardisierbaren
Geschäftsprozessen in asiatische Länder.
Der wirtschaftliche Strukturwandel hochentwickelter
Volkswirtschaften hin zu wissensbasierten Ökonomien
ist nicht nur durch den starken Bedeutungszuwachs von
Dienstleistungen gekennzeichnet, sondern auch durch
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
29
Abbildung 3: Anteil der Beschäftigten in wissensintensiven Dienstleistungsbereichen
60
50
Anteil in %
40
30
20
10
0
1997
1998
1999
Deutschland
EU 27
Finnland
2000
2001
2002
Schweden
Spanien
Tschechische Republik
2003
2004
2005
2006
2007
2008
UK
Quelle: Eigene Darstellung nach Eurostat 2010a.
die kontinuierliche Ausdifferenzierung des Dienstleistungssektors. Deutlich werden anhand von empirischen
Makroindikatoren erhebliche Strukturveränderungen.
Die einzelnen Dienstleistungsbranchen unterscheiden
sich in ihrer Entwicklungsdynamik und wirtschaftlichen
Bedeutung ganz wesentlich in den europäischen Ländern. Im Dienstleistungssektor sind sowohl dynamisch
wachsende als auch stagnierende und rückläufige Bereiche vorhanden. Unternehmensorientierte Dienstleistungen, die nicht für den privaten Konsum produziert
werden, sondern von Unternehmen oder öffentlichen Institutionen nachgefragt werden, sind ein solches dynamisch wachsendes Segment. Sie sind Indikator dafür,
dass die Trennung zwischen Produktion und Dienstleistungen die gegenwärtige Arbeitsteilung nur unzureichend
widerspiegelt. Nicht die Substitution, sondern gerade das
Zusammenspiel und die Interaktion zwischen wissensintensiver industrieller Produktion und darauf bezogenen
Dienstleistungen besitzt erhebliche Bedeutung im Rahmen der technologischen sozioökonomischen Strukturveränderungen. Es sind vor allem die wissensintensiven
unter den unternehmensorientierten Dienstleistungen,
die sich als Wachstumsträger in OECD-Ländern erweisen.
Dazu zählen beispielsweise technische und Engineering
Dienste, IT-Dienstleistungen, Unternehmens- und Wirtschaftsberatung, Forschung & Entwicklung, Design, Werbung oder Marketing.
In Deutschland beispielsweise hat sich die Anzahl der
umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen im Bereich der
wissensintensiven unternehmensorientierten Dienste
im Zeitraum von 1996 bis 2008 um 152.238 erhöht. Das
entspricht einem relativen Zuwachs von 49 Prozent , der
gesamtwirtschaftlich über alle Branchen betrachtet, um
ein Dreifaches über dem Wachstum der Unternehmensanzahl aller Wirtschaftszweige lag. Auch der größte Teil
des Beschäftigungszuwachses der letzten Jahre entfällt
auf wissensintensive Dienstleistungen. Die Wachstumsrate der Beschäftigung lag in den Jahren 1999 bis 2008
im Vergleich zu den Dienstleistungen insgesamt ebenfalls um ein Dreifaches höher (vgl. Abbildung 3). Man geht
davon aus, dass sie fast 40 Prozent der Wertschöpfung
erwirtschaften (vgl. EFI 2009), obwohl sie im internationalen Vergleich strukturell noch weniger entwickelt sind.
Wissensintensive unternehmensorientierte Dienstleistungen entwickeln sich zu einem wesentlichen Treiber / zentralen Element der wissensbasierten Wirtschaft
(vgl. Doloreux/Freel/Muller 2008, Strambach 2008). Forschungen auf der Mikroebene verdeutlichen, dass diese
Unternehmen durch ihre immateriellen „Produkte“, die
spezialisiertes Expertenwissen, Forschungs- und Entwicklungsleistungen und Problemlösungs-Know-how
verbinden, einen wichtigen Beitrag zur Wissensdiffusion
und Wissensentstehung leisten. In regionalen und nationalen Ökonomien übernehmen sie wesentliche Funktionen des Transfers, der Integration und der Adaption
von Wissen. Durch ihre innovativen Dienstleistungsprodukte transferieren sie externes technologisches und
nicht-technologisches Experten- und Management­
wissen an die Nachfrageseite. Sie tragen zum Austausch
von Erfahrungswissen und „best practices“ aus unter-
30
RegioPol eins + zwei 2011
Abbildung 4: Exporte der Kreativwirtschaft 1996 – 2005 in Mio. Dollar
400.000
350.000
300.000
250.000
200.000
150.000
100.000
50.000
0
1996
1997
1998
Welt (gesamt)
Entwickelte Ökonomien (gesamt)
Sich entwickelnde Ökonomien
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
Asien
Amerika
Europa
Quelle: Eigene Darstellung nach UNCTAD 2008: 262ff.
schiedlichen Branchenkontexten bei. Im Rahmen von
Problemlösungsprozessen für die Nachfrager integrieren sie vorhandenes, disziplinär und räumlich getrenntes Wissen und passen dieses an die spezifischen Bedürfnisse und Erfordernisse der Kunden an.
Ein signifikanter Entwicklungsprozess, der Wissensökonomien kennzeichnet, ist darüber hinaus die Bedeutungszunahme von Innovationen für wirtschaftliche Wertschöpfungsprozesse, welche nicht primär auf t­echnologisch
wissenschaftsbasiertem Wissen beruhen. Dienstleistungsinnovationen und das dynamische Wachstum sowohl von
unternehmensorientierten Dienstleistungen als auch von
sogenannten „Kreativindustrien“ oder der „Kulturwirtschaft“ sind empirische Belege dafür. Wie bei allen neu
entstehenden Wirtschaftsbereichen, die quer zu bestehenden Klassifika­t ionen von Industriebranchen verlaufen, besteht derzeit noch keine einheitliche Definition
oder Abgrenzung von Subsektoren, die unter Kreativoder Kulturwirtschaft subsummiert werden. Gemeinsam
ist den vorhandenen unterschiedlichen Modellen, dass
sie überwiegend ­erwerbswirtschaftlich orientierte Unternehmen erfassen, die sich mit der Schaffung, Produktion, Verteilung und medialen Verbreitung von kulturellen/kreativen oder medialen Gütern und Dienstleistungen
befassen (UNCTAD 2008). Diese Unternehmen erzielen
ihre ­primäre Wertschöpfung durch die immateriellen,
symbolischen und ästhetischen Attribute ihrer Produkte
1
und Dienstleistungen. Die Basis ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten bildet die Kommodifizierung von sogenanntem
„symbolischen Wissen“ über Kultur, über Wertvor­
stellungen, über gesellschaftliche Normen und soziale Repräsentationen. Ausschlaggebend für den Marktwert und
die Nach­frage sind weniger der direkte Nutz- oder Gebrauchswert der Güter und Dienstleistungen, sondern deren symbolische und soziale Bewertung, beispielsweise
bezogen auf die Zuschreibung von Lebensstilen, Sozialstatus oder ethischen Normen.
Der erste Weltbericht über die Strukturen und Entwicklungen der Kreativwirtschaft, der im Jahr 2008 von
UNCTAD (United Nations Conference on Trade and Development) in Zusammenarbeit mit mehreren UN-Organisationen erarbeitet wurde, verdeutlicht die Dynamik des
globalen Austauschs von Gütern der Kreativwirtschaft1.
Das Handelsvolumen der Kreativwirtschaft hat sich in
den letzten zehn Jahren weltweit fast verdoppelt. Man
geht heute von einem globalen Handelsvolumen dieser
Branchen von über 420 Milliarden Dollar aus (vgl. Abbildung 4). Das bedeutet, dass die Kreativwirtschaft ­bereits
über 3,5 Prozent des Welthandels ausmacht. Europa hat
in diesem neuen Wirtschaftszweig unter den hochentwickelten Ländern eine sehr gute Position. UNCTAD
schätzt, dass Europa in dieser Gruppe die Hälfte des
Welthandels im Jahr 2005 dominierte. Die empirische
Analyse auf globaler Ebene lässt erkennen, dass die
Im Folgenden wird von Kreativwirtschaft gesprochen. Diese Terminologie scheint sich als übergeordneter Begriff in verschiedenen Analysen auf nationaler und
­regionaler Ebene durchzusetzen. Die Kreativwirtschaft umfasst mehrere Subsektoren, unter anderen die Kulturwirtschaft. Zur genauen Abgrenzung und Defini­
tion, die dem Weltbericht unterliegt (siehe UNCTAD 2008: 13ff).
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
Gruppe der sich entwickelnden Länder bislang diesen
Wirtschaftsbereich noch kaum erschließen konnte.
­A llerdings spielen die aufstrebenden Schwellenländer
Asiens, wie China und Indien, in dieser Gruppe schon
­eine beachtliche Rolle. Das dynamische Wachstum der
Kreativwirtschaft, das global bezogen in allen Groß­
regionen festgestellt werden kann, wird als eine viel­
versprechende Perspektive für die Zunahme der Handelsströme zwischen Ländern, sowohl der entwickelten
als auch der sich entwickelnden Ökonomien, bewertet.
Der Kreativwirtschaft wird im globalen Strukturwandel
ein hohes Potenzial zugesprochen, Einkommen und
­A rbeitsplätze zu schaffen sowie durch soziale Integration und kulturelle Diversität Entwicklung zu befördern
(UNCTAD 2008).
Betrachtet man die räumliche Organisation von wissensintensiven und kreativen Dienstleistungsbranchen
genauer, offenbart diese jedoch ein vermeintliches Paradoxon. Obwohl Wissen an Handelbarkeit gewinnt und IuKTechnologien den Austausch und die Kodifizierung erleichtern, konzentrieren sich diese wirtschaftlichen
Aktivitäten in urbanen Agglomerationsräumen. Diese Konzentrationen scheinen sich zu verstärken und wachstumsstarke Ballungsräume wie die Metropolregionen profitieren von diesen Entwicklungen. Für wissensintensive
unternehmensorientierte und kreative Dienstleistungsunternehmen, die verschiedene Arten von Wissen – neben
technologischem auch nicht-technologisches und symbolisches Wissen – in ihren Produkten kombinieren, haben
Standorte in urbanen Agglomerationsräumen wesentliche
Vorteile. Dazu zählen beispielsweise die hochwertige verkehrs- und kommunikationstechnologische Infrastruktur,
die schnelle Erreichbarkeit von Kunden und Absatzmärkten und vielfältige Möglich­keiten des Aufbaus von Kooperationsnetzwerken zur Wissensproduktion in komplexen
Projekten. Urbane Räume bieten die notwendigen flexiblen Arbeitsmärkte mit einem großen Potenzial an hoch
qualifizierten A
­ rbeitskräften.
Entscheidend für diese Konzentrationen sind darüber hinaus dynamische Agglomerationsvorteile, die aus
der Informationsdichte und aus schwer fassbaren
­W issensspillover-Effekten resultieren. Impulse für die
Entstehung von wissensintensiven Dienstleistungsinnovationen werden in starkem Maße vom Markt vermittelt. Die Größe, Dichte und Heterogenität von urbanen
Metropolregionen bieten vielfältige Möglichkeiten, von
externen Wissensquellen zu lernen und vorhandenes
Wissen anzureichern oder neu zu kombinieren.
Allerdings können Infrastrukturausstattung oder
Agglomerationsvorteile allein nicht erklären, dass
­
­Metropolregionen unterschiedliche sektorale Spezialisierungen wissensintensiver unternehmensorientierter
und kreativer Dienstleistungsbranchen aufweisen, die
sich langfristig als relativ stabil erweisen. Diese spezifischen Profile verdeutlichen Entwicklungspfade, die sich
tendenziell im zeitlichen Verlauf verstärken, bedingt
durch das komplexe Zusammenspiel von kumulativen,
lokalen Lernprozessen, Wissensspillovers und der Herausbildung von standortgebundenen Institutionen und
31
Netzwerken (Simmie/Strambach 2006). Für Städte und
Regionen ist es daher schwierig sich in wissensinten­
siven Dienstleistungsbranchen und kreativen Sektoren
zu positionieren, in denen sie bisher nicht etabliert
­waren. Dies wird in Deutschland insbesondere an den
urbanen Räumen der neuen Bundesländer deutlich, die
durch unterdurchschnittliche Entwicklungen von wissensintensiven und kreativen Dienstleistungsbranchen
gekennzeichnet sind.
Neue Dynamiken in der
Wissensökonomie
Jüngere Forschungen zur Wissensökonomie liefern
­zunehmend signifikante empirische Belege für Veränderungen und neue Dynamiken in wissensbasierten Ökonomien. Sichtbar wird ein qualitativer Wandel in der
Organisation von Innovation, der mit neuen Formen der
Wissensproduktion verbunden ist. Innovationen basieren in steigendem Maße auf der Integration von verteiltem unternehmensexternen und -internen Wissen und
erfolgen zunehmend in Arbeitsteilung (Schmitz/Strambach 2009). Prozesse der Modularisierung und Auslagerung betreffen inzwischen nicht nur wissensintensive
Dienstleistungsaktivitäten, sondern, wie die Internationalisierung von F&E-Aktivitäten zeigt, die Wissensproduktion selbst. Durch den technologischen Wandel und
die fortschreitende Fragmentierung und Ausweitung
von globalen Wertschöpfungsketten haben Innovationsprozesse an Komplexität gewonnen. Bei der Entwicklung von neuen Technologien, Produkten, Prozessen und Dienstleistungen kommt es stärker darauf an,
unterschiedliche hochspezialisierte Wissensbestände
zusammenzuführen und zu kombinieren, die in verschiedenen sektoralen, technologischen oder räumlichen
Kontexten lokalisiert sind.
Die wachsende Bedeutung von externem Wissens für
Innovationsprozesse wird empirisch besonders erkennbar an der Internationalisierung von Forschung und
­Entwicklung (F&E), die in den jüngeren Jahren an Geschwindigkeit gewonnen hat, in zunehmendem Maße
Schwellenländer einschließt und nicht mehr nur auf die
Anpassung von Technologie an ausländische Märkte
ausgerichtet ist (OECD 2008). Unternehmen in Deutschland beispielsweise investieren in steigendem Maße in
F&E im Ausland, nicht nur aus Kostengründen, sondern
auch um Zugang zu spezialisierten und lokalisierten
Wissensbasen zu bekommen. Umgekehrt lässt sich auch
feststellen, dass ausländische Unternehmen viel stärker
als in früheren Jahren in spezifische Wissensdomänen in
Deutschland investieren (vgl. Abbildung 5).
Multinationale Unternehmen sind wesentliche Akteure der Wissensökonomie, die zum internationalen
Austausch räumlich dispers verteilten Wissens und der
internationalen Zirkulation von hochqualifizierten Arbeitskräften beitragen. Während in den 1970er Jahren
ungefähr 4.000 dieser Unternehmen vorhanden waren,
expandierte ihre Zahl erheblich. Man geht davon aus,
32
RegioPol eins + zwei 2011
Abbildung 5: F&E-Gesamtaufwendungen 1995 – 2007
Ausländische Unternehmen in Deutschland
14
Mrd. Euro
Töchter deutscher Unternehmen im Ausland
14
12
12
10
10
8
8
6
6
4
4
2
2
0
1995 1997 1999
2001 2003 2005 2007
0
Mrd. Euro
1995 1997 1999
2001 2003 2005 2007
Quelle: Stifterverband Wissenschaftsstatistik 2010: S. 42.
dass im Jahre 2005 bereits mindestens 61.000 multi­
nationale Unternehmen weltweit tätig waren. Einige
dieser Unternehmen investieren in absoluten Zahlen
­
international mehr als gesamte Volkswirtschaften in
­
F&E, und damit in den Aufbau und den Transfer von
­W issen (UNCTAD 2005). Daran zeigt sich bereits, dass
die internationalen räumlichen Verflechtungen von F&E
eine starke Ausweitung erfahren haben. Die unter­
liegenden Ursachen zeichnen ein komplexes vielschichtiges Bild und können nicht allein auf niedrige Kosten
zurückgeführt werden, wie empirische Studien verdeutlichen.
Die Internationalisierung von Innovationsaktivitäten
geht inzwischen weit über den Teilbereich der F&E hinaus. Auch Innovationsprozesse in wissensintensiven
Dienstleistungen wie Design, Marketing oder Branding,
die weniger auf analytisch wissenschaftsbasiertem
W issen, sondern vielmehr auf symbolischem Wissen
­
­fußen, werden stärker netzwerkbasiert entwickelt. Innovationen, die auf sogenannten kombinatorischen Wissensentstehungsprozessen basieren, gewinnen in der
Wissensökonomie erheblich an Bedeutung. Als beobachtbarer Ausdruck dieses Wandels kann die Entstehung neuer Branchen angesehen werden, welche an der
Schnittstelle verschiedener Wissensbasen angesiedelt
sind. Unternehmen aus Bereichen wie Biotechnologie,
Nanotechnologie oder regenerativen Energien ent­
wickeln Innovationen und neues Wissen nicht nur in
­Feldern, welche lange Zeit separiert waren, ihre Ent­
wicklung ist zudem von hoher Wachstumsdynamik
­geprägt. Auch die Entstehung von neuen Geschäftsmodellen und Dienstleistungsinnovationen, beispielsweise
in der Gesundheitswirtschaft oder der Kreativwirtschaft, erfordert die Zusammenführung und Kollabora­
tion heterogener unternehmensinterner und externer
Akteure, die unterschiedliche Positionen in der Wertschöpfungskette besetzen und/oder in unterschied­
lichen Branchenkontexten und Räumen lokalisiert sind.
Der Wandel von Wissensdynamiken durch die Internationalisierung von Innovation und durch neue Formen der
Wissensentstehung stellt Unternehmen und Regionen
gleichermaßen vor neue Herausforderungen. Die kumulative Wissensbasis und Spezialisierungen auf der Ebene
von Unternehmen und Regionen, bilden zwar nach wie vor
die Ausgangsbasis für Innovationsprozesse, es zeichnet
sich jedoch ab, dass es wichtiger wird, Wissen, das an verschiedene Trägern, Institutionen, Disziplinen und Branchen gebunden ist, zu kombinieren, zu integrieren und in
Innovationsprozessen lokal zu verankern. Diese Verankerung kann nicht als einfache Aufgabe oder punktuelles Ereignis angesehen werden, sondern ist ein komplexer
dynamischer Organisationsprozess, bei dem vielfältige
­
­kognitive und oft auch kulturelle Barrieren die erforder­
liche Integration der Wissensteile erschweren. Die soziale
Dimension wirtschaftlichen Handels hat bei der Entstehung und dem Austausch von immateriellen Wissensprodukten eine ungleich größere Bedeutung als bei Trans­
aktionen, die auf materielle Güter gerichtet sind. Bei
Innovationen, die auf derartigen kombinatorischen Wissensdynamiken basieren, müssen von den Akteuren vielfältige technologische, organisatorische, sektorale und
räumliche Grenzen überwunden werden, die die Kommunikation, den Austausch von Erfahrungswissen und die
Produktion von neuem Wissen behindern.
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
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33
34
RegioPol eins + zwei 2011
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
35
Peter Hall
Die Zukunft der Städte
im Zeitalter der
wissensbasierten Ökonomie
I
m Verlauf der letzten drei Jahrzehnte wurde immer
offensichtlicher, dass der Abschied von der alten,
fertigungsbasierten Wirtschaft, die das 19. und frühe 20. Jahrhundert geprägt hat, zu neuen räumlichen
Disparitäten führt. Mit dem Übergang zur dienstleistungsbasierten Wissensökonomie haben sich in den
entwickelten Volkswirtschaften der Welt deutliche Unterschiede in der Leistungsfähigkeit von Städten und
­Regionen herauskristallisiert. Eine Reihe von Studien
haben in den letzten Jahren eingehende Vergleiche
­europäischer Städte im Hinblick auf diese äußerst wichtige Frage vorgenommen. Die erste war der Bericht „State of the English Cities“ (Zustand der englischen Städte),
der 2006 von der britischen Regierung veröffentlicht
wurde. Er weist auf die „wachsende Erkenntnis des zweischneidigen Charakters vieler ökonomischer Veränderungen in Städten hin. Die Suche nach wirtschaftlichem
Wachstum hat nicht immer zu sozialer Gerechtigkeit
­geführt; tatsächlich war sie häufig mit sozialer Aus­
grenzung verbunden.“ Und er betont, schrumpfende
große Industriestädte mit überkommenen Wirtschaftsstrukturen, „weniger qualifizierten Arbeitskräften und
beachtlichen Gemeinschaften von Einwanderern sind
anderen Schwierigkeiten ausgesetzt als schnell wachsende, auf Hightech-Branchen basierende Städte.“
Britische Städte weichen vom
europäischen Muster ab
Der Bericht zeigt große Unterschiede zwischen den europäischen Städten in der Bruttowertschöpfung (BWS)
pro Kopf. Die meisten Städte in Europa spielen gewissermaßen oberhalb ihrer nationalen Liga: Sie zeigen eine
bessere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als der
Durchschnitt ihres Landes, aber interessanterweise gilt
dies für die Städte in Großbritannien nicht. Ihre ökonomische Performance bleibt nicht nur hinter den Städten
des europäischen Festlandes in Ländern wie Deutschland und Frankreich zurück, sondern liegt sogar unter
dem nationalen Durchschnitt im United Kingdom (vgl.
b Shell Center, London
Abbildung 1). Dabei zeigt sich auch, dass viele der am
schnellsten wachsenden Städte und Gemeinden in England im südlichen Teil des Landes liegen, in Gegenden,
die früher einmal landwirtschaftlich geprägt waren, die
jetzt aber vom Wachstum in den Hightech-Branchen und
im Dienstleistungssektor allgemein profitieren. Dagegen erweisen sich die Städte mit der geringsten
Leistungs­fähigkeit im Wesentlichen als die alten Indus­
triestädte und -gemeinden im Norden Englands – ein
entscheidender Unterschied.
Im Hinblick auf die Anzahl von Arbeitsplätzen in der
wissensbasierten Ökonomie erweisen sich europäische
Städte grundsätzlich als stark, obwohl erneut die eng­
lischen Städte weniger leistungsfähig sind als ihre Pendants auf dem europäischen Festland. Europäische
Städte sind auch hoch innovativ, aber wieder gibt es große Unterschiede zwischen sehr erfolgreichen Städten,
insbesondere in Deutschland und Skandinavien, und
­alten Industriestädten.
Die Bedeutung von Hochschulbildung, gemessen an
der Zahl der Studierenden an Universitäten und anderen
Hochschuleinrichtungen, zeigt ein differenzierteres Bild.
Auch hier scheinen die großen UK-Städte trotz ihrer starken Universitäten proportional weniger Anziehungskraft
auf Studierende auszuüben als kleinere Orte wie Oxford
und Cambridge und daher grundsätzlich hinter vergleichbaren Regionen zurückzubleiben. Im Vergleich mit dem
europäischen Festland ist das ein äußerst ungewöhnlicher
Befund. Bei Hightech-Fertigungsprozessen sind Städte
tendenziell stark, aber auch dort gibt es ­gravierende Unterschiede: Vielen britischen Städten gelingt es wieder
nicht, im Vergleich mit dem nationalen Durchschnitt angemessen abzuschneiden. Und ein ähnliches Bild zeichnet
sich in den Hightech-Dienstleistungssektoren ab, die
überall in Europa von großer Bedeutung sind und eine
­hohe ökonomische Dynamik aufweisen. Das Grundmuster
ist also eindeutig: UK-Städte liegen hinter vielen Städten
auf dem europäischen Festland und auch hinter dem
UK-Durchschnitt zurück. Das bedeutet, dass es in Groß­
britannien die kleineren Städte oder Gemeinden sind, die
besser dastehen als die Großstädte.
RegioPol eins + zwei 2011
Abbildung 1: Nationale und städtische wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit: Ein Vergleich
BIP pro Einwohner (in Euro) 2001
80.000
BIP der Städte
Nationales BIP
70.000
60.000
50.000
40.000
30.000
20.000
10.000
Liverpool
Newcastle
Manchester
Birmingham
Looda
Bristol
Barcelona
Lille
Toulouse
Lyon
Turin
Mailand
Helsinki
Stockholm
Rotterdam
Amsterdam
Kopenhagen
Dortmund
Stuttgart
München
0
Frankfurt
36
Quelle: State of the English Cities report, 2006.
Soziale Ungleichheit nimmt zu
Der britischen Studie von 2006 kann eine neuere Untersuchung von 2007 gegenübergestellt werden: ein
Benchmarking der europäischen Städte (State of European Cities Report), der von ECOTEC für die Europäische
Kommission durchgeführt wurde. Die Studie zeigt auf
diesem Feld europaweit sehr große Abweichungen. Die
größte bestand zwischen den westeuropäischen Staaten und den neuen EU-Mitgliedern, die in den Jahren
2004/2007 beigetreten sind und zu diesem Zeitpunkt
noch zurücklagen. Aber die gute Nachricht dieser Studie
war, dass sich osteuropäische Städte selbst dann von
­einem niedrigen Niveau aus sehr schnell nach vorne
­bewegten und in einigen Fällen manche der größeren
osteuropäischen Städte wie Prag oder Warschau nach
drei Jahren begannen, Konvergenzen zu zeigen. Es gibt
hier auch ermutigende Nachrichten für das UK: Obwohl
London immer noch besser dasteht als jede andere
Stadt, beginnen einige der so genannten provinziellen
Kernstädte wie Manchester, Leeds und Newcastle zu
London aufzuschließen.
Die Untersuchung von 2007 bestätigt die frühere
UK-Studie: Viele Städte – besonders in Großbritannien –
schneiden unterdurchschnittlich ab und bleiben hinter
den nationalen Vergleichszahlen zurück. Selbst einige
der bedeutenden Hauptstädte wie London, Paris und
Madrid zeigen eine hohe Arbeitslosigkeit. Eine gute
Leistungsfähigkeit ist tendenziell auf Städte in Nordwest- und Nordeuropa beschränkt, während zu diesem
Zeitpunkt die süd- und osteuropäischen Städte noch
­unterhalb des Durchschnitts liegen. Die wichtigste Erklärung für Beschäftigungswachstum in den Städten ist
die Demografie: Es gibt immer noch einen starken Bevölkerungszuwachs in vielen dieser leistungsfähigen
­Städte, der eine Art Kreislauf mit sich bringt: Eine starke
Wirtschaftsleistung lockt neue Zuwanderer in die Stadt
und eine schwache Wirtschaftsleistung bewirkt das
Gegenteil. Einige Städte in Westeuropa zeigen auch
­
starke natürliche Zuwächse aus Zuwandererfamilien und
diese Kinder werden ins Erwerbsleben eintreten –
­t atsächlich haben es einige von ihnen bereits getan und
eine entscheidende Frage wird dann sein, wie gut sie für
die Teilhabe an der neuen Wissensökonomie gerüstet
sind.
Dies ist ein Problem, weil die Unterschiede bei den
Einkommen innerhalb der Städte am größten sind, in denen die Arbeitslosigkeit insgesamt am höchsten ist. Und
im UK zeigt eine neue Studie von Danny Dorling an der
Universität Sheffield größere Einkommensunterschiede
in unseren Großstädten auf, als wir sie über viele Jahre
hatten – in einem Vergleich seit dem Ende des ersten
Weltkrieges 1918 und einem anderen seit den 1850er
Jahren, auf dem Höhepunkt der industriellen Revolu­
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
tion. Dies ist ein alarmierender Befund für größere Disparitäten in den Städten, vergegenwärtigt durch den
­offensichtlichen Gegensatz zwischen sehr gut ausgebildeten, hoch qualifizierten und spezialisierten Personen,
die in der Wissensökonomie vorwiegend in Branchen
wie Finanzdienstleistungen oder Medien arbeiten und
sehr hohe Gehälter und Boni bekommen, und auf der
­anderen Seite sehr schlecht bezahlten, kürzlich in die
Städte zugewanderten Menschen, die elementare
Dienst­leistungen verrichten. Vielleicht ist dies eine Art
Zwischenstation, die sich letztendlich selbst auflösen
wird, sobald die Kinder der Einwanderer das Bildungssystem durchlaufen und sich damit für die neuen Berufe
in der New Economy qualifizieren. Aber es ist nicht davon
auszugehen, dass das automatisch passiert – wenigstens für eine lange Zeit –, weil es, wie ebenfalls in Danny
Dorlings neuer Studie hervorgehoben wird, ziemlich
große Bildungsunterschiede zwischen den Kindern von
Beschäftigten der Wissensökonomie, die die besten
Schulen besuchen können, und den anderen Kindern,
die oft in die am schlechtesten beurteilten Schulen gehen müssen und daher die schlechtesten Leistungen
hervorbringen. Das ist ein sehr wichtiges Thema für die
britische Politik und auch in anderen europäischen
­Staaten.
Ein sinnvoller Weg zum Vergleich von Städten, der im
ECOTEC-Bericht gegangen wird, benutzt den so genannten Lissabon-Benchmark – ein zusammengesetztes Maßsystem, das auf der Lissabon-Agenda der EU basiert und
Produktivität, Anteil der Erwerbstätigen, Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer, Langzeitarbeitslosigkeit, ältere arbeitsfähige Personen, Bildungsniveau der Jugend
und Jugendarbeitslosigkeit misst (vgl. Abbildung 2).
Es zeigt sich wieder ein bemerkenswerter Gegensatz
zwischen westeuropäischen Städten mit absolut brillanter Leistungsfähigkeit – sehr stark sind besonders London, Paris und Madrid – und der sehr viel schwächeren
Leistung (nach Zahlen von 2007) von ost- und südeuropäischen Städten. Dies offenbart scheinbar ein anhaltendes Problem. Es ist komplex, weil es keine absolute
Beziehung zur Stadtgröße gibt, eher eine subtilere zu ei-
37
ner Reihe von Faktoren einschließlich Zu- und Abwanderung sowie eine Verbindung mit den unterschiedlichen
Geschwindigkeiten beim Übergang von der alten Fertigungswirtschaft zur neuen wissensbasierten Ökonomie.
Erfolgsfaktor: Anschluss an
Wissensökonomie
Die Studie entwickelt ein Kategoriensystem von europäischen Stadttypen. Wie Abbildung 3 zeigt, haben die
Analysten die Städte in dreizehn Typen unterteilt und
diese wiederum in drei Hauptgruppen zusammengefasst und sie hinsichtlich ihrer Wirtschaftsleistung (auf
der vertikalen Skala) und Einwohnerzahl (auf der horizontalen Skala) angeordnet. Es zeichnet sich ab, dass die
wirklich erfolgreichen Städte in der oberen rechten Ecke
diejenigen sind, die den Übergang zur Wissensökonomie am schnellsten bewältigen, und umgekehrt befinden sich unten links die alten Industriestädte, die teilweise recht erfolglos versuchen, den Wandel zu
vollziehen. Die Verfasser des Berichtes legen dar, wie
diese unterschiedlichen Stadttypen bei einzelnen Indizes – Schaffung von Arbeitsplätzen, qualifizierte Arbeitskräfte und multimodale Verbindungen – verschiedene Leistungsniveaus aufweisen.
Die erste, sehr interessante Hauptgruppe stellen die
so genannten internationalen Drehkreuze: die großen
Städte, die die Wachstumsliga anführen. Sie sind reich
und wachsen; sie beinhalten etablierte Hauptstädte wie
London, Paris und Madrid, denen es gut geht, die aber
mit lokaler Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben. Diese
etablierten Hauptstädte zeigen im Allgemeinen eine
sehr starke Performance, wenn auch etwas geringer als
die der zweiten Kategorie, der so genannten Wissenszentren. Die dritte Kategorie in dieser Hauptgruppe sind
so genannte neu definierte Hauptstädte, im Wesent­
lichen aus Osteuropa: Ihre Einwohnerzahlen sinken aufgrund von Abwanderung, aber ihre Wirtschaft wächst
und ihre wirtschaftliche Entwicklung ist in den Jahren
seit 2007 sehr positiv.
38
RegioPol eins + zwei 2011
Abbildung 2: Die Lissabon-Agenda: Städtische Leistungsfähigkeit im Vergleich
Kanaren (ES)
Größe der Kreise ist relativ zur
Kernstadt*-Bevölkerung im Jahr 2001
5.000.000
1.000.000
500.000
100.000
Guadeloupe
Martinique
Réunion
Französisch-Guayana (FR)
* Metropolregion
London und Paris et
petite couronne
(Paris mit den drei
angrenzenden
Departments)
Madeira
Der Lissabon-Benchmark
Kategorien nach Quintilen (Fünftelwerten)
in Kernstädten 2001
5 stark
4+
3 mittel
21 schwach
Daten nicht verfügbar
Quelle: State of the European Cities Report, 2007.
Azoren (PT)
Der Indikator basiert auf den folgenden Variablen:
1) BIP pro Einwohner in KKS
2) Anteil der Einwohner in Selbstständigkeit + in abhängi ger Beschäftigung an der gesamten Einwohnerzahl
der 15- bis 64-Jährigen
3) Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer
4) Langzeitarbeitslosigkeit (kontinuierlich für mehr
als ein Jahr) in der Bevölkerungsgruppe der
55- bis 65-Jährigen
5) Schüler in weiterführenden Bildungseinrichtun gen + Studierende in Hochschuleinrichtungen
6) Jugendarbeitslosigkeit (kontinuierlich für mehr
als sechs Monate) in der Bevölkerungsgruppe der
15- bis 24-Jährigen
Der Indikatorwert ist nicht dargestellt, wenn mehr als 3
Variablen nicht verfügbar sind.
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
Die nächste Hauptgruppe im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit, die spezialisierten Dienstleistungszentren, beinhaltet sechs Typen. Der erste Typ sind die nationalen Dienstleistungszentren: Dieses sind Orte wie
Hannover, Brünn in Tschechien, Sevilla in Spanien oder
Utrecht in den Niederlanden. Es geht ihnen einigermaßen gut, weil sie eine große administrative Rolle spielen,
manchmal natürlich als Landeshauptstädte wie im Fall
von Hannover. Die nächste Kategorie in dieser Hauptgruppe der spezialisierten Zentren sind die so genannten Transformationszentren: Dies sind alte Industriestädte, die bei der Anpassung an die New Economy mehr
oder weniger erfolgreich sind. Es ist eine sehr interessante Gruppe; sie beinhaltet eine Reihe von britischen
Städten wie Glasgow und Birmingham sowie auch Städte
wie Lille in Frankreich, Turin, in letzter Zeit sehr erfolgreich in Italien, oder Pilsen in Tschechien. Die dritte
Gruppe sind die so genannten Gateways, die im Wesentlichen transportorientiert sind, oft Hafenstädte wie Antwerpen, Marseille, Santander, Neapel (Napoli), Genua
(Genova) oder Rotterdam. Sie vollziehen einen Wandel
zur New Economy, aber der nimmt sehr oft die Form von
kapitalintensiver Beschäftigung an wie bei Container­
häfen, die nicht sehr viele Menschen beschäftigen,
­sodass solche Städte eigentlich oft durch relativ hohe
Arbeitslosenquoten und insgesamt etwas unqualifizierte Arbeitskräfte charakterisiert sind. Der nächste Typus
ist eine andere Gruppe spezialisierter Zentren, die modernen Industriezentren: Diese Hightech-„Kraftwerke“
Europas weisen tatsächlich starke Wirtschaftsleistungen auf. Es sind oft mittelgroße oder sogar relativ kleine
Städte wie Augsburg in Deutschland, Cork in der Republik Irland oder Tilburg in den Niederlanden, gemeinsam
mit ein oder zwei osteuropäischen Städten wie Posen
sowie Göteborg in Schweden.
Die nächste Gruppe ist eine noch mehr spezialisierte,
die so genannten Forschungszentren, kleinere Städte
mit einem hohen BIP pro Kopf, einschließlich solcher
Beispiele wie Darmstadt in Deutschland, Karlsruhe nahe
Bayern in Süddeutschland, Grenoble in den französischen Alpen, Eindhoven in den Niederlanden oder – ein
39
hervorragendes Beispiel – Cambridge in England. Diese
finden sich unter den erfolgreichsten Städten und trotzdem sind es relativ kleine Städte, die dort angesiedelt
sind, wo sich früher ländliche, landwirtschaftliche Gebiete abseits der Hauptindustrieregionen befanden. Eine
weitere Kategorie hier sind die so genannten Besucherzentren, touristische Orte wie Verona in Italien, Krakau
in Polen oder Trier in Deutschland; dies sind Städte, die
hochspezialisiert auf touristische Dienstleistungen
sind. Sie haben ein durchschnittliches BIP pro Kopf,
manchmal mit einigen Problemen durch eine einkommensschwache Bevölkerung und saisonale Beschäf­
tigung.
Die dritte Hauptgruppe besteht aus den so genannten regionalen Zentren und hier fangen wir an; einige der
Problemfälle Europas zu sehen. Die erste Kategorie ist
besonders problematisch, sogenannte deindustrialisierte Städte: Sie enthält viele UK-Städte – Sheffield ist
ein Beispiel – und auch viele kleinere Städte in Nordengland, Schottland, Wales und ebenso belgische Städte
wie Charleroi oder Lüttich sowie eine Reihe osteuropäischer Städte, einschließlich einiger Städte in den neuen
deutschen Bundesländern wie Halle oder Kattowitz in
Polen, oft alte Kohlebergbau- oder Schwerindustriestädte, die Schwierigkeiten mit dem Übergang in die
neue Wissensökonomie haben.
Ein zweiter Typus in dieser Gruppe sind die regionalen Marktzentren, die eine Schlüsselrolle in ländlichen
Gemeinden spielen, aber manchmal unter schwachen
Anbindungen an den Rest der Welt leiden. Sie sind im
Allgemeinen in früheren industriellen Gebieten zu finden: Erfurt in Deutschland, das die Landeshauptstadt
von Thüringen ist, Reims im Nordosten Frankreichs oder
Palermo auf Sizilien. Es geht ihnen relativ gut, aber sie
haben einige Probleme. Eine verwandte Kategorie, die
so genannten Regionalzentren öffentlicher Versorgungsleistungen, sind gewöhnlich wieder kleinere Orte
in üblicherweise ländlichen Gebieten – Schwerin in
Deutschland, Odense in Dänemark, Lublin in Polen oder
Umeå ganz im Norden Schwedens. Sie verzeichnen ein
starkes Wachstum der Verwaltung in Regionen, die ei-
40
RegioPol eins + zwei 2011
Abbildung 3: Dreizehn Stadttypen: Wirtschaftsleistung nach BIP/Kopf
200
BIP pro Kopf – im Vergleich zum
Landesdurchschnitt
175
Neu definierte
Hauptstädte
150
Spezialisierte Zentren
125
Regionale Zentren
50
Wissenszentren
Etablierte
Hauptstädte
Forschungszentren
100
75
Internationale
Drehkreuze
Satellitenstädte
Besucherzentren
Regionale
Marktzentren
Regionalzentren
öffentl. Versorgungsleistungen
Moderne
Industrie­
zentren
Nationale
Dienstleistungs­
zentren
Gateways
Transformations­
zentren
Deindustrialisierte Städte
25
0
100.000
250.000
350.000
800.000
1.000.000
2.000.000
Einwohner der Kernstadt
Quelle: State of European Cities Report, 2007.
gentlich relativ ländlich geprägt sind, sind aber schwächer im Bereich der marktwirtschaftlichen Dienstleistungen. Und eine andere Kategorie hier – hoch
spezialisiert – sind so genannte Satellitenstädte einschließlich unserer britischen New Towns; solche Orte
sind Stevenage, aber auch kleinere, dicht an größeren
Städten gelegene Plätze, wie zum Beispiel Gravesham
östlich von London am Thames Gateway (Themse-­
Mündungsgebiet) oder Worcester, nahe bei Birmingham
in den englischen West Midlands. Diese sind, anders als
die letzten drei Typen, im Allgemeinen leistungsfähig,
weil sie Pendlerstädte sind; sie schicken Arbeitskräfte in
die benachbarte große Dienstleistungsstadt, die dann
ihre Gehälter zurück in ihre Heimatstadt bringen und sie
dort ausgeben und damit eine Art lokaler ökonomischer
Basis schaffen. Das erweist sich als ziemlich erfolg­
reiches Rezept und führt in einigen Teilen Europas, wie
in Südostengland, zum Entstehen riesiger so genannter
Metropolregionen, die sich bis ungefähr 160 Kilometer
von London entfernt erstrecken und zu denen bis zu
50 dieser kleineren Städte und Gemeinden gehören, die
alle in gewisser Weise London untergeordnet oder von
London abhängig sind. Die Metropolregion Randstad
in den Niederlanden ist ein ähnliches Beispiel und
­v ielleicht auch die Regionen um München und Stuttgart
herum sowie besonders das Rhein-Main-Gebiet rund um
Frankfurt. Dieses sind also die Haupttypen, die in der
ECOTEC-Studie von 2007 über die Leistungsfähigkeit
­europäischer Städte charakterisiert sind.
Vor Ort sein, um teilhaben zu können
Die Abbildung 3 zeigt im Wesentlichen, dass es spezialisierte Orte gibt, die den Übergang in die neue Wissensökonomie hervorragend gemeistert haben (oben rechts)
und die sich von den viel weniger erfolgreichen Städten
(unten links), hauptsächlich kleineren älteren Industriestädten einschließlich einer Reihe in Osteuropa, abheben.
Dazwischen befindet sich eine mehr gemischte Gruppe
von Städten mit einer mäßig guten ökonomischen Leistungsfähigkeit, die aber einige Probleme haben.
Verschiedene Analysen der Performance dieser
Stadttypen zeigen ein einheitliches Bild, das zudem die
Feststellungen der UK-Studie bestätigt. Und das wesentliche Ergebnis liegt in der Erkenntnis, dass einigen
kleineren Städten der Übergang zur New Economy
grundsätzlich leicht fällt, teilweise, weil sie beispielsweise über Universitäten und starke Forschungszentren
verfügen; während es im Gegensatz dazu einige Städte
extrem schwierig finden, diesen Wandel zu bewerkstelligen, weil sie die Last alter Industrien zu tragen haben,
die mehr oder weniger im Verschwinden begriffen sind
und deren frühere Arbeitskräfte unzureichend ausgebildet oder zu wenig qualifiziert sind, um als Pfeiler der
neuen Dienstleistungsgesellschaft zu fungieren. Trotzdem vollziehen einige größere Städte, besonders die
größten Hauptstädte, den Wandel zum wissensbasierten
Dienstleistungsgewerbe – zum Beispiel Finandienst­
leistungen und Medien – relativ erfolgreich. Allerdings
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
41
Abbildung 4: Vier große städtische Motoren des Wirtschaftswachstums
Museen
Multimedia
Kreativ & Kulturell
Live-Unterhaltung
Tourismus
Lebensversicherung
Derivatenhandel
Tourismus
Finanz- & Unternehmensdienstleistungen
International
Banking
Allgemeiner
Einzelhandel
Fertigung
Macht & Einfluss
Restaurants
Spezialisierte
Unternehmensdienstleistugen
Dezentrale Einrichtungen
Quelle: Four World Cities report, 1997.
l­assen sie auf ihrem Weg einige Bevölkerungsgruppen
zurück, die nicht in gleicher Weise am Übergang zur New
Economy beteiligt sind. Damit häufen sich in manchen
Quartieren dieser Städte die Probleme.
Dieser Punkt ist in Abbildung 4, einer 1997 für die
britische Regierung durchführten Studie (Four World
­
­Cities) veranschaulicht, die den Informationsaustausch
in der neuen Wissensökonomie in den Mittelpunkt stellt,
speziell in vier Sektoren: erstens Finanz- und Unter­
nehmensdienstleistungen, zweitens Macht und Einfluss
(oder Führung und Kontrolle), womit Regierungs- und
wirtschaftliche Zentralen gemeint sind, drittens Kreativund Kulturwirtschaft und viertens städtischer Tourismus. Jeder dieser Bereiche hat eine lokale, eine nationale und eine internationale Komponente.
Ein aufschlussreiches Beispiel bietet der Tourismus:
Der Londoner geht ins Theater oder besucht Kunstgalerien oder Museen, um sich die neuen Ausstellungen anzusehen, aber er sitzt oder steht dort Seite an Seite mit
Menschen aus anderen britischen Regionen und auch
vielen Besuchern aus anderen Teilen Europas und von
überall auf der Welt. Dasselbe Prinzip lässt sich auf j­ eden
der anderen Sektoren anwenden. Noch viel interessanter ist allerdings, dass diese vier Hauptsektoren hoch synergetisch miteinander verbunden sind und ­v iele der
entscheidenden Aktivitäten in den Räumen zwischen ih-
nen erfolgen. Also, zwischen Tourismus und der Kreativund Kulturwirtschaft gibt es Theater, Gale­
r ien und
Nachtleben; zwischen Kreativ- und Kulturwirtschaft und
Macht und Einfluss existieren Werbung und unterschiedliche Arten von Öffentlichkeitsarbeit sowie die Medien;
zwischen Finanz- und Unternehmens­
dienstleistungen
gibt es juristische Dienstleistungen, Wirtschaftsrecht,
Rechnungswesen und Marketing, und zwischen dem
Macht- und Einflusssektor und dem Tourismus finden wir
Restaurants, Geschäfte, Ausstellungen und Konferenzen. Tatsächlich sind solche Aktivitäten in fast allen der
Zwischenräume zu lokalisieren. Somit – nicht nur in London, sondern in allen erfolgreichen Städten – werden all
diese Aktivitäten gleichzeitig in einer sehr erfolgreichen
synergetischen Weise in die Hauptsektoren eingespeist
und von ihnen genährt. In der Studie haben wir dieses
für vier wirklich globale Metropolen gezeigt: London,
New York, Paris und Tokio.
Dasselbe Prinzip kann auch auf viele kleinere Städte
angewendet werden. Insgesamt dienen jeder dieser
Sektoren und die dazwischenliegenden Aktivitäten
gleichzeitig in einer sehr erfolgreichen Art und Weise
der lokalen, der nationalen und der globalen Wirtschaft.
Deshalb ist eine der interessantesten Fragen für die heutige Politik, inwieweit sich diese synergetischen Beziehungen in den großen europäischen Hauptstädten wie
42
RegioPol eins + zwei 2011
Die große Gefahr für den Aufholprozess
dieser Städte besteht darin, dass sie alle
versuchen zu konkurrieren, indem sie das
Gleiche tun.
London, Paris, Madrid und Berlin nach unten und nach
außen ausbreiten können. Können sie auf das nächste
Niveau von Städten ausgreifen oder übertragen werden
und dann auf die nächste Ebene darunter, die kleineren
Städte, einschließlich jener ehemaligen Industriestädte,
die oft die allergrößten Probleme haben?
Der letzte Punkt ist – wie man es dreht und wendet,
dass viele dieser Aktivitäten Face-to-Face stattfinden:
Man muss dort sein, um daran teilhaben zu können. Das
gilt ebenso für den Touristen wie für den Händler in
einer Londoner Bank oder den Angestellten, der in einem Büro in der Konzernzentrale eines Großunternehmens arbeitet – man muss sich Face-to-Face treffen. Bei
dem Vorfall im Frühjahr 2010, als die Vulkanaschewolke
aus Island den Flugverkehr zum Erliegen brachte, mussten wir feststellen, wie destruktiv der Ausfall persönlicher Begegnungen tatsächlich sein kann. Wir warten
noch auf die Berechnung der wirtschaftlichen Einbußen,
die die Weltwirtschaft durch diesen Verlust der Face-toFace-Synergien erlitten hat. Das Ergebnis wird in einem
zentralen Punkt veranschaulichen, wie Städte funktionieren.
Der letzte Punkt ist also, dass einige dieser Aktivi­
täten von den großen in kleinere Städte exportier werden können, Museen und Galerien können eröffnet und
Tourismus kann in kleineren Städten außerhalb der großen Hauptstädte gefördert werden. Zum Teil können Medienaktivitäten verlagert werden. Im Jahr 2011 lagert
die BBC einen wichtigen Teil ihrer gesamten Aktivitäten
von London nach Manchester aus und es wird sich zeigen, wie gut das funktioniert. Aber das Paradoxon ist,
dass in dem Moment der Auslagerung in die Peripherie
immer neue Aktivitäten in den großen Städten entstehen, um den vakanten Platz einzunehmen. Dieser Vorgang stellt einen Prozess ständiger Auffrischung dar,
was bedeutet, dass die anderen Städte in diesen Bereichen vielleicht etwas wachsen können, dass aber die
wirklich großen Städte ihnen tendenziell überlegen
­bleiben.
Lebensqualität und kreative Milieus
Richard Floridas berühmtes Argument besagt, dass die
New Economy auf eine neue kreative Klasse angewiesen
ist, dass diese neue Klasse tendenziell gern an bestimmten Orten lebt wie etwa San Francisco und an anderen
nicht, dass sie nicht von harten Faktoren angelockt wird,
nicht einmal von einem guten Flughafen, sondern von
eher unbestimmbaren weichen Faktoren wie der Lebensqualität oder einer offenen und freien Stadtatmosphäre. Florida argumentiert weiter, dass er den Erfolg
einer Stadt, sich auf diese neue kreative Ökonomie zuzubewegen, anhand der Anzahl von künstlerisch tätigen
Leuten wie Schriftstellern, Designern, Musikern, Schauspielern, Regisseuren usw. messen kann, weil diese einen zuverlässigen Indikator für den Erfolg der jeweiligen
Stadt darstellen.
Hier gilt es, einen Augenblick innezuhalten: So attraktiv das Argument auch ist, es stellt sich doch die Frage
nach Ursache und Wirkung. Vielleicht ist es so, dass diese erfolgreichen Orte zufällig von den ökonomischen
Sektoren dominiert werden, die solche kreativen Menschen in großen Mengen beschäftigen. Außerdem könnte es eher ein Kreislauf sein: Angenommen, es gibt eine
Stadt, die erfolgreich wachsende wirtschaftliche Aktivitäten in der Wissensökonomie verzeichnet, das würde
vorübergehend begabte Arbeitskräfte anziehen, die
dann kommen und wiederum neue Aktivitäten und neues Wachstum generieren. Die Ökonomie im Bereich der
San Francisco Bay wäre ein klassisches Beispiel. Und das
führt zu der entscheidenden Frage, wie städtische Lebensqualität, ein heutzutage häufig benutzter Begriff,
sich zur städtischen Kreativität verhält. Es gibt viele
­Indizes für die Lebensqualität in einer Stadt; einer der
bekanntesten stammt aus der Economist Intelligence
Unit und er zeigt zehn Spitzenstädte, die interessanterweise alle entweder in Kanada oder Australien oder in
zwei europäischen Ländern, nämlich der Schweiz und
Österreich liegen (vgl. Abbildung 5). Keine ist eine wirklich große Stadt, und es ist ebenso interessant, dass keine eins der großen Kraftpakete der Welt ist. Hinsichtlich
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
43
Abbildung 5: Indizes für städtische Lebensqualität, 2007
Beste Lebensqualität
Schlechteste Lebensqualität
Rang
Rang
1Vancouver
2Melbourne
3Wien
4Perth
5Toronto
6Helsinki
7Adelaide
Calgary
9Genf
Sydney
Zürich
98,8
98,2
97,9
97,3
97,0
96,9
96,6
96,6
96,1
96,1
96,1
140Harare
139Dhaka
138Algier
137 Port Moresby
136Lagos
135 Karachi
134 Douala
133 Abidjan
132 Dakar
131 Colombo
36,8
36,9
37,8
38,9
39,7
41,4
46,0
46,6
46,8
48,1
Quelle: Economist Intelligence Unit.
Vancouver beispielsweise, einer in den letzten Jahren
außergewöhnlich erfolgreichen Stadt und von der EIU
stets als Nummer eins bezüglich der Lebensqualität bewertet, stellt sich die eigentliche Frage: Was geschieht
dort? Jeder, der nach Vancouver fährt, weiß, dass die Lebensqualität dort hervorragend ist. Und dank der Arbeit
von Thomas Hutton von der University of British Columbia weiß man auch, dass die Stadt voll von kleinen, neuen
Start-up-Unternehmen im so genannten Kreativwirtschaftssektor ist. Also stellt sich Vancouver ein ­wenig
wie ein kleines San Francisco dar, mit dem gleichen Ambiente, das die Wissensarbeiter erfolgreich angezogen
hat, die wiederum die Wissensökonomie wachsen lassen. Und deshalb kann man argumentieren, dass Städte
weltweit versuchen sollten, diesem Rezept zu ­folgen.
Dieses Argument aufgreifend, sollen im Folgenden drei
Arten von kreativen Städten unterschieden werden. Erstens alt-etablierte Metropolen wie London, Paris und New
York; zweitens die Städte, die Favoured Sunbelt ­
Cities
­genannt werden: San Francisco, Vancouver und Sydney
sind gute Beispiele dafür; und drittens die Städte, die hier
als Renaissance-Städte bezeichnet werden sollen. Diese
sind besonders interessant, weil sie einige ­jener problematischen, alten Industriestädte wie Glasgow, Bilbao,
Manchester und Newcastle-Gateshead ­umfassen.
Vom passiven Kulturkonsum zur
aktiven Schaffung von Kultur
London wird heute durch das Norman Foster-Gebäude
symbolisiert, den Swiss Re Tower (im Volksmund „die
Gurke“ genannt) in der City of London und den fünf
Kilometer entfernten Bürogebäudekomplex Canary
­
Wharf. Aber Städte wie diese bieten scheinbar alles: Sie
sind etablierte bzw. sogar alt-etablierte Plätze mit
2.000-jähriger Geschichte. Sie haben die Museen, die
Galerien, die Theater, sie haben die Kultur, sie haben
große Universitäten und alles, was urbanes Leben­
­attraktiv macht.
Die zweite Kategorie von Städten ist in gewisser
­Weise interessanter, weil sie noch rätselhafter ist. Die
Orte liegen am Wasser, sie haben Zugang zum Meer, sie
haben Berge, sie haben ein gutes Klima und sie haben
ein sehr gutes Stadtambiente, das sie oftmals sorgfältig
entwickelt und kultiviert haben. Sie haben auch andere
Vorteile: gute Universitäten, zum Beispiel im Bereich der
San Francisco Bay gibt es die University of California Berkeley und die Stanford University, im Bereich von Vancouver die University of British Columbia und die Simon
Fraser University. Deshalb sind sie auch in diesem Bereich konkurrenzfähig und sie sind sogar kulturell ziemlich gut aufgestellt – nicht in der gleichen Größenordnung, im gleichen Maßstab oder auf dem gleichen
Niveau wie vielleicht London, Paris oder Berlin, aber
­sicherlich attraktiv genug, um Städtetouristen anzulocken. Damit schneiden sie in den internationalen Rankings gut ab.
Aber den interessantesten Fall stellt die dritte G
­ ruppe
dar, die Renaissance-Städte. Sie werden durch Bilbaos
Guggenheim-Museum symbolisiert. Es sind alte Industrie- oder Hafenstädte; sie wurden über die letzten 20 bis
30 Jahre relativ rasant deindustrialisiert und sie suchen
nach einer neuen Rolle. Und deshalb versuchen sie, mit
den wirklich gut etablierten Metropolen und Sunbelt Cities zu konkurrieren, in einigen Fällen sind diese Bemühungen sogar von Erfolg gekrönt. Wie erklärt sich das?
Nun verfügen sie oft ebenfalls über etablierte Einrich-
44
RegioPol eins + zwei 2011
tungen wie Museen, Kunstgalerien und Universitäten,
die vor allem aus ihrer ökonomischen Blütezeit im neunzehnten Jahrhundert stammen, als das Geld durch die
damals erfolgreichen Industrien eingenommen wurde
und in Form privater und auch öffentlicher Ausgaben in
diese kulturellen Einrichtungen floss, die die Städte sich
heute wieder zunutze machen. Sie wecken auch ein bestimmtes Interesse, eine neue Nachfrage nach etwas,
das industrieller Archäologie-Tourismus genannt werden kann. Am eindrucksvollsten ist dies in Deutschlands
Ruhrgebiet beim außerordentlich erfolgreichen Emscher Park zu beobachten. Aber solche Versuche finden
schließlich auch in vielen anderen dieser Städte statt
und das macht die erfolgreichen zu einem besonders interessanten Fall.
Die große Gefahr für den Aufholprozess dieser Städte
besteht darin, dass sie alle versuchen zu konkurrieren,
indem sie das Gleiche tun. Eine Renaissance-Stadt kann
sich nicht einfach auf die Eröffnung neuer Kunstgalerien
oder neuer Museen verlassen; sie muss den passiven
Kulturkonsum als Tor zur aktiven Schaffung von Kultur
nutzen. Das ist das Prinzip, das in britischen Städten wie
Glasgow und Gateshead erfolgreich umgesetzt wird, wo
die neuen Einrichtungen Galerien oder Veranstaltungsorte für Musik und gleichzeitig auch Orte sind, die aktiv
neue Generationen von Artisten oder Musikern ausbilden und schulen.
All dies braucht viel Phantasie, denn wenn jeder Ort
beginnt, so auszusehen wie alle anderen (wie die amerikanische Schriftstellerin Gertrude Stein einmal sagte „es
gibt kein ‚dort‘ dort“), dann lässt sich kein Ort vom anderen unterscheiden. Also muss man einige verrückte Ideen entwickeln, um etwas in Bewegung zu setzen. Das ist
das, was vor 30 Jahren in Manchester passiert ist, wo ein
paar besonders verrückte Leute neue Märkte für eine
neue Musik geschaffen und damit die jungen Leute in die
Nachtclubs gelockt haben. Diese jungen Leute beschlossen, dass Manchester ein attraktiver Ort ist und kamen
an die dortige Universität, viele blieben anschließend
und jedenfalls einige von ihnen bauten eine neue Ökonomie auf. Eine kürzlich veröffentlichte MIT-Studie hat
diesen Punkt explizit herausgestellt: Dort wurde eine
Reihe von Städten weltweit betrachtet, die „New Century
Cities“ genannt wurden, Städte überall in der Welt, alte
und neue, die es schaffen, sich in der einen oder anderen
Weise auf Basis der New Economy selbst ein neues
Image zu verpassen. Und die wichtigsten Charakteristika dieser erfolgreichen Städte sind erstens ein Fokus auf
die neuen Kreativindustrien, die ein Narrativ entwickeln,
das die Stadt praktisch im Kontext mit ihren ökonomischen Zielen als identifizierbare Marke nach außen
­tragen kann; zweitens eine Strategie der städtischen
­Regeneration, die sehr kohärente, gemischt genutzte
Umgebungen, speziell zum Leben und Arbeiten, mit
­einer sehr hohen städtischen Lebensqualität entwickelt;
drittens eine allgegenwärtige, flächendeckende Technologie, insbesondere – zum jetzigen Zeitpunkt – WiFi-­
Systeme; viertens neue, oft unkonventionelle Formen
der Ausbildung, die Universitäten, Öffentlichkeit und
Wirtschaft zusammenbringen, die wiederum eine Art
Nährboden-Funktion für neue Prozesse, Organisationen
und Produkte haben und als lebende Laboratorien bezeichnet werden können. Und schließlich, müssen komplexe, flexible Organisationen vorhanden sein, die all
das bewerkstelligen können.
Es muss noch einmal in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen werden, dass diese neue Studie erst der Einstieg ist, um die Schlüsselfaktoren für das Wachstum
dieser neuen Zentren zu identifizieren, und die Univer­
sitäten auf der ganzen Welt sind aufgerufen, dem MIT zu
folgen, um diese Prozesse etwas besser verstehen zu
können.
Chancen erkennen und aufgreifen
Was lässt sich also zusammenfassend daraus lernen?
Erstens, dass es vielleicht nicht nur ein einziges Rezept
gibt, um den Wandel von der alten Industriewirtschaft
zur neuen Wissensökonomie zu vollziehen, es gibt nicht
nur einen einzigen Typ Ort, der dafür geeignet ist. Zweitens, dass man, wenn man Entscheidungsträger oder
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
Planer in einer dieser ehemaligen Industriestädte ist,
seine Stadt zu einer Renaissance-Stadt machen kann,
sofern man genügend Phantasie hat oder verrückte Leute ermuntert und anlockt, die ausreichend Phantasie haben. Die Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen, eine
städtische Atmosphäre und eine spürbare Energie in
­einer Stadt zu schaffen, die etwas in Gang setzen können, wie diese verrückten Leute in Manchester es in den
1970ern vorgemacht haben. Sobald das erreicht ist,
heißt es abzuwarten, gelegentlich sollten hier und da
auch ein paar Anstöße gegeben werden, wenn sich ein
Fortschritt abzeichnet: Beispielsweise baut man seine
Universität aus oder entwickelt weniger konventionelle
Arten der (Aus-)bildung. Es ist also eine Frage des Aufgreifens und Nutzens von Chancen, sobald und wo sie
sich ergeben. Und auf dieser Basis, denke ich, kann jede
Stadt mitspielen.
Quellen:
European Union Regional Policy (2007), State of European
Cities Report: Adding Value to the European Urban Audit.
Brussels: European Commission, DG Regio.
G. B. Office of the Deputy Prime Minister (2006), State of the
English Cities: A Research Study. By Parkinson, M. et al. Two
volumes, London: ODPM.
Llewelyn-Davies and Bartlett School of Planning, University
College London (1996), Four World Cities: A Comparative
Study of London, Paris, New York and Tokyo. London:
Comedia.
45
46
RegioPol eins + zwei 2011
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
47
Walter Siebel
Die Zukunft der europäischen
Stadt – Anmerkungen zu einer
aktuellen Diskussion
D
ie europäische Stadt ist ein in der Stadtforschung seit Längerem intensiv diskutiertes Konzept. Soeben ist wieder ein Sammelband zum
Thema dieses Beitrags erschienen (Frey/Koch 2011).
Auch in der Politik ist die europäische Stadt populär.
„Ausgangspunkt und Leitvorstellung aller stadtentwicklungspolitischen Maßnahmen und Aktivitäten des Bundes ist die „Europäische Stadt“, so der Städtebaubericht
2008 der Bundesregierung. Die von 26 Staaten der EU
2007 verabschiedete „Leipzig Charta für eine nachhaltige europäische Stadt“ führt den Begriff im Titel. Doch im
Lichte wachsender wissenschaftlicher und politischer
Aufmerksamkeit ist der Begriff nicht klarer geworden.
Aus der Stadtforschung hört man begriffliches Getöse.
Frey (2011) hat allein 49 „Stadtkonzepte in der europäischen Stadt“ identifiziert. Liest man die politisch-programmatischen Papiere, so ist die europäische Stadt
­etwas Wunderschönes: eine sozial integrierte, ökonomisch prosperierende, kulturell produktive und nach­
haltige Stadt, kurz etwas, was sich wohl jeder überall auf
der Welt genauso wünscht. Aber wo bleiben dann die
­Besonderheiten dieses Stadttypus, die es rechtfertigen
würden, ihn im Unterschied zu anderen als spezifisch
­europäisch zu definieren?
Über zwei solche besonderen Merkmale besteht in der
Diskussion zur europäischen Stadt weitgehend Konsens:
■
■
Die Gestalt der europäischen Stadt als kompakter
Stadt mit einer dichten Mischung von Wohnen,
A rbeiten und Erholung. Diese Auffassung wird –
­
auch als normatives Leitbild – von vielen Architekten und Stadtplanern vertreten.
Die europäische Stadt als demokratisch legitimiertes, handlungsfähiges Subjekt ihrer eigenen Entwicklung, eine auf Max Weber zurückgehende Definition, die von den meisten Sozialwissenschaftlern
geteilt wird.
Im Folgenden werden Tendenzen diskutiert, die beide
Characteristica infrage stellen und solche, die sie stützen könnten.
b Guggenheim-Museum, Bilbao
Die traditionelle Gestalt der europäischen Stadt kann
mit drei Merkmalen beschrieben werden:
■
■
■
Stadt-Land-Gegensatz – das Gegenüber von hochgetürmter Stadt und plattem Land.
Die Stadtkrone von Rathaus, Markt und Kirche.
Dichte, Vielfalt und Mischung der städtischen Funktionen Wohnen, Arbeiten, Erholung.
Diese Gestalt ist längst im Siedlungsbrei der großen
­Agglomerationen untergegangen. Die Entwicklung der
Militärtechnik machte die einengenden Festungsgürtel
sinnlos, moderne Verkehrsmittel und der gewachsene
Wohlstand ermöglichten Wohnweisen, die buchstäblich
keinen Platz in der kompakten europäischen Stadt gefunden hatten. Stadtplanerische Leitvorstellungen wie
die Gartenstadt und später die Charta von Athen haben
ebenfalls eine Rolle gespielt. Aber der entscheidende
Grund für das Verschwinden der traditionellen Gestalt
der europäischen Stadt liegt in der Tatsache, dass die
Gesellschaft, die diese Stadtgestalt hervorgebracht hat,
verschwunden ist. Der Stadt-Land-Gegensatz hat sich
aufgelöst. Demokratie, Marktwirtschaft, Kleinfamilie
und Konsumentenhaushalt finden sich heute auf dem
Land ebenso wie in der Stadt. Wall und Graben, wo es sie
überhaupt noch gibt, markieren keinen Gegensatz zwischen verschiedenen Gesellschaften mehr, wie das im
Mittelalter der Fall war. Die Stadtkrone ist zu einem
­leeren Symbol geworden: Das Rathaus hat seine Macht
verloren, der Marktplatz ist ökonomisch irrelevant und
der Kirche fehlen die Gläubigen. Stadt aber ist eine gesellschaftliche Tatsache, die sich räumlich formt. Mit
dem Verschwinden ihrer gesellschaftlichen Grundlagen
ist die überkommene Gestalt der europäischen Stadt –
so scheint es – obsolet geworden.
Seit einiger Zeit aber wird von einer Renaissance der
Stadt gesprochen. Diese These wird mit den teilweise
wieder steigenden Einwohnerzahlen in den Kernstädten
empirisch untermauert. Dafür gibt es theoretische Erklärungen, die vermuten lassen, dass es sich um mehr
als ein nur vorübergehendes Phänomen handelt.
48
RegioPol eins + zwei 2011
Der Trend, der im 20. Jahrhundert die Entwicklung
der Städte zu deren Lasten geprägt hatte, die Suburbanisierung, verliert an Kraft. Das hat verschiedene Gründe.
Einmal erodiert die soziale Basis der Suburbanisierung.
Der Wunsch nach dem Einfamilienhaus im Grünen ist an
die familiale Lebensweise gebunden. Diese aber verliert
absolut und relativ an Bedeutung. Immer mehr Erwachsene leben in neuen Haushaltsformen jenseits der klassischen Drei-Generationen-Kernfamilie. Und bei denen, die
diese Lebensweise eingehen, verliert die F­ amilienphase
relativ an Gewicht im Lebenslauf. Die Phase vor der Ehe
und die nach dem Zusammenleben mit Kindern werden
beide immer länger, weil später g
­ eheiratet wird und weil
angesichts der gestiegenen L­ ebensdauer die Eltern nach
dem Auszug der Kinder in der Regel noch zwanzig bis dreißig Jahre vor sich haben. Sie finden sich dann aber häufig
in einer Wohnform, dem Einfamilienhaus, und an einem
Standort, in Suburbia, die für diese Phase des „leeren
Nests“ weniger geeignet sind.
Zum Zweiten erodiert die ökonomische Basis der
Suburbanisierung. Suburbanisierung hängt mit dem
­
Wunsch nach dem Eigenheim zusammen. Dieser Wunsch
ist in der Regel leichter im Umland der Städte zu realisieren. Eigentumsbildung im Wohnungsmarkt setzt nicht
so sehr ein hohes als ein langfristig sicher kalkulierbares
Einkommen voraus als Bedingung für die Kreditwürdigkeit eines Haushalts. Deshalb haben Beamte die höchste
Eigentumsquote. Angesichts der Veränderungen auf
dem Arbeitsmarkt erfüllen immer weniger Haushalte
diese Voraussetzung. Hinzu kommt, dass die staatliche
Subventionierung des Wohneigentums eingeschränkt
worden ist.
Schließlich drittens schwinden die Zeitstrukturen
die die Suburbanisierung ermöglicht haben. Es gibt immer mehr Haushalte, bei denen zwei Erwachsene an
verschiedenen Orten zu verschiedenen und flexiblen
Zeiten berufstätig sind. In den modernen Dienstleistungsberufen verwischen sich zudem die ehemals festen Grenzen von Arbeit und Freizeit. Damit werden große Distanzen zwischen Wohnort und den attraktiven
innerstädtischen Arbeitsmärkten in jeder Hinsicht zu
teuer.
Mit dem Schwinden ihrer sozialen, ökonomischen
und zeitlichen Voraussetzungen wird Suburbanisierung
nicht aufhören. Junge Familien mit kleinen Kindern werden auch in Zukunft das Einfamilienhaus im Grünen
­suchen. Aber Suburbia verliert an Gewicht gegenüber
der Kernstadt. Deren überkommene städtebauliche
Strukturen wiederum haben sich weitgehend erhalten –
trotz der Zerstörungen durch die alliierten Bomben im
zweiten Weltkrieg und trotz der zweiten Stadtzer­
störung durch Stadtplanung und Immobilienwirtschaft
in den 60iger Jahren. Diese erstaunliche Beharrungskraft ist kaum durch die technische Widerständigkeit der
gebauten Substanz zu erklären, sie hat vielmehr ökonomische und kulturelle Gründe:
■
In die Struktur der Stadt sind gesellschaftliche Interessen im wahrsten Sinne des Wortes investiert.
■
Dass die deutschen Städte nach 1945 weitgehend
entlang der alten Strukturen wieder aufgebaut wurden, lag an den in den technischen Infrastrukturen
über Jahrzehnte akkumulierten öffentlichen Investitionen, an der Trennung von öffentlichem und privatem Eigentum und an der Struktur des privaten
Grundeigentums. Das Kanalsystem, die Straßen und
das Grundbuch, nicht die Gebäude sind der cantus
firmus der Stadtstruktur.
Jede europäische Stadt mit ihren Plätzen, Straßen
und Gebäuden ist ein Stein gewordenes Buch individueller und kollektiver Erinnerungen. Deshalb ist
die Stabilität der Stadtstruktur nicht nur im Geldbeutel und den Eigentumsverhältnissen sondern
auch in den Köpfen der Menschen verankert. Die europäische Stadt ist der Ort, an dem die moderne
­Gesellschaft entstanden ist. Im Gang durch eine
­europäische Stadt kann der Bürger der heutigen
­Gesellschaft sich seiner eigenen Geschichte vergewissern. Vormoderne Städte in China dagegen
­waren Sitz despotischer Herrschaft und religiöser
Kulte. Dort im Gegensatz zu Europa gibt es deshalb
keine ökonomisch und politisch einflussreiche
Schicht, die sich im Interesse der Wahrung ihrer
eigenen historisch vermittelten Identität für die
­
­Bewahrung der historischen Substanz der Städte
einsetzen würde. In Europa dagegen ist die Erinnerungsfunktion der gebauten Stadt mit den Instrumenten des Denkmalschutzes bewehrt und im Bewusstsein der Bürger präsent.
Die Dynamik der Suburbanisierung wird schwächer,
aber sie wirkt fort. Eigentumsverhältnisse und historisch verankerte Identitäten sind Beharrungskräfte und
Widerstände. Die bisher genannten Argumente könnten
also nur erklären, dass das Verschwinden der europäischen Stadt langsamer vonstatten geht, aber es würde
dadurch nicht aufgehalten. Doch es lassen sich Argumente für die Überlebensfähigkeit der städtebaulichen
Struktur der europäischen Stadt anführen: ökonomische, die wachsende Bedeutung urbaner Milieus in
wissens­basierten Ökonomien, und soziale, die Attraktivität der Innenstädte als Wohn- und Lebensort für hochqualifizierte Arbeitskräfte mit nicht-familialen Lebensweisen.
Eine oft genannte ökonomische Ursache für die Renaissance der Kernstadt ist der Strukturwandel zur Wissensgesellschaft, denn der Wissensökonomie wird eine
Affinität zur europäischen Stadt zugeschrieben. Gerade
die rein technisch gesehen an keine bestimmten Standorte gebundenen Betriebe der new economy konzentrieren sich in erstaunlichem Maße auf die Kernstädte
und hier sogar auf einzelne Straßenzüge und Viertel. Erklärt wird dies u.a. mit der Unterscheidung von zwei Wissenstypen. Informationen seien mittlerweile ubiquitär
verfügbar. Aber das „tacit knowledge“, das zu einem produktiven Umgang mit Informationen erst befähige, werde vorwiegend in urbanen Milieus erzeugt und weitergegeben (Läpple 2004: 410 f.; Brake 2011). Ähnlich sind die
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
Kreativwirtschaft und die Kulturproduktion auf die städtischen Agglomerationen angewiesen. Für diese Branche typisch sind kleine Betriebe und äußerst flexible und
prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Ihre Produktionen
werden häufig nach dem Jam-Session-Modell organisiert: Für ein bestimmtes Vorhaben werden hoch spezialisierte Arbeitskräfte benötigt, die für eine beschränkte
Zeit intensiv projektförmig zusammenarbeiten, um dann
wieder auseinanderzugehen. Das ist nur möglich, wenn
einerseits – aus Sicht der Betriebe – ein genügend differenziertes Arbeitskräftepotenzial kurzfristig verfügbar
ist, also möglichst viele Spezialisten in prekären Arbeitsverhältnissen in räumlicher Nähe, und andererseits – aus
Sicht der Arbeitskräfte – eine genügend dichte Nachfrage nach ihren Leistungen besteht, also möglichst viele
Betriebe mit kurzfristig zu bewältigenden, anspruchsvollen Projekten. Große, kompakte und heterogene
Städte können die entsprechenden Voraussetzungen
bieten: ein dichtes Nebeneinander einer Vielzahl spezialisierter Betriebe und ein differenziertes Angebot hoch
qualifizierter Arbeitskräfte. Das wiederum ist Voraussetzung für die Bildung häufig auch informeller Netzwerke,
die den Betrieben und Arbeitskräften erlauben, mit der
notwendigen Flexibilität auf die schnell wechselnden
Chancen und Krisen ihrer Branche zu reagieren.
Soziale Ursachen liegen in den Präferenzen der Angehörigen der kreativen Klassen für urbane Wohnstand­
orte (Florida 2002). Ähnliches gilt für Migranten. Zuwanderung war schon immer auf die großen Städte gerichtet
und hier auf ihre meist in der Kernstadt oder deren unmittelbaren Rand liegenden billigen Wohngebiete.
Schließlich ist der Wandel der Rolle der Frau für eine
neue Attraktivität der Kernstadt für Arbeiten und Wohnen verantwortlich (Siebel 2004b: 45): Früher konnte
man, und in der Regel war es ein Mann, sich auf seinen
Beruf konzentrieren, weil man über einen privaten Haushalt verfügte, geführt von einer Hausfrau, die einem den
Rücken frei hielt von allen außerberuflichen Verpflichtungen. Heute gibt es immer mehr beruflich qualifizierte
Frauen, die selber Karriere machen wollen und deshalb
ihrerseits Entlastung von außerberuflichen Pflichten
einfordern. Der englische Soziologe Ray Pahl hat das
einmal in einer Diskussion auf den Punkt gebracht: „a
professional woman needs a wife“. Nun sind die neuen
(Haus-)Männer noch rarer als die alten Hausfrauen.
Wenn immer mehr Menschen eine berufliche Karriere
anstreben, die soziale Voraussetzung dafür, der Hausfrauenhaushalt, aber nicht mehr zur Verfügung steht,
­ergibt sich ein Dilemma, aus dem nur zwei Wege herausführen: Die radikale Reduktion aller außerberuflichen
Verpflichtungen, was in erster Linie den Verzicht auf
­Kinder beinhaltet, und das Leben in einer modernen
Dienstleistungsstadt. Moderne Städte sind als Formen
der Vergesellschaftung des privaten Haushalts zu beschreiben. Mit ihrer Fülle an marktförmig und staatsförmig organisierten Güter- und Dienstleistungsangeboten
versorgen sie jeden, sofern er über genügend Geld verfügt, mit allem, wofür man früher einen privaten Haus-
halt benötigte. Ohne die Dienstleistungsmaschine Stadt
wäre die berufszentrierte Lebensweise des modernen
Singles gar nicht möglich.
Neue Lebensweisen jenseits der traditionellen Familie, geänderte Zeitstrukturen und die Entgrenzung von
Arbeit und Freizeit, der Wandel von der Industrie- zur
Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft, der Zuzug
von Migranten, die Präferenzen der Angehörigen der
kreativen Klasse und die berufliche Emanzipation der
Frauen, all das begründet eine neue Attraktivität der
funktionsgemischten, kompakten europäischen Stadt
für Wohnen und Arbeiten. Stadtpolitiker haben diese
­A rgumente und insbesondere die Thesen Floridas begierig aufgegriffen, weil man gerne daran glauben
möchte, dass urbane Lebensqualität und Wirtschaftsförderung eine sich gegenseitig steigernde, harmonische
Einheit bilden. Das aber ist eine gefährliche Illusion.
F loridas Theorie der kreativen Klasse vernachlässigt
­
systematisch die negativen Seiten der „kreativen Stadt“.
Er bietet im Kern ein in den Bereich der Kultur- und Kreativwirtschaft verschobenes Plädoyer für eine Politik der
Gentrifizierung zugunsten gut verdienender und hoch
qualifizierter Arbeitskräfte. Nach Peck (2005) steigt parallel zur Zahl der hoch qualifizierten Kreativen die der
schlecht bezahlten, niedrig qualifizierten und unsicheren Arbeitsplätze in den personenbezogenen Dienstleistungen, ein Phänomen, das nicht nur für die kreative
Stadt gilt, sondern schon seit Langem in allen Dienstleistungsstädten zu beobachten ist (Häußermann/Siebel
1995). Und eben diese billigen haushalts- und personenbezogenen Dienstleister sichern die Voraussetzungen
für den aufwendigen Lebensstil von Floridas kreativer
Klasse (Siebel 2008).
Helbrecht (2011) hat diese Kritiken an der sozialen
Blindheit von Floridas Theorie mit zwei Argumenten vertieft: Einmal würden viele Angehörige der kreativen
Klasse objektiv zum Prekariat zählen, nur heroisierten
sie subjektiv ihre prekären Arbeits- und Einkommensverhältnisse zum frei gewählten Lebensstil einer NeoBoheme: „Wenig Geld zu verdienen, nicht fest angestellt
zu sein, keine Renteneinzahlungen vorzunehmen, wird
als bewusste Entscheidung für persönliche Autonomie
stilisiert – und nicht als Konfliktlinie oder gar Aus­
beutungsverhältnis einer flexiblen Ökonomie gewertet“
(ebenda: 126). Zum andern sei es mit der von Florida so
hervorgehobenen Toleranz der kreativen Klasse nicht
weit her. Sobald die Kreativen etwas älter geworden
sind, geheiratet haben und beginnen, sich Sorgen um
die Zukunft ihrer Kinder zu machen, verhalten sie sich
genauso, wie sich die bürgerliche Mittelschicht immer
verhalten hat: Wenn sie nicht gleich nach Suburbia fliehen, so kaufen sie ein Haus am Rand der Innenstadt in
einer sozial homogenen Nachbarschaft von Ihresgleichen und achten darauf, dass ihre Kinder ordentliche,
d. h. unterschichtsfreie Schulen besuchen.
Wenn einerseits ein großer Teil der sogenannten Kreativen zum Prekariat zu zählen ist – ca. die Hälfte der
150.000 Beschäftigten in der Berliner Kulturwirtschaft
49
50
RegioPol eins + zwei 2011
verdienen durchschnittlich unter 18.000 Euro (Manske
2009: 9, nach Helbrecht: 131) – und wenn andererseits
die arrivierten Kreativen sich in sozial homogene Enklaven z­ urückziehen, dann trägt die kreative Klasse selber
zur Einkommenspolarisierung und zur sozialräumlichen
Verinselung der Stadt bei. Kurz, hinter der schönen
­Kulisse der kreativen Stadt wird die alte Politik zugunsten einkommensstarker und qualifizierter Arbeitskräfte
betrieben und dabei eine weitere soziale und räumliche
Polarisierung der Stadt in Kauf genommen. Die Zielkonflikte der Stadtpolitik zwischen ökonomischem Wachstum, sozialer Gerechtigkeit und nachhaltiger Stadtentwicklung sind unaufhebbar, und wer sie übersieht, wird
eine Stadtpolitik betreiben, die diese Konflikte verschärft.
Die Nebenfolgen einer selektiven Politik zugunsten
der sogenannten Kreativen sind nicht Absicht. Aber sie
können gerade im Rahmen einer solchen Politik durchaus funk­t ional sein.
Die seit Längerem mit der Entwicklung der Dienstleistungsgesellschaft einhergehende Polarisierung der
Einkommensstruktur hat einen Markt für personen- und
haushaltsbezogene Dienstleistungen entstehen lassen,
auf dem die Nachfrage einkommensstarker Hochquali­
fizierter nach Entlastung von außerberuflichen Verpflichtungen auf ein entsprechendes Angebot billiger
Arbeitskräfte trifft (Häußermann/Siebel 1995: 81ff.). Die
Arbeitsplätze in diesem Bereich sind typischerweise
schlecht bezahlt, niedrig qualifiziert, unsicher, zeitlich
hoch flexibel und weiblich. Das erlaubt keine allzu großen Distanzen zwischen dem Wohnort der Anbieter und
der Nachfrager. Die sozialräumliche Verinselung der
Stadt zu einem dichten Nebeneinander von gentrifizierten Quartieren einkommensstarker Berufstätiger und
Wohngebieten der Armen ist daher eine weitere Voraussetzung für das Zustandekommen eines solchen Marktes (Sassen 2004).
Ein großer Teil der haushaltsbezogenen Dienstleistungen ist informell organisiert. Viele, insbesondere irreguläre Migranten sind auf dieses Arbeitsmarktsegment angewiesen. Nach Schätzungen leben vier bis
sechs Millionen irreguläre Migranten in Europa, die in
den Städten bis zu fünf Prozent der Bevölkerung stellen,
in Berlin zwischen 100.000 und 250.000 (Buckel 2011:
251). So kann innerhalb der Städte eine internationale
Arbeitsteilung entstehen, bei der „irreguläre Hausarbeiterinnen … einen enormen Beitrag zur beruflichen Karriere von Frauen in mittleren und höheren Beschäftigungsverhältnissen“ leisten (ebenda: 249 f.). Deshalb ist
vielleicht gar nicht zu erwarten, dass irreguläre Migration demnächst, sei es durch Legalisierung, sei es durch
effektivere Repression, aus den Städten Europas verschwinden wird. Stattdessen könnte sich jene eigenartige Form lokaler Governance verbreiten, die Simone
­Buckel am Beispiel von Den Haag und Barcelona beschreibt: In einem Gemenge aus Repression, humani­
tären Motiven, Laisser-faire und stillen Interessen etabliert sich ein Zusammenspiel zwischen staatlichen
Verboten, kommunalen Kontrollen und Hilfen seitens zivilgesellschaftlicher Organisationen. So werden die irregulären Migranten in einem prekären Schwebezustand
gehalten, der ihnen ermöglicht, zu bleiben und sie zugleich zwingt, gleichsam jede Arbeitsbedingung zu akzeptieren. Dabei subventionieren Staat und Kommune
häufig die zivilgesellschaftlichen Akteure, die den irregulären Migranten Gesundheitsversorgung und Rechtsberatung anbieten, und erzeugen gleichzeitig die irreguläre Migration, indem sie beispielsweise Migranten
nach Abschluss der Ausbildung eine Arbeitserlaubnis
oder Wohnung verweigern.
Das zweite weitgehend unstrittige Merkmal der europäischen Stadt betrifft die Stadt als handlungsfähiges
und demokratisch legitimiertes Subjekt ihrer eigenen
Entwicklung. Die mittelalterlichen freien Reichsstädte
waren souveräne, staatsähnliche Subjekte. Die SteinHardenbergischen Reformen haben in Preußen eine
kommunale Selbstverwaltung etabliert, die im Grundgesetz der Bundesrepublik (Art. 28 GG) bekräftigt worden
ist. Aber der Handlungsspielraum kommunaler Politik
wird systematisch eingeschränkt.
Das betrifft an erster Stelle ihre finanziellen Spiel­
räume. Weil die Finanzverfassung die Einnahmen der
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
51
Die Zielkonflikte der Stadtpolitik
zwischen ökonomischem Wachstum,
sozialer Gerechtigkeit und nachhaltiger
Stadtentwicklung sind unaufhebbar.
Kommunen an die Zahl der Einwohner bindet, hat der
Rückgang der Einwohnerzahlen aufgrund der demografischen Entwicklung und von Abwanderung negative
Folgen für die kommunalen Finanzen. Wenn die Zahl der
Einwohner sinkt, verliert die Kommune einwohnergebundene Zuweisungen, Einkommenssteueranteile und
Gewerbesteuer. Die Schätzungen schwanken: Am höchsten sind die Verluste in den Stadtstaaten: Bremen rechnet mit Mindereinnahmen in Höhe von 3.300 Euro jährlich pro Abwanderungsfall, gleich ob es sich um einen
Säugling handelt oder einen gut verdienenden Berufs­
tätigen. Für normale Städte werden die Verluste auf
1.500 Euro pro Jahr geschätzt (Göschel 2007: 35). Da die
­A bwanderer ins Umland weiterhin die zentralörtlichen
Einrichtungen der Kernstadt nutzen, verringern sich die
Ausgaben der Kommunen nicht entsprechend. Ins Umland wandern die Mobilitätsfähigen und das sind in erster Linie jüngere und einkommensstärkere Bewohner
der Stadt. Die Risikogruppen bleiben zurück, eine der Ursachen für eine aus der Sicht der Kernstadt negative soziale Arbeitsteilung zwischen Suburbia und Kernstadt,
bei der die Problemgruppen sich in der Stadt konzentrieren.
Hinzu kommt die Neigung von Bund und Ländern,
den Kommunen neue Aufgaben zuzuweisen, ohne ihnen
die entsprechenden Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, z. B. bei den Unterbringungskosten für Langzeitarbeitslose. In der Konsequenz hat sich der Anteil der
­Sozialausgaben an den kommunalen Ausgaben in den
alten Bundesländern zwischen 1980 und 2004 von unter
zwölf Prozent auf nahezu 22 Prozent fast verdoppelt. Im
selben Zeitraum wurde der Anteil der Sachinvestitionen
mehr als halbiert: Er sank von 30,4 Prozent auf 13 Prozent (Gemeindefinanzbericht 2004: 83). Schließlich hat
die Globalisierung einen Finanzmarkt etabliert, in dessen unkalkulierbare Krisen die Kommunen mehr und
mehr eingebunden sind, teils durch eigene Schuld: Viele
Kommunen haben sich z. B. auf Cross-Border-LeasingGeschäfte eingelassen, durch die sie in die Finanzmarktkrise hineingerissen wurden. Zweitens werden die politischen Gestaltungsspielräume der Städte eingeengt.
Viele infrastrukturelle Leistungen sind nicht mehr in den
engen Grenzen einer Kommune zu erbringen. Wasser,
Energie, Müll und ÖPNV sind deshalb Anlässe, regionale
Zweckverbände zu gründen. Zudem drängt eine neoliberale Ideologie die Kommunen dazu, so viel wie möglich
zu privatisieren. Mittlerweile werden über die Hälfte der
kommunalen Finanzmittel außerhalb der öffentlichen
Kommunalverwaltungen ausgegeben. Aber auch hier
trifft die Städte selber ein Teil der Schuld: Viele haben
ihre Wohnungsbestände an internationale Investoren
verkauft. Sie verlieren aber mit den ehemals gemeinnützigen Wohnungsbauträgern die wichtigsten Partner einer sozial verantwortlichen Stadtteilpolitik. Drittens
kann man von einer Erosion der politischen Basis kommunaler Politik sprechen.
Der Idealtypus des Stadtbürgers, der sein Schicksal
über Eigentum und Geschäft mit dem Geschick der Stadt
verbunden hat, ist keine relevante Figur mehr. Die ökonomische Entwicklung der Stadt wird mehr und mehr
von abwesenden Investoren mit entsprechend überlokalen Orientierungen dominiert. Und auch auf Seiten der
Bewohner wächst die Zahl der Bürger, die aus sehr unterschiedlichen Gründen kein Interesse an der Politik der
Stadt haben. Für die internationalen Eliten wie die transitorischen Migranten, die sich nur vorübergehend in
­einer Stadt aufhalten, fungiert die Stadt als eine Art Hotel. Und welcher Hotelgast möchte sich schon mit den
Angelegenheiten des Managements befassen? Auch die
wachsende Zahl der Städter mit multilokalen Lebens­
stilen dürften nur geringes Engagement für lokale Politik aufbringen, schon weil ihnen „die durch die multi­
lokale Situation bedingten, subjektiven Kosten der
Beteiligung an Parteien oder Bürgerinitiativen schlichtweg zu hoch“ sind (Petzold 2011: 163). Auf der anderen
Seite verfügen Arme und Migranten, also gerade die sozialen Gruppen, die besonders auf die lokale Situation
angewiesen sind, häufig nicht über die subjektiven bzw.
rechtlichen Voraussetzungen für ein Engagement in der
Lokalpolitik.
Schließlich schwindet auch die alltagspraktische
­Bindung der Bürger an ihre Stadt. Solange die Stadt die
52
RegioPol eins + zwei 2011
Einheit des Alltags ihrer Bürger darstellte, das heißt,
­solange der Bürger einer Stadt, in der er wohnte, dort
auch seine Arbeit hatte, seine Kinder zur Schule schickte
und die ö
­ ffentlichen Einrichtungen nutzte, solange existierte eine Stadtbürgerschaft, die in sich selbst die Konflikte zwischen den städtischen Funktionen Arbeiten,
Wohnen, Erholung und Verkehr austragen musste. Heute ist der Alltag vieler Bürger regional organisiert, arbeitsteilig über verschiedene Gemeinden hinweg. Man
wohnt in A, arbeitet in B, versorgt sich in C und fährt
dorthin mit dem Auto durch D. Damit sehen sich die
Städte Kundengruppen gegenüber, die sehr spezialisierte Erwartungen kompromisslos erfüllt haben wollen:
von A ein durch nichts gestörtes Wohnen, von B einen
expandierenden und gut erreichbaren Arbeitsmarkt, von
C ein Einkaufszentrum mit vielen Parkplätzen und von D
eine kreuzungsfreie Schnellstraße. Damit verlieren die
Städte die politische Basis für die Kernaufgabe kommunaler Politik, nämlich einen Ausgleich zu finden zwischen den häufig konfligierenden Anforderungen der
unterschiedlichen städtischen Funktionen.
Angesichts ihrer Finanzmisere, der Einengung ihrer
Gestaltungsspielräume und der Erosion der Stadtbürgerschaft droht die Kommunale Selbstverwaltung zur
leeren Hülle zu werden, sodass von der Stadt als einem
demokratisch legitimierten und handlungsfähigen Subjekt ihrer eigenen Entwicklung kaum noch die Rede sein
kann. Staatsrechtler haben allein schon bezüglich der
bisherigen Praxis der Privatisierung kommunaler Aufgaben „Zweifel an(gemeldet), ob die vom Grundgesetz gewollte kommunale Selbstverwaltung überhaupt noch
bestehen kann, weil sie bereits so ausgehöhlt sei, dass
(Art. 28 GG) Abs. 2 auf sie nicht mehr passt“ (Sterzel 2010:
277, Anm. 810). Aber auch hier gibt es Argumente, die es
zumindest als notwendig erscheinen lassen, dass auch
in Zukunft Städte als handlungsfähige politische Subjekte fortbestehen: Sngesichts zunehmend differenzierter
und individualisierter Problemlagen sind lokal formulierte Politiken effektiver und effizienter als zentrale Vorgaben.
1. Die Stadt als Labor. Insbesondere die deutschen
Städte waren Experimentierfelder moderner wohlfahrtsstaatlicher Politiken. Schon zu den Hochzeiten einer liberalen Staatsauffassung haben die
Städte im Zuge des sogenannten Munizipalsozialismus eine umfangreiche Infrastruktur aufgebaut und
wirtschaftspolitische sowie sozialpolitische Maßnahmen angewandt, die später im Zuge des sich
entwickelnden Wohlfahrtsstaats vom Nationalstaat
übernommen wurden. Man kann den Ausbau des
modernen Wohlfahrtsstaates auch als einen Prozess der Zentralisierung kommunal entwickelter
­Politiken beschreiben. Die Vielzahl autonomer lokaler Einheiten fungiert als heuristisches System zur
­Erzeugung unterschiedlicher Antworten auf differenzierte Problemlagen. Die kommunale Selbstverwaltung erlaubt, neue Lösungen für gewandelte
Probleme zunächst einmal in ausgewählten Kommunen zu erproben. So nutzt das Programm Experimenteller Wohnungs- und Städtebau (EXWOST) der
Bundesregierung einzelne Städte als Experimentierfelder, um neue Antworten auf neue Probleme
der Städte zu formulieren und zu testen, bevor sie in
Bundesprogrammen und Gesetzen verallgemeinert
werden. Das aber setzt voraus, dass die Kommunen
über ausreichende Handlungsmöglichkeiten und
Kompetenzen verfügen, um adäquate Problem­
lösungen entwickeln zu können.
2. Mit dem Wandel von wachstumsdominierten Entwicklungen zu Schrumpfungsprozessen sind Probleme entstanden, die sich hierarchischer Steuerung
entziehen. Zu den Verteilungsaufgaben der öffentlichen Hand ist die Aufgabe getreten, Innovationen
zu organisieren. Das aber ist in hierarchischen
Strukturen nicht möglich (Siebel et al 2001).
3. Mit der räumlichen Konzentration ökonomisch, sozial und kulturell von Ausgrenzung bedrohter Gruppen muss Sozialpolitik stärker auf die Besonder­
heiten der jeweiligen lokalen Situation eingehen
können. Das verlangt stärker dezentrale Vor-OrtPolitiken. Ähnlich wird die kommunale Ebene bei
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
den neuen Steuerungstechniken eines aktivierenden Sozialstaats eine wichtigere Rolle spielen, als
ihr im Rahmen einer umverteilenden Sozialpolitik
zukam.
4. Zuwanderung war und ist auf die großen Städte gerichtet. Das war immer durch die Hoffnung motiviert, sich als Städter aus politischen, ökonomischen und sozial beengten Verhältnissen befreien
zu können. Fast 40 Prozent der Einwohner Stuttgarts und Frankfurts haben Migrationshintergrund,
bei den Kindern sind es bereits 60 Prozent. Vor allem in den großen Städten entscheidet sich, ob die
Migranten ­integriert oder an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Angesichts der demografischen Entwicklung werden die großstädtischen
­A rbeitsmärkte immer stärker auf Menschen mit Migrationshintergrund angewiesen sein. Die großen
Städte sind die Motoren der gesellschaftlichen und
ökonomischen Entwicklung. Wenn die europäische
Stadt ihr altes Versprechen auf ein besseres Leben
gegenüber den heutigen Migranten nicht mehr erfüllen kann, d. h. wenn die Migranten keinen Zugang
zu höheren Schulen und zu qualifizierten Arbeitsplätzen finden, wenn also die Stadt von einem Ort
der Integration zu einem Ort der Ausgrenzung wird,
dann wird das die Zukunftsfähigkeit nicht nur der
Städte infrage stellen sondern die der ganzen Gesellschaft.
Eine funktionsfähige kommunale Selbstverwaltung ist
nicht nur durch das Grundgesetz garantiert. Sie ist auch
in vielerlei Hinsicht funktional notwendig. Wenn es die
Gesellschaft sich gar nicht leisten kann, die Stadt als
demokratisch legitimiertes handlungsfähiges Subjekt
­
aufzugeben, dann ist die Hoffnung nicht illusionär, dass
die europäische Stadt als politisches Subjekt Bestand
haben wird.
Quellen:
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neuartige Inwertsetzung städtischer Strukturen „europäischen Typs“. In: Frey/Koch 2011, S. 300– 323.
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Stellungskämpfe von Soloselbständigen in der Kulturwirtschaft. In: Castel et al. (2009), S. 283– 296, hier zitiert nach
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In: RegioPol 1/2008, S. 31– 39.
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Ders.; Oliver Ibert¸ Hans-Norbert Mayer (2001): Staatliche
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unter widrigen Umständen durch einen unbegabten Akteur.
In: Leviathan, 29.Jg., 4/2001, S. 526– 543.
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kommunalrechtliche Rahmenbedingungen für die
Privatisierung öffentlicher Aufgaben. In: Blanke/Fedder (Hg.):
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53
54
RegioPol eins + zwei 2011
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
55
Vittorio Magnago Lampugnani
Städtische Dichte
und Wissenskultur
D
ichte steht am Ursprung allen menschlichen Siedelns. Höfe, Dörfer und größere Ansiedlungen
wurden gegründet, um sich zu schützen und geschützt besser wirtschaften zu können. In allererster Linie wurden sie jedoch gegründet, um dank der räumlichen Nähe besser miteinander interagieren und
kommunizieren zu können. Seit jeher ist Dichte die unmittelbare Folge des kulturellen Bedürfnisses nach dem
Zusammenrücken. Sie ist die Essenz des Urbanen, die in
der Stadt ihre Apotheose erreicht.
Mit dem Phänomen des Urbanen war immer schon
­jenes des Suburbanen verbunden: jener unscharf begrenzte Bereich, der bereits in der Antike den Übergang
der Stadt zur umliegenden Landschaft gekennzeichnet
hat. Jahrhundertelang privilegierter Wohnsitz derjenigen, die sich neben einem Stadtpalais auch eine Vorortvilla leisten konnten, wurde er Mitte des 19. Jahrhunderts als Alternative zur verkommenen, verschmutzten,
zugebauten und übervölkerten Großstadt entdeckt, die
auch den mittleren und niedrigen Einkommensschichten zugänglich gemacht wurde.
Antistädtische Traditionen
Die Ideologien, auf denen solche stadtarchitektonischen
Visionen von ländlichen oder sogar klösterlichen Gemeinschaften aufbauten, haben sich als nicht tragfähig
erwiesen, spuken aber als großartige Bilder durch die
gesamte neuere Stadtbaugeschichte. Dazu zählt Charles
Fouriers Phalanstère-Modell aus dem frühen 19. Jahrhundert ebenso wie Ebenezer Howards Gartenstadtidee, das Modell der ciudad lineal, der linearen Stadt von
Arturo Sorìa y Mata, ebenso wie die Lebens- und Produktionsgemeinschaften der sowjetischen Desurbanisten
der zwanziger Jahre.
Fourier beispielsweise, Handelsgehilfe von Beruf und
Sozialtheoretiker aus Leidenschaft, war fest davon überzeugt, dass alle Menschen, die ein Phalanstère gesehen
und sich von seinen Vorzügen überzeugt hätten, sofort
auch selbst eine solche Kommune gründen wollten und
b International Forum, Tokyo
die alten Städte vor lauter ländlichen Phalanstère-Neugründungen sich schließlich ganz entvölkern würden.
Schließlich sah ein solches Phalanstère auch so prächtig
aus wie das Schloss von Versailles – und wäre innen noch
viel komfortabler gewesen. Dennoch hielt sich die Begeisterung der zukünftigen Kommunarden so sehr in
Grenzen, dass nicht einer dieser Volkspaläste gebaut
wurde.
Der Parlamentsstenograf Howard, von den englischen Reformbestrebungen seiner Zeit beeindruckt,
zeichnete 1898 in seinem überaus erfolgreichen Buch
„Tomorrow: A Peaceful Path to Real Reform“ den Weg zu
einem Besseren zwischen Stadt und Land, in jener town
country, die als Gartenstadt die Vorzüge beider LebensOrte, des urbanen wie des ländlichen, in sich vereinigen
sollte. Auch er ging davon aus, dass die unglücklichen
Bewohner der übervölkerten, lärmenden und dreckigen
Industriestädte diesen den Rücken kehren würden,
­sobald sie seiner Alternative gewärtig würden. Dem Establishment riet er gönnerhaft zum Umdenken, „oder
London wird, nicht nur ein ‚verkommenes Dorf’ ..., auch
noch ein verlassenes sein“. Howard wurde zum Patron
einer bedeutenden internationalen Bewegung, die überall auf der Welt Gartenstädte plante und auch in großer
Zahl realisierte; die Metropolen ersetzten sie dennoch
nicht.
Der Ingenieur und Unternehmer Sorìa y Mata, der
­neben anderem einen automatischen Theodolithen und
ein Anzeigegerät für Hochwasser erfand, bekam sogar die
Chance, ein Stück seiner prinzipiell unendlichen BandStadt zu verwirklichen: Kleine, mittlere und große frei­
stehende Häuser mit weitläufigen Privatgärten, ordentlich
aufgereiht zu beiden Seiten einer Verkehrsarterie. Ihr
­Vorzeigestück war eine mittig angeordnete Straßen­bahn­
trasse, Hauptschließungselement und Fortschrittssymbol
zugleich. 1894 wurde zwischen Chamartin und Concepción vor den Toren Madrids mit dem Bau einer Fünf-Kilometer-Siedlung begonnen, die sich einige Jahrzehnte
bewährte. Heute ist sie ganz von der urbanen Masse eingeschlossen und bis zur Unkenntlichkeit überformt, von
eben der traditionellen, chaotischen, aber lebensstrot-
56
RegioPol eins + zwei 2011
zenden Großstadt also, die sie eigentlich überwinden
sollte.
Ein knappes Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution
schlug eine Gruppe eigenwilliger sowjetischer Architekten und Stadtplaner vor, das gesamte Land mit einem
Siedlungsnetz zu überziehen, das die Linien der von
­Lenin gewollten und durchgesetzten Elektrifizierung
der jungen sozialistischen Nation nachzeichnen sollte.
Dabei folgten sie Visionen des Parteivorsitzenden, die
manches vorwegzunehmen scheinen, was unsere kapitalistische Informationsgesellschaft propagiert: „In der
heutigen Zeit, da die Übertragung elektrischer Energie
über weite Entfernungen möglich ist und da die Techniken des Transports verbessert wurden, gibt es überhaupt keine technischen Widerstände dagegen, die
­Bevölkerung mehr oder weniger gleichmäßig über das
ganze Land neu anzusiedeln und doch weiterhin Nutzen
zu ziehen aus den Schatzkammern von Wissenschaft
und Kunst, die sich über Jahrhunderte in nur wenigen
Zentren angehäuft haben.“
Später gingen dieselben Planer dazu über, nur zwischen den neuen Industriekombinaten Band-Städte
spannen zu wollen, in denen die Arbeiter wohnen, sich
versorgen und erholen sollten. Kurz darauf wurde das
Modell noch einmal modifiziert: Die Knotenpunkte der
Kombinate sollten entfallen, die Industrie in die BandStädte integriert werden. Alle drei Siedlungssysteme
hätten jegliche städtische Konzentration, sei sie alt oder
neu, grundsätzlich erübrigt. Die Einsicht, warum dies
geschehen müsste und auch würde, verdankte der Planer Nikolaj Miljutin wiederum seiner intensiven LeninExegese: „Die moderne Stadt ist das Produkt einer merkantilen Gesellschaft und wird mit ihr verschwinden,
indem sie allmählich in die sozialistische Industrielandschaft übergeht.“ Doch auch diese Ideen blieben auf
dem Papier, und sämtlichen desurbanistischen Bemühungen zum Trotz wuchsen wie in ganz Europa auch in
der Sowjetunion die großen Städte wie Moskau und
St. Petersburg alias Leningrad immer rascher. Allerdings
nicht dadurch, dass sie ihr Zentrum verdichteten und am
verdichteten Zentrum anbauten, sondern dadurch, dass
sie in zunehmend fragmentierten und aufgelockerten
peripheren Ansiedlungen explodierten. Heute wohnen
in Europa etwa zwei Drittel der Bevölkerung in dem, was
neutral als Peripherie und zunehmend abschätzig als urban sprawl bezeichnet wird.
Zeitgenössische Städtebau-Theorien
und der Mythos von Suburbia
Lange Zeit ein blinder Fleck auf der Landkarte der städtebaulichen Disziplin, wurde Suburbia in den achtziger
und neunziger Jahren auch zum Gegenstand analytischer und theoretischer Auseinandersetzungen. In seinem Buch Zwischenstadt, dem er den Untertitel „Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land“
beifügte, setzte sich Thomas Sieverts mit der verstädterten Landschaft oder verlandschafteten Stadt aus­
einander. Er begriff sie als neuartigen Stadt- und Strukturtyp, der ebenso neuartige Planungsinstrumente
erforderte, um produktiv transformiert zu werden. Als
Untersuchungsgebiet wählte er die Rhein-Main-Region
und stellte fest, dass die diffuse Peripherie (etwa mit
­ihren konversionsbedingten Brachflächen) auch in die
Kernstadt vordringe. Er rief dazu auf, die Zwischenstadt
auch als ein Feld neuer, nicht zuletzt gestalterischer
Möglichkeiten zu begreifen.
Ähnlich, aber umfassender und abstrakter argumentierten Franz Oswald und Peter Baccini in ihrem Forschungsansatz Netzstadt. Sie gingen nicht von Räumen,
sondern von Materie, Energie, Stoffflüssen und ökonomischen Zwängen aus. Sie unterschieden vier Aktivitätsfelder (Ernähren und Erholen, Reinigen, Wohnen und
­A rbeiten, Transportieren und Kommunizieren) und gelangten zu sechs Flächenkategorien: Verkehrssysteme,
Siedlungen, Gewässer, Wälder, landwirtschaftliche Flächen, Brachen. Diese untersuchten sie nach den sechs
Analysekriterien Dichte, Diversität, Flexibilität, Identi­
fikation, Ressourceneffizienz und Autarkiegrad. Hauptziele waren die dauerhafte Verbesserung der kultur­
landschaftlichen Qualitäten und die Schaffung eines
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
ökologischen Gleichgewichts in den verschiedenen
­Regionen. In ihren Szenarien, die sie am Beispiel der
Kreuzung Schweizer Mittelland entwickelten, demon­
strierten sie den Umbau bestehender urbaner Systeme
auf dem Weg zu einer umweltverträglichen Lebensform.
Die Verdichtung, die sie dabei forderten, war nicht bau­
licher Art, sondern auf die Stoffflüsse und die Aktivitätsfelder bezogen.
Radikaler, aber auch auswegloser deutete Rem Koolhaas das Phänomen Stadt. Er ging davon aus, dass das
marktbeherrschte System der zeitgenössischen Welt
sämtliche Werte, die einst Architektur und Städtebau
­bestimmten, umgestürzt habe. Sowohl die historische
Stadt mit ihren Denkmälern und gewachsenen Strukturen als auch die Stadt der Moderne mit ihrem funktio­
nellen Anspruch und ihrem sozialen Programm seien
­obsolet geworden. Die eine sei das Steckenpferd von
Nostalgikern, die andere ein Hirngespinst von Idealisten:
Heute lebten wir in der „generischen Stadt“, einem universellen Phänomen, das keinerlei Modell gehorcht und
fern jeglicher Steuerungsmöglichkeit auswuchert. In ihr
sei die Geschichte so gut wie ausgelöscht, das urbane
Gefüge zunehmend aufgelöst und instabil, und das
Stadtgebilde dementsprechend artifiziell.
Antidote zu diesem pessimistischen Befund einer
allgegenwärtigen diffusen, anarchistischen Stadt aus
shopping malls und junk space zeigte Koolhaas nicht
auf. Eher tat dies die von ihm unmittelbar beeinflusste
Architektengruppe MVRDV, die für die Rhein-Ruhr-City,
die sie als unentdeckte Metropole bezeichnete, das
­ironisch einnehmende Programm Region Maker entwickelte. Die jungen holländischen Architekten erklärten,
die Komplexität der globalisierten Welt vermöge durch
die klassischen Planungsinstrumente nicht mehr e
­ rfasst
zu werden, und schufen neue Werkzeuge zur Visualisierung und Verräumlichung von geradezu karika­
tural
über­zogenen „typischen“ identifizierbaren Regionen.
Dabei beschwörten sie extreme Szenarien (park scenario, archipelago scenario, campus scenario, network
scenario) als große Ideen einer parametrischen Zukunftsvision, die zwischen hyperverdichteten Mega­
57
strukturen und entleerten Landschaftsräumen oszilliert.
Einen anderen Ansatz verfolgte, ebenfalls im Fahrwasser von Koolhaas’ Sicht auf die Stadt, Francine Houben mit ihrer Arbeit Mobility – a room with a view. Sie
ging vom Individuum aus, das sich mit dem Automobil
im öffentlichen Raum bewegt. Sie entwickelte eine
Strukturierung dieses öffentlichen Raums auf regionaler
sowie überregionaler Ebene, um ihn wahrnehmbar und
unterscheidbar zu machen. Ihr Hauptuntersuchungsgebiet war die niederländische Randstadt, für welche sie
die Werkzeuge einer Ästhetik der Mobilität entwickelte.
Dabei arbeitete sie sowohl mit der typologischen Differenzierung der Autobahn in Fahrbahn, Randstreifen und
Feld, als auch mit der visuellen Verdichtung von Einzelobjekten in der Landschaft, die dadurch auch (und gerade) bei hoher Geschwindigkeit lesbar werden sollten.
Gingen alle diese Ansätze im Grundsatz von ökonomischem Wachstum, Beschleunigung der Lebensrhythmen und, mit Ausnahme der Zwischenstadt, von urbanistischer Expansion aus, so machten sich die Vertreter
des New Urbanism die gegenteiligen Hypothesen zueigen: Verlangsamung, Anhalten, Schrumpfung. Ausgangspunkt ihrer Forschung und Planung bildete der urbane Raum, von dessen Qualifizierung sie sich auch eine
Stärkung des sozialen Zusammenhalts versprachen. An
dieser Qualifizierung arbeiteten sie transdisziplinär auf
drei Ebenen. Auf der Ebene des Masterplans, der Gesamtanlage, Parzellierung und öffentliche Räume festlegt; auf jener der Codes, einem Regulativ von Gebäudetypen und Bauelementen und auf jener der Charette,
den kurzen und intensiven Entwurfs-Sitzungen, an welchen sämtliche Betroffenen im Sinne einer aktiven Partizipation teilnehmen. Ihr ursprüngliches Untersuchungsund Handlungsgebiet waren die nordamerikanischen
Suburbs, aber durch die Gründung des Congress for European Urbanism, der aus dem Congress for the New Urbanism hervorging, geriet auch die europäische Stadt zu
einem wichtigen Betätigungsfeld.
58
RegioPol eins + zwei 2011
Umwertungen, oder: Das historische
Zentrum als modernes Lehrstück
Bei aller Unterschiedlichkeit haben sämtliche zeitgenössischen städtebaulichen Theorien eines gemeinsam: Sie
gehen, euphorisch oder widerstrebend, vom Primat der
Peripherie aus. Ob politisch, sozial, ökonomisch oder
einfach nur faktisch legitimiert: Suburbia ist nicht nur
die Stadt der Gegenwart, sondern auch jene der Zukunft.
Sie vermag zwar befragt, analysiert, kritisiert, korrigiert
und modifiziert zu werden, wird aber nicht grundlegend
in Frage gestellt. Dabei, so scheint es, wäre es ebenso
ein Versuch wert, den entgegengesetzten Weg zu beschreiben: vom Stadtzentrum auszugehen, um die Peripherie zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verändern.
Zumal die Ablehnung oder gar Verunglimpfung der
historischen Stadt mitnichten eine Erfindung unserer
Zeit ist. Spätestens seit der Aufklärung war das alte
Stadtzentrum, die überkommene Stadt des Mittelalters
oder der Renaissance, die sich in Europa in der Regel auf
den Ruinen der antiken Stadt eingenistet hatte, Inbegriff
all dessen, wovon man sich im modernen Städtebau verabschieden wollte. Für den Marquis de Pombal war sie
eine obsolete Struktur, die in Lissabon das Erdbeben von
1755 ausradiert und unbedingt durch eine neue, den
neuen Anforderungen entsprechende ersetzt zu werden
hatte. Für Ildefonso Cerdá war sie innerhalb seines Ensanche für Barcelona wie ein Tuberkulosefleck in einer
Lunge: Da es ihm nicht gestattet wurde, den Fleck selbst
zu entfernen, tröstete er sich damit, dass die Innenstadtbewohner ihren Heimatort wohl freiwillig verlassen
w ürden, um sich in den quadratischen Wohnblöcken
­
zwischen dem großzügigen und hygienischen Straßenraster seiner Stadterweiterung niederzulassen. Für
George Eugène Haussmann war sie, jedenfalls in Paris,
ein Krankheitsherd und ein „fast unbenützbares Labyrinth“, in dem sich hauptsächlich Kriminelle und
­Aufständische verbargen und das es gewaltsam aufzubrechen galt. Für Le Corbusier war sie eine Maschine, die
nicht mehr funktionierte und mithin durch eine neue er-
setzt zu werden hatte, wofür er wortgewaltig zu radikalen „chirurgischen“ Operationen aufrief. Noch für Hans
Scharoun war sie ein unbrauchbares Überbleibsel aus
der Geschichte, das etwa in Berlin die Bombardements
des Zweiten Weltkriegs „mechanisch“ aufgelockert hatten (ein bemerkenswerter Euphemismus für die tabula
rasa, die etwa Roberto Rossellinis Film „Germania ora
zero“ dokumentiert), womit endlich die Chance eines
überfälligen „Neubaus“ gegeben wäre.
Ist das historische Stadtzentrum wirklich die unbrauchbare Spolie, als welche sie Scharen von Planern
und Architekten deklariert haben, von ihren Funktionen
entkleidet und ausgehöhlt, nur als Freilichtmuseum
tauglich, das von nostalgischen Touristen aufgesucht
wird? Und, wenn dem so wäre: Woher kommt es, dass alle diejenigen, die es noch dürfen oder es sich leisten
können, nach wie vor in den historischen Stadtzentren
wohnen, sofern diese nicht architektonisch und sozial
bis zur Unkenntlichkeit beschädigt worden sind? In den
Innenstädten von Paris, London, Mailand oder Zürich
­leben immer noch Menschen, und diese Menschen empfinden ihren zentralen Wohnort als Privileg, um das sie
beneidet werden.
In der Tat ist die Innenstadt nach wie vor nicht nur
ausgesprochen funktionstüchtig, sondern überwiegend
ein Ort hervorragender Lebensqualität. Man kann dort
gut wohnen, zumeist in großen und ruhig gelegenen
Räumen, mit Blick auf eine architektonisch attraktive
Umgebung. Man kann dort gut arbeiten, oft in umgenutzten Häusern, die offene, kommunikative und reizvolle Situationen schaffen. Man kann sich dort gut bilden, erholen und amüsieren. Und zwischen alledem
kann man sich gut bewegen, weil die Entfernungen in
wenigen Gehminuten zurückgelegt werden können. Hinzu kommt, dass die Wege angenehm sind: Sie führen
durch schön gestaltete und belebte Gassen, Straßen und
Plätze voller Läden, Cafés und Restaurants.
Gerade dieses System von öffentlichen Räumen, dieses, um das Wort von Haussmann zu verwenden, „Labyrinth“ erweist sich als vielleicht wichtigstes Element des
historischen Stadtzentrums. Es ist so fein vernetzt wie
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
59
Bei aller Unterschiedlichkeit haben
sämtliche zeitgenössischen städtebaulichen Theorien eines gemeinsam:
Sie gehen, euphorisch oder widerstrebend,
vom Primat der Peripherie aus.
nie wieder in der Geschichte der Stadt, die vor allem aus
kurzatmigen ökonomischen Gründen zunehmend gröbere Strukturen hervorgebracht hat; und durch eben
diese feine Vernetzung schafft es nicht nur direkte Verbindungen zwischen den verschiedenen Punkten der
Stadt, sondern dazwischen auch zahllose Gelegenheiten
der geplanten und ungeplanten Begegnungen und damit des zwischenmenschlichen Austausches. Dies macht
die alte Stadt zum Kommunikationsdispositiv: also zu
dem, was heute jedes aufgeklärte Privatunternehmen,
jede fortschrittliche und ambitionierte öffentliche Institution mehr oder minder künstlich zu reproduzieren versucht. Die zeitgenössische Bildungs- und Arbeitswelt
­erfindet alle möglichen Apparate und Strukturen, um
das Vermögen an Informationen, das sie verwaltet, aber
oft mangelhaft verwertet, besser zirkulieren zu lassen;
die historische Stadt ist ein Modell für vorbildliches
Knowledge Management. Genau im Gegensatz zu dem,
was Le Corbusier unentwegt behauptet hat, ist sie eine
extrem effiziente Maschine.
Die alte Stadt ist freilich noch viel mehr als dies. Entstanden in einer Zeit, als die urbs noch Abbild ihrer
­c ivitas und mithin kein Durcheinander von Funktionen
waren, sondern ein Wesen, förderte sie eine auch individuelle, persönliche Beziehung mit eben diesem Wesen.
Diese Beziehung ist eine kontinuierliche physische,
­intellektuelle und emotionale Auseinandersetzung. Sie
erlaubt Lernen und Erinnern und damit gemeinsame
Identifikationen jenseits aller Ungleichheit. Mit anderen
Worten: Sie fördert die Konstruktion und Verfeinerung
einer Gemeinschaft.
Insofern ist das historische Stadtzentrum ein Lehrstück; insofern ist es aber auch unersetzbar. Es ist ein
Lehrstück, weil viele seiner Eigenschaften extrapoliert
und in neue städtische Projekte übertragen werden können und müssen, um analoge positive Eigenschaften zu
erzielen. Es ist unersetzbar, weil zwar alles nachgeahmt
werden kann, nur nicht seine Geschichtlichkeit und seine
Materialisierung, die das besitzt, was die Denkmalpflege
den „Alterswert“ nennt. Anders ausgedrückt: Die historische Stadt ist eng mit dem Leben der Menschen ver-
knüpft und authentisch. Diese Authentizität und diese
Verknüpfung mit dem Leben vermag keine noch so perfekte Nachahmung zu reproduzieren. Und beide Qualitäten sind in einer Welt der Globalisierung, des Surrogats
und der Entfremdung von geradezu unschätzbarem
Wert.
Bausteine einer Theorie der städtischen
Dichte
Zu den zentralen Eigenschaften, die aus dem Lehrstück
des historischen Zentrums extrapoliert und in neue
städtebauliche Projekte übertragen werden können und
müssen, gehört die städtische Dichte: Sie ist, gerade
weil sie auf verschiedenen Ebenen greift, aktueller und
moderner denn je.
Für die bauliche Dichte sprechen zunächst einfache
funktionale Gründe. Je enger die Häuser zusammen­
rücken, desto besser ist ihre Verbindung untereinander:
So können sich bequeme und durchaus auch kreative
­Synergien bilden. Und je enger auch die unterschiedlichen Nutzungsbereiche der Stadt zusammenrücken, die
Wohnviertel, die Arbeitsstätten, die Kulturbauten und
die Freizeiteinrichtungen, umso eher und öfter wird zwischen ihnen ein Austausch stattfinden. Dabei entfallen
die langen Wege, welche die Peripherie verlangt, und
ebenso die aufwändigen Verkehrserschließungen. Vieles kann zu Fuß erreicht werden, und das Automobil
kann wenigstens ansatzweise aus der Stadt herausgehalten werden.
Dies umso mehr, als die klassische räumliche Trennung von Arbeit und Privatleben in der modernen Gesellschaft zunehmend aufgehoben wird. Dieser Lebensart kommt die Nähe von Haus und Arbeitsort, wie sie die
gotische Stadt bereits vorgeführt hat, wieder stark entgegen. Zudem wollen auch und gerade diejenigen Menschen, die ein berufszentriertes Leben führen, ihre Zeit
nicht mit langen Wegen verschwenden – und schon gar
nicht mit außerberuflichen Pflichten. In der städtischen
Dichte entwickelt sich auch dafür leichter ein entspre-
60
RegioPol eins + zwei 2011
chendes Angebot wie Haushaltshilfen, Lieferservice,
­C atering und Wäscherei. Nicht zuletzt deswegen ist die
City ein kongeniales und inspirierendes Umfeld für kreative Berufsleute. Auch denjenigen, die in der eigenen
Wohnung arbeiten, fällt es dort leichter, ein soziales und
professionelles Netz zu knüpfen.
Zusammengefasst: Die räumliche Nähe erleichtert
­alle Funktionen der Stadt, vom Wohnen zum Arbeiten
über die Freizeit, und minimiert dabei den Verkehr. Dadurch fördert sie gerade jene Mischung von Aktivitäten,
die Urbanität ebenso attraktiv wie inspirierend macht.
Damit erhält die physische städtische Dichte auch
­eine sozialpolitische Dimension. Die historisch mit der
Stadt verbundene Hoffnung auf Emanzipation, die im
Satz „Stadtluft macht frei“ zusammengefasst wurde und
bereits in der Antike, vor allem aber im Mittelalter einen
handfesten Hintergrund hatte, besteht heute ebenso,
wenngleich unter veränderten Umständen. Es sind nicht
mehr die unterdrückten Bauern und bedrohten Händler,
die in der Stadt eine neue Freiheit finden, sondern die
Zuwanderer, denen im differenzierten Arbeitsmarkt und
in der metropolitanen Anonymität die Chance eines ökonomisch gesicherten und sozial integrierten Lebens
­geboten wird. Auch dafür steht das urbane Zusammenrücken.
Doch bietet die städtische Dichte nicht nur den Menschen, die von der Fremde kommen, eine bessere
­Lebenschance: Auch diejenigen, welche die moderne
Gesellschaft tendenziell wieder ausgrenzt, finden in ihr
Schutz und Komfort, nämlich die Alten. In einem dichten
Stadtgewebe können sie, auch wenn sie nicht mehr sonderlich mobil sind, vom Lebensmittelladen bis zum Arzt
und von der Wohnung der Nachbarn bis zum Kino alles
besser erreichen. Weiterbildung bleibt ebenso möglich
wie die Pflege sozialer Kontakte. Da die moderne Gesellschaft, zumindest die europäische, immer älter wird,
­gerät Dichte aus gesellschaftspolitischen Gründen zu
­einem modernen Postulat.
Aber auch aus ökonomischen Gründen. Das Leben in
der Peripherie scheint preiswert zu sein, weil dort die
Mieten respektive die Grundstückskosten in der Regel
niedriger liegen als in der Stadt, ist es aber in Wahrheit
nicht. Die langen Wege ins Büro, zum Einkaufszentrum,
zum Multiplexkino oder einfach ins Stadtzentrum schlagen, zumal sie sich periodisch wiederholen, im Familienbudget zu Buche; vor allem wenn sie nicht mit öffent­
lichen Verkehrsmitteln, sondern mit dem Privatwagen
zurückgelegt werden. Dieser ist in den weitläufigen Vorortsiedlungen, in denen man bis zur nächsten Bushaltestelle kilometerweit laufen muss, oft die einzige Option.
Das Automobil wird in der Peripherie zum unverzicht­
baren Hilfsmittel, und zwar nicht nur für jede Familie,
sondern letztlich für jeden Einzelnen: Nicht umsonst
spricht man neuerdings von Zwangsmobilität. Allein in
der Schweiz hat laut einem Bericht des Bundesamts für
Raumentwicklung (ARE) die Zahl der Pendler seit 1970
um 41 Prozent zugenommen, rund zwei Drittel der Erwerbstätigen arbeiten nicht in der Gemeinde, in der sie
wohnen. Parallel dazu haben sich der Einkaufsverkehr
(vor allem zwischen Wohnung und Einkaufszentren) und
der Freizeitverkehr exponentiell entwickelt. Und die täglichen Fahrten kosten nicht nur Geld, sondern auch Zeit.
Ein europäischer Pendler verliert im Durchschnitt 12 bis
14 Stunden Zeit pro Monat im Vergleich zu einem Innenstadtbewohner; das entspricht sechs Kinofilmen, fünf
Restaurantbesuchen oder vierzehn Joggingrunden. Das
Leben in der Peripherie ist mithin sowohl für diejenigen
unwirtschaftlich, die auf das Geld schauen müssen, als
auch für diejenigen, die es sich zwar leisten könnten,
aber mit ihrer Freizeit sorgsam haushalten.
Dichte ist indessen nicht nur für den Einzelnen ökonomisch vorteilhaft, sondern auch für die Gemeinschaft.
Jede Vorortsiedlung setzt aufwändige Verkehrs­
erschließung, Kanalisation und Anschlussleitungen
­voraus; Einrichtungen, die eine kompakte Ansiedlung in
geringerem Maße benötigt und besser auslastet. Die
Jahreskosten für Bau, Betrieb und Werterhalt der Straßen, Wasser-, Abwasser- und Elektrizitätsversorgung
pro Einwohner betragen bei verdichteter Bebauung
­weniger als 1.000 Schweizer Franken; bei einer Einfami­
lienhaus-Siedlung mehr als das Doppelte. In der gesamten Schweiz könnten laut einer Rechnung von ProNatura
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
jährlich bis zu zwei Milliarden Franken an Infrastrukturen
eingespart werden, wenn man verdichtet bauen würde.
Suburbia ist das Produkt eines Wohlstands, der in der
Geschichte der Menschheit einmalig war und wohl kaum
aufrechterhalten zu werden vermag. Wenn unsere Gesellschaft ihre Lebensqualität unter veränderten ökonomischen Bedingungen bewahren will, wird sie sich von
manchem verabschieden müssen, was sich im Unterhalt
und in der Benutzung als zu kostspielig erweist: darunter von weiten Teilen der Zwischenstadt.
Dies legen bereits einfache marktwirtschaftliche
Überlegungen nahe. Weltweit befinden sich die Städte in
einem Wettbewerb um die besten Fachleute der verschiedenen Berufssparten, weil diese für ihre Ökonomie
unverzichtbar und für ihre Prosperität entscheidend
sind. Sie können sie nur anziehen und halten, wenn sie
ihnen attraktive berufliche Chancen und hohe Lebensqualität bieten. Beides ist in dichten Ansiedlungen eher
gegeben als in der Peripherie: die auch unter diesem
­A spekt zum Auslaufmodell gerät.
Freilich nicht nur aus ökonomischen, sondern auch
und vor allem aus ökologischen Gründen. Der gegenwärtige Landschaftsverbrauch durch Baulandausweisung
ist unverantwortlich: In der Schweiz beträgt er etwa einen Quadratmeter pro Sekunde. Und auch abgesehen
von der Naturzerstörung, die sie rein flächenmäßig mit
sich bringt, stellt jede Ansiedlung eine Umweltbedrohung dar: Eine Stadt mit einer Million Einwohner verbraucht täglich 9.500 Tonnen fossiler Brennstoffe, 2.000
Tonnen Nahrungsmittel, 650.000 Tonnen Wasser und
31.500 Tonnen Sauerstoff; zugleich produziert sie
500.000 Tonnen Schmutzwasser, 28.500 Tonnen Kohlendioxyd und jede Menge anderer Abfälle. Von diesen
anderen, also soliden Abfällen werden etwa in Manila
7.000 Tonnen pro Tag produziert. Und eine Stadt wie
­Jakarta, deren Fläche sich seit den siebziger Jahren des
20. Jahrhunderts verachtfacht hat, benötigt hundertmal
mehr Ressourcen, als seine eigene produktive Fläche
hergibt. Die Energie- und Verschmutzungsbilanz verschlechtert sich exponentiell, wenn die Stadt nicht mehr
eine Stadt ist, sondern Suburbia. Neben dem erhöhten
61
Energieverbrauch durch den motorisierten Verkehr sind
der erhöhte Heizbedarf der einzelstehenden Häuser mitsamt der damit zusammenhängenden Emissionen daran
schuld. Hinzu kommt die Versiegelung von unverhältnismäßig großen Naturflächen, womit das ökologische
Gleichgewicht zusätzlich belastet wird.
Geselligkeit und Verfeinerung
des Menschen
Doch ist und bleibt das ausschlaggebende Argument zugunsten der städtischen Dichte das kulturell-politische.
Gleichzeitig mit der Entstehung der antiken Stadt begann man, das Wort urban sowohl für all das zu verwenden, was mit Stadt zusammenhing, als auch für einen
entsprechend zivilisierten menschlichen Umgang. Seitdem wurde die Stadt als der Ort betrachtet, in dem sich
der Mensch als soziales Wesen entwickeln und verfeinern konnte. David Hume hat dies in seinem Essay „Von
der Verfeinerung in den Künsten“ souverän auf den
Punkt gebracht: „Je mehr sich diese verfeinerten Künste
fortbilden, um so geselliger werden die Menschen; und
es ist auch nicht denkbar, dass sie sich etwa, sobald sie
genügend Wissens- und Gesprächsstoff angesammelt
haben, damit zufriedengäben, für sich allein zu bleiben,
oder mit ihren Mitbürgern in jener distanzierten Art zu
leben, welche ignoranten und barbarischen Nationen
­eigen ist. Sie ziehen gruppenweise in die Stadt, lieben
es, Wissen aufzusaugen und auszuteilen, ihren Geist
und ihre guten Manieren vorzuführen, ihren Geschmack
in Konversation und Lebensführung, in Kleidung oder
Einrichtung. Neugier lockt den Klugen an, Eitelkeit den
Narren, und das Vergnügen beide. Überall formieren sich
besondere Clubs und Gesellschaften. Beide Geschlechter begegnen sich in einer leichten und geselligen Art
und Weise, und der Charakter wie auch das Benehmen
der Menschen verfeinern sich entsprechend.“
Ganz im Sinn der europäischen Aufklärung, zu deren
exponiertesten Protagonisten er zählt, beschwört Hume
die Stadt als Dispositiv zu Verbesserung und Verfeine-
62
RegioPol eins + zwei 2011
rung des Menschen; und den Antrieb dieses Dispositivs
entdeckt er in der Neigung, ja der Leidenschaft, „Wissen
aufzusaugen und auszuteilen“. Dabei geht es nicht, wie
der Aufklärung zuweilen diskreditierend unterstellt
wird, um eine mechanische, additive Anhäufung von
Kenntnissen, sondern um individuelle und ganzheitliche
Vervollkommnung. Mit ihren anspruchsvollen zwischenmenschlichen Verkehrsformen bietet die städtische Kultur hierfür das Modell, aber auch die konkrete Herausforderung.
Darauf weist auch Alfred Döblin hin, der mit seinem
Roman „Berlin Alexanderplatz“ 1929 die zeitgenössische Großstadt vorbehaltlos zur eigenen Sache machte,
wenn er fünf Jahre zuvor im Aufsatz „Der Geist des naturalistischen Zeitalters“ schreibt: „Die Städte sind
Hauptorte und Sitze der Gruppe Mensch. Sie sind der
­Korallenstock für das Kollektivwesen Mensch. Hat es da
einen Sinn, Land und Stadt gegenüberzustellen? Man
kann an den Städten manches schwach und gefährlich
finden, man kann in dem Streit der Triebe, die in den
Städten arbeiten, Partei ergreifen. Man kann aber nicht
die Städte selbst, die Brennpunkte des Gesellschaftstriebes, ablehnen oder überhaupt bewerten.“
Als Döblin solcherlei äußerte, war die Großstadt, die
seit Jahrtausenden existierte, erstmalig zum Mythos
­geworden. Sie galt als Brennpunkt des Massenzeitalters,
als Entstehungsort fortschrittlicher Kultur, als Zivilisa­
tionsmaschine par excellence; und sie wurde als die
­gigantische Schmiede angesehen, in welcher der „neue
Mensch“ geschaffen wurde. Bereits Georg Simmel hatte
in „Die Großstädte und das Geistesleben“ die Vergeistigung als Grunddimension des Daseins dargestellt und
damit kühn sämtliche späteren Großstadt-Theorien vorweggenommen. In vermutlich unbewusster Anlehnung
an Hume beschrieb Heinrich Mann in seinem Essay
„­
Berlin“ 1921 die große Stadt als den einzigen Hort
­gegen das Antizivilisatorische, wo allein die Verfeinerung der Sitten stattfinden könne, der Einzug der „gesitteten Formen“ und der Verkehr der „verfeinerten, kritischen und tapferen Gesichter“. Und wenn es auch nicht
an Stimmen fehlte, die mit Oswald Spengler gegen
die „dämonischen Steinwüsten“ wetterten, blieb das
„symphonische“ metropolitane Zusammenwirken von
Mensch, Architektur und Maschine für den überwiegenden Teil der Öffentlichkeit ebenso faszinierend, wie es
Walter Ruttmann in seinem berühmten Berlin-Film aus
dem Jahr 1929 eindringlich darstellte.
Öffentliche Räume für die res publica
Bereits damals war klar, dass es nicht genügt, viele Menschen auf engem Raum anzusiedeln, um Kultiviertheit
und Sittenverfeinerung aufkommen zu lassen; aber
auch, dass ohne dichte Ansiedlung Urbanität so gut wie
unmöglich ist. Eine zentrale Rolle spielten und spielen
dabei die öffentlichen Räume, die weitaus mehr sind als
hübsche Zutaten für schöngeistige und privilegierte, auf
jeden Fall aber weltfremde Faulenzer. Bevor er techno-
kratisch besetzt und kommerziell umgewidmet wurde,
war der Stadtraum der Ort, wo das Individuum sich im
Sinne Humes verfeinern und eben dadurch in die Lage
versetzt werden konnte, sich im Sinne Döblins auf seine
Mitmenschen einzulassen. Er war mit anderen Worten
der Ort der res publica schlechthin: in dem sie geboren,
erfunden, gepflegt und verwaltet wurde.
Tatsächlich ist der Geburtsort der modernen Demokratie nicht ein Wald oder ein Park, auch nicht eine Patriziervilla oder eine Anwaltskanzlei, sondern ein urbaner
Raum: die Agora von Athen. Die politische Geschichte
unserer Zivilisation, die helle wie die düstere, wurde auf
den Plätzen unserer Städte gemacht: Auf dem Forum
­Romanum wurden die Zwölf Tafeln aufgestellt, das älteste und grundlegendste Rechtsdokument des antiken
Rom, und dort wurden auch Tiberius Sempronius
Gracchus und seine Gesinnungsgenossen von den
­
­A nhängern der reaktionären Senatspartei erschlagen;
auf der Piazza della Signoria in Florenz ließ die Inquisi­
tion Gerolamo Savonarola verbrennen; auf dem Campo
de’ Fiori im mittelalterlichen Herzen Roms wurde Giordano Bruno hingerichtet; auf der Pariser Place de la
Révolution (ursprünglich ausgerechnet Place de Louis
XI, dann Place Neuve, heute Place de la Concorde) fiel ein
Großteil der französischen Aristokratie unter der Guillotine; der auf dem Berliner Königsplatz versammelten
Menge verkündete Philipp Scheidemann das Ende des
Kaiserreichs und die Geburt der Republik; von der Mailänder Piazza di San Sepolcro nahm der italienische
­Faschismus seinen Anfang, um über die demagogischen
Triumphe von Piazza Venezia in Rom auf der trostlosen
Fläche von Piazzale Loreto, wiederum in Mailand, ein
gleichermaßen trostloses Ende zu finden; auf dem ­Roten
Platz in Moskau wurden die Riten des Realen So­z ialismus
abgehalten; die Protestkundgebungen auf dem Prager
Wenzelsplatz führten zur Überwindung der polnischen
Diktatur.
Die Kirchen schufen sich Plätze und Straßenzüge, um
Predigten und Prozessionen wirkungsvoll abzuhalten,
die wirtschaftlichen Mächte die Grand’Place in Brüssel,
den Alten Markt, heute Rynek Glowny in Krakau, die
­P iazza degli Affari in Mailand. Und für die großen Spiele,
für die Turniere, Wettkämpfe, Theatervorführungen und
Stadtfeste wurden eigens Plätze wie der Campo in Siena
oder die Piazza Castello in Turin oder der Largo di Palazzo in Neapel oder die Place Royale (heute Place des
­Vosges) in Paris eingerichtet.
Heute sind die Mechanismen der Politik, der Religion,
der Ökonomie und der Kultur subtiler und diffuser, aber
auf die urbanen Räume können und wollen sie nicht verzichten. Nach wie vor finden große politische Kund­
gebungen nicht nur im Fernsehen, sondern auch und in
erster Linie im urbanen Raum statt. Nach wie vor verleiht
der Papst seinen Ostersegen urbi et orbi auf jenem
­Petersplatz in Rom, den Gian Lorenzo Bernini für Alexander VII. gestaltet hat. Nach wie vor drängen die multinationalen Großbanken an die noblen städtischen Straßen,
Alleen und Esplanaden. Nach wie vor finden Feste und
Konzerte auf den Domplätzen, den Marktplätzen, den
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
Hauptplätzen der europäischen (und nicht nur europäischen) Metropolen statt. Denn nach wie vor sind diese
der Ort der Öffentlichkeit par excellence. So haben sich
auch die Vorhersagen nicht bewahrheitet, in der neuen
Ära der ubiquitären Telekommunikation würde die Funktion der Stadt als Begegnungsort obsolet werden. Im Gegenteil: Gerade jene Menschen, die viel mit dem Computer arbeiten, wollen nicht isoliert bleiben und suchen
verstärkt die persönliche Begegnung. Und gerade diese
wird mit zunehmender Dichte der Stadt wahrscheinlicher. Dabei hat das Internet auch die inte­grative Funktion der urbanen Ballungsräume nicht übernehmen können. Diese integrative Funktion ist umso ­bedeutsamer
geworden, je mehr die vor allem ökonomisch bedingten
Migrationsströme die Kulturen zusammenwürfeln. Dabei sind die zufälligen Begegnungen, die durchaus auch
Irritationen hervorrufen, die beste ­Gewähr gegen Fragmentierung und Extremismus. Denn sie zeigen die Unterschiede auf, aber auch die Möglichkeiten, trotz der
Unterschiede dadurch zusammenzuleben, dass man
über sie hinweg kommuniziert. Dies ist nicht nur Überlebensstrategie, sondern Bereicherung. Die Städte sind
öffentliche Einrichtungen für die Produktion individueller Erlebnisse. Je dichter die Stadt, umso mehr Erlebnisse birgt sie: nicht nur zur Sittenverfeinerung und Erbauung, sondern auch zum produktiven Vergnügen.
Für die neue Stadt des
Zusammenrückens
Es ist kein Zufall, dass die neue Stadt des Zusammenrückens, die neue Stadt der Dichte bislang nicht realisiert
wurde; ebenso wie es kein Zufall ist, dass die Peripherie
so ausgedehnt und so ausgefranst ist, wie sie ist. Die
Letztere ist weniger ein Produkt falscher Planung als ein
Produkt falscher Präferenzen: politisch gewollt und mit
gesetzlichen Instrumenten und finanziellen Anreizen
forciert. Diese Anreize, diese Instrumente und dieser
Wille müssen umgepolt werden. Doch zunächst (und bis
zu einem gewissen Grad auch unabhängig davon) müssen für die Stadt der Dichte architektonische Leitbilder
entwickelt werden.
Tatsächlich führt die architektonische Umsetzung
des Dichtepostulats nicht zu einer von vornherein definierten Stadtform. In den rund zehn Jahrtausenden, in
denen dichte Städte existieren, sind die unterschiedlichsten Typologien entwickelt worden, um möglichst
viele Menschen auf möglichst wenig Boden anzusiedeln.
Sie sind von Ort zu Ort, von Klima zu Klima, von Technologie zu Technologie und vor allem von Kultur zu Kultur
verschieden.
Auf dieser Verschiedenheit wird eine zeitgenössische
Stadtarchitektur der Dichte aufbauen. Sie muss in die
Vergangenheit zurückblicken, um von ihr zu lernen; etwa
von den vielfältigen und attraktiven Großwohnanlagen,
die das pauschal diskreditierte späte 19. Jahrhundert in
fast allen euroäischen Metropolen entwickelt hat; etwa
in Berlin die großartige Hofanlage von Riehmers Hof­
63
garten mit der Miethausgruppe St. Bonifatius, den
(­heute zerstörten) Goethepark oder die erfolgreich revitalisierten Hackeschen Höfe. Und sie wird mit Expe­
rimenten in die Zukunft weisen müssen, die aus den
neuen Lebensgewohnheiten und sozialen Strukturen
­
ebenso neue Wohnformen erfinden, die Nähe und Ab­
geschirmtheit zugleich ermöglichen. Auch hierfür gibt
es bereits vielversprechende zeitgenössische Ansätze.
Mit solcherlei Experimenten wird man nicht aufs Land
ziehen, um es weiterhin frohgemut in Bauland zu verwandeln, sondern zunächst in die Stadtgebiete. Sie bergen selbst in zentralsten Bereichen Brachflächen, die erfindungsreich bebaut und intelligent genutzt werden
können. Vor allem aber wird man sich die Peripherie mit
ihren untergenutzten oder ganz und gar ungenutzten
Grundstücken vornehmen müssen. Allein in der Schweiz
summieren sie sich zu einer Fläche, die jener der Stadt
Genf entspricht und Raum für 13.000 Betriebe mit insgesamt 140.000 Menschen und für Wohnungen und Wohnfolgeeinrichtungen für 190.000 Menschen böte. Es gilt
also, neue Verdichtungsstrategien zu entwickeln, die
den besonderen Bedingungen und dem besonderen
Charakter der Vorstadt gerecht werden. Dabei wird man
manche Überraschung erleben. So ist beispielsweise Los
A ngeles, jene kalifornische Megalopolis, die aus 177
­
Städten besteht, das am dichtesten bewohnte Gebiet
der Vereinigten Staaten von Amerika: dichter als New
York oder Chicago. Los Angeles gehört aber auch zu den
Großstädten, die am wenigsten Wolkenkratzer hat.
Mit anderen Worten: Die Hochhausstadt ist nicht notwendige Bedingung für Dichte.
Natürlich würde der Befund anders aussehen, wenn
man den Vergleich mit Manhattan und dem Loop ziehen
würde. Immerhin zeigt das Beispiel, dass Dichte keine
stadttypologische Konditionierung bedeutet; und dass
es im zeitgenössischen Urbanismus nicht um die Quantität, sondern um die Qualität der Dichte gehen muss.
Für diesen Wert gibt es kein objektives und vor allem
kein allgemein gültiges Maßsystem. Nimmt man ihn
ernst, verabschiedet man sich ein für allemal von den
stereotypen Bildern, die der Topos der dichten Stadt
­heraufbeschwört. Und stellt sich der Herausforderung
eines schier unübersehbaren Feldes von neuen baulichen Formen des städtischen Zusammenrückens, die
darauf warten, entdeckt, geprüft und umgesetzt zu
­werden.
Die Architektur der Dichte wird überall anders sein,
flächendeckend oder aufgetürmt, einheitlich oder gegliedert, geometrisch oder diffus. Die Option der Dichte
steht nicht zur Debatte, weil sie funktional, ökonomisch,
ökologisch, gesellschaftlich und kulturpolitisch unvermeidlich ist; ihre Umsetzung hingegen wohl. So werden
unsere Städte das bleiben, was sie, wenn sie den Namen
verdienen, immer waren: Orte der Vielfalt, der Unterschiedlichkeit und der Überraschung.
64
RegioPol eins + zwei 2011
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
65
Klaus R. Kunzmann
Von der europäischen Stadt,
über die Stadt des Wissens
und die kreative Stadt,
zum Archipel der Stadtregion
I
n Zeiten der Globalisierung stehen nicht nur Staaten
und Märkte im Wettbewerb, sondern auch Städte. Sie
konkurrieren um Investitionen, um kulturelle, sportliche und politische Events, um Medienaufmerksamkeit,
insbesondere aber um hoch qualifizierte Arbeitskräfte.
Dieser Wettbewerb veranlasst Städte, ihre Stadtentwicklungspolitik darauf auszurichten. Sie fördern Museen,
lassen sie bevorzugt von berühmten Architekten errichten, damit die Projekte als Leuchttürme über die lokalen
Grenzen hinausstrahlen. Sie preisen mit schönen Worten die Vorzüge der Stadt und merken oft gar nicht, dass
es dieselben Merkmale sind, die andere Städte auch zur
Schau stellen. Sie initiieren Ereignisse, die heute Events
heißen, um erhöhte Medienaufmerksamkeit zu erzielen.
Städte bewerben sich um sportliche, kulturelle, wirtschaftliche oder auch politische Großereignisse, weil sie
wissen, dass nur aus der Alltagsroutine der kommunalen
Politik herausragende Ereignisse, wie Festivals, Olym­
piaden oder politische Gipfelgespräche, zusätzliche
­finanzielle Mittel in die Stadtkasse bringen, die überregionale oder gar internationale Medien auf die Stadt
aufmerksam machen und Journalisten, Investoren und
Touristen anziehen. Wie Unternehmen der Immo­
bilienbranche zeigen auch Städte Präsenz auf inter­
nationalen Immobilenmessen, den Jahrmärkten der
­Investoren- und Bürgermeistereitelkeiten, um gebaute
Stadtvisionen an den Mann oder die Frau zu bringen,
oder zumindest, um die Standortvorzüge der Stadt zu
dokumentieren. Bei diesem Standort-Wettlauf geht es
um Arbeitsplätze und hoch qualifizierte, kreative Arbeitskräfte, um Talente, um Investoren und Investitionen, um steuerzahlende Bewohner und Betriebe, auch
darum, erfolgreiche Unternehmer, eingesessenen Handel, lokales Kapital und die besten Wissenschaftler und
Absolventen der Universitäten und Hochschulen am Ort
zu halten. Dieser globale Wettbewerb findet statt. Das
Geschäft mit dem Wettbewerb veranlasst Marktfor­
schungsinstitute und Beratungsunternehmen mit Hilfe
mehr oder weniger nachvollziehbarer Indikatoren Rangfolgen der Attraktivität, der Wirtschaftskraft, der Kreativität, der Nachhaltigkeit oder auch der allgemeinen
b Brechthaus, Augsburg
L­ebensqualität zu erstellen. Dieser Wettbewerb zwingt
Städte, sich mehr darum zu kümmern, was an anderen Orten geschieht, auch städtische Außenpolitik zu betreiben,
die über Städtepartnerschaften hinausgeht. Immer wieder
wird der globale Wettbewerb als Vorwand genutzt, um
kommunale Projekte durchzusetzen, die in der lokalen Bevölkerung umstritten sind. Die Geschehnisse um Stuttgart
21 sind das beste Beispiel dafür. Doch alle diese Rankings
und das darauf reagierende Benchmarking verschärfen
den Wettbewerb der Städte nur noch weiter.
Die europäische Stadt
Es sind ganz unterschiedliche Erfahrungen und Anliegen, die die europäische Stadt zu einem viel diskutierten
Paradigma der Stadtentwicklung gemacht haben. Es
sind die Bebachtungen über die gesichtslose Entwicklung von sich immer weiter ausdehnenden Stadtlandschaften. Es ist die Angst vor dem Verlust der Identität
europäischer Städte durch konsumorientierte Strategien des Handels, der mit der Renaissance innerstädtischen Lebens einhergeht. Es ist vielleicht aber auch die
Furcht vor dem Verlust europäischer Identitäten vor dem
Hintergrund urbaner Entwicklungen in Asien, Afrika und
Lateinamerika.
Mit vielen Worten haben Historiker und Soziologen,
Architekten und Urbanisten, Städtebauer und Raumplaner die Schönheit, aber insbesondere die kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Errungenschaften
der europäischen Stadt beschrieben. Die europäische
Stadt ist eine Stadt mit viel Urbanität in ihren historischen Stadtkernen, mit ihren Kirchen, Palästen und Bürgerhäusern mit prächtigen Repräsentationsbauten feudaler Vergangenheit, mit Gassen, Boulevards, Passagen
und Marktplätzen, mit öffentlichen Parks und Unterhaltungsvierteln.
Es ist diese europäische Stadt, die Architekten und
Urbanisten am Herzen liegt, die Fremdenverkehrsmanager preisen und die werbeträchtige Journale zwischen
Anzeigen für Luxuskarosserien, Modelabel und Luxus­
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RegioPol eins + zwei 2011
küchen beschreiben, in denen schlank machende Essensrezepte mit Produkten regionaler Küche erprobt werden.
Dieses identitätsstiftende Bild der europäischen Stadt
wird in klugen Essays und theoretischen Annäherungen in
wissenschaftlichen Journalen, stadtpolitischen Schriften
dokumentiert. Es wird in Diplomarbeiten und Dissertationen hundertfach analysiert und beschworen.
Im fachlichen Diskurs wird die europäische Stadt
meist den gesichtslosen, suburbanisierten Stadtlandschaften gegenübergestellt, die im letzten Jahrhundert
in Nordamerika entstanden sind und die in Asien, Afrika
und Lateinamerika gegenwärtig entstehen, weil immer
mehr Menschen vom Land in die großen Städte ziehen,
um Beschäftigung zu finden, aber auch um die verlockenden Konsum- und Unterhaltungsangebote von Metropolen zu nutzen.
Der Diskurs über die europäische Stadt ist ein Diskurs
zwischen Sehnsucht und sozialer Wirklichkeit und vielleicht auch ein Diskurs, der das drohende Ende der (alten) europäischen Stadt betrauert, die natürlich nicht
am Ende ist. Aber es ist ein Hinweis darauf, dass die neuen Städte der Geschichte, die Städte des 21. Jahrhunderts in Asien entstehen, und zwar in einer atemberaubenden Geschwindigkeit, die alles, was Europa erfahren
hat, bei Weitem übersteigt.
Bei all diesen Huldigungen der europäischen Stadt
wird ihre Vergangenheit leicht verklärt. Dabei war die europäische Stadt, deren Luft angeblich so frei machte, immer auch eine Stadt der sozialen Polarisierung, mit einer
feudalen oder bürgerlichen Oberklasse, die schon im
Mittelalter die sozial schwächeren und kulturell andersartigen Stadtbewohner an den Rand oder sogar vor die
Mauern der Stadt verdrängte. Die europäische Stadt ist
daher auch die Stadt sozialer Gegensätze und Armutsinseln, die Stadt, die von Grundbesitzern dominiert und
immer wieder von Grundstücksspekulanten manipuliert
wird. Diese europäische Stadt ist aber auch die Stadt der
Bürgergesellschaften, die Stadt von mutigen und weitsichtigen, wie von ängstlichen und engstirnigen Bürgerinitiativen, von mächtigen und ohnmächtigen Bürgermeistern.
„Europäische“ Städte gibt es überall in Europa. Das
sind Paris natürlich, auch London, Berlin und Rom. Das
sind Mailand, Madrid, Neapel und Lissabon, Kopenhagen, Stockholm und Helsinki, Amsterdam und Antwerpen, oder Prag, Krakau und Budapest. Doch in diesen
Städten sind es in der Regel nur die historischen Stadtkerne, die die Bilder der europäischen Stadt bestimmen,
nicht die verstädterten Vorstadtlandschaften, in denen
inzwischen mehr Menschen leben und arbeiten als in
den konsumorientierten und verkehrsberuhigten Kernen der großen Städte.
Die europäische Stadt, das sind aber auch die europäischen Industriestädte, die seit der Industrialisierung
mehr als ein Jahrhundert lang die wirtschaftliche und
politische Dominanz Europas sicherten, wie Manchester,
Sheffield und Newcastle-upon-Tyne oder Liverpool, wie
Dortmund, Leipzig, Essen und Oberhausen oder auch
Städte wie Lille, Brescia oder Turin. Es sind Städte, deren
Wachstum und wirtschaftlicher Aufschwung den neuen
industriellen Technologien der Massenproduktion zu
verdanken ist, ebenso wie dem weltweiten Export der
dort produzierten Massengüter und der vor- und nachgelagerten Dienstleistungen. Diese Städte waren der
geographische Hintergrund für die moralisch und politisch motivierten Schilderungen der sozialen Folgen der
Industrialisierung. Die Lebensbedingungen in den Massenquartieren dieser Industriestädte waren es, die die
Stadtbewohner zur Flucht in das ländliche Umfeld veranlassten, sobald sie sich dies leisten konnten.
Europa ist vor allem auch ein Kontinent mit tausenden
lebendigen und attraktiven Klein- und Mittelstädten. Dort
werden noch Traditionen gepflegt, dort sind Stadt und
Land noch in symbiotischem Austausch und der lokale
Handel ist noch nicht von globalen Ketten verdrängt, weil
er noch von lokalen Familien getragen und nicht von
­Absolventen internationaler Business Schools auf internationale Konsumströmungen ausgerichtet ist. Der museale
Erhalt der historischen Stadtlandschaft wird nicht mehr in
Frage gestellt, auch wenn es immer wieder zu Auseinandersetzungen um allzu profitorientierte Eingriffe von Investoren in die historische Bausubstanz kommt.
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
Doch diese großen und kleinen europäischen Städte
sind nur ein kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit Europas mit
ihren unterschiedlichen kulturellen Traditionen. Denn die
europäische Stadt, das sind auch die weniger attraktiven,
versiedelten Stadtlandschaften zwischen Autobahnausfahrten und historischen Innenstädten, geplant von denjenigen, sie sich auf das bauliche und planerische Erbe von
Bürgerstädten und feudalen Residenzstädten berufen. Die
europäische Stadt, das sind eben auch die in Jahrzehnten
wie Lebensringe eines Baumes gewachsenen Stadtquartiere an lauten vorstädtischen Einfallstraßen von Autobahnknoten, Flughafenstädten und gentrifizierten Dörfern, das sind neue Industriegebiete, Logistikzentren,
Verbrauchermärkte und ausgelagerte Wissenschaftsparks.
Es sind mehr oder weniger urbane Stadtlandschaften, die
in Dortmund oder München nicht viel anders aussehen als
in Osaka, Nanjing oder Cleveland. Es sind oft nur noch die
Schriftzüge der Reklametableaus, die die Nationalität der
Stadt verraten. Diese andere Realität der europäischen
Stadt ist weder für die Mitglieder der ständig wachsenden
Wissensgesellschaft, noch für die der Kreativwirtschaft
und schon gar nicht für diejenigen attraktiv, die die finanziellen Möglichkeiten haben, „schöne“, bequeme und vor allem auch vorzeigbare Standorte mit hoher Lebensqualität
für ihre Lebens- und Arbeitsräume zu wählen.
Diese andere Wirklichkeit der europäischen Stadt
nachhaltig und planvoll zu verändern, hat in einer polarisierten und multi-kulturellen Gesellschaft keine Chance,
denn die maßgeblichen raumgestaltenden Kräfte der
Raumentwicklung in Stadtregionen sind die individuellen Bedürfnisse und Rechte der Grundbesitzer in einer
demokratischen Gesellschaft, etablierte Rechtssysteme
und der Einfluss der Banken, großer internationaler
­Investoren und der Immobilienwirtschaft, auch die Macht
der regionalen Bauwirtschaft und ihrer vielfältigen Zulieferindustrien. Sie alle haben meist nur wenig Interesse, die gestalterische Entwicklung dieser Räume zu
­beeinflussen. Abgesehen von kontrovers diskutierten,
neu-­
urbanistischen Experimenten retrospektiver Gartenstadtbewegungen gibt es allerdings auch keine
­überzeugenden, Konsens findenden Modelle dafür. Ratio-
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nales Handeln von Infrastrukturplanern und die Gemeinschaft der Architekten und Planer haben die Räume der
Stadtregion im öffentlichen Auftrag aufgeschlossen und
gestaltet. Wenn dann die Ergebnisse dieser Planungen
den selbst gestellten Anforderungen nicht oder nur
punktuell genügen, dann liegt dies an der Ohnmacht der
Planer, Entwicklungen zu kontrollieren oder noch besser: räumliche Entwicklungen im öffentlichen Interesse
vorzudenken und gestalterisch zu begleiten. Vielleicht
auch an der Ausbildung von Architekten, die wenig Interesse und Kompetenz an urbanen, wirtschaftlichen und
politischen Zusammenhängen vermittelt bekommen,
oft auch meinen, mit dem Verweis auf die Notwendigkeit
einer neuen theoretischen Urbanistik, schönere Städte
zu schaffen.
Eine neue Entwicklung macht sich seit einem Jahrzehnt überall in Europa bemerkbar. Eine junge Generation von kreativen Menschen ist trotz elektronischer Kommunikationstechnologien darauf angewiesen, dort zu
wohnen und zu arbeiten, wo sie schnell Kontakt finden,
wo sie unterschiedliche Lebensbedürfnisse in nur wenigen Stunden eines Tages befriedigen können. Sie suchen Wohnungen und Lofts in den dicht bebauten Stadtkernen mit Anschluss an leistungsfähige öffentliche
Verkehrssysteme. Sie konkurrieren bei der Wohnungssuche mit gelangweilten, vereinsamten, kinderlosen,
staumüden und pensionierten Stadtbürgern, die aus ihren suburbanen Gartenstadt-Residenzen gerne wieder
in die Kernstädte ziehen möchten, sofern sie über die
dafür erforderlichen finanziellen Mittel verfügen. Selbst
die großen Einkaufszentren kommen wieder in die lebendige, Konsum anregende und mischgenutzte europäische (Innen-)Stadt zurück, nachdem sie zwei Jahrzehnte lang auf der grünen Wiese, vor den imaginären
Toren der Städte, die automobile Erreichbarkeit hochgehalten haben. Dieses neue Interesse an urbanen Lebensund Konsumformen führt auch dazu, dass manche Städte versuchen, durch aufwendige Rekonstruktionen ihre
im Krieg von Bomben und in der Nachkriegszeit von Investoren, Wohnungsbaugesellschaften und Architekten
zerstörten Innenstädte zu rekonstruieren und zu neuem
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RegioPol eins + zwei 2011
Leben in historischer Dekoration zu erwecken. Vieles davon wird getrieben von der Sehnsucht nach der identitätsstiftenden europäischen Stadt, aber auch von den
Erfolgen der Touristik-Industrie, die immer mehr zu einem tragenden Eckpfeiler lokaler Ökonomien geworden
ist.
Der Glaube an den Markt, der alles regelt, die Rationalität und die Rekrutierungsmechanismen des politischen Systems in einer festgefahrenen Parteienlandschaft sowie das Misstrauen gegenüber dem öffentlichen
Sektor sind die drei wesentlichen Faktoren, die die Entwicklung der europäischen Stadt bestimmen. Wirtschaftliche Interessen des privaten Sektors wie der öffentlichen Hand dominieren Entscheidungsprozesse um
Standortfestlegungen und Baugenehmigungen. Die von
Wahlterminen und Medienmacht und individuellen Karriereplänen bestimmte Rationalität politischer Entscheidungsprozesse auf allen fünf Handlungsebenen in
Europa sowie die politische Rationalität des Parteiensystems lassen wenig Spielräume für öffentliche Interventionen in den Markt der Raumentwicklung, auch wenig Chancen für Experimente, es sei denn, einzelne
Persönlichkeiten zeigen Mut und Gestaltungswillen.
Schließlich mindert auch die von Interessenvertretern
und Akteuren der Wirtschaft geforderte Verschlankung
der Verwaltung die Kompetenz und Professionalität dieser Verwaltung, die nun mit weniger kompetentem Personal und weniger Zeit für Recherchen, Abwägung und
Entscheidungsvorbereitung zu agieren hat. So ist es
kein Wunder, dass immer weniger Architekten und Planer eine Karriere im öffentlichen Dienst als attraktive
Berufsperspektive und Alternative zu einer Tätigkeit in
einem renommierten Architektur- und Planungsbüro betrachten. Das Diktat der Zeit, die nicht zu verlieren ist,
lässt keinen Raum für Beratung und Überzeugung, für
das langsame Reifen von Ideen und Konzepten, für die
gestalterische Begleitung der Stadtentwicklung in
Stadtregionen.
Die institutionellen Bemühungen, die seit einiger
Zeit darauf abzielen, die Baukultur sowie die Qualität des
Bauens und der Städte in Deutschland zu verbessern,
werden an der nicht ganz so schönen Wirklichkeit des
Bauens in den Stadtregionen nicht viel ändern können.
Schöne Worte und mahnende Appelle verändern die
Wirklichkeit der Raumentwicklung in Stadtregionen in
Europa nicht. Auch die von einigen renommierten Architekten dominierte Debatte über die verlorene Schönheit
der Städte, die sie meist nur dann wahrnehmen, wenn sie
das nähere Umfeld ihrer vom weltweiten Himmel der Designstudios herabgeseilten Architekturjuwelen beeinträchtigen, wird die marktorientierte Wirklichkeit der
gebauten Umwelt in Stadtregionen nicht besonders beeindrucken. Die europäische Stadtregion des 21. Jahrhunderts ist eben so, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten historisch gewachsen ist, ohne viel Hoffnung
auf großräumige Schönheit und Harmonie. Sie ist der
Spiegel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft Europas.
Die Stadt des Wissens
In den letzten Jahren hat ein politisches Handlungsfeld
des weltweiten Wettbewerbs neue stadtpolitische Aufmerksamkeit gefunden: das weite Feld des Wissens. Wissen ist im 21. Jahrhundert zu einer zentralen Ressource
wirtschaftlicher Entwicklung in Europa geworden. Dort
wo Bodenschätze, Land- und Fortwirtschaft, Handel
oder industrielle Produktion und Logistik wirtschaftliches Wachstum nicht mehr sichern können, kommt den
Wissensindustrien an einem Ort oder in einer Region zunehmend politische und strategische Bedeutung zu.
Wissensindustrien, das ist einer der vielen Begriffe, der
aus dem angloamerikanischen Wissenschaftsjargon in
die deutsche Sprache übertragen wurde. Wissensindustrien sind alle die Einrichtungen an einem Ort, die
W issen generieren: Universitäten, Hochschulen und
­
Schulen, Wissenschafts- und Technologieparks, Forschungsinstitute und Denkfabriken, Archive und Bibliotheken, also alle die Einrichtungen, die Wissen erforschen und lehren, aber auch Wissen sichern und
bewahren und es in virtuellen Netzen verbreiten. Es sind
letztlich aber auch die lokalen Handels- und Handwerks-
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
69
Wissensstädte sind Zukunftsstädte.
Sie sind Zukunftsräume, weil hier
Wissen für die Zukunft erforscht und
entwickelt wird, weil hier Zukunftswissen
gelehrt und gelernt wird.
betriebe, die oft über Generationen hinweg Wissen traditionell bewahren und weiterentwickeln, die aber in der
zeitgeistigen Euphorie über Talente zu schnell vergessen werden.
In jeder Stadt gibt es Wissen, das sich dort über Jahrhunderte angesammelt hat. Aber was macht eine Stadt zu
einer Stadt des Wissens? Was ist eine Wissensstadt? Was
ist eine Stadt des Wissens? Und: Wann ist eine ­Wissensstadt
international wettbewerbsfähig? Darüber gehen die Meinungen noch etwas auseinander. Doch es gibt konsens­
fähige Merkmale. Im Grunde ist jede Stadt eine Stadt des
Wissens, eine Stadt also, in der all diejenigen, die dort
wohnen und arbeiten, Wissen akkumuliert haben. In jeder
Stadt wird Wissen produziert. Die Stadt war immer eine
Stadt des Lernens, in der Bürger ihren Beruf ausüben und
ihre Karriere planen, in der sie lernen, innovative und kreative Lösungen für die lokalen wirtschaftlichen und sozialen
Herausforderungen zu finden, in der sie aber auch lernen,
miteinander umzugehen. Insbesondere aber ist eine Stadt
des Wissens, eine Stadt
■
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■
■
■
mit einer dichten und diversifizierten Hochschulund Forschungslandschaft mit wissenschaftlichen
Einrichtungen, die ein hohes internationales Renommee haben, das Spitzenkräfte aus der ganzen
Welt anlockt;
mit einem feinmaschigen und vielfältigen Netz von
Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen, das
von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft genutzt wird;
in der die Hochschulen und Forschungseinrichtungen gut und sichtbar in das bauliche und gesellschaftliche Umfeld eingebunden sind;
in der die international mobile kreative Klasse gerne lebt, weil sie hier neben der kreativen Arbeit auch
ihren Familien ein attraktives Umfeld bieten kann,
also attraktive Wohnlagen, internationale Schulen,
Sport- und Freizeiteinrichtungen, weil sie sich jederzeit mit dieser Region identifizieren kann und
nicht nur zur Arbeit oder zum Studium einpendeln;
in der Wissen ein vermarktbares Produkt ist und zusätzliches Geld in die lokale Ökonomie bringt, das
■
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andernorts erwirtschaft wird;
in der die Interessen der Wissenschaftseinrichtungen auch in den politischen Gremien der Stadt angemessen vertreten sind;
die eine Medienlandschaft hat, der die institutionellen und individuellen Belange der Wissensgesellschaft ein besonderes Anliegen sind;
die attraktiv ist für wissenschaftliche Tagungen und
Kongresse;
in der der Wissenserwerb für die gesamte Bevölkerung der Region zugänglich ist, nicht nur für ausgewählte Zielgruppen;
in der sich das besondere Wissensprofil über
­A rchitektur sichtbar auch in der Innenstadt manifestiert, nicht irgendwo in verschlossenen und nicht
allgemein zugänglichen Lernfabriken am Stadtrand.
Wissensstädte sind Zukunftsstädte. Sie sind Zukunftsräume, weil hier Wissen für die Zukunft erforscht und entwickelt wird, weil hier Zukunftswissen gelehrt und gelernt
wird. Dort wachsen Ideen und entstehen innovative Projekte. Dies gilt für ein Land, eine Region, eine Stadt, aber
insbesondere für die Quartiere, die Standorte von Wissenseinrichtungen in einer Stadtregion sind. Aber nicht
nur die wissenschaftlichen Einrichtungen, sondern auch
ihr räumliches Umfeld sind gesellschaftliche Lernfelder.
Dort manifestiert sich das Profil einer Wissensstadt, dort
entstehen emotionale Bindungen und Erinnerungen, die
meist sehr viel nachhaltiger sind als Stadtmarketingbemühungen. Die räumliche Einbindung solcher Räume in die
Stadt, in die Region, ihre ästhetische Gestaltung und ihre
funktionale Struktur sind ein wichtiges Handlungsfeld für
lokale und regionale Stadtentwicklungspolitik. Wissens­
räume brauchen Zukunftsqualität! Wissensstädte sind
Zukunftsstädte. Doch diese Zukunft muss erarbeitet,
­
­erkämpft und durchgesetzt und in kleinen Schritten verwirklicht werden.
Der globale Wettbewerb um die besten Forscher und
Studierenden zwingt Hochschulen und Forschungsinstitutionen, sich stärker national wie international zu profilieren, ihre Strukturen zu verändern, mehr Forschungs-
70
RegioPol eins + zwei 2011
mittel einzuwerben und ihre Ausbildungsangebote für
hoch qualifizierte Studierende noch attraktiver zu machen.
Sie müssen nach Wegen suchen, wie sie den schwierigen
Spagat zwischen regionaler Versorgungsfunktion und globaler Attraktivität schaffen. Große Metropolen tun sich hier
leichter, einfach weil sie mehr Einwohner haben, mehr
wirtschaftliche Macht, eine sehr viel stärker diversifizierte
lokale Ökonomie, mehr politische Unterstützung, auch außerhalb der Stadtgrenzen gelesene Medien. Aber auch traditionelle und international renommierte Universitätsstädte wie Oxford und Cambridge, S
­ alamanca, Leiden und
Uppsala, oder Heidelberg, Münster und Aachen gelingt es,
in diesem Wettbewerb um die besten Forscher und Studierenden mitzuhalten.
Die Bedeutung einer Stadt als Wissensstandort, als
Knoten im globalen Netz der Wissensindustrien wird
­zunehmend zu einem wichtigen Standortfaktor. Europa
ist allerdings dabei, in diesem Wettbewerb weiter an Boden zu verlieren Zuerst waren es die Vereinigten Staaten,
die ihre Universitäten zu den führenden Einrichtungen
von Forschung und Lehre in der Welt machten und Englisch als Wissenschaftssprache hegemonial durchsetzten. Nun setzt auch die rasante Entwicklung der Wissens­
industrien in Asien, insbesondere in China und Indien,
­Europa zusätzlich unter Druck. Die neue Bedeutung des
Wissens in der globalisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts veranlasst immer mehr Städte zu Beginn des
21. Jahrhunderts, ihre Stadt- und Standortpolitik darauf
auszurichten. Sie bemühen sich, die bauliche Integration der Wissensindustrien zu verbessern, Fehler der expansiven Hochschulentwicklungsplanung früherer Jahrzehnte zu korrigieren, den Standort für Studierende und
Wissenschaftler aus dem Ausland attraktiver zu machen,
Technologie- und Wissenschaftsparks in öffentlich-­
privater Partnerschaft zu entwickeln, um Arbeitsplätze
für innovative und kreative Absolventen der Hochschulen am Ort zu schaffen, und vor allem das Wissen in der
Stadt sichtbar zu machen. Beispiele dafür finden sich an
vielen europäischen Wissensstandorten.
Doch das Verhältnis von Stadt und lokalen Wissensindustrien ist nicht immer harmonisch, nicht ohne Kon-
flikte. Beide Partner, Stadt und Wissensindustrien, müssen sich als Partner begreifen, können die globalen
Herausforderungen und anstehenden Aufgaben nur gemeinsam bewältigen. Doch das Handeln der Stadt, ihrer
Verwaltung und ihrer politischen Gremien, folgt in der
Regel anderen Logiken als denen, die den Entscheidungen einer Universität und ihrer wissenschaftlichen Einrichtungen zugrunde liegen.
Eine Stadt bemüht sich, die technische, soziale und
kulturelle Infrastruktur bereitzustellen, insbesondere
Kindergärten und Schulen und Krankenhäuser. Sie fördert die lokale Wirtschaft, lenkt individuelles Bauen in
geordnete Bahnen, schützt das kulturelle und architektonische Erbe und sorgt dafür, dass ihre Bürger größtmögliche individuelle Mobilität haben. Sie ist konfrontiert mit den Problemen der Integration von Migranten.
Sie muss lokale Antworten auf die großen ökologischen
Hausforderungen der Welt finden und ihren Beitrag dazu
liefern. Sie kämpft auf höheren Ebenen des politischen
Handelns um mehr finanzielle Zuwendungen und Projekte. Sie bemüht sich, vor Ort mehr Steuern einzutreiben,
um die stets wachsenden Bedürfnisse ihrer Bürger und
der Wirtschaft auch befriedigen zu können. Und sie tut
dies mit Hilfe einer Verwaltung, die immer mehr Regelungen auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene mit immer weniger Personal bewältigen muss, weil
sie ja schlank sein soll, und weil dort im Tagesstress der
Aufgabenbewältigung und des mehr oder weniger kommunikativen Handelns kaum noch Zeit für die Gegenwart, und schon gar nicht für die Zukunft bleibt.
Die lokalen Wissensindustrien, insbesondere die Hochschulen, haben ganz andere Sorgen. Sie müssen heute in
Deutschland vor allem exzellent sein, anders als noch vor
40 Jahren, als sie die Order hatten, die ungeschöpften Bildungsreserven für die Bewältigung des strukturellen Wandels zu mobilisieren. Daneben sollen sie aber trotzdem
auch immer mehr Studierende aufnehmen und diese immer besser ausbilden. Auch Universitäten sind heute dem
Informationsterror modischer Rankings ausgesetzt, das
sich vor angloamerikanischen Wissensindustrien verbeugt, deren quantitative Indikatoren umstritten sind, weil
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
sie regionale Kriterien hinter internationalen Kriterien vernachlässigen. Dabei müssen sie sich mit den strukturellen
Folgen einer wenig überzeugenden Bologna-Reform auseinandersetzen. Sie müssen Englisch als Unterrichts- und
Forschungssprache akzeptieren, um Studierende und Wissenschaftler aus dem Ausland anzulocken. Die Univer­
sitäten berufen exzellente Lehrende und Forschende und
bemühen sich, mehr externe Forschungsmittel einzuwerben. Sie kämpfen um einen Platz auf der Förderliste der
Exzellenzinitiativen und setzen für diesen fast olympischen Wettbewerb viel Zeit und personelle Ressourcen
ein. So ganz nebenbei müssen die Hochschulen auch kontinuierlich um die bauliche Infrastruktur und die Wohnsituation von Studierenden und Lehrenden sorgen. Dafür gibt
es in den Rankings in der Regel keine Kriterien, also gibt es
zur Bewältigung dieser Aufgaben auch nur wenige Planstellen.
Die sehr unterschiedlichen Herausforderungen und
Handlungslogiken bestimmen die jeweiligen Entscheidungsprozesse. Da bleibt auf beiden Seiten nur wenig
Zeit, um unabhängig von anstehenden Standortentscheidungen über gemeinsame Strategien für die Zukunft des Wissens in der Stadt nachzudenken, es sei
denn, es gibt einen besonderen Anlass, wie die Bewerbung um den Titel Stadt der Wissenschaft des Stifter­
verbands der deutschen Wissenschaft. Meist sind auch
die strukturellen Voraussetzungen, um diesen wichtigen Dialog vor Ort zu intensivieren, nicht gegeben. Es
gibt zu wenig qualifizierte Stäbe, die sich in der Stadt wie
in der Universität dieser Fragen kontinuierlich annehmen und entsprechendes Wissen ansammeln. Andere
Aufgaben haben kommunalpolitische bzw. hochschulpolitische Priorität. Und es gibt natürlich auch keine
­Mittel, diese Aufgaben nach außen zu vergeben. Dabei
müssen Städte, die sich im globalen Wettbewerb der
Wissensstädte behaupten und profilieren möchten, ihre
Politiken und Handlungslogiken überprüfen und auf diese neuen Herausforderungen ausrichten. Sie müssten
gemeinsam Mittel und Wege erkunden, wie sie durchsetzbare Strategien für eine glaubhafte Profilierung als
Stadt des Wissens entwickeln und umsetzen können.
71
Jahresempfänge, gelegentliche Treffen der jeweiligen
Spitzen, freundliche Worte in Hochglanzbroschüren
oder schön gesetzte elektronische Auftritte im weltweiten virtuellen Netz genügen dafür nicht.
Was tun Städte in Europa und anderswo, um ihre Wissensindustrien zu stärken? Die zunehmende politische
und wirtschaftliche Bedeutung von Wissensindustrien
hat viele Städte in Europa und darüber hinaus veranlasst, die Stadt als Wissensstandort zu profilieren. Wissen als neue Ressource ersetzt die traditionelle Industrie, aber auch die von Wirtschaftsförderern lange
gehätschelte Neue I+K Ökonomie. Und Wissen passt
auch so gut in das kreative Fieber der Stadtpolitik, das
die Kreativwirtschaft und die kreative Klasse als neues
Handlungsfeld und kommunale Zielgruppe erfasst hat.
Neben vielfältigen Aktivitäten zur Intensivierung der
sachlichen und kommunikativen Zusammenarbeit zwischen den oft sehr zerstreut liegenden Wissenseinrichtungen in einer Stadt werden vielerorts Anstrengungen
unternommen, das städtebauliche Umfeld von Wissenseinrichtungen, also insbesondere das der lokalen Hochschulen und Technologieparks zu verbessern. Dabei
geht es in Regel darum, die ursprünglich vorwiegend an
funktionalen Erfordernissen ausgerichteten Standorte
für die Nutzer, also die Wissenschaftler und Studierenden, aber auch für Besucher und die im Umfeld der Wissensindustrie lebenden und arbeitenden Bewohner der
Stadt, attraktiver zu machen, sie funktional und räumlich
besser in die Stadtstruktur und Stadtlandschaft zu integrieren, insbesondere um die ganzjährige Aufenthaltsqualität zu verbessern. Dafür werden, meist im Rahmen
von sehr aufwendigen und langwierigen internen und
lokalen Abstimmungsprozessen, neue Leitbilder und
städtebauliche Masterpläne in Auftrag gegeben und
erstellt sowie strategische Konzepte entwickelt, die
­
die schrittweise Umsetzung entsprechender Leitbilder
möglich machen sollen.
Ich will Ihnen anhand einiger Beispiele zeigen, zu welchen Initiativen und Aktionen die neuen Herausforderungen der Wissensgesellschaft an anderen Orten führen.
Was lässt sich aus all den Beispielen und Erfahrungen
72
RegioPol eins + zwei 2011
für eine Stadt ableiten, die sich als Stadt des Wissens
„positionieren“ möchte? Welche Wege lassen sich finden, die Dimension Wissen in einer Stadt zu stärken.
­Jede Wissenslandschaft ist ein Unikat. In manchen Städten reicht die Geschichte 1000 Jahre zurück, in anderen,
wie in Bielefeld, Dortmund, Passau, Potsdam oder Oldenburg, oft weniger als 50 Jahre.
Die räumliche Gesamtkonstellation, die Wertesysteme der lokalen Wissenskulturen und gesellschaftlichen
Milieus, die Haltungen der beteiligten Akteure vor Ort
sowie die jeweiligen finanziellen und ökonomischen
Rahmenbedingungen bestimmen immer die jeweiligen
lokalen Strategien. Sie entscheiden über die inhaltlichen
Schwerpunkte und sie bestimmen die Prioritäten des
politischen Handelns. Trotzdem lässt sich eine Reihe von
Grundsätzen formulieren, die die weitere Entwicklung
von Städten zu wettbewerbsfähigen Wissensstädten leiten können:
■
Wissen in der Stadt braucht kommunale Zuneigung:
Eine Stadt des Wissens kann sich nur entwickeln,
wenn die kommunalen Entscheidungsträger ihre
lokalen Wissensindustrien mit der gleichen Auf­
merksamkeit behandeln wie ihre industriellen
­Unternehmen, die Dienstleistungsbetriebe und den
Handel, wie ihre Schulen und Krankenhäuser oder
den öffentlichen Nahverkehr.
■ Wissenschaft braucht Offenheit in der Stadt. In
­einer Stadt, deren Gesellschaft nicht offen ist für
neue ­
Gesellschaftsmodelle, für interkulturelle
Heraus­forderungen, für Experimente, wo Andersdenkende ausgegrenzt und Pioniere nicht Pioniere
sein können, können Wissensindustrien nicht gedeihen, kann eine Wissensstadt nicht wachsen.
■
Wissenschaft in der Stadt braucht kommunale Diskurse. Wissen in der Stadt kann nur gedeihen, wenn
es kommunale Diskursarenen gibt, in denen kontinuierlich Wissen und Erfahrungen ausgetauscht
werden.
■ Wissensorte müssen ubiquitär sichtbar sein und
dies an vielen Standorten in der Stadt, sie müssen
auffallen durch außergewöhnliche Architektur,
kommunikative Plätze und tradierte Veranstaltungen und sie müssen im Vorbeigehen entdeckt werden können und ohne GPS auffindbar sein.
■ Wissenschaft braucht auch Lebensqualität. Wissensarbeiter haben auch Anspruch auf Lebensqualität. Ihre Bedürfnisse und die ihrer Familien und Gäste prägen das Umfeld der Wissensorte. Und diese
Bedürfnisse sind sehr vielfältig.
■
Wissenschaft braucht Räume für Wissenspioniere in
der Stadt: Innovationen geschehen nicht in den Villenvierteln einer Stadt und auch nicht immer in den
Wissenschaftsbüros am Rande der Hochschulen. Es
sind Räume, die nicht in den Flächennutzungsplänen einer Stadt kategorisiert sind, auch Räume, die
vielleicht nur für ein paar Jahre ohne Investitionsaufwand zwischengenutzt werden.
■ Wissenschaft muss auch in den politischen Gremien
einer Stadt vertreten sein, damit die Belange der
Wissensindustrien in der kommunalen Entwicklungsplanung auch berücksichtigt werden.
■ Eine Wissenschaftsstadt braucht eine glaubhafte
Stadtaußenpolitik. In Zeiten weltweiter wirtschaftlicher Netze muss eine Stadt ihre Außenbeziehungen
strategisch entwickeln und pflegen, um präsent zu
sein, um Menschen für die Stadt zu gewinnen und
um Erinnerungen an die Stadt zu nutzen.
■
Wissenschaft braucht Gastfreundschaft, denn ohne
Gastfreundschaft gewinnt eine Stadt keine Freunde,
und Gastfreundschaft schafft Gelegenheiten zu Dialogen und gemeinsamen Initiativen.
■
Die Wissenschaftsstadt braucht Geduld. Vieles geht
nicht von heute auf morgen. Visionen brauchen Zeit
zum Reifen, auch Zeit, um Moden und Eintagsfliegen zu überleben.
Der globale Wettbewerb um die besten Forscher und
Studierenden zwingt Städte und ihre Hochschulen und
Forschungseinrichtungen dazu, sich stärker national
wie international zu profilieren. Die Hochschulen müssen nach Wegen suchen, wie sie den schwierigen Spagat
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
73
Hochschulen müssen nach Wegen suchen,
um den schwierigen Spagat zwischen
regionaler Versorgungsfunktion und
globaler Attraktivität zu schaffen.
zwischen regionaler Versorgungsfunktion und globaler
­Attraktivität schaffen. Und die Städte müssen ihnen dabei helfen. Dies kann nur gelingen, wenn Wissensindustrien und Stadt daran gehen, die Herausforderungen und
anstehenden Aufgaben gemeinsam zu bewältigen. Städte, die sich im globalen Wettbewerb der Wissensstädte
behaupten und profilieren möchten, müssen ihre Politiken und Handlungslogiken überprüfen und auf diese
neuen Herausforderung ausrichten. Es macht keinen
Sinn, nur einfach mehr Wissenseinrichtungen am 0rt zu
haben und größer zu werden, auch wenn Masse Macht
bedeutet. Es kommt darauf an, dass das, was besteht,
auch höchsten Qualitätsstandards entspricht. Städte
und Wissensindustrien können nur erfolgreich sein,
wenn sie unter aktiver Beteiligung aller Bürger und Unternehmen am Ort Mittel und Wege erkunden, wie sie
den Wandel von der Industriestadt über die Dienstleistungsstadt zu einer Stadt des Wissens gestalten.
Die kreative Stadt
Die kreative Stadt ist das jüngste der drei Paradigmen der
Stadtentwicklung, das Urbanisten, Raumplaner, aber nun
auch Stadtökonomen begeistert. Sie hoffen, dass sie damit den richtigen Weg zu einer zukunftsorientierten Stadtentwicklung des 21. Jahrhunderts gefunden haben. In
sehr kurzer Zeit hat dieses Leitbild breite, Fachdisziplinen
übergreifende Akzeptanz gefunden, auch wohlwollende
Resonanz in Politik und Gesellschaft. Und es findet diese
Resonanz, weil Kreativität in der ­Gesellschaft breite Zustimmung findet, jedenfalls so­lange sie nicht mit Chaos,
Graffiti, Hausbesetzungen und Unsicherheit assoziiert
wird. Das Paradigma der kreativen Stadt verlangt nicht die
Abkehr von lieb gewonnenen Lebensstilen, wie es die Umweltbewegung postuliert, und es macht auch kein schlechtes Gewissen wie das Leitbild der sozialen Stadt. Wer kann
ernsthaft etwas gegen kreatives Handeln in Wirtschaft und
Gesellschaft haben, im öffentlichen Sektor und in privaten
Unternehmen, die weltweit um Kunden und Absatzmärkte
konkurrieren?
Viele Städte Europas wollen kreativ sein, London, Berlin, Mailand und Amsterdam erheben diesen Anspruch,
auch Hamburg, München und Leipzig. Selbst Dortmund
hat die Kreativität als kommunales Handlungsfeld entdeckt. Jedenfalls stellen sich immer mehr Städte in ihren
Marketingbroschüren oder auf internationalen Immobilienmessen als kreative Städte dar, um junge „Talente“ am
Standort zu halten, an dem sie aus­gebildet werden. Es
geht dabei immer um hoch oder ­zumindest um höher qualifizierte Arbeitskräfte. Diese möchten an Orten leben, die
einen breiten, flexiblen und offenen Arbeitsmarkt und
­hohe Lebensqualität bieten, ein gutes Image haben und
hohe, überregionale Mobilität ermöglichen. Die meisten
dieser Standortwünsche haben mit Kreativität nicht viel zu
tun. Sie hindern aber weder Planer noch Wirtschaftsförderer und Stadtmarketing-Manager, das Hohelied der krea­
tiven Stadt zu singen, denn dieses Leitbild lässt sich viel
leichter kommunizieren als das der nachhaltigen oder der
sozialen Stadt.
Es gibt viele Gründe, warum das Paradigma der kreativen Stadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts so erfolgreich ist, warum es in den Politjargon ganz unterschiedlicher stadtbezogener Disziplinen Eingang gefunden
hat, warum es so schnell sowohl in die stadtpolitische
Praxis wie in akademische Seminare eingedrungen ist.
Die wesentlichen Gründe sind:
■
Kreativität ist ein positives Konzept. Das macht es
unangreifbar, jedenfalls solange es nicht in kreatives Chaos mündet. Im Kindergarten oder in der
Schule wird Kreativität gefördert. Kreativität ist
­Voraussetzung für innovatives Tun. In der Bildenden Kunst wie in der Musik ist Kreativität unverzichtbar. In der beruflichen Weiterbildung wird kreatives Handeln geschult. Kreative Menschen werden
bewundert. Institutionen mit kreativen Menschen
genießen Vertrauen. Kreativität ist ein offenes Konzept, in dem sich alle wiederfinden können. Es
spricht Raumplaner an und natürlich Architekten
und Soziologen. Praktiker wie Wissenschaftler können sich in den Diskurs schnell einbringen.
74
RegioPol eins + zwei 2011
■
■
■
Der positive Charakter und die Offenheit der Konzeption haben wesentlich zur schnellen Verbreitung
des Paradigmas der kreativen Stadt beigetragen.
Auch wenn ihre Aussagen nicht immer uneingeschränkte Zustimmung fanden, so haben die inzwischen in aller Welt gelesenen Bücher von Richard
Florida und Charles Landry an vielen Orten akademische und stadtpolitische Diskurse in Gang gesetzt. Es war, als ob die Gemeinschaft derjenigen,
denen die Zukunft der Stadt am Herzen liegt, nur auf
diese Anstöße gewartet hat. Und in der Folge entstanden und entstehen viele empirische Untersuchungen, lokale und regionale Studien, Diplom- und
Doktorarbeiten und immer mehr Bücher, die das
­Paradigma der kreativen Stadt aufgreifen.
Bei der Suche nach neuen urbanen Arbeitsplätzen
kam den Städten das Zauberwort von der kreativen
Ökonomie gerade recht. Noch vor einem Jahrzehnt
kaum ernst genommen, wird die Kreativ­w irtschaft
inzwischen erheblich überschätzt. Wiederum ist es
die definitorische Offenheit des Begriffs der Kreativwirtschaft, die es erlaubt, sehr breite wie auch
enge Eingrenzungen dessen vorzunehmen. Zwar
gibt es inzwischen klare Definitionen, was zu Kreativwirtschaft zu rechnen ist und was nicht, aber
letztlich ist die Interpretation den jeweiligen lokalen oder regionalen lnstitutionen überlassen. Im
Grunde wird inzwischen jeder Beschäftigte in der
Wissensgesellschaft dazu gerechnet. Die in der Regel klein strukturierte, aber lokal wie überregional
gut vernetzte Kreativwirtschaft gilt als Hoffnungsträger für lokale Ökonomien in der Stadt. Trotzdem
sichert die Kreativwirtschaft in einer Stadt, wohlwollend definiert, doch meist nicht mehr als zehn
Prozent der lokalen Arbeitsplätze.
Kultur gilt als Garant für Urbanität und Lebensqualität. Sie profiliert das internationale Image einer
Stadt. Für Medien ist die kreative Stadt eine Stadt
der Kulturinseln und Museumsquartiere, der Festivals und spektakulärer Kunst-Ausstellungen. Museumsbauten in vielen Städten Europas hatten in den
1990er Jahren eine neue Welle der Kulturbegeisterung ausgelöst und die Bedeutung der Kultur als
Standort- und Imagefaktor unterstrichen. Neue Ikonen der kulturellen Infrastruktur wurden in Auftrag
gegeben. Je spektakulärer die Bauten und je berühmter die Architekten waren, die ihre architektonischen Signatur-Leuchttürme vom Himmel fallen
lassen, desto größer ist die Medienaufmerksamkeit
und desto stolzer waren dann auch die Stadtväter,
die diese Bauten zu Lasten einer breiten Kulturförderung ermöglichten. Das bestehende kulturelle
Angebot einer Stadt erleichtert die Einwerbung von
kulturellen Events und Kongressen. Es zieht Touristen an und lastet die Hotels aus.
■
Bei der Suche nach neuen Nutzern brachgefallener
Industrie- und Lagerbauten in den vom strukturellen Wandel betroffenen Städten ist die Kreativwirtschaft eine willkommene stadtverträgliche „Branche“.
Die Umwandlung von großen, für die Massenproduktion errichteten Industrieanlagen in Lofts und
Ateliergebäude, in Galerienviertel und Kulturquartiere hat an vielen Orten in Europa das Gesicht heruntergekommener Stadtviertel nachhaltig verbessert. Selbst die nicht legale Nutzung leer stehender
Bauten durch kreative Stadtbürger und Hausbesetzer wurde in manchen Städten zwar nicht legalisiert,
aber als kreativer Anstoß für eine behutsame Stadterneuerung in Kauf genommen. Dort, wo Künstler
und Hausbesetzer den Boden vorbereiten, lassen
sich dann Architekten, junge Immobilien-Entwickler, Modedesigner und alternative Szene-Verlage,
aber auch kulturwirtschaftsbezogene Anwaltskanzleien und Logistik-Dienstleister nieder. Dort ist
dann auch die kreative Stadt sichtbar.
■ Niedrige Geburtenraten, zunehmende Alterungsprozesse, steigende Anteile von höher qualifizierten Erwerbstätigen, aber auch wachsende Anteile
von Migrantenhaushalten verändern Standortpräferenzen sowie Wohn- und Mobilitätsbedürfnisse von
Stadtbewohnern. Wer kann, verlässt öde Vor- und
heterogene Zwischenstädte und kehrt zurück in
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
dicht bebaute Stadtquartiere, deren urbane Aufenthaltsqualität sie zu mehr oder weniger kreativen
Quartieren gemacht hat. Unter den Schlagworten
Reurbanisierung oder Urban Renaissance gilt die
selektive Rückkehr in die Stadt als zusätzlicher Motor der kreativen Stadt.
■ Die kreative Stadt ist besonders für Medien und
Stadtmarketing-Agenturen attraktiv. Für sie ist die
Erfolgsgeschichte Berlins, der Stadt, die zwar arm,
aber sexy ist, Ansporn, die Saga von der kreativen
Stadt als Magnet für Image-Kampagnen und Tourismusprojekte zu nutzen als Anlass für Themenhefte
und Sonderveröffentlichungen. Die Kreativität einer
Stadt, die durch Reportagen, Geschichten und Fotoserien Bilder dokumentiert wird, verkauft sich gut
und zieht insbesondere Bildungsreisende und
­junge Touristen an. Erst als die Bundeshauptstadt
Berlin die Kreativität als Markenzeichen entdeckt
hat, bekam der von Bonn nach Berlin zwangs­­ver­
lagerte Regierungssitz eine über die politische Rolle hinausgehende urbane Vision, die weltweit kommuniziert wird.
■
Erst wenn Stadtplanung, Wirtschaftsförderer und Kulturämter, ja auch die lokale Sozialverwaltung, ihre
sektoralen Politiken projekt- oder quartier­
bezogen
aufeinander abstimmen, kann die gemeinsame Vision
von der kreativen Stadt neue Entwicklungsschübe
­einer bewohnerorientierten Stadtentwicklung auslösen. Sachbezogene Konflikte lassen sich durch den
Bezug auf den synergetischen Gewinn von Kreativität leichter bewältigen als ideologiebeladene Konflikte um ökologisch und sozial motivierte Stadtvisionen. Die kreative Stadt ist eine gute Tarnkappe für
zukunftsorientierte stadtpolitische Maßnahmen,
die sonst keine breite Zustimmung der Bürger finden würden. Das Thema ist zum Buzz-Wort der
Stadtpolitik geworden, für Touristik-Manager und
Wirtschaftsförderer, für Planer und für das politikberatende Gewerbe.
75
Alle diese Gründe für den Erfolg der kreativen Stadt bedingen und verstärken sich gegenseitig. Sie zeigen, dass
die kreative Stadt ein sehr bequemes Plug-in-Konzept
ist, das es allen Akteuren der Stadtentwicklung leicht
macht, sich mit ihren eigenen mehr oder weniger kreativen Aktionen und Visionen einzuklinken. In der kreativen
Stadt können sich alle wiederfinden. Hinzu kommt, dass
die kreative Stadt auch das viel beschworene Paradigma
der europäischen Stadt (ohne deren Vor-, Zwischen- und
Hinterstadtwüsten) widerspiegelt. Jede Stadt hat krea­
tive Quartiere, nicht nur Berlin, Hamburg oder Zürich.
Aber die kreativen Räume machen meist nur einen
Bruchteil der ansonsten ganz gewöhnlichen Räume
­einer Stadt aus, in der überall kreative Menschen leben
und arbeiten, ohne dass dies in ihren physischen L­ ebensund Arbeitswelten sichtbar wird.
Die kreative Stadt ist eine Chance für eine neue Stadtpolitik, ein Katalysator für eine zukunftsorientierte
Stadtentwicklungsplanung, die die Realität neuer lokaler Ökonomien, neuer Werte und Lebensstile zum Anlass
nimmt, urbane Lebens- und Arbeitswelten unter ökologischen und sozialen Herausforderungen neu zu gestalten und in partnerschaftlichen und kommunikativen
Prozessen umzusetzen. Die kreative Stadt ist Anlass, die
kulturelle Identität der europäischen Stadt(-mitte) zu
­erhalten, sie ist auch eine Mahnung, die kulturelle Ausbildung in Schulen und Hochschulen ernst zu nehmen.
Urbane Kreativität, das haben die Erfahrungen in vielen europäischen Städten gezeigt, kann nur in Räumen
geschehen, die offen sind für neue Ideen, für Veränderungen und für Versuche, Grenzen zu überwinden, in
Räumen, in denen Widersprüche sichtbar und Konflikte
unvermeidbar sind. Sind alle Widersprüche überwunden
und Konflikte gelöst und haben die lokalen und regionalen Medien neue Orte als Orte der gesellschaftlichen
Auseinandersetzung und Orte der Repräsentation von
zeitgeistigen Lebensstilen entdeckt, zieht die kreative
Karawane weiter. Dann bleiben in der Regel Stadtteile
zurück, die als gemischt genutzte Orte zu den bürgerlichen Wohnlagen einer Stadt gehören. Besonders gut
lässt sich dies in Paris beobachten, Montmartre und
76
RegioPol eins + zwei 2011
Montparnasse, einst kulturelle Symbol-Quartiere in der
Stadt, sind schon längst nicht mehr die kreativen Labore,
als die sie weltweit betrachtet werden. In Paris sind es
heute eher die heruntergekommenen Stadtrandquartiere an den Nahtstellen zwischen etablierter Urbanität
(mit einigen kleinen dunklen Flecken) und gesichtslosen
Vorstädten mit ihren sozialen Brennpunkten. In denen
Kreativität entsteht.
Wenn es darum geht, die kreative Stadt zu fördern, so
ist dies immer eine schwierige Gratwanderung zwischen
bewusstem Laissez-faire oder absichtlicher Vernachlässigung einerseits und gezielter Intervention mit katalytischen Projekten und integrierten Strategien andererseits. Auf der einen Seite sollen die urbanen Bedürfnisse
derjenigen befriedigt werden, die sich kreativ betätigen.
Auf der anderen Seite soll das Eingehen auf deren Standortwünsche und Bedürfnisse nicht zur schleichenden
Gentrifizierung der Lebenswelten führen und die alteingesessenen Bewohner zwingen, ihre ständig teurer werdenden Standorte zu verlassen. Die wirklich Kreativen
sind oft die ersten Verlierer der kreativen Stadt, da sie
wie Pionierpflanzen den Boden aufbereiten, dessen
Früchte dann andere ernten. Es macht daher auch wenig
Sinn, im Flächennutzungsplan einer Stadt ein Gebiet als
kreatives Quartier auszuweisen. Im Gegenteil: Urbane
Kreativität entsteht in der Regel vor allem dort, wo
nichts geregelt, nichts angeordnet, nichts von oben
­gestaltet wird, also dort, wo Freiräume für urbane Ent­
deckungen bewusst für neue Initiativen offengehalten
werden.
Noch etwas kommt hinzu: Kreative Stadtbewohner
sind Nomaden. Sie sind ständig auf der Suche nach Orten, an denen sie sich zu bestimmten Zeitabschnitten ihres Lebens für eine begrenzte Zeit aufhalten möchten.
Und sie sind immer mehr kosmopolitane Nomaden, die
heute in Amsterdam, morgen in Berlin oder auch für ein
paar Jahre in Hongkong oder New York leben und arbeiten möchten, um sich dort von anderen kulturellen
Milieus inspirieren zu lassen. Neue weltumspannende
­
Kommunikationsmöglichkeiten erleichtern es ihnen, trotz
ihres Nomadentums auch global vernetzt zu bleiben. Oft
werden sie erst dann sesshaft, wenn sie ihre wirtschaftliche Existenz an einem Ort so aufgebaut haben, dass der
Wegzug von solch einem Ort mit all seinen lokalen Netzen
zum Verlust dieser Existenz führen würde.
Die kreative Stadt ist ein Paradigma der Euphorie. Ein
Wechsel auf eine bessere Zukunft in ihren ganz unterschiedlichen Ausprägungen erinnert sie an die unsichtbaren Städte von Italo Calvino. Sie macht Hoffnung auf
eine Zukunft der Stadt, die geprägt ist von kommunikativem Handeln und kreativen Räumen, von Kooperation
und lebenslangem Lernen, von Tradition und Moderne.
Die Euphorie der kreativen Stadt trägt auch dazu bei, die
tagtäglichen Herausforderungen zu verdrängen, mit
­denen Städte in Zeiten der Globalisierung konfrontiert
sind. Auch diese Herausforderungen bedürfen neuer
Kreativität. Sie sind mit Festen und schönen Worten
nicht zu bewältigen, auch nicht in Hamburg.
Archipel Stadtregion
Die europäische Stadt, die Stadt des Wissens und die
kreative Stadt beschreiben drei Zugänge zur Stadt, drei
Perspektiven auf dem Wege in die Zukunft der Stadt in
Europa. Sie beschreiben aber auch drei Inseln im großen
Archipel der Stadtregion, denn nicht Städte, sondern
große polyzentrische, multifunktionale Stadtregionen
bestimmen die zukünftige Raumentwicklung in Europa.
Diese Stadtregionen sind fragmentiert, oft auch polarisiert. Einzelne Inseln dieser Stadtregion sind spezialisiert, auf Funktionen des Wohnens, der Logistik, der
Sport- und Freizeiteinrichtungen. Die Flughäfenstädte
mit all den flughafenbezogenen Nutzungen in ihrem näheren Einzugsbereich sind eine solche Insel, aber auch
die aus der Stadtmitte ausgelagerten Wissenschaftsund Technologiequartiere oder die Orte, an denen all die
infrastrukturellen Nutzungen zusammenkommen, die
die Stadtregion braucht, aber nicht gerne im urbanen
Schaufenster zeigt. Bewohner aller dieser Räume sind
Ortsbürger, die seit Generationen dort ansässig sind,
Zuwanderer, die aus den Kernstädten ins Umland gewandert sind, weil sie hier Arbeit gefunden haben oder
weil sie ihren Traum vom Eigenheim hier erfüllen können, temporäre Bewohner, die einen bestimmten Lebensabschnitt hier verbringen, oder auch Migranten, die
nur dort bezahlbare Behausungen in der Nähe ihrer Arbeitsstätten zugewiesen bekommen haben.
Drei Entwicklungen werden die zukünftige innere
räumliche Struktur dieser europäischen Stadtregionen
stark bestimmen: neue Arbeitsformen der post-industriellen Gesellschaft, ressourcenschonende Mobilitätsstrategien und die zunehmend multikulturelle, kosmopolitane Zusammensetzung der Bevölkerung.
■
In der Folge von Globalisierungsprozessen werden
strukturelle Veränderungen lokaler und regionaler
Ökonomien in Europa die zukünftige Entwicklung
europäischer Stadtregionen sehr beeinflussen.
Multinationale Unternehmen werden weiterhin
­
weltweit ihre Produktions- und Vertriebsstandorte
nach wirtschaftlichen Kriterien wählen und Teile ihrer ­A ktivitäten nach Asien oder in Zukunft auch nach
Afrika verlagern, weil sie dort billiger produzieren
können, zunehmend besser qualifizierte Arbeitskräfte finden und nicht zuletzt auch größere Märkte
finden. Damit sind sie weitgehend unabhängig von
lokalen und regionalen Bedingungen und öffent­
­
lichen Interventionen in Europa. Lokale und regionale
Ökonomien hingegen werden sich noch stärker als in
der Vergangenheit auf regionale Märkte beschränken.
Damit und aufgrund ganz anderer Fer­
tigungs­
methoden, clusterstrukturierter Produktions- und
Vertriebsnetze und kleinräumiger Standortlogiken
kann die extreme räumliche Arbeitsteilung, die den
Städten in Europa von der Industrialisierung über
mehr als ein Jahrhundert lang aufgezwungen war, in
Teilen wieder rückgängig gemacht werden. Immer
mehr werden dann gemischt genutzte Strukturen
Urbane Zukunft in der Wissensökonomie
■
■
und kleinbetriebliche Organisationseinheiten arbeitsteilige Raumstrukturen überflüssig machen.
Dies wird die Mischung von Arbeitsorten, Wohnorten und wohnungsnahen Bildungs- und Erholungsräumen in der europäischen Stadt erleichtern und
Zeitregime verändern.
Veränderungen im Mobilitätsverhalten der Stadtbevölkerung in Europa zeichnen sich ab. Die Dominanz
des täglich individuell genutzten Autos wird sich
abschwächen, auch wenn gegenwärtig genutzte
Technologien durch Elektrofahrzeuge ersetzt werden. Neue verdichtete und funktional gemischte
­innerstädtische Quartiere, flexiblere Zeitregime,
immer kleinteiliger organisierte lokale Ökonomien
und verbesserte Nutzungsmöglichkeiten individueller und öffentlicher Verkehrsmittel, aber auch veränderte umweltbewusste Wertesysteme einer neuen Generation von Stadtbewohnern werden neue
Mobilitätsstrategien mit sich bringen.
Die demografische Zusammensetzung der Stadt­
bewohner in Europa wird immer multikultureller
werden. Durch den Zuzug aus dem Mittelmeerraum,
Südosteuropa und dem mittleren Osten, aus Nordafrika und den ehemaligen Kolonien hat sich die
­demografische und kulturelle Zusammensetzung
der städtischen Bevölkerung immer mehr verändert. Manche von einheimischen Bürgern verlassenen Stadtquartiere sind im Laufe von Jahrzehnten
zu ethnischen Inseln geworden, in denen eigene
kulturelle und wirtschaftliche Traditionen gepflegt
werden. Natürlich gab es in den Städten Europas
schon immer multikulturelle Strukturen und von
fremden kulturellen Traditionen geprägte Stadtquartiere. Doch internationale Entwicklungen im
letzten halben Jahrhundert haben die multikulturelle und kosmopolitane Struktur der Städte in Europa zunehmend verwandelt. Mehr als ein Viertel der
Bewohner von London, Frankfurt oder Amsterdam
sind heute als Ausländer registriert. Diese gebildeten, gut verdienenden ausländischen Bürger sind in
der Regel gut integriert und oft nur in der Statistik
als Ausländer aufgeführt. Dagegen konzentrieren
sich Migranten und Asylanten in der Regel in weniger attraktiven Stadtquartieren, die dann von den
traditionell dort wohnenden Stadtbürgern verlassen wurden. Auch wenn die neuen Bewohner schon
längst Staatsbürger mit nationalen Pässen geworden sind und in der zweiten oder sogar dritten Generation viel kulturelle Identität verloren haben
oder sie bewusst verlieren möchten, um sich in das
andersartige kulturelle Umfeld besser zu integrieren, so bestimmen doch andersartige kulturelle
Wertesysteme immer auch die bauliche und strukturelle Gestaltung einzelner Inseln der Stadtregion.
Diese drei Entwicklungen werden sich im Bild der Städte
und Stadtregionen in Europa niederschlagen. Es wird
notwendig sein, eine auf diese Entwicklungen angepasste neue Baukultur in den Städten zu formulieren.
77
Die diversen Räume in der fragmentierten Stadtregion verfügen nur selten über den funktionalen Nutzungen entsprechende administrative Grenzen. Politische
und administrative Zuständigkeiten im urbanen Archipel
überlappen sich oder fluktuieren zwischen lokalen und
regionalen Gebietskörperschaften, politischen Gremien
und halböffentlichen Institutionen. Nur mühsam gelingt
es dort, gemeinsame stadtregionale Interessen zu artikulieren und gemeinsam zu handeln. Und je weniger
­bedeutsam einzelne Teilräume für Profilierung, Außenwirkung und Außenkontakte der fragmentierten Stadtregion sind, desto geringer ist die politische Aufmerksamkeit, die ihnen von einflussreichen Akteuren und
Meinungsmachern gewidmet wird.
Die europäische Stadtregion der Zukunft wird ihre
musealen und dekorativen Kerne dort erhalten, wo wirtschaftliche Interessen sie stützen und wo lokale Traditionen sie vor den Begehrlichkeiten von Investoren von
Konsumwelten schützen. Sie werden dort erhalten, wo
Bewohner der Stadtregion bereit sind, die höheren Kosten für deren Nutzung und Erhalt zu tragen. Darüber hinaus wird die Stadtregion auch in Zukunft nicht anders
aussehen als heute, ein Mosaik von funktionalen, untereinander polarisierten Teilräumen, die der Logik des
Marktes und den individuellen Wünschen von Grundbesitzern folgen, in denen gestalterische Ambitionen wenig Chance haben und Interventionen der öffentlichen
Hand sich auf Maßnahmen beschränken, die die funktionale Ordnung betreffen. Die europäische Stadt in den
Köpfen ihrer Bewunderer und Pomotoren wird sich immer mehr verklären und von der Wirklichkeit der Stadtregionen in Europa entfernen. Die „europäische Stadt“ der
Zukunft wird von der Erinnerung leben. Doch die Paradigmen der Stadt des Wissens und der kreativen Stadt,
aber auch die der nachhaltigen und der sozialen Stadt
werden Wege in die Zukunft der Stadtregion in Europa
weisen. Es wird dann stark davon abhängen, welche strategischen Maßnahmen einzelne Stadtregionen ergreifen
können und werden, um die mit diesen Entwicklungen
verbundenen Herausforderungen zu begegnen und sie
konstruktiv für lokale Ökonomien sowie den Erhalt und
die Verbesserung der Lebensqualität aller Stadtbewohner zu nutzen.
Quellen:
Kunzmann, Klaus R. (1997): The Future of the City Region in
Europe. in: Mastering the City. North-European City Planning
1900 – 2000, NAI Publishers/ EFL Publications, Rotterdam,
S. 16 – 29.
Kunzmann, Klaus R. (2010): Die Europäische Stadt in Europa
und anderswo. Frey, Oliver und Florian Koch, Hrsg. Die
Zukunft der europäischen Stadt: Stadtpolitik, Stadtplanung
und Stadtgesellschaft im Wandel. Wiesbaden, VS Verlag
S. 36 – 54.
Kunzmann, Klaus R. (2010): Städte des Wissens im globalen
Wettbewerb.
Festvortrag anlässlich des Jahresempfangs der Universität
Bielefeld am 8. Oktober 2010. Unveröffentlichtes Manuskript.
Kunzmann, Klaus R. (2010): Die Kreative Stadt: Stadtentwicklung zwischen Euphorie und Verdrängung? In: Internationale
Bauausstellung (IBA) Hamburg, Hg., Kreativität trifft Stadt
– Zum Verhältnis von Kunst, Kultur und Stadtentwicklung im Rahmen der IBA Hamburg. Berlin, jovis, S. 202 – 213.