Die Tiefsee lebt
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Die Tiefsee lebt
Wasser Die Tiefsee lebt Wo Pflanzen nicht mehr gedeihen können, lebt in der dunklen Tiefsee eine vielfältige und äusserst bizarre Tierwelt. 14 Sulzer Technical Review 3/2014 Wasser Beutefang in völliger Finsternis ist herausfordernd. Der Tiefsee-Anglerfisch schafft es mit einem Leuchtorgan, das als Köder fungiert. Der 23. Juli 1869 war für das britische Forschungsschiff «Porcupine» ein Freudentag. Die Mannschaft hatte 400 Kilometer südwestlich von Irland an einem Hanfseil einen Stoffsack bis in 4390 Meter Tiefe auf den Meeresgrund gesenkt und drei Stunden lang über den Boden gezogen. Dabei füllte sich der Sack mit dem Schlamm der obersten Bodenschicht. Als die Crew 80 Kilogramm grauen Schlamm an Deck durch Siebe leerte, kam eine überraschende Fülle von Lebewesen ans Licht: zahlreiche Arten von Weichtieren, Stachelhäutern, Ringelwürmer und Amöben. Für die Tiefseeforschung begann ein neues Zeitalter, denn bisher galt die Meinung, unterhalb von etwa 500 Meter Tiefe gäbe es im Meer kein Leben. Die folgenden Jahrzehnte brachten den Beweis, dass Tiefseeleben überall in den Ozeanen existiert. Als 1960 Jacques Piccard und Don Walsh im Marianengraben auf den Grund der tiefsten Schlucht der Erde sanken und dort im Scheinwerferkegel in 10 914 Metern Tiefe ein Plattfisch durch das Bullauge blickte, war Leben selbst hier nachgewiesen. Wenn es in der Tiefsee schneit Taucht man von der Meeresoberfläche hinunter, wird das Sonnenlicht immer stärker vom Wasser absorbiert; spätestens in 1000 Metern Tiefe ist das letzte Licht verschwunden. Da Algen und Seegräser wie alle grünen Pflanzen für ihr Wachstum Photosynthese brauchen, schwindet in grösserer Wassertiefe mit dem schwächer werdenden Licht auch das Pflanzenleben. Bereits in 200 Metern Tiefe gibt es kaum noch Pflanzenwachstum. Wer also weiter unten hausen will, muss die Lebensenergie anderweitig beziehen. Als ab Mitte des 20. Jahrhunderts Meeresbiologen mit Kameras und Tauchbooten erstmals in grosse Tiefen schauten, stellten sie erstaunt fest, dass es im Wasser schneit. Phytoplankton, mikroskopisch kleine, einzellige Pflanzen, die an der Meeresoberfläche im Wasser schweben, und Zooplankton, ebenso kleine einzellige Tiere, sterben laufend ab. Mit den Exkrementen und Resten weiterer Meerestiere zu schleimigen Teilchen zusammen- geklebt, sinken die Bioflocken als Meeresschnee wie in einer ewigen Winternacht sanft durch die Wassersäule bis zum Grund – Lebensenergie für zahllose Tiere wie Würmer, Seegurken, Quallen und Krebse. Kreaturen, schrecklicher als die Visionen von Hieronymus Bosch, sind die Tiefseefische. Grössere Tiere können in der pflanzenlosen Welt nur gedeihen, wenn sie andere Tiefseebewohner zu überwältigen vermögen. Selbst aus dem geschlossenen Maul ragen beim Vipernfisch die dolchartigen Fangzähne weit heraus. Fast nur als Grossmaul mit angehängtem Schwanz erscheint der Pelikanaal; mit seinen elastisch fixierten Kiefern kann er wie eine Riesenschlange Beute, die weit grösser als er selber ist, verschlingen. Das wahre Monster der Tiefsee ist aber der bis zu 22 Meter lange Riesenkalmar. Mit Augen so gross wie eine Radkappe und einer Doppelreihe von zähnebewehrten Saugnäpfen an jedem der acht Fangarme kämpft das legendäre Ungeheuer selbst gegen den Pottwal, der bis in 2000 Metern Tiefe nach diesem Leckerbissen jagt. Ein gelegentlicher Festschmaus Mit einem leichten Erdbeben kündigt sich den Bodenbewohnern ein besonderer Festschmaus an. Stirbt ein Wal, sinkt der Kadaver tiefer und tiefer, bis er auf dem Grund aufprallt. Die Druckwelle und die Wolke aus Verwesungsmolekülen locken Aasfresser an, und bald schon balgen sich Haie, Schleimaale und Krebse zu Hunderten um den Nahrungssegen. Die Fressorgie kann bei einem ausgewachsenen Blauwal bis zu einem Jahrzehnt dauern. Ist das weiche Gewebe fort, kommen knochenfressende Würmer zum Zug, die mit Hilfe spezialisierter Bakterien den im Knocheninnern gespeicherten, nahrhaften Tran abbauen. Vom Bakterienstoffwechsel profitiert schliesslich eine komplexe Kette von bis zu 400 Arten von Muscheln, Würmern und Schnecken rund um den Knochenberg. Tiefseebiologen vermuten, dass es ein Jahrhundert dauert, bis die letzten Reste eines grossen Walkadavers konsumiert sind. Herbert Cerutti Sulzer Technical Review 3/2014 2/2014 15