Die Seidenrose
Transcription
Die Seidenrose
Die Seidenrose Julia Drosten Schönheit ohne Anmut gleicht einer Rose ohne Duft. (Jamaikanisches Sprichwort) Julia Drosten ist ein Team aus zwei Autoren. Wenn Ihnen unser Roman gefallen hat, empfehlen Sie uns bitte weiter. Wir freuen uns auch über ein Feedback auf Amazon, Facebook oder wenn sie uns oder „Die Seidenrose“ auf Facebook besuchen. Weitere Bücher von uns: Das Revuemädchen Die Löwin von Mogador Die Originalausgabe erschien im Januar 2011 unter unserem damaligen Autorennamen Julia von Droste im Knaur Taschenbuch Verlag Copyright © 2013 Julia Peczynsky und Horst Drosten Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit unserer Genehmigung weitergegeben werden. Redaktion: Christiane Fritsche und Kathrin Wolf Coverabbildung: Harrison Fisher „preparing to conquer“, USA 1911 Coverentwurf und -gestaltung: Horst Drosten Bildbearbeitung: Mirella Drosten Rosengelee Ingredienzien: 1/8 Unze getrocknete Schwimmblase vom Stör (beste Qualität), 2 Unzen Glycerin, 6 Unzen Rosenwasser, 10 Tropfen Rosenöl Störblase in Rosenwasser auflösen, Glycerin und Rosenöl hinzufügen und ruhen lassen, bis die Mischung geliert. Kapitel eins „Mirella! Ecco, la mia beniamina! Hier, meine Kleine!“ Die Dame hinter der Absperrung winkte lebhaft. Als Mirella nicht sofort reagierte, nahm sie dem neben ihr wartenden Droschkenkutscher das Schild mit der Aufschrift „Mirella Rossi“ aus der Hand und reckte es so hoch wie möglich über die Köpfe der wartenden Menge. „Sehen Sie nur, Signorina, Ihre Tante erwartet Sie bereits.“ Der Stewart, der die Fünfzehnjährige während der neuntägigen Atlantiküberquerung betreut hatte und jetzt ihren Koffer zum Ausgang des Piers trug, lächelte. Mirellas braune Augen, Bernsteinaugen hatte ihre Mutter sie immer genannt, blieben an der Fremden hängen. Auf dem üppigen schwarzen Haar schwebte ein wagenradgroßer ebenfalls schwarzer Hut mit einer schwarz gefärbten Feder. In einem blassen Gesicht schimmerten dunkle Augen, denn die Freude über die Ankunft ihrer Nichte wurde vom Kummer über die traurigen Umstände dieses ersten Zusammentreffens überschattet. In diesem Moment schob sich ein Herr vor Mirella, und sie verlor die Dame aus den Augen. Das also war ihre Tante Antonietta, die ältere Schwester ihres Vaters. Mirella hatte sie noch nie getroffen, da Antonietta bereits viele Jahre vor ihrer Geburt nach Amerika ausgewandert war. Es hatte zu Hause zwar ein paar vergilbte Fotografien von ihr gegeben, doch die elegante ältere Dame, die sie hinter der Absperrung erwartete, hatte nur wenig mit der jungen lebenslustig lachenden Frau auf den Fotos gemein. Antonietta hatte zwar immer an Weihnachten und Geburtstagen geschrieben und ab und zu Geld geschickt, doch die Tante aus dem fernen New York, bei der Mirella nun leben sollte, war für sie eine Fremde. Vor gut sechs Wochen, am 2. September 1907, war Mirella im Krankenhaus von Ponte Cadore aufgewacht, mit unerträglich schmerzendem Körper und der dumpfen Ahnung, dass etwas Furchtbares passiert war. Als der Gendarm an ihr Bett trat und ihr unbeholfen mitteilte, dass sie als Einzige ihrer Familie, ja fast als Einzige des ganzen Veretotals, das Inferno überlebt hatte, hatte sie nicht geweint und nicht geschrien. Sie hatte kaum reagiert. Aber je mehr Zeit verging, desto mehr grübelte sie, wieso Vater und Mutter, ihre Brüder Lorenzo und Matteo, Matteos Frau und das sechs Monate alte Baby von Wassermassen und Schlamm begraben worden waren, während sie selbst zwischen den Trümmern des zerstörten Hauses überlebt hatte. Sogar ihre Verletzungen waren angesichts des Ausmaßes der Katastrophe lächerlich: eine Gehirnerschütterung und eine Stirnwunde, die mit ein paar Stichen genäht wurde, zwei gebrochene Rippen, einige Quetschungen und Prellungen. Sie schämte sich, wie glimpflich sie davongekommen war, während fast tausend Menschen in jener Nacht ihr Leben verloren hatten. An das Unglück selbst konnte sie sich kaum erinnern. Es war spätabends gewesen, die Glocken von San Martino hatten gerade elf geschlagen. Draußen war es stockdunkel. Klare, kalte Bergluft kündete von einem frühen, schneereichen Winter. Sie hatte in ihrer Kammer unter dem Dach im Bett gelegen, als die Erde anfing zu zittern. Anfangs hatte sie geglaubt, es sei ein Erdbeben oder eine kleine Gerölllawine, keine Seltenheit in den karnischen Alpen. Doch dann setzte ohrenbetäubendes Krachen ein. Es hallte zwischen den Felswänden, als tobten zehn Gewitter zugleich über dem Valle Vereto. Sturmböen rasten gegen das Haus, drückten erst die Fenster, dann die ganze Wand ein, und als Glas und Holz ächzend zersplitterten, kamen das Wasser und der Schlamm. Wie lange sie in den geborstenen Mauern ihres Elternhauses gelegen hatte, wer sie gerettet hatte und wie sie nach Ponte Cadore gekommen war, wusste Mirella nicht. Auch als sie zwei Wochen später aus dem Krankenhaus entlassen wurde und im Valle Vereto die meterdicke Schicht aus Schlamm und Schutt betrachtete, kehrte die Erinnerung nicht zurück. Von der nördlichen Flanke des Monte Stella war unterhalb des bewaldeten Gipfels nur nackter zerklüfteter Fels geblieben. Auch der größte Teil des einmal sehr tiefen Veretosees war verschwunden. Der halbe Berg war in den See gestürzt, eine verheerende Flutwelle war über das Veretotal gerollt und hatte drei Dörfer, unter ihnen Mirellas Heimatdorf San Martino, buchstäblich zermalmt. Dicker verkrusteter Schlamm bedeckte nun Häuser und Höfe, Weiden und kleine Äcker, Ställe und Tiere und die Menschen, die dort gelebt hatten und die Mirella gekannt und geliebt hatte. Ihr ganzes bisheriges Leben war dort begraben. Die Nonnen von San Felice im Nachbartal nahmen sie auf und benachrichtigten Mirellas einzige noch lebende Verwandte, Antonietta Rossi in New York. Antonietta hatte bereits von dem Unglück erfahren. Die New York Times hatte, wie jede andere große Zeitung der Welt, die Nachricht auf der Titelseite gebracht. Selbstverständlich würde sie ihre Nichte aufnehmen und sich um sie kümmern wie um eine Tochter, teilte sie den Nonnen telegrafisch mit. Zusammen mit einem Ticket für eine Schiffspassage zweiter Klasse nach New York schickte sie etwas Reisegeld für Mirella nach Italien. Vor neun Tagen dann hatte sich Mirella in Genua von Schwester Maria Elisa verabschiedet und war mit einem kleinen Koffer an Bord der Prinzess Irene gegangen. Die Nonnen hatten ihr von Antoniettas Geld das Nötigste an Wäsche und Kleidung besorgt, denn alles, was Mirella besessen hatte, war von den Schlammmassen begraben worden. Heute Morgen, am 16. Oktober 1907, waren sie in New York eingelaufen. Mirella hatte von ihrem Platz im Frühstückssalon aus beobachtet, wie die herbstlichen Nebelschleier über dem Hudson zerrissen. Das Licht der aufgehenden Sonne hatte wie Silberstaub auf dem eben noch schwarzen Wasser gefunkelt. Hinter grauen, dicht an dicht stehenden Häuserwänden war der Himmel wie Gold erstrahlt. Es hatte so unglaublich ausgesehen, dass Mirella vergaß zu essen und die Schokolade in ihrer Tasse kalt werden ließ. Zum ersten Mal seit der Katastrophe hatte sie etwas anderes gefühlt als tiefe, ausweglose Trauer. Nun stand sie am Anleger, drehte sich um und warf einen letzten Blick zurück. Die Prinzess Irene lag fest vertäut am Pier des Norddeutschen Lloyd. Ihr mächtiger schwarzer Leib wiegte sich im sanften Wellengang des Hudson. Die Reisenden der ersten und zweiten Klasse waren bereits von Bord gegangen. Die Passagiere der überfüllten dritten Klasse strömten noch mit Koffern, Kisten und Kleinkindern beladen aus dem Bauch des mächtigen Ozeanliners. Die meisten von ihnen waren arme Emigranten, die wie Mirella aus den italienischen Alpen stammten. Beamte der Einwanderungsbehörde wiesen ihnen den Weg zu den Fähren nach Ellis Island. Dort erwarteten sie die vorgeschriebene ärztliche Untersuchung und die Einreiseformalitäten, die die Passagiere der ersten und zweiten Klasse bereits ganz bequem an Bord erledigt hatten. Die Einwanderer schoben sich aufgeregt schnatternd und gestikulierend an Mirella vorbei. Sie hofften nach der Armut und Enge ihrer Heimat auf ein neues, besseres Leben in Amerika. Mirella hatte diese Hoffnung nicht. Sie hatte ihr ganzes Leben im Valle Vereto verbracht und nie daran gedacht, das Tal zu verlassen. Doch von heute an würde sie in der fremden Stadt New York bei ihrer fremden Tante leben. Der Stewart blieb vor der Gitterschranke stehen. „Hier trennen sich unsere Wege, Signorina Rossi. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Arrivederla.“ Er wusste, dass Mirella eine der wenigen Überlebenden der VeretoKatastrophe war. Neun Tage lang hatte er beobachtet, wie tapfer sie ihr Schicksal ertrug, und das nötigte ihm Respekt ab. Mirella reichte ihm die Hand. „Grazie. Arrivederla.“ Sie nahm ihren Koffer und trat in die unbekannte neue Welt. Nie zuvor hatten so viele Neubürger New York erreicht wie im Jahr 1907. Auch wenn die meisten von ihnen über Ellis Island einreisten, tummelten sich auf dem Vorplatz der Piers einige hundert Menschen. Sie begrüßten sich lachend und manchmal auch tränenreich, auf jeden Fall laut und zumeist auf Italienisch. Mirella hörte sogar einige Fetzen des ladinischen Dialekts ihrer Heimat. Dazwischen boten Gepäckträger laut rufend ihre Dienste an, ein Ozeanliner tutete ohrenbetäubend, auf der benachbarten Baustelle der Chelsea Piers dröhnten Hammer und Bohrmaschinen, und ein paar Taschendiebe schoben sich, in der Hoffnung auf einen erfolgreichen Beutezug, durch die Menge. Der Lärm und das Gedränge ängstigten Mirella. Ihre Augen suchten Antonietta, die sich einen Platz direkt hinter der Schranke erkämpft hatte. Während sie sich einen Weg durch das dichte Gedränge zu bahnen versuchte, wurde Mirella hin und her gestoßen. Sie war klein für ihre fünfzehn Jahre. Breite Rücken und ausladende Kopfbedeckungen versperrten ihr die Sicht, und immer wieder verlor sie ihre Tante aus dem Blick. Antonietta hielt es nicht mehr aus und lief Mirella entgegen. Sie spürte Freude und Erleichterung, aber auch tiefen Schmerz beim Anblick des verstörten Mädchens in seiner schwarzen Trauerkleidung. Sie breitete die Arme aus, zog Mirella an sich und drückte sie. „Benvenuta cara mia! Willkommen in New York!“ Antoniettas Italienisch war durch den jahrzehntelangen Aufenthalt in Amerika so breit geworden, dass Mirella sie kaum verstand. „Ich hätte dich überall erkannt, bambina mia“, fuhr Antonietta fort, und ihre Stimme zitterte leicht. „Du bist Bruno, deinem Vater, wie aus dem Gesicht geschnitten.“ „Buongiorno, zia Antonietta“, murmelte Mirella verlegen und starrte auf die Spitzen ihrer Schnürstiefel. Antonietta räusperte sich. Sie hatte gehofft, dass Mirella ein kleines bisschen mehr Freude zeigen würde, ihre Tante kennenzulernen. Natürlich war ihr erstes Treffen unter diesen tragischen Umständen schwierig. Aber sie würde Mirella zeigen, dass sie ihren Kummer nicht nur verstand, sondern mit ihr unter dem plötzlichen Verlust fast ihrer gesamten Familie litt. „Sicher bist du erschöpft von der langen Reise“, sagte sie. „Wir fahren auch gleich nach Hause. Ich möchte nur kurz bei Saint Patrick’s anhalten. Die Kirche liegt direkt auf dem Weg. Dort können wir zusammen ein Gebet sprechen für die, die wir verloren haben.“ Sie lächelte ihre Nichte traurig an. „Danach essen wir zusammen zu Mittag und du kannst dich hinlegen. Meine Sofia soll deine Sachen später auspacken …“ Ihr Blick blieb an Mirellas kleinem Pappkoffer hängen, und ihr wurde bewusst, dass ihre Nichte kaum etwas besaß. Sie hielt mitten im Satz inne und gab dem Kutscher einen Wink, den kleinen Koffer an sich zu nehmen. Dann fasste sie Mirella an der Hand und lotste sie durch das Gedränge zu den Droschken. Auf einem großen Platz direkt am Fluss parkten immer einige Dutzend der schnellen zweirädrigen Hansom Cabs. Mirella ging, immer noch verschüchtert von dem Trubel um sie herum, neben ihrer Tante her. Dabei stieß sie mit einem Zeitungsjungen zusammen, der die neuesten Nachrichten zum Mordprozess gegen Harry Thaw herausschrie. Ein Verbrechen aus Eifersucht, und natürlich drehte es sich um eine Frau, Thaws Ehefrau, eine stadtbekannte Schönheit. „Liebesspiele auf einer roten Samtschaukel!“ Der Zeitungsjunge schwenkte eine Sonderausgabe der New York World vor Mirellas Nase und grinste frech. „Hey Miss, lesen Sie, wie Stanford White die kleine Mrs. Thaw mit Champagner abgefüllt und dann scharfe Fotografien von ihr geschossen hat.“ Antonietta war froh, dass ihre Nichte noch kein Englisch verstand, drängte den Jungen beiseite und zog das Mädchen eilig weiter. Auf Mirella wirkte der Rummel auf den Piers überwältigend. Niemand hatte sie darauf vorbereitet, dass es in New York keine Berge, keine Wälder und Wiesen gab. Niemand hatte ihr erklärt, dass diese Stadt noch viel größer und lauter war als Genua. Dass sie aus nichts als Stein bestand, voll gestopft war mit Menschen und durchdringend nach Dieselöl, Fisch und Brackwasser roch. Vor allem aber hatte ihr niemand gesagt, dass Tante Antonietta mit ihrem beeindruckenden Hut, dem schwarzen Samtkleid und dem pelzverbrämten Umhang einer Fürstin glich! Mirellas Eltern waren einfache Leute gewesen, die ein einfaches Leben geführt hatten. Ihr Vater und ihre Brüder waren jeden Winter, wenn es auf dem Hof nichts zu tun gab, nach Venedig gewandert, wo sie sich als Metzger oder Bäckergehilfen verdingt hatten. Seit Generationen waren die Rossis nie etwas anderes gewesen als hart arbeitende Gebirgsbauern. Dass Antonietta aus dem gleichen Dorf wie sie stammte, dass sie als junges Mädchen wie sie auf den Feldern geholfen hatte, konnte sich Mirella nur schwer vorstellen. Es war ein sonniger, fast sommerlich warmer Tag. Das Hansom Cab war nach vorne hin offen, und der Kutscher saß hinter der Fahrgastkabine, so dass Mirella einen guten Ausblick hatte. Und was sie nicht alles sah! Sie verließen die Piers und fuhren die 11te Avenue ein Stück südwärts. Ihr Weg führte sie mitten durch das Schlachthofviertel mit seinen Metzgereien, Lagerhallen und Kühlhäusern. Es stank nach Vieh und gestocktem Blut. Als ein Güterzug über die Schienen in der Mitte der Straße rumpelte, trieb der Kutscher den Wagen eilig an den Rand. Aus dem Inneren der Waggons hörte Mirella Muhen und Stampfen. Antonietta hatte ein Taschentuch vor die Nase gepresst und betrachtete ihre Nichte verstohlen. Sie hatte keine eigenen Kinder und kannte wenige junge Menschen. Ob sie und Mirella sich verstehen würden? Ob sie ihr über den Verlust der Eltern hinweghelfen konnte? Das arme Mädchen hatte so viel hinter sich! Auch für Antonietta im tausende Meilen entfernten New York war die Katastrophe ein riesiger Schock gewesen. Helen Miller, ihre beste Freundin, hatte ihr die Nachricht überbracht. Antonietta hatte gerade hinter dem Empfangstresen ihres Kosmetiksalons gestanden und dem Lehrmädchen Dottie gezeigt, wie sie die Dosen mit Reispuder zu einer hübschen Pyramide stapeln sollte, als Helen hereinkam. „Guten Morgen Helen“, grüßte Antonietta fröhlich. „Dein Termin ist doch erst übermorgen.“ Doch Helen legte eine Hand auf ihren Arm. „Antonietta“, begann sie leise. „In Italien hat es ein schreckliches Unglück gegeben.“ Antonietta stellte die Puderdose, die sie gerade in die Hand genommen hatte, zurück auf den Tresen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Dottie neugierig die Ohren spitzte. Sie starrte Helen an, die ihren Blick ungewöhnlich ernst erwiderte. „Im Veretotal ist ein ganzer Berg in einen See gestürzt. Es gab eine gewaltige Flutwelle …“ Hilflos brach sie ab und legte die New York Times auf den Tresen. In Windeseile überflog Antonietta die Zeilen, ihre Augen huschten dabei aufgeregt hin und her. Das Dorf, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, gab es nicht mehr, ihr Elternhaus war nur noch ein Trümmerhaufen, ihre gesamte Familie unter Schutt und Schlamm begraben. Sie merkte, wie ihr schwindlig wurde. Der Boden schien unter ihren Füßen wegzusacken. „Einen Stuhl, Dottie, schnell! Und ein Glas Wasser!“, hörte sie Helen rufen. „Meine Familie“, stammelte Antonietta tonlos. „Sie sind alle tot.“ Helen drückte sie auf den Stuhl, den Dottie gebracht hatte. Dann nahm sie die Zeitung und las den Artikel, den sie selbst nur in aller Eile überflogen hatte, noch einmal genau durch. „Mein Gott!“ Helen krallte die Finger ihrer freien Hand in Antoniettas Schulter. „Ein junges Mädchen aus San Martino hat überlebt, eine Mirella Rossi. Ist das eine Verwandte von dir?“ Antonietta wurde kalkweiß. „Meine Nichte“, schluchzte sie. „Sie lebt!“ Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte herzzerreißend. In den sechs Wochen, die seitdem vergangen waren, hatte sich Antonietta geschworen, der einzigen Tochter ihres verstorbenen Bruders ein neues Zuhause zu geben. Doch jetzt in der Droschke wurde ihr zum ersten Mal klar, dass zwischen ihr, der erfolgreichen Geschäftsfrau, und diesem einfachen Mädchen aus einem italienischen Bergdorf Welten lagen. Es würde viel Zeit und Geduld brauchen, dieses verstörte Geschöpf in den schlecht sitzenden Kleidern in eine energische, zupackende Amerikanerin zu verwandeln. Als Erstes würde sie Mirellas Kleidung verbrennen, bevor sie sich irgendwelches Ungeziefer ins Haus holte. Sie hatte schon ein paar Kleidungsstücke und Wäsche bei Lord & Tayler am Broadway besorgt. Morgen konnten sie dort alles andere kaufen, was das Mädchen noch brauchte. Unauffällig sah sie ihre Nichte an. Abgesehen von ein wenig Babyspeck war Mirella ein hübsches Ding mit goldbraunen Augen, einer leicht gebogenen Nase und üppig geschwungenen Lippen. Ihr olivbrauner Teint schimmerte wie bei vielen ihrer Landsleute zart und gesund. Das Auffallendste war zweifellos ihr Haar. Es hatte die gleiche Farbe wie dunkle Mokkabohnen und hing ihr zu einem dicken Zopf geflochten bis fast zum Po herab. Die frische rote Narbe auf ihrer linken Schläfe, offenbar die einzige bleibende Erinnerung an die Katastrophe, war ein kleiner Makel in dem sonst so hübschen, harmonischen Gesicht. Immerhin war die Wunde sauber genäht worden, und Antonietta wusste, wie man die Narbe kaschieren konnte. Sie beugte sich vor und streichelte Mirellas Wange. „Wie alt bist du eigentlich, cara mia? Vierzehn?“ Mirella, die staunend ihre Umgebung betrachtet hatte, fuhr zusammen. „Fünfzehn. Seit dem 14. Juni“, murmelte sie und schwieg dann wieder. Offenbar wollte sie nicht über sich sprechen. Deshalb beschloss Antonietta, das Thema zu wechseln und ihrer Nichte ein wenig über ihre neue Heimat zu erzählen. „Manhattan ist eine Insel, auf der alle Völker dieser Welt leben. Jedes in seinem eigenen kleinen Viertel“, erklärte sie, während das Hansom Cab auf die 14te Straße bog. „Die Gegend um den Schlachthof ist fest in der Hand der Iren. Ein Stück weiter südöstlich leben die Chinesen, in direkter Nachbarschaft zur Lower Eastside, dem Quartier der Juden.“ „Und wo wohnen die Italiener?“, fragte Mirella. „Die Italiener, zumindest die Süditaliener, haben sich längs der Bowery angesiedelt. Eine heruntergekommene Gegend, in der anständige Menschen sich nicht aufhalten können, ohne um Leib und Leben zu fürchten …“ Antonietta kräuselte verächtlich die Nase. „Als ich vor dreiunddreißig Jahren hier ankam, war das anders. Damals genoss diese Gegend hier noch einen tadellosen Ruf. In Pike’s Opernhaus an der 23sten Straße habe ich einige wunderschöne Operettenabende erlebt. Heute tritt ein gewisser Buffalo Bill mit einer obskuren Wildwest Show dort auf. Aber so ist New York. Diese Stadt ändert ihr Gesicht jeden Tag …“ Auf der 14ten Straße, die das Künstlerviertel Greenwich Village vom Textilarbeiterdistrikt trennte, zeugten noch einige wenige elegante Wohnhäuser vom einstigen Glanz. Auf den Bürgersteigen bahnten sich Hausfrauen mit Einkaufskörben ihren Weg zwischen den Buden der Obstund Gemüseverkäufer. Schuhputzer und Kurzwarenhändler machten laut rufend auf sich aufmerksam. Kinder spielten gefährlich nah an Wagenrädern und Pferdehufen im Rinnstein. Das Hansom Cab kreuzte die 6te Avenue und fuhr unter den Hochbahngleisen hindurch. Mirella presste erschrocken die Hände auf die Ohren, als ein Zug nur wenige Meter über ihren Köpfen entlang ratterte, und Antonietta schimpfte, weil ein Schauer von Rußflocken und Öltropfen auf die Kutsche niederregnete. Wenige Minuten später rollten sie nordwärts auf den Broadway und erreichten schon bald den Theater Distrikt. „Das prächtige Gebäude dort drüben ist die Metropolitan Opera. Die reichsten Familien unserer Stadt haben sich mit dem Bau ein Denkmal gesetzt. Diese Saison haben sie unseren Landsmann Enrico Caruso engagiert. Ich durfte ihn bereits als Leutnant Pinkerton in Madame Butterfly bewundern. Es war außergewöhnlich!“ In Höhe der 51sten Straße bogen sie nach links in die Fifth Avenue. Von dort bis zur Park Avenue lebte das vornehme New York. Familien wie die Vanderbilts, die Astors und die Rockefellers residierten hier in unermesslichem Reichtum. Ihre luxuriösen Wohnsitze glichen französischen Châteaux oder italienischen Palazzi: Stein gewordene Denkmäler des amerikanischen Glaubens an ein Land, in dem jeder, egal welcher Herkunft, dieselbe Chance auf Reichtum und Erfolg hatte. „Das hier“, setzte Antonietta ihre kleine Stadtführung fort, „sind die guten Gegenden, sie befinden sich nördlich der 14ten Straße und östlich des Broadway. Denn merke dir eines, bambina mia, du kannst in New York alles erreichen, auch als Frau. Aber du musst hart dafür arbeiten.“ Antonietta hatte sich mit Fleiß und Tatkraft ihren Platz in der aufstrebenden Nation erkämpft. Ihre erste Arbeit als Verkäuferin in einem kleinen Laden, der Farben, Drogerieprodukte und Seifen verkaufte, hatte sie in die vor dreißig Jahren noch wenig begehrte Gegend südlich des Central Park verschlagen. Einige Jahre später hatte ihr Liebhaber Alfred Fox, ein verheirateter Anwalt aus einer angesehenen Familie, ihr geholfen, günstig ein Grundstück unweit der 55sten Straße zu kaufen. Dort, mitten in Manhattan, dem begehrtesten Viertel New Yorks, hatte sie sich ihr eigenes kleines Wohn- und Geschäftshaus gebaut. „Wir sind gleich da“, sagte sie zu Mirella. Antonietta öffnete das kleine Fenster im rückwärtigen Verdeck des Hansom Cab und rief dem Fahrer etwas zu. Er bog zweimal hintereinander links ab und hielt dann vor einer großen Kirche. „Lass uns aussteigen“, sagte Antonietta, nachdem sie den Fahrer bezahlt und damit beauftragt hatte, Mirellas Koffer zu ihrem Haus zu bringen. Aufmunternd streckte sie ihrer Nichte die Hand entgegen. Mirella zögerte. Sie war erschöpft von der Reise und hatte nicht die geringste Lust, ausgerechnet jetzt mit ihrer Tante die Messe zu besuchen. Widerwillig und ohne die angebotene Hand zu nehmen, kletterte sie aus dem Hansom Cab. Antonietta ließ sich von ihrem ablehnenden Verhalten jedoch nicht aus der Fassung bringen. Sie nahm ihre Nichte sanft am Ellbogen und schob sie vorwärts. „Das ist unsere Gemeindekirche, Saint Patrick’s“, sagte sie. „Ist sie nicht wunderschön?“ Ihr Blick schweifte liebevoll über das mächtige weiß glänzende Bauwerk. Mit den hohen schlanken Türmen und den zahllosen Zinnen und Bögen wirkte es auf Mirella wie ein Märchenschloss. „Als ich 1874 in diese Stadt kam, war sie noch nicht fertig. Die Gegend hier war arm, und die New Yorker haben Bischof Hughes für verrückt erklärt, ausgerechnet hier eine Kathedrale zu bauen. Aber hat nicht schon unser Herr gesagt: ‚Selig ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes‘? Letztendlich spendeten viele Geld für den Bau. Auch von mir stecken ein paar Dollar in diesen Mauern …“ Sie zog die schwere Haupttür auf und warf Mirella einen Seitenblick zu. „Ich habe eine Spendensammlung ins Leben gerufen, damit die Kirche von San Martino neue Glocken bekommt.“ Mirella starrte ihre Tante überrascht an. Der Glockenturm ihres Heimatdorfes war das einzige Gebäude im ganzen Tal, das die Flutwelle überstanden hatte. Viele Menschen hatten darin ein Zeichen gesehen, dass der Herrgott ihnen auch im schlimmsten Kummer tröstend zur Seite stand. Die Glocken allerdings hatte das Wasser fortgerissen. Einige zerborstene Stücke hatte man später an einem Berghang gefunden. „Woher weißt du von den Glocken?“, fragte Mirella. „Es stand in der Zeitung.“ Antoniettas dunkle Augen betrachteten prüfend Mirellas Gesicht. Wie sehr wünschte sie sich, darin ein Zeichen von Zuneigung zu erkennen, aber das Mädchen gab ihren Blick mit unbewegter Miene zurück. „Ich wollte etwas tun. Schließlich ist es auch meine Heimat“, sagte Antonietta leise. Im Inneren des Gotteshauses umfingen sie Stille und Dunkelheit. Nach der spätsommerlichen Wärme draußen war der Steinboden besonders kalt. Mirella wollte zwei Finger in das kleine Weihwasserbecken neben der Eingangstür tauchen, aber Antonietta hielt ihren Arm fest. „Weißt du, wie viele Leute hier ihre ungewaschenen Hände hineintauchen?“, flüsterte sie. „Das ist unhygienisch.“ Mirella sah sie trotzig an. „Es ist heiliges Wasser!“ „Wenn du meinst, dass du Gott einen Gefallen tust, indem du dir eine ansteckende Krankheit einfängst, bitte. Nur zu.“ Antonietta bekreuzigte sich, ohne ihre Handschuhe auszuziehen, und ging dann den Mittelgang entlang. Ihre Absätze klapperten über den Steinboden, und ihre Seidenröcke rauschten bei jedem Schritt. Mirella warf einen Blick auf das Kreuz mit der Christusstatue über dem Hauptaltar. Dann zog sie ihre trockene Hand vom Weihwasserbecken zurück, bekreuzigte sich und hastete hinter ihrer Tante her. Es war zwar gerade kein Gottesdienst, doch einige Gläubige knieten in den hölzernen Kirchenbänken, und eine Gruppe Kunststudenten bewunderten die nachtblauen und rubinroten Rosettenfenster. Als Mirellas Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie ein hohes Kirchenschiff. Von den Orgelpfeifen war selbst die kleinste noch viel größer als bei der Orgel daheim in San Martino. Vor den Seitenaltären und der marmornen Pietà flackerten Kerzen. Rechts und links strebten schlanke Säulen empor und entfalteten sich zu einem filigranen Gewölbe, das hoch über ihr im Dämmerlicht verschwamm. Das Gotteshaus war großartig und erhaben schön. Sie durchquerten den Chorraum, gingen am Hochaltar vorbei und betraten eine kleine Marienkapelle am Ostende der Kathedrale. Durch die bunten Glasfenster fiel weiches Licht auf einen Altar mit einer Statue der Gottesmutter. Sie waren allein hier, die wenigen Kirchenbänke waren leer. Antonietta holte ihre Geldbörse aus der Handtasche, ging zu einer Stellage, auf der viele Kerzen flackerten, und ließ ein paar Münzen in das Körbchen daneben fallen. Dann nahm sie mehrere Kerzen aus einem Fach, entzündete eine und befestigte sie sorgsam auf der Stellage. „Für Bruno. Möge Gott sich seiner armen Seele erbarmen“, flüsterte sie und bekreuzigte sich. Zu Mirella gewandt fügte sie hinzu: „Auch ich habe Menschen verloren, die ich liebe. Meinen Bruder, meine Schwägerin, meine Neffen. Jetzt habe ich nur noch dich, mein Kind.“ Mirella blickte sie wie versteinert an. Was sollte sie darauf sagen? „Wenn wir ein Licht für sie anzünden, zeigen wir ihnen, dass wir an sie denken – wo immer sie auch sind.“ Antonietta bot ihr eine Kerze an. Sie zögerte. Ein dicker Kloß saß ihr in der Kehle. Das Atmen fiel ihr schwer. Schließlich nahm sie die Kerze und hielt den Docht an das Licht, das Antonietta für ihren Vater entzündet hatte. „Für Mama“, flüsterte sie, als die Flamme aufflackerte. Es war so schwer, diese beiden Worte auszusprechen, und es tat so weh. Aber als sie auch für Lorenzo und Matteo, für Matteos Frau und die kleine Chiara Kerzen angezündet hatten, und die sechs Lichter unter Marias mitleidigen Augen brennend nebeneinander standen, hatte sie das Gefühl, dass ihre Familie aus dem Himmel auf sie herabblickte. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hatte sie nicht einmal beerdigen können, es gab keine Gräber, die sie besuchen konnte. Der Schlamm und das Wasser hatten alles unter sich begraben. Sie spürte Antoniettas Hand auf ihrem Rücken und drehte den Kopf. Auch ihre Tante weinte. Behutsam schloss sie Mirella in ihre Arme und zog sie an sich. Und als das Mädchen sich nicht sträubte, fühlte sie sich, so traurig das alles war, auf einmal glücklich. „Lass uns nach Hause gehen“, sagte Antonietta, nachdem sich Mirella aus ihrer Umarmung gelöst hatte. Sie wollte ihr die Hand reichen, doch erneut wich ihre Nichte wich zurück. „Ich habe kein Zuhause mehr“, sagte sie rauh. Der kurze Moment der Nähe war verflogen. Sie gingen zu Fuß zu Antoniettas Haus. Es lag nur vier Blocks nordwärts von der Saint Patrick’s Cathedral an der Einmündung zur 55sten Straße. Herrschaftliche Villen und elegante Geschäfte säumten die Straße. Verglichen mit der quirligen 14ten Straße floss das Leben hier träge, fast behäbig dahin. Antonietta zeigte auf ein nobles Gebäude mit hellen Sandsteinmauern und einem schwarzen Dach auf der Ostseite der Fifth Avenue. „Das St. Regis Hotel“, erklärte sie ihrer Nichte. „Ich wohne schräg gegenüber. Von meinen Salonfenstern aus können wir fast in die Suiten schauen.“ Antonietta blieb vor einem schmucken aus braunrotem Backstein gemauerten Gebäude stehen. „Da sind wir!“ Ein mannshoher gusseiserner Zaun trennte Antoniettas Haus vom Gehweg und dem gepflegten kleinen Vorgarten. Töpfe mit akkurat geschnittenen Buchsbäumen flankierten den sauber gefegten Weg, der zur Eingangstür führte. Heller Sandstein rahmte die vorspringenden Erker und hohen Sprossenfenster ein. Es war ein hübsches repräsentatives Haus, das sich jedoch zwischen den pompösen Luxusbauten der Fifth Avenue klein und bescheiden ausnahm. Mirella erschien es dennoch großartig. Die Rossis hatten wie alle im Valle Vereto in einem schmucklosen Steinhaus gelebt mit kleinen Fenstern und Holzläden, die in stürmischen Nächten geklappert hatten. Doch auch wenn es das alte Bauernhaus nicht mit Antoniettas schicker Villa aufnehmen konnte, würde sie alles darum geben, noch einmal in das Haus zurückkehren zu können, das fünfzehn Jahre lang ihre casa, ihr Zuhause, gewesen war. „Dieses Haus gehört mir ganz allein“, sagte Antonietta neben ihr. „Einen Ehemann, mit dem ich teilen muss, was ich mir so hart erarbeitet habe, gibt es nämlich nicht.“ Mirella starrte ihre Tante an. Ihre Mutter hatte Antonietta oft bedauert für ihr Leben im fernen Amerika, so ganz ohne Mann und Kinder. Doch ihre Tante wirkte überhaupt nicht bedauernswert – im Gegenteil; Ihre Stimme klang stolz und selbstsicher. Sie durchquerten den Vorgarten und erreichten die Eingangstür. Antonietta zeigte auf ein blankes Messingschild mit der Aufschrift „Casa di Bellezza“ – Haus der Schönheit. „Mit meinem Schönheitssalon habe ich mir alles erarbeitet, was ich besitze“, erklärte sie. „Denn merke dir eines, cara. Einen Mann braucht eine Frau nur für die Liebe. Alles andere kann sie allein!“ Bevor Mirella sich von ihrer Verblüffung erholt hatte, wurde die Tür geöffnet. Eine Dame mit silbergrauem Haar und in einem eleganten dunkelblauen Kostüm trat heraus. „Antonietta! Wie schön, dass ich euch treffe!“ Sie küsste Antonietta auf beide Wangen, aber ihre Augen waren dabei auf Mirella gerichtet. „Du bist Mirella, nicht wahr?“, fragte sie in makellosem Italienisch. Sie umfasste Mirellas Rechte mit beiden Händen. „Willkommen in New York, mein Kind. Erlaube mir, dir mein tiefstes Beileid auszusprechen. Du hast Schlimmes hinter dir, aber deine Tante wird dir helfen, darüber hinwegzukommen.“ Sie musterte Mirella freundlich. „Mach es gut, meine Liebe, wir werden uns sicher bald wiedersehen.“ Sie verabschiedete sich von Antonietta und ging zur Straße, wo inzwischen ein vornehmer vierspänniger Landauer vorgefahren war. Antonietta sah ihr nach. „Helen war eine meiner ersten Kundinnen. Inzwischen ist sie meine beste Freundin“, erklärte sie. „Es gibt keinen liebenswerteren Menschen, und dazu ist sie klüger als die meisten Männer, die ich kenne.“ Antonietta drückte die doppelflügelige schwarze Eingangstür auf und bedeutete Mirella, ihr zu folgen. Sie betraten einen langen mit schwarzgrünen Fliesen ausgelegten Flur, der an der gesamten linken Seite des Hauses entlanglief. Im vorderen Bereich befand sich eine schwarz lackierte Tür. Darüber prangte ein Mosaik aus bunten Glassteinen, das eine nackte Frau zeigte, die, in ihr langes Haar gehüllt, einer Muschel entstieg. „Venus, die Göttin der Schönheit wacht über den Eingang zur Casa di Bellezza“, bemerkte Antonietta lächelnd. „Aber wie es dahinter aussieht, zeige ich dir ein anderes Mal.“ Sie führte ihre Nichte zu einer Treppe an der rückwärtigen Wand des Hauses. In der ersten Etage erreichten sie erneut einen langen Flur mit drei Türen. „Hier befinden sich das Labor, der Pausenraum für meine Mitarbeiterinnen und ganz vorne ein Extraraum für besondere Behandlungen“, erklärte Antonietta. Sie wollte die Treppe weiter hinaufsteigen, aber in diesem Moment wurde die erste Tür geöffnet. Ein Mann trat heraus und ging auf Antonietta zu. Er war klein und blass, und sein helles Haar lichtete sich über der Stirn. Ein weißer Laborkittel schlotterte um seine mageren Schultern, und seine grauen Augen starrten durch eine dicke Nickelbrille unverwandt Antonietta an. „Miss Rossi, wenn Sie vielleicht einen Augenblick …“ Doch Antonietta winkte ab. „Ich komme später bei Ihnen vorbei, Mr. Casey. Jetzt möchte ich mich erst einmal um Mirella kümmern. Sie wissen doch, dass meine Nichte heute aus Italien angekommen ist.“ Auf Italienisch erklärte sie Mirella: „Mr. Casey verwandelt meine Ideen in die besten Cremes und Lotionen von ganz New York.“ Casey streckte Mirella die Hand entgegen: „Welcome to New York, Miss Rossi.“ Mirella verstand ihn nicht und ergriff zögernd seine kalte Hand. Die langen dünnen Finger erinnerten sie an Spinnenbeine. Rasch stieg sie hinter ihrer Tante in das zweite Stockwerk des Hauses hinauf. „In der zweiten und dritten Etage wohne ich und du jetzt natürlich auch. Und darüber auf dem Dach befindet sich das Beste – mein Wintergarten mit Terrasse. Von dort hast du einen herrlichen Blick über Manhattan.“ Antonietta schloss eine reich geschnitzte Tür auf und führte sie in eine mit bunten Mosaiken gepflasterte Empfangshalle. Sofort erschien ein Dienstmädchen, um ihnen Hut und Mantel abzunehmen. Dann betraten sie den Speisesaal, der direkt an die Halle grenzte. Rechts dahinter, erklärte Antonietta, lag die Küche. Auf der linken Seite des Hauses mit Blick auf die Fifth Avenue befanden sich ein Musikzimmer und ein kleiner Salon zum Karten oder Billard spielen. In der Mitte schließlich lag eine kleine Bibliothek, von der aus eine Treppe in die dritte Etage führte. „Dort befinden sich unsere privaten Räume“, sagte Antonietta, als sie die Stufen hinaufstiegen. „Du hast natürlich ein eigenes Schlaf- und Badezimmer. Meine Räume liegen zur Fifth Avenue, deine zum Hinterhof. Dazwischen befindet sich mein Turnzimmer, das du natürlich jederzeit benutzen darfst“, setzte Antonietta mit einem Seitenblick auf Mirellas rundliche Figur hinzu. Sie gingen über einen Flur zum hinteren Teil des Hauses. Antonietta öffnete eine weiß lackierte Tür und trat beiseite. „Das ist dein Reich.“ Mirellas Zimmer war nicht nur sehr viel größer, sondern auch sehr viel schöner als ihre Kammer im Valle Vereto. Licht flutete durch hohe Fenster, brach sich in den zarten Gardinen und malte verschlungene Muster auf den Holzboden. Ein Hauch von Möbelpolitur hing in der Luft. Die Wände waren mit lindgrünen Seidentapeten bespannt. Es gab ein breites Bett und einen großen Kleiderschrank, einen bequemen Lehnsessel und einen Schreibtisch, auf dem eine Vase mit rosa Herbstanemonen stand. Antonietta ging zu einem der beiden hohen Fenster, zog den Vorhang beiseite und zeigte Mirella die Presbyterianer Kirche und das eindrucksvolle Plaza Hotel, die man von dort aus sehen konnte. „Im Hof befindet sich ein Stall für Droschkenpferde. Hoffentlich stört dich ihr Hufgeklapper nicht.“ Sie schloss den Vorhang wieder. Mirella hatte unbewegt zugehört. Hätte man ihr vor zwei Monaten ein so schönes Zimmer gezeigt, das noch dazu ihres war, hätte sie sicherlich gejubelt. Doch seit das Schicksal ihre Welt zerstört hatte, konnte sie sich über nichts mehr freuen. Antonietta führte Mirella in das Badezimmer. Dort fiel ihr als Erstes eine kostbar aussehende Badewanne ins Auge, die auf Löwentatzen stand. Daneben sah sie einen Waschtisch mit Porzellanbecken und goldfarbenen Wasserhähnen, darüber einen runden Spiegel. Auf das Bord hinter dem Becken hatte ihre Tante eine Cremedose und ein Flasche mit Reinigungsöl aus ihrem eigenen Kosmetiksortiment gestellt. „Und? Gefällt es dir, cara?“ Antonietta sah ihre Nichte erwartungsvoll an. Mirella schluckte. Sie wusste, dass ihre Tante sich viel Mühe gegeben hatte und nun auf ein paar Worte des Dankes hoffte, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie nickte stumm. Antonietta konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. „Nun gut“, murmelte sie. „In zehn Minuten wird das Essen serviert. Ich hole dich dann ab.“ Sie verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Zum ersten Mal, seit Mirella heute Morgen ihre Kabine auf der Prinzess Irene verlassen hatte, war sie allein. Sie drehte die Wasserhähne auf und schrubbte sich gründlich die Hände. Nach den wenigen Stunden in New York hatte sie das Gefühl, aller Ruß und Kohlestaub der Stadt klebte auf ihrer Haut. Ihr Blick fiel auf Antoniettas Kosmetikartikel. Die schlanke eckige Flasche und der kleine runde Tiegel waren aus schwarzem Glas. „Antonietta Rossi“ stand in Goldbuchstaben auf den Gefäßen und dazu noch etwas Englisches, das sie nicht verstand. Sie nahm den Tiegel und schraubte ihn auf. Er enthielt eine cremige gelbe Paste, die sanft nach Bienenwachs und Kamille duftete. Genau wie der Heublumensack, den ihre Mutter ihr immer gegeben hatte, wenn sie Bauchschmerzen gehabt hatte. Rasch schraubte Mirella den Tiegel wieder zu und stellte ihn zurück auf das Bord. Tränen brannten in ihren Augen. Sie würde nie verstehen, weshalb es ausgerechnet ihr Dorf und ihre Familie getroffen hatte. Zehn Minuten später stand Antonietta wieder vor Mirellas Tür. Die ersten Stunden mit ihrer Nichte war sehr anstrengend gewesen. Doch es half nichts, sie mussten sich aneinander gewöhnen – das Leben ging schließlich weiter! Außerdem war sie es Bruno und seiner Frau schuldig, sich um ihre Tochter zu kümmern. Sie klopfte, einmal, zweimal. Als sie keine Antwort erhielt, drückte sie die Klinke hinunter und spähte ins Zimmer. „Mirella? Das Essen ist serviert. Es gibt …“ Polenta mit Musetto und zum Nachtisch warmen Apfelstrudel, wollte sie sagen. Alles Gerichte aus Mirellas Heimat, die sie extra für heute hatte kochen lassen. Antonietta stutzte und trat vorsichtig ins Zimmer. Mirella lag zusammengerollt auf dem Bett, das Kopfkissen an den Bauch gepresst, und schlief fest. Ihr Gesicht sah auch im Schlaf angestrengt aus, und sie wirkte so jung und schutzbedürftig, dass es Antonietta fast das Herz zerriss. Sie nahm die Wolldecke, die zusammengefaltet am Fußende des Betts lag, und breitete sie über das schlafende Mädchen. Dann verließ sie auf Zehenspitzen das Zimmer. Amandine 2 Unzen Gummi Arabicum mit 6 Unzen weißem Honig in einem Gefäß mit dem Mörser vermahlen. 3 Unzen Mandelrasiercreme hinzufügen und rühren, bis eine homogene Masse entsteht. 2 Pfund kaltgepresstes süßes Mandelöl langsam hinzugeben. Am Ende sollte die Mischung gelartig sein. Für den Duft ein paar Tropfen Bittermandelöl und/oder Rosenöl hinzufügen. In einen Steinguttopf füllen und fest verschließen. Kapitel zwei „Attenta! Pass auf!“ Mirella schleuderte das weiße Laken beiseite, das sie von Kopf bis Fuß bedeckt hatte, und schoss aus dem Behandlungsstuhl. Antonietta sprang ebenfalls erschrocken auf. „Um Gottes Willen! Beruhige dich doch!“ „Du hast mich verbrannt!“ Mirella presste die linke Hand an die Schläfe und blitzte ihre Tante zornig an. „Ich bitte dich! Glaubst du vielleicht, dass ich mit meinen eigenen Geräten nicht umgehen kann?“ Nun klang auch Antonietta gereizt. Sie trug einen wadenlangen weißen Kittel über ihrem schwarzen Kleid. In der Rechten hielt sie eine schwarze Metallröhre, die so lang wie eine Hand und daumendick war. Im vorderen Ende der Röhre steckte eine Glaselektrode mit einem flachen gebogenen Kolben an der Spitze. Vom hinteren Ende führte ein Kabel in eine Metallbox, an der sich mehrere Knöpfe, Hebel und Drähte befanden und die über ein weiteres Kabel mit einer Steckdose verbunden war. Es war Mitte November. Während der vergangenen vier Wochen hatte Antonietta Mirellas Narbe an der linken Schläfe jeden Tag mit ihrer speziellen Zupfmassage behandelt. Die Narbe war deutlich verblasst, aber Antonietta war noch nicht zufrieden. Sie hatte beschlossen, zu ihrer Geheimwaffe zu greifen, ihrem nagelneuen Blaustrahlengerät, das Ekzeme, Narben und Aknemale mit fein dosiertem Strom nahezu unsichtbar machte. Die Massagen hatte Mirella stets widerstandslos über sich ergehen lassen, was Antonietta als Vertrauensbeweis gedeutet hatte. Deshalb hatte sie vor der Behandlung mit dem Strahlengerät darauf verzichtet, ihrer Nichte die genaue Funktionsweise zu erklären. Ein Fehler, wie sich nun herausstellte. „Ich habe dich nicht verbrannt!“ Antonietta zog Mirella zum Waschbecken in der Zimmerecke. Darüber hing ein Spiegel. „Sieh selbst. Alles in bester Ordnung!“ Sie drehte Mirellas Gesicht, so dass sie die linke Schläfe im Spiegel sehen konnte. Die Haut war zwar leicht gerötet, aber vollkommen unversehrt. Die beiden befanden sich in einem kleinen Zimmer in der ersten Etage des Hauses, das von Antoniettas Angestellten ehrfürchtig Operationssaal genannt wurde. Hier schabte Antonietta Warzen mit feinen Curetten ab, behandelte Narben oder dampfte ätherische Öle aus dem Vaporisator auf Hautausschläge. Diese Behandlungen führte sie stets persönlich durch, und man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass an ihr eine gute Ärztin verloren gegangen war. Als junges Mädchen hatte sie von einem Medizinstudium in der Schweiz geträumt. Doch dafür war ihre Schulbildung zu dürftig gewesen, und ihren Eltern hatte das Geld gefehlt. Als sie später in New York angekommen war, war ihr Traum daran gescheitert, dass sie ihr tägliches Brot hatte verdienen müssen. Doch wenigstens konnte sie ihre Leidenschaft jetzt mit ihren dermatologischen Geräten ausleben. Deshalb ließ sie sich diese Arbeit von keinem der Angestellten abnehmen. „Lass uns weitermachen. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Helen kommt gleich.“ Antonietta wollte Mirella wieder zum Behandlungsstuhl schieben, doch die verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. Mit den trotzig zusammengezogenen Brauen glich sie ihrem Vater so sehr, dass Antonietta nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte. „Nun komm“, sagte sie etwas sanfter. „Wenn du willst, zeige ich dir, wie das Gerät funktioniert. Es ist alles ganz harmlos. Du willst diese Narbe doch loswerden, nicht wahr?“ Mirella zuckte nur die Achseln, aber sie ließ sich von Antonietta zu dem kleinen Tisch führen, auf dem das Blaustrahlengerät stand und leise summte. Antonietta ergriff das Metallrohr mit der Glaselektrode. „Durch das Kabel fließt Strom in die Elektrode. Ich kann ihn auf die gewünschte Stärke einstellen, je nachdem ob ich Ekzeme, Akne oder deine Narbe behandeln möchte.“ Sie bewegte einen Hebel an der Metallbox von rechts nach links, und das Gerät begann zu summen wie ein wütender Bienenschwarm. Mirella zuckte unwillkürlich zurück. „Hab keine Angst. Dir passiert nichts“, versicherte Antonietta und hielt die Glaselektrode über ihren Handrücken. Blau-violette Funken sprühten aus dem Kolben. „Sieht es nicht wunderschön aus? Wie ein kleines Feuerwerk“, sagte sie versonnen und sah Mirella herausfordernd an. „Na, traust du dich jetzt?“ Mirella schnaubte, doch dann setzte sie sich auf den Behandlungsstuhl. Antonietta zog das Laken wieder über ihren Körper. Mit der Glaselektrode fuhr sie ruhig und gleichmäßig über die Narbe. Mirella krampfte unter dem Laken zwar die Finger ineinander, aber sie ertrug die Behandlung mit Todesverachtung. Denn wenn sie ehrlich war, schmerzte es wirklich nicht. Es wurde nur ein bisschen warm. „Das sieht doch schon sehr gut aus!“, bemerkte Antonietta eine Viertelstunde später zufrieden, knipste die Lampe über dem Behandlungsstuhl aus und legte die Lupe beiseite, durch die sie das Ergebnis begutachtet hatte. Dann stand sie auf, holte einen Handspiegel aus dem Instrumentenschrank und gab ihn Mirella. „Wie findest du es?“ „Bene“, räumte Mirella ein. Der Lichtstrahl aus dem geheimnisvollen Apparat hatte die wellige Narbenhaut ausgetrocknet. Antonietta zupfte die Hautreste behutsam ab. „Zum Abschluss noch eine kleine Massage, dann bist du entlassen.“ Sie ging zu dem Kabinett neben dem Waschbecken. Mirella betrachtete die frische rosige Haut an ihrer linken Schläfe, hob eine Hand und berührte das empfindliche Gewebe mit den Fingerspitzen. Hinter ihr rumorte Antonietta in dem Schränkchen, bis sie in der hintersten Ecke ein Fläschchen Rosmarinöl gefunden hatte. Mirella ließ den Spiegel in den Schoß sinken und dachte daran, wie sie vor vielen Jahren mit ihrem Vater einen Feuerfalter beobachtet hatte, der sich aus seiner engen, dunklen Puppe befreit hatte. Er hatte seine orangeroten Flügel entfaltet, und sie hatte nicht glauben können, dass dieses schöne Geschöpf aus der toten, trockenen Puppe gekrochen war. „Ein Schmetterling wird zweimal geboren“, hatte ihr Vater ihr erklärt. „Zuerst als unscheinbare Raupe, und wenn er sich rund und fett gefressen hat, verwandelt er sich in einen zarten Falter.“ Zum zweiten Mal geboren, so fühlte sich Mirella jetzt ebenfalls. Sie musste ihr altes Leben in Italien hinter sich lassen und in das neue in Amerika hineinwachsen, doch das war furchtbar schwer. Am liebsten hätte sie einfach nur einen Tag nach dem anderen hinter sich gebracht, bis genug Zeit vergangen war und sie an die Vereto-Katastrophe denken konnte, ohne zu weinen. Antonietta setzte sich wieder auf den Hocker neben dem Behandlungsstuhl. Sie schraubte die Flasche auf, benetzte ihre Fingerkuppen mit dem würzig duftenden Öl und begann mit der Massage. „Ist es so angenehm?“ Schnell zupfte sie mit Daumen und Zeigefinger immer wieder an Mirellas Haut, hob sie senkrecht an, bis sie sich straffte, und ließ sie wieder los. „Mit dieser Technik und dem Öl wird die Haut optimal durchblutet. Merkst du, wie es kribbelt?“ „Sì“, erwiderte Mirella einsilbig. Auch vier Wochen nach ihrer Ankunft verständigten sie sich fast ausschließlich auf Italienisch. Sprach Antonietta sie auf Englisch an, reagierte Mirella meistens gar nicht. Antonietta wiederum musste feststellen, dass sie ihre Muttersprache nach dreiunddreißig Jahren in Amerika zu einem Gutteil vergessen hatte. Manchmal verstand sie nur Bruchstücke, manchmal suchte sie nach Worten und ärgerte sich, weil es ihr schwerfiel, genau das auszudrücken, was sie Mirella sagen wollte. Damit Mirella rasch englisch lernte, hatte sie ihre Nichte an der nur ein paar Straßen entfernten Saint Patrick’s Schule für katholische Mädchen angemeldet. Die Lehrerinnen vom Orden der Barmherzigen Schwestern galten als fortschrittlich und modern. Erst gestern hatten sie Antonietta versichert, dass Mirella schon recht gut englisch verstand und dass es nur noch mit dem Sprechen haperte. Ich wünschte, es gäbe jemanden, der mir sagen könnte, wie sie früher war, dachte Antonietta, als sie Mirellas Narbe massierte. War sie immer so still? Was hat sie gemocht? Worüber hat sie gelacht? Und wie zum Teufel schaffe ich es nur, zu ihr durchzudringen? Sie warf einen Blick auf die Uhr über der Tür und wischte sich die Hände an dem Tuch auf ihrem Schoß ab. Helen wartete sicher schon auf ihre wöchentliche Behandlung. „Wenn du willst, überpudere ich die Narbe noch ein bisschen.“ „No!“ Mirella hatte das weiße Laken schon beiseite geschoben, sprang vom Behandlungsstuhl und lief zur Tür. „Du darfst gerne aufräumen, junge Dame!“, rief Antonietta ihr streng hinterher. „Impossibile! Ich muss zum Klavierunterricht. Du hast selbst gesagt, ich soll dieses Mal pünktlich sein!“ „Ein Dankeschön wäre auch nett gewesen“, murmelte Antonietta. Doch die einzige Antwort waren Mirellas schnell verhallende Schritte auf dem Flur. Ärgerlich warf Antonietta das Laken und die benutzten Tücher in den Schacht, der direkt in den Keller zur Waschküche führte, stellte das Rosmarinöl zurück und lief die Treppe hinunter zum Schönheitssalon. „Antonietta! Guten Tag!“ Helen Miller legte die neueste Ausgabe des Ladies Home Journal beiseite und erhob sich aus ihrem Sessel im Empfangsbereich. „Du lieber Himmel, was machst du nur für ein Gesicht! Hat die Kleine dich wieder geärgert?“ Sie küsste die Freundin zur Begrüßung auf beide Wangen. „Jeden Tag nehme ich mir vor, mich nicht mehr über sie aufzuregen, aber es gelingt mir nicht! Dieses Mädchen ist schuld, wenn ich Sorgenfalten bekomme!“ Antonietta hob in komischer Verzweiflung die Hände. „Entschuldige, dass du warten musstest.“ Ihr Blick fiel auf das Lehrmädchen, das müßig am Empfangstresen lehnte, und sie ärgerte sich erneut. „Dottie, warum hast du Mrs. Miller kein Getränk angeboten?“ „Beruhige dich, meine Liebe. Sie hat gefragt, aber ich wollte nichts trinken!“ Helen legte eine Hand auf Antoniettas Arm. „Nun gut“, sagte Antonietta etwas besänftigt. „Lass uns mit der Behandlung beginnen. Dottie, bitte hol die Kartons mit dem Gesichtswasser und räum die Flakons in das Regal. Oben im Lager verkaufen wir sie nicht!“ Sie entfernte sich schnellen Schrittes mit Helen im Schlepptau. Dottie verdrehte die Augen. Die Chefin hatte wirklich eine schreckliche Laune, seit ihre Nichte vor vier Wochen bei ihr eingezogen war! Im Musiksalon in der zweiten Etage stopfte Mirella einen Hefter mit Notenblättern in ihre Schulmappe. Sie hatte diesmal wirklich vorgehabt, pünktlich bei der Klavierlehrerin zu sein. Aber es hatte wieder einmal zu verlockend aus der Küche geduftet. Die Köchin, die genau wie Mirella aus den karnischen Alpen stammte, hatte gerade Pinzas aus dem Ofen geholt, jene weichen süßen Hefeteigbrötchen, die auch Mirellas Mutter immer gebacken hatte. Außerdem verlangte sie im Gegensatz zu Antonietta nicht, dass Mirella englisch redete oder dass sie eine Schule besuchte, in der ihre Mitschülerinnen sie links liegen ließen, weil sie sich nicht gut verständigen konnte und immer schwarz gekleidet war. Die Köchin war einfach nur freundlich und versorgte Mirella mit kleinen Leckerbissen. Deshalb hielt sie sich am liebsten in der Küche auf, was Antonietta zur Weißglut trieb. „Du sollst dich nicht mit den Dienstboten verbrüdern“, wies sie Mirella wieder und wieder zurecht. „Sie verlieren sonst den Respekt vor dir.“ Doch wie üblich hatte Mirella die Ermahnung ihrer Tante auch heute ignoriert und war nun, nachdem sie ihre Pinza mit Pflaumenmus verspeist hatte, wieder einmal zu spät dran. Dabei hatte die Lehrerin sich schon das letzte Mal bei der Tante über ihre Unpünktlichkeit beschwert. Außerdem hatte sie wie immer kaum geübt. Zwar liebte sie Musik und hatte früher gerne gesungen, aber die Fingerübungen an Antoniettas schwarzem Steinway-Klavier fand sie furchtbar eintönig. Da war das Grammofon, das auf einem kleinen Tisch daneben stand, viel interessanter. Besonders nachdem sie Antonietta einmal heimlich dabei beobachtet hatte, wie sie das Gerät zum Laufen brachte. Es hatte geknackt und geknistert, und plötzlich – Mirella hatte sich furchtbar erschrocken –, erfüllte eine Opernarie den Raum. Antonietta hatte sich leise summend zur Melodie hin und her gewiegt, als schwebte sie über eine unsichtbare Tanzfläche. Mirella hatte ihr eine Weile zugesehen und war dann auf Zehenspitzen in ihr Zimmer geschlichen. Jetzt raste sie die Treppe hinauf, riss Mantel, Schal und Handschuhe aus dem Schrank, setzte ihren Hut auf und polterte wieder hinunter. Im Laufen wickelte sie sich den Schal zweimal um den Hals. Der November in New York war schon jetzt kälter als der Januar in Mirellas alter Heimat, und sie fror ständig. Sie stürmte in den zweiten Stock hinab. Auch nach vier Wochen fand sie Antoniettas Haus mit seinen neun Zimmern – die Dienstbotenkammer für Sofia und die Küche nicht mitgezählt – noch immer riesig. Sie konnte kaum glauben, was Antonietta ihr erzählt hatte: dass es Menschen in New York gab, die zwanzig Zimmer und mehr bewohnten. Zu Hause hatten sie alle eng beieinander gelebt. Deshalb verstand sie nicht, wieso ihre unverheiratete und kinderlose Tante zum Wohnen zwei Etagen benötigte. Wahrscheinlich war es wegen der Möbel. Die Einrichtung des Hauses war kostbar und schien nur dazu da zu sein, bewundert und mit Dingen gefüllt zu werden, die keinen Nutzen hatten. Während in Mirellas Elternhaus für Überflüssiges weder Platz noch Geld gewesen war, standen bei Antonietta in jedem Zimmer geschnitzte Tische, Kommoden mit Messingbeschlägen oder Schränke, deren Holz wie Honig glänzte. Es gab Lehnsessel, zierliche Stühle oder Sofas auf geschwungenen Beinen, Vitrinen mit exquisitem Porzellan, Ölgemälde und wertvolle Seidenteppiche. Sogar die Speisekammer war elektrisch beleuchtet, jedes Zimmer war behaglich warm, und im Klosett spülte man über eine Apparatur und nicht mit einem Wassereimer. Freilich hatte Mirella, die solche Annehmlichkeiten nicht gewohnt war, erst gelernt, die Spülung zu betätigen, nachdem sich Sofia über den strengen Geruch beschwert hatte. Doch mit dem neuen Luxus waren auch eine Menge Regeln verbunden, an die Mirella sich nur schwer gewöhnen konnte. Es begann schon mit den Mahlzeiten im Speisesaal. Zu zweit saßen sie an einem polierten Mahagonitisch, an dem gut und gerne zwölf Personen Platz gefunden hätten. Vor Mirella lag so viel Besteck, dass sie immer noch Schwierigkeiten hatte, zu entscheiden, mit welchem Messer sie das Fleisch und mit welchem sie das Obst zu schneiden hatte. Auch wusste sie noch immer nicht, wie die Fischgabel aussah, und warum sie Kuchen nicht mit dem Kaffeelöffel essen durfte. Außerdem ermahnte ihre Tante sie ständig, sich vor dem Trinken die Lippen mit der Serviette zu betupfen, nicht zu schnell zu essen und sich um Gottes Willen den Teller nicht so voll zu laden. Und wenn Antonietta einmal nichts an ihr auszusetzen hatte, war Mirella sicher, dass das mannshohe Porträt ihrer Tante über dem Kamin missbilligend auf sie herabblickte. Auch als Mirella jetzt mit ihrer Mappe unter dem Arm an der offenen Tür des Speisesaales vorbeirannte, hatte sie das Gefühl, von den Blicken des Gemäldes verfolgt zu werden. Sie schaute auf die Standuhr in der Eingangshalle: zwei Minuten vor drei. Wie sehr sie sich auch beeilte, sie würde es nicht in zwei Minuten bis zur 50sten Straße, wo die Klavierlehrerin wohnte, schaffen. Außerdem keuchte sie schon jetzt – und daran war das verhasste Korsett schuld, dass ihre Tante ihr aufgenötigt hatte. Antonietta hatte für Mirella bei Joseph Beckel & Company am Broadway ein Korsett anpassen lassen. In Italien hatte Mirella nie eines getragen, und das wie eine Sanduhr geformte Gebilde aus Spitze und Satin mit seinen langen Schnüren und biegsamen Stahlstäben in den Seitennähten hatte ihr anfangs sogar gefallen. Doch sobald sie darin steckte, hatte sie das Gefühl, in einem Folterinstrument gefangen zu sein. Ihr Busen wurde nach oben geschoben, der Bauch flach gepresst und das Gesäß nach hinten gedrückt. Sie bekam keine Luft mehr, und nach kurzer Zeit schmerzte jeder Muskel in ihrem Körper. Aber Antonietta wischte ihre Klagen ohne Mitleid beiseite. „Ohne Mieder gehen nur Arbeiterinnen und Bauersfrauen. Du wirst dich daran gewöhnen – und wenn du weniger naschst, sitzt es auch bequemer.“ Das allerdings bezweifelte Mirella. Als sie vor die Haustür trat, schlug ihr ein kalter Wind entgegen. Es nieselte, und graue Wolken hingen tief zwischen den Hochhäusern. Mirella schlug den Mantelkragen hoch, zog den Kopf zwischen die Schultern und hastete weiter. Sie erreichte die Saint Patrick’s Cathedral. Hier musste sie eigentlich westwärts in die 50ste Straße abbiegen. Doch sie blieb vor dem Haupteingang der Kirche stehen. Seit sie mit Antonietta zum ersten Mal hier gewesen war, kam sie fast jeden Tag, zündete ein Licht an und hielt Zwiesprache mit ihrer Familie. In diesen kurzen Momenten hatte sie das Gefühl, mit ihrem Kummer und ihrer Trauer nicht ganz allein zu sein. Klavierunterricht hin, Pünktlichkeit her, auf diese paar Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an! Sie öffnete die schwere Kirchentür und stand kurz darauf in der Marienkapelle. „Heilige Mutter Gottes, ich kenne niemanden in New York“, flüsterte sie und starrte in das flackernde Licht der vielen Kerzen auf der Stellage. „Ich will nicht bei Tante Antonietta blieben. Ich will nach Hause. Bitte hilf mir!“ Sie blickte zur marmornen Gottesmutter, die wie jeden Tag milde lächelte, und plötzlich war ihr klar, was sie zu tun hatte. Sie würde zurück nach Hause gehen, ins Valle Vereto. Sie würde die Nonnen, bei denen sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus gelebt hatte, bitten, sie im Kloster wohnen zu lassen. Ihre Tante würde sie per Telegramm informieren, aber erst, wenn sie sich mit dem Schiff weit draußen auf dem Atlantik befand. Mirella hatte zwar keine Ahnung, was eine Schiffspassage zurück nach Europa kostete, aber billig war sie bestimmt nicht. Doch wenn sie den Vierteldollar Taschengeld, den ihre Tante ihr jede Woche gab, sparte, würde sie sicherlich irgendwann genug beisammen haben. Sie beschloss sofort eine der Droschken zu nehmen, die auf dem Platz vor der Kathedrale warteten, zu den Hudson Piers fahren und sich zu erkundigen, was ein Ticket dritter Klasse kostete. Der Klavierunterricht musste heute eben ausfallen! In Antoniettas Salon herrschte Hochbetrieb. In sechs Wochen, zu Weihnachten, wurde die Festsaison eröffnet, Weihnachtsfeiern würden gefolgt werden von Silvesterpartys, Neujahrseinladungen, Debütantinnenbällen und Karnevalsfesten – höchste Zeit also für die New Yorkerinnen, in Form zu kommen. Schließlich bestand eine der liebsten Freizeitbeschäftigungen der guten Gesellschaft im Sehen und Gesehen werden. Man zeigte sich in der Oper und im Theater, gab kostspielige Einladungen oder besuchte Feste in den prächtigen, mit Ballsälen ausgestatteten Wohnungen in der Upper Eastside. Dabei reichte es nicht, den wertvollsten Schmuck und die elegantesten Abendroben vorzuführen. Die Frauen selbst wollten schön sein. Schon seit einiger Zeit eiferten die Amerikanerinnen dem Schönheitsideal des Gibson Girls nach, einem Porträt, das der Künstler Charles Gibson nach dem Vorbild der skandalösen Evelyn Nesbit Thaw gezeichnet hatte. Das Gibson Girl war allgegenwärtig. In altersloser Schönheit lächelte es von Fächern, Regenschirmen, Stuhlbezügen und Aschenbechern und hatte das ästhetische Empfinden der Amerikaner mehr als jede andere Frau geprägt. Mit Korsetts, die in der Taille eng geschnürt und am Busen mit Polstern verstärkt wurden, ahmten die New Yorkerinnen die sinnlich geschwungene Figur nach. Mit indischer Tinte und feinen Pinseln imitierten sie den besonderen Ausdruck, den Frauen als verträumt und Männer – wenn sie unter sich waren – als Schlafzimmerblick bezeichneten. Und natürlich wollten sie alle die üppige Haarpracht und die faltenlose Pfirsichhaut des ewig jungen Gibson Girls besitzen. Doch während sich fülliges Haar mit ring- oder haubenförmigen Aufbauten, die mit dem Kopfhaar verwoben wurden, noch ziemlich einfach vortäuschen ließ, erforderte makellose Haut Cremes und Masken, Dampfbäder und Massagen. Antonietta profitierte nicht schlecht von dem Gibson Girl-Fieber. Sie verkaufte Reispuder für einen Porzellanteint, Karmesin, um Rosenwangen zu zaubern, und einen aus Walnussschalen gewonnenen Extrakt für den Lidstrich. Doch erinnerte sie ihre Kundinnen immer wieder daran, dass es zwar Spaß machte, sich in ein Gibson Girl zu verwandeln, aber dass sie darüber nicht ihre eigene einzigartige Persönlichkeit vergessen sollten. „Würde der liebe Gott wollen, dass wir alle wie Evelyn Nesbit Thaw aussehen, würde er uns bei Henry Ford am Fließband fertigen lassen“, pflegte sie zu sagen. „Aber aus Freude über seine Schöpfung hat er uns unsere ganz einmalige Schönheit geschenkt.“ Auch Antonietta selbst sah nicht gerade wie ein Gibson Girl aus. Sie war klein und schlank mit pechschwarzem Haar und stets kirschrot geschminkten Lippen. Doch trotz ihrer fünfzig Jahre besaß sie einen Teint, der dem Gibson Girl Konkurrenz machte. Das hatte sich unter den New Yorkerinnen herumgesprochen, so dass die zehn Behandlungsplätze in Antoniettas Casa di Bellezza oft Wochen im Voraus ausgebucht waren. Der Behandlungsbereich war vom Empfang durch zwei Paravents getrennt, so dass ein schmaler Durchgang freiblieb. Da Antoniettas Kundinnen größtenteils Ehefrauen einflussreicher Bankiers und wichtiger Großindustrieller waren, hatte sie ihren Salon luxuriös und ganz in den Farben Schwarz, Gold und Kirschrot ausgestattet. Auf der Eingangstür und den schwarz lackierten Paravents prangten in geschwungenen Goldbuchstaben ihre Initialen. Neben der Registrierkasse auf dem Empfangstresen stand stets ein frisches Gesteck aus duftenden Rosen. Auf dem blanken Parkett lagen dicht gewebte rote Teppiche. Die Wände waren mit gold und schwarz gemusterten Seidentapeten bespannt, und unter der Decke hing ein funkelnder Kronleuchter. An den Behandlungsplätzen sorgten zusätzlich Stehlampen für ausreichend Licht. Es gab sogar ein Telefon an der Wand hinter dem Empfangstresen. Viele von Antoniettas Kundinnen besaßen bereits einen Apparat und nutzten ihn gerne, um ihre Termine zu vereinbaren. In einem der bequemen Sessel im hinteren Bereich des Schönheitssalons hatte inzwischen Helen Platz genommen. Sie betrachtete ihre Freundin, die neben ihr auf einem Stuhl saß und mit einem Spatel in einem Schraubglas rührte. Ihre Bewegungen wirkten hektisch, und sie sah müde aus. Rund um ihre sorgsam gepuderten Augen hatten sich feine Fältchen in die Haut gegraben. „So plötzlich Mutter eines jungen Mädchens zu werden, ist nicht leicht, habe ich recht?“, bemerkte Helen. „Es ist sogar sehr schwer“, erwiderte Antonietta nach einer kleinen Pause. „Vor allem, wenn man wie ich, nicht die geringste Übung im Muttersein besitzt.“ Unwillkürlich blickte sie über die Schulter. Im Behandlungsbereich gab es keine abgetrennten Kabinen. Wenn sie nicht leise sprach, würden ihre Angestellten sie ohne Probleme verstehen, und sie wollte nicht, dass sie von ihren privaten Sorgen erfuhren. Aber die zehn Frauen, gut erkennbar an den einheitlichen weißen Blusen und langen schwarzen Röcken, waren in ihre Arbeit vertieft. Antonietta hatte sie alle sorgfältig ausgesucht und eingewiesen. Sie legte Wert auf gute Manieren und ein gepflegtes Aussehen – schließlich warben die Kosmetikerinnen mit ihrer Erscheinung für den Salon. Genauso wichtig war jedoch Verschwiegenheit. Ob es an den bequemen Behandlungsstühlen lag oder an den sanften Händen der Kosmetikerinnen, was auch immer es war: Während die Haut der Kundinnen gecremt, ihr Nacken massiert und ihre Nägel poliert wurden, lösten sich ihre Zungen, und sie plauderten unbefangen über privateste Details. Antonietta hatte die wachsartige Paste im Schraubglas zu einer cremigen Masse verrührt, nahm mit dem Spatel eine Portion heraus und trug sie auf Helens Gesicht auf. Helen schnupperte. „Wenn ich bei dir bin, bekomme ich immer Hunger! Mit was für einer Leckerei reibst du mich denn heute ein?“ „Es heißt Amandine, nach einer traditionellen französischen Rezeptur zur Hautreinigung“, erklärte Antonietta. „Was du riechst, sind geriebene Mandeln und Rosenwasser.“ Außerdem enthielt die Waschcreme weißen Honig und Gummi Arabicum, doch die genaue Rezeptur war streng geheim und nur Antonietta und ihr Chemiker Brian Casey kannten sie. „Willst du nicht doch am Sonntag mit Mirella zur Verlobungsfeier meines Sohnes kommen? Seit vier Wochen vergrabt ihr beide euch in deinem Haus. Das tut euch nicht gut. Ihr müsst unter Menschen.“ Helen hatte recht. Seit vier Wochen verzichtete Antonietta nun schon auf ihr gewohntes Leben – und das fiel ihr nicht leicht. Sie liebte es, ins Theater und in die Oper zu gehen oder Bälle zu besuchen, und ihre Dinnereinladungen und Spieleabende waren legendär. Dennoch winkte sie ab. „Wir sind noch in Trauer. Es würde nicht gut aussehen. Außerdem wird es für Mirella zu viel. Sie gewöhnt sich nur langsam in New York ein.“ Antonietta legte den Spatel in eine leere Schale auf dem Rollwagen hinter sich und stand auf. „Ich werde Wasser holen. Es wird Zeit, die Amandine abzuwaschen.“ Eilig ging sie zum Waschbecken, froh, Helen für ein paar Augenblicke den Rücken kehren zu können. Sie kannten sich seit dreißig Jahren und waren fast ebenso lange befreundet. Helen hatte erlebt, wie Antonietta ihren Kosmetiksalon aufgebaut hatte und sie hatte ihr dabei auf ihre Art geholfen. Durch ihre Heirat mit Rufus Miller gehörte sie zu den oberen Zehntausend in New York und hatte ihre neue gesellschaftliche Stellung immer wieder genutzt, um Antonietta namhafte neue Kundinnen zu verschaffen. Doch obwohl sie sich ein halbes Leben kannten, widerstrebte es Antonietta, Helen zu gestehen, wie unsicher sie wegen Mirella war. Was, wenn es nicht gut ging zwischen ihnen? Erwartete nicht jeder, dass sie die Herausforderung mühelos bewältigte? Fast alle ihre Freundinnen und Bekannten hatten Kinder, und bei ihnen allen schien das ganz harmonisch sein. Antonietta ließ warmes Wasser in eine Schale laufen, nahm ein Flanelltuch aus dem Regal neben dem Waschbecken und ging wieder zu Helen. Sie tunkte das Tuch in warmes Wasser und wusch die AmandinePaste von Helens Gesicht. Dabei bemühte sie sich, die getrocknete Masse möglichst sanft zu entfernen. Auch ihren Angestellten schärfte sie immer wieder ein, nie eine Paste von der empfindlichen Haut der Kundinnen zu reiben. „Warum fällt es Mirella und dir so schwer, euch aneinander zu gewöhnen?“, fragte Helen, nachdem Antonietta ihr Gesicht trocken getupft hatte. Antonietta seufzte. „Es gibt Momente, in denen wir uns recht gut verstehen, und damit meine ich nicht mein Italienisch. Meine Güte Helen, ich spreche meine Muttersprache so schlecht, dass ich mir am liebsten ein Wörterbuch kaufen würde, wenn es nicht so peinlich wäre.“ Sie legte das Handtuch beiseite. „Noch eine Gesichtsmassage, meine Liebe? Du möchtest doch zur Verlobung deines Sohnes mit faltenfreier Haut glänzen!“ „Das schaffen nicht einmal deine Künste, immerhin bin ich fast zweiundfünfzig Jahre alt. Ah, aber es ist wunderbar!“ Helen seufzte zufrieden. „Nichts entspannt mich so gut wie deine Massage!“ „Und genau diese Entspannung glättet kleine Fältchen!“, ergänzte Antonietta. Sie stand hinter dem Behandlungssessel, die Hände rechts und links auf Helens Schläfen gelegt, und massierte mit kreisenden Bewegungen in Richtung Haaransatz. „Hast du Mirella den Salon schon gezeigt?“, erkundigte sich Helen. „Natürlich! Ich hatte gehofft, sie für Schönheitspflege begeistern zu können. Sie ist meine einzige Verwandte, und es wäre so schön, wenn sie den Salon eines Tages weiterführen könnte. Aber bis jetzt ist daran nicht zu denken. Sie interessiert sich überhaupt nicht für Kosmetik, was ich ehrlich gesagt nicht verstehe.“ „Wieso?“, kam es erstaunt von Helen. „Findest du es nicht normal, dass ein Mädchen in ihrem Alter andere Interessen als Cremes und Lotionen hat?“ „Ja schon, aber sie steht ständig mit meiner Köchin in der Küche und mischt mit ihr irgendetwas zusammen. Und es macht doch kaum einen Unterschied, ob sie einen Pudding oder eine Creme anrührt.“ Helen lachte. „Das kannst du sicher besser beurteilen als ich!“ Antoniettas linke Hand wanderte zu Helens Nasenwurzel und knetete sanft aufwärts, mit der rechten massierte sie die Haut seitwärts zur Schläfe hin. „Das Einzige, was Mirella wirklich mit Leidenschaft tut, ist essen“, klagte sie weiter. „Ständig erwische ich sie beim Naschen. Aber wenn ich ihr sage, dass sie von dem Zuckerzeug Pickel und dicke Hüften bekommt, zieht sie nur eine Schnute.“ Helen nickte verständnisvoll. „Im Essen findet sie wahrscheinlich Trost.“ Sie richtete sich im Behandlungssessel auf und drehte sich zu Antonietta. „Vielleicht kann ihr einer dieser neuen Psychoanalytiker helfen. Ich habe gehört, dass Dr. Brill einen sehr guten Ruf genießt. Er stammt aus Wien wie ich. Wenn du möchtest, stelle ich für dich den Kontakt her.“ „Wenn ich, ihre eigene Tante, ihr nicht helfen kann, wie soll das einem Fremden gelingen?“, entgegnete Antonietta störrisch. „Nein, Helen! Für die seltsame Gesprächstherapie von deinem Seelendoktor werfe ich mein Geld nicht hinaus.“ „Abraham Brill gilt als Koryphäe auf dem Gebiet der Seelenheilkunde“, erklärte Helen leicht gekränkt. „Mirella braucht Hilfe. Das ist doch offensichtlich.“ Antonietta zweifelte immer noch. „Alles was recht ist, Helen. Mirella isst einfach nur zu gerne. Und was ihren Kummer betrifft – ich glaube, dass sich alles mit Liebe und gutem Willen heilen lässt!“ „Mirella will deine Zuneigung aber nicht. Sie will ihre Mutter und ihren Vater, und die sind tot“, hielt Helen ihr entgegen. Antonietta nahm einen Tiegel ihrer Hautnährcreme aus dem Rollwagen. „Das weiß ich“, sagte sie traurig. Einige Minuten schwiegen beide. Antonietta trug eine erbsengroße Portion der salbenartigen Nährcreme mit klopfenden Bewegungen auf Helens Haut auf. Schließlich hielt Helen die Freundin am Handgelenk fest. „Entschuldige, wenn ich dich bedrängt habe“, sagte sie leise. „Ich habe nur darüber nachgedacht, wie man Mirella helfen kann.“ „Wenn wir nichts ausrichten können, kann nur noch unser Herrgott helfen!“, erwiderte Antonietta fest. Helen wechselte das Thema. „Habe ich dir schon erzählt, dass meine Lizzie Welpen bekommen hat? Sieben goldige kleine Schnauzer. Du musst unbedingt mit Mirella … Antonietta, ich habe eine Idee!“ Helen schoss so plötzlich von ihrem Stuhl empor, dass Antonietta erschrocken zurückwich. „Schenk ihr einen von meinen Welpen!“ „Warum sollte ich das tun?“ Von der Vorstellung, dass ein Hundebaby ihre wertvollen Möbel annagte und Pfützen auf den Seidenteppichen hinterließ, war Antonietta alles andere als begeistert. „Weil sie etwas zum Liebhaben braucht! Den Welpen kann sie nach Herzenslust knuddeln, füttern und umsorgen. Du hast doch selbst gesagt, dass Liebe jeden Kummer heilt.“ Antonietta zögerte. „Nun ja, eigentlich meinte ich damit …“ „Miss Rossi!“ Dottie stand vor ihr und gestikulierte aufgeregt. „Telefon für Sie. Mirellas Klavierlehrerin ist am Apparat!“ Antonietta sprang zum x-ten Mal von ihrem Stuhl im Musikzimmer auf, lief zum Fenster und starrte auf die Fifth Avenue. Ein trüber Tag war einer finsteren Herbstnacht gewichen. Auf den Gehwegen lag nasses Laub. Der Portier vor dem St. Regis blickte wehmütig in die Regentropfen, die im Licht der Straßenlaternen tanzten. Von Mirella war weit und breit keine Spur zu sehen. Vor drei Stunden hatte die Klavierlehrerin angerufen und ihr mitgeteilt, dass Mirella nicht zum Unterricht erschienen war. Antonietta machte sich schreckliche Sorgen. Natürlich hatte sie sofort das ganze Haus nach ihrer Nichte durchsucht. Doch ohne Erfolg. Da die Köchin steif und fest behauptet hatte, sie habe gehört, wie Mirella das Haus verlassen hatte, hatte Antonietta auf der Polizeiwache angerufen. Sie kannte den leitenden Captain persönlich – seine Frau war eine langjährige Kundin –, und er versprach, sofort eine Suchmeldung herauszugeben. Danach hatte Antonietta ihre restlichen Behandlungstermine auf ihre Angestellten verteilt und war mit Helen losgelaufen, um nach Mirella zu suchen. Die beiden Frauen hatten alle Straßen bis hinunter zur 50sten zwischen Eastriver und Broadway durchkämmt und auch im südlichen Teil des Central Park Ausschau gehalten, doch Mirella hatten sie nirgends gefunden. Erst als die Dunkelheit hereingebrochen war, hatten sie die Suche aufgegeben. Jetzt saß Antonietta im Musikzimmer und fühlte sich vollkommen hilflos. Zum Glück wich Helen nicht von ihrer Seite. Sie hatte Sofia gebeten, Tee zu kochen, und um die Freundin zu beruhigen, las sie ihr aus Die Flügel der Taube vor, Antoniettas Lieblingsbuch. Doch Antonietta konnte kaum folgen. Sie hatte zu viel Angst, dass ihrer Nichte etwas zugestoßen war. Mirella sprach nur wenig englisch, sie kannte sich in New York nicht aus – und besonders nachts trieb sich jede Menge lichtscheues Gesindel auf den Straßen herum! Wieder sprang Antonietta auf und lief zum Fenster. „Wenn ihr etwas passiert ist, werde ich meines Lebens nicht mehr froh.“ Helen klappte das Buch zu, legte es auf den Tisch neben dem Grammofon und ging zu ihrer Freundin. Schweigend standen sie nebeneinander. Antonietta starrte auf die Fifth Avenue. Kutschen rollten eilig über die regennasse Straße, es waren nur noch wenige unter Schirme geduckte Fußgänger unterwegs. „Da!“, rief Antonietta plötzlich. „Da ist sie!“ Auch Helen hatte Mirella entdeckt. Sie stand unter einer Laterne, direkt vor dem schmiedeeisernen Tor, das Antoniettas Vorgarten vom Gehweg trennte. Ein fremder Junge mit einem Fahrrad war bei ihr. Die beiden wechselten ein paar Worte, dann lehnte der Junge sein Rad an den Laternenpfahl und folgte Mirella durch das Tor. Wenigstens ist ihr nichts passiert, dachte Antonietta erleichtert. Gefolgt von Helen eilte sie die Treppe hinunter und riss die Haustür im selben Moment auf, in dem Mirella sie von der anderen Seite öffnen wollte. Das Mädchen blickte sie stumm an, ihr verweintes Gesicht sah halb trotzig, halb schuldbewusst aus. Sie presste ihre Schulmappe an den Bauch. Hinter ihr stand der Junge, doch Antonietta beachtete ihn nicht. Sie zog ihre Nichte in die Arme und hielt sie fest. Mirella blieb stocksteif stehen. Ihr nasser Mantel klebte an Antoniettas Seidenkleid, Regen tropfte von ihrem Hut. „Was habe ich mir für Sorgen gemacht!“, rief Antonietta und streichelte Mirellas eiskaltes Gesicht. „Du gehst jetzt sofort hinauf und ziehst die nassen Sachen aus. Sofia soll dir ein heißes Bad einlassen. Über alles andere sprechen wir später.“ Sie schob Mirella, die kein Wort sagte, in den Hausflur. Der fremde Junge stand immer noch vor der Tür. Im Schein der Laterne über dem Eingang sah sie ein keckes sommersprossiges Gesicht. Klein und vierschrötig war er, ungefähr in Mirellas Alter. Er trug ausgebeulte Kniehosen, und seine unförmige Jacke roch nach nasser Schafswolle. Unter der Schirmmütze hatte sich eine Strähne blonden Haares hervorgestohlen, und er hielt Antoniettas Blick ohne Scheu stand. „Dolles Bild“, bemerkte er anerkennend. Antonietta drehte sich verblüfft um und sah, dass er das Mosaik der nackten Venus über dem Eingang zur Casa di Bellezza meinte. Helen gluckste amüsiert. Antonietta räusperte sich: „Guten Abend. Wer bist du denn?“ „Luke Wilson.“ Er tippte mit zwei Fingern an seine Mütze. „Sie war an den Piers. Wollte nach Italien. Aber sie hatte nicht genug Geld für das Ticket.“ „Wie bitte?“ Antonietta war entsetzt. Wollte dieser Junge ihr tatsächlich weismachen, dass Mirella vorgehabt hatte, alleine zurück nach Europa zu fahren? Luke hob beschwichtigend eine Hand. „Keine Sorge, Madam. Ich hab sie auf meinem Drahtesel ja sicher nach Hause gebracht.“ Antonietta nickte stumm. Sie musste diese unglaublichen Nachrichten noch verarbeiten. „Ich hab ihr eine Limonade für fünf Cent gekauft“, fuhr Luke in geschäftsmäßigem Ton fort. „Sie hat nämlich geheult wie ein Schlosshund, weil das Ticket zu teuer war. Außerdem habe ich meinen Tagesverdienst verloren, weil ich sie nach Hause gebracht habe. Das macht noch mal zwei Dollar.“ Luke hatte seine Auslagen großzügig verdoppelt. Hier wohnten reiche Leute, das hatte er sofort erkannt. Ein Dollar mehr bedeutete nichts für sie, aber viel für einen armen Jungen aus den Slums. „Deinen Tagesverdienst?“, echote Antonietta. Luke nickte. „Ich verkaufe die New York World an der Anlegestelle des Norddeutschen Lloyd.“ „Oh“, murmelte Antonietta. Der Junge mochte ein kleiner Streuner aus den Slums sein, aber immerhin hatte er ihre Nichte heil nach Hause gebracht. Sie räusperte sich. „Du bist ja ganz nass und durchgefroren. In meiner Wohnung kannst du dich aufwärmen, bevor du dich auf den Heimweg machst.“ Er zögerte, doch dann winkte er ab. „Lassen Sie mal gut sein, Madam. Meine Leute warten schon mit dem Abendbrot auf mich. Aber wenn ich das so sagen darf – die Piers sind nicht die richtige Gegend für ’ne feine Miss. Hat Glück, die Miss, dass sie an mich und nicht an ’nen schlechten Menschen geraten ist.“ Antonietta runzelte die Stirn. Wies dieser Bengel sie etwa zurecht? Helen, die bisher im Hintergrund gewartet hatte, nickte ihm freundlich zu. „Das hast du sehr gut gemacht!“ „Bitte warte einen Moment. Ich hole Geld“, sagte Antonietta, die von Helens besonnener Reaktion sofort beschwichtigt war. Sie lief in den Salon und kehrte wenig später mit einem Fünfdollarschein zurück. „Vielen Dank, dass du dich um Mirella gekümmert hast. Ich hoffe, das ersetzt deinen Verdienstausfall.“ Lukes Augen wurden kugelrund. So viel hatte er nicht erwartet. „Danke Madam!“ Eilig stopfte er den Schein in seine Hosentasche. „Du kannst dein Fahrrad in den Keller stellen“, bot Antonietta an. „Dann brauchst du nicht durch den Regen zu fahren. Ich rufe dir eine Droschke.“ Luke grinste breit. „Das ist aber mächtig nett, Madam. Meine Leute werden Augen machen, wenn ich wie ein vornehmer Schnösel bei uns vorfahre!“ Wahrhaftig, es hatte sich ausgezahlt, dass er die Kleine nach Hause gebracht hatte.