Zug der Zeit - Siemens Mobility

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Zug der Zeit - Siemens Mobility
como
Complete mobility – Fakten, Trends, Stories
Ausgabe 05 | September 2010 | www.siemens.com/mobility
Zug der Zeit
Wie die Mobilität von morgen Gestalt annimmt
S
2
welcome
como 05 | September 2010
Liebe Leserin, lieber Leser,
„
zweifellos liegen schnelle Bahnen weltweit im Trend. Vorhandene Schnellfahrstrecken in Europa, von Spanien über Frankreich und Deutschland bis in die
russische Republik, werden zügig ausgebaut. China durchzieht das riesige Land mit tausende Kilometer langen Hochgeschwindigkeitsstrecken und
legt dabei ein atemberaubendes Tempo vor. Und sogar die USA – einst das
Land der luxuriösen Pullman-Reisezüge, seit gut einem halben Jahrhundert
jedoch als Nation der Autofahrer und Flieger bekannt – sollen künftig ein Netz
leistungsstarker Schnellfahrstrecken zwischen den wichtigen Metropolregionen bekommen.
Massive Investitionen sind nötig, die Infrastruktur auszubauen oder neu
aufzubauen – doch genau hier liegen auch gewaltige Chancen. Eine aktuelle
Wirtschaftsstudie aus den USA zeigt, dass sich gezielte Investitionen in Hochgeschwindigkeitsverbindungen schon nach wenigen Jahren rechnen, profitabel werden und neues Wachstum in den verbundenen Regionen schaffen.
Es versteht sich von selbst, dass mit dem Reisen bei Hochgeschwindigkeit
auf der Schiene große Erwartungen an Reisezeit, Sicherheit und Komfort bei
den Passagieren geweckt werden. Die neue Velaro-Plattform, die wir Ihnen in
diesem Heft vorstellen, wird diese Erwartungen in höchstem Maße erfüllen.
Die seit fast zwei Jahrzehnten in Betrieb befindlichen ICE Generationen der
Deutschen Bahn bildeten den Ausgangspunkt für den Velaro, der seit 2002
als eigenständiges Produkt
von Siemens entwickelt,
gebaut und in Verkehr ge­­
bracht wird. Auch die Raumkonzeption und die de­­
Die neue Velaro-Plattform setzt neue Maßsignerische Gestaltung des
stäbe in puncto Flexibilität, Energieeffizienz
neue­s ten Velaro stammen
aus dem eigenen Haus.
und Zuverlässigkeit – ideale VoraussetzunDie ersten Velaro-Genegen für wirtschaftlichen Betrieb auf allen
rationen befördern seit Jahren höchst zuverlässig in
internationalen Schienennetzen.
Spanien, China und Russland Millionen von Fahrgäs­
ten jährlich. Mit der neuesten Generation auf Basis der
Velaro-Plattform werden ab 2011 Fahrgäste durch Deutschland, Frankreich
und Belgien reisen. Und neue Strecken werden zügig folgen.
Wir bei Siemens sind froh, dass wir die Entwicklung zum schnellen, komfortablen und umweltverträglichen Reisen aktiv unterstützen können. Denn
mit unserem umfassenden Portfolio können wir alle wesentlichen Aspekte des
modernen Hochgeschwindigkeitsverkehrs auf der Schiene abdecken: von Fi­nan­
zierungskonzepten über die Stromerzeugung und -versorgung, Bahnautomatisierung und Servicekonzepte bis hin zu Fahrzeugen, die in Technik, Komfort
und Zuverlässigkeit neue Standards setzen.
Mehr zum Thema Hochgeschwindigkeit erfahren Sie in dieser Ausgabe von
como. Ich wünsche Ihnen spannende Lektüre.
Edzard Lübben
Vice-President High-Speed and Intercity bei Siemens Mobility
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Inhalt
horizon
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4Auf Heller und Pfennig ie Fahrzeugmaut für alle könnte schneller
D
kommen als gedacht. Die richtige Technik
steht schon bereit.
8Schneller in die Zukunft In den USA, dem Land der Autofahrer und
Vielflieger, gewinnt die Bahn wieder an
Tempo. Das bringt allen Vorteile.
move
8
32Tram nach Maß mweltfreundlich, komfortabel und flexibel –
U
die neue 100-Prozent-Niederflurstraßenbahn
Avenio setzt Maßstäbe.
connect
36Es werde Grün! ie Grüne Welle wird intelligent: Eine netzD
adaptive Lichtsignalsteuerung hält in Münster
den Verkehr im Fluss.
focus
14Generation Zu(g)kunft ereit für Tempo 300: Mit dem Velaro D
B
startet die neue Generation des schnellsten Serien-Triebzuges der Welt.
18Reise-Visionen Die Gedanken sind frei, wenn Designer
ihre Visionen zum Reisezug der Zukunft
entwickeln.
28„Die Marke sichtbar machen“ ie bekommt Mobilität ein Gesicht? Designer
W
Niko von Saurma über aktuelle Trends und
die neue Siemens-Metroplattform Inspiro.
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Auf Heller
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und Pfennig
Der Staat ist klamm, doch neue Straßen und Wege kosten Geld. Eine
umfassende Fahrzeugmaut könnte die Lösung bringen. An der Technik,
so viel ist klar, soll es jedenfalls nicht scheitern.
D
as Thema Straßenmaut kann Nationen entzweien: Erst vor wenigen Monaten legte die
Regierung der Niederlande nach massivem
Bürgerprotest das weit fortgeschrittene Projekt
einer komplexen, flächendeckenden Straßenmaut
für unbestimmte Zeit auf Eis. Dabei dürfte angesichts leerer Staatskassen in vielen Ländern, darüber sind sich Verkehrsforscher und Steuerexperten
längst einig, an einer flächendeckenden Straßenbenutzungsabgabe für alle Fahrzeuge bald kein Weg
mehr vorbeiführen. Wie aber lässt sich eine solche
Abgabe fair und sinnvoll berechnen – und welches
System bietet für die Zukunft die besten Optionen?
Die in Ländern wie Österreich, Slowenien und der
Schweiz etablierte Vignetten-Lösung zum Beispiel
benötigt keine eigene Infrastruktur und sichert
dennoch regelmäßige Staatseinnahmen: Bei diesem Pre-Paid-Verfahren erhält der Fahrer gegen
Zahlung eines Pauschalbetrags die Erlaubnis, für
eine gewisse Zeit bestimmte Straßen benutzen
zu dürfen – die Vignette an der Frontscheibe dient
als visuelle Quittung. Effektive Kontrollen gegen
Mautsünder sind freilich kostenlos nicht zu haben.
So installierte Siemens zur elektronischen MautKontrolle in der Londoner Umweltzone ein Videokamera-System, das die Nummernschilder vorbeifahrender Autos erfasst, die Informationen via
Datenkabel zeitnah an eine Datenbank übermittelt
und prüft, ob der Fahrer die obligatorische „Congestion Charge“ bezahlt hat.
Eine solche Pre-Paid-Lösung kann durch gezielte Tarifabstufungen je nach Fahrzeuggewicht
oder Schadstoffausstoß auch bestimmte ökologische und ökonomische Anforderungen erfüllen
– schließlich belasten der elektrische Stadtflitzer,
die Hybrid-Li­mousine und der 40-Tonnen-Lkw Straßen und Um­­welt in höchst unterschiedlichem
Maße. Allerdings sind Vielfahrer stets im Vorteil:
Bei einer Pauschale spielt es schließlich keine Rolle,
wie lang die Strecke ist, die mit dem Fahrzeug
innerhalb des definierten Raum- und Zeitrahmens
gefahren wird.
DSRC-Systeme: Kurze Reichweiten
Anders bei Mautsystemen, die den fälligen Betrag
entfernungsabhängig direkt vor Ort erfassen. So
werden in Österreich und der Tschechischen Republik
auf Autobahnen und Schnellstraßen Lkw-Mautsysteme in Mikrowellen-Technologie betrieben, die mit
Mikrowellen-Transpondern, kurz DSRC (Dedicated
Short Range Communication) arbeiten. Diese Transponder sind an quer über die Fahrbahnen reichenden
Mautportalen installiert, mautpflichtige Fahrzeuge
erhalten eine entsprechende On-Board-Unit (OBU),
die mit den Mikrowellensendern kommuniziert.
Auch das eine Methode mit Licht und Schatten,
er­klärt Christoph Wondracek, bei Siemens Mobility
in Österreich für globale Mautpro­jekte zuständig:
„Mikrowellen-Sys­teme mit ih­ren kurzen Reichwei­
ten lassen sich vor allem dort sinnvoll einsetzen,
wo man ein exakt definiertes Straßennetz, Brücken,
Tunnels oder einzelne Autobahnabschnitte privater
Konzessionäre mit wenigen Zufahrten abdecken
will“, sagt Wondracek.
Seit Jahren bewähren sich infrastrukturbasierte
Mautsysteme von Siemens beispielsweise an der
Brenner-Autobahn, der Arlberg- und der Felbertauernstraße. „Bei landesweiten Projekten mit dem Ziel
einer generellen Straßenbenutzungsabgabe allerdings wäre der Aufwand für die technische Infrastruktur enorm hoch“, so Wondracek. Denn: Für jeden
Streckenabschnitt, der mautpflichtig werden soll,
müssen neue Kabelverbindungen verlegt, Mautbrücken aufgebaut und Transponder montiert werden
– und jede künftige Straßenverbreiterung zieht
automatisch den teuren Umbau der Mauttechnik
nach sich.
Christoph
Wondracek,
Siemens
Mobility,
Mautsysteme
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Dagegen kommen satellitengestützte Verfahren
wie das von TollCollect betriebene Lkw-Mautsystem
in Deutschland, bei dem die Position der einzelnen Fahrzeuge über ein globales Satellitennavigationssystem (GNSS) ermittelt wird, prinzipiell ohne
stationäre Infrastruktur zur Mauterhebung aus –
die Infrarot-Mautbrücken an deutschen Autobah­
nen übernehmen nur Kontrollfunktionen. „Bei
Satellitensystemen steckt viel technische Intelligenz in der On-Board-Unit des Fahrzeugs“, weiß
Projektexperte Christoph Wondracek. „Die OBU
be­stimmt die Position des Fahrzeugs mithilfe der
GNSS-Daten und
vergleicht sie mit
den intern ge­speicherten Geodaten. Dann ermittelt das Gerät
selbstständig, ob
eine Fahrstrecke
mautpflichtig ist,
errechnet während der Fahrt die Gebühren und
übermittelt diese Information per Mobilfunk verschlüsselt in ein Rechenzentrum.“
Dass sich mit GNSS-Systemen nicht nur einzelne
Straßenabschnitte sondern ganze Regionen bedienen lassen, ist schon länger klar. Im Jahr 2005
erfassten die Siemens-Ingenieure bei einem großen
Modellversuch rund um Seattle, im Nordwesten der
USA, mit dieser Technik über 400 Fahrzeuge auf
mehr als über 5.500 Straßenkilometern in 6.000
Mautabschnitten – die weltweit erste Flächenmaut-
Anwendung. Das vielleicht interessan­teste Ergebnis dieses Projekts war jedoch, dass sich das von
Siemens entwickelte zentrale Managementsystem
bei Änderungen der Gebührenstruktur oder Erwei­
terungen der Mautbereiche schon in der Testphase
als höchst flexibel erwies.
Für die Praxis bedeutet das: Bei Bedarf lassen sich
Streckenabschnitte und Zufahrten in Ballungsgebieten mit gutem öffentlichem Verkehrsangebot während des Berufsverkehrs mit einer deutlich höheren
Gebühr belegen – mit dem Ziel, den öffentlichen Verkehr für Pendler lohnender zu gestalten und Staus
Satellitensysteme bieten alle technischen Möglichkeiten für wirklich
faire Mautregelungen in Europa
zu reduzieren. Autofahrer in schlecht versorgten
ländlichen Regionen, die dringend auf ihr Fahrzeug
angewiesen sind, könnten dagegen den ganzen Tag
über von sehr niedrigen Kilometerabgaben profitieren. Das Elegante an dieser Lösung: Will der Betreiber
Mautbereich oder neue Tarife ändern, lässt sich das
über Nacht per Software-Update erledigen. Und
auch in Sachen Datenschutz kann dieses Verfahren
punkten, weiß Wondracek: „Für eine Rechnungslegung müssen ja im Grunde nur Nutzerkennung,
Zeitpunkt und Mautwert übertragen werden.“
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sche Signatur ordnet die übertragenen Informationen eindeutig dem jeweiligen Nutzer zu.
„Von ihrer technischen Auslegung her können
die jetzt in der Slowakei eingesetzten SatellitenOBUs noch deutlich mehr leisten“, verrät Christoph
Wondracek. „Sie lassen sich grenzüberschreitend
auch mit anderen europäischen Mautsystemen nutzen – einschließlich der Mikrowellen-Varianten in
Tschechien und Österreich. Ein Software-Update
genügt.“ Selbst City-Maut-Projekte in den dicht be­­
bauten Metropolen Europas sind problemlos in
diese satellitengestützte Siemens-Lösung integrierbar – immerhin arbeitet das Mautsystem in der Slowakei schon heute mit einer Erfassungsgenauigkeit
von 99,85 Prozent. Startet in naher Zukunft das europäische Galileo-Projekt mit 27 zusätzlichen Navigationssatelliten, können außerdem spezielle Telematik-Anwendungen etwa zur Erkennung von Gefahrguttransporten oder zum Auslösen eines Alarms
bei Unfällen hinzu kommen. Christoph Wondracek
ist sich deshalb sicher: „Satellitensysteme bieten
alle technischen Möglichkeiten für wirklich faire
Mautregelungen in Europa – die Technologien stehen bereit.“ Sie einzusetzen, ist freilich nicht die
Aufgabe der Ingenieure, sondern der Politiker.P
Satelliten-Lösungen: Praxisbewährt
Die derzeit modernste Version eines solchen GNSSgestützten Verfahrens ist das seit Januar 2010 in der
Slowakei betriebene SkyToll Mautsystem für Fahrzeuge über 3,5 Tonnen Gesamtgewicht, zu dem
Siemens Mobility sowohl die On-Board-Units für
die Fahrzeuge als auch die Erfassungssoftware
geliefert hat. Das Besondere an diesem Projekt, das
die bisherige Autobahnvignetten-Lösung ersetzt: Die
elektronische Bemautung umfasst nicht nur Autobahnen, sondern landesweit ein Wegenetz von insgesamt 2.400 Kilometer Länge, zu dem auch Straßen
zweiter Ordnung gehören. Dabei zeigte sich, wie
einfach die Installation eines kompletten Mautsys­
tems sein kann: Nur einen Monat nach Auftragsvergabe testeten die Siemens-Ingenieure das gesamte
System und legten dabei gut 19.000 Kilometer auf
mehr als 7.500 Mautabschnitten zurück.
Einfache Handhabung gehört auch zu den wesent­­­
lichen Eigenschaften der verwendeten On-BoardUnits: Sie lassen sich wie mobile Navigationsgeräte
einfach an der Bordsteckdose mit Strom versorgen
– feste Anschlüsse, beispielsweise eine Verbindung
zum Tachometer, können entfallen. Dennoch sind in
diesen leistungsstarken OBUs alle mautpflichtigen
Straßenabschnitte als Geodaten gespeichert. Die
Mauterkennungs-Software von Siemens steuert die
sichere Kommunikation per GSM zum Zentralrechner
der Abrechnungsstelle und übermittelt verschlüsselt
die befahrenen Abschnitte, die Fahrzeugkategorie
und den Zeitpunkt der Erkennung. Eine elektroni-
Mautsysteme: Licht und Schatten
•Vignette: Quittungssystem für vorab pauschal bezahlte
Abgaben
+ Einfach, ohne technische Infrastruktur implementierbar
– Kontrolle aufwendig
– Verkehrslenkung kaum möglich
–Vielfahrer werden bevorzugt, intermodale Mobilität
benachteiligt
•Videokontrolle: Videogestützte Erkennung für Zufahrtskontrolle und Mautüberwachung
+ Keine Vorrichtung im Fahrzeug nötig
+ Hohe Kennzeichen-Erkennungsrate
– Stationäre Infrastruktur (Brücken, Kameras) nötig
– Erfassung nur örtlich beschränkt möglich
•Mikrowellen-Systeme: Erfassung und Mautberechnung
auf kurze Distanz (DSRC)
+ Nutzungsabhängige Abrechnung möglich
– Abschnittsbezogene, nicht leistungsbezogene Erfassung
–Teure stationäre Infrastruktur (Brücken, Transponder,
Fernkabel)
– Hoher Aufwand bei Veränderungen
•Satellitengestützte Systeme: Positionierung per Satellit,
Mautberechnung im Fahrzeug
+ Flächendeckender Einsatz möglich
+ Keine stationäre Infrastruktur nötig
+ Strecken- und zeitgenaue Abrechnung, flexible Tarife
+ Flexibel anpassbar durch Software-Updates per Mobilfunk
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Schneller in die
Zukunft
Das Umdenken hat begonnen: In den USA, bekannt als Nation der Autofahrer und Vielflieger, sollen künftig Hochgeschwindigkeitszüge mit
bis zu 350 km/h Metropolen und Regionen verbinden und Mobilität
einfacher, komfortabler und umweltfreundlicher gestalten. Dass sie
auch Wirtschaft und Tourismus beflügeln, belegt eine aktuelle Studie,
die Siemens und die US Conference of Mayors als Interessenverband
amerikanischer Städte in Auftrag gaben.
D
ie Bahn kommt wieder – und sie wird schneller:
Ausgerechnet in den Vereinigten Staaten, Dorado der Autofahrer und Inlands-Flieger, findet
das System Schiene zunehmend Sympathie bei Ge­schäfts­reisenden, Pendlern und Touristen. Dafür gibt
es eine Reihe guter Gründe. „Steigende Benzinpreise,
ausgedünnte Flugpläne und Verspätungen im Flugverkehr, vor allem aber endlose Verkehrsstaus im
Einzugsgebiet der Städte haben das Maß des Erträglichen überschritten“, weiß Stephen Robillard, als
Leiter des Bereichs High Speed Rail bei Siemens
Mobility in den USA profunder Kenner der Verkehrssituation. „Und die Menschen werden sich auch der
Umwelt- und Ressourcen-Problematik stärker be­­
wusst. Für die Zukunft erwartet Amerika für den
Weg zur Arbeit und in der Freizeit sinnvolle Alternativen zu Auto und Flugzeug.“
Die Politik sucht Lösungen und hat dabei die
erfolgreichen Beispiele der zahlreichen Schnellfahrstrecken in Europa und Asien im Blick. Die Idee
an sich ist auch in den USA nicht neu: „Inter­urban“
genannte City-Verbindungen gab es schon um das
Jahr 1900, die 1930er-Jahre waren die Zeit der
schnellen Stromlinienzüge. Und manches heute
aktuelle Hochgeschwindigkeitsprojekt stammt in
seinen Grundzügen bereits aus den Neunzigern.
Nun aber skizzierte Präsident Barack Obama am
Anfang seiner Präsidentschaft ein schnelles Personenzugnetz für Geschwindigkeiten von 175 km/h
und 350 km/h als Lösung für amerikanische Transport- und Umweltprobleme und verkündete im
Januar 2010 konkret, acht Milliarden Dollar in dieses Vorhaben zu investieren.
Welche möglichen wirtschaftlichen Effekte ­die
Umsetzung solcher High-Speed-Szenarien in den
kommenden 25 Jahren haben könnte, untersuchte
nun eine Studie, die Siemens gemeinsam mit der U.S.
Conference of Mayors, der mehr als 1.200 amerikanische Städte angehören, beim Bostoner Institut
Economic Development Research Group (EDR) in
Auftrag gegeben hatte. Für diese Studie wurden
vier Stadtregionen unterschiedli­cher Ausprägung
und Größe gewählt, die typische Merkmale amerikanischer Metropolregionen aufweisen: Los Angeles
als Kreativwerkstatt im äußersten Südwesten der
USA, die Industrieregion um Chicago am Südwest­
ufer des Michigansees, Orlando im Herzen Floridas als heimliche „Touristen-Hauptstadt der USA“
und Albany, die Hauptstadt des Staates New York,
gut 200 Kilometer nördlich von New York City am
Hudson River gelegen.
Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Hochgeschwindigkeitspersonenverkehr in den kommenden Jahrzehnten einen wesentlichen Einfluss auf
die positive ökonomische und soziale Entwicklung
des Landes haben wird. Bis zum Jahr 2035 könnten
High-Speed-Verbindungen allein in den Regionen
Los Angeles, Chicago, Orlando und Albany bis zu
145.000 neue Arbeitsplätze generieren. Die Wirtschaft könnte insgesamt bis zu 19 Milliarden USDollar mehr Umsatz pro Jahr erzielen. Und gleichzeitig ließe sich der CO2-Ausstoß um bis zu 2,8
Millionen Tonnen pro Jahr senken.
Zum Beispiel in Los Angeles. Die „Stadt der Engel“
selbst zählt rund vier Millionen Einwohner, die
Metropolregion mit den umliegenden Bezirken
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Orange, Riverside, San Bernhardino, San Diego,
und Ventura knapp 13 Millionen. Der weitere Einzugsbereich der Metropole, der Greater Los Angeles Area gehört mit fast 18 Millionen Menschen zu
den größten Ballungsräumen der Welt. Die wirtschaftliche Potenz dieser Region mit Nordamerikas
größtem Containerhafen, der Film- und Unter­
haltungs­i ndustrie, dem weltgrößten Standort
für die Flug­zeug- und Raumfahrtindustrie
und zahlreichen anderen Hightech-Clustern ist enorm. Mehr als 7 Millionen
Ar­beitsplätze gibt es hier, und viele Be­­
rufspendler sind täglich mehrere Stun­
den auf den Autobahnen unterwegs:
Weil neun von zehn Beschäftigten mit
dem eigenen Auto zur Arbeit fahren –
eine Folge der traditionell weitläu­
­­­­figen, dispersen Besiedlungsstruktur –, steht Los Angeles in Sachen
Kraft­­fahrzeugdichte weltweit an der
Spitze. Obwohl die Autobahnen teilweise auf bis zu 15 Spuren ausgebaut sind, bleiben Staus und Smog
als Folge des motorisierten Individualverkehrs Probleme ersten Ranges.
Ausgehend von dieser Metropolregion, der Greater Los Angeles Area, sollen
deshalb künftig mehr als 50 Hochgeschwindigkeitszüge täglich Sacramento und San
Francisco im Norden von Los Angeles und
Irvine sowie San Diego im Süden miteinander verbinden. Die Entfernungen zwischen diesen Städten sind zu groß für sinnvolle Autofahrten und zu
klein für rentable Flugverbindungen, das neue
Schienennetz füllt deshalb eine wichtige ökonomische Lücke in der Verkehrsinfrastruktur Kaliforniens. Und weil auf den Neubaustrecken Geschwindigkeiten bis 350 km/h erreicht werden sollen,
dauert beispielsweise die Fahrt von Los Angeles
ins mehr als 600 Straßenkilometer entfernte San
Francisco nicht mehr sechs bis acht Autostunden,
sondern nur noch 2 Stunden und 40 Minuten. Das
könnte mehr als 5000 Pendler von der Straße
locken, und diese Zahl ist, schätzt Stephen Robillard, keineswegs zu hoch gegriffen: „Kürzere Fahrzeiten zwischen Zuhause und Arbeitsplatz, dabei
aber dennoch weit außerhalb der Großstädte wohnen zu können, ist zum wesentlichen Faktor bei der
Wahl der Verkehrsmittel geworden.“
Die Studie erwartet für 2035 aber auch, dass rund
12,3 Millionen Fernreisende jährlich vom Flugzeug
auf die schnelle Bahn umsteigen und mehr als 2 Millionen Touristen zusätzlich die Stadt besuchen. Davon
profitiert das Gewerbe: Allein für Los Angeles liegt
die Umsatzprognose bei bis zu 126 Millionen Dollar. Unter dem Strich gehen die Macher der Studie
davon aus, dass im Einzugs­gebiet der Bahnstrecke
deutlich mehr als 50.000 neue Arbeitsplätze entstehen und das wirtschaftliche Potenzial weiter wächst.
Das trifft in hohem Maße auch für Chicago zu.
Die Wirtschaftsmetropole am südwestlichen Ufer
des Michigansees im US-Bundesstaat Illinois hat
rund 2,8 Millionen Einwohner und ist Zentrum
einer ökonomisch enorm leistungsstarken Metropolregion mit rund 9,6 Millionen und der acht
Bundesstaaten berührenden Region Great LakesMidwest mit fast 100 Millionen Menschen im
Umkreis von rund 800 Kilometern um Chicago.
Chicago ist Sitz der größten Warenterminbörse
und der größten Rohstoff-, Futures- und Optionsbörse der USA und hat schon Mitte des 19. Jahrhunderts große Bedeutung als Handelsstadt erlangt.
Gefördert wird diese Entwicklung bis heute durch
zahlreiche Wasserstraßen, die über die Großen
Seen bis New York City und zum Atlantik und über
den Mississippi bis zum Golf von Mexiko führen.
Die Stadt ist zudem über sechs Interstate-Fernstraßen und ein verzweigtes Bahnfracht-Schienennetz
angebunden und verfügt mit der internationalen
Drehscheibe O’Hare International und dem Midway
Airport über hoch frequentierte Flughäfen. Allein
die Zahl von jährlich etwa 45 Millionen ChicagoBesuchern legt den Schluss nahe, dass schnellere
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Bahnverbindungen einen großen Teil des Reiseverkehrs übernehmen könnten.
Würde das bestehende sternförmige Streckennetz für Geschwindigkeiten bis 180 km/h ertüchtigt und langfristig um drei Neubaustrecken für
Tempo 350 nach St. Louis, Minneapolis und Detroit
erweitert, wäre der Nutzen allein dieser drei neuen
Schnellfahrstrecken imposant: Die Ergebnisse der
Studie deuten darauf hin, dass etwa doppelt so viele Reisende wie bisher die Bahn nehmen statt Flugzeug oder Auto – bis zu 9,6 Millionen Passagiere
jährlich. Auslösen könnten diesen Boom die deutlich verkürzten Fahrzeiten bei insgesamt hohem
Reisekomfort und vergleichweise günstigen Preisen. Durch diese Entwicklung, die Reisende direkt
ins Herz der Stadt führt statt zu Airports an der
Peripherie, dürften vorsichtig geschätzt allein in
Chicago bis zu 10.000 neue Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich entstehen.
Ähnliches gilt für Orlando im Zentrum Floridas,
etwa auf halber Strecke zwischen der Hauptstadt
Tallahassee im Nordwesten des Bundesstaates und
Miami im äußersten Südosten gelegen. Mit rund
230.000 Einwohnern gehört Orlando zu den eher
kleinen Städten, und auch die vier Bezirke umfassende Region „Metro Orlando“ mit etwas mehr als
2 Millionen Bürgern erscheint nicht sehr groß.
Allerdings ist die Zahl der Besucher und Pendler
enorm hoch: Freizeitparks wie Walt Disney World
oder die nahe „Space Coast“ mit dem Kennedy
Space Center bei Cape Canaveral sind wahre Publikumsmagneten – die Tourismusbranche sichert
allein in der Metropolregion mehr als 100.000 Jobs
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Staus kosten amerikanische Pendler viel Zeit. Schienennetze dienen meist dem Güterverkehr,
Reisezüge sind selten. Neue Hochgeschwindigkeitzüge sollen auch Touristenmagnete wie
„Spaceship Earth“ in Orlando (rechts unten) besser anbinden.
auch für geringer Qualifizierte. Dazu bieten Unternehmen der Forschung, Entwicklung und Produktion in den Bereichen Medizintechnik, Pharmazie
und Biotechnologie sowie Technologieunternehmen wie Lockheed Martin mehr als 50.000 hochwertige Arbeitsplätze.
Hier sollen zwei Hochgeschwindigkeitskorridore die Verkehrssituation nachhaltig verbessern: Zu­­
nächst ist eine Ost-West-Verbindung von Orlando
und dem International Airport ins rund 140 Kilometer entfernte Tampa vorgesehen, die auch Disney
World direkt anbindet. In einer zweiten Phase soll
die Strecke ostwärts weiter zum Atlantik und entlang der „Space Coast“ über Port Canaveral und West
Palm Beach nach Süden bis ins dicht besiedelte Miami geführt werden. Damit wäre auch die „South Florida Metropolitan Area“, ein Ballungsraum mit über
2,2 Millionen Einwohnern, gut erreichbar.
Die Fahrgastprognosen bis zum Jahr 2035 gehen
von jährlich bis zu 7 Millionen Reisenden aus, rund
35 Prozent davon im Zubringerverkehr zum Flughafen Orlando. Analysen und Hochrechnungen im
Rahmen der Studie ergeben, dass die schnelle,
komfortable Bahnverbindung allein bei den ausländischen Besuchern dieser Region jährlich bis zu
118 Millionen Dollar Mehrausgaben generieren
könnte – ein satter Zuwachs von 20 Prozent. Unter
dem Strich prognostiziert die Studie im Umfeld der
schnellen Schienenverbindungen jährlich knapp 3
Milliarden Dollar zusätzlichen Umsatz und mehr
als 27.000 neue, gut bezahlte Jobs.
Voraussetzung auch hier: eine gut angepasste
Infrastruktur, die den reibungslosen Umstieg beispielsweise vom Flugzeug auf die Bahn ermög­licht
und Reisende sicher und pünktlich weiter transportiert. „Die Menschen müssen leicht von einem
Verkehrsmittel zum anderen wechseln können
und sicher sein, guten Anschluss zu be­­kommen“,
formuliert High-Speed-Experte Stephen Robillard.
„Pünktlichkeit ist schließlich einer der größten Vorzüge der Schiene, das zeigen Bahnen überall auf
der Welt. Ist die Infrastruktur in Schuss und wird
der Betrieb ordentlich geführt, können 95 Prozent
der Züge pünktlich sein.“
Wie essentiell der Zeitvorteil durch Hochgeschwindigkeitsverbindungen tatsächlich sein kann,
zeigt das Beispiel von Albany, der 200 ­Kilometer
nördlich von New York City gelegenen Hauptstadt
des Bundesstaates New York. Als kleinste in dieser
Studie untersuchte Kommune hat Albany selbst nur
94.000 Einwohner, in der Region allerdings leben
850.000, im weiteren Einzugsbereich bereits mehr
als eine Million Menschen – mit raschem Zuwachs.
Rund 20 Prozent der Arbeitsplätze sind Verwaltung
und Dienstleistung zugerechnet, doch Hochtechnologie-Forschung und -Produktion im prosperieren­
den „Tech Valley“ besitzen starke Anziehungskraft.
­Und wenn erst das geplante Kongresszentrum von
Albany eröffnet ist, werden allein hier etwa 250.000
Besucher jährlich erwartet.
Derzeit bedient die staatliche Bahngesellschaft
Amtrak drei verschiedene Bahnhöfe der Region mit
bis zu 145 km/h schnellen Personenzügen. Aktuelle Planungen sehen nun beispielsweise für die
Strecken Richtung New York City und Buffalo Fahrplanverdichtungen und den Betrieb mit 175 km/h vor.
Die Studie kommt freilich zu dem Schluss, dass sich
dadurch weder Passagierzahlen noch wirtschaftlicher Nutzen nennenswert steigern lassen: Erst
wenn die Schnellfahrstrecken Tempo 350 er­­lauben
und New York City in weniger als zwei Stunden
erreicht werden kann, sind deutlich mehr Fahr­gäste
als heute zu erwarten – immerhin doppelt so viele.
Denn der Blick auf vergleichbare Projekte vor
allem in Europa zeigt: Nur wenn die Fahrzei­ten mit
den entsprechenden Flugzeiten kon­­kur­rieren können, steigen Reisende auf die Schiene um und lernen
dann den gesteigerten Reisekomfort schätzen.
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„Amerika ist reif für
die Schiene“
Die USA setzen auf Schienennetze mit
Hochgeschwindigkeitszügen. Welche
Hürden sind noch zu nehmen? Drei
Fragen an Stephen Robillard, Leiter des
Bereichs High-Speed Rail bei Siemens
Mobility, USA.
como: Die aktuelle Studie belegt, dass Hochgeschwindigkeitsbahnen reale Vorteile bringen. Wie sehen das die US-Bürger?
Stephen Robillard: Die Akzeptanz wächst. Die Benzinpreise steigen ständig und schwächen die Finanzkraft jedes Einzelnen. Ver­
spätungen im Flugverkehr und endlose Schlangen vor den
Sicherheitsschleusen bringen die Menschen zur Überzeugung,
dass Fliegen nicht länger effizient ist. Die Airlines erkennen,
dass sich kurze Distanzen immer weniger rechnen, und dünnen
die Flugpläne aus. Das sind nur einige Gründe dafür, dass die
Amerikaner den Schienenverkehr neu wahrnehmen. Die Regierung Obama unterstützt dies und stellt die Weichen, damit der
Schienenverkehr eine ernsthafte Mobilitätsoption für die Bürger wird. Ich bin sicher, Amerika ist reif für die Schiene.
„Komfort ist der Schlüssel dazu, die Menschen
dauerhaft aus ihren Autos zu holen und für den
Zug zu begeistern“, weiß Stephen Robillard. Nur
hier kann man während der Reise in komfortablen
Sesseln am Computer arbeiten, zwischendurch
aufstehen und die Beine strecken, in den Speisewagen gehen und Telefonate führen. „Haben die
Menschen diesen Service erst einmal kennen­
gelernt, merken sie schnell, wie viel komfortabler
Bahnfahren ist und wie viel entspannender vor
allem Geschäftsreisen sein können.“
So kommt die Studie zum Ergebnis, dass Hochgeschwindigkeitsverbindungen in allen vier untersuchten Regionen gleichermaßen wirtschaftliche
Prosperität und Lebensqualität fördern wird: Ge­­
schäftliche Möglichkeiten verbessern sich, mehr
Jobs entstehen, die Löhne steigen und das Bruttosozialprodukt in der Region wächst an. Die Menschen in diesen Regionen können sich über kürzere Reisezeiten, sinkende Mobilitätskosten und das
Schrumpfen der täglichen Verkehrsstaus freuen.
Stephen Robillard: „Hochgeschwindigkeitsbahnen
sind nun mal mehr als ein schnelles Transportmittel. Sie sind Wirtschaftsfaktor, Jobmotor – und Ausdruck einer neuen Mobilitätskultur in den USA.“P
Eine Kurzfassung der Studie in englischer Sprache
finden Sie unter: www.usmayors.org/highspeedrail
como: Ist denn die Infrastruktur in den Metropolen dafür geeignet?
Robillard: In der Tat sind die USA eine Nation der Autofahrer und
Vielflieger, die Infrastrukturen der Städte sind ausschließlich auf
den Straßenverkehr ausgerichtet. Allerdings ist ein intermodaler, ja multimodaler Zugang zur Bahn die Voraussetzung dafür,
dass die Menschen statt des Autos den Zug nehmen. Dieser
Umbau beginnt jetzt überall im Land, und die Planer haben ein
hartes Stück Arbeit vor sich, wenn sie in Stadtzentren den Zu­­
gang zur Schiene schaffen wollen. Unternehmen wie Siemens
können die Projekte unterstützen, indem sie ihre langjährigen
Erfahrungen aus anderen Ländern einbringen.
como: In den Verkehrskorridoren, die für Hochgeschwindigkeitsbetrieb infrage kommen, gehört die Schieneninfrastruktur meist
privaten Güter-Bahngesellschaften. Wie begeistert sind die von
den High-Speed-Projekten?
Robillard: Sie sind meist grundsätzlich bereit zu einem Mischbetrieb, wollen aber sichergehen, dass der Personenverkehr
ihr Frachtgeschäft nicht beeinträchtigt. Mischbetrieb verringert
die Investitionen in die Infrastruktur, beschleunigt die Umsetzung und sichert effizientes Planen. Und Deutschland ist das
beste Beispiel dafür, dass man Strecken mit verschiedenen Zug­
gattungen – Nahverkehr, Intercity, Hochgeschwindigkeit und
Güter­transport – befahren kann. Hier steht natürlich die Betriebssicherheit an erster Stelle, denn die Signalsysteme müssen
auch bei Höchstgeschwindigkeit sicher arbeiten. Auch da helfen
wir von Siemens mit unseren Kenntnissen, Erfahrungen und
erprobten Lösungen gern weiter.
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Generation
Zugkunft
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Der Velaro D ist da – die neue Generation des schnellsten Serien-Triebzuges der Welt. Er kommt zur rechten Zeit: Wo immer mehr Menschen
in Städten, Metropolregionen und urbanen Clustern zusammenleben,
wächst die Notwendigkeit umweltfreundlicher und günstiger Mobilität.
Weltweit entstehen neue Schnellfahrstrecken, die hunderte Kilometer
entfernte Regionen miteinander verbinden. Weil damit zugleich die Anforderungen an Sicherheit, Komfort und Wirtschaftlichkeit der Bahnen
wachsen, bringt Siemens Mobility jetzt eine innovative Hochgeschwindigkeitsplattform auf den Weg: Ab 2011 wird der Velaro D mit mehr als
300 km/h in Europa unterwegs sein.
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Die Generationen im Blick: Vom ICE 3 über die Velaro-Versionen für Spanien, China und Russland (von links)
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an muss schon genau hinsehen: Auf den
ersten, flüchtigen Blick gleicht der neue Velaro
D dem bekannten ICE 3 der Deutschen Bahn
wie ein Ei dem anderen. Das geübte Auge freilich
bemerkt die äußeren Veränderun­gen schnell: Verkleidungen an Drehgestellen und Wagenübergän­gen
liegen dichter an, Bugnase und Kopf der Endwagen
sind neu gestaltet. Und ab der Mitte der Endwagen
erhebt sich ein durchgängiges Hochdach, das den
Fahrwiderstand verringern und zusammen mit einigen anderen Optimierungen den Energieverbrauch
und damit das CO2-Äquivalent des Velaro D deutlich
senken wird. Auch der Innenraum ist neu konzipiert,
modular und flexibel: Sitze, Gepäckregale oder Tische
können einfach umgebaut werden und erlauben sehr
schnelle Anpassungen an betriebliche Veränderungen.
Der Velaro D ist ein sogenannter Triebzug, bei dem
Antrieb und Technikmodule verteilt unter dem
Boden angebracht sind. Die ersten Züge der neuen
Velaro-Generation werden ab Dezember 2011 als
Bau­reihe 407 der Deutschen Bahn in Betrieb gehen
– wobei die Modellbezeichnung Velaro D leicht in
die Irre führen kann: Die ­achtteiligen ICE 3-Züge
der neuen Generation sind nicht nur für den Einsatz auf deutschen Strecken gedacht, sondern sollen
als Vier-System-Züge im grenzüberschrei­­­ten­
den Verkehr zwischen Belgien, Deutschland und
Frankreich eingesetzt werden.
Die Premium-Gene des Velaro
Mit einer Leistung von 8.000 Kilowatt, rund 11.000
Pferdestärken, werden die 200 Meter langen Züge
mit bis zu 320 Kilometer pro Stunde unterwegs
sein und in zwei Klassen und einem Bordrestaurant
460 komfortable Sitzplätze bieten. Sind also dies die
Eigenschaften eines erfolgreichen Hochgeschwindigkeitszuges?
„Soll ein solcher Premium-Zug am Markt be­­stehen
können, muss er schon bestimmte Gene mit­bringen“,
sagt Martin Steuger, als früherer ICE-Projektleiter
und jetziger Leiter der Velaro-Plattform­­­entwicklung
bei Siemens Mobility mit den verschiedenen Lastenheften bestens vertraut. „Dazu gehört zwingend eine hohe Transportkapazität, also eine
möglichst hohe Zahl verfügbarer Sitzplätze bei
attraktivem Reisekomfort.“ Mehr Sitzplätze können schließlich die Wirtschaftlichkeit der Reiseverbindung erhöhen – bei allen öffentlichen Verkehrsmitteln.
„Zunehmend wichtiger wird die Energieeffizienz, angefangen vom reinen Verbrauch bis zum
komplexen Thema Green Mobility mit Faktoren
wie Ressourcenverbrauch oder Recyclingfähigkeit“,
weiß der Ingenieur. Der dritte wesentliche Punkt
sei die Zuverlässigkeit der Systeme: „Diese Premium-Züge dürfen kaum Verspätungen verursachen
und keinesfalls liegenbleiben – korrekte Wartung
natürlich vorausgesetzt.“ Das senkt nicht nur die
Servicekosten, es steigert die Kundenzufriedenheit – und es ist machbar: „Unser Velaro E beispielsweise, der für Spanien entwickelte Velaro der
ersten Generation, fährt zwischen zwei technisch
bedingten Verspätungen mindestens 800.000 Kilometer verspätungsfrei.“
Ein Neubeginn für Spanien
Der Unterschied ist groß zwischen den bisher
bekannten ICE-Zügen und dem Velaro, so sehr
sie sich äußerlich auch ähneln. Denn hinter den
Kulissen fand ein grundlegender Wandel statt:
Wurden die früheren ICEs von einem internationalen Firmenkonsortium entwickelt, entschloss
sich Siemens anlässlich einer Ausschreibung der
spanischen Bahngesellschaft RENFE, mit einem
Projekt namens Velaro eigene Wege zu gehen. Fast
ein Neubeginn, sagt Martin Steuger heute: „Das
Konzept musste komplett überarbeitet werden,
weil neue Technische Spezifikationen für Inter­
focus
como 05 | September 2010
Zug um Zug: So wirken Hochge­
schwindigkeitsverbindungen
Faktor Zeit: Bei Entfernungen zwischen 100 und
800 Kilometer können Hochgeschwindigkeitszüge
die Passagiere deutlich schneller ans Ziel bringen als
Flugzeug und Auto, das zeigen Beispiele weltweit.
So legt der Velaro E in Spanien die 625 Kilometer
von Madrid nach Barcelona in weniger als 150 Minuten zurück – zu mehr als 99 Prozent pünktlich und
mit überragendem Reisekomfort. Die Folge: Wählten
früher nur knapp 12 Prozent aller Reisenden auf dieser Strecke die Bahn, sind es heute bereits mehr als
die Hälfte.
Faktor Umwelt: Elektrisch betriebene Züge schonen die Umwelt wie kein zweites Verkehrsmittel –
der Velaro als verbrauchsoptimierter Triebzug
kommt mit einem Äquivalent von nur 0,33 Liter
Benzin pro Sitzplatz auf 100 Kilometer aus. Und
im Vergleich zum Flugzeug emittiert der Velaro
pro Person und Kilometer sogar bis zu 90 Prozent
weniger CO2.
Faktor Ökonomie: Forscher der Erasmus Universität Rotterdam fanden heraus, dass Hochgeschwindigkeitsverbindungen auch kleineren und mittelgroßen Städten mit ausbaufähiger Infrastruktur
messbare wirtschaftliche Vorteile bringen können,
sobald die Züge dort Station machen. In den USA
beispielsweise verzeichnete Providence, die Hauptstadt von Rhode Island, einen spürbaren Aufschwung,
seit der „Acela“-Express zwischen Boston und New
York dort hält. Gleiches gilt für Metropol-Verbindungen wie Lyon–Paris, Ciudad Real–Madrid oder
Köln–Frankfurt in Europa sowie die neuen Fern­
strecken in China.
führt die Entwicklung zur neuen Velaro-Plattform.
operabilität (TSI) und Brandschutznormen komplexere Anforderungen stellten. Und weil wir Elemente wie zum Beispiel den Restaurantwagen,
die früher von Partnern verantwortet wurden, nun
im eigenen Hause neu konstruierten.“
Auch die folgenden Versionen Velaro CN für China, wo die bis zu 350 km/h schnellen Züge seit der
Sommerolympiade 2008 erfolgreich zwischen
Peking und der Hafenstadt Tianjin pendeln, und
Velaro RUS für Russland können ihrer spezifischen
Besonderheiten wegen als eigenständige Fahrzeuggenerationen gelten. Beispielsweise erhielten
beide Versionen breitere Wagenkästen, Velaro RUS
außerdem Drehgestelle in russischer 1520-Millimeter-Breitspur sowie eine verstärkte Wärmeisolation und eine Reihe anderer Maßnahmen für winterliche Temperaturen bis minus 50°C. Steuger:
„Das klappte so gut, dass wir uns entschieden haben,
alle guten Erfahrungen aus diesen drei Projekten
in einer eigenständigen, modularen Platt­form zu
versammeln.“ Die Idee zur Velaro-Plattformorganisation war geboren.
„Wir begannen ohne konkrete Kundenanfrage
oder Ausschreibung – also ohne Projektdruck –
mit der Konzeption und stellten uns zunächst
Grundsatzfragen“, berichtet der Ingenieur. „Was
muss so ein Fahrzeug idealerweise haben, welche
Kerneigenschaften können wir von den Vorgängern übernehmen und behutsam weiter entwickeln, um Funktionalität und Zuverlässigkeit möglichst hoch, die Kosten aber möglich niedrig zu
halten? Und wie konzipieren wir eine Fortentwicklung? So hatten wir ein gutes Jahr Zeit, schlüssige
Lösungen zu finden.“ (Lesen Sie weiter auf Seite 24)
Entwicklung der Velaro-Familie
ICE 1
ICE 2
Push-Pull Konzept – Evolution
1981
1991
1995
R
e
v
o
l
u
t
i
o
n
ICE 3
Velaro E
Velaro CN
Velaro RUS
Velaro D
1. Generation
2. Generation
3. Generation
3. Generation
4. Generation
Verteilte Traktion – Evolution
2001
2011
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Reise-Visionen
D
ie Zukunft kommt früher als man denkt. Werte wandeln sich, alltägliche Gewohnheiten
verändern sich in kürzester Zeit, denn Mobilität bedeutet uns mehr als der bloße Ortswechsel
von A nach B. Wie also werden wir morgen reisen?
Als sich Studierende der Fachhochschule Joanneum in Graz im Jahre 2007 mit Erscheinungsformen
künftiger Hochgeschwindigkeitszüge auseinandersetzten, stand nicht nur der äußere Anschein der
Schienenfahrzeuge zur Disposition, sondern auch
Form und Funktion, Bedürfnisse und Wünsche der
Reisenden.
Die Gedanken sind frei bei diesen Kreativprojekten. So entstand beispielsweise die Idee zum Fernreisezug „Airient One“, in dessen spezialisierten Doppelstockwaggons die Reise selbst zum Ziel werden
soll: Bar und Panoramadeck, die zur Liege wandelbare Bestuhlung und ein Restaurant mit „Running-
Food-System“, inspiriert von modernen Sushi-Bars,
dazu eine elektronische Bibliothek sowie Trainingsgeräte, Sauna und Duschen im Fitnessbereich machen
Bahnreisen zum Genuss. Im Kinderwaggon mit
Kletterburg, Rutschbahn und Puppentheater werden die kleinen Mitreisenden bespielt. Und ein
Hotelwagen bietet großzügige Abteile mit Bettcouch und reichlich Komfort.
Was auf den ersten Blick visionär erscheint, kann
beim genaueren Hinsehen der erste Schritt zu einer
neuen Lösung sein. Manche Idee entfaltet ihren be­­
sonderen Reiz erst nach einiger Zeit und fließt eines
Tages – mehr oder weniger verändert – in Technik
und Formensprache eines realen Projekts ein. Auch
Kreativ-Profis wie die Gestalter des Studios DesignworksUSA entwickeln so aus ungewöhnlichen Ideen
innovative Konzepte – im Interview ab Seite 28 ist es
nachzulesen.P
Ideen für die Zukunft: Wird man im Hochgeschwindigkeitszug
der Zukunft auch seinen Urlaub verbringen können?
Mit der Konzeptidee „Diveria“ aus dem Jahre 2007 verließen die Studierenden der Grazer Fachhochschule Joanneum
bekannte Wege. Sie schlagen vor, bestimmte Wagenmodule des wabenförmig strukturierten Doppelstockzuges für den
Tourismus zu nutzen: Ausgebaut als Jugendherberge, Familienhotel oder Luxussuite, werden die Wagen am Urlaubsort
in speziellen Wohnanlagen geparkt und am Ende des Aufenthalts wieder für die Rückfahrt genutzt.
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Schöner reisen: Studienprojekt „Sureot“.
Gute Aussichten: Bahnfahrt mit Weitblick.
Der Weg ist das Ziel: Event-Reisezug „Airient One“.
DesignworksUSA: Ein Zug mit Gesicht.
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„Diveria“: Reisen und wohnen im Zug.
Studio Digitalform: Ein Ausdruck höchster Dynamik.
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Der Bug wurde komplett neu konstruiert (oben). Virtual Reality (links)
hilft bei der Entwicklung.
Das Antriebskonzept freilich hatte Bestand, der
Velaro D ist ein reiner Triebzug. Grundsätzlich gibt
es zwei verschiedene Methoden, Passagiere auf der
Schiene fortzubewegen. Die herkömmliche Pushand-Pull-Technik mit angetriebenen Lokomotiven
und antriebslosen Waggons findet sich noch bei
ICE 1 und ICE 2, die Triebköpfe an den Zugenden
besitzen. Bei der Triebzug-Technologie dagegen,
die seit Ende der 1990er Jahre beim ICE 3 und heute bei allen Generationen des Velaro angewendet
wird, sind Antriebskomponenten und Technikmodule, also beispielsweise Fahrmotoren, Bordnetzversorgung und Transformatoren, verteilt unter
dem gesamten Zug angebracht.
Das bringt eine Menge Vorteile. Weil beim Velaro
die Hälfte der Achsen angetrieben ist, kann der Zug
aufgrund der besseren Antriebsverteilung schneller beschleunigen und steilere Streckenabschnit­
te befahren. Die gleichmäßige Gewichtsverteilung
reduziert das Gewicht auf dem einzelnen Radsatz,
was den Verschleiß insgesamt vermindert und
sowohl die Schienen als auch die Räder des Zuges
schont. Aus Sicht der Betreiber sprechen zudem
handfeste wirtschaftliche Gründe für das Triebwagen-Konzept: Während Lokomotiven und Triebköpfe am Bahnsteig Platz beanspruchen, der somit
nicht für zahlende Passagiere zur Verfügung steht,
gibt es im Velaro bei gleicher Zuglänge rund 20
Prozent mehr Platz für Passagiere.
Ein wesentlicher Punkt in den Überlegungen der
Siemens Ingenieure war es, die gesamte Zugplattform optimal für den grenzüberschreitenden Verkehr auszustatten. „Die Mehrsystemfähigkeit galt
als Grundanforderung“, so Plattformleiter Martin
Steuger. Schließlich existieren auf dem europäischen Festland aus historischen Gründen vier ver-
schiedene Fahrspannungssysteme, dazu etliche,
meist nationale Zugsicherungssysteme. „Rüsten
wir also einen Zug für vier verschiedene Bahnsysteme aus, kann der innerhalb Europas praktisch
überall fahren. Zugleich kommen wir aber auch an
die Grenzen des technologisch Sinnvollen: Bei der
Traktionsausrüstung, der Integration unterschiedlicher Zug­sicherungssysteme und dem Gesamtgewicht erreichen wir bei einem Viersystemzug die
höchst­mögliche Komplexität.“ So ist die Velaro Plattform von Anfang an als Viersystemzug konzipiert,
„weil es deutlich einfacher ist, von der ViersystemPlattform bei Be­­darf einen weniger komplexen Einoder Zweisystemzug abzuleiten. Weglassen ist in
solchen Fällen nun mal einfacher als Aufrüsten.“
Mehr Flexibilität im Innenraum schafft das
innovative Konzept der „leeren Röhre“. Um die
Nutzfläche für den Passagierbereich optimal nutzen zu können, wurden zunächst alle Funktions­
elemente wie beispielsweise Schaltschränke, Abfallbehälter und rollstuhlgerechte Nassräume am
Wagenende neben den Einstiegen konzentriert.
Zwischen diesen raumoptimierten Funktionsbereichen entsteht nun bei Velaro-Mittelwagen ein rund
18 Meter langer leerer Raum, der komplett für Sitzbereiche und Serviceeinrichtungen verfügbar ist.
Dazu entwickelten die Ingenieure verschiedene
Module, die sich genau wie die Sitze an durchgängigen Befestigungschienen sehr einfach montieren, verschieben und umgruppieren lassen – zum
Beispiel gläserne Trennwände für Ruhe­bereiche,
flexible Gepäckablagen sowie Galley-­Elemente
und Trolley-Stellplätze für den Bordservice. Insgesamt steigt die Sitzplatzkapazität der Waggons und
die Bahnbetreiber können bei verändertem Bedarf
den modularen Innenraum einfach und schnell
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umgestalten. Der Velaro-Passagier kann davon ein
Mehr an Reisekomfort erwarten.
Eine Reihe anderer wesentlicher Neuerungen
ist dagegen erst auf den zweiten Blick zu sehen. So
kann der Kopf des Endwagens als das am meisten
veränderte Bauteil gelten: Wurde der Bug des ICE 3
noch aus sehr aufwendig gebogenen und wärmebehandelten Strangpressprofilen aufgebaut, wird
er beim Velaro D in Spantenbauweise errichtet, mit
einem stählernen Crashmodul versehen und mit
aufgeschweißten Aluminium-Formteilen beplankt.
Martin Steuger: „Diese Struktur ist nicht nur kostengünstiger in der Fertigung, sie lässt sich nach
einem Frontschaden viel einfacher reparieren.“
Deutlich niedrigere Instandhaltungskosten und
höhere Zuverlässigkeit erwarten die Ingenieure
werden“, erklärt Martin Steuger. „Man könnte fast
sagen, Bugkupplungen sind Verschleißteile.“
Täglichem Verschleiß unterliegen auch Dreh­ge­
stelle, Radsätze und Lager. Und so wurde das be­­
währte, schon bei früheren Velaro-Generationen
immer wieder verbesserte SF500-Drehgestell von
Siemens weiter optimiert. Plattformleiter Steuger:
„Die Wellen der angetriebenen Radsätze bestehen
weiterhin aus konventionellem Stahl, wurden
jedoch noch größer dimensioniert. Zudem haben
die Radlager des Velaro D Platz für zusätzliche
Sensoren, die kritische Zustände von Bauteilen
melden können.“ Während bestimmte Sensoren,
beispielsweise zur Temperaturüberwachung der
Radsatzlager oder zur Stabilitätskontrolle, mittlerweile vom TSI-Regelwerk vorgeschrieben werden,
sind beim Velaro zu Erprobungszwecken neuartige, zusätzliche
Schwin­gungssensoren integriert,
die den Zustand bestimmter
Drehgestellbauteile überwachen.
Steuger: „So lässt sich mit einigem
Vorlauf bereits erkennen, wenn ein
Bauelement ans Ende seiner Le­­
bensdauer kommt. Das gibt einerseits mehr Sicherheit. Andererseits
müssen die Bauteile tatsächlich
erst dann gewechselt werden, wenn
sie am Ende ihrer Lebensdauer
angekommen sind, und nicht
wie bisher prophylaktisch in starren Intervallen – auch das reduziert den Aufwand und spart
bares Geld.“
Unter dem Strich konnten also
die Ingenieure bei der neuen
Hochgeschwindigkeitsplattform
die Betriebs- und Wartungskosten
Öffnen sich die Bugklappen horizontal, kommt die
deutlich reduzieren. Doch auch die
Kupplung ohne komplizierte Mechanik aus.
Umweltbilanz, sozusagen der ökologische Radabdruck des Velaro D,
fällt insgesamt positiv aus. Schon
von Siemens auch von den neu gestalteten, hori- bei der Fertigung helfen niedriger Energieverzontal geteilten Bugklappen, hinter denen die brauch und der Einsatz um­weltfreundlicher MateZugkupplungen verborgen sind. Durch das neue rialien dabei, wertvolle Rohstoffe zu schonen. Und
Design sind zum Verbinden zweier Züge keine tele- im Betrieb sind Energieverbrauch und Emissionen
skopierbaren Kupplungen mehr nötig – die bisher äußerst gering. Zum Beispiel werden statt der bisverwendeten komplizierten Mechanismen zum her mit Halogenlampen bestückten Scheinwerfer
Ausfahren und Verriegeln mit komplexer Steue- normgerechte LED-Leuchten eingesetzt: Die stellen
rung und Überwachungssensorik entfallen damit. nicht nur sicher, dass beim Ausfall einer LED nicht
Das fördert nicht nur die Zuverlässigkeit der Vor- gleich der komplette Scheinwerfer dunkel bleibt.
richtung. Zugleich sinken die Beschaffungskosten Sie weisen auch eine deutlich höhere Lebensdauer
für Ersatzteile deutlich – und während der auf 30 auf, entwickeln weniger Abwärme und erzeugen
Jahre angesetzten Lebensdauer eines Hochge- höhere Lichtströme. Energie und Kosten spart auch
schwindigkeitstriebzuges fällt das durchaus ins das elektrische Bremssystem, das eine RückspeiGewicht: „Bei jedem Zusammenkuppeln von einige sung der Brems­energie in das Netz erlaubt und
hundert Tonnen schweren Zügen werden die auto- dank des Triebzugkonzepts mit verteilter Traktion
matischen Kupplungen stark beansprucht und jeden angetriebenen Radsatz zur Rekuperation
müssen deshalb von Zeit zu Zeit ausgetauscht nutzen kann. Überhaupt sorgt in der Velaro Platt-
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Im Rausch der Geschwindigkeit: Die Ahnengalerie des Velaro D
S
chnellfahrversuche auf der Schiene gibt es, seit Eisenbahnen
fahren. Am 6. Oktober 1903 aber schaffte ein von Siemens
& Halske ausgestatteter elektrischer Versuchstriebwagen auf
der damaligen Militär–Eisenbahnstrecke Marienfelde–Zossen–
Jüterbog 203 km/h und erreichte damit erstmals den Geschwindigkeitsbereich heutiger Hochgeschwindigkeitszüge 1 . Auch
Dampflokomotiven schafften Tempo 200, als erste die deutsche
Schnellzuglokomotive 05 002 im Jahre 1936. Schon fünf Jahre
zuvor war der von einem Flugmotor mit Propeller angetriebene
„Schienenzeppelin“ von Franz Kruckenberg mit mehr als 230
km/h unterwegs gewesen – ein Rekord, der immerhin bis 1955
hielt: Am 28. März 1955 durchbrach die französische Lokomotive CC 7107 mit 326 km/h erstmals die 300-km/h-Marke.
Am 1. Mai 1988 fuhr der Versuchszug ICE-V auf der Schnellfahrstrecke Hannover-Würzburg erstmals schneller als 400
km/h. Seit 16. Juli 2006 ist der Siemens Velaro E (AVE S03)
mit einer gemessenen Geschwindigkeit von 403,7 km/h der
schnellste Serientriebzug ohne Modifikation, im Jahr darauf
erreichte ein speziell präparierter TGV V150 die Marke von
574,79 km/h. Schneller waren bisher nur Magnetschwebebahnen: Seit 2003 hält die japanische Versuchsbahn JR-Maglev
MX-101 mit 581 km/h den Rekord.
Planmäßigen Schnellverkehr gab es schon im Deutschland der 1930er-Jahre, als bis zu 160 km/h schnelle Diesel-
Fernschnelltriebwagen wie der „Fliegende Hamburger“
DRG 877 die Hauptstadt Berlin mit den wichtigen Stadtzentren verbanden 2 . Wenig später gingen drei elektrische
ET 11-Schnelltriebwagen für 160 km/h in Betrieb – bereits
mit Magnetschienenbremsen und verteiltem Antrieb ausgestattet und somit Urahnen heutiger ICE-3- und VelaroTriebzüge 3 .
Der planmäßige moderne Hochgeschwindigkeitsverkehr
begann 1964 in Japan auf der speziellen SchnellverkehrsTrasse des Tokaido-Shinkansen, mit 220 km/h Höchstgeschwindigkeit damals der schnellste Planzug der Welt 4 .
In Europa fuhren deutsche InterCity-Züge seit 1971 planmäßig mit 200 km/h. Frankreich startete 1981 mit dem TGVBetrieb auf speziellen Hochgeschwindigkeitsstrecken 5 , und
in Deutschland war ab 1991 der ICE 6 und zur Expo 2000 der
ICE 3 als erster europäischer Hochgeschwindigkeit-Triebzug mit verteilter Traktion unterwegs. Seit 2000 erreicht der
Acela-Express im Nordosten der USA immerhin Tempo 240.
Die Strecke Madrid – Barcelona, gebaut für 350 km/h, wird
seit 2007 von Velaro E Triebzügen befahren. Und in China
kommt der Velaro CN (CRH 3) als „Beijing-Tianjin Express
Train“ ebenso wie der „Harmony Express“ auf der 1000 Kilometer langen Schnellfahrstrecke zwischen Wuhan und
Guangzhou auf 350 km/h Höchstgeschwindigkeit.
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Das Konzept der „leeren Röhre“: Die komfortable
Einrichtung lässt sich flexibel anpassen.
Das durchgehende Hochdach, im Strömungskanal (oben rechts) getestet, verbessert die Aerodynamik.
form eine Art „intelligenter Energiemanager“
dafür, dass alle Zugsysteme stets im optimalen Wirkungsgrad betrieben werden. Die Folge: Während die Deutsche Bahn derzeit im ge­­samten Fernverkehr, wo eine Zugauslastung von 40 Prozent die
Regel ist, mit einem Äquivalent von 2,7 Litern Benzin pro Person rechnet, verbraucht ein komplett
belegter Velaro-Plattformzug mit 500 Plätzen pro
Sitzplatz nur umgerechnet 0,33 Liter Benzin auf
100 Kilometer – gerade mal den Inhalt einer Ge­­
tränkedose.
Hier spielt auch die verbesserte Aerodynamik
eine große Rolle: Um den Energieverbrauch zu
reduzieren, wurde das aerodynamische Verhalten
durch Verkleidungen der Dachgeräte, Drehgestelle und Wagenübergänge mit einem zweistufig
ansteigenden Hochdach optimiert: Es beginnt im
hinteren Bereich eines Endwagens, verläuft über
den ganzen Zug und taucht am gegenüberliegenden Endwagen wieder ab. „Die Idee dahinter war,
alle Klimaanlagen und anderen Aggregate, die ja
bei einem Mehrsystemzug zahlreich vorhanden
sind, gemeinsam mit den Stromabnehmern zu
verkleiden und damit die bisherige, zerklüftete
Dachlandschaft zu vermeiden“, so Projektleiter
Martin Steuger. „Unsere Untersuchungen im Strö-
mungskanal haben nämlich gezeigt, dass eine
durchgängig glatte Verkleidung signifikant Energie spart.“ Das Besondere dabei: Hätten die Ingenieure das Hochdach schon ab der Bugnase auf
die volle Höhe gezogen, wäre die Frontfläche
enorm groß und der Staudruck, der beispielsweise beim Einfahren in Tunnels entsteht, gewaltig.
„Mit dem zweistufigen Anstieg aber bekommen
wir einen relativ schlanken Kopf, der eine erste,
geringere Druckwelle erzeugt“, argumentiert
Steuger. Erst danach kommt der leichte Anstieg
zum Hochdach mit einer zweiten, leichteren
Druckwelle – der Luftdruck verteilt sich besser.
Auch der sogenannte Sonic Boom, der oft explosionsartige Tunnelknall an der gegenüberliegenden Ausfahrt, kann sich dadurch abschwächen.
„Vor allem bei Einfahrten in eingleisige Tunnelröhren mit ihrem geringen Durchmesser wird
dies mit steigender Fahrgeschwindigkeit immer
wichtiger.“
Klar ist: Jede einzelne dieser Innovationen, kombiniert mit den besten Eigenschaften der Vorgängergenerationen, steht beim Velaro D für zeitsparendes, wirtschaftliches und umweltfreundliches
Reisen mit einem komfortablen Verkehrsmittel.
Willkommen bei der Bahn!P
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„Die Marke sichtbar machen“
Mobilität braucht ein Gesicht – und
innovative Funktionen die passende
Formensprache. Die neue MetroPlattform Inspiro beispielsweise, die
Siemens Mobility zur InnoTrans 2010
in Berlin vorstellt, wurde von den
Produktdesignern der BMW Group
DesignworksUSA gestaltet. Niko
von Saurma, Leiter des Studios in
München, schildert im Gespräch
Niko von Saurma
mit como seine Sicht auf aktuelle
Trends und Anforderungen beim Mobilitätsdesign und erläutert
die Entwicklung des Designkonzeptes für den neuen Inspiro.
Konzeptskizze für die SiemensDesignstrategie aus dem Jahr 2002
como 05 | September 2010
como: Seit geraumer Zeit entwickelt DesignworksUSA Konzepte und Designideen für
Siemens. Sie selbst sind seit 1995 beim Unternehmen, zunächst in Kalifornien, dann ab 2006
als Leiter des neu eröffneten Studios in Singapur und seit November 2009 als Studioleiter
München. Wie würden Sie die Zusammenarbeit
mit Siemens in dieser Zeit beschreiben?
Niko von Saurma: Tatsächlich erstreckt sich die
Zusammenarbeit bereits über mehrere Jahrzehnte.
Der Wert, den wir als kreative Designberatung für
Siemens bereitstellen können, ergibt sich aus der
speziellen Konstellation unseres Studios: Als internationale Tochterfirma der BMW Group arbeiten wir
für die Marken des Mutterkonzerns, pflegen aber
gleichzeitig einen großen Kundenkreis aus unterschiedlichen Branchen, darunter viele bekannte,
internationale Mobilitätsanbieter. Unsere Designer
arbeiten teilweise zeitgleich an Automobilen, Yachten, Flugzeugdesigns oder anderen mobilitätsbezogenen Projekten. Das verschafft uns einen umfassenden Blick auf das Thema Mobilität.
ten, dabei alle Facetten moderner Mobilität einbeziehen und verantwortungsvolles Handeln in den
Mittelpunkt stellen.
como: Bedeutet das, dass sich diese zunehmende Vernetzung künftig auch auf die Gestaltung
der Mobilitäts-Infrastruktur auswirkt, etwa an
den Schnittstellen zwischen verschiedenen Verkehrssystemen?
von Saurma: Diese Entwicklungen werden alle
mobilitätsbezogenen Bereiche betreffen, also beispielsweise auch die Verweilangebote in den Städten und rund um den öffentlichen Nahverkehr. Für
como: An welchen konkreten Siemens-Projekten
hat DesignworksUSA in den vergangenen Jahren
gearbeitet?
von Saurma: Im Jahr 2002 wurden wir zum Beispiel
von Siemens damit beauftragt, in einem umfassen­
den Konzept eine neue, zukunftsweisende Designstrategie für die Siemens-Zugflotte zu entwerfen.
Die Studie sollte die Design-Potenziale für das
Unternehmen bis ins Jahr 2015 aufzeigen und die
Marke im Design sichtbar machen. Ziel war es
damals, eine wiedererkennbare Design-Identität
zu schaffen, die dem Unternehmen auf der Schiene ein Gesicht gibt und das Knowhow des Mobilitäts-Spezialisten Siemens in eine physische Sprache übersetzt – die gesamte Entwicklungskompetenz
sollte im Zugdesign sichtbar gemacht werden. Wir
fragten uns also, „Wie wird ein Zug zur Marke“ und
„Wie wird ein Zug zu einem Siemens-Produkt“.
como: Haben sich denn die Anforderungen an
Mobilitätsprodukte generell verändert?
von Saurma: Die Kundenorientierung ist mehr in
den Vordergrund gerückt, das sehen wir auch aus
der Designperspektive sehr deutlich. Wir konnten
das im Automobilbereich schon früh beobachten
und finden es zunehmend in vielen anderen mobilitätsbezogenen Bereichen und Branchen. Standardisierung mit Optionen für Individualisierung ist
hier ein wichtiger Aspekt. Dabei geht es gleichermaßen um ästhetische Präferenzen, um funktionale
Anforderungen und in rasant zunehmenden Maße
auch um nachhaltige Lösungen. Zu den wichtigen
Anforderungen zählt zum Beispiel immer stärker
die Vernetzung von Diensten im Sinne einer kompletten Mobilitätslösung. Für uns bedeutet das,
ganzheitliche Lösungen zu entwickeln, die einen
greifbaren Nutzen für Kunden und Endkunden bie-
Gestaltung bis ins Detail: Auch die Wahl der Materialien und Farbkombinationen entscheidet
darüber, ob sich die Fahrgäste später wohlfühlen.
die Städte wird es überlebensnotwendig werden, die
Erlebnisqualität hier durch ansprechendes Design
sowohl der Transportmittel als auch der angrenzenden Mobilitäts-Ausstattung zu erhöhen. Öffentliche Bereiche wie Wartezonen müssen mit positiven
Emotionen aufgeladen werden, um die Lebensqualität der Menschen zu steigern und darüber hinaus
Harmonie in den persönlichen Alltag, aber auch in das
soziale Leben der Städte zu bringen. Innerstädtische
Entwicklungsprojekte wie der Ausbau der Hamburger
Hafencity demonstrieren auf beeindruckende Weise
den großen Wert ästhetisch ansprechender und
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komfortabler städtebaulicher Angebote. Die dazugehörigen Transportsysteme müssen sich hier
natürlich mit entwickeln.
como: Auch beim neuen Inspiro Metro-Konzept ging es also darum, den Spagat zwischen Standardisierung und Individualisierung zu schaffen?
von Saurma: Mit der Forderung nach Individualisierbarkeit erhalten Aspekte wie Raumgefühl
oder Variabilität eine immer stärkere Priorität.
Beim Design für den neuen Inspiro, das aktuell
zur InnoTrans 2010 vorgestellt wird, gehen wir
auf diese Anforderungen ein, indem wir zum
Beispiel Elemente, die sich der Individualisierbarkeit widmen, durch Designmittel deutlicher
sichtbar machen. Wir zeigen also einen speziel­
len Nutzen über gestalterische Mittel.
So entstanden für den Inspiro zwei Haltestangenkonzepte: Eines nennen wir „Virtual Conductor“, also Virtueller Zugbegleiter: Es ist ein Element, das, an zentraler Stelle platziert, gleichzeitig
Halt und Informationen für die Passagiere be­­
reitstellt. Diese Haltestange kann individuell
bespielt werden. Ein weiteres Konzept, das wir
„Light-Tree“ nennen, ist eine Analogie aus der
Natur. Es spielt mit dem Bild eines verästelten
Baumes und kann vom Betreiber nach Wunsch
individualisiert werden. Zusätzlich bieten „LightTrees“ innovative funktionale Lösungen: Bei einer
Vielzahl von Haltemöglichkeiten kann das Berühren fremder Hände vermieden werden, angenehme Oberflächentexturen sorgen für einen
festen Griff und die Gerüststruktur ermöglicht
angenehme Distanz zum Nachbarn. Weiterhin
wird das Design der Haltestangen dafür sorgen,
den Passagierfluss beim Einsteigen besser und
schneller zu lenken, was wiederum positive Auswirkungen auf die Umlaufzeiten haben wird.
como: Im Vordergrund steht dabei das Wohlbefinden der Fahrgäste?
Im Fokus: BMW Group DesignworksUSA
DesignworksUSA, Tochterunternehmen der BMW Group und weltweit
tätiges Designstudio mit Schwerpunkten im Transportation- und Produktdesign sowie in der strategischen Designberatung, unterhält drei
Standorte in Europa, Amerika und Asien. Präsident Laurenz Schaffer
führt die Geschäfte vom Studio in Kalifornien aus. DesignworksUSA ist
Impulsgeber für die Designstudios der drei Marken der BMW Group und
agiert als Innovationsmotor für eine Vielzahl namhafter Kunden aus ITund Unterhaltungselektronik, der Flugzeugtechnik, den Bereichen Medizin, Umwelt, Lifestyle und Sport sowie anderen Branchen mit Kunden
wie Hewlett Packard, Microsoft, Sennheiser, Puma und John Deere. Das
amerikanische Wirtschaftsmagazin „Fast Company“ zeichnete DesignworksUSA 2010 als „Most Innovative Company in Design“ und „eines
der innovativsten Unternehmen 2010“ aus.
www.designworksusa.com
von Saurma: Menschen verbringen immer mehr Zeit in öffentlichen Transportmitteln, und der Wunsch
nach privater Komfort-Atmosphäre ist eine Herausforderung an das Design. Dabei bewegt uns eine Vielzahl
von Fragen: Wie nah und in welcher Anordnung zueinander wollen Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln stehen? Wie kann das
Design über die Anordnung von Elementen im Waggon oder über die Fahrgast-Lenkung beim Eintritt in den Wagen auf diese Bedürfnisse eingehen? Wohin
schauen Passagiere im Zug und wie können
Designelemente dazu beitragen, Blicke so zu
lenken, dass sich möglichst wenig Augenkontakt ergibt?
como: Welche charakteristischen Eigenschaften haben Sie also dem Inspiro mitgegeben?
von Saurma: Zu den wichtigsten Anforderungen
von Siemens zählten nachhaltige Lösungen, eine
am Betreiber orientierte Gesamtkonzeption und
eben die Schaffung eines Wohlfühlangebotes für
Passagiere. Ein zentrales Element beim Interieur ist das erwähnte Haltestangenkonzept
„Light-Tree“. Es setzt den Anspruch an eine naturnahe Atmosphäre und funktionale Lösungen
von allen Details am stärksten im Design um.
„Light-Trees“ erinnern an eine Baumstruktur
und verleihen dem naturnahen Charakter des
Innenraumes starken Ausdruck. In seiner Ge­­
samtheit schafft das Interior-Design eine na­­
türliche, einladende Atmosphäre: mit warmen
Farben und Materialien im Waggon und de­­
zenten Lichtinseln, deren Stimmung anpassbar
ist. All diese Elemente kennt man aus dem klassischen Lounge-Bereich, wir haben sie jetzt für
den Inspiro neu interpretiert. Es ging uns
darum, ein Gefühl von Leichtigkeit und Komfort und somit ein wenig natürliche Tagesatmosphäre in die Metro zu bringen. Zugleich sorgen Leichtbauelemente und Materialien mit
nachhaltigem Charakter für eine insgesamt bessere Energiebilanz – auch das liegt im Interesse
der Betreiber, der Umwelt und letztlich der Passagiere.
como: Das setzt sich bei der Außengestaltung fort?
von Saurma: Dem Exterior-Design gelingt es,
wie ich meine, viel Fläche für betreiber- oder
städtespezifische Individualisierung zur Verfügung zu stellen und dabei Siemens als Marke
unaufdringlich mit zu kommunizieren. Okto-
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focus
gonale Türen und eine aufmerksamkeitsstarke, innovative Tür-Lichtgrafik sind
Merk­male, die auch für die
Raumwahrnehmung eine tra­­
gende Rolle spielen: Sich verändernde, den Status anzei­
gende Leuchtstreifen entlang
der äußeren Türlinien werden als
groß und einladend wahrgenommen. Und sie haben einen direkten
kommunikativen Nutzen für Fahrgäste, die durch farbliche Veränderungen der Leuchtelemente erkennen können, ob sich die Tür öffnet
oder schließt. So wird das Design
den Bedürfnissen aller Interessengruppen ge­­recht.
como: Und wie könnten die Weiterentwicklung dieser Konzeption in den kommenden Jahren
aussehen?
von Saurma: Weiterentwickeln wird sich sicher
das Infotainment, das ja beim aktuellen Inspiro
durch den „Virtual Conductor“ bereits eingeführt
ist. Lässt sich zu­­gleich – zum Beispiel je nach Veranstaltung – das Sitzplatzangebot oder die Lichtstimmung variieren, kann dies unter anderem
neue Möglichkeiten des Spon­soring für die Betreiber eröffnen und zugleich den Passagieren mehr
persönliche Atmosphäre beim Bahn- oder Metrofahren verschaffen. Insgesamt aber wird der
Große Flächen, starker Charakter: Achteckige
Türen und variable Leuchtstreifen kennzeichnen
die neue Metro von Siemens.
Anspruch an Nachhaltigkeit für alle weiteren
Entwicklungen bestimmend sein, gerade bei
einem Unternehmen wie Siemens.
como: Herr von Saurma, herzlichen Dank.P
Einladend: Warme Farben, dezente Lichtinseln und kommunikative Halteelemente schaffen Wohlfühl-Atmosphäre.
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Tram nach Maß
Bewährte Komponenten plus innovative Technologie: Mit
dem neuen Avenio stellt Siemens Mobility das NiederflurStraßenbahnkonzept für die Anforderungen von morgen vor.
Ü
berall auf der Welt rückt die Straßenbahn als
leistungsstarkes, umweltfreundliches und dabei höchst wirtschaftliches Verkehrsmittel wieder in den Fokus der Stadtplaner und Verkehrsbetriebe. Bestehende Linien werden ausgebaut und
gänzlich neue Straßenbahn-Netze geplant, oft mitten durch belebte Stadtquartiere. Niederflur-Konzepte mit niedrigem Einstieg, stufenlosem Wagenboden und angemessenem Komfort sind da besonders
gefragt. Auch mit dem neuen Avenio setzt Siemens
Mobility auf dieses Konzept: Er wurde konsequent
aus dem bekannten Combino weiterentwickelt und
weist nun eine Reihe technischer Innovationen auf,
die ihn zu einer der modernsten 100-Prozent-Niederflurstraßenbahn der Welt machen.
Bei Niederflur-Konzepten sind die Konstrukteure
ganz besonders gefordert, denn oft widersprechen
sich technische Möglichkeiten und Anforderungen:
Beispielsweise soll die Antriebsleistung der Straßenbahn hoch genug sein, damit auch volle Züge
ordentlich beschleunigen können. Ein niedriger
und durchgehend ebener Wagenboden bietet jedoch wenig Raum für Radsätze und Antriebe. Auch
Faktoren wie hohe Stabilität und geringes Gewicht,
wichtig für Langlebigkeit, Verschleißarmut und
Energieeffizienz, stehen im Gegensatz zueinander.
Zahl und Anordnung der Türen entscheiden darüber, wie viele Sitzplätze verfügbar sind, beeinflussen jedoch auch die zum Ein- und Aussteigen
benötigten Haltezeiten und damit die Umlaufzei-
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„
Eine Plattform für flexiblen
Einsatz: die neue Avenio
Niederflurstraßenbahn.
Seit zwei Jahrzehnten baut Siemens 100%Niederflurstraßenbahnen – der Avenio ist
die konsequente Weiterentwicklung.
Silke Vandersee, Vice President Light Rail,
Siemens Mobility
ten des Zuges auf der Strecke. Und schließlich
bestimmt die Konstruktion des Fahrwerks, wie kom­
fortabel, wirtschaftlich und umweltfreundlich ein
Straßenbahnzug unterwegs ist.
Drehgestelle für alle Zugmodule
Bisher wurden Straßenbahnen meist als Multigelenkfahrzeuge konstruiert: Zwischen zwei kurzen
Wagenteilen mit starren Fahrwerken ist ein langer, räderloser Wagenkasten wie eine Sänfte aufgehängt. Diese asymmetrische Anordnung belastet
jedoch Drehgelenke und Aufbau enorm, denn bei
zügiger Kurvenfahrt sind nicht nur die „schwebenden“ Wagenteile hohen Querbeschleunigun-
gen ausgesetzt. Deshalb wählten die SiemensIngenieure beim neuen Avenio – wie schon bei
den Straßenbahnprojekten für Budapest und die
portugiesische Stadt Almada – das Konzept modularer Einzelgelenkwagen: Sowohl die Endwagen
als auch die neun Meter langen Mittelwagen verfügen über eigene, teils angetriebene Drehgestelle. Das optimiert zum einen das Kurvenverhalten,
erlaubt aber auch, sehr unterschiedlich lange
Straßenbahnen zu bilden – vom 18-Meter-Kurzzug bis hin zur Einheit mit sechs Mittelwagen,
insgesamt 72 Metern Länge und Platz für mehr
als 540 Fahrgäste. So kann der Avenio als derzeit
längste 100-Prozent-Niederflurstraßenbahn der
Welt konfiguriert werden.
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Mit breiten Türen, optimierter Raumaufteilung und effektivem Klimasystem bietet der Avenio besten Fahrkomfort.
Breite Doppeltüren nehmen rund 30 Prozent
der gesamten Länge ein, beginnend direkt hinter dem Führerstand. Sie ermöglichen auch
Fahrgästen mit Bewegungseinschränkung den
schnellen, barrierefreien Zugang und erlauben
rasches Ein- und Aussteigen selbst bei voll be­­
setzten Zügen. Das verkürzt die Haltezeiten und
sichert zusammen mit einer möglichen Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h kurze Um­­lauf­
zeiten. Auch fertigungstechnisch ist der Avenio
auf dem neuesten Stand. Eine State-of-the-artLeichtbauweise aus Stahl mit weniger verbauten
Teilen als in den Vorgängermodellen senkt
Gewicht und Fertigungskosten.
Innovative Losrad-Drehgestelle
Im Gegensatz zum Combino besitzt der Avenio
keine herkömmlichen Fahrwerke, sondern Losrad-Drehgestelle: Hierbei sind die Räder nicht
durch eine Achse verbunden, sondern werden einzeln in einem Portalrahmen gelagert. Außenliegende Motoren treiben paarweise die jeweils hintereinander liegenden Räder an. Ein Vorteil dieser
Bauweise ist, dass Motor, Getriebe und Hohlwellenkupplung vollständig abgefedert außen am
Fahrwerk liegen und für Wartungsarbeiten problemlos zugänglich sind. Das Besondere am neuen
Avenio-Drehgestell: Es verhält sich in der Geraden wie ein konventionelles Radsatz-Drehgestell,
schwenkt bei Einfahrt in Kurven frei aus und
durch­fährt Bögen reibungsarm wie ein LosradFahrwerk.
Besonders wichtig war den Siemens-Ingenieuren eine gleichmäßige Lastverteilung bei
den einzelnen Zugteilen. Deshalb setzten sie
die Drehgestelle des Avenio mittig unter die Wa­­
genkästen – eine Maßnahme, die seitliche Spur­
führungskräfte auf Gleis und Räder deutlich reduziert. Die Fahrgäste bemerken die Wirkung am
höheren Fahrkomfort: Die Straßenbahn bietet
ex­zellente Laufruhe und fährt sanft durch Kurven,
in engen Bögen und auf schlechter Strecke tritt
das lästige Quietschen und Poltern nicht mehr
auf, Rollgeräusche und Bodenvibrationen werden
selbst bei hoher Geschwindigkeit effizient ge­­
dämpft. Die längste 100-Prozent-Niederflur­stra­
ßen­bahn der Welt ist damit zugleich auch eine der
leisesten.
Neben einem deutlich gesteigerten Fahrkomfort
für die Fahrgäste bringt das innovative Fahrzeugkonzept auch handfeste wirtschaftliche Effekte mit
sich: Es entlastet nicht nur Wagenkästen und Gelenke und ermöglicht so einen energiesparenden
Leichtbau, sondern reduziert auch den Verschleiß
an Rädern und Schienen. So müssen die Radreifen
bei herkömmlichen Niederflur-Fahrzeugen oft schon
bei wenig mehr als 100.000 Kilometern Laufleistung
ausgetauscht werden. Der Avenio dagegen kann
wegen der konzeptbedingt geringeren Belastung
der Räder Laufleistungen von bis zu 500.000 Kilometern mit denselben Radreifen erreichen.
Auch ein Plus an Sicherheit gehört zu den Kerneigenschaften des Avenio. Beispielsweise schützt
ein durchdachtes Crashkonzept gemäß europäischer Aufprallschutz-Norm EN 15227 Fahrer und
Fahrgäste optimal bei Kollisionen. Die passive
Sicherheit für Fußgänger war beim Kopfdesign
und der Buggestaltung ebenfalls ein wesentliches
Kriterium. An Haltestellen wirken Sicherheits­
funktio­nen wie eine komplexe Türüberwachung
und eine optionale Bahnsteigbeleuchtung bei
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Punkt für Punkt: Der Avenio im Überblick
100%-Niederflur
• EMinzelgelenkkonzept,
inimaler
Verschleiß
an Rädern und Schienen, dadurch
• reduzierte Betriebskosten
ahlreiche breite Türen, optimierte Raumaufteilung
• Zund
Klimasystem für mehr Fahrgastkomfort
berarbeitetes Drehgestell mit exzellenter Laufruhe
• Üauch
bis 80 km/h Höchstgeschwindigkeit
I
m
StraßenbahnStadtbahnbetrieb einsetzbar
• Für Tunnelbetriebund
geeignet
• Optionaler Energiespeicher zur weiteren Verbesserung
• der Energiebilanz
• Oberleitungsloser Betrieb möglich
Der Avenio: Wirtschaftlich im Betrieb, vorbildlich in der Energiebilanz.
geöffneten Türen. Und für mehr Sicherheit an
Bord sorgen Brandschutzmaßnahmen nach den
neuesten Normen, Brandschotts sowie die konsequente Verwendung von brandhemmenden Materialien. So ausgerüstet, lässt sich der Avenio auch
auf Stadtbahnen mit längeren Tunnelstrecken
ideal einsetzen.
Zu den ganz wesentlichen Eigenschaften bei Straßenbahnen,
die mehrere Jahrzehnte unterwegs sein sollen, gehört heute
mehr denn je ein niedriger Energieverbrauch. Beim neuen Avenio
trägt dazu ein ganzes Bündel
von Maßnahmen bei – beginnend wieder bei der Fahrwerkskonstruktion: Sind nämlich Triebräder konventionell durch Achswellen quer miteinander verbunden, vernichten sie wegen der unterschiedlich langen Laufwege im Innen- und Außenbogen Energie durch Reibung. Die Losräder
des Avenio dagegen können in Kurven mit unterschiedlicher Drehzahl laufen – ohne derartige
Reibungsverluste.
Dazu kommen zahlreiche Innovationen wie
beispielsweise die elektrische Bremse, die bis zum
Stillstand des Fahrzeugs wirkt und den Einsatz
der mechanischen Bremsen nur bei Gefahrenbremsungen und als Parkbremse nötig macht. Die
optimierten Nebenaggregate schalten sich im
Stand ab oder reduzieren ihre Leistung. Auch
intelligentes Energiemanagement, Traktionsumrichter neuester Generation und die Traktionssteuerung mit einem Wirkungsgrad von über
98 Prozent stehen für den höchst effizienten
Umgang mit Strom.
Optional speichern On-Board-Energiespeicher
die beim Bremsen gewonnene Energie und nutzen
sie anschließend wieder zum Beschleunigen sowie
zum Heizen oder Kühlen des Innenraums. Und weil
dieser Pufferspeicher auch die Verbrauchsspitzen
im Oberleitungsnetz reduziert, können oft sogar
Investitionen in eine stärkere Stromversorgung
Unter dem Strich bringt der Avenio den
Passagieren höchsten Fahrkomfort und
den Betreibern handfeste Kostenvorteile.
einfach entfallen. Die genannten Maßnahmen können in der Summe den Energieverbrauch um bis
zu 30 Prozent senken.
Mit der an Bord gespeicherten Energie kann der
Avenio aber auch bis zu 2,5 Kilometer weit ohne
Oberleitung fahren: über komplexe Straßenkreuzungen, durch Stadttore, Tunnel und denkmalgeschützte Bereiche, unter Brücken hindurch, an Baustellen vorbei oder überall dort, wo eine Oberleitung
das Stadtbild stört oder nicht installiert werden soll.
Im portugiesischen Almada nahe der Hauptstadt
Lissabon hat sich dies schon bewährt.
Selbst nach der Ausmusterung in einigen Jahrzehnten lässt sich noch Energie einsparen und die
Umwelt schonen, denn die verbauten Materialien
garantieren eine Recyclingquote von über 90 Prozent. Schließlich soll der Avenio – bei aller Wirtschaftlichkeit, Zuverlässigkeit und Umweltfreundlichkeit im Betrieb – vor allem eine Investition in
die Zukunft sein.P
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connect
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Es werde Grün!
Jeder Autofahrer kennt das: Man will einfach von A nach B zügig durch
die Stadt fahren – doch jede Ampel zeigt Rot. Dabei lassen sich Verkehrs­
ströme heute deutlich flüssiger gestalten: In der Universitätsstadt
Münster installierte Siemens Mobility die derzeit modernste netzadaptive Lichtsignalsteuerung. Und der Verkehr läuft besser denn je.
M
al ehrlich: Eine eigene „Grüne Welle“ ist der
Wunschtraum jedes Autofahrers. Wo man
auch hinfahren will: Die nächste Verkehrsampel schaltet auf Grün. Das Prinzip ist schließlich
recht simpel. Alle Lichtsignalanlagen eines Straßenzuges werden so geschaltet, dass Fahrzeuge – sofern
sie in einem bestimmten Tempo, der sogenannten
Progressions-Geschwindigkeit fahren – jede Ampel
in ihrer Grünphase erreichen. Das sorgt für gleichmäßigen Verkehrsfluss und reduziert Brems- und
Beschleunigungsmanöver, spart also Kraftstoff und
vermindert sowohl die CO2-Emission als auch den
Ausstoß von Partikeln und Stickoxiden. So weit
ganz einfach.
Leider ist die Wirklichkeit komplizierter. Richtig
gut läuft eine solche festzeitgesteuerte Grüne Welle
immer nur auf einer Straße und in eine Richtung.
Wo sich das Verkehrsaufkommen im Lauf des Tages
ändert, und das ist auf Ein- und Ausfallstraßen nun
mal die Regel, müssen in einem Signalzeitenplan
die jeweiligen Grünzeiten unterschiedlich festgelegt werden: In Richtung Innenstadt sind morgens
zum Berufsverkehr längere Grünphasen nötig als
nachmittags, stadtauswärts ist es genau umgekehrt.
Zeitweise veränderte Verkehrsbedingungen, beispielsweise zum Ende eines Fußballspiels oder einer
anderen Großveranstaltung, müssen meist sogar
manuell geschaltet werden. Ganz klar: Wirklich
überzeugend funktioniert eine solche Festzeitsteuerung selbst bei sorgfältiger Planung nicht – schon
allein deshalb, weil sich Verkehr niemals exakt an
Planungen hält.
Verkehrsabhängig: Nicht immer optimal
Deshalb setzen Städte heute meist auf verkehrsabhängige Steuerungen, die den lokalen Verkehrsstrom an Kreuzungen nach Bedarf bedienen kön-
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„
connect
Die meisten Städte stehen vor einer verkehrs- und umweltpolitischen Herkulesaufgabe: Sie müssen mit dem
vorhandenen Straßennetz immer mehr Verkehr abwickeln – und zugleich für sinkende Emissionen sorgen.
nen. Die Steuerprogramme werten Daten der
zugeordneten Verkehrsdetektoren aus und verlängern oder verkürzen für diesen Verkehrsknotenpunkt die Grünzeiten für jede einzelne Zufahrt.
Diese verkehrsabhängigen Steuerungen können
sich vor Ort an „ihrer Kreuzung“ in einem gewissen
Rahmen selbst auf wechselnde Belastungen einstellen – und sie können dort auch bestimmten Verkehrsteilnehmern wie Bussen und Bahnen Priorität
einräumen. Allerdings: Eine solche Vorrangschaltung kann dazu führen, dass die Grünphasen für
Kraftfahrzeugströme sehr stark verkürzt werden.
Und der Stau an der nächsten Kreuzung bleibt oft
ebenfalls unberücksichtigt.
Das System arbeitet auf zwei funktionalen Ebenen: Auf der taktischen Ebene gibt die Netzsteuerung per Rahmensignalplan, der alle fünf bis 15
Minuten aktualisiert wird, Umlaufzeit, Phasenfolgen, Verteilung und Koordinierung der Grünzeiten
vor. Auf der operationalen Ebene passt das Steuergerät innerhalb der Umläufe die aktuelle Phasenfolge und die Gründauern an, die Schaltung der
Die Lösung: Intelligente Steuerungen
Intelligente Steuerungen bekommen auch diese
Situation in den Griff. So bezieht die modellbasierte, adaptive Netzsteuerung Sitraffic Motion MX von
Siemens die aktuelle Verkehrssituation an allen
relevanten Knotenpunkten im Verkehrsnetz ein
und erstellt zusätzlich Kurzzeitprognosen. In Verbindung mit einem modernen Verkehrsrechner
berechnet Sitraffic Motion aus diesen Daten laufend
die Auslastungsgrade der Ampeln im umgebenden
Verkehrsnetz, optimiert die Zuteilung der Grünzeiten – das System kann so flexibel auf wechselnde
Verkehrsmengen reagieren, ohne die Möglichkeiten der lokalen Steuerung einzuschränken – und
stellt eine wirklich „dynamische Grüne Welle“ her.
Grüne Welle in Münster: Ein optimierter Verkehrsfluss verringert Staus und CO2-Emissionen.
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connect
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Eine festzeitgesteuerte Grüne Welle (links) funktioniert einfach, ist für komplexe Umgebungen aber
zu unflexibel. Verkehrsadaptive Lösungen analysieren die Situation laufend neu (rechts).
Phasenübergänge für die Grünzeiten sogar sekundengenau. Dabei werden alle Verkehrsteilnehmer
berücksichtigt: ÖPNV und Individualverkehr, Fußgänger und Radfahrer.
Verkehrsadaptiv: Höchstes Potenzial
Wie effizient eine solche verkehrsadaptive Lösung
eingesetzt werden kann, zeigt die Aufrüstung des
Verkehrssteuerungssystems im Kopenhagener
Stadtteil Valby. Die dänischen Verkehrsplaner wollten ihre vier Buslinien um 20 Prozent beschleunigen, ohne dabei den Individualverkehr zu bremsen.
Diese Vorgaben ließen sich mit der Siemens-Lösung
deutlich übertreffen: Die Busse in Valby sind heute
bis zu 27 Prozent schneller unterwegs – und sogar
der Individualverkehr kommt messbar zügiger
voran als zuvor.
Dabei besitzen Modernisierungen mit Sitraffic
Motion weit mehr Potenzial, das belegt besonders
deutlich der Umbau einer klassischen Grünen Wel-
le zum modellbasierten, verkehrsadaptiven Verfahren auf dem stark befahrenen Albersloher
Weg in der Universitätsstadt Münster. Seit Mitte
2008 analysiert hier die Lichtsignalsteuerung
Sitraffic Motion an 24 Ampelkreuzungen mit Hilfe der in den Zufahrten angebrachten Detektoren,
wie viele Fahrzeuge unterwegs sind, wohin sie
abbiegen und wo Staus zu entstehen drohen. Ein
zentraler Verkehrsrechner empfängt die Daten,
analysiert im 5-Minuten-Takt die Verkehrssituation an den Kreuzungen entlang der sechs Kilometer langen Straße und passt automatisch die
Längen der Rot-Grün-Phasen der Ampeln sowie
die Grüne Welle alle 20 Minuten daran an, bei
Bedarf auch schneller. Und wie wirkt sich diese
komplexe Steuerung tatsächlich aus?
Eine empirische Studie des Lehrstuhls für Verkehrswesen an der Ruhr-Universität Bochum ging
der Sache auf den Grund. Die Wissenschaftler
verglichen drei verschiedene Entwicklungsstufen
des Verkehrssystems auf dem Albersloher Weg:
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den nahezu vollständig festzeitgesteuerten
Urzustand, eine konventionell geplante, verkehrsabhängige Steuerung in den einzelnen
Signalanlagen und schließlich die verkehrs­
adaptive, modellbasierte Steuerung von Siemens.
Dazu nutzte das Forscherteam Werte aus eigenen Messungen mit Detektoren, GPS-Messfahrzeugen und Videosystemen und kombinierte sie mit den Telematikdaten der städti­schen
Bus­linien.
In einer zusammenfassenden Bewertung für
alle Verkehrsteilnehmer, vom Pkw über Linienbusse bis hin zu Radfahrern und Fußgängern,
berechneten die Wissenschaftler den sogenannten Performance Index als Qualitätsmaßstab für
die Leistungsfähigkeit des Verkehrsweges. Dabei
wurde deutlich, dass im Vergleich zum Ausgangszustand zwar schon die konventionell
verkehrsabhängige Steuerung Verbesserungen
brachte, die adaptive Steuerung mit Sitraffic
Motion allerdings die Verkehrsqualität wirklich
optimieren konnte. Das Ergebnis: deutlich besserer Verkehrsfluss, bis zu 49 Prozent weniger
Halte gegenüber der ursprünglichen, festzeitgesteuerten Lösung sowie durchschnittlich 38
Prozent kürzere Wartezeiten für die Autofahrer.
„Das eingetretene Ausmaß der Verbesserun­
gen ist unerwartet hoch“, stellten die Bochumer Wissenschaftler in ihrem Fazit fest und
betonten: „Insgesamt kann die Einführung der
neuen Lichtsignalregelung auf dem Albersloher
Weg als Erfolg betrachtet werden.“ Entsprechend eindeutig fällt die abschließende Wertung aus: „Es ist davon auszugehen, dass durch
die auf dem Albersloher Weg realisierte Signalsteuerung ein technisches Optimum auf dem
Hintergrund des Standes der Technik erreicht
wurde.“ Ein Ergebnis, das auch die Verkehrsplaner in Münster überzeugte: Der Stadtrat be­­
schloss, in den nächsten Jahren noch weitere
stark befahrene Straßen mit adaptiver Sitraffic
Motion-Netzsteuerung auszustatten. P
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Den Verkehr fest im Blick:
Systeme wie das Traffic
Eye Universal von Siemens
liefern der Steuersoftware
zusätzliche Daten über das
aktuelle Geschehen auf
den Straßen.
Sitraffic Motion: Grüner planen
Sitraffic Motion MX ist eine Software, die auf modernen
Verkehrsrechnern wie Sitraffic Scala installiert wird und
innerstädtische Lichtsignalanlagen (LSA) ansteuert. Als
erste adaptive Netzsteuerung kann die Software Daten mit
Steuergeräten und Lichtsignalanlagen praktisch aller europäischen Hersteller austauschen, arbeitet also auch mit
­bereits vorhandener technischer Verkehrsinfrastruktur
zusammen. Weil das System nicht nur einzelne Knotenpunkte, sondern ganze Netzbereiche einbezieht, kann es
auf das tatsächliche Verkehrsgeschehen viel umfassender
reagieren als klassische Lichtsignalsteuerungen, die nach
starren Regeln arbeiten. Zusätzlich nutzt das System ein
neu entwickeltes Verfahren zur Schätzung von Verkehrsparametern und zur Modellierung und kann in den Simulationsmodus der Sitraffic Scala Verkehrsrechner eingebunden werden: So lassen sich schon bei der Planung von
Lichtsignalanlagen die unterschiedlichen Auswirkungen
von Festzeitsteuerung und verkehrsabhängiger Steuerung
simulieren, die Verkehrsqualität beurteilen und die Minderung von Emissionen prognostizieren.
www.siemens.com
IMPRESSUM
como
Complete mobility – Fakten, Trends, Stories
Herausgeber:
Siemens AG · Industry Sector · Mobility Division ·
Nonnendammallee 101 · 13629 Berlin
Redaktionsleitung:
Stephan Allgöwer · Siemens AG · Industry Sector ·
Mobility Division · Communications
Textredaktion:
Eberhard Buhl, Presse-Team Stuttgart
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S.28-31 · European Space Agency (ESA) S. 4 · Fotolia
S. 4 · iStockphoto S. 4, 6, 13 o. l., 14, 29 o. r. und
u., 30 m. l. und u., 36–39 o. · dpa picture-alliance
S. 7, 26 #4 und #5 · Getty Images S. 8, 12, 13 u. l.
Titel/S. 23/Centerfold: U. a. Studien der FH Joanneum
Graz; Sureot: Julie Baaske, Christopher Gloning,
Paul Grader, Thilo Bendix Müller, Julian Pröll; Airient
One: Elisabeth Dioszeghy, Martin Obermayer,
Alexander Hesse, Markus Cäsar; Diveria: Sophie
Doblhoff, Christian Gumpold, Thomass Hesse,
Christian Susana
ICE ist ein eingetragenes Markenzeichen der
Deutschen Bahn AG
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