Leutnantsbuch

Transcription

Leutnantsbuch
Leutnantsbuch
Leutnantsbuch
79. Offizieranwärterjahrgang
des Heeres
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Leutnantsbuch
Herausgegeben
im Auftrag des Inspekteurs des Heeres
durch Bundesministerium der Verteidigung
Führungsstab des Heeres
53123 Bonn
Verantwortlich für den Inhalt:
Oberst i.G. Ernst-Peter Horn
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Leutnantsbuch
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
3
Grußwort des Inspekteurs des Heeres
7
Offizieranwärter Frank – Der Alarmposten
11
Offizieranwärter Frank – Die Landstreitkräfte
und der Heeresoffizier: Was kommt auf mich zu?
17
Offizieranwärter Frank – Der Bierdeckel
22
Das Zeitspiel
Der erste Marsch
Der Hinterhalt
Der „Grünschnabel“ und der Alte
Das Grab
Beförderungsappell zum Gefreiten
33
40
43
46
52
58
Offizieranwärter Frank – Im Offizierkasino
Nicht nur der erste Eindruck zählt
Der neue Leutnant
Ein schöner Tag!
Die Ehefrau
Hochzeit in Hessen
Der Lebensabschnitt
Der Pizza-Falter
Die Feldjägerkontrolle
Ein Auftrag zuviel
60
63
65
69
72
74
77
81
83
86
Offizieranwärter Frank – Der Abend
90
Offizieranwärter Frank – Selbstbestimmtheit
92
Offizieranwärter Frank – Im Restaurant
112
3
Leutnantsbuch
Der Feuerkampf
Das Funkloch
Kameradschaft
Die Todesnachricht
114
119
123
127
Offizieranwärter Frank – An der Offizierschule
131
Die etwas andere Patrouille!
Jointness
Der Brief
Glauben hilft!
Friendly Fire
Die Truppenpsychologin
Im Moor
Blauhelme in Sarajevo
Mein Spieß
135
138
141
145
148
152
155
158
161
Offizieranwärter Frank – Erfolgsfaktoren
165
Offizieranwärter Frank – Ausbildungswochenende
176
Einsatz im OMLT in AFG
Medien im Einsatz
Der kühle Kopf!
Führen von irgendwo
Haar- und Barterlass, Piercing und Tatoos
Die Besprechung
Die Lehrprobe
Beim Handgranatenwerfen
Der letzte Flug
Die Grußpflicht
Auf der Standortschießanlage
Offizieranwärter Frank –Verabschiedung
Fremde Kulturen
Soldaten muslimischen Glaubens in der Bw
4
179
183
186
191
193
198
203
207
210
212
216
219
224
229
Leutnantsbuch
Feuerlöscheinsatz Griechenland
Der militärische Gruß
Das Offizierkasino
Das Einführungsgespräch
Der „Robuste Soldat“
Der Suizid
Die Gneisenaukaserne
… lieber spät als nie!
Der Anschlag
Team „Hotel“
Der Hochwassereinsatz
„Dat hann isch verjess …“
Der Nijmegen-Marsch
Auslandsstudium USA
„Regen“
Die Veteranen
Das Dilemma
Der Hindernisparcours
Menschenführung im Einsatz
Multinationalität bei SFOR
Der geeignete Zeitpunkt für Kritik
Die Kurzeinweisung
Diagnose Krebs
Das offene Ohr
Die Gruppe in der AGA
Soldatenwallfahrt nach Lourdes
Als Seelsorger in Afghanistan
231
236
238
242
245
247
250
255
257
259
262
266
269
276
278
283
285
289
291
296
299
301
306
312
315
319
323
Das Selbstverständnis des Heeres
334
Namenspatron 79. Offizieranwärterjahrgang
337
Wo finde ich mehr
340
Glossar
345
5
Leutnantsbuch
Eigene Notizen
349
6
Leutnantsbuch
Grußwort des Inspekteurs des Heeres,
Generalleutnant Hans-Otto Budde
S
o ist es also schon beinahe ein „Klassiker“ geworden –
unser Leutnantsbuch. Das hervorragende Echo auf die
1. Auflage hat mich dazu bewogen, mit dieser 2. Auflage
eine „kleine Tradition“ zu begründen: Sie, die jungen
Offiziere und Offizieranwärter, an die es sich richtet, aber
auch „alte Hasen“ der militärischen Führung haben es für
gut befunden. Eine Orientierungshilfe zu unseren Werten,
Traditionen und Normen hat demnach auch in unserer
schnelllebigen Zeit der virtuellen Netze seine Berechtigung.
Ich habe mich über die Anregungen zur 1. Auflage gefreut,
und vieles davon hat in diese 2. Auflage Eingang gefunden.
Wie im Nachfolgenden der junge Offizieranwärter Frank
den Alltag in der Bundeswehr erlebt, ist es sicherlich vielen
von uns ergangen, mir auch.
Was ist das Besondere an dem von uns gewählten Beruf?
Welche Charaktermerkmale und Fähigkeiten sollten
insbesondere künftige Offiziere und militärische Führer
besitzen? Auf welchen Werten und Tugenden gründen sich
letztlich unser Tun und Handeln? Fragen, die mich als
junger Soldat bewegten. Wie Frank habe ich gesucht,
gefragt, aber auch Antworten gefunden. Dabei haben sich
mir viele Facetten des Soldatseins erst im Laufe meiner
langen Dienstzeit erschlossen.
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Leutnantsbuch
Erfahrungen aus unterschiedlichen Verwendungen, Gespräche und Diskussionen mit Kameraden, aber auch das
Lesen von Büchern haben hierzu beigetragen. Unser Beruf
ist ein besonderer, geprägt von zeitlosen Konstanten, Werten
und Prinzipien.
Werte, Tugenden und Prinzipien wie: Treue zum Vaterland,
Stolz auf das eigene militärische Können, Teamgeist und
Wir-Gefühl, Toleranz und Offenheit gegenüber Veränderungen und fremden Kulturen, Bescheidenheit und
Vorbild im Verhalten sind für jeden von uns unerlässlich,
wenn er sich für den Beruf des Soldaten entscheidet.
Im „Selbstverständnis des Heeres“ sind diese Leitgedanken
niedergeschrieben. Sie bilden das Fundament unseres
gemeinsamen Wirkens im einsatzorientierten Heer. Den dort
genannten Grundsätzen ist jeder Angehörige des Heeres
verpflichtet. Sie sind Richtschnur und geistiges Rüstzeug
zugleich.
Als militärischer Führer, Erzieher und Ausbilder tragen wir
Verantwortung für die uns anvertrauten Soldaten und
Soldatinnen. Sie verdienen es, durch unser Vorbild
angeleitet zu werden. Daher erwarte ich gerade von Ihnen
als zukünftige militärische Führer, dass Sie unser
Selbstverständnis vorleben, Ihr Handeln danach ausrichten
und es die Ihnen anvertrauten Soldaten erleben lassen.
Ich konnte früh erfahren, dass der, der sich vorbildlich
verhält und seine Soldaten überzeugt, leicht Gefolgschaft
erzielt.
Vorbild zu sein heißt dabei nicht, unfehlbar zu sein. Fehler
zu machen ist menschlich. Dazu zu stehen und zugleich den
Willen zu haben, an sich zu arbeiten und sich weiterzuentwickeln, ist vorbildlich.
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Leutnantsbuch
Um Ihnen unser
und Leitsätzen zu
und dadurch mit
gebeten, einige
aufzuschreiben –
Nachahmung.
Selbstverständnis mit seinen Merkmalen
veranschaulichen, verständlich zu machen
„Leben zu füllen“, habe ich Kameraden
ihrer prägenden Erlebnisse für Sie
zum Lesen, zum Nachdenken und zur
Sie finden einige dieser authentischen Beiträge, Gedanken
und Erfahrungen aus dem alltäglichen Dienstbetrieb, aus
Ausbildung und Übung sowie dem gesamten Spektrum der
Einsätze in diesem Buch. Sie wurden von Kameraden für
Kameraden geschrieben, unabhängig von Dienstgrad,
Ausbildungsgang, Laufbahn, Alter und Geschlecht. Das
sollten Sie beim Lesen der Geschichten aus der Erlebniswelt
der „älteren“ Kameraden berücksichtigen.
Daher ist dieses Buch keineswegs nur als Ganzes zu lesen,
sondern stellt auch eine Nachschlagemöglichkeit zu
Einzelaspekten dar. Es ist keine Vorschrift und soll eine
solche keineswegs ersetzen, sondern es ist ein Lesebuch für
verschiedene Gelegenheiten und Hilfe, das eigene Leben als
Offizier besser zu bewältigen und zu gestalten.
Es will Ihnen bewusst keine Rezepte und Musterlösungen
anbieten, sondern Sie vielmehr anregen, auf dieser
Grundlage Ihre eigene Position zu reflektieren und sie mit
neuen Erkenntnissen zu verbinden.
Viele Beiträge in diesem Buch bieten gute Anregungen, um
im kameradschaftlichen Gespräch Erkenntnisse und
Meinungen auszutauschen. Erfolgreiches Führen von
Menschen verlangt von Ihnen hohes militärisches Können,
menschliche Glaub- und Vertrauenswürdigkeit, Gesprächsbereitschaft sowie Verantwortungsbewusstsein, sich selbst
und Ihren Soldaten gegenüber.
9
Leutnantsbuch
Das Buch will aber nicht nur Erkenntnisse und Erfahrungen
vermitteln, sondern auch Freude am Lesen bereiten. Es will
Ihnen in anschaulicher Weise die Aufgabenvielfalt und
Breite unseres Berufes mit seinen Herausforderungen näher
bringen.
Die Kernfrage, auf die das Buch ausgerichtet ist, lautet:
„Was kennzeichnet meinen Beruf als Offizier des Heeres,
was kann auf mich zukommen?“
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre Ihres
Leutnantsbuches. Begleiten Sie Offizieranwärter Frank und
Hauptmann Seidel in das Offizierheim und erfahren Sie
etwas über unseren Beruf. Einen Beruf, der Ihnen viel
abverlangen, aber noch mehr zurückgeben wird: zum
Beispiel Kameradschaft, das füreinander Einstehen oder die
Überzeugung, als Heeresoffizier einer guten Sache zu
dienen. All das wird Sie begleiten, Sie auch in schwierigen,
herausfordernden Zeiten tragen. Ich erlebe dies selbst seit
über vierzig Jahren und würde diesen Beruf, vor die Wahl
gestellt, immer wieder ergreifen.
Im November 2009
Budde
Generalleutnant
Inspekteur des Heeres
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Leutnantsbuch
Offizieranwärter Frank
Der Alarmposten
K
älte. Meine Füße gehören nicht mehr zu mir, sie
scheinen neben mir zu liegen wie Eiswürfel. Das
Schwarz der Stiefel ist längst dem Braun des Schlamms
gewichen, die Füße schmerzen. Die ersten Blasen hatte ich
schon vorgestern, nach dem 30-Kilometer-Marsch in der
Nacht. Ich hatte sie aufgestochen und versorgt. Die Blasen,
die ich danach bekommen habe, habe ich gar nicht mehr
wahrgenommen. Dann haben sie sich mit Blut gefüllt, sind
aufgeplatzt und tun inzwischen fast nicht mehr weh. Kälte.
Wahrscheinlich spüre ich deshalb kaum noch etwas.
Abgefroren. Hoffentlich nicht, denke ich. Durchhalten. Zum
Sani soll ich gehen – wegen der Blasen. Noch wenige
Stunden, und unsere Übung ist vorbei. Ich werde das schon
schaffen. Auch ohne Sani. Jetzt nicht aufgeben.
Ich bin Frank, Offizieranwärter in einem OA-Bataillon des
Deutschen Heeres, seit fünf Monaten Soldat und liege im
Schnee. „Minus fünf Grad“, hat der Gruppenführer gesagt.
„Zieht euch warm an“, hat er gesagt, bevor er uns als
Alarmposten eingeteilt hat. Es ist 03.45 Uhr und die Nacht
nimmt kein Ende. Durchhalten.
Was mache ich eigentlich hier? Schon wieder dieser
Gedanke! Der lässt mich heute Nacht einfach nicht los.
Noch fünfzehn Minuten, dann kommt Peter und löst mich
ab. Auf ihn ist Verlass. Er wird schon nicht zu spät kommen.
Ich werde dann zu den anderen ins Gruppennest gehen, noch
ein paar Minuten ruhen – das brauche ich. Dann der
Endspurt. Sachen packen, zurück in die Kaserne, eine heiße
Dusche, Schlaf – mindestens 24 Stunden!
11
Leutnantsbuch
Offizier werden wollte ich. Menschen führen. Technik
beherrschen. Abwechslung im Beruf haben. Maschinenbau
studieren. Und jetzt das. Kälte. Endlich kommt meine
Ablösung und reißt mich aus meinen Gedanken.
Auf dem Weg in das Gruppennest begegne ich noch
Hauptmann Meier, unserem Kompaniechef. Ich finde das
schon sehr beachtlich, dass er die ganze Übung mit uns
draußen verbracht hat. Er ist ohnehin ein feiner Kerl. Ganz
offen im Umgang mit uns, mit klaren Vorstellungen von
seinem Beruf. Besonders gefällt mir seine Art, uns
„Anfänger“ ernst zu nehmen und uns immer wieder
aufzubauen. Unser Hauptmann ist seit kurzem Berufssoldat.
Er ist Panzergrenadier und hat schon einige Verwendungen
hinter sich. Studiert hat er an der Universität der
Bundeswehr in München, Maschinenbau glaube ich. Genau
weiß ich es eigentlich gar nicht.
Bevor ich mich weiter auf den Weg in das Gruppennest
mache, erkundigt er sich noch nach meinen Füßen und
macht mir Mut, bis morgen früh durchzuhalten. Michael
geht es noch schlechter als mir; Annette hält wacker mit und
hofft wie alle anderen auf das Ende der Übung.
Ich sitze jetzt schon zwei Stunden im Bus auf dem Weg in
die Kaserne. Geschafft! Die Übung habe ich fast
überstanden, ein wenig stolz bin ich jetzt schon. Ich glaube
aber, dass mir erst in ein paar Tagen bewusst wird, was wir
alles gemeinsam in dieser Übung überstanden haben. Zuerst
einmal heißt es, Ausrüstung und Material wieder auf
Vordermann zu bringen, dann uns selbst. Mit Peter und
Marcel werde ich heute nach Dienstschluss essen gehen. Das
haben wir uns verdient – und danach bekommen wir endlich
unseren Schlaf.
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Leutnantsbuch
Vorhin habe ich mit Peter über meine Gedanken der letzten
Nacht gesprochen, als ich mich wirklich mehrfach gefragt
hatte, was ich eigentlich hier tue. Ihm ginge es manchmal
ähnlich, hat er geantwortet. Er denke oft an die Zeit vor der
Bundeswehr, an seine Freunde und an seine Familie – und
natürlich auch an seine Freundin Denise. Letztes
Wochenende habe er sich mit seinen „alten“
Schulkameraden getroffen. Ein paar von ihnen sind auch
beim Bund, aber über ganze Republik verteilt. Einige haben
schon mit dem Studium begonnen und von ihren ersten
Erfahrungen erzählt. Unglaublich, was die so erleben – auf
vielen Partys und in langen Nächten. Ganz davon abgesehen,
dass auch wir hier lange Nächte haben, kann man schon ein
bisschen neidisch werden auf die. Die kämpfen nicht mit
Blutblasen bei minus fünf Grad! Peter und ich waren uns
aber einig, dass auch das vorbeigehen wird. Spätestens beim
Chinesen heute Abend.
Trotzdem kann man den Gedanken, dass wir als Offiziere
schon etwas Anderes tun, etwas Herausfordernderes als
andere in ihren Berufen, nicht ganz wegwischen.
Wir haben auch schon häufig im Hörsaal über dieses Thema
gesprochen. Kurz vor unserer Übung hatten wir erst einen
Unterricht von Hauptmann Meier zu den Besonderheiten
von Landstreitkräften. Ich erinnere mich noch, als er davon
sprach, dass wir als Heeressoldaten im Einsatz immer
„mitten drin“ sind, dass unsere Kampfdistanz der
Blickkontakt ist und dass der Heeressoldat auf den
sogenannten „letzten 100 Metern“ fast immer auf sich allein
gestellt ist. Sicher sind das Besonderheiten, die es nicht in
vielen anderen Berufen in dieser Ausprägung gibt. Das
Gleiche gilt auch für die Führungsleistung, denke ich. Ein
militärischer Führer entscheidet am Ende über Leben und
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Leutnantsbuch
Tod. Und zwar bewusst. Das gibt es bestimmt nur in sehr
wenigen anderen Berufen.
Gerade fahren wir durch das Kasernentor. Die Scheiben im
Bus sind immer noch beschlagen, die Luft zum Schneiden
dick. Kein Wunder, wenn 35 Soldaten mit Gepäck nach
sechs Tagen Geländeleben „ausdünsten“. Draußen steht
unser Kompaniechef Hauptmann Meier und nimmt uns in
Empfang. Unser „Spieß“ hatte mal wieder eine gute Idee
und für heißen Tee gesorgt. Das tut gut.
Während wir noch Tee trinken, unterhalten wir uns in einer
kleinen Gruppe über das, was hinter uns liegt. Alle sind
ausgelaugt und stolz zugleich. Die Übung war schon ein
Höhepunkt in unserer bisherigen Ausbildung. Wir kennen
jetzt unsere Leistungsgrenzen und wissen, worauf es
ankommt, wenn man durchhalten will.
Die Unterhaltung löst sich langsam auf, Ausrüstung und
Material müssen jetzt abgeladen werden und wir müssen uns
zusammen darum kümmern, dass wieder alles dort
hinkommt, wo es hingehört.
Nach dem Waffenreinigen stellt sich Hauptmann Meier zu
uns. Zuerst wird es ein wenig ruhiger. Das legt sich aber
schnell wieder, und wir unterhalten uns weiter über unsere
Erlebnisse. Er erzählt auch von sich und seiner Ausbildung,
von seinen Erfahrungen und Vorstellungen. Wir hören
gespannt zu und stellen schnell fest – viel verändert hat sich
nicht. Ich habe den Eindruck, dass unser Hauptmann ein
Mann ist, der genau weiß, was er will und was der
Offizierberuf von ihm erwartet.
Inzwischen sind ein paar Wochen vergangen und ich bin in
einem Panzergrenadierbataillon gelandet. Hier mache ich
mein Truppenkommando. Ich lerne etwas über die
Truppengattung und sammle erste Erfahrungen als
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Leutnantsbuch
Hilfsausbilder. Annette und Peter sind auch dabei, dazu noch
Markus, Jonas, Marcel, Michael und Cindy.
Seit meiner Zeit im OA-Bataillon habe ich immer wieder an
meine Erlebnisse gedacht. Aber ich frage mich immer noch:
Was tue ich hier eigentlich? Zugegeben, mein Bild über
meinen Beruf hat sich schon etwas gefestigt, ganz klar ist es
mir aber immer noch nicht. Jeden Tag kommen neue
Eindrücke dazu.
Der Bataillonskommandeur hat uns schon am ersten Tag zu
sich geholt. Er hat offen mit uns gesprochen und gesagt, was
auf uns zukommt. Am Ende hat er uns Hauptmann Seidel
vorgestellt. Er ist Kompaniechef der 3. Kompanie und wird
uns für die Dauer des Truppenkommandos führen. Er wurde
uns als Fähnrichoffizier zugeteilt. Macht einen strengen
Eindruck, der Hauptmann.
Standortschießanlage.
G 36 Schießen. Allgemeine Grundausbildung. Ich bin heute
als Hilfsausbilder in der Parallelausbildung eingesetzt und
unterstütze Hauptfeldwebel Schmieder.
In der Pause vorhin habe ich einen Entschluss gefasst. Ich
werde Hauptmann Seidel ansprechen, ob er mir mehr von
seinem Berufsverständnis erzählen kann. Es interessiert
mich einfach. Vielleicht finde ich Antworten auf meine
Frage, die ich mir während der Übung so oft gestellt habe.
Ich glaube, Hauptmann Seidel kann man auch danach
fragen.
Also nehme ich meinen Mut zusammen und melde mich bei
unserem Fähnrichoffizier. Ich frage ihn, ob er bereit wäre,
mir einmal mehr über sein Verständnis vom Offizierberuf zu
erzählen. Ich erkläre ihm, was mich derzeit beschäftigt.
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Leutnantsbuch
Geduldig hört er mir zu, lächelt. Dann überlegt er kurz und
schlägt vor, dass wir, die jungen Offizieranwärter, doch
einmal im Kasino mit ihm darüber sprechen könnten. Ja, er
würde uns gerne erzählen, wie er so denke und welches
berufliches Selbstverständnis er entwickelt habe. Ich freue
mich darüber und sage den anderen Bescheid.
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Leutnantsbuch
Offizieranwärter Frank
Die Landstreitkräfte und der Heeresoffizier: Was kommt
auf mich zu?
D
ienstagabend, Offizierkasino.
Wir sind Hauptmann Seidels Einladung gefolgt und
noch ein wenig unsicher, ob wir eintreten sollen oder nicht.
Was, wenn Hauptmann Seidel schon auf uns wartet? Markus
ergreift als erster die Initiative und schlägt vor: „Lasst uns
einfach hineingehen – nur dann wissen wir, ob Hauptmann
Seidel schon da ist oder nicht!“ Also betreten wir das Kasino
und gehen zunächst zielstrebig auf den Barraum zu. Wir
grüßen beim Eintreten mit einem Kopfnicken in die Runde
und sehen Hauptmann Seidel am Tresen stehen, mit einer
Ordonanz in ein Gespräch vertieft.
„Ah, da sind Sie ja!“, sagt Hauptmann Seidel und winkt uns
zu sich. „Ich habe gerade abgesprochen, dass wir uns in das
Kaminzimmer zurückziehen können. Da haben wir etwas
mehr Ruhe.“
Hauptmann Seidel begrüßt uns nacheinander und wir gehen
gemeinsam in das Kaminzimmer um die Ecke. Es ist ein
schön eingerichteter Raum mit vielen alten Büchern, aber
ohne eine abgeschlossene Tür. Es gibt nur einen großen
Durchgang in den Barraum, sodass man immer sieht, „was
sonst noch so los ist“.
Nachdem wir alle etwas zu trinken bestellt haben, beginnt
Hauptmann Seidel mit einer Frage: „Was ist für Sie
eigentlich das Besondere am Heer?“ Wir schauen uns etwas
überrascht an, schließlich kennen wir die Unterschiede der
Teilstreitkräfte und der anderen Organisationsbereiche! Aber
er lässt nicht locker.
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Leutnantsbuch
Cindy bringt unsere Meinung auf den Punkt: „Es ist die
besondere Herausforderung, die Heeressoldaten auf den
sogenannten letzten einhundert Metern bewältigen müssen.“
Sie erklärt diese besondere Situation so, wie wir sie auch
schon im OA-Bataillon einmal besprochen hatten. Wir alle
stimmen zu.
„Ganz richtig“, sagt Hauptmann Seidel. „Allerdings glaube
ich, dass die Sache noch ein bisschen komplexer ist. Ich
versuche Ihnen das einmal mit meinen Worten zu erklären.“
Und dann erzählt er uns, dass das Heer ein sehr
differenziertes „Unternehmen“ ist. Neben der Führung der
Divisionen des Heeres geht es darum, einsatzbereite und
motivierte Soldaten für alle Einsatzoptionen verfügbar zu
haben. Das ist ein Kernelement im „Unternehmen Heer“.
Hier geht es um das Vorbereiten von Menschen auf
gefährliche, ja zum Teil lebensgefährliche Aufgaben in
ungewohnten, instabilen Regionen unserer Erde.
„Natürlich gilt das für alle Soldaten der Bundeswehr.
Eigentlich ist der wesentliche Punkt, dass wir Heeressoldaten bodengebunden unseren Auftrag erfüllen. Wir sind
es, die in Landoperationen die „boots on the ground“ stellen.
Damit ermöglichen wir letztlich erst, dass militärische
Operationen langfristig erfolgreich sein können“, sagt
Hauptmann Seidel.
Er gibt uns zwar recht, dass damit verbunden die letzten 100
Meter, der Blickkontakt etwas Besonderes sind, weil wir am
Ende auf uns allein gestellt sind, betont aber, dass auch
andere Kräfte in dieser Situation stehen können. Das kann
man
besonders
gut
an
den
laufenden
Stabilisierungsoperationen auf dem Balkan und in
Afghanistan sehen. Das sind Landoperationen.
18
Leutnantsbuch
„Das Heer hat ja nun eine lange Tradition. Mit
Landoperationen hat es die meiste Erfahrung – hier ist das
Heer der Spezialist“, ergänzt er, „und wird unterstützt durch
die Streitkräftebasis und den Zentralen Sanitätsdienst. In
beiden Organisationsbereichen werden viele Soldaten des
Heeres verwendet. Die Laufbahn eines Heeresoffiziers wird
immer wieder geprägt sein durch einen Wechsel zwischen
diesen Bereichen.“
Dann erläutert er weiter: „In Landoperationen fehlen meist
sichere Planungsgrundlagen, das Umfeld ist komplex und
dynamisch, die Lagen wechseln häufig und plötzlich. Das
erfordert eine vertrauensvolle Führung, um den Führern
Handlungsspielraum und die Möglichkeit zur kreativen
Entfaltung zu geben. Führer aller Ebenen müssen daher
so ausgebildet und vorbereitet sein, dass sie auch in
Situationen, in denen sie auf sich gestellt sind, handlungsfähig bleiben und im Sinne des Ganzen Entscheidungen treffen können. Das setzt das Wissen um die
übergeordnete Absicht voraus und die Freiheit, den Weg zur
Zielerreichung im vorgegebenen Rahmen selbst zu
bestimmen.“
Hauptmann Seidel erklärt uns das an einem Beispiel: Als er
im Einsatz bei ISAF war, musste er eine Patrouille zu Fuß in
einem sehr belebten Viertel von Kabul führen. Nicht nur,
dass er für seine Soldaten und die Erfüllung des Auftrages
verantwortlich war, nein – auch der unmittelbare Kontakt
zur Bevölkerung hat ihm damals „zu schaffen gemacht“. Da
wurde man in der Menge geschoben, Kinder haben ihn
angefasst, ältere Menschen angesprochen. Manchmal konnte
auch der Übersetzer, der immer in seiner Nähe war, nicht
weiterhelfen – einfach weil oft Informationen im
Stimmengewirr untergingen. Da war er allein, er war auf
19
Leutnantsbuch
sich gestellt. In diesem Moment, so erklärt er uns, wurde
ihm klar, wie wichtig es ist, den Auftrag zu kennen und die
nötige Handlungsfreiheit zu haben, ihn auch umzusetzen und
entsprechende Entscheidungen zu treffen. Hierzu gehören
auch die Verfügbarkeit von Material und eine entsprechend
fundierte Ausbildung.
„Das haben Sie sicher schon gehört“, erklärt er weiter, „dass
das Führen mit Auftrag oberstes Führungsprinzip deutscher
Streitkräfte ist. Es folgt nicht nur den Erfordernissen des
Gefechtes, sondern betont eine Führungsphilosophie, die den
ethisch bewussten, mitdenkenden und eigenverantwortlich
handelnden Soldaten in den Mittelpunkt stellt. Nur so ist die
Qualität, die Flexibilität und die Schnelligkeit in Operationen gewahrt“, sagt Hauptmann Seidel.
„Das hört sich jetzt zwar etwas aufgesetzt an, aber denken
Sie einmal darüber nach! Ich hatte in der Situation in Kabul
die Verantwortung für meine Patrouille. Meine Soldaten
haben mir vertraut und ich habe meinen Soldaten vertraut.
Führen mit Auftrag beruht auf gegenseitigem Vertrauen.
Führen mit Auftrag fordert Vorgesetzte und Untergebene.
Führen mit Auftrag verlangt von jedem Soldaten den Willen,
Ziele zu erreichen, die Bereitschaft zur Initiative, zur
Zusammenarbeit und zu selbstständigem Handeln im
Rahmen des Auftrags.“
Es entsteht eine Pause. Wir denken nach.
„Aber ich wollte ja nicht über Führen und über
Führungsphilosophie reden. Vielleicht kommen wir später
hierauf noch einmal zurück. Ich wollte Ihnen ja mein
Verständnis vom Besonderen des Heeres erklären“, sagt
Hauptmann Seidel und fährt fort:
20
Leutnantsbuch
Heeressoldaten werden für die Durchführung von
Landoperationen ausgebildet. Diese verlangen eine
besondere Expertise, weil sie in ihrem Wesen sehr
spezifische Anforderungen an Soldaten stellen, die sich im
wesentlichen durch ein unklares, schnell wechselndes
Lagebild, die zeitliche und örtliche Gleichzeitigkeit von
Kampf, Stabilisierung und humanitärer Hilfe und manchmal
auch das Fehlen klarer Abgrenzungen von Gegner und
eigener Truppe kennzeichnen lassen. Hinzu kommt für jeden
Soldaten des Heeres die erlebbare und unmittelbare
Konfrontation mit der Geographie und ihren Menschen, sei
es im Kampfeinsatz mit dem zu bekämpfenden Gegner oder
im Friedenseinsatz mit der Bevölkerung, deren Vertrauen es
zu gewinnen gilt.
„Erinnern Sie sich an die Bilder im Kosovo, als unsere
Soldaten mit den Panzern mittendrin waren in der
Demonstration – oder an die Bilder aus Afghanistan, als
die Patrouille zu Fuß auf dem Marktplatz Kunduz Gesprächsaufklärung durchführte“, sagt Hauptmann Seidel.
„Und genau deswegen“, ergänzt Hauptmann Seidel, „wenn
wir als Heeressoldaten „im Feuer“ stehen, erleben wir die
Auswirkungen unseres Handelns unmittelbar. Wir müssen
auch Unwägbarkeiten mitberücksichtigen. Diese haben oft
maßgeblichen Einfluss auf den Verlauf der Operation. Dem
eigenen Willen begegnet der unabhängige Wille von
Gegnern, zivilen Akteuren wie internationalen, staatlichen
und nichtstaatlichen Organisationen, der örtlichen Bevölkerung, Flüchtlingen und anderen Kräften.“
Wieder eine Pause. Schwere Kost. Markus, Peter und
Annette tauschen fragende Blicke aus. Aber ich glaube, dass
wir alle verstanden haben, worum es Hauptmann Seidel
geht.
21
Leutnantsbuch
Offizieranwärter Frank
Der Bierdeckel
G
ut“, sage ich. „Wie geht es aber jetzt weiter? Meine
„
eigentliche Frage war doch, was das Besondere am
Offizierberuf ist. Schließlich werden wir ja zu militärischen
Führern ausgebildet, und das bedeutet doch eine Menge
mehr, als zu wissen, was das Besondere an Landstreitkräften
ist.“
„Es muss doch greifbare, verständliche Eigenschaften von
Offizieren geben, die das Besondere dieses Berufes
ausmachen“, ergänzt Cindy und schaut ein wenig
hilfesuchend zu Frank und Jonas hinüber, die zustimmend
nicken.
Das war das Startzeichen. Hauptmann Seidel schaut in die
Runde. Ich glaube, am liebsten hätte er die Ärmel
hochgekrempelt und uns einen Vortrag zum Thema
gehalten. Stattdessen steht er wortlos auf, holt sich aus dem
Barraum ein paar Bierdeckel und setzt sich wieder zu uns.
„Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie werden zu
militärischen Führern ausgebildet – das vergisst man
manchmal im täglichen Betrieb, zwischen Märschen,
Lehrgängen und Vorbereitung auf das Studium. Ich habe mir
selbst erst ein Bild von dieser Besonderheit unseres Berufes
gemacht als ich Zugführer war.
Aber denken Sie daran: Ausbildungsgänge verändern sich.
Sie werden ständig den neuen Gegebenheiten und
Anforderungen an den Soldaten, an den Offizier, angepasst.
Mein Ausbildungsgang unterscheidet sich deutlich von
22
Leutnantsbuch
Ihrem. Dies gilt allerdings nicht für die Werte, Tugenden
und Prinzipien, die Grundlage und Leitgedanke unseres
Berufes sind. Diese haben damals wie heute unverändert ihre
Gültigkeit behalten.
Hauptmann Seidel rückt Bierdeckel und Stift zurecht und
fährt fort: „Wenn man führen will, dann muss man ein klares
und einfaches Konzept von Führung im Kopf haben, an dem
man sich zu Beginn seiner Führungsaufgabe orientieren
kann. Ich habe mir so ein Bild – wie gesagt – erst recht spät
gemacht. Das war übrigens mit ein Grund dafür, dass ich
mich gefreut habe, als Sie mich neulich auf der
Standortschießanlage angesprochen haben. Ich will Ihnen
einmal meine Idee, meine Vorstellungen erklären. Sie
werden sehen: Zu meinen Ideen gibt es bestimmt hunderte
von Beispielen aus dem täglichen Leben in unserem Beruf.“
Plötzlich kommt aus der Kaminecke ein wohl etwas zu laut
geratener Kommentar: „Das, was Hauptmann Seidel zu
sagen hat, unterschreibe ich sofort …!!“
Ruckartig gehen die Köpfe in Richtung Kamin. Dort sitzt ein
Major, der uns wohl zugehört hat. „Kommen Sie doch zu
uns“, sagt Hauptmann Seidel und winkt den Major heran. Er
stellt ihn als Major Setzinger vor, der zum Nachbarbataillon
gehört. Major Setzinger sagt: „Entschuldigen Sie meinen
Zwischenruf, aber ich habe mit Hauptmann Seidel schon
öfter hier gesessen und mit ihm über sein Berufsbild
diskutiert. Mit seinen Vorstellungen steht er nicht allein!“
„Also“, fährt Hauptmann Seidel fort, „was bedeutet Führen
eigentlich für mich? Welche Erwartungen stelle ich damit an
einen jungen Offizier? Vielleicht finde ich ein paar
Hilfestellungen, die Sie zum Nachdenken anregen.“
23
Leutnantsbuch
„Ich sehe drei Kernbereiche“, sagt Hauptmann Seidel und
beginnt mit dem Bleistift schwungvoll eine Skizze auf einem
leeren Bierdeckel. „Die ersten beiden Bereiche nenne ich
Selbstbestimmtheit und Erfolgsfaktoren. Keine Angst, ich
erkläre noch, was ich damit meine.
Der dritte Bereich, nämlich die Kunst, Menschen unter
wechselnden Bedingungen erfolgreich führen zu können,
baut auf den beiden ersten Bereichen auf. Diese bilden die
Grundlage. Führen bedeutet dabei für mich, dass ich sowohl
den Menschen als auch den Auftrag in den Mittelpunkt
meines Denkens und Handelns stelle. Man könnte auch von
einem werte- und auftragsorientierten Führen sprechen.“
Major Setzinger hat es sich inzwischen bequem gemacht.
Wir sind alle gespannt, wie das jetzt weitergeht mit dem
Seidelschen Konzept, mit seinem „Operationsplan“.
„Selbstbestimmtheit und Erfolgsfaktoren sind wichtig, wenn
ich mich einer Führungsaufgabe widme. Ich muss doch mein
24
Leutnantsbuch
eigenes Potenzial und die zentralen Faktoren des Erfolges im
Offizierberuf kennen, muss wissen, was und wie ich es am
erfolgreichsten tun kann. Wenn ich nicht weiß, wie ich mein
Potenzial einsetzen soll, bleibe ich mit Sicherheit erfolglos.
Es sind wenige grundlegende Regeln, die aber wichtig sind“,
sagt Hauptmann Seidel und fährt fort: „Die Kunst,
Menschen zu führen – ich nenne das einmal generell
Führungskunst – kann ich Ihnen mit drei einfachen
Handlungslinien, sozusagen Anweisungen, erklären. An
diesen drei Linien kann man sich, da bin ich überzeugt, gut
orientieren.“
Zustimmendes Nicken von Major Setzinger. Schwungvolle
Ergänzungen mit Bleistift folgen von Hauptmann Seidel auf
einem weiteren Bierdeckel.
25
Leutnantsbuch
So richtig kann ich allerdings noch nicht erkennen, was die
Skizze am Ende darstellen soll. Einen Plan für den Angriff
oder die Interpretation eines modernen Kunstwerks?
Hauptmann Seidel fährt fort: „Die drei Linien sind: „Führe
und gestalte!“, „Entscheide und verantworte!“ und „Sei
beispielhaft!“ Alle drei Linien stehen gleichwertig
nebeneinander – also nageln Sie mich bitte nicht auf eine
Reihenfolge fest. Ich habe lange überlegt, wie ich diese drei
Linien so erkläre, dass man auch etwas damit anfangen
kann. Am einfachsten ist es, wenn man zu jeder Linie ein
paar Fragen stellt. Das habe ich auch getan. Übrigens hat
Major Setzinger mir dabei ein paar gute Anregungen
gegeben.“
Jetzt schaltet sich Annette ein: „Herr Hauptmann, sind die
Begriffe Selbstbestimmtheit und Erfolgsfaktoren nicht ein
bisschen – na ja – sperrig? Ich meine, auf den ersten Blick
kann ich damit nur schwer etwas anfangen. Mit dem Begriff
Führungskunst, also der Kunst Menschen zu führen, geht es
mir da schon besser. Das ist uns allen hier geläufiger – oder
etwa nicht?“ Zustimmung von allen Seiten.
„Ja, ja“ antwortet Hauptmann Seidel, „ich verstehe, was Sie
meinen. Aber ich glaube, Sie werden sehen, wie die drei
Bereiche zusammenhängen – das erklärt einiges.“
„Wo war ich stehen geblieben?“, fragt Hauptmann Seidel,
spricht aber gleich weiter: „Genau! Die drei Handlungslinien
der Führungskunst! Also, in der Linie „Führe und gestalte!“
kann ich mir zum Beispiel folgende Fragen vorstellen:
- Kenne ich die Menschen, erkenne ich ihre Motivation
und ihre Ziele, nehme ich die Menschen an, so wie
sind?
26
Leutnantsbuch
- Frage ich aus wirklichem Interesse am Menschen, höre
ich ihnen zu, rede ich mit den Menschen, nehme ich mir
ausreichend Zeit, entwickle und fördere ich eine offene
Gesprächsatmosphäre?
- Führe und gestalte ich wirklich aktiv, habe ich einen
„Operationsplan“ entwickelt, beteilige ich andere, habe
ich die Fähigkeit und die notwendige Handlungsfreiheit, meine Ziele umzusetzen?
- Stimmt das Zusammenspiel und die Balance von dem,
was ich erreichen will, was andere erreichen wollen,
mit dem gemeinsamen Ziel überein, stimmt die
Richtung, wo muss nachgesteuert werden?
- Ermögliche ich Mitwissen, Mitentscheiden, Mitverantworten – zumindest immer dann, wenn dies möglich
ist?
- Fördere ich den Zusammenhalt und das Dazugehörigkeitsgefühl meiner Soldaten, besteht eine innere
Struktur in der Gruppe, im Zug, in der Kompanie,
welche verbindenden „Rituale“ und Symbole gibt
es?
- Gehe ich verantwortbare Risiken ein, wie treffe ich
meine Entscheidungen?
Hauptmann Seidel holt tief Luft. Die braucht er auch nach so
vielen Fragen! Diesen Moment nutzt Major Setzinger. Er
ergänzt: „Ich stelle mir auch immer die Frage, wie ich
Führung praktiziere, ob ich loyal bin, ob ich Fürsorge nach
unten und oben ausübe, ob ich konstruktiv mitwirke,
zielgerichtet informiere und ob ich meine Verantwortung
auch deutlich mache.“
Hauptmann Seidel ergänzt seine Skizze und macht ein paar
Notizen. Dazu sagt er: „Wenn ich diese Fragen zu27
Leutnantsbuch
sammenführe, dann komme ich auf fünf knappe Aufforderungen:
- Höre zu!
- Kommuniziere!
- Bringe zusammen!
- Setze Ziele!
- Schaffe Ordnung!
Das ist doch einfach, oder? Sie sollten sich ruhig die Fragen
einmal durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht haben Sie
auch noch Ergänzungen oder Anregungen für mich. Nehme
ich gerne auf!“
Nachdem wir uns noch etwas zu trinken bestellt haben, sagt
Hauptmann Seidel: „Ich weiß natürlich, dass mein Gedankengebäude, das ich Ihnen hier aufmale, ziemlich
komplex ist. Merken können Sie sich ohnehin nicht alles,
aber darum geht es auch nicht. Sie sollen einfach einmal ein
Gefühl dafür bekommen, wie ich so an die Sache herangehe.
Ihnen werden sicherlich im Laufe der Dienstzeit noch
weitere Fragen einfallen, die Sie noch ergänzen können.
Lassen Sie mich noch kurz die anderen beiden Linien
skizzieren: In der Linie „Entscheide und verantworte!“ stelle
ich mir folgende Fragen:
- Gebe ich Antworten und kann ich den Sinn von
Maßnahmen und Entscheidungen erklären, was ist
sinnstiftend?
- Unterscheide ich zwischen den unterschiedlichen
Persönlichkeiten und der Art der Durchsetzung meiner
Befehle?
- Halte ich Maß, verliere ich das Wesentliche nicht aus
den Augen, konzentriere ich mich bzw. meine Kräfte?
- Erhalte ich mir meine Entscheidungsfreiheit durch
Klarheit und Einfachheit?
28
Leutnantsbuch
- Übernehme ich immer die volle Verantwortung für
getroffene Maßnahmen und Entscheidungen?
- Bewahre ich meine Soldaten vor Schäden und
Nachteilen?“
Wieder ergänzt Hauptmann Seidel seine Skizze und gibt uns
schlagwortartig eine verkürzte Version dieser Fragen. Er
sagt: „Entscheiden und verantworten“ ist für mich
besonderes wichtig. Wir als Offiziere müssen uns diesen
Herausforderungen zu jeder Zeit stellen. Ich verkürze die
wesentlichen Aussagen auf weitere fünf Forderungen:
- Entscheide!
- Unterscheide!
- Übernimm Verantwortung!
- Gib Antworten!
- Halte Maß!“
29
Leutnantsbuch
„Und letztlich ist es wichtig, dass wir beispielhaft sind“,
mischt sich Major Setzinger ein. „Genau“, gibt Hauptmann
Seidel zurück. „Können Sie sich vorstellen, was damit
gemeint ist?“, fragt er in die Runde.
Peter sagt: „Ich muss mir die Frage stellen, ob ich mich
selbst beispielhaft verhalte, ob ich ein Vorbild bin“, und
Annette ergänzt: „Letztlich muss ich mich fragen, ob ich das
vorlebe, was ich von meinen Soldaten verlange!“
„Völlig richtig“, sagt Hauptmann Seidel. Wir in der Runde
fangen langsam an, uns „warm zu laufen“. Hauptmann
Seidel hat uns richtig neugierig gemacht, und dass Major
Setzinger noch dabei sitzt, zeigt auch, dass die Ideen kein
Hirngespinst eines Hauptmanns sind.
Hauptmann Seidel fährt fort: „Ich stelle mir zusätzlich noch
folgende Fragen:
- Bin ich Vorbild auch in der Erfüllung meiner Pflichten?
- Lebe ich die Werte und Tugenden vor?
- Gebe ich Orientierung und persönlichen Halt?
- Stimme ich mit mir selbst überein?“
„So“, sagt Hauptmann Seidel, „bevor wir uns mal kurz die
Beine vertreten, will ich Ihnen auch für die Linie „Sei
beispielhaft!“ meine Empfehlungen mitgeben:
- Sei stimmig!
- Gib Orientierung!
- Sei Vorbild!“
„Also ich für meinen Teil brauche jetzt einmal fünf Minuten,
um frische Luft zu schnappen. Kommt jemand mit raus in
den Garten?“, fragt Hauptmann Seidel. Die Runde erhebt
sich, wir gönnen uns zehn Minuten Pause. Um neun Uhr soll
30
Leutnantsbuch
es weitergehen, dann will Hauptmann Seidel uns ein paar
Erlebnisse erzählen, die uns zurück in die Praxis holen
sollen. Major Setzinger hat noch hinzugefügt, dass er auch
die eine oder andere Geschichte aus seiner Chefzeit
beitragen kann.
Beim Aufstehen schaue ich noch einmal auf die Seidelsche
Skizze. Doch kein abstraktes Kunstwerk!
Also auf geht’s: Pause.
Nach der Pause kommen wir alle wieder zusammen und
stellen uns im Barraum zusammen. Hauptmann Seidel steht
schon dort mit zwei anderen Offizieren und unterhält sich
angeregt. Als wir Offizieranwärter hinzukommen, sagt er:
„Darf ich Ihnen zwei Kameraden vorstellen. Major
Waldmann und Hauptmann Ulrich. Wir sind damals
31
Leutnantsbuch
zusammen in die Bundeswehr eingetreten. Ich habe beiden
eben erzählt, warum wir uns heute Abend hier getroffen
haben. Major Waldmann ist Kompaniechef. Ich habe ihm
die Bierdeckel gezeigt und ihn gefragt, ob er Ihnen nicht ein
paar Geschichten erzählen kann, die zu den einzelnen
Themen passen.“
„Ja“, antwortet Major Waldmann, „ich habe gerade in
meiner jetzigen Verwendung oft festgestellt, dass Ordnung
das halbe Leben ist. Wenn man sich als Chef nicht optimal
organisiert, dann kann einem alles schon mal über den Kopf
wachsen. Ich hatte einen Kompanieoffizier, der war so ein
Fall. Im Grunde eine ehrliche Haut und richtig fleißig. Ich
erinnere mich noch gut an ihn.“
Hauptmann Ulrich mischt sich in die Unterhaltung ein und
sagt: „Ich kenne auch einige gute Beispiele aus meiner
Zugführerzeit. Wenn’s jemanden interessiert …?“
Cindy und Jonas ermuntern beide, uns ihre Erfahrungen
mitzuteilen. „Ich für meinen Teil“, sagt Jonas, „lerne gerne
aus den Erfahrungen anderer. Schließlich muss man nicht
gleich alle Fehler wiederholen, die andere schon einmal
gemacht haben.“
„Herr Major, wie wäre es, wenn Sie uns Ihre Geschichte von
Ihrem Kompanieoffizier erzählen?“, fragt Hauptmann
Seidel. Major Waldmann nickt und bestellt sich noch eine
Fassbrause.
„Also, es war im letzten Jahr. Da ging es in meiner
Kompanie ganz schön zur Sache – unsere Auftragsbücher
waren voll.“
Er beginnt zu erzählen …
32
Leutnantsbuch
Das Zeitspiel
D
a saß er. Mein Kompanieoffizier. Um 07.05 Uhr. Heute
war Gefechtsdienst angesetzt. Er aber hatte Ringe unter
den Augen. Übermüdet. Unkonzentriert. Nicht, weil wir
gerade von einer Übung wiedergekommen waren. Nicht,
weil er einen Dienst als Offizier vom Wachdienst hinter sich
hatte. Nein. Einfacher Grundbetrieb. Was war los? Diese
Frage stellte ich ihm.
Er antwortete: „Wir – die Soldaten, die ich vom
Fernmeldezug zugeteilt bekam für die Vorbereitung der
Kommandeurtagung, und ich – waren gestern noch bis um
halb eins im Offizierkasino und haben die Aufträge
umgesetzt, die der G 3 letzte Woche erteilt hat. Sieht jetzt
super aus! Und den Gefechtsdienst musste ich auch noch
vorbereiten – meinen gedachten Verlauf und so. Da war es
mal wieder drei Uhr. Ich bin ganz schön ausgepumpt. Chef,
kann nicht der Leutnant mit seinem Fernmeldezug das
Biwak übernächste Woche vorbereiten? Ich schaff´ es nicht
mehr! Ich weiß noch nicht ´mal, wie ich heute den
Gefechtsdiensttag überleben soll.“
Offene Worte. Eine Selbstoffenbarung.
Die Überlastung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Hatte
ich ihn zu sehr `ran genommen? Er hatte in diesem Monat
das „Rules of Engagement (ROE)“-Schießen im Rahmen der
EAKK-Ausbildung durchzuführen, die Vorbereitung des
Tagungssaals im Offizierheim für die Kommandeurtagung
als Projektoffizier zu überwachen und zu steuern und für den
nächsten Monat das Biwak vorzubereiten.
„Vielleicht hast Du das!“, sagte ich mir. Ein schlechtes
Gewissen machte sich bei mir breit. Der Gedanke ließ mich
nicht mehr los und so ließ ich den Leutnant und
Fernmeldezugführer – hier in der Kompanie der Mann für
33
Leutnantsbuch
alle Fälle – kommen, und beauftragte ihn, den Kompanieoffizier bei der Vorbereitung des Biwaks zu unterstützen.
Er, der lebens- und diensterfahrene Offizier des militärfachlichen Dienstes lächelte – eigentlich wie immer – und
sagte: „ Klar, wir machen das schon! Aber eine Frage stelle
ich mir bei unserem jungen Kompanieoffizier immer wieder:
Hat er eigentlich schon etwas von Zeitmanagement gehört?
Das Biwak müsste doch längst in trockenen Tüchern sein.
Der Befehl dazu ist doch schon drei Monate alt!“
Er hatte Recht.
Der Befehl zur Vorbereitung des ROE-Schießens lag
meinem Kompanieoffizier seit drei Monaten vor, die
Kommandeurtagung war ihm seit einem halben Jahr bekannt
und das Biwak sowie seine Aufgabe als Projektoffizier, für
die er sich mit Begeisterung angeboten hatte, um zu zeigen,
was er alles drauf hat, war ihm bewusst seit Herausgabe des
Jahresausbildungsbefehls.
Zeitmanagement. Offensichtlich nicht jedermanns Sache.
Aber ein Grundbaustein für den Offizierberuf.
Zeitmanagement lässt sich erlernen. Auch ich erinnere mich
an meine Schul- und die erste Uni-Zeit, als wir immer „kurz
vorm Dicken“ anfingen zu lernen, den Stoff ins Kurzzeitgedächtnis hämmerten und diesen nach der Klausur
einfach löschten.
Aber schon während der weiteren Semester merkte ich, dass
ich mich besser organisieren musste, um die Scheine alle
rechtzeitig zu haben, mich zeitgerecht auf Prüfungen
vorzubereiten und schließlich auch die Diplomarbeit
rechtzeitig erfolgreich zu beenden.
34
Leutnantsbuch
Also nahm ich mir die Zeit, um einmal mit meinem
Kompanieoffizier über diese Dinge zu sprechen. Bei einer
Tasse Kaffee in meinem Büro sprach ich ihn darauf an:
„Organisieren. Was heißt das? Und was ist das,
Zeitmanagement?
Sicherlich gibt es unterschiedliche Definitionen und
Auffassungen. Für mich kann ich aber folgendes feststellen:
Ebenso wie in der Truppenführung ist eine saubere
Auswertung des Auftrags der Schlüssel zum Erfolg. Das
Erfassen der Absicht dessen, der einen Auftrag erteilt hat,
das Erkennen der wesentlichen eigenen Leistung und
natürlich die Berücksichtigung etwaiger Auflagen – das ist
nun mal das A und O, im Grundbetrieb nicht anders als im
Einsatz.
Und jetzt kommt das Zeitmanagement ins Spiel. Es hat zum
Ziel, erhaltene Aufträge so über der Zeitachse zu
strukturieren, dass eine zeitgerechte Auftragserfüllung
überhaupt erst möglich wird.
Wenn Sie erkennen, was zur Erfüllung der wesentlichen
Leistung alles nötig ist, dann müssen Sie die notwendigen
Tätigkeiten aufschlüsseln und auf einem Zeitstrahl fixieren.
Der Endpunkt des Zeitstrahls beschreibt dabei einen
Zeitpunkt vor dem eigentlichen Termin, um vorneweg einen
Zeitpuffer zu haben. Dann zerlegen Sie die notwendigen
Tätigkeiten in einzelne Arbeitsschritte und ordnen jedem
Schritt ein Zeitpensum zu.
Diese Zeiten können Sie berechnen (z.B. Anmarsch mit Kfz)
oder Sie legen Ihre oder die Erfahrungswerte von
Kameraden zugrunde. Planen Sie dabei Schritt für Schritt
und setzen Sie die Tätigkeiten an den Anfang, die entweder
mit dem meisten Aufwand verbunden sind oder von denen
man weiß, dass sie von anderer Seite oder von anderen
35
Leutnantsbuch
mitbearbeitet werden müssen (z.B. Übungsanmeldung).
Wenn Sie jeden Schritt in logischer Abhängigkeit
zueinander auf dem Zeitstrahl fixiert haben, haben Sie schon
einen wesentlichen Schritt getan.
Aber: Zeitmanagement verlangt von Ihnen Disziplin.
Schieben Sie die Punkte nicht nach hinten. Organisieren Sie
die Einzeltätigkeiten so, dass sie gleichmäßig auf der
Zeitachse zu tun haben. Sind Ihnen Kameraden zur Seite
gestellt oder Soldaten unterstellt, delegieren Sie nach
folgendem 5 – W – Schema:
-
Wer macht
Was?
Wann?
Wie? und
Warum?
Machen Sie nicht alles selbst. Um die Übersicht nicht zu
verlieren, ist es ratsamer, lieber weniger selbst zu erledigen,
aber dafür die Fäden in der Hand und den Überblick zu
behalten, denn Sie tragen die Verantwortung. Es ist und
bleibt gleichwohl Ihr Auftrag!
Die Arbeit, die ich Ihnen hier in groben Zügen dargestellt
habe, werden Sie in großen Stäben bei Projekten
wiederfinden: Den Plan für die Stabsarbeit.
Sie mögen sich vielleicht fragen: „Wie soll ich mir denn
Freiheit schaffen? Beim Bund ist mir doch alles vorgegeben!“
Grundsätzlich haben Sie mit dieser Aussage recht,
wenngleich ich mit gewissen weiteren Prinzipien auch die
mir erteilten Vorgaben dazu nutzen kann, mir Freiraum zu
schaffen.
36
Leutnantsbuch
Denken Sie daran: Als Offizier werden Sie stets vor die
Herausforderung gestellt, zu planen und zu organisieren. Sie
werden mit anderen zusammenarbeiten und auch delegieren.
Arbeiten Sie an sich. Vielleicht befolgen Sie aber noch die
weiteren Vorschläge und Tipps, die Sie für sich umsetzen
können.
1. Schaffen Sie Schwerpunkte – Das Eisenhower-Prinzip
Als Offizier werden Sie zunehmend mit administrativen
Dingen zu tun haben. General Eisenhower – der spätere USPräsident – ging dabei folgendermaßen vor: Er sichtete und
sortierte die Unterlagen/Aufträge wie folgt:
a. Wichtig und dringlich
b. Wichtig und nicht dringlich
c. Nicht wichtig, aber dringlich
d. Nicht wichtig und nicht dringlich.
Die wichtigen und dringlichen Aufträge bearbeitete er
selber. Die wichtigen und nicht dringlichen sowie die
dringlichen aber nicht wichtigen Aufträge delegierte er. Die
nicht wichtigen und nicht dringlichen Aufträge vernichtete
er. Das soll natürlich nicht heißen, dass Sie jetzt alle
Aufträge ignorieren können, die Sie selbst als unwichtig und
nicht dringlich einstufen. Das ist stets eine Frage der
jeweiligen Führungsebene. Und Eisenhower hatte sicherlich
ganz andere Verantwortung und Schwerpunkte als Sie!
Voraussetzung für solch eine Vorgehensweise ist vielmehr,
dass Sie den Führungsprozess beherrschen und im Rahmen
der Auswertung des jeweiligen Auftrages die wesentliche
Leistung erkennen und richtig einzuordnen wissen. Hier
muss man zunächst Erfahrung gewinnen.
37
Leutnantsbuch
2. Das Kieselprinzip
Das Kieselprinzip beschäftigt sich intensiv mit dem
Zeitmanagement.
Stellen Sie sich Ihre Zeit als eine Flasche vor, die Sie mit
einer vorgegebenen Anzahl von Kieselsteinen füllen sollen.
Sie haben dazu große und kleine Steine. Alle zusammen
füllen die Flasche komplett. Wie gehen Sie vor?
Sicherlich werden Sie zuerst die großen, dann die kleinen
und zuletzt die kleinsten Steine in die Flasche füllen, weil
nur diese zwischen den größeren Steinen hindurchgleiten
und so die kleinsten Lücken füllen.
Und das ist schon das Geheimnis!
Nehmen Sie die Vorgaben Ihrer übergeordneten Führung
und füllen Sie sie als Steine in Ihre Flasche. Nehmen Sie
sich aber auch für sich und Ihren unterstellten Bereich Zeiten
als große Steine heraus. Werden Sie aktiv und warten Sie
nicht, bis man Sie mit Aufträgen erdrückt und Sie
gezwungen sind, „Ihren“ großen Stein zu zertrümmern,
damit er noch in Ihre Flasche passt.“
Mein Kompanieoffizier hatte verstanden. Er wusste, er
musste sich verändern, um Erfolg zu haben. Und er tat es
auch.
Mittlerweile ist er ein sehr erfolgreicher Kompaniechef und
vermittelt „seinen“ Offizieranwärtern die Theorie des
Zeitmanagements.
HI
38
Leutnantsbuch
Führe und gestalte! Der Kompaniechef erkennt, dass sein
Kompanieoffizier Anleitung und Unterstützung braucht. Er
hilft ihm, indem er ihm seine Sicht- und Vorgehensweise
erläutert, ohne ihn dabei bloßzustellen.
Schaffe Ordnung, setze Ziele und halte die wichtigen Fäden
in der Hand! Wer andere führt, muss sich zuallererst auch
selbst führen können. Das bedeutet, dass Ziele setzen und
Ordnung schaffen nicht nur nach außen wichtig ist, sondern
dass jeder zunächst bei sich selbst beginnen muss.
39
Leutnantsbuch
Der erste Marsch
Z
wei Wochen waren wir beim „Bund“, als unser erster
Marsch auf dem Dienstplan stand. An einem warmen
sonnigen Morgen standen wir Rekruten angetreten vor dem
Kompaniegebäude. Mir war bange, ob die Strapazen eines
solchen Marsches auszuhalten sind.
„Guten Morgen, zwote Gruppe!“ – „Guten Morgen, Herr
Fahnenjunker!“
Ich bin überrascht: Unser Fahnenjunker, der als stellvertretender Gruppenführer bei uns in der Allgemeinen
Grundausbildung eingesetzt ist, steht vor uns, in der gleichen
Ausrüstung, wie er sie uns befohlen hatte: Kampfanzug,
Rucksack und Gewehr. Er wird wohl mitmarschieren denke
ich, während er darüber spricht, welchen Sinn es hat,
körperliche Anstrengungen auszuhalten.
„Noch was, Männer“, sagt er, „wer glaubt, dass ihn etwas
drückt, oder dass er nicht mehr kann, meldet sich. Wir
werden dann schon eine Lösung finden. Noch Fragen?“ Da
niemand fragt, marschieren wir los.
Ich staune – in der Gruppe herrscht Hochstimmung. Wir
marschieren, unser Gruppenführer marschiert mit. Seine
markige Stimme ermuntert. Er fragt: „Na, geht’s noch?“ Es
geht sogar gut.
Nach etwa zehn Kilometern meldet sich ein Kamerad auf die
Frage des Gruppenführers, ob jemand Beschwerden habe,
und klagt, er könne bald nicht mehr weiter marschieren,
denn er habe eine große Blase am Fuß und seine
Achillessehne sei schon vor dem Marsch gereizt gewesen.
Unser Fahnenjunker lässt die Gruppe anhalten, befiehlt dem
fußkranken Soldaten, ihm sein Gepäck und Gewehr zu
geben und sagt laut, dass es die ganze Gruppe hören kann:
„Wenn es noch schlimmer wird, müssen Sie es sagen. Aber
40
Leutnantsbuch
keine Angst: Wir lassen Sie nicht einfach liegen. Wir
werden schon einen Weg finden, wie wir Sie mitkriegen.“
Damit ist alles ausgesprochen. Unser Gruppenführer hängt
sich den zweiten Rucksack vorne darüber. „Hat sonst noch
jemand Beschwerden?“ Nun ist uns klar, wie in solchen
Fällen der Marsch weitergeht: Ein Kamerad übernimmt das
Gepäck des Fußkranken, notfalls wird dieser auch getragen.
Den ersten Fall hat ja der Gruppenführer freiwillig selbst
übernommen.
Auf dem Rückweg lässt der Gruppenführer kurz vor der
Kaserne noch einmal halten. Er fragt den jungen Soldaten,
dessen Gepäck und Gewehr er trägt: „Alles klar soweit?
Glauben Sie, dass Sie die letzten Meter wieder mit Ihrer
Ausrüstung schaffen?“ Nachdem der „Fußkranke“ sein
Gepäck wieder aufgenommen hat, spricht der Gruppenführer
uns alle an. „Bis zur Kompanie wollen wir uns jetzt alle
noch einmal zusammenreißen. Bleiben Sie dran: Wir sind
eine Gruppe!“
Als wir dann an der Kompanie ankommen, staune ich
wieder, was jetzt geschieht. Der Gruppenführer lobt uns,
eine solche Leistung hätte er nicht erwartet, ausgezeichnet
wären wir marschiert. Er betont: „Heute haben Sie gelernt,
dass eine Gruppe immer nur so stark ist, wie ihr schwächstes
Glied. Es kommt also immer darauf an, sich um das
schwächste Glied zu kümmern, es aufzubauen und zu
stärken. Dann stimmt am Ende auch die Gruppenleistung!“
Nach Jägerart treten wir dann weg: „Horrido – Joho.“ Bis
zum Nachmittag haben wir frei.
HI
Trage Verantwortung! Gebe Beispiel! Führe!
41
Leutnantsbuch
Der Fahnenjunker erklärt den Sinn körperlicher
Anstrengungen, kann eine Lösung anbieten, falls Probleme
auftreten, (Verantwortung tragen) und marschiert mit
derselben Ausrüstung wie seine Soldaten. Er erduldet die
gleichen Strapazen und verlangt damit von seinen Soldaten
das, was er selbst beispielhaft erträgt (Beispiel geben). Seine
eigene Person und Leistung stellt er mit dem geschlossenen
Marsch in die Kaserne in den Hintergrund. Die Gruppe
zählt. Den „Fußkranken“ verletzt er damit nicht in seiner
Ehre, sondern erkennt seine Leistung an und hilft ihm, sein
Gesicht zu wahren. Er vermittelt ihm das Gefühl, ein
vollwertiges Gruppenmitglied zu sein. Er fördert damit den
Gruppenzusammenhalt, motiviert zur Kameradschaft und
stärkt das Selbstvertrauen sowie das Selbstbewusstsein jedes
Einzelnen. Er zeigt auch, wie eine Gruppe funktionieren
muss, damit am Ende die Gesamtleistung der Gruppe
stimmt, nicht nur die Einzelner. Hier zeigt sich eine
gelungene Synthese aus individueller Leistungsfähigkeit und
dem Gruppenauftrag (Menschen führen).
42
Leutnantsbuch
Der Hinterhalt
I
m März verlegte der Großteil unseres Panzeraufklärungsbataillons in den Auslandseinsatz nach
Afghanistan. Darunter auch die 2. Kompanie unter Führung
ihres Kompaniechefs, verstärkt durch Panzergrenadiere
eines anderen Standortes, die die Schutzkompanie des
Provincial Reconstruction Teams (PRT) stellten. Auftrag der
Schutzkompanie ist die Schaffung eines sicheren Umfeldes
für die Wiederaufbauarbeit des PRT.
Bereits mit der Ankunft der Aufklärer im Einsatzland
zeichnete sich eine Verschärfung der Lage ab, da
zunehmend Anschlagswarnungen eingingen. Im April gab es
den ersten Anschlag mit einer Sprengfalle, bei der drei
Kameraden teilweise schwer verwundet wurden. Mit einem
Schlag änderte sich auf unserer Ebene der Charakter des
Einsatzes! Weitere Anschläge mit improvisierten
Sprengfallen, so genannten IED, und ein Selbstmordattentat
folgten im Mai und Juni, bei denen es zum Glück nur bei
Materialschäden blieb. In dieser Zeit verstärkte die
Schutzkompanie die Patrouillen bei Nacht mit Spähwagen
FENNEK und DINGO, um das Ausbringen weiterer IED zu
verhindern.
Während eines solchen Auftrages geriet eine Patrouille in
einen Hinterhalt. Dabei wurde ein FENNEK von einer
Rakete des Typs RPG-7, einer Panzerfaust, durchschlagen,
die Besatzung durch Splitter verletzt. Der getroffene
FENNEK konnte noch aus eigener Kraft die Anschlagsstelle
durchstoßen, hatte allerdings keine Funkverbindung mehr,
und auch die Beobachtungsausstattung war ausgefallen.
Die zur Verstärkung herbei gerufene zweite Patrouille geriet
ebenfalls unter Beschuss mit RPG-7 und Handwaffen. Zwei
RPG-7 explodierten am DINGO dieser Patrouille, der als
43
Leutnantsbuch
Zweitwagen dem FENNEK des Patrouillenführers folgte.
Leuchtspurgeschosse trafen die linke Flanke des DINGOS.
Eine weitere RPG-7 verfehlte den FENNEK des Patrouillenführers nur knapp, als dieser gewendet hatte und
unter Einsatz der Bordwaffen auf die Stellung der
feindlichen Schützen antrat. Daraufhin wichen die Angreifer
aus und die drei verwundeten Kameraden konnten von
Verstärkungskräften der Schutzkompanie geborgen werden.
Für mich, den Oberleutnant von damals, wird diese Situation
immer ein besonderer Augenblick bleiben. Aus Kameraden
sind mittlerweile Freunde geworden, die wissen, dass sie
sich aufeinander verlassen können, was auch immer
kommen mag!
HI
In dieser Lage haben sich der Gefechtsdienst und die
fordernde Ausbildung mit Schwerpunkt auf die Befähigung
zum Kampf ausgezahlt. Die kleine Kampfgemeinschaft ist in
der Ausbildung zusammengewachsen und hat sich in dieser
besonderen Situation unter Gefahr für Leib und Leben
bewährt. Der Entschluss zum Gegenstoß entriss dem Feind
die Initiative – mit Sicherheit ein Entschluss, der die Patrouille bewusst einer weiteren Gefährdung aussetzte. Doch
folgten alle Soldaten ihrem Patrouillenführer, ging es doch
schließlich darum, aus dem Hinterhalt herauszukommen,
das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und die
verwundeten Kameraden in Sicherheit zu bringen.
Vielleicht waren die Soldaten ja auch schon vorher davon
überzeugt, dass sie ihrem Oberleutnant vertrauen konnten
und er ihr Leben nicht aus falsch verstandenem Heldentum
riskieren würde.
44
Leutnantsbuch
Als Vorgesetzter muss man seine Männer und Frauen
kennen, ihre Fähigkeiten richtig einschätzen! Aber auch den
Untergebenen muss die Gelegenheit gegeben werden, ihre
Führer kennen zu lernen.
Immer werden Landstreitkräfte eine Truppeneinteilung
einnehmen, in diesem Fall wurden Aufklärer durch
Panzergrenadiere für ihren Patrouillenauftrag verstärkt.
Gerade dann kommt es darauf an, als Führer seine Soldaten
schnell zu einer schlagkräftigen Truppe zu formen und ein
Vertrauensverhältnis zu schaffen – jeder muss sich auf seine
Kameraden verlassen können! Eine gemeinsame Vorausbildung fördert diesen Prozess des Zusammenwachsens.
Trage Verantwortung! Gebe Beispiel! Führe entschlossen
von vorn mit klaren Befehlen! Gib Orientierung! Schaffe
Vertrauen!
45
Leutnantsbuch
Der „Grünschnabel“ und der Alte
G
eschafft! Meine Zeit als Offizieranwärter neigte sich
dem Ende entgegen und mein Batteriechef hatte mir
soeben eröffnet, dass ich Zugführer eines Geschützzuges in
der Nachbarbatterie werden würde. Nachdem ich mich beim
Chef abgemeldet hatte, stellte ich – nicht ohne eine gewisse
Genugtuung – für mich persönlich fest:
1. Es gab mehr Oberfähnriche als Geschützzüge im
Bataillon, also hatte ich mich wohl bisher nicht allzu
ungeschickt angestellt.
2. Ich würde meine jetzige Einheit verlassen. Das war gut
so, da ich doch relativ stark durch das Unteroffizierkorps der Batterie „vereinnahmt“ worden war
und jetzt, kurz vor der Beförderung zum Leutnant, das
„Freischwimmen“ dringend geboten erschien.
3. Meine erste Führungsverwendung erwartete mich, die
erste „echte“ Herausforderung und damit auch die
Chance zur „Bewährung“ im Bataillon.
Kurze Zeit später wurde ich Zugführer I der 2. Batterie.
Schon bei der Übernahme der Teileinheit erfuhr ich trotz
meiner Vorfreude nach kurzer Zeit eine deutliche
Ernüchterung. Kein Vorgänger auf dem Dienstposten.
Zusammengewürfeltes Personal. Einige wichtige Dienstposten im Zug waren unbesetzt. Die Rüstsätze der Geschütze
waren in teilweise erbärmlichem Zustand. Statt sauber eingeräumter Regale existierten erstaunlich viele Fehlteilzettel.
Ich fragte mich, wie es mir wohl gelingen würde, mit
Fehlteilzetteln statt Taschenlampen Nachtausbildung durchzuführen.
Natürlich gab es den einen oder anderen, der nur darauf zu
lauern schien, „dass der Neue den ersten Bock schießt.“ Die
meisten Unteroffiziere unterstützten mich jedoch nach
46
Leutnantsbuch
besten Kräften, konnten aber natürlich nicht das vermitteln,
was mir vor allem anderen fehlte: Erfahrung.
Darüber hinaus fühlte ich mich nirgends zugehörig. Obwohl
Kommandeur und Chefs sich alle Mühe gaben, uns
Oberfähnriche in das Offizierkorps zu integrieren, war ich
dort noch nicht angekommen. Gleichzeitig versuchte ich,
zumindest meine fehlende fachliche Autorität durch forsches
Auftreten zu überspielen.
Doch am schlimmsten für mich war: Eine Zusammenarbeit
mit dem Zugführer des II. Zuges fand quasi nicht statt.
Vielleicht lag es an unser beider ausgeprägtem Selbstbewusstsein oder einfach nur an der falschen „Chemie“. Wir
konnten einfach nicht miteinander. Er war ein absoluter
Fachmann, was den Geschützdienst betraf. Der Mann konnte
scheinbar alles besser: Sein Zug meldete grundsätzlich vor
meinem die Wirkungsbereitschaft, sein Material wies stets
weder Mängel noch Fehlteile auf, er kannte jeden und alles
im Bataillon.
Ich hatte schon vorher gehört, dass Hauptfeldwebel K. keine
einfach zu nehmende Persönlichkeit war.
Und so wunderte es mich nicht, dass er mir bei unserer
ersten Begegnung folgende Frage stellte: „Na, Herr
Oberfähnrich, wann geht’s denn ab zum Studium? Wenn Sie
mit ihrem Zug nicht mehr weiterkommen: Sie wissen ja, wo
sie mich finden.“
Ich konnte mir genau vorstellen, wo bei ihm das Problem
lag: Da kam wieder so ein Grünschnabel in die Batterie, der
hier durchgeschleust wurde, den ganzen Laden durcheinander brachte und, nachdem er befördert und ihm
vorgesetzt worden war, sich zügig zum Studium absetzen
würde.
47
Leutnantsbuch
Meine bereits zurecht gelegte Antwort, dass ich beabsichtige, „Feldartillerie“ zu studieren, ließ er zumindest unkommentiert.
Das ging ja gut los hier! Den Mann um Rat fragen? Ich?
Nie!
Mir kam es in der folgenden Zeit so vor, als liefe aber auch
alles „suboptimal“. Ich kannte den Geschütztyp nicht,
musste abends wieder Vorschriften pauken, wollte mich
doch lieber um meine Soldaten kümmern und sollte, so hatte
man es uns beigebracht, vor allem durch „persönliche und
fachliche Autorität“ überzeugen. Ich konnte mich noch so
anstrengen, noch so viel ausbilden, der II. Zug war meistens
Erster. Es fiel mir nicht im Traum ein, mich meinem
Batteriechef oder sogar meinem Kommandeur anzuvertrauen. Ich wollte es alleine schaffen.
Der erste Übungsplatzaufenthalt verlief erwartungsgemäß,
ich musste „rödeln“ und lernen, zumeist durch Fehler und
natürlich vom II. Zug!
Meine Beförderung zum Leutnant nahm mein Chef zum
Anlass, mich auf das Thema „Berufssoldat“ anzusprechen.
In diesem „Betriebsklima“? Wohl eher nicht. Ich hatte ganz
andere Probleme!
Beim zweiten Übungsplatzaufenthalt klappte es dann schon
besser. Ich hatte mich ordentlich vorbereitet, wusste jetzt,
worauf es ankam und konnte zumindest zum II. Zug
aufschließen, na bitte, geht doch!
Nur: Eine „Einheit“ wurden wir leider nicht.
Was die Zusammenarbeit mit dem II. Zug betraf, hatte ich
mich innerlich bereits auf „Dauerfrost“ eingestellt, als die
ganze Angelegenheit dann doch noch eine unerwartete
Wendung nahm.
48
Leutnantsbuch
Die Batteriebesichtigung stand heran. Praktische und
theoretische Ausbildung waren durch die Batterie
vorzubereiten und durchzuführen. Während der Bataillonskommandeur sich dieser widmete, krempelte der
Bataillonsstab den Innendienst „auf links“ und überprüfte
den Sachstand in allen Führungsgrundgebieten. Da die
Besichtigung angekündigt war, wurde sie natürlich gründlich
vorbereitet.
Am Tag vor eben dieser Besichtigung fiel unser Chef
krankheitsbedingt aus. Von zuhause übermittelte er noch
telefonisch über den Batteriefeldwebel: „Leutnant, übernehmen! Formalausbildung im Batterierahmen unter Ihrer
Leitung, übrige Ausbildungsinhalte wie besprochen, Politische Bildung zugweise durch Zugführer ...“
Politische Bildung, keine Hürde, man lebte ja in der Lage
und die Formalausbildung im Batterierahmen, genau mein
Ding!
Mein Mit-Zugführer schien erstmals leicht aus der Ruhe
gebracht. Er war sichtlich nervös und bewegte sich
auffallend häufig im Bereich „Zuggefechtsstand I. Zug“. Ich
wusste, was ihm unter den Nägeln brannte: Politische
Bildung, das war nicht seine Stärke ... aber ein Steckenpferd
unseres Kommandeurs.
Würde er jetzt über seinen Schatten springen? Er rang mit
sich selbst, brachte es aber dann doch nicht zu Ende. Die
Zeit wurde knapp. Die Brücke musste ich wohl bauen:
Lt: „Die Viertelstunde Organisationszeit zwischen
Technischem Dienst und Politischer Bildung, reicht Ihnen
das für die Vorbereitung des U-Raums?“
HptFw: „Sagen Sie, Herr Leutnant, wollen wir nicht beide
Züge zum Technischen Dienst zusammenfassen?“
Lt: „Warum nicht. Soll ich den leiten oder wollen Sie ...?“
49
Leutnantsbuch
HptFw: „Nein, nein! Mache ich schon, ich kann mich ja
dann auch mal um Ihre Rüstsätze kümmern. Wenn Sie dann
für beide Züge ...“
Lt: „Einverstanden, TD Sie, PolBil ich! Ich melde das dem
Chef!“
Was folgte, war ein kurzer, fast freundlicher Blickwechsel,
eine gut bestandene Besichtigung und anschließend – in
meiner Wahrnehmung – eine fast problemlose Zusammenarbeit mit dem II. Zug. Das Eis war gebrochen.
Ich habe letztendlich viel von diesem Mann gelernt. Tricks
und Kniffe, die in keiner Vorschrift stehen, aber ich denke,
dass er auch etwas mitgenommen haben wird.
Inzwischen sind etliche Jahre vergangen, jeder von uns ist
seinen weiteren militärischen Weg gegangen. Hin und
wieder telefonieren wir miteinander, manchmal auch über
damals, den „Grünschnabel“ und den „Alten“.
HI
Kommuniziere! Höre zu!
Nimm den anderen so, wie er ist – mit seinen Stärken und
Schwächen. Sehr oft trifft man in den Streitkräften auf
Kameraden, deren Werdegang, Bildungsstand, Fähigkeiten
und Neigungen, aber auch Eigenheiten sich erheblich von
dem unterscheiden, was man selbst einbringt. Es kommt
meist nicht darauf an, dass jeder auf allen Feldern das
Gleiche weiß und kann. Vielmehr gilt es, die Facetten einer
Persönlichkeit zu erkennen und Befähigungen in bestmöglicher Weise zu kombinieren, zum Wohle der Auftragserfüllung und der anvertrauten Menschen.
50
Leutnantsbuch
Wer frühzeitig das offene Wort sucht und auf andere zugeht,
wird vielfach erfolgreicher sein als der, der dies nicht tut.
Er wird in und mit der Gemeinschaft zum Ziel kommen. Das
erfordert ein ordentliches Maß an Gelassenheit und
Persönlichkeit. Man muss zurückliegende Dinge auch vergessen können – „Nachtreten“ oder nachtragend sein, sind
fehl am Platz.
51
Leutnantsbuch
Das Grab
W
o ist denn dieser Typ schon wieder?“ Das waren die
„
ersten Worte meines Chefs, an einem sonnigen
Montagmorgen. Wir wollten schnell unser Material aus der
Waffenkammer holen, die „Böcke“ (unsere Kampfpanzer
Leopard 2) aufrüsten und dann noch ein paar Grundlagen
vertiefen, bevor wir in wenigen Tagen nach Bergen verlegen
wollten.
Der „Typ“ war unser Versorgungsdienstfeldwebel. Ein
junger, dynamischer Stabsunteroffizier, der aber in letzter
Zeit etwas andere Prioritäten in seinem Kopf hatte als den
Dienst. Etwa einen Monat zuvor hatte er seinen
Motorradführerschein erfolgreich bestanden und fast sein
ganzes Erspartes in eine neue, grün lackierte Ninja gesteckt.
Da er nun schon über 25 war, durfte er das Ding auch sofort
„offen“ fahren. Ich muss ja gestehen, irgendwie war ich ganz
schön neidisch.
Unser Stabsunteroffizier war sichtlich stolz auf sein neues
Spielzeug und hatte schon innerhalb weniger Tage mehrere
hundert Kilometer auf dem Tacho. Immer wenn er Zeit
hatte, ob in der Mittagspause oder kurz vor Dienstschluss, er
war mal „kurz weg!“. Dass unter diesen Bedingungen
natürlich auch seine Dienstpflichten litten, war eigentlich
nur eine Frage der Zeit. Nun war es an diesem
Montagmorgen auch wieder so.
Er hatte am Freitag als letzter den Waffenkammerschlüssel
genutzt und sollte ihn eigentlich an der Wache abgeben.
Jetzt, am Montag war er nicht da, aber sein Gehilfe durfte
theoretisch auch den Schlüssel empfangen. Doch es gab
nichts zu empfangen. Da der Chef langsam die Geduld
verlor und unser Spieß schon mehrfach vergeblich auf dem
Handy die Verbindungsaufnahme versucht hatte, wurde die
ganze Lage immer angespannter. Gegen neun Uhr wurde es
52
Leutnantsbuch
dem Chef zu bunt. Er ließ sich die Nummer der Familie
unseres Versorgungsdienstfeldwebels geben und rief dort an.
Selten verändern Telefonate ein Leben, aber oft verändern
Informationen einen klar geplanten Ablauf. Schlimm wird es
nur dann, wenn die Kombination aus beidem passiert. Der
Chef ließ sein ganzes Führerkorps in den U-Raum
einrücken. Ich habe schon einige Gesichtsregungen dieses
Mannes kennengelernt, diese Mimik in Verbindung mit
einer blassen Hautfarbe war aber auch für mich völlig neu.
„Männer, ich muss Ihnen allen eine traurige Mitteilung
machen. Unser Versorgungsdienstfeldwebel hatte am
Samstag einen schweren Motorradunfall mit tödlichem
Ausgang.“
Allein diese wenigen Worte ließen uns alle nur noch
einander fassungslos anschauen. „Ich erwarte die Offiziere
und Zugführer in fünf Minuten im Besprechungsraum, es
verlässt zunächst keiner den Bereich. Wegtreten.“
Langsam ließ die Lähmung bei uns nach und eine
verwirrende Leere entstand. Viele der Unteroffiziere kannten
unseren Versorgungsdienstfeldwebel seit seiner Grundausbildung. In den drei Jahren Dienstzeit, die er in der
Kompanie verrichtet hatte, vom Panzerschützen bis zum
Stabsunteroffizier, war er ein fester Bestandteil des Gefüges
geworden. Langsam bildeten sich kleine Gesprächsgruppen.
„Weißt du noch damals, als er hier angefangen hat. Mann,
den konnte man ja mit nur einem Blick einschüchtern, und
was für ein toller Kerl er dann geworden ist. Ich glaub’ es
einfach nicht.“ „Irgendwie war das doch klar – keine
Erfahrung und dann so eine Maschine.“ Viele Stimmen
erklangen in den folgenden Minuten und Stunden, aber das
Fazit war: Keiner wollte und konnte es fassen.
53
Leutnantsbuch
Der Chef hatte die Zugführer und Offiziere zusammengerufen, um weitere Schritte zu besprechen. „Meine
Herren, ich kann es selber kaum glauben. Der Spieß und ich,
wir werden heute Mittag zur Familie fahren. Wie Sie ja
sicherlich alle wissen, kommt unser Versorgungsdienstfeldwebel – kam er – aus der Nähe. Ich werde die Familie
fragen ob es einen militärischen Rahmen geben soll bei der
Beerdigung oder ob überhaupt eine Teilnahme von uns
erwünscht wird. Dazu machen Sie sich bitte schon mal
Gedanken, wer sich bei Bedarf als Ehrengeleit zur Verfügung stellt.“
Da saßen wir nun und wussten nicht wirklich weiter. Einer
meiner engeren Kameraden kannte unseren Versorgungsdienstfeldwebel seit der Grundausbildung, er war dort
sein Hilfsausbilder gewesen. Seine erste Reaktion auf die
Anfrage vom Chef war: „Klar, da gibt es keine zwei
Meinungen, ich mach’ das jedenfalls.“ Aber irgendwie
wurde mit der Zeit ein Bild in seinem Kopf klarer, was ihm
sichtlich Schmerzen bereitete. „Sag’ mal, kannst Du nicht
vielleicht. Na ja, ich hab’ zwar gesagt, aber irgendwie ...“
„Ich mach’ das, klar.“
Am Nachmittag nahm uns der Chef nochmals zusammen,
um uns etwas genauer zu informieren. „Der Spieß und ich
haben heute den wohl schwersten Dienst im Rahmen unserer
Aufgaben verrichtet. Wir haben die Familie besucht. Wer es
wirklich wissen will, kann gerne nachher mit mir oder dem
Spieß über den genaueren Unfallhergang reden, ich will Sie
aber nicht damit belasten. Die Familie war sofort
einverstanden, als wir ihr einen militärischen Rahmen für die
Beerdigung angeboten haben. Vor allem würde sie sich über
eine rege Teilnahme der Kameraden freuen und geehrt
54
Leutnantsbuch
fühlen. Ich glaube, dass er es sich so gewünscht hätte, waren
die genauen Worte seiner Mutter.“
Ich habe mir dann den Unfallhergang schildern lassen. Nur
so viel, es war weder unvermeidlich noch schnell vorbei
gewesen. Aber er wurde unter anderem auch aus diesem
Grund verbrannt und sollte mit einer Urne beigesetzt
werden.
Das militärische Zeremoniell sieht bei einer Beerdigung im
Sarg sechs Soldaten als Ehrengeleit vor. Bei einer Urne ist
die Besonderheit, dass das Ehrengeleit nur bei der
Trauerfeier zugegen ist.
Normalerweise wird jeder formale Akt vorgeübt. Nicht bei
diesem Anlass. Die Totenwache wurde einmal eingewiesen
und das war es. Keiner von uns fühlte sich auch nur in der
Lage, eine Wiederholung mehr zu durchlaufen. Wir einigten
uns darauf, dass wir am Tag der Beisetzung nochmals die
wichtigsten Punkte, wie Weg und Platz klärten, mehr aber
auch nicht.
Freitag derselben Woche war dann die Beisetzung. Was ich
mir nicht hatte vorstellen können war eingetreten: Fast
einhundert Kameraden aus dem Bataillon nahmen in
Uniform an der Trauerfeier teil. Als wir dort angekommen
waren, erhielten die sechs Kameraden der Totenwache den
Formaldiensthelm des Wachbataillons, der deutlich leichter
und grau ist. Wir gingen nochmals den Weg ab und stellten
uns dann in die kleine Kapelle, in der die Urne bereits
aufgestellt war.
Ich persönlich behaupte ja von mir, mit vielen Situationen
klar zu kommen und eigentlich nur durch Weniges
erschüttert zu werden. Die folgenden dreißig Minuten aber
machten mich so betroffen, dass ich sie mein Leben lang
nicht vergessen kann.
55
Leutnantsbuch
Es war zwar Sommer, aber zum Anlass passend, war der
Himmel recht wolkenverhangen. Dennoch waren die
Seitenflügel der kleinen Kapelle geöffnet, so dass alle
Anwesenden zumindest teilweise der Trauerzeremonie
beiwohnen konnten.
Nun standen wir sechs in Hab-Acht-Stellung um die Urne,
ich hinten links, und warteten auf das Eintreffen der Familie
und Freunde. Die Großmutter kam als Erste herein und fiel
vor der Urne auf die Knie, wo ein Bild unseres
Versorgungsdienstfeldwebels aufgestellt worden war. Dort
weinte sie haltlos und wurde von ihrer Tochter, der Mutter
unseres Kameraden, in den Arm genommen und zum
Sitzplatz in der ersten Reihe geleitet. Auch der Vater ließ
seiner Trauer freien Lauf. Doch erst die nächste Person, die
die Kapelle betrat, riss mich aus meiner stoischen Haltung
heraus. Es war der Bruder unseres Kameraden, aber keiner
hatte mir gesagt, dass der Zwillingsbruder war. Ich glaube,
erst in diesem Moment habe ich realisiert, was ich hier tat
und wo ich stand. Ein Gefühl der Trauer und Leere breitete
sich in mir aus, etwas was ich noch nie vorher gekannt hatte.
Ein Gefühl, das mir mein Leben lang in Erinnerung bleiben
wird.
Nach der Trauerfeier wurde die Urne zur letzten Ruhestätte
getragen, wo sich dann die Familie und die Freunde zuerst
verabschiedeten. Dann kam das zweite unbekannte Gefühl in
mir hoch, hemmungslose Trauer, wie ich sie vorher schon
beim Vater gesehen hatte. Als unser Kommandeur vor dem
Grab in Grundstellung ging und mit einem militärischen
Gruß unserem verstorbenen Kameraden die letzte Ehre
erwies und während ein Trompeter „Ich hatt’ einen
Kameraden spielte“, flossen mir nur noch die Tränen die
Wangen hinunter. Auch wenn ich in Hab-Acht-Stellung am
56
Leutnantsbuch
Grab stand, weinte ich wie ein kleines Kind. Einhundert
Soldaten standen auf dem Friedhof und jeder einzelne erwies
die letzte Ehre.
Der letzte, der dies tat, war ich.
Auch heute noch, einige Jahre nachdem ich den Standort
verlassen habe, denke ich jeden Jahrestag an meinen
Kameraden. Wenn ich dann zu meinen Eltern fahre, komme
ich auf dem Heimweg immer an dem Standort vorbei.
Entweder auf dem Hinweg, aber meistens auf dem
Rückweg, fahre ich dann zu dem Friedhof, auf dem „mein“
Versorgungsdienstfeldwebel begraben liegt und zünde eine
Kerze an. Und bis jetzt war immer eine Kerze oder eine
Blume am Grab und selbst das kleine Wappen unserer
Kompanie ist dort noch erhalten geblieben. Ein guter
Kamerad, den wir dort verloren haben, ist unersetzlich, aber
die Erinnerung an ihn tragen wir immer im Herzen.
HI
57
Leutnantsbuch
Beförderungsappell zum Gefreiten
A
m 30. September war es endlich soweit. Nach all dem
Stress, dem harten Geländedienst und dem Sport sowie
der umfangreichen Vorbereitung für die Wehrrechtsklausur
wurden wir endlich erlöst. Wir im Offizieranwärterbataillon
sollten den ersten Teil unserer Offizierausbildung beenden
und das Symbol dafür sollte unsere erste Beförderung sein.
Die sogenannte „Schulterglatze“ sollte heute verschwinden
und wir „Gefreite OA“ werden. Es war natürlich etwas ganz
Besonderes, da die Masse von uns noch nie befördert wurde
und wir nicht wirklich wussten, was uns erwartete.
Auf dem Dienstplan stand Anzugkontrolle um 17.00 Uhr
und danach um 17.30 Uhr Beförderungsappell. Und so lief
das Ganze dann auch ab. Nachdem unsere Stiefel auf
Hochglanz poliert und auch die letzten vergessenen Taschen
geschlossen waren, warteten wir alle auf den Befehl zum
Heraustreten. Mir war schon ziemlich mulmig zumute, weil
ich nicht genau wusste, ob jeder einzeln vor die Front
gerufen werden sollte oder ob es eine Gemeinschaftsbeförderung werden sollte. Irgendwer hatte nämlich das
Gerücht gestreut, es könne passieren, dass jeder einzeln die
Gefreitenklappen verliehen bekommt.
Als es dann endlich soweit war und der Befehl zum
Heraustreten kam, traten wir vor dem Gebäude, wie üblich,
in Linie an. Das für uns schon als normal empfundene Ritual
der Anzugkontrolle wurde natürlich auch nicht vergessen.
Ganz im Gegenteil war es diesmal unser Zugführer
persönlich, der den Anzug eines jeden Soldaten überprüfte.
Dieses kleine aber dennoch wichtige Detail machte uns
deutlich, dass ein ganz besonderes Ereignis vor uns lag.
Dann erst marschierten wir zu dem Platz, an dem der Appell
stattfinden sollte. Es regnete in Strömen und der Wind blies
58
Leutnantsbuch
ziemlich kalt. Das war uns aber egal. Wir waren stolz,
endlich befördert zu werden.
Nach einer Ansprache unseres Kompaniechefs, der darüber
sprach, was wir alles bereits geleistet hätten und was noch
auf uns zukäme, wurden wir dann zugweise zum Gefreiten
ernannt. Es war ein Festakt. Trotz des schlechten Wetters
hatten wir bisher eine solche Zeremonie nur bei der
Vereidigung erlebt. Danach ging unser Zugführer mit den
Gruppenführern durch die Reihen und „schlug“ uns die
Gefreitenklappen auf die Schultern. Man merkte schon, dass
selbst die Ausbilder stolz waren, auf die Taten, die wir bis
jetzt vollbracht hatten und das wir uns so gut geschlagen
haben. Jeder wurde vom Zugführer und von allen Ausbildern
beglückwünscht. Auch der Kompaniechef ging von Soldat
zu Soldat und gratulierte persönlich. Er ließ es sich natürlich
auch nicht nehmen, den Schlachtruf auszubringen. Ein
würdiger Abschluss.
HI
Pflege Traditionen und militärische Rituale, insbesondere
wenn eine Truppe zu einem guten Ausbildungsabschluss
gekommen ist oder ein besonderes Ziel erreicht hat.
Beförderungen, aber auch einfaches Lob „vor der Front“
oder in Appellform stärken die Motivation und Verbundenheit einer Gemeinschaft.
59
Leutnantsbuch
Offizieranwärter Frank
Im Offizierkasino
D
raußen hat es schon vor einiger Zeit begonnen, dunkel
zu werden. Major Waldmann und Hauptmann Ulrich
haben uns mit ihren Erzählungen gefesselt, von Müdigkeit
kann keine Rede sein.
„Es tut mir sehr leid“, sagt Major Waldmann, „aber leider
muss ich Sie jetzt verlassen. Ich habe meiner Tochter
versprochen, noch einmal über ihre Hausaufgaben zu sehen.
Wenn ich jetzt nicht loskomme, dann hängt der
Familiensegen schief!“ Major Waldmann erhebt sich,
wünscht uns allen noch einen schönen Abend und sagt: „Das
war eine nette Runde mit Ihnen! Vielleicht sehen wir uns ja
noch einmal, und Sie haben bis dahin eigene Erlebnisse zu
berichten!“
Hauptmann Ulrich schließt sich sogleich an und
verabschiedet sich auch. Beim Hinausgehen sehe ich, wie
Hauptmann Ulrich sich noch kurz mit zwei Oberstleutnanten
unterhält. Hauptmann Seidel entschuldigt sich kurz und geht
zu Hauptmann Ulrich und den zwei Stabsoffizieren.
Währenddessen bestellen wir uns noch etwas zu trinken und
unterhalten uns.
„Sag’ mal Markus, was machst Du am Wochenende? Bleibst
Du hier oder fährst du wieder nach Hause?“, fragt Annette.
„Geburtstagsfeier“, antwortet er und fährt fort: „Mein
Bruder hat Geburtstag. Wenn der feiert, dann ist immer
ordentlich was los.“
„Und wie sieht es bei Euch aus?“, fragt Annette in die
Runde. Schnell haben sie, Markus, Cindy und ich uns
verabredet, am Freitagabend zusammen ins Kino zu gehen.
60
Leutnantsbuch
Wir wissen zwar noch nicht, was gezeigt wird, aber wir sind
uns sicher, dass wir einen Film finden, der unser aller
Geschmack trifft.
„Was haltet Ihr eigentlich von den Erzählungen eben?“ fragt
Peter. „Ich meine – kommt das wirklich alles so auf uns zu?
Da kann einem ja ganz anders werden.“
„Also ich kann mir schon vorstellen, dass wir noch viel in
dieser Richtung selbst erleben werden. Ob natürlich immer
alles so war, wie es uns erzählt wird …“, sagt Markus und
wird von Cindy unterbrochen.
„Ich glaube nicht, dass bei den Erzählungen irgendetwas
Besonderes dazugedichtet wurde. Für mich hat sich das alles
sehr realistisch angehört.“
Gerade als Jonas etwas erwidern will, kommt Hauptmann
Seidel wieder aus dem Barraum zurück. Die beiden
Oberstleutnante, die sich draußen mit Hauptmann Ulrich
unterhalten hatten, folgen ihm.
„Kameraden, ich stelle Ihnen Oberstleutnant Stokiwsky und
Oberstleutnant Zander vor! Ich habe gerade mit beiden über
unsere Runde hier gesprochen. Ich habe Ihnen gesagt, was
wir hier tun. Und siehe da, beide haben gefragt, ob sie sich
ein wenig zu uns setzen dürften. Als ich ihnen von den
Geschichten von Major Waldmann und Hauptmann Ulrich
erzählt habe, waren sie gleich begeistert.“
„Stimmt“, sagt Oberstleutnant Zander, „solche Geschichten
bleiben bei fünfundzwanzig Dienstjahren nicht aus! Mir sind
da spontan welche eingefallen!“ Oberstleutnant Stokiwsky
nickt und deutet damit an, dass auch er mit dem einen oder
anderen Erlebnis zu einem interessanten Abend beitragen
kann. Er merkt noch an: „Auch wenn ich nicht alles selbst
61
Leutnantsbuch
erlebt habe, einige Beispiele von Kameraden hätte ich auch
noch zu bieten. Die passen auch sehr gut zu Ihrem Thema.“
Und dann folgt ein Erlebnis dem anderen …
62
Leutnantsbuch
Nicht nur der erste Eindruck zählt
E
inem bekannten Sprichwort zufolge gibt es für den
ersten Eindruck keine zweite Chance. Dass sich aber
gerade der junge Offizier vor einem vorschnellen und
pauschalen Urteil in Acht nehmen sollte, beweist folgende
Geschichte.
Ich war gerade Fähnrich und hatte dann – wie damals üblich –
meinen ersten Zug in der Allgemeinen Grundausbildung
übernommen. Nach der Einschleusung, der Einkleidung und
der ärztlichen Untersuchung stand auch gleich der erste
Physical-Fitness-Test (PFT) der Rekruten an. Einer der
Rekruten fiel mir durch besonders schlechte Ergebnisse auf.
Ich nahm mir vor, auf die vermeintliche „Schwachstelle“
meines Zuges ein besonderes Augenmerk zu richten. Bei den
ersten Ausbildungen verhielt er sich sehr passiv, was meinen
negativen Eindruck zunächst noch bestärkte. Als ich den
Zug zum ersten Mal im Eilmarsch auf die Schießbahn führte
und der Soldat immer mehr zurückfiel, ließ ich ihn austreten
und an meiner Seite laufen.
„Was ist mit Ihnen los?“, fragte ich. „Ich kann nicht mehr!“,
lautete die Antwort. Ich beschloss ihn an seiner Ehre zu
packen und ihn somit zu motivieren. „Wissen Sie, warum
Sie nicht mehr können? Weil Sie selbst gar nicht wissen,
was alles in Ihnen steckt! Sie können viel mehr, als Sie
selbst von sich denken. Beweisen Sie sich selbst und Ihren
Kameraden, dass Sie es können! Laufen Sie nicht für mich,
sondern für Ihre Ehre! Und wenn Sie heute Abend fix und
fertig ins Bett fallen, dann können Sie stolz auf sich sein,
weil Sie alles gegeben haben. Und jetzt laufen Sie weiter.“
Da der Soldat anschließend weitergelaufen ist, schienen
meine Worte gewirkt zu haben.
Am Abend stellte ich seine Leistung positiv vor dem
angetretenen Zug heraus. Seit diesem Ereignis schien der
63
Leutnantsbuch
Soldat wie verwandelt und fortan gab er immer sein Bestes.
Dadurch stieg auch sein Ansehen innerhalb der Gruppe, die
sah, dass hier ein guter und engagierter Soldat heranwuchs.
Bei allem plötzlichen Ehrgeiz blieb er jedoch immer ein
guter Kamerad und integrierte sich voll in die Gruppe. Nun
war er nicht mehr die „Schwachstelle“, sondern eine Stütze
seiner Gruppe und seines Zuges. Sein Gruppenführer und ich
versuchten, diesen Prozess durch Lob und gutes Zureden
weiter zu fördern. Am Ende der Allgemeinen Grundausbildung hatte er sich enorm gesteigert und gehörte beim
PFT zu den besten Soldaten des Zuges. Als ich ihn am Abschlussabend der Allgemeinen Grundausbildung nach seinen
Schlüsselerlebnissen in der Grundausbildung fragte, sagte er,
dass ihn meine Ansprache beim Eilmarsch motiviert und er
viel über sich selbst gelernt habe.
HI
Der Offizier ist gerade in schwierigen Situationen als
Führer, Erzieher und Ausbilder gefordert. Daher ist es
wichtig, voreilige Festlegungen und Urteile über das
Leistungsvermögen der Soldaten zu vermeiden. Für den
militärischen Vorgesetzten kommt es darauf an, das
jeweilige Leistungsvermögen seiner Soldaten zu erkennen
und zu fördern, ohne diese zu überfordern.
Wer mit Herz und Verstand führt und die Stärken und
Schwächen seiner Soldaten kennt, wird seine Soldaten nicht
nur zweckmäßig einsetzen, sondern darüber hinaus das
gegenseitige Vertrauen stärken und die sichere Gefolgschaft
seiner Männer und Frauen erzielen. Der angemessene
Gebrauch von Lob und Tadel zur Würdigung der Leistungen
sowie das Erzeugen von Einsicht in die Notwendigkeit des
Auftrages fördern die Motivation und die Einsatzbereitschaft
der Soldaten.
64
Leutnantsbuch
Der neue Leutnant
S
o ungefähr empfand ich die ersten Monate, als ich
…
nach erfolgreichem Studium wieder in die Truppe
kam.
Eigentlich war der Standort, zu dem ich nachts nun auf der
Autobahn quer durch die Republik
unterwegs war,
überhaupt nicht mein „Erstwunsch“ und zudem musste ich
auch noch mein Bordeaux-Barett gegen ein vermeintlich
minderwertigeres, grünes eintauschen. Kurz, meine
Stimmung und die Erwartungshaltung gegenüber meiner
neuen Heimat in der Truppe wurden von Kilometer zu
Kilometer düsterer.
Als ich dann spät nachts todmüde beim UvD meiner
Kompanie den Schlüssel für eine karge Stube erhielt, wartete
ein Umschlag auf dem Bett, in dem neben einem kurzen,
aber herzlichen Willkommensgruß meines zukünftigen
Kompaniechefs der Hinweis stand, ich solle gar nicht erst
auspacken, denn gleich morgen früh würde man zum
Truppenübungsplatz Sennelager verlegen, und da sei ich
auch als der neue Zugführer des I. Zuges höchst willkommen und sogleich in der Pflicht.
Nach fast vier Wochen Übungsplatz in der „Senne“ hatte ich
als Zugführer so ziemlich alles falsch gemacht, was falsch
zu machen war. Das aus meiner Sicht höchst komplizierte
Schießen der Verbundenen Waffen, verregnete Nachtschießen in der Stellung, Jagdkampf, endloser Technischer
Dienst und wenig Schlaf, hatten meine Studienbräune
erbleichen lassen und selbst die anstehende Beförderung
zum Oberleutnant konnte mich nicht recht erheitern.
65
Leutnantsbuch
Für meine zum Teil ohne Studium in der Truppe
„gewachsenen“ Zugführerkameraden stand sehr schnell fest:
„... den nimmt sich der Kommandeur schon bald zur Brust,
denn im Kreise der anderen, erfahreneren Oberleutnante
konnte ich abends beim Bier kaum Erfolgserlebnisse des
Übungsplatzes beisteuern und auch der Hinweis, dass meine
Diplomarbeit sicher noch in einschlägigen Fachkreisen
Beachtung finden würde, konnte nicht wirklich beeindrucken.
Nachts allein mit mir bilanzierte ich selbstkritisch, dass mein
Auftreten im neuen Bataillon mit perfekt sitzender
Selbsteinkleiderjacke und einem Bündel guter Vorsätze, in
diesem Verband nun zukünftig meine geisteswissenschaftlichen Impulse geben zu können, gründlich in
die Hose gegangen war!
Es drängten sich mir Gedanken auf, die nun noch vor mir
liegenden Jahre der Verpflichtungszeit möglichst „ungeschoren“ herumzubringen, recht bald die Initiative zu
ergreifen und die Fühler nach einer zivilberuflichen Zukunft
auszustrecken.
Meine damalige Freundin hatte mir sowieso erklärt, dass ihr
Lebensmittelpunkt sicher nicht mit wechselnden, Provinzstandorten in Einklang zu bringen sei und so fühlte ich
mich zunehmend verunsichert über dieses Berufsbild, zu
dem ich als ehemaliger Wehrpflichtiger und Offizieranwärter mit glühendem Idealismus gestanden hatte und bei
dem ich jetzt das Gefühl hatte, ich sei mir vielleicht zu
schade für die nun unweigerlich folgenden Jahre in der
„Schlammzone“.
Eines Tages klopfte es jedoch an meiner Stubentür und mein
Stellvertreter als Zugführer, ein altersgleicher Oberfeldwebel, und der Zugführer des III. Zuges, ein erfahrener,
66
Leutnantsbuch
„außendienstgestählter“ Hauptfeldwebel, suchten das Gespräch mit mir. Beiden fühlte ich mich kameradschaftlich
verbunden, hatten sie mir doch auf dem Übungsplatz mit Rat
und Tat zur Seite gestanden und manchen berechtigten
„Anschiss“ seitens meines Kompaniechefs abwenden
können.
Sie spürten meinen Unmut und kamen gleich zur Sache.
Auch sie hätten Erfahrung gebraucht, um als Zugführer fest
im Sattel zu sitzen. Ihrer Meinung nach hätte ich alle
Voraussetzungen, dies ebenfalls zu schaffen und sie würden
mir dabei auch weiterhin stets – und ohne Konkurrenzneid –
zur Seite stehen. Ich müsste mich allerdings auch ein
bisschen mehr bemühen mit dem „Kopf in die Truppe“
zurückzukehren.
Das habe ich dann auch getan. Ich durfte für fast zwei
weitere Jahre den I. Zug führen, und auch wenn ich danach
tatsächlich kurzzeitig als S2-Offizier eingesetzt wurde, so
denke ich heute noch gerne an die damaligen Jahre in der
Schlammzone zurück, die auch nicht mit der Funktion des
Kompaniechefs oder Bataillonskommandeurs endeten, sondern durch Einsätze und multinationale Übungsverpflichtungen nur ein anderes Gesicht bekamen.
Ich habe bis heute mit beiden Zugführer-Kameraden von
damals ein über die Jahre ungebrochen freundschaftliches
Verhältnis gepflegt. Einer ging als Oberstabsfeldwebel in
den Ruhestand und schon ist sein Sohn in der nächsten
Generation Feldwebel in „unserer“ Truppe. Der andere hat
eine Tochter, die ebenfalls als Feldwebel in die Fußstapfen
des Vaters getreten ist.
Ich habe diese Erfahrungen nicht vergessen und hätte es mir
nie verziehen, wenn ich damals die Flinte ins Korn geworfen
hätte.
67
Leutnantsbuch
Ich habe später als Kommandeur den „neuen“ Leutnanten
immer besondere Aufmerksamkeit geschenkt und bemühte
mich bei der Dienstaufsicht, gegenüber ihren Fehlern fair
und vielleicht ein bisschen nachsichtiger zu bleiben als es
ihre Kompaniechefs waren. Aber meine Leutnantsjahre
waren eben durch diese besondere Kameradschaft geprägt,
die ich als junger Offizier von meinen Zugführerkameraden
erfahren durfte. Wir waren eine echte „Kleine Kampfgemeinschaft“, die ich jedem jungen Offizier von Herzen zu
erleben wünsche.
Es ist eben noch kein Meister vom Himmel gefallen, auch
nicht bei den Fallschirmjägern!
HI
Führe und Gestalte! Höre zu!
Rat kann und muss man auch von jüngeren und
berufserfahrenen Feldwebeldienstgraden annehmen. Hierzu
muss man gesprächsbereit sein und den Mut haben, aus
Erfahrungen anderer zu lernen. Dabei darf man sich nicht
entmutigen lassen – man muss mit sich selbst stimmig sein
und darf nicht zu früh aufgeben.
Akzeptiere Dich selbst, sei selbstbestimmt und beispielhaft!
68
Leutnantsbuch
Ein schöner Tag!
D
as wird ein schöner Tag heute, Herr Leutnant“, sagte
„
der Schießbahnwärter zu mir. Das Gleiche dachte ich
auch.
Es war Mitte Juli und ich war seit gut zwei Wochen
Leutnant. Die meisten Soldaten des Bataillons waren in den
Sommerferien. So auch mein Chef, und deshalb führte ich in
seiner Abwesenheit die Einheit.
Wir waren am Anfang der Allgemeinen Grundausbildung.
Für den heutigen Tag standen Handwaffenschießen und
parallel dazu die Ausbildung auf der Hindernisbahn auf
dem Dienstplan. Wir lagen gut in der Zeit, bereits jetzt, um
09.00 Uhr, herrschte strahlender Sonnenschein und die Temperaturen waren hoch.
Als der Schießbahnwärter zu mir sagte, es wäre ein Anruf
für mich da, war ich gerade dabei, den Fahrer des ShuttleLKW zur Hindernisbahn einzuweisen. Am Telefon war der
Vertreter des S3. Er klang ziemlich aufgeregt: „Herr
Leutnant, der „Dreisterner“ hat sich ganz überraschend
angesagt. Er ist bereits mit dem Hubschrauber unterwegs.“
Der Major wollte wissen, was wir heute auf dem Dienstplan
hätten, denn der Bataillonskommandeur wolle mit dem
General zur Schießanlage und zur Hindernisbahn. Ich
erklärte ihm unsere Planung und er sagte, er würde sich
wieder melden, wenn es losginge.
Zehn Minuten später war er wieder am Telefon und fragte
nach, ob auch alles planmäßig liefe.
Wiederum zehn Minuten später war er noch einmal dran,
diesmal mit der Frage, ob wir auch ausgeschildert hätten. Ich
konnte ihn beruhigen, wir hatten an alles gedacht. Daraufhin
verblieben wir dabei, dass er sich wieder meldete, wenn der
69
Leutnantsbuch
Kommandeur mit dem General auf dem Weg sei. Dies
müsse nach seiner Berechnung noch zirka eine Stunde
dauern.
Ich wollte eben wieder nach der Ausbildung sehen, als der
Schießbahnwärter mich erneut zum Telefon rief. Diesmal
war es der Kommandeur persönlich. Bislang hatte ich
wenige Berührungspunkte mit ihm gehabt und dachte, dass
es ganz schön wichtig sein müsse, wenn er sich persönlich
meldete. Er erkundigte sich aber nur nach der Ausschilderung und fragte, ob es einen Pendelverkehr zur
Hindernisbahn gäbe. Ich konnte ihm dies bestätigen. „Dann
stellen Sie sicher, Herr Leutnant, dass das Shuttle-Fahrzeug
vor meinem Wagen herfährt, wenn ich mit dem General von
der Schießbahn dorthin verlege!“
Ich war zwar verwundert über diesen Befehl, machte mich
aber auf den Weg zum Fahrer des Shuttle-LKW, um ihn
erneut einzuweisen.
Ich wartete ziemlich lange auf den Anruf vom S3, doch dann
ging alles ganz schnell: Der Kommandeur kam mit dem
General. Ich meldete. Der General beglückwünschte mich
zur Beförderung und lobte nach seinem Gespräch mit den
Ausbildern und Rekruten die Einheit – der Kommandeur
schwitzte.
Ich gab, als der Kommandeur mit dem General ins Auto
stieg, dem Shuttle ein Zeichen und wurde nervös, als dieser
nicht losfuhr. Dann ruckelte der LKW plötzlich los, und
schoss direkt vor den Wagen des Kommandeurs. Weg waren
sie!
Nach Beendigung der Ausbildung verlegten wir zurück in
die Kaserne, wo der Spieß mir mitteilte, ich solle mich sofort
70
Leutnantsbuch
beim Kommandeur melden. Ärgerlich, dachte ich, warum ist
der Shuttle auch so knapp vor sein Auto gefahren!
Im Stab angekommen, schwitzte ich jedenfalls mehr als
morgens der Kommandeur. Was soll’s, dachte ich mir, ’rein
und melden. Der Kommandeur kam auf mich zu, schüttelte
mir strahlend die Hand und sagte: „Das war großartig, dass
es der Shuttle-LKW noch vor mein Auto geschafft hat.“ Ich
war verwundert. „Herr Leutnant, ich muss Ihnen nämlich
gestehen, ich wusste nicht, wo die Hindernisbahn liegt, und
ohne den LKW wäre das ziemlich peinlich für mich
geworden – mit dem General im Auto. Sie haben das mit
Ihrem LKW gerade noch gerettet. Vielen Dank!“
Beim Zurückgehen in die Einheit dachte ich daran, was der
Schießbahnwärter am Morgen gesagt hatte: „Das wird ein
schöner Tag!“
HI
Für mich wurde an diesem Tag klar, dass ein Vorgesetzter
auch Fehler bzw. Unkenntnis zugeben darf und sollte. Er
gewinnt so das Vertrauen seiner Untergebenen und verliert
es nicht.
71
Leutnantsbuch
Die Ehefrau
I
m Sommer 2004 verlegten mein binational gemischter
Stab und die Stabskompanie als Kern des Einsatz-Stabs
und Stabskompanie „Kabul Multinational Brigade“ nach
Afghanistan. Der Einsatz sollte sechs Monate dauern. Für
uns S6er und Fernmelder galt es, innerhalb sehr kurzer Zeit
einen Teil der vorher von den Kanadiern aufgebauten
Systeme zu übernehmen und eigene aufzubauen. Bereits in
der Vorbereitungsphase war ich verantwortlich für die
Planung des Gesamtsystems und der multinationalen Abstimmung. Über dieser unübersichtlichen und fordernden
Aufgabe ging mir der „innere Draht“ zu meiner Frau daheim
zeitweise verloren. In Kabul versank ich noch mehr in Bits
und Bytes als zuhause und so hatten wir uns am Telefon bald
nichts mehr zu sagen, bis ich von ihr die Rote Karte bekam
(„Entweder kommst Du heim und wir reden Klartext oder
ich verschwinde!“). Nur mit großen Skrupeln rang ich mich
dazu durch, hier und jetzt im denkbar unpassenden Moment
meine privaten Belange nach vorne zu stellen. Ich legte dem
Dienstältesten Deutschen Offizier (DDO) und dem zufällig
hereinkommenden Brigadekommandeur meine Lage dar und
wir einigten uns darauf, dass ich die Aufbauphase abschließen würde (noch einmal drei Wochen) und dann nach
Hause flog.
Im Gegensatz zu meinen Befürchtungen, als Schönwetterkamerad verspottet zu werden, zeigten französische
wie deutsche Vorgesetzte und Kameraden viel Verständnis
für meine Situation und meine Entscheidung.
Die S6-Abteilung bereitete mir eine Abschiedsfeier, in der
auch nicht der Ansatz von Vorwürfen des Davonlaufens zu
spüren war. Vielmehr war das Gefühl, ein zusammengeschweißter Haufen geworden zu sein, so übermächtig,
dass es mich noch einmal große Überwindung kostete, diese
72
Leutnantsbuch
Gemeinschaft zu verlassen und mich in Deutschland den
verpassten und vernachlässigten Bereichen meiner Ehe zu
stellen.
Im Rückblick meine ich, folgendes herauslesen zu können:
- Diensteid und Eheversprechen stehen manches Mal in
Konkurrenz zueinander. Wer immer nur den ersteren
gewinnen lässt, muss sich nicht wundern, dass ihm im
unpassenden Moment die „Brocken um die Ohren
fliegen“. Aufmerksamkeit und Verantwortung gegenüber der eigenen Familie – auch zuungunsten der
nächsten Stabsvorlage oder Übung haben ebenso ihre
Berechtigung und kommen indirekt auch dem
Dienstherrn zugute. Die Vereinbarkeit von Familie und
Dienst wurde nicht ohne Grund als neues Gestaltungsfeld der Inneren Führung aufgenommen.
- Kameradschaft ist für eine Armee durch nichts zu
ersetzen. Für den einzelnen ist sie aber eine zeitlich
begrenzte „Großfamilie“ und durch Versetzungen und
Dienstzeitende einem steten Wechsel unterworfen. Sie
kann daher niemals ein tragfähiger Ersatz für Ehe und
Familie sein. Diese Einsicht muss sich in unserem
eigenen Leben, in der Fürsorge und im Beurteilungsverhalten gegenüber unseren Soldaten niederschlagen, sonst werden wir unglaubwürdig.
- Die weitaus meisten Zeit- und Berufssoldaten, insbesondere mit Einsatzerfahrung, verstehen und akzeptieren dies aufgrund eigener Erfahrungen. Echte
Kameradschaft beginnt bei jedem selbst. Wer seine
eigenen Verhältnisse in Ordnung hält, kann anderen
helfen. Eine starke Gemeinschaft hilft, Belastungen
gemeinsam zu tragen, ohne davon groß zu reden.
73
Leutnantsbuch
Hochzeit in Hessen
W
ie viele andere Offiziere habe auch ich meine
zukünftige Ehefrau während des Studiums kennen
gelernt. Und wie fast alle anderen Offiziere wurde ich nach
dem Studium in München in einen kleinen Standort versetzt,
dessen Namen ich bis zu diesem Zeitpunkt bestenfalls aus
dem Verkehrsfunk kannte.
Der avisierte Zugführerdienstposten und die Gewissheit,
dass meine Freundin bald ebenfalls an den Standort ziehen
würde, ließen mich meinen Dienst in Nordhessen aber sehr
zuversichtlich antreten. Da ich mich im Bataillon schnell
sehr wohl gefühlt habe und meine Freundin als Anwältin in
der nahen Großstadt Fuß gefasst hatte, wollten wir nach
einem Jahr unser bisher größtes Privatprojekt „die Hochzeit“
angehen. Zunächst galt es zu klären, wann, wo und in
welchem Rahmen die kirchliche und die standesamtliche
Trauung stattfinden sollten. Gar nicht so einfach, wenn die
Heimatorte beider zukünftigen Ehepartner mindestens
300 km vom aktuellen Wohnort entfernt liegen. Nach
gründlichem Abwägen der Möglichkeiten haben wir uns
entschieden, die standesamtliche Hochzeit in der
Garnisonsstadt und die kirchliche Trauung in München zu
feiern.
Nach einem größeren Polterabend, an dem u.a. auch
Kameraden des Offizier- und Unteroffizierkorps des Bataillons/der Batterie teilgenommen haben, erwarteten wir
eigentlich keine große Abordnung von Soldaten am
Standesamt, zumal die Trauung an einem Freitag um zwölf
Uhr stattfinden sollte und der Anteil der Wochenendpendler
im Bataillon sehr hoch war. Um auf alle „Eventualitäten“
vorbereitet zu sein, beschlossen wir aber zur Vorsicht „eine
Extraflasche Sekt“ mit zum Standesamt zu nehmen, um im
74
Leutnantsbuch
Bedarfsfall mit einer möglichen „Minidelegation“ anstoßen
zu können.
Die Flasche schien aber überflüssig zu sein, da auf dem Weg
zum Standesamt auf dem historischen, übersichtlichen
Markplatz weit und breit kein Soldat zu sehen war. Ein
bisschen enttäuscht war ich schon, aber die bevorstehende
Zeremonie ließ keine Zeit zum Sinnieren.
Als wir nach (erfolgreicher) Trauung das Rathaus verließen,
hatte sich die Szenerie jedoch gänzlich verändert. Wie aus
dem Nichts erschienen, bildeten die Unteroffiziere der
Batterie in voller Tagesdienststärke ein Spalier, in dem so
ziemlich alles in die Luft gehalten wurde, was die Zugkeller
einer Artilleriebatterie so hergeben. Vom „Geschossansetzer
bis zur Richtlatte“. Die „Formation“ wurde vom Chef
kommandiert, der Spieß war der Zeremonienmeister und das
Offizierkorps des Bataillons die „Feiermasse“. Unglaublich
und mir bis heute rätselhaft, in welcher „gedeckten Aufstellung“ diese große Gruppe vorher „untergezogen“ war.
Nach dem Absolvieren eines Minihochzeitsparcours und
mehreren Böllerschüssen aus einem kleinen mitgeführten
Geschütz (von einem zivilen Verein) wurde auf das
bedeutende Ereignis angestoßen. Auch hier hatte der Spieß
vorgesorgt, denn mit unserer „Reserveflasche“ wäre es ein
bescheidenes Vergnügen geworden. Meine Frau, unsere
Familien, die zivilen Trauzeugen und ich waren zutiefst
beeindruckt von der umfangreichen, perfekten und streng
geheimen Vorbereitung durch die Kameraden und
insbesondere durch deren Bereitschaft, an einem Freitag
auch deutlich nach dem Dienstschluss noch mit uns zu
feiern, da der Standort wie bereits erwähnt, insbesondere aus
dem Verkehrsfunk bekannt ist.
Als frischgebackener Ehemann konnte ich dann in den
Folgejahren als Zugführer und Chef noch mehrmals an
diesem Ritual der Ehrerweisung für ein Brautpaar teil75
Leutnantsbuch
nehmen. Es war jedes Mal ein großes Vergnügen. Doch am
schönsten war die Überraschung bei der eigenen Hochzeit.
HI
76
Leutnantsbuch
Der Lebensabschnitt
J
etzt ist es genau 12 Monate her, seitdem mein neues
Leben begann. Ich kann mich noch ganz genau daran
erinnern, wie ich mich fühlte, als ich im Zug nach IdarOberstein saß. Mir war ganz schön mulmig zumute. Zwei
Wochen zuvor hatte ich noch mein Abikleid an und jetzt
sollte ich in ein paar Tagen Flecktarn tragen und die
härtesten Monate meines bisherigen Lebens erfahren. Zum
Glück saß Robin mit mir im Zug, ich habe ihn bei einem
Truppenbesuch kennengelernt. Es tat gut, dass man
zumindest einen kannte! Kaum im OA-Btl angekommen,
ging der Stress schon los. Wie der Zufall es wollte, war
Robin in meiner Gruppe. Wir lernten schnell die Bürokratie
der Bundeswehr kennen. In nur wenigen Stunden hatten wir
einen Haufen Zettel in die Hand gedrückt bekommen und
unterschrieben. Natürlich lernten wir auch unsere Stubenund Gruppenkameraden kennen. Wir waren zwei Mädels in
unserer Gruppe: Anita und ich. Wir sind in den folgenden
Wochen unzertrennlich geworden, ein perfektes BuddyTeam. Schon am nächsten Morgen um 0500 ging es los. Ich
hatte kaum geschlafen und war furchtbar aufgeregt. In den
nächsten zwei Tagen lernten wir in jeder freien Minute
marschieren, erst in Zivil, dann im Sportanzug und
schließlich in Uniform. Haben wir uns gefreut, als wir
endlich „richtige“ Soldaten waren. Schon nach drei Tagen
war unsere Vereidigung. Meine Eltern und meine Freunde
waren eigens 400 km angereist um mich bei diesem
denkwürdigen Augenblick zu begleiten! Mein Vater war
richtig geschockt, als er mich das erste Mal nach vier Tagen
Bundeswehr sah. Der wenige Schlaf und der ganze Stress
(zu diesem Zeitpunkt dachte ich doch ernsthaft, dass das
schon Stress sei…) hatten mir ganz schön zugesetzt. Aber
77
Leutnantsbuch
dennoch sind wir alle voller Stolz mit unseren blauen
Baretten ins Sportstadion einmarschiert.
Und dann, am nächsten Tag, ging es erst richtig los:
Berge kannte ich bisher nur aus dem Skiurlaub. Dort wurde
ich mit dem Lift hoch transportiert und konnte ganz
entspannt auf Skiern den Berg hinunter fahren. Bei der
Bundeswehr läuft das anders … Am Anfang habe ich bereits
die Koppeltragehilfe alleine für verdammt schwer
gehalten … Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir beim besten
Willen nicht vorstellen, wie ich mit voller Ausrüstung 15 km
in diesen Bergen marschieren sollte – das war einfach
undenkbar für mich. Aber alles lief von Woche zu Woche
besser und unsere Gruppe wuchs von Tag zu Tag enger
zusammen. Wir erkannten schnell, dass wir diese Strapazen
nur im Team überstehen konnten: Bei Anstiegen wurde ich
unauffällig mit der Schulterstütze von hinten geschoben,
dafür habe ich mich dann revanchiert, indem ich Knöpfe
annähte, am Wochenende Kuchen backte und für alle stets
ein offenes Ohr und einen guten Ratschlag hatte. Das war so
in Ordnung, weder ich noch die Jungs hatten damit ein
Problem. Nach ein paar Wochen brauchte ich diese kleinen
Hilfen dann auch nicht mehr, der ständige Sport machte sich
positiv bemerkbar. Mittlerweile sind Märsche von 20 km
Länge mit Ausrüstung kein Ding der Unmöglichkeit mehr!
Nach einem Monat stand dann das erste Biwak an. Anita und
ich teilten uns natürlich ein „Zelt“ und wir hatten unseren
eigenen Frauenwaschplatz … Das konnten wir gar nicht
verstehen. Wir wollten keine besondere Behandlung! Aber
es wurde so befohlen, also haben wir es so umgesetzt. Es
war trotzdem eine dumme Situation, wenn sich die sechs
Frauen unseres Zuges morgens an ihren separaten
Waschplatz verzogen haben. Wir fühlten uns in diesen
Momenten ausgeschlossen.
78
Leutnantsbuch
Aber einen entscheidenden Vorteil hatten wir Frauen: Wir
waren kleiner und mussten dementsprechend nicht so tiefe
Kampfstände graben. Es ist ein großer Unterschied, ob die
Stellung 1,80 m oder 1,60 m tief sein muss!
Während dieser sechs Monate bin ich fast wöchentlich an
meine Grenzen gestoßen, habe feststellen müssen, was der
Körper macht, wenn man völlig übermüdet ist, habe das
Gefühl kennengelernt, wenn man im Stehen einschläft und
dass ein Stuhl doch etwas ganz Besonderes sein kann. Selbst
Kleinigkeiten erhielten da eine besondere Bedeutung: Zum
Beispiel in Ruhe eine Mahlzeit zu sich zu nehmen oder
einmal bis acht Uhr ausschlafen zu können. Zwischendurch
habe ich mich oft gefragt, ob ich das körperlich durchhalte,
aber ich habe gekämpft und ich habe durchgehalten! Im
Nachhinein war es gar nicht so schlimm, in manchen
Momenten vermisst man diese Zeit sogar (wenn man
beispielsweise an der OSH in der 10. Unterrichtsstunde
sitzt). Ich habe in diesen sechs Monaten eine unglaubliche
Kameradschaft kennengelernt und möchte nicht einen Tag
aus dieser Zeit missen.
Nach dem OAL 1 folgten für mich die Sprachenschule und
dann das Truppenkommando. Uns wurde im OAL immer
nur gesagt, dass die Kombination „Obergefreiter, OA und
weiblich“ in der Truppe ganz fatal sein kann … Na super!
Aber auch diese drei Monate verliefen prima. Man sollte
nicht immer alles glauben, was die Ausbilder sagen: Vieles
ist einfach nur „Psycho-Stress“! Die Rekruten haben mich
als ihre Ausbilderin voll und ganz akzeptiert und auch die
Zugsoldaten haben nach einer Woche festgestellt, dass viele
Dinge eben einfach nur Klischees sind!
Zurzeit befinde ich mich an der OSH und bewältige neue
Herausforderungen. Aber auch die haben es in sich! Wenn
alles gut läuft, geht es im Oktober an die Uni nach Hamburg.
Das wird bestimmt auch noch einmal eine tolle Zeit!
79
Leutnantsbuch
Ich habe meine Entscheidung, zur Bundeswehr zu gehen,
bisher keinen Tag bereut. Ich stehe jeden Morgen auf und
freue mich auf den kommenden Tag! Ich genieße die Zeit.
Einfach ist diese Ausbildung nicht, aber sie bereitet mir
Freude und macht mich auch stolz, dass ich durchgehalten
und gekämpft habe.
HI
80
Leutnantsbuch
Der Pizza-Falter
E
s ist Anreisetag an der OSH. Drei Monate lang werden
wir Offizieranwärter fast ausschließlich nur den
Dienstanzug tragen. Jeden Morgen Krawatte binden und
unbequeme Hemden tragen. Das ist eine ganz schöne
Umstellung, verglichen mit dem OAL, aber es gehört dazu!
Wir wollen schließlich Offizier werden (wer kennt diesen
Spruch nicht!?). In dieser Uniform bewegt man sich ganz
anders, man stampft nicht so wie in den Kampfstiefeln und
in dieser Uniform muss man sich auch einfach anders
verhalten. Jetzt tragen wir keinen Flecktarn-Anzug, den man
„ersatzweise als Serviette“ verwenden kann. Auf dem
Dienstanzug sieht man jeden Flecken!
Ich trage gerne den Dienstanzug, er repräsentiert die
Bundeswehr in einer anderen Art und Weise als der
Kampfanzug. Die Dienstjacke sieht schon fast edel aus, dazu
gehört dann auch das richtige Verhalten!
Aber das haben einige wohl in den letzten Monaten in
Flecktarn verlernt: Es war unser erster Abend, wir wollten
alle gemeinsam im großen Speisesaal essen und standen nun
hungrig in der Schlange an. Wir trugen alle den
Dienstanzug, und es gab Pizza. Eigentlich kein Problem!
Als ich dann mit meinem Tablett am Tisch saß, wollte ich
meinen Augen nicht trauen. Mein Gegenüber –
Offizieranwärter wie ich auch – begann vor uns allen seine
Pizza zu falten und sich diese genussvoll mit den Händen in
den Mund zu stopfen …!! Das konnte ich nicht verstehen!
Man muss doch eine gewisse Vorstellung von Stil und Form
haben!!! Ich erwartete nur noch, dass ihm die Tomatensoße
auf’s Hemd tropft!
Aber er hatte mehr Glück als Sinn für angebrachtes
Verhalten – sein Anzug blieb fleckenfrei!
81
Leutnantsbuch
Zeitsprung: Seit August tragen wir an der OSH wieder
meistens den Flecktarn-Anzug. Schade eigentlich, im
Dienstanzug kann man einfach besser Stil und Form
praktizieren. Ich hätte an der OSH den Dienstanzug gerne
ständig getragen. Außerdem sieht man dann, wer in Stil und
Form noch eindeutigen Nachholbedarf hat – so wie mein
Kamerad „Pizza-Falter“.
HI
Stil und Form sind Bestandteil des gesellschaftlichen wie
auch kameradschaftlichen Miteinanders und Ausdruck
kultureller Bildung. Dies gilt unabhängig davon, welchen
Anzug wir tragen, ob wir bei Tisch sitzen oder etwas anderes
in Gemeinschaft verrichten. Stil und Form wahrt man
letztlich auch, wenn man alleine ist. Das Themenfeld „Stil
und Form“ ist Bestandteil der Offizierausbildung. Hilfreiche
Hinweise und Empfehlungen, auch für das Verhalten im
internationalen Umfeld, enthält die gleichnamige Broschüre
der OSH. Diese gilt es zu lesen und vor allem: zu leben.
Diese sollte nicht nur aufmerksam gelesen, sondern auch
beherzigt und anderen vorgelebt werden.
82
Leutnantsbuch
Die Feldjägerkontrolle
V
or einigen Wochen trat ich meinen Dienst im
Feldjägerdienstkommando an. Bis in die Haarspitzen
motiviert und bereit für große Taten. Schnell merkte ich
jedoch, dass die großen Taten erstmal warten mussten.
Zunächst einmal hieß es, den Zug zu übernehmen und in der
neuen Umgebung klar zu kommen. Klar zu kommen hieß für
mich, in der komplexen Welt der Feldjägerei mit all ihren
Facetten zu jeder Zeit an jedem Ort „aus der Hüfte heraus“
auf jede noch so ins Detail gehende Fachfrage richtig und
umfassend Auskunft geben zu können. Der Offizier, der sich
hier „nur“ als Führer ohne eigenes handwerkliches Können
versteht, würde früher oder später untergehen. Also machte
ich mir selbst zur Auflage, mir den Respekt des unterstellten
Bereiches nicht über meine „Sterne“, sondern über meine
Kompetenz zu erarbeiten – ohne mich dabei anzubiedern.
Eines Tages führte mich meine Dienstaufsicht zu meiner
Schichtgruppe D, die eine Kraftfahrzeugkontrolle vorbereitet
hatte. Als ich an der Kontrollstelle eintraf, wurde mir
ordnungsgemäß gemeldet, anschließend wurde ich eingewiesen. Kaum war die Einweisung abgeschlossen, fuhr ein
Soldat aus Richtung der angrenzenden Kaserne mit einem
Dienstkraftfahrzeug unaufgefordert in die Kontrollstelle ein.
Sofort war klar: Der Mann hat ein Problem. Wild
gestikulierend stieg er aus und fing sofort an zu schimpfen:
„Wer hat Euch erlaubt, meine Fahrzeuge zu kontrollieren?“
Der Mann war Oberstleutnant.
Blitzartig schoss mir die in der Ausbildung vermittelte
„V.I.R.-Regel“ (Verständnis, Interesse, Regelung) in den
Kopf. Der Soldat war im Rang deutlich über mir und doch
war ich ihm fachlich vorgesetzt. Die Blicke meiner Feldjäger
83
Leutnantsbuch
sprachen Bände: „Herr Leutnant, Sie sind dran!“ Nicht weil
meine Feldjäger nicht in der Lage gewesen wären, die Lage
zu bereinigen, sondern weil sie mir sonst meine Autorität
untergraben und die Gelegenheit genommen hätten, die
Situation selbst zu bereinigen. Die Lage war klar: Ich war
gefordert.
Wen hatte ich da überhaupt vor mir?
Worin war sein Verhalten begründet?
Hat er bewusst oder unbewusst ausgeblendet, dass wir in
diesem Aufgabenbereich seine Vorgesetzten waren?
Wie konnte ich die Lage klären, ohne dass dabei jemand sein
Gesicht verlor?
Der Oberstleutnant hatte mich gar nicht als ranghöchsten
Feldjäger erkannt. Für ihn waren wir alle Feldjäger und er
wandte sich an den nächsten Feldwebeldienstgrad. „Herr
Oberstleutnant!“, sagte ich, „ich habe zwar noch keine
Ahnung, was Sie so auf die Palme bringt, aber ich
verspreche Ihnen, wir werden das Problem gemeinsam
lösen.“ Ich bat ihn höflich zur Seite, um alleine mit ihm zu
sprechen. Der Oberstleutnant ging, wenn auch widerwillig,
darauf ein:
„Is´ doch Unsinn, was Ihr hier veranstaltet, meine Fahrzeuge
hier vor der Kaserne abzufischen!“
„Herr Oberstleutnant! Ich bin Leutnant G. vom Feldjägerdienstkommando. Darf ich fragen, wer Sie sind?“
„Ich bin der Technische Stabsoffizier des Bataillons, dessen
Fahrzeuge Sie hier die ganze Zeit `rausziehen … und wir
kommen zu nichts mehr.“
Jetzt wurde mir natürlich einiges klar. Ich zeigte ihm trotz
seiner Einwände mein Verständnis, um ihn zu besänftigen.
Als ich ihm schließlich mitteilte, dass die Kontrolle gar auf
ausdrücklichen Wunsch und in Absprache mit dem
84
Leutnantsbuch
Kasernenkommandanten stattfand, war die Gesprächsbasis
sogleich eine andere. Es war dem gestandenen Stabsoffizier
offensichtlich unangenehm, denn er hatte nun begriffen, dass
sein Verhalten unangemessen war. Hinzu kam die Tatsache,
dass er keine Kenntnis von der Anforderung des Kasernenkommandanten hatte. Das Gespräch nahm eine versöhnliche Wendung.
„Von welchem Kommando kommen Sie noch mal? Oh, da
müssen Sie aber weit anreisen, um die Kontrolle zu
machen.“ Wir bewegten uns langsam auf meine Kameraden
zu, die bereits voller Erwartung waren, wie sich die Lage
weiterentwickeln würde. Plötzlich zog der Technische
Offizier seine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche und
bot allen eine „Kippe“ an. Deutlicher konnte ein unausgesprochenes Friedensangebot nicht sein. Nach einer
gemeinsamen Zigarette verabschiedete sich der Oberstleutnant mit einem freundlichen „Nix für ungut!“ und fuhr in
die Kaserne zurück; und zwar ohne sein Gesicht zu
verlieren. Als er außer Sichtweite war, erntete ich von
„meinen“ Feldjägern anerkennende Blicke. Gesprochen
wurde über den Vorfall nicht mehr.
HI
Zeige Zivilcourage gegenüber Vorgesetzten und finde dabei
den richtigen Ton!
Auch Vorgesetzte können Fehler begehen oder in einer
Sache irren. Kameradschaft und Verantwortungsbewusstsein
erfordern dann, Sie auf Ihr Fehlverhalten oder auf Ihren
Irrtum in der gebotenen Form hinzuweisen. Gute
Vorgesetzte werden dafür dankbar sein.
85
Leutnantsbuch
Ein Auftrag zu viel
W
ir machen das, Herr Oberst!“, sagte Hauptmann S.,
„
seit einem halben Jahr Chef der Stabsstaffel. Seine
Einheit hatte schon viele Vorhaben für den Verband
umgesetzt.
Ob Übungsplatz, Einsatzvorbereitung, Sportfest oder Abstellungen für andere Verbände, stets war es die Stabsstaffel, die die Verantwortung übernahm. Hauptmann S.
wollte seine Staffel zur wichtigsten Stütze des Regiments
machen. Doch er ahnte schon, was die anderen Chefs denken
würden: Dass er sich beweisen müsse, dass er unbedingt
Berufssoldat werden wolle und alles dafür unternehmen
würde, um dieses Ziel zu erreichen, oder dass er einfach
nicht nein sagen konnte. Darauf gab er nichts. Er wusste,
dass ihm sein Kommandeur dankbar war für das, was seine
Soldaten und er leisteten. Jeder neue Auftrag war auch eine
neue Chance zu zeigen, wie leistungsfähig die Stabsstaffel
war.
Auf dem Weg zur Staffel überkamen den Chef dann die
ersten Zweifel. Was werden meine Zugführer sagen?
Können wir das überhaupt noch leisten? Wie lange stehen
die Frauen und Männer noch hinter mir? Er wusste, dass
seine Zweifel nicht unberechtigt waren. Häufig kamen die
Zugführer in der letzten Zeit auf ihn zu, sprach der
Kompaniefeldwebel mit ihm und zeigte auf, dass die
Belastung schon jetzt fast zu hoch war.
Er betonte, dass die Stabsstaffel nicht jeden Auftrag
übernehmen könne und auch nicht übernehmen bräuchte.
Was würden die Vertrauenspersonen sagen, wenn er wieder
über eine Urlaubssperre nachdenken müsste. Wie würden
seine Soldaten reagieren, wenn er den neuen Auftrag das
erste Mal erwähnen würde, der wieder einmal alle Kräfte
86
Leutnantsbuch
seiner Einheit binden würde? Langsam wurde er skeptisch,
aber gespannt zugleich.
Noch zehn Minuten bis zur Besprechung. Die Zugführer und
der Kompaniefeldwebel waren schon da. „Mal sehen, was
wir diesmal wieder für Aufträge erhalten.“ „Ich bin auch
gespannt, um was sich der Chef schon wieder gerissen hat?“
„Lange können wir das nicht mehr durchhalten.“ Hauptmann
S. betrat den Raum.
Kurze Meldung. Alle nahmen Platz. Seit einiger Zeit spürte
er, dass die Stimmung anders war als bei den ersten
Besprechungen, die er nach seiner Übernahme durchgeführt
hatte. Er ahnte, dass sich die Zugführer in der gleichen
Situation befanden wie er gegenüber dem Regimentskommandeur. Auch sie würden nachher in ihre Bereiche gehen
und mit großen Erwartungen konfrontiert. Nur, dass sie nicht
hatten „nein“ sagen können.
„Die Unterstützung für die Brigadeübung wird im
Wesentlichen von uns zu erbringen sein. Unsere Staffel wird
im nächsten Monat mit rund sechzig Soldaten für drei
Wochen an der Übung teilnehmen und diese unterstützen“,
sagte Hauptmann S. Stille füllte den Raum. Die ersten
Augen rollten. Es war zu spüren, wie alle in sich gekehrt
waren und keiner die Frage aussprechen wollte, wie das
noch zu leisten sein sollte.
In der folgenden Nacht fand Hauptmann S. keine Ruhe. Zu
viele Gedanken beschäftigten ihn. Er sah die Besprechung
wieder vor seinen Augen auftauchen. Die Einwände seiner
Zugführer klangen durch den Raum. Er hörte sie erneut und
ging ihnen nach. Hatten seine Soldaten doch Recht? Waren
ihre Einwände nicht doch berechtigt?
Der nächste Morgen. Er hatte eine Entscheidung getroffen.
Sein Weg führte diesmal nicht zuerst zur Staffel, sondern
87
Leutnantsbuch
zum Stabsgebäude. Der Kommandeur war schon da.
Hauptmann S. spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen
begann, wie sein Atmen schwerer wurde. Der Treppenaufstieg kam ihm beschwerlich vor. Er hatte sich die Worte
zurecht gelegt. Kurze Meldung beim Kommandeur. Die Tür
schlug sanft ins Schloss.
Es ist nichts falsch daran, wenn ein Soldat seinem
Vorgesetzen meldet, dass er einen Auftrag nicht ausführen
könne. Falsch wäre es vielmehr, einen Auftrag anzunehmen,
obwohl aufgrund der eigenen Lagebeurteilung bekannt ist,
dass der Auftrag nicht ausgeführt werden kann. Der
Gesamtauftrag erfordert eine richtige Lagefeststellung und
die anschließende Bewertung, ob die eigenen Kräfte und
Mittel auch ausreichen. Falscher Stolz, die Fehleinschätzung
der eigenen Leistungsfähigkeit und eine Überforderung der
eigenen Soldaten schaden mehr als sie nützen.
Seinem Kommandeur meldete Hauptmann S. am nächsten
Morgen daher zutreffend: „Wir können das nicht leisten!“
Dafür erntete er kein Lob, aber sein Kommandeur verlor
auch nicht die Fassung. Jeder wusste, dass kein Unwille
dahinter stand, sondern dass die gesamte Auftragserfüllung
gefährdet war, hätte die Stabsstaffel diesen Auftrag auch
noch übernommen. In dieser Situation hatte der Chef mehr
Stärke bewiesen als er dachte. Seine Frauen und Männer
haben es ihm gedankt und werden beim nächsten Mal umso
begeisterter sein, wenn die Stabsstaffel die Flagge des
Regiments wieder hoch halten kann.
HI
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Leutnantsbuch
Zeige Persönlichkeit!
Stehe für das ein, wovon Du überzeugt bist. Erkenne die
Belastungen der Truppe, behalte sie im Auge und überfordere nicht! Höre auf Deine Soldaten, erkenne auch
„Zwischentöne“ und handle rechtzeitig!
89
Leutnantsbuch
Offizieranwärter Frank
Der Abend
D
ie Ordonanz betritt den Raum und plötzlich ist es ganz
ruhig. In den letzten Stunden haben wir angeregt den
Erzählungen zugehört, über sie diskutiert oder einfach auch
nur geschmunzelt. Jetzt sagt die Ordonanz: „Meine Herren,
darf ich Ihnen noch etwas zu trinken bringen? Normalerweise schließen wir in 30 Minuten – aber wenn Sie
noch länger bleiben möchten – kein Problem.“
Hauptmann Seidel blickt in die Runde. Wir schauen uns alle
etwas ratlos an. „Also, wenn Sie mich fragen“, sagt
Oberstleutnant Stokiwsky, „wird es Zeit, zu Bett zu gehen.“
Wieder verstohlene Blicke zwischen uns und fragende
Blicke zwischen uns und Hauptmann Seidel, der dann sagt:
„Ich glaube, wir haben alle ein paar Stunden Schlaf verdient!
Ich nehme an, Sie sind einverstanden, wenn wir für heute
Schluss machen. Wir können uns ja jederzeit noch einmal
zusammensetzen.“
Wir sind einverstanden.
„Aber eines möchte ich noch anfügen“, sagt Hauptmann
Seidel. „Morgen Vormittag vor der Formalausbildung sind
noch zwei Stunden Verfügungszeit für mich als Fähnrichoffizier angesetzt. Ich biete Ihnen an, das vorhin auf
den Bierdeckeln Erläuterte noch ein wenig zu vertiefen. Ein
paar Details hätte ich da noch – ohne Sie langweilen zu
wollen.“
Ich antworte sofort: „Ja, ich würde da schon gerne noch ein
paar Zusatzinformationen bekommen. Und keine Angst Herr
90
Leutnantsbuch
Hauptmann, Sie langweilen uns bestimmt nicht! Oder seht
Ihr das anders?“
Nachdem kein Widerspruch von den anderen kommt, sagt
Hauptmann Seidel: „Gut, dann sehen wir uns morgen früh
im Kompaniebesprechungsraum zu einer kurzen Runde.“
Wir stehen auf, verabschieden uns, zahlen unsere Rechnung
und gehen gemeinsam zu unseren Unterkünften. Wir sind
nachdenklich geworden.
91
Leutnantsbuch
Offizieranwärter Frank
Selbstbestimmtheit
G
uten Morgen, Kameraden!“, sagte Hauptmann Seidel.
„
„Guten Morgen, Herr Hauptmann!“, antworteten wir.
Wir sitzen im Kompaniegebäude der 3. Kompanie im
Kompaniebesprechungsraum. Eine völlig andere Atmosphäre als gestern Abend im Offizierheim. Es war ein
schöner und interessanter Abend. Ich hatte mich gestern
noch kurz mit Annette, Peter, Markus, Jonas, Marcel und
Cindy unterhalten. Wir waren einer Meinung. Die
verschiedenen Ausführungen und Erzählungen haben uns
gefesselt. Manches war zwar „schwere Kost“, aber es hat
sich gelohnt, mit den „Alten“ über das Berufsbild des
Offiziers zu sprechen.
Heute will Hauptmann Seidel uns noch ein paar Hintergrundinformationen zu den Begriffen Selbstbestimmtheit
und Erfolgsfaktoren mitgeben. Wir sind gespannt.
„Ich hatte Ihnen gestern ja schon „angedroht“, dass ich
Ihnen heute noch einige meiner Überlegungen zu unserem
Berufsbild mit auf den Weg geben möchte. Die Begriffe
Selbstbestimmtheit und Erfolgsfaktoren kennen Sie ja schon.
Ich reiche unseren Bierdeckel noch einmal herum – Sie
erinnern sich. Beide Bereiche sind von zentraler Bedeutung
für die Führungskunst.“
Der Bierdeckel macht seine Runde. Wir erinnern uns. Cindy
flüstert: „Wir sollten uns das Modell abmalen. Können wir
sicher noch einmal gut gebrauchen.“
92
Leutnantsbuch
„In zwei Stunden haben Sie Formalausbildung. Ich denke,
Sie werden noch ein bisschen Zeit brauchen, um sich auf
Ihre Funktion als Hilfsausbilder vorzubereiten. Deshalb
fange ich gleich mit dem Begriff Selbstbestimmtheit an.
Ich habe sechs Aufforderungen zusammengestellt, die den
Begriff der Selbstbestimmtheit beschreiben. Sie ist einer der
beiden Schlüssel zur Führungskunst. Gleichzeitig eröffnen
die Anforderungen auch eine Möglichkeit zur Selbstreflexion und eigenen Positionsbestimmung. Für mich
persönlich ist es sehr wichtig, über mich selbst nachzudenken, an mir zu arbeiten, um mich weiterzuentwickeln.
Hier heißt meine Devise: Wer sich nicht verändert, wird
stehen bleiben, steht in der Gefahr zu scheitern und wird
letztendlich auch keine Zufriedenheit im Leben finden. Aber
genau darum geht es im Leben. Doch dazu später mehr.
1. Gehöre Dir selbst!
In der ersten Aufforderung geht es darum, sich bewusst zu
werden, dass Sie selbst die Verantwortung für Ihr Leben
tragen. Das bedeutet, nur derjenige, der sich selbst gehört
und über sein Leben entscheidet, ist fähig andere zu führen.
Für mich bringe ich das so auf den Punkt: Ich versuche, eine
eigenständige, eigenverantwortliche und selbstbestimmte
Persönlichkeit zu sein und nehme auf Inhalt, Form und
Richtung meines Lebens Einfluss.
Es wird aber auch deutlich, dass die Gestaltung des eigenen
Lebens ein aktiver Prozess ist. Das ist nicht jedem Menschen
bewusst und die meisten planen ihren Jahresurlaub besser als
ihr eigenes Leben. Ich jedenfalls freue mich, wenn ich
wieder eine Entscheidung für mein Leben bewusst gefällt
oder ein Ziel erreicht habe. Dann spüre ich, dass ich wirklich
lebe, mein Leben nutze und mir selbst gehöre.
93
Leutnantsbuch
2. Nimm Dich wahr!
Nimm Dich so wahr, wie du wirklich bist. Wer dieser
Aufforderung folgen will, braucht Mut, Ehrlichkeit,
selbstkritische Distanz und den Willen zur Objektivität sich
selbst gegenüber. Einzugestehen, dass man eine bestimmte
Fähigkeit nicht hat oder in nicht ausreichendem Maße, fällt
uns oft sehr schwer. Aber ich bin mir sicher, dass man an
dieser Aufgabe wächst und ein Profil gewinnt. Gute
Menschenführer sind authentisch, haben ein ausgeprägtes
Profil, geben auch Schwächen und Fehler zu. Schwächen
darf man haben, sie sollten nur das eigene Leben nicht
bestimmen. Erfolgreiche Menschenführer haben aber auch
klare Vorstellungen von den Dingen, die ihnen wichtig sind,
setzen somit Schwerpunkte und besitzen ein Gespür für das,
was richtig oder falsch ist.
3. Zeige Persönlichkeit!
Ihre besondere Aufgabe als Vorgesetzter besteht darin,
Führer, Erzieher und Ausbilder Ihrer Soldaten zu sein. Die
Motivation des Soldaten, sich für eine Sache einzusetzen
und zu begeistern, ja zu kämpfen und unter allen denkbaren
Bedingungen des Einsatzes optimale Leistungen zu
erbringen, hängt entscheidend davon ab, wie er behandelt
wird, wie er sich selbst in der Gruppe erlebt, wie seine
persönlichen Bindungen sind. Wichtig ist für ihn, in
welchem Maße er den Vorgesetzten als Mensch und Vorbild
erlebt und wie seine emotionalen und sozialen Bedürfnisse
befriedigt werden. Wie er geachtet und respektiert wird. Die
meisten Soldaten kämpfen im Krieg nicht in erster Linie für
hehre Ideale, sondern für die kleine Kampfgemeinschaft und
ihren nächsten Vorgesetzten!
94
Leutnantsbuch
Es ist ganz offensichtlich, dass nicht jeder zum Vorgesetzten
und militärischen Führer geeignet ist. Wodurch zeichnet sich
ein vorbildlicher Vorgesetzter aus?
Der Schlüssel zum Erfolg als Vorgesetzter und Führer liegt
in Ihrer gereiften und gefestigten Persönlichkeit, in Ihrer
menschlichen Stabilität und Unbescholtenheit. Beispielhafte
Führerpersönlichkeiten schaffen ein Verhältnis gegenseitigen Vertrauens zu ihren Soldaten, indem sie das
Gespräch mit ihnen pflegen, ihre Ideen und Auffassungen
anerkennen und sie – wo möglich – in den militärischen
Alltag mit einbeziehen. Sie berücksichtigen die Bedürfnisse
und Gefühle ihrer Soldaten und fördern ihre Fähigkeit zur
Selbstständigkeit, Mitwirkung und Mitverantwortung.
Die besondere Ausstrahlung, das so genannte Charisma des
militärischen Führers, das unmittelbar mit dem Kern seiner
Persönlichkeit verknüpft ist, beruht stets auf überzeugendem
fachlichen Können, Selbstbewusstsein, Charakterstärke,
Intuition, Einstellungsfähigkeit auf schnell wechselnde
Situationen, persönlicher Unabhängigkeit sowie auf Einfühlungsvermögen und einem ausgeprägten Normen- und
Wertebewusstsein. Mit solchen Vorgesetzten identifizieren
sich Untergebene bereitwillig, ihnen vertrauen sie, ihnen
leisten sie Gefolgschaft. Für solche Vorgesetzten sind sie
letztlich auch bereit zu kämpfen und ihr Leben einzusetzen.
Übrigens ist mein Kommandeur nach meiner Meinung ein
solcher Führer. Mit ihm würde ich jederzeit an jedem Ort in
den Einsatz gehen.
Weil von meiner Persönlichkeit viel abhängt, muss ich
wissen, wer ich bin, welche Stärken und Schwächen ich
habe und wie ich damit umgehe. Nichts gefährdet die
95
Leutnantsbuch
Führung von Soldaten mehr als persönliche Unsicherheit,
Entscheidungsschwäche oder Forderungen, die ich an andere
stelle und selbst nicht erfüllen will oder kann.
Lassen Sie mich die vier Persönlichkeitstypen kurz beschreiben, die mir bisher begegnet sind:
-
Entscheider haben ihre Ziele klar vor Augen und wissen
genau, wie sie diese erreichen. Unentschlossen zu
wirken, halten sie für eine Schwäche, gleiches gilt bei
Zögern oder Zaudern. Sie entscheiden lieber falsch, als
zu lange zu warten. Sie gehen mit anderen Menschen
nicht gerade zimperlich um und nehmen auf Empfindlichkeiten wenig Rücksicht. Macher lieben Herausforderungen und setzen sich und anderen strenge Maßstäbe. Niemand sollte ihren Führungsanspruch in Frage
stellen.
-
Stimmungsmacher sind eloquent und lieben es, unter
vielen Menschen zu sein. Ein großer Bekanntenkreis ist
ihnen wichtig, und sie kommen mit Fremden schnell ins
Gespräch. Oftmals sind sie auch kreativ, lassen sich
gerne von neuen Dingen anregen und haben selbst viele
Ideen, setzen aber die wenigsten um.
-
Beständige sind Menschen, auf die man sich absolut
verlassen kann. Sie sind vorsichtig, mit wem sie
Freundschaft schließen. Nur wenn andere auch an echter
Freundschaft interessiert sind, kommen sie zusammen.
Daher haben sie einen kleinen Bekanntenkreis mit engen
Freunden. Das Familienleben lieben sie. Sie sind die
geborenen Teamplayer und können sich hervorragend
auf andere einstellen, nehmen Rücksicht und sind bereit
96
Leutnantsbuch
ihre eigenen Interessen unterzuordnen. Für alles, was sie
tun, brauchen sie Zeit und Ruhe.
-
Analytiker nehmen sich viel Zeit. Sie durchdenken ein
Problem bis ins letzte Detail und suchen die perfekte
Lösung. An Kontakten mit anderen sind sie nicht
sonderlich interessiert. Sie wirken sehr distanziert.
Freundschaften halten aber bei ihnen ein Leben lang. Sie
brauchen für alles einen Plan, eine Struktur und
genügend Zeit. Spontaneität ist nicht ihre Sache.
Grundsätzlich glaube ich, dass kein Persönlichkeitstyp in
„Reinkultur“ vorkommt, sondern immer auch Eigenschaften
anderer Typen in sich vereinigt. Wichtig ist es, diese
unterschiedlichen Faktoren der Persönlichkeit in sich selbst
und in den verschiedenen Lebenslagen zu erkennen sowie zu
lernen, damit umzugehen. Nur dann kann man sein Potenzial
angemessen entwickeln und wirkungsvoll nutzen.
Jeder Mensch wird durch einen Persönlichkeitstyp besonders
geprägt. Aber erst das Vorhandensein anderer Eigenschaften
und deren bewusste und situationsgerechte Nutzung führen
zu einer ausgeglichenen Persönlichkeit, der man gerne folgt.
Ich habe lange über Werte nachgedacht. Gar nicht so
einfach. Aber ein paar grundlegende Ideen habe ich schon
entwickelt.
Genauso wichtig wie das Erkennen der eigenen Persönlichkeit ist ein gemeinsames oder ähnliches Grundverständnis vom Zusammenleben und menschlichem Miteinander. In
diesem Zusammenhang kommt den Werten, die man
verinnerlicht hat und für die man „einsteht“, eine besondere
Bedeutung zu. Hier liegt die Grundlage für ein – ich nenne
es – werteorientiertes Führen.
97
Leutnantsbuch
Was sind denn jetzt eigentlich Werte? Werte sind für mich
Vorstellungen und Überzeugungen, die ein menschliches
und zivilisiertes Zusammenleben beschreiben und allgemein
oder zumindest von vielen in einer Gesellschaft als wertvoll
und wünschenswert anerkannt sind. Ziel ist, dass ein
menschliches Leben in Gemeinschaft glücken und gelingen
kann. Werte sind somit Zielvorgaben, die es wert sind,
verfolgt zu werden und für sie auch Risiken in Kauf
zunehmen. Neben allgemein gültigen Werten gibt es noch
individuelle Werte, die je nach Persönlichkeitstyp und
Lebensalter unterschiedlich sind oder unterschiedliche
Bedeutung oder Gewichtung haben.
Es ist für mich als Offizier sehr wichtig, mich mit Werten
auseinander zu setzen. Sie liefern mir Motivation und
Fundament für meine Tätigkeit als Führer, Ausbilder und
Erzieher meiner Soldaten und können mir helfen, schwierige
Lagen im Einsatz besser zu bewältigen und in Extremsituationen oder Grenzfällen zu bestehen.
Werte spielen im Selbstverständnis und Handeln des
Soldaten eine herausgehobene Rolle. Auf der Grundlage von
Werten, wie sie in der christlich abendländischen und
humanistischen Kultur entwickelt wurden, rechtfertigt sich
mein Einsatz als Soldat. Wir sind ihnen verpflichtet, wir
treten für sie ein und richten unser Handeln nach ihnen aus.
Das haben Sie sicher in dieser oder in einer ähnlichen Form
schon einmal gehört. Ich will Sie auch nicht langweilen,
denke aber, dass man sich immer wieder einmal bewusst
machen muss, aus welchem Kulturkreis man kommt und wie
sich dieser entwickelt hat. War von Ihnen schon einmal
jemand im Museum der Deutschen Geschichte in Berlin?“,
fragt Hauptmann Seidel.
98
Leutnantsbuch
Aus unserem geistigen Höhenflug herausgerissen, schauen
wir uns an. Offensichtlich war ich der einzige, der schon
einmal dort war.
„Ja, ich, Herr Hauptmann“, sage ich und ergänze: „Ein sehr
interessantes Museum über die Deutsche Geschichte, aber
man braucht viel Zeit. Wenn man erst `mal „durch“ ist,
bekommt man schon eine ganz gute Vorstellung von unserer
Kultur – und wie wir hier in Europa in eine Jahrtausende alte
Zivilisation eingebettet sind.“
Hauptmann Seidel pflichtet mir bei: „Sie sagen es! Ich kann
nur empfehlen, dieses Museum zu besuchen, wenn Sie ’mal
in Berlin sind. Aber noch einmal zurück zu den Werten.
Ich habe für mich ganz persönlich einmal meine Werte
zusammengefasst. Also wertvolle Dinge in meinem Leben,
die erstrebenswerte Vorstellungen von einem friedlichen
Zusammenleben und einem eigenen zufriedenen und
erfüllten Leben beschreiben. Sie sind einerseits allgemeingültige, andererseits individuelle Werte. Die allgemeingültigen Werte Recht, Freiheit und Sicherheit bilden damit
eine gesellschaftliche Norm. Die individuellen Werte
werden von vielen Offizieren mitgetragen.
Recht beinhaltet die Bindung der Gesetzgebung an die
verfassungsmäßige Ordnung, die Bindung der vollziehenden
Gewalt und der Rechtsprechung an Recht und Gesetz,
Gewaltenteilung, Garantie der Grundrechte, den Rechtsschutz und die Unabhängigkeit der Gerichte.
Freiheit umfasst die Grundrechte in einer Demokratie wie
freie Entfaltung der Persönlichkeit, Glaubens- und
Bekenntnisfreiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung,
Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Solidarität,
99
Leutnantsbuch
Freizügigkeit, Freiheit der Berufswahl, um nur einige zu
nennen.
Sicherheit steht für Frieden und Schutz der physischen und
psychischen Unversehrtheit des Menschen. Also auch für die
unantastbare Würde eines jeden Menschen sowie die Summe
der Grund- und Menschenrechte, auf die man selbst nicht
verzichten kann. Dies bedeutet, nicht gewalttätig gegenüber
sich selbst und anderen zu sein, keinem anderen Schaden
zuzufügen, niemanden zur Gewalt zu verleiten und keine
Gewalt zu verherrlichen.
Balance im Leben zu halten, bedeutet, ein ausgewogenes
Leben zwischen den beruflichen und privaten Tätigkeiten zu
führen und auf die Bedürfnisse der Familie, das eigene
Wohlbefinden und sein Selbst zu achten. Eine Balance
besteht auch in einem regelmäßigen Wechsel zwischen
Aktivität und Ruhe sowie zwischen Alleinsein und
Gesellschaft.
Familie und soziale Kontakte innerhalb einer Gemeinschaft
sind Keimzelle und Kernpunkte menschlichen und
staatlichen Zusammenlebens.
Nächstenliebe, soziales und kulturelles Engagement und
ehrenamtliche Tätigkeiten halten eine Gesellschaft zusammen, machen sie lebenswert, stiften Sinn und festigen
ein gemeinsames Wertgefüge.
Wohlbefinden ist als Grundlage zur Bewältigung psychischer und physischer Belastungen erforderlich und macht
das Leben lebenswert.
100
Leutnantsbuch
Persönlichen Raum zu haben, bietet die Möglichkeit, frei zu
atmen und sich wohl fühlen zu können. Genügend Zeit für
sich selber zu finden ist lebensnotwendig. Stille, in die man
sich zurückziehen kann, um die notwendige Distanz und
Gelassenheit zu erhalten oder zurückgewinnen zu können.
Naturverständnis und Umweltbewusstsein meint, die
Schöpfung mit allen Sinnen zu erfahren und als Geschenk zu
begreifen, das auch den künftigen Generationen als
Lebensgrundlage erhalten bleiben muss.
Geistiges Wachstum hilft schließlich, Sinnzusammenhänge
zu erkennen, zu verdichten und auch anderen vermitteln zu
können.
Wenn wir über Werte sprechen, dann müssen wir auch über
Tugenden sprechen.
Tugenden helfen, die den Werten zugrunde liegenden
Zielvorstellungen, zu verwirklichen. Sie sind so etwas wie
eine ethische Wegbeschreibung und dienen gleichsam als
„Handwerkszeug“, um der eigenen Verantwortung in den
unterschiedlichen Anforderungen und Lebenssituationen
gerecht werden zu können. Sie sind also charakterliche
Fähigkeiten und innere Einstellungen, um sich gemäß den
Werten richtig und gut zu verhalten. Tugenden geben damit
dem menschlichen Miteinander eine Ordnung. Sie
berücksichtigen dabei die universell geltende „Goldene
Regel“: „Keinem anderen antun, was man selbst nicht
erleiden möchte“. Dabei müssen Tugenden im Laufe des
Lebens eingeübt und weiterentwickelt werden. Dies kann
nur im Kontext von Erfahrungen und Erlebnissen geschehen.
101
Leutnantsbuch
Es gibt eine Vielzahl von Tugenden und deren Kategorisierungen. Ich orientiere mich an den vier klassischen
Kardinaltugenden, die für Menschen, denen Macht und
Verantwortung anvertraut wurden, besonders wichtig sind,
und an den soldatischen Tugenden der Bundeswehr. Zur
weiteren Orientierung habe ich noch andere Tugenden
ergänzt, die jeder nach seinem eigenen Bedürfnis
verinnerlichen kann.
Lassen Sie mich ein paar Worte zu den sogenannten
klassischen Kardinaltugenden sagen, die uns bereits aus der
Antike überliefert sind. Sie haben davon sicher schon einmal
gehört. Diese vier Tugenden haben ihren Namen von dem
lateinischen Wort ‘cardo’ erhalten. ‘Cardo’ bedeutet ‘Türangel’. Kardinaltugenden sind also gleichsam die Dreh- und
Angelpunkte in einem Wertesystem. Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit und Mäßigung sind die Kardinaltugenden,
an die sich weitere Tugenden anschließen.
Die Gerechtigkeit steht an erster Stelle und bildet wiederum
die Grundlage für die übrigen Kardinaltugenden. Sie meint
einen nach moralischen Maßstäben angemessenen Ausgleich
von Interessen und ist die anerkannte Norm menschlichen
Zusammenlebens unter Verzicht auf Privilegien. Durch
Fairness und verlässliche Partnerschaft gilt es, dem anderen,
aber auch sich selbst, gerecht zu werden. Nach der
realistischen Sicht der Dinge – damit ist eben die Klugheit
gemeint – gilt es, die Situation gerecht zu interpretieren.
- Der Gerechte fordert das Gleichgewicht zwischen
Rechten und Pflichten.
- Der Gerechte benachteiligt niemanden.
- Der Gerechte richtet auf und ordnet.
- Der Gerechte will es zum Guten richten.
102
Leutnantsbuch
-
Der Gerechte wurzelt in der Menschenwürde und
den Menschenrechten.
Der Gerechte fordert Chancengleichheit.
Der Gerechte handelt fair und ist berechenbar.
Der Gerechte scheut keine Rechenschaft.
Der Gerechte fordert den Ausgleich zwischen
Individualismus und Kollektivismus.
Der Gerechte ist barmherzig.
Die Klugheit ist die Fähigkeit zu angemessenem Handeln
in einem konkreten Einzelfall, unter Berücksichtigung aller
für die Situation relevanten Faktoren, individuellen Handlungsziele und sittlichen Einstellungen. Es gilt der Grundsatz: Zuerst denken, dann handeln. Durch Selbstreflexion
werden das Urteilsvermögen und die Entscheidungskompetenz gestärkt, um so vernünftig und nicht zufällig zu
handeln. Im Zusammenhang mit Klugheit wird seit Platon
die Weisheit synonym genannt. Weisheit befähigt als
„Frucht“ der Klugheit zum rechten Urteil und befähigt
weiter, die Konsequenzen des Handelns zu erkennen und zu
übernehmen.
- Der Kluge entwickelt einen Sinn für die Realität.
- Der Kluge ist scharfsinnig und stellt Fragen.
- Der Kluge reflektiert und durchschaut
Zusammenhänge.
- Der Kluge bleibt bodenständig.
- Der Kluge lernt aus Fehlern.
- Der Kluge ist vorausschauend.
- Der Klügere gibt nach, wenn es nicht wirklich um
substantielle Dinge geht.
Die Tapferkeit ist die menschliche Fähigkeit, einer
schwierigen Situation mit der Überzeugung entgegen zu
103
Leutnantsbuch
treten, etwas Gutes und Richtiges zu tun, ohne eine Garantie
auf die eigene Unversehrtheit zu erhalten. Tapferkeit wird
daher verstanden als Mut zum sittlich begründeten
Standpunkt und zum höchsten persönlichen Einsatz unter
Inkaufnahme von Risiken bis zur Hingabe des eigenen
Lebens. Tapferkeit stellt nach Aristoteles die ausgewogene
Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit dar. Sie ist damit
die konkrete und energische Umsetzung von Klugheit und
Gerechtigkeit in die Tat.
- Der Tapfere verteidigt das sittliche Gute.
- Der Tapfere ist bereit, dafür Verwundung und sogar
den eigenen Tod hinzunehmen.
- Der Tapfere hält mehr stand, als dass er angreift.
- Der Tapfere ist verlässlich und gibt seine Hoffnung
nicht auf.
Die Mäßigung, oft auch Besonnenheit genannt, als ein
bewusstes Maßhalten zwischen einem ungesunden Übermaß
und vollständigem Verzicht, wirkt jedem Extrem entgegen
und lässt Spannungen gar nicht erst entstehen. Das Maß
zwischen Müßiggang und Arbeitssucht ist Disziplin und
Fleiß, das Maß zwischen Geiz und Verschwendung ist
Großzügigkeit und zwischen blinder Gefolgschaft und
Willkür ist es Loyalität.
- Der Maßvolle sucht das richtige und „angemessene“
Mischungsverhältnis zwischen Zuviel und Zuwenig.
- Der Maßvolle bestimmt stets das rechte Maß neu.
- Der Maßvolle meidet jegliches Extrem.
- Der Maßvolle kennt seine Grenzen.
Weil der Philosoph Platon für diese hier dargestellten
Zusammenhänge einmal das sehr treffende Bild von einem
Wagenlenker und einem Pferdegespann verwendet hat,
104
Leutnantsbuch
spricht man bei den Kardinaltugenden manchmal auch von
dem 'Viergespann'.
Das Christentum kennt aber auch die sogenannten drei
christlichen Kardinaltugenden, die im 13. Kapitel des Ersten
Korintherbriefes dargestellt werden, nämlich Glaube,
Hoffnung und Liebe. Und an erster Stelle steht dabei die
Liebe. Diese Tugenden werden oft als Kreuz, Anker und
Herz dargestellt. Vielleicht lesen sie diesen schönen Text im
Neuen Testament einmal nach – ich versichere Ihnen, es
lohnt sich.
Soviel zunächst einmal zu den sogenannten Kardinaltugenden.“
„Herr Hauptmann“, schaltet sich Annette aufgeregt ein,
„jetzt weiß ich endlich auch, was Kreuz, Anker und Herz in
diesem Zusammenhang bedeuten. Meine Oma hat mir
nämlich ein goldenes Halskettchen vererbt, an denen diese
drei Symbole als Anhänger aufgereiht sind. Meine Oma hat
sich also sicher etwas dabei gedacht und ich habe das bis
eben gar nicht gewusst! Aber ich hätte da gleich noch eine
Frage. Sind diese Tugenden nicht, na ja, ein bisschen wenig?
Mir fallen auch noch ganz andere Tugenden ein, die mir hier
einfach fehlen. Ganz besonders natürlich typische Tugenden
unseres Berufes. Ich meine aber auch, dass es noch viel
mehr Tugenden gibt, die wohl auch in unterschiedlichen
Berufen unterschiedlich „bewertet“ werden.“
„Ja, was ist zum Beispiel mit Respekt oder Pünktlichkeit?“,
fragt Peter.
105
Leutnantsbuch
„Recht haben Sie! Ich war ja auch noch nicht ganz fertig!
Soldatische Tugenden sind für mich Kameradschaft, Treue
und wiederum Tapferkeit.
Kameradschaft ist die Pflicht jedes Soldaten, seinem
Kameraden unter allen Umständen – auch unter
Lebensgefahr – beizustehen. Das Besondere an der
soldatischen Kameradschaft ist, dass sie nicht an persönliche
Verbundenheit im Sinne von Freundschaft oder bloßer
Kumpanei gebunden ist, sondern von jedem Soldaten als
Dienstpflicht gefordert wird. Die Kameradschaft verpflichtet
alle Soldaten, die Würde, die Ehre und die Rechte des
Kameraden zu achten und ihm in Not und Gefahr
beizustehen. Die Pflicht zur Kameradschaft schließt
gegenseitige Anerkennung, Rücksicht, Fürsorge und
Achtung fremder Anschauungen ein.
Treue gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und
damit Treue gegenüber unserer Werteordnung sowie dem
Primat der Politik meint die Anerkennung und gewissenhafte
Umsetzung von verbindlichen Weisungen der demokratisch
legitimierten Bundesregierung. Neben der Umsetzung gehört
zur Treue auch, alles, was die Auftragserfüllung beeinträchtigen würde, zu unterlassen. Treue zeigt sich in
bestimmten Verhaltensweisen wie Einsatzbereitschaft, Zuverlässigkeit, Gehorsam und der gewissenhaften Erfüllung
der soldatischen Pflichten. Die besondere Treuepflicht für
Soldaten beinhaltet auch die Hinnahme von erhöhten
Gefahren. Treue basiert auf Vertrauen und Loyalität.
Tapferkeit habe ich ja bereits als Kardinaltugend
dargestellt. Weil diese Tugend aber die klassische
Soldatentugend darstellt, will ich sie noch etwas genauer
ausführen. Sie gilt als fester Bestandteil der soldatischen
106
Leutnantsbuch
Treuepflicht. Hier wird dem Soldaten verdeutlicht, dass er in
Überwindung persönlicher Angst handeln soll und im
äußersten Fall auch sein Leben für die durch ihn zu
verteidigenden Güter einsetzen muss. Tapferkeit ist damit
ein Ziel der Erziehung und Selbsterziehung des Soldaten,
dessen Wille zur treuen Pflichterfüllung stärker als die
Furcht ist. Die Verteidigung von Recht und Freiheit macht
somit den Einsatz des ganzen Menschen notwendig.
Die soldatischen Tugenden ergeben damit eine Norm für den
Soldatenberuf mit Gesetzescharakter.
Und es gibt selbstverständlich – wie Sie schon festgestellt
haben – eine Menge weiterer Tugenden. Ich habe mir einmal
ein paar aufgeschrieben, was mir dabei noch so in den Sinn
gekommen ist. Und weil mir dazu eine Systematik schwer
fällt, habe ich sie einfach alphabetisch geordnet.“
Hauptmann Seidel kramt in seiner Tasche, zieht einen Zettel
heraus und liest vor:
„Achtsamkeit, Anständigkeit, Aufgeschlossenheit,
Aufmerksamkeit, Aufrichtigkeit, Ausdauer,
Ausgeglichenheit, Barmherzigkeit, Beharrlichkeit,
Bescheidenheit, Besonnenheit, Beständigkeit, Dankbarkeit,
Demut, Disziplin, Durchsetzungswille, Echtheit, Ehrlichkeit,
Entschlossenheit, Fairness, Flexibilität, Geradlinigkeit,
Gelassenheit, Großmut, Güte, Hingabe, Höflichkeit,
Kritikfähigkeit, Lernfähigkeit, Menschlichkeit, Mitgefühl,
Mitleid, Mut, Objektivität, Offenheit, Opferbereitschaft,
Ordnungssinn, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit,
Rechtschaffenheit, Respekt, Sachlichkeit, Sauberkeit,
Selbstbeherrschung, Selbstlosigkeit, Sparsamkeit,
Solidarität, Taktgefühl, Tatkraft, Toleranz,
Unbestechlichkeit, Unparteilichkeit,
107
Leutnantsbuch
Verantwortungsbewusstsein, Vernunft, Verschwiegenheit,
Vertrauen, Wahrhaftigkeit, Zurückhaltung.
Die Liste ist sicher nicht vollständig und Sie können sich ja
selbst überlegen, welche Tugenden Ihnen noch fehlen.
Wichtig ist: Mit der Beschreibung der eigenen Persönlichkeit, den Werten und Tugenden ist die eigene Wahrnehmung abgeschlossen.
Lassen Sie mich noch einmal zu den Aufforderungen
zurückkommen, die ich in Bezug auf die Selbstbestimmtheit
genannt hatte. Ich habe da noch ein paar mehr.
4. Akzeptiere Dich!
Nimm Dich so an, wie Du wirklich bist! Die Selbstwahrnehmung ist die eine Seite der Medaille, die aber nichts
ist ohne die andere Seite, das Annehmen der eigenen
Persönlichkeit mit ihren verinnerlichten Werten, Überzeugungen und Tugenden. Sich zu akzeptieren, wie man
wirklich ist, bedeutet nicht, vor weniger ausgebauten
Fähigkeiten oder gar Schwächen zu resignieren. Die Aufforderung zur Selbstakzeptanz meint, Stärken und
Schwächen richtig einzuschätzen, das Entwicklungspotenzial der eigenen Persönlichkeit zu erkennen und auf
angemessene und sinnvolle Weise damit umzugehen.
Nur wenn ich mich selbst annehme, gewinne ich an
Selbstvertrauen und kann auch andere mit ihren Stärken und
Schwächen annehmen. Tue ich dies nicht, besteht in hohem
Maße die Gefahr, an der Erfüllung meiner Aufträge zu
scheitern.
108
Leutnantsbuch
Oftmals stelle ich fest, dass man sich mit anderen Soldaten
vergleicht. Der ist besser oder schlechter als ich. Mein
Selbstwert oder auch meine innere Freiheit sollten aber nicht
aus dem Vergleich mit anderen entstehen, sondern aus
eigener realistischer Einschätzung dessen, was ich
tatsächlich will und kann. Diese Art der Selbstbeurteilung ist
schwer und erfordert intensives Nachdenken über die eigene
Person und ihr Verhalten. Eine Portion Humor oder etwas
Selbstironie können dabei hilfreich sein.
Daher gilt: Sei echt und glaubwürdig, verstelle Dich nicht,
sonst wirst Du unter Belastung und extremen Bedingungen
scheitern, möglicherweise sogar Dein Leben und das anderer
Menschen gefährden.
5. Genüge Dir selbst!
Mit dieser Aufforderung will ich die Kardinaltugend der
Mäßigung nochmals aufgreifen, da ich sie gerade in der
heutigen Zeit, in der die Möglichkeiten scheinbar grenzenlos
sind, für sehr gefährdet halte. Ich möchte deutlich machen,
dass wir eine eigene ausbalancierte und gefestigte Position
entwickeln müssen. Dies bedeutet immer auch, die Extreme
zu meiden, sich zu mäßigen und nicht jedem Trend
ungeprüft zu folgen. Maß halten ist dabei die Tugend, die
alles in eine verantwortungsvolle Richtung lenkt.
Für mich bedeutet „Genüge Dir selbst“ konkret Folgendes:
- Die eigenen Bedürfnisse und Wünsche gut kennen, sie
steuern und kontrollieren können. Ich muss nicht alles
haben, nicht alles sofort haben, nicht jedem Trend oder
jeder „Modetorheit“ folgen.
- Entspannungsmomente bewusst nutzen, Zeit mit mir
allein verbringen und so Abstand zu meinen Aufgaben
gewinnen. Gelassenheit den Dingen gegenüber entwickeln, die nicht in meiner Hand sind.
109
Leutnantsbuch
-
Die eigene Leistungsfähigkeit und ihre Grenzen gut
kennen, realistische Erwartungen haben und keine überzogenen Ansprüche stellen.
6. Behalte die Kontrolle!
Ich habe bereits mehrfach gesagt, dass das Nachdenken und
die Kontrolle des eigenen Verhaltens für uns als Offiziere
besonders wichtig sind. Damit meine ich, dass ich mein
Verhalten ständig beobachten, Beweggründe erkennen und
mein konkretes Handeln im Umgang mit Menschen
analysieren muss. Nur auf diese Weise kann ich mich
weiterentwickeln und den anvertrauten Soldaten gerecht
werden. Dies bedeutet manchmal auch, Distanz gegenüber
den Dingen zu besitzen und vorschnelle Reaktionen zu
vermeiden.
Zusammenfassend auf den Punkt gebracht kann man sagen:
„Sei wie Du bist!“ – eine selbstbestimmte Persönlichkeit.
Das ist der erste Schlüssel zur Führungskunst, ein steiniger
lebenslanger Weg mit vielen Höhen und Tiefen, den man
aber als Offizier mit Führungsverantwortung frühzeitig
antreten muss. Nur wer sich selbst führen kann, kann auch
andere Menschen führen. Und im Sinne der Inneren Führung
möchte ich dazu noch ergänzen: Wer Menschen führen will,
muss Menschen mögen.“
Hauptmann Seidel blickt uns nach diesen Ausführungen der
Reihe nach an. Es herrscht eine fast feierliche Stille. Wir
hören nur das Gekritzel von Cindy, die angefangen hat, sich
einige Notizen zu machen.
„Sie brauchen sich das nicht aufzuschreiben“, sagt
Hauptmann Seidel. „Ich habe vor einigen Monaten ein paar
Notizen dazu gemacht. Kein Vortrag oder so, einfach nur ein
110
Leutnantsbuch
paar Stichworte. Das gebe ich Ihnen gerne mit, vielleicht
können Sie ja mal einen kleinen Vortrag daraus entwickeln.
So etwas kann man immer gut gebrauchen – besonders im
Kameradenkreis. Schließlich sind Sie nicht alleine als
Offizieranwärter!“
Nach einer kurzen Pause kommen wir „geplättet“ in den
Kompaniebesprechungsraum zurück. Hauptmann Seidel
lächelt uns an und sagt: „Lassen Sie sich nicht entmutigen
durch meinen theoretischen Vortrag! Denken Sie an die
vielen Geschichten, die wir gestern ausgetauscht haben.
Daran können Sie all das messen, was ich Ihnen eben zu
erklären versucht habe. Außerdem geht das Leben weiter! In
vierzig Minuten stehen Sie vor der Front auf dem
Formalausbildungsplatz! Da müssen Sie konzentriert sein.
Auf geht’s!“
Annette, Peter, Markus, Jonas, Marcel, Cindy und ich
bedanken uns bei Hauptmann Seidel, auch wenn wir noch
nicht alles verarbeitet haben.
„Herr Hauptmann, Sie hatten angeboten, uns Ihre Notizen
verfügbar zu machen. Wir sind ja nur noch kurze Zeit hier.
Wäre es möglich, dass wir die Unterlagen noch in dieser
Woche bekommen?“
„Kein Problem“, antwortet Hauptmann Seidel mit einem
Blick auf seine Uhr. „Sie müssen los, sonst wird es eng für
die Formalausbildung!“ Dann scheucht er uns aus dem
Besprechungsraum.
111
Leutnantsbuch
Offizieranwärter Frank
Im Restaurant
H
eute ist Donnerstag und Offizierweiterbildung stand auf
dem Ausbildungsprogramm. Wir haben das Blüchermuseum in Kaub am Rhein besucht und bei einer Geländebesprechung den Blücherschen Rheinübergang in der Neujahrsnacht 1814 nachvollzogen. Uns war gar nicht bewusst,
dass die Befreiungskriege (1813–1815) eine der Traditionslinien der Bundeswehr sind. Annette, Peter, Markus,
Jonas, Michael, Cindy und ich sitzen am Abend mit den
Teilnehmern der Weiterbildung in der „Bachforelle“, einem
kleinen und netten Restaurant in Kaub und lassen den
Ausbildungstag ausklingen. Heute war viel von Tapferkeit
die Rede gewesen und wir erinnern uns an den Vortrag von
Hauptmann Seidel vor wenigen Tagen im Besprechungsraum der 3. Kompanie, als er von der Kardinaltugend
„Tapferkeit“ sprach.
„Ja, das stimmt“, ergänzt an dieser Stelle der Kommandeur,
der sich zu uns an den Tisch gesetzt hat, „auch in unserer
Bundeswehr haben wir genügend Beispiele, von denen wir
etwas über Tapferkeit lernen können“.
Dann fragt ein Hauptmann, der neu an den Tisch gekommen
ist: „Wie kommen Sie denn auf den Begriff der Tapferkeit?
Ich habe vorhin schon das ein oder andere Gespräch
aufgenommen, das unsere jungen Offizieranwärter hier
geführt haben.“
Hauptmann Seidel ergreift das Wort. „Wenn Sie erlauben,
Herr Oberstleutnant“, wendet er sich an den Kommandeur
und fährt fort: „Wir, das heißt diese Offizieranwärter hier
112
Leutnantsbuch
und ich, haben schon einige Male zusammen gesessen und
uns über das Besondere unseres Berufes unterhalten.
Eigentlich fing alles ganz harmlos an, als sie mich fragten,
was mein berufliches Selbstverständnis sei. Seitdem haben
wir während verschiedener Gespräche mit anderen
Offizieren immer wieder Erlebnisse ausgetauscht, die das
Besondere am Offizierberuf ein wenig verdeutlichen. Und
gerade heute, als Herr Schmidt, der Museumsführer, uns
sehr bewegend von den Ereignissen während der Befreiungskriege erzählte, kamen wir auf den Begriff
Tapferkeit zu sprechen.“
„Ach so“, antwortet der Hauptmann und legt seine Stirn ein
wenig in Falten. „Aber Recht gebe ich Ihnen, Herr
Oberstleutnant! Tapferkeit als soldatische Tugend erleben
wir auch in unserer Bundeswehr – und das nicht nur in den
Einsätzen!“
Der Kommandeur, der gerade sein Essen bestellt hat,
ermuntert alle am Tisch, ein Erlebnis oder eine kleine selbst
erlebte Geschichte zu erzählen. Er meint, das sei eine gute
Gelegenheit, einmal über Tapferkeit nachzudenken. Fast
hört sich das wie ein Auftrag an, entsprechend ruhig bleibt
der Tisch. Der Kommandeur schaut in die Runde. Endlich
meldet sich ein Oberleutnant zu Wort.
„Ich weiß zwar nicht einhundertprozentig, ob der Begriff
Tapferkeit passt, aber ein Erlebnis hatte ich, das ich gerne
erzählen möchte.“ Und so beginnt erneut der Austausch
eigener Erfahrungen. Erlebnisse werden erzählt, dazwischen
wird kurz diskutiert. Meistens aber bleiben die kleinen
Geschichten für sich im Raum stehen und wirken aus sich
heraus. Dann folgt der erste Bericht …
113
Leutnantsbuch
Der Feuerkampf
J
eder Einsatz ist anders, aber seit vielen Monaten ist die
Bedrohung für deutsche Soldaten im Einsatz für ganze
Kontingente, für alle Soldaten mit ihren unterschiedlichen
Funktionen und Aufgabenbereichen, unmittelbar, ja fast
schon hautnah geworden. „Rocket attack, rocket attack”
schallt es auch immer wieder durch die Unterkünfte der
Soldaten des PRT Kunduz, wenn, zumeist nachts, Aufständische Raketen oder Mörser auf Soldaten des internationalen Wiederaufbauteams abfeuern. Insbesondere die
Raketen mit ihrem teilweise unheimlichen Heulen sorgen für
Unruhe, klingen sie doch wie das tödliche „Konzert“ der
Stalinorgeln, das wir nur aus alten Kriegsfilmen kennen. Das
Gefühl der Ohnmacht, überrascht zu werden, nur eingeschränkt aktiv der Bedrohung entgegentreten zu können
und nicht zuletzt die Feigheit der Terroristen lässt
gelegentlich fast verzweifeln. Tod und Verwundung rücken
in realistische Nähe.
In dieser Lage waren besonders die Späher mit ihren
Spähtrupps gefordert, Aufklärungsergebnisse zu gewinnen
und das Lagebild zu verdichten, um so den Gegner stellen zu
können.
In einer Nacht verlässt ein verstärkter Spähtrupp wieder
einmal das PRT Kunduz, um mögliche Raketenabschussstellungen aufzuklären. Nach über zwei Stunden
klärt ein FENNEK etwa zehn Personen auf. Sind das die
vermuteten Aufständischen oder doch einfach nur harmlose
Bauern? Teilweise arbeiten die Bauern in Afghanistan
aufgrund der Temperaturen bis tief in die Nacht hinein.
Traktoren rumpeln über die Felder bis weit nach Mitternacht
– aber zehn Personen?
114
Leutnantsbuch
Vielleicht verabschieden sich die Männer nur nach beendeter
Arbeit voneinander und verabreden sich für den morgigen
Tag. Und in der Tat, die Gruppe trennt sich. Einige gehen in
ein nahegelegenes Gehöft, andere bewegen sich in Richtung
der Spähtruppstellung. Der satte Vollmond erleuchtet das
durchschnittene Gelände. Schatten huschen über die
trockenen Felder, die für den Winter vorbereitet werden.
Viele tausend Meter entfernt sieht man durch die
Restlichtverstärker die Scheinwerfer der Traktoren, die
monoton hin und her fahren. Schließlich bewegt sich eine
Gruppe von etwa vier Personen 800 Meter ostwärts der
FENNEK. „Hoffentlich werden wir nicht gleich doch noch
aufgeklärt“, denkt sich der Spähtruppführer. Zum Glück
verschwinden die Personen in einem Hohlweg und in der
nächsten Stunde bewegen sich nur noch kleine Punkte im
Wärmebildgerät: wahrscheinlich die Köpfe, die sich im
Hohlweg immer hin und her bewegen.
Die Bediener der FENNEK nutzen professionell die
Fähigkeiten ihrer Beobachtungsausstattung aus. Zwei
Personen im Hohlweg graben, zwei Personen gehen ständig
hin und her. Der Spähtruppführer beurteilt die Lage: Dort
wird entweder ein Wassergraben ausgebessert oder doch ein
Angriff vorbereitet. Die übergeordnete Führung wird jetzt in
kurzen Abständen über die Lageentwicklung informiert.
Vorerst werden keine weiteren Kräfte an die aufgeklärten
Personen herangeführt. Eine Reserve steht westlich rund 40
Minuten Geländefahrt entfernt bereit, um gegebenenfalls zu
unterstützen. Die Personen weichen auf einmal aus, sie
rennen förmlich auseinander. „Jetzt sind wir doch aufgeklärt
worden“, ruft jemand. Aber bereits nach einigen Minuten
tauchen sie an anderer Stelle, jetzt 600 Meter ostwärts des
Spähtrupps wieder auf. Und wieder können nur die
vermuteten Köpfe in einem Hohlweg aufgeklärt werden. Der
115
Leutnantsbuch
Spähtruppführer lässt jetzt einen Zweimanntrupp absitzen.
Dieser nähert sich bis auf 400 Meter an. Zwei quer
verlaufende Hohlwege trennen den abgesessenen Spähtrupp
und die Personen. Gespräche werden aufgeklärt, immer
wieder leuchtet kurz der Schein von Taschenlampen auf. Es
sind wohl doch Bauern. Aber wenn es keine Bauern sind,
was passiert im Feuerkampf mit den beiden abgesessenen
Soldaten. Also Aufnahme der Soldaten durch den DINGO,
der Spähtrupp bleibt mit Wärmebildgerät am Feind, oder
Bauern, oder Feind ... In einem ist sich der Spähtruppführer
sicher: Er ist noch nicht aufgeklärt worden, jede eigene
Bewegung muss vermieden werden. Und der Spähtrupp wird
bestehen – so oder so.
Alle Waffen sind bereits auf den Hohlweg gebracht – für
den Fall, dass die Bauern doch „nebenberuflich“
Aufständische sind. Der Spähtruppführer ist auf sich allein
gestellt. Er trifft die Entscheidungen vor Ort, er führt seine
Männer im Gefecht, er trägt für seinen Entschluss, für sein
Handeln und das Handeln seiner Männer die Verantwortung.
Auf einmal schlagen grelle Flammen aus dem Hohlweg. Der
Spähtruppführer befiehlt allen verfügbaren Kräften eine
Feuerzusammenfassung auf den Hohlweg.
Die Granatmaschinenwaffe, über die der Spähtruppführer
bei seinem eigenen FENNEK verfügt, speit ihre Granaten
aus; kurze Flugzeit und überall im Hohlweg detonieren die
Flugkörper, die überall Staubwolken aufwirbeln. Absicht des
Spähtruppführers ist es, mit der Granatmaschinenwaffe die
Raketen, die jetzt gestartet werden sollen, aus ihrer
Abschussposition zu bringen. Gleichzeitig sollen die MG
des Alpha-Wagens und des DINGOs die feindliche
Sicherung niederhalten oder vernichten. Die erste Rakete
rauscht heulend los! Sie ist wie die anderen auch bereits aus
der Position gebracht worden und geht scharf tief nach
Süden ab. Plötzlich saust ein Feuerball ein, zwei Meter
116
Leutnantsbuch
oberhalb der FENNEK über die Stellung. „RPG-Beschuss“,
dröhnt es auf dem Funkkreis. Der Spähtruppführer selbst
leitet den Feuerkampf über Luke. Der Feind hat sich im
Zuge des Hohlweges in die Flanke des Spähtrupps
verschoben. Die Raketen wurden mit Brennpapier gezündet,
wie die Untersuchungen am Folgetag ergaben – die
Aufständischen hatten also Zeit gehabt, auszuweichen.
Durch die überraschenden Granaten sind sie zum
Feuerkampf gezwungen worden. Das MG-Feuer wird auf
die Stelle des RPG-Abschusses gelenkt. Kraftfahrer klären
Dreckspritzer vor dem FENNEK auf. Der Spähtruppführer
hört Geräusche, die ihm vertraut vorkommen: „Das klingt
hier oben wie im Schusskanal auf der Schießbahn. Ich
glaub’, die schießen mit Kalashnikoff (AK)!“ Immer wieder
sausen die Raketen über den Stellungsbereich. Jetzt kommt
es auf die kleine Kampfgemeinschaft an. Auch wenn es am
Funk gelegentlich laut wird – professionell beziehen die
Besatzungen mit ihren Fahrzeugen Wechselstellung. Der
Feuerkampf wird weiter geführt. Der Feind wird zum
Ausweichen gezwungen. Der Spähtrupp löst sich in einem
Zuge und nimmt Verbindung mit der Reserve auf. Erneut
tritt er der Reserve voraus auf die Abschussstelle an. Der
Feind war geflüchtet, der Spähtrupp aber verblieb zur
Überwachung bis zum Morgen in der Stellung.
Mit Entschlossenheit und Initiative sind Raketen in dieser
Nacht vom PRT Kunduz abgelenkt worden. Umsicht und
Selbstvertrauen, verbunden mit soldatischer Professionalität,
haben den Feind geworfen.
HI
117
Leutnantsbuch
Die Bedrohung hat sich seit dem Ende des „Kalten Krieges“
erheblich gewandelt. Sie ist asymmetrisch geworden. Die
eigene Truppe kämpft nicht mehr am Vorderen Rand der
Verteidigung (VRV), sondern wird von Terroristen und
feindlichen Kräften bedroht, die sich in ihrer jeweiligen
Umgebung bewegen wie „Fische im Wasser“.
Umso mehr ist die Urteilsfähigkeit, zugleich aber auch die
Entschlossenheit und Initiative jedes einzelnen Führers, in
einem schwierigen Umfeld zu entscheiden, genauso gefragt
wie die Professionalität und Befähigung zum Kampf jedes
einzelnen Soldaten.
Insofern haben sich Rahmenbedingungen und Umfeld
verändert. Die Grundtugend, mit der die unterschiedlichen
soldatischen Fähigkeiten und Fertigkeiten zusammengeführt
werden, ist aber geblieben, wie bei diesem verstärkten
Spähtrupp in vielen Nächten im Raum Kunduz: Die „kleine
Kampfgemeinschaft“ lebt von Kameradschaft, Zusammenhalt und gegenseitigem Vertrauen.
118
Leutnantsbuch
Das Funkloch
I
ch war als junger Leutnant mit der Schutzkompanie im
Raum Kunduz eingesetzt. Es war mein erster Auslandseinsatz.
Es war ein sonniger und recht warmer Tag, nicht wie die
anderen Tage zuvor, an denen es regnete und der Winter
noch in den letzten Zügen steckte. Unser Kontingent näherte
sich langsam dem Ende und es war verlockend den einen
oder anderen Gedanken an die Heimat zu verlieren und wie
es sein würde endlich wieder daheim zu sein. Ich hatte
bereits am Vorabend von meinem Auftrag erfahren und war
in guter und gespannter Erwartung, weil mir das Gebiet, in
das uns die Patrouille führen sollte, gänzlich unbekannt war.
Nie zuvor hatte ich mich mit den mir unterstellten Soldaten
so weit ostwärts von Kunduz bewegt.
Es sollte eine zweitägige Patrouillenfahrt werden, bei der wir
zwei Kameraden der J2-Abteilung mit zwei Fahrzeugen der
Schutzkompanie begleiten sollten. Im Anschluss an das
Frühstück machten wir uns auf den Weg zu unseren bereits
vorbereiteten Fahrzeugen. Die Kraftfahrer prüften nochmals,
ob alles an den WÖLFEN in Ordnung war, während ich
mich mit dem Rest bereits auf die von mir durchgeführte
Befehlsausgabe vorbereitete. Ich ging wie immer alle Punkte
systematisch durch, bis dann der Oberstabsfeldwebel der J2Abteilung zu Wort kam. Es ging ihm hier um ein Profil einer
Ortschaft und das Pflegen von Kontakten zur Bevölkerung.
Ein wesentlicher Punkt der Befehlsausgabe war die
Verbindung der Patrouille zum Gefechtsstand, die über das
örtliche Handynetz gehalten werden sollte. Es wurde mir auf
Nachfrage versichert, dass in dem Bereich, in dem wir
119
Leutnantsbuch
unterwegs sein würden, eine Netzabdeckung vorhanden sei.
Sollte die Verbindung abbrechen, sei die Patrouille
abzubrechen und ins Feldlager zurückzukehren, so die
Auflage. Nachdem ich mich abgemeldet hatte, fuhren wir
aus dem Feldlager und verließen die Stadt über die
Hauptverbindungsstraße Richtung Osten. Es sollte eine
lange und beschwerliche Fahrt werden. Ich setzte wie üblich
stündlich eine Meldung an den Gefechtsstand ab und wir
legten Kilometer für Kilometer ohne Zwischenfälle zurück.
Als wir die gut ausgebaute Straße verließen, kamen wir
langsamer, aber dennoch stetig voran. Bald danach aber
bemerkte ich, dass über das Handy kein Empfang mehr
möglich war. Dies war Anlass für mich, den Rest der
Patrouille bei einem von mir befohlenen technischen Halt
darüber zu informieren.
Der Oberstabsfeldwebel meldete, dass sich nach seiner
Kenntnis im Ort etwa drei Kilometer vor uns eine
Polizeistation befinde und schlug vor, dort eine Verbindungsaufnahme zu versuchen. Dies erschien mir zweckmäßig, da sich die Ortschaft auf einem Höhenrücken
erstreckte und ich die Möglichkeit sah, dort auch mit dem
Handy Empfang zu haben. Ich machte aber deutlich, dass die
Patrouille abzubrechen sei, sollte die Wiederherstellung der
Verbindung nicht gelingen. Diese Aussicht erregte merkbar
das Missfallen des Kameraden. Wir fuhren zügig in die
Ortschaft ein. Als wir die Polizeistation erreichten, saß wie
gewohnt die Sicherung ab und mein Stellvertreter nahm
Verbindung mit mir auf. Die Station war wie ein Gehöft
aufgebaut, um die sich eine mannshohe Lehmwand zog. Wir
waren uns einig. Mehr als zehn Minuten gaben wir dem
Oberstabsfeldwebel und seinem Sprachmittler nicht, eine
Möglichkeit zur Verbindungsaufnahme zu finden. Immer
wieder machte ich mir Gedanken, was passieren würde,
120
Leutnantsbuch
wenn jemand aus unserer Patrouille verwundet werden
würde, oder noch Schlimmeres eintreten sollte.
Diese Szenarien spielten sich wohl in all unseren Köpfen ab.
Außerdem würden auch die Kameraden im Gefechtsstand
unruhig werden und es würden eventuell zusätzliche Kräfte
der Schutzkompanie in Marsch gesetzt. Der Oberstabsfeldwebel führte einige Gespräche und hantierte mit einem
Funkgerät eines mir nicht bekannten Typs herum. Nachdem
die von mir gesetzte Frist verstrichen war, befahl ich
aufzusitzen und zügig Richtung Feldlager zu marschieren.
Dies wollten der Oberstabsfeldwebel und sein Sprachmittler
nicht akzeptieren, aber ich machte ihnen deutlich, dass unser
Auftrag unter der klaren Auflage „bestehende Verbindung
zum Gefechtsstand“ erteilt wurde.
So fuhren wir zügig den gleichen Weg, den wir gekommen
waren, zurück. Obwohl wir die Strecke schon einmal
zurückgelegt hatten, schien sie in Anbetracht der
fortgeschrittenen Zeit kein Ende zu nehmen. Als das Handy
dann endlich wieder Empfang andeutete, meldete ich mich
im Feldlager. Es meldete sich dann eine mir vertraute
Stimme. Sowohl die Kameraden im Gefechtsstand wie auch
ich waren sehr erleichtert, denn wir hatten mit der Meldung
fast eine Stunde Verzug.
HI
121
Leutnantsbuch
Ein Abweichen vom erhaltenen Auftrag ist an bestimmte
Kriterien geknüpft. Diese waren in diesem Beispiel nicht
erfüllt. Damit blieb für den Führer der Patrouille kein Raum
für einen anderen Entschluss als den von ihm gefassten.
Dieser war nachfolgend auch gegen Widerstände, durchzusetzen.
Verdeutliche Deinen Führungsanspruch und lass’ Dich beraten, aber nicht beirren. Du entscheidest, Du verantwortest,
Du führst!
Beurteile genau das Risiko, das Du eingehst, bevor Du
Deine Entscheidung triffst: erst wägen, dann wagen!
Behalte dabei, wie hier richtigerweise geschehen, das Ganze
stets vor seinen Teilen im Blick.
122
Leutnantsbuch
Kameradschaft
R
ückblende:
Kosovo – Feldlager Prizren – Sommer.
Die Lage im Kosovo stellte sich uns damals als überwiegend
ruhig und übersichtlich dar, die Menschen waren zumeist
freundlich und entgegenkommend. Auch wenn überall das
aufrichtige Bemühen um Frieden und Normalität förmlich
greifbar war, sollte das Land in diesem Sommer noch nicht
zur Ruhe kommen, denn in Mazedonien eskalierte die Lage,
Auswirkungen vielfältiger Art beeinflussten auch das
Kosovo. Die Lage war „ruhig, aber nicht stabil“.
Wir verfolgten die Ereignisse in Mazedonien mit großer
Sorge, denn ein Überschwappen der Gewalt war aufgrund
der vielfältigen Verbindungen nicht auszuschließen wenn
nicht sogar wahrscheinlich. So kam die zuweilen absurd
anmutende Stimmung zustande, einerseits im Feldlager in
relativem Frieden den Auftrag zu erfüllen, andererseits mit
großer Sorge nach Süden zu blicken. Häufig war gerade
diese widersprüchliche Situation Gegenstand von Gesprächen auch abends im Kameradenkreis.
Den berühmten „freien Kopf“ sowie Ablenkung verschaffte
mir der Sport und so lief ich nahezu jeden Morgen mit einem
Kameraden, der ebenfalls aktiver Läufer war, noch vor dem
Frühstück meine Runden im Feldlager, auch wenn dies sehr
frühes Aufstehen von uns verlangte. Dafür hatten wir dann
aber die Laufstrecke fast für uns alleine.
An jenem Morgen regnete es in Strömen, die Sicht war
schlecht und das Lager wirkte wie ausgestorben. Auf Höhe
des geschotterten Kfz-Abstellplatzes, wo ein Teil der
Strecke über einen flachen Wall führte, hörten wir einen
Schuss brechen, aus dem Augenwinkel nahm ich eine
Gestalt, offensichtlich einen unserer Soldaten wahr, der in
123
Leutnantsbuch
Deckung ging, ca. 40–50 m entfernt. Auch wir gingen in
Deckung, der Regen hatte einen Teil der Straße in einen
kleinen Bach verwandelt. Beobachten war angesagt, aber wir
konnten nichts Verdächtiges erkennen. Der Soldat lag noch
immer vor uns, jedoch seltsam still und wie eingefroren. „Da
stimmt was nicht“, sagte ich in der Annahme zu meinem
Kameraden, der Soldat sei beschossen worden. Kurz
blickten wir uns an und spurteten ohne vorherige Absprache
gleichzeitig zu dem Soldaten. Sofort war klar, was hier
geschehen war – er hatte sich selbst mit dem Gewehr in den
Mund geschossen. Das war ein schrecklicher Anblick, wie er
im strömenden Regen so vor uns lag.
„Ich hole Hilfe“, sagte mein Kamerad. Ich selbst kümmerte
mich um den Soldaten: Puls und Atmung überprüfen, danach
stabile Seitenlage und ständiges Ansprechen. Schnell war
jedoch klar, dass die Verletzungen wohl zu schwer waren.
Da die Frühstückszeit näher kam, nahm auch der Personenverkehr zu, jedoch war die Masse ganz offensichtlich
froh, dass sich schon jemand um den Soldaten kümmerte.
Sein Atem wurde immer schwächer und unregelmäßiger,
setzte schließlich ganz aus. Genau in diesem Moment kam
der Rettungsarzt und übernahm sofort. Er konnte den
Soldaten zwar wieder reanimieren, aber dennoch verstarb
dieser dann einige Tage später in Deutschland.
Insgesamt war ich wohl zehn Minuten alleine mit dem
Kameraden, zehn Minuten, die mir wie eine Ewigkeit
vorkamen. Voller Blut wie ich war, ging ich in meine
Unterkunft. Jeder, der mir begegnete, machte einen großen
Bogen um mich. Doch in der Unterkunft warteten meine
Kameraden auf mich, ich wurde nicht bedrängt, aber sie
waren da.
Nachmittags dann „der offizielle Part“, Vernehmungen,
Zeugenaussagen, Skizze erstellen und vieles mehr. Dann
folgten Gespräche mit dem Psychologen, dem Pfarrer und
124
Leutnantsbuch
dem Kommandeur. Sie bemühten sich aufrichtig um mich,
im Grunde genommen kannte ich sie aber kaum. Den Abend
verbrachte ich dann wieder im engsten Kameradenkreis und
ihnen konnte ich mich dann auch richtig öffnen. Schließlich
kannte ich sie schon aus meinem Heimatverband. Bis in die
Nacht sprachen wir die Ereignisse immer wieder durch, spät
ging es zu Bett. Ich habe in dieser Nacht tief und fest
geschlafen, auch in der Folge erlebte ich keine „Flashbacks“
oder andere Auffälligkeiten an mir.
Rückblickend kann ich feststellen, dass mir das Verarbeiten
der Geschehnisse im Kameradenkreis mehr gebracht hat als
das Aufarbeiten durch Fachpersonal, so wichtig und
zwingend erforderlich das ebenfalls ist. Der Zusammenhalt
in der Gruppe, das persönliche Kennen, letztlich die
Kameradschaft waren es, die mir Halt gaben. Daher kann ich
feststellen:
Kameradschaft gibt es auch heute noch und sie hat nichts
von ihrer Bedeutung verloren. Der Führer, der angesichts der
fortschreitenden Technisierung in allen Bereichen diese
Erkenntnis nicht frühzeitig verinnerlicht und lebt, wird sich
nach meiner festen Überzeugung im Extremfall schwer tun.
HI
Betreuung und Fürsorge, wie sie durch Vorgesetzte,
Experten und Einrichtungen der Bundeswehr geleistet
werden, sind wertvolle Beiträge, um vor allem im Einsatz
Betroffenen Hilfe und Beistand zu leisten. Unabhängig
davon ist es aber vor allem eine gelebte Kameradschaft, die
in solchen Situationen verbindet und trägt. Den Zugang zu
Menschen, die Extremes erlebt haben und dadurch starken
Belastungen ausgesetzt wurden, findet jedoch meist nur,
125
Leutnantsbuch
wer über Menschenkenntnis, Einfühlungsvermögen und
Vertrauen verfügt. Der persönliche Kontakt und das
vertrauensvolle Gespräch mit den Kameraden vermitteln
Hilfe und Stärke. Sie sind durch nichts zu ersetzen.
126
Leutnantsbuch
Die Todesnachricht
E
ines Morgens holte mich mein Kompaniechef in sein
Büro und teilte mir mit, dass er demnächst für drei
Monate auf Lehrgang ginge und ich als dienstältester
Zugführer in diesem Zeitraum die Kompanie führen solle.
Ich freute mich auf diese Tätigkeit, war aber auch ein wenig
in Sorge, ob ich der Verantwortung gewachsen sein würde,
die ich nun übernehmen sollte. Im Nachhinein betrachtet war
das nicht unbegründet, wie sich recht bald herausstellen
sollte.
An einem Montag, einige Wochen nach der Übergabe,
erreichte mich der Anruf des Vaters eines Grundwehrdienstleistenden in „meiner Kompanie“. Als der Name
fiel, dachte ich, dass er seinen Sohn entschuldigen wollte, da
sich dieser noch nicht zum Dienst gemeldet hatte. Er teilte
mir mit, dass sein Sohn eine Panne mit seinem Fahrzeug
hätte und deswegen etwas später zum Dienst erscheinen
würde. Dieses sei jedoch nicht der eigentliche Grund seines
Anrufs.
Dann sagte er mir, dass kurz nach der Abfahrt des Sohnes
die Familie erfahren habe, dass ihr zweiter Sohn bei einem
Autounfall tödlich verunglückt sei. Da er nicht riskieren
wolle, dass auch ihm etwas passiere, wenn er diese
furchtbare Nachricht während der Fahrt zur Kaserne erführe,
bat er mich, seinem Sohn die Nachricht vom Tod des
Bruders erst nach Eintreffen in der Kaserne zu überbringen.
Zusätzlich informierte er mich, dass auch der Großvater im
Sterben läge und sein Sohn bereits deswegen in einem sehr
labilen Zustand sei. Nach diesem Telefonat saß ich selber
erst einmal geschockt im Büro und musste das Gehörte für
mich verarbeiten, war ich doch nie in meiner Ausbildung auf
127
Leutnantsbuch
eine derartige Situation vorbereitet worden. Zu meiner
Ausbildung gehörte zwar die Beschäftigung mit dem Thema
„Umgang mit Tod und Verwundung“, jedoch betraf das eher
die eigene Person oder die Kameraden. Nie wurde ich darauf
vorbereitet selber einmal eine Todesnachricht zu überbringen. Zudem war ich erstaunt und verwundert über das
Vertrauen des Vaters, das er in mich setzte, indem er mich
bat, diese Nachricht zu überbringen.
Ungefähr 20 Minuten nach dem Telefonat meldete sich der
betroffene Soldat bei mir im Dienstzimmer. Ich bat ihn
herein und sagte ihm, er solle Platz nehmen. Seine Reaktion
bestand aus einer hastig hervorgebrachten Entschuldigung
und einer Erklärung, warum er zu spät zum Dienst
erschienen sei. Ich beruhigte ihn, nahm direkt gegenüber von
ihm Platz und erklärte ihm, dass ich aus einem anderen
Grund mit ihm sprechen müsste. Denn vor einer halben
Stunde habe sein Vater bei mir angerufen. Als er diese
Worte hörte, brach er vor mir in Tränen aus und dachte, es
ginge um seinen Großvater. Mir war es schwer gefallen, ihm
zu sagen, dass sein Vater angerufen hatte, da ich nicht
wusste, wie er reagieren würde. Als ich dann aber seine
Reaktion sah, wurde es für mich fast unerträglich ihm das
ganze Telefonat wiederzugeben.
Ich rückte meinen Stuhl noch näher an ihn heran und
begann, selber um Fassung ringend, ihm die Todesnachricht
von seinem Bruder zu überbringen. Noch während ich ihm
das erzählte, brach er in meinen Armen unter Tränen und
Trauer zusammen. In diesem Moment selber die Ruhe zu
bewahren um ihn trösten zu können, war eine der schwersten
Situationen, mit denen ich mich während meiner Dienstzeit
konfrontiert sah, aber auch eine der Wichtigsten. Worte
können in so einem Moment fast nichts mehr bewirken, viel
wichtiger war, dass der Soldat sah und spürte, dass jemand
128
Leutnantsbuch
für ihn da war, der Anteil an dem nahm, was geschehen war
und ihm dadurch etwas Halt geben konnte.
Im Vorfeld hatte ich schon meinen Spieß eingeweiht, damit
er ein Dienstfahrzeug bereitstellen konnte, in dem zwei gute
Kameraden des betroffenen Soldaten saßen, die sich
während der Fahrt nach Hause um ihn kümmern sollten.
Nachdem er sich etwas gefangen hatte, begleitete ich ihn mit
diesen zum Fahrzeug, mit dem er dann umgehend zu seinen
Eltern gefahren wurde.
Zurückblickend kann ich nur sagen, dass es für das
Überbringen einer Todesnachricht keinen einfachen und
einheitlichen Weg gibt.
Es ist eine Situation, in der man versuchen muss, selbst
Ruhe zu bewahren und das Geschehen nicht zu nahe an sich
heran zu lassen, auch wenn beides sehr schwer fällt. Ich
wünsche keinem Kameraden, einmal in eine solche Situation
zu kommen. Wenn es dennoch passiert, so kann ich nur den
Rat geben, sich einem guten Kameraden oder dem
Militärgeistlichen anzuvertrauen, damit man beim
Überbringen der Todesnachricht nicht alleine vor dem
Betroffenen steht.
Am Abend suchte ich dann selbst noch das Gespräch mit
einem guten Freund und Kameraden und erzählte ihm, was
vorgefallen war. Ich empfand es als sehr erleichternd, das
Erlebte jemand anderem erzählen zu können. Er hörte mir
dabei einfach nur in Ruhe zu. Nachdem ich geendet hatte,
wurde mir bewusst, dass es mir sehr gut getan hatte, dieses
Erlebnis noch mal wiederzugeben und so für mich zu
verarbeiten.
HI
129
Leutnantsbuch
Sterben und Tod sind gerade durch die Einsatzrealität der
Bundeswehr stärker in den Blick der Soldaten gerückt, als
das noch vor wenigen Jahren der Fall war. Das Überbringen einer Todesnachricht gehört zu den schwierigsten
Aufgaben, die auf einen Disziplinarvorgesetzten zukommen
können.
Dienstvorschriften wie die ZDv 10/8 „Militärische Formen
und Feiern der Bundeswehr“ und die ZDv 10/13 „Besondere Vorkommnisse“ liefern hierfür lediglich formale und
administrative Aspekte. Das Arbeitspapier des Zentrums
Innere Führung „Umgang mit Verwundung und Tod im
Einsatz“ bietet eine wertvolle Hilfestellung bei der Auseinandersetzung mit diesem schwierigen, aber notwendigen
Thema.
Als besonders hilfreich für derartige Situationen kann das
Buch der Evangelischen Militärseelsorge: „Besonderes
Vorkommnis: Der Tod – Überbringen einer Todesnachricht
– eine Handreichung für den Überbringer einer Todesnachricht mit praktischen Hinweisen und Beispielen aus der
Bundeswehr“ uneingeschränkt empfohlen werden. Insbesondere Checkliste und Schnellkurs lassen sich auch
kurzfristig sowohl für die Ausbildung, als auch zum
schnellen Nachschlagen sehr gut nutzen. Die Checkliste ist
auch als Taschenkarte einsetzbar!
Vor allem kommt es aber darauf an, auch in einer solchen
außergewöhnlichen Situation, Ruhe zu bewahren, sich ein
möglichst umfassendes Bild zu verschaffen und mit größtem
Einfühlungsvermögen auf die Betroffenen einzugehen. Und
jeder hat dafür Verständnis, wenn man dabei selbst um
professionellen Beistand wie den Militärseelsorger oder den
Truppenpsychologen nachsucht.
130
Leutnantsbuch
Offizieranwärter Frank
An der Offizierschule
I
nzwischen sind wir – die OA Mannschaft – schon fast alte
Hasen. Wir sind an der Offizierschule des Heeres in
Dresden, dem letzten Ausbildungsabschnitt vor Beginn
unseres Studiums. Hauptmann Seidel haben wir seit unserem
Truppenkommando nicht mehr gehört oder gesehen.
Wahrscheinlich hat er genauso viel zu tun wie wir.
Nur einmal, da haben wir über verschiedene Ecken erfahren,
dass er wohl versetzt werden soll.
Nach unserem Truppenkommando gingen wir gemeinsam in
die Sprachausbildung nach Idar-Oberstein. Das war eine
schöne Zeit – endlich einmal wieder mit Englisch beschäftigen. Nicht, dass ich kein Englisch könnte, aber die
Praxis fehlt einfach. Und im Laufe der Zeit vergisst man
natürlich auch das ein oder andere. Außerdem ist es ja
wichtig für unser Studium, dass wir unsere Punkte für die
neuen Bachelor- und Master-Studiengänge zusammenbekommen – und da ist die Sprachausbildung ein wichtiger
Bestandteil.
Heute ist Donnerstag, wir sitzen im Hörsaal und warten auf
unseren Hörsaalleiter. Er hat sehr kurzfristig erfahren, dass
er versetzt wird – leider, wie wir meinen. Das „Pferd“ im
laufenden Rennen zu wechseln, geht meistens nicht gut!
Aber egal. Mit dem Neuen – da sind wir uns einig – werden
wir uns schon arrangieren. Noch wissen wir nicht, wer es ist.
„Aachtung“, ruft der Hörsaalsprecher, als unser Hörsaalleiter
den Raum betritt. Dann meldet er. Wir werden begrüßt,
131
Leutnantsbuch
grüßen zurück. Der Hörsaalleiter erklärt, dass der „Neue“
gleich komme, er sei noch beim Inspektionschef.
Plötzlich geht die Tür auf. Im Türrahmen – wir können es
erst gar nicht glauben – steht Hauptmann Seidel. Getuschel
unter unserer OA-Mannschaft.
„Das kann doch nicht sein!“, flüstert mir Cindy in das linke
Ohr. „Das ist doch nicht der Hauptmann!?“, ergänzt Markus,
ebenfalls mit gedämpfter Stimme in das andere Ohr.
„Doch, doch – das ist er, wie er leibt und lebt“, sage ich leise
zu beiden, „aber mit einem Unterschied: Er ist Major!“
Na herzlichen Glückwunsch, denke ich, besser hätten wir es
kaum treffen können. Mit Hauptmann, bzw. jetzt Major
Seidel haben wir uns immer gut verstanden. Schnell legen
sich meine Befürchtungen wegen des „Neuen“ und unser
Hörsaalleiter stellt ihn uns vor. Major Seidel grinst uns ein
wenig an. Ich denke, er wusste schon, dass wir in seinem
Hörsaal sind. Bestimmt hat er die Liste der Lehrgangsteilnehmer gründlich studiert.
Wenn ich so an die Zeit des Truppenkommandos
zurückdenke, kommt es mir vor, als wären Jahre vergangen.
Ich kann es kaum glauben, dass jetzt Major Seidel wieder
vor uns steht. Das trifft sich gut, denke ich, denn im
Truppenkommando hatte er uns versprochen, seine
„Theorie“ weiter zu erläutern und uns seine „Schriften“
mitzugeben. Zu beidem ist es aber damals nicht gekommen,
es war einfach zu viel los im Bataillon. Er hatte sich auch
dafür entschuldigt und gesagt: Man sieht sich immer
zweimal im Leben!
132
Leutnantsbuch
Jetzt werden wir ihn festnageln, denke ich, und nicht locker
lassen, bis wir alles wissen. Während der Sprachausbildung
hatten wir noch ein paar Mal darüber gesprochen, dass es
schön gewesen wäre, wenn unser Fähnrichoffizier die
„Sache zum Abschluss“ gebracht hätte. Jetzt ist es soweit!
In der Pause begrüßt uns Major Seidel herzlich, unsere
Namen hat er jedenfalls nicht vergessen. Und er hat auch
nicht vergessen, dass er uns noch „etwas schuldet“, spricht
uns gleich darauf an.
„Wenn Sie Lust haben, dann setzen wir uns am Montagabend wieder nett im Kasino zusammen“, sagt Major
Seidel kurz vor Ende der Pause.
„Ich habe zwei Freunde hier getroffen, mit denen ich mich
verabredet habe. Die kennen unsere berühmten „Erlebnisabende“, habe ihnen davon erzählt. Ich wette, da kommt
noch mehr zusammen.“
Wir sind begeistert, sagen zu und verabreden uns für
neunzehn Uhr am kommenden Montag im Kasino. Dabei
vergessen wir nicht, ihm zur Beförderung zu gratulieren.
Später dann:
„Major Steegemann“, stellt sich der Herr Major vor. Er ist
einer von den beiden Freunden, die Major Seidel
angekündigt hatte. Der andere heißt Major Krause. Wir sind
im Kasino und freuen uns auf den Abend. Major
Steegemann scheint erst kürzlich aus einem Einsatz
zurückgekommen zu sein. Er hat schon angedeutet, dass er
hiervon eine Menge zu berichten hat. Major Krause ist nur
zufällig in Dresden. Er hat sich mit seiner Frau ein
133
Leutnantsbuch
„kinderloses“ langes Wochenende gegönnt, und fährt erst
morgen an seinen Standort zurück.
„Major Seidel hat mir schon viel von Ihnen erzählt“, sagt
Major Krause. „Ich kann Ihnen sagen, dass ich mir auch
schon das ein oder andere Mal die Frage gestellt habe, was
das Besondere an unserem Beruf ist. Am Anfang meiner
Dienstzeit sogar ziemlich oft. Ich hätte damals gerne einen
Ansprechpartner gehabt, mit dem ich einmal unser
berufliches Selbstverständnis hätte besprechen können. Das
war aber leider nicht so.“
Nach einer Weile, in der wir unsere Erlebnisse der
zurückliegenden Wochen und Monate ausgetauscht haben,
sagt Major Seidel: „Wie sieht es denn aus bei Ihnen, haben
Sie noch ein offenes Ohr für ein paar Erlebnisse. Ich würde
da gerne noch von einer Erfahrung berichten, die ich selbst
gemacht habe und die gut in unsere Linie passt. Und Major
Steegemann und Major Krause sicher auch.“
Peter sagt: „Natürlich Herr Major! Deswegen sitzen wir
doch wieder zusammen! Allerdings muss ich gestehen, dass
ich schon bald die vielen Erlebnisse nicht mehr auseinander
halten kann. Wir haben schon soviel gehört …“
„Ja, das kann ich mir vorstellen“ sagt Major Seidel und
ergänzt: „Ich habe sogar vor kurzem angefangen, einige
meiner Erlebnisse aufzuschreiben – sozusagen ein
persönliches Erlebnistagebuch. Mal sehen, was ich daraus
noch mache.“
Dann beginnen die Anwesenden zu erzählen …
134
Leutnantsbuch
Die etwas andere Patrouille!
6.
November, 06.45 Uhr, ein Wintermorgen, irgendwo in
Afrika.
„Wo bin ich? Was mache ich hier?“ Das waren die ersten
Gedanken, die mir nach dem Aufwachen durch den Kopf
schossen. Langsam fiel es mir wieder ein: Ich befand mich
in Kadugli, Südsudan, und war eingesetzt als Militärbeobachter im Auftrag der UN.
Freitag, der „islamische Sonntag“, das heißt für uns
normalerweise technischer Dienst an unseren Fahrzeugen
und keine Patrouillen. Aber dieser Freitag war eine
Ausnahme. Da sich unser Fahrzeug in der Instandsetzung
befand, hatten wir uns etwas Besonderes überlegt: Eine
Kamelpatrouille durch das Umland von Kadugli, um
„Flagge“ zu zeigen. Alle Absprachen waren getroffen und so
konnte es direkt nach der Morgentoilette und dem Frühstück
losgehen. Pünktlich trafen wir, vier Militärbeobachter aus
drei
verschiedenen Nationen
(Jemen,
Norwegen,
Deutschland), am vereinbarten Ort zur Übergabe der Kamele
ein. Doch trotz aller Absprachen war unser Ansprechpartner
nicht auffindbar. Pünktlichkeit ist eben nicht gerade eine
sudanesische Tugend. Denn wir Europäer haben zwar die
Uhr, die Afrikaner aber haben die Zeit! Nach zähen
Verhandlungen gelang es unserem jemenitischen Kameraden
aber trotzdem noch, zwei Kamele zu besorgen.
Er teilte uns auf Grund unseres Gewichtes ein: Er und der
Norweger auf einem Kamel und wir zwei Deutschen auf
dem anderen. Gut gelaunt machten wir uns nun auf den
Weg. Nach kurzer Zeit bemerkten wir, dass sich das andere
Kamel außer Sichtweite befand. Kein Problem, dachten wir,
denn wir kannten ja die Patrouillenroute und den nächsten
Sammelpunkt. Zudem war das Gelände minenfrei und die
135
Leutnantsbuch
Sicherheitslage ruhig und stabil. Allerdings mussten wir
schnell feststellen, dass unsere Pläne so nicht realisierbar
waren. Wir hatten nämlich vergessen, uns in die Führung
eines Kamels einweisen zu lassen. Dies hatte zur Folge, dass
das Kamel uns an der Nase herum führte, anstatt anders
herum. Wir konnten weder bremsen noch lenken. Weder ein
laut gerufenes „Brrrrrrr“ noch Ziehen an den Zügeln brachte
den gewünschten Erfolg. Verbindungsaufnahme über Funk
war auch nicht möglich, da wir uns krampfhaft mit beiden
Händen festhalten mussten, um auf dem Kamel zu bleiben.
Rufe, um die einheimische Bevölkerung auf unseren
Missstand aufmerksam zu machen, waren ebenfalls nicht
erfolgreich, im Gegenteil sogar kontraproduktiv, da die
lauten Geräusche das Kamel immer mehr antrieben.
Unsere einzige Hoffnung war, das Kamel würde irgendwann
einmal vor Erschöpfung stehen bleiben. So trabten wir durch
die Landschaft. Langsam verkrampften unsere Muskeln und
innerlich „schloss ich mit meinen Leben ab“. Doch völlig
unerwartet wendete sich die Situation zu unseren Gunsten.
Abrupt hielt das Kamel an und begann an einem
vertrockneten Busch zu knabbern.
Diesen Augenblick nutzten wir, um waghalsig vom Rücken
unseres Tragtieres abzuspringen. Endlich standen wir wieder
auf festem Boden. Wir waren gerettet. Fast zeitgleich trafen
auch unsere Begleiter ein. Gekonnt, mit einem gurgelnden
Geräusch, brachte unser jemenitischer Freund sein Kamel
zum Stehen.
Nach einem weiteren kehligen Ton setzte sich das Tier sogar
hin, sodass die Reiter keine Probleme hatten abzusteigen.
Erstaunt über die Darbietung fragten wir unseren Kameraden
nach den Kommandos für das Kamel, die dieser uns dann
auch ausführlich erklärte. Aber selbst nach dieser
Lehrstunde in menschlichen und tierischen Fremdsprachen
war es für uns unmöglich, diese Kommandos wiederzu136
Leutnantsbuch
geben. Während sich alle Anwesenden köstlich über unsere
sprachlichen Unzulänglichkeiten amüsierten, begaben wir
uns schließlich zu Fuß und frustriert mit dem Kamel an der
Leine auf den Rückweg. Unser Kamelvermieter war sehr
überrascht, als wir unsere Kamele bereits nach dreißig
Minuten wieder zurückbrachten. Die Patrouille war zwar nur
von kurzer Dauer gewesen, aber noch Wochen später
wurden wir gefragt, ob wir die zwei verrückten Deutschen
wären, die auf einem Kamel auf Patrouille waren. Wir hatten
Flagge gezeigt und wurden dadurch zum lokalen
Gesprächsthema Nummer eins.
Mir machte unser Erlebnis klar, wie wichtig Fremdsprachenkenntnisse sind und dass immer eine gründliche
Einweisung ins Transportmittel erfolgen sollte, vor allem
wenn es sich dabei um ein Kamel handelt.
HI
Die hier dargestellte, etwas ungewöhnliche Art der
Auftragsausführung soll und darf nicht über die
tatsächlichen Rahmenbedingungen eines Einsatzes hinwegtäuschen.
Einsätze sind so komplex wie das Einsatzland und die
dortigen Zustände selbst. Aus einer vermeintlichen Idylle
kann im nächsten Augenblick auch eine Katastrophe
entstehen. Bei aller Neugier und Aufgeschlossenheit für die
Besonderheiten eines Landes sollte dies niemals vergessen
werden. Interkulturelle Kompetenz ist daher wie eine
Lebensversicherung und hilft, einen Einsatz zu bestehen.
137
Leutnantsbuch
Jointness
W
ie wäre es denn mit Diez an der Lahn? Da finde ich
„
auf jeden Fall einen Dienstposten für Sie“, so mein
Personalführer während des Einplanungsgesprächs an der
Universität der Bundeswehr München. Auf mein fragendes
Gesicht hin zückte er schnell seine Deutschlandkarte.
„Zwischen Frankfurt am Main und Köln, direkt an der A3
und auch nicht weit weg von Ihrer Heimat.“ „Das hört sich
doch gut an“, schoss es mir durch den Kopf, also willigte ich
in die aufgezeigte Verwendungsplanung ein.
Wenige Monate später meldete ich mich beim Personaloffizier des Regiments, ein sogenannter Heeresuniformträger mit schwarzer Litze. Ein Pionier also, daneben
gab es noch zahlreiche Logistiker, doch etwa die Hälfte des
Offizierkorps war, wie ich, in der Luftwaffe groß geworden.
Meinen Platz fand ich erst einmal im S3-Bereich. Anhand
einiger Präsentationen lernte ich das Regiment kennen.
Neben Auftrag und Gliederung des Stabes gaben mir vor
allem die unterstellten Verbände Rätsel auf: ein Versorgungs- und Ausbildungszentrum, ein Spezialpionierbataillon
und zwei Logistikbataillone. Der S3-Offizier erklärte mir
den Auftrag der Bataillone, er war ausgebildeter Nachschuboffizier und hatte somit fundierte Kenntnisse über das
Regiment, das zur Streitkräftebasis gehört.
Am Nachmittag des zweiten Tages gab es die erste
Besprechung. Anlass war die Zusage der Bundesregierung,
die Bundeswehr im Rahmen der Humanitären Hilfe in
Südostasien einzusetzen. Dort hatte wenige Tage zuvor ein
verheerender Tsunami gewütet, dem insgesamt mindestens
180.000 Menschen zum Opfer gefallen waren.
138
Leutnantsbuch
Während der Besprechung hieß es dann: „Zur Koordination
der Unterstützungsleistungen wird ein Lagezentrum
eingerichtet. Leutnant M., der in dieser Minute davon
erfährt, wird mit unserem wehrübenden Major dort
eingesetzt.“ Da musste ich erst mal schlucken. Am nächsten
Morgen ging es gleich los, zunächst das Büro einrichten,
Computer besorgen und anschließen, Dokumente lesen und
Verbindungen zu den Verantwortlichen im Einsatzführungskommando der Bundeswehr, dem Kommando
Schnelle Einsatzkräfte Sanitätsdienst, der Flugbereitschaft in
Köln-Wahn und den unterstellten Bataillonen knüpfen.
Das Telefon klingelte. „Hier Oberstleutnant S. aus Banda
Aceh. Schicken Sie mir mal die IATA per E-Mail.“ „Ja, ...“,
dann riss die eh’ schon schlechte Verbindung ab. Der
Rückruf hatte keinen Erfolg. Das Mobilfunknetz der
indonesischen Insel war aufgrund der vielen Helfer
überlastet. Ich hatte keine Ahnung, was IATA bedeutet und
wo ich danach suchen sollte. Also begab ich mich auf die
Suche nach jemandem, der mir weiterhelfen konnte. Im
Bereich Materialbewirtschaftung traf ich auf einen
Hauptmann, den ich danach fragte. „IATA ist die
„International Air Transport Association“. Deren Bestimmungen sind für den weltweiten Flugverkehr verbindlich.
Fragen Sie mal bei Verkehr und Transport nach“, so seine
Antwort. Zwei Büros weiter der nächste Versuch:
„Oberstleutnant S. hat mich gerade angerufen, er benötigt
die Transportbestimmungen der IATA. Können Sie mir da
weiterhelfen?“ „Klar hab ich die Bestimmungen, ich sende
sie gleich an den Oberstleutnant.“ Nach nur zwanzig
Minuten war die Vorschrift via Internet auf dem Weg um die
halbe Welt nach Indonesien.
139
Leutnantsbuch
Jeder Soldat hat sich bewusst für eine Teilstreitkraft oder
eine Truppengattung entschieden, entweder weil er dort
seiner Traumverwendung nachgehen kann oder von den
Fahrzeugen, Schiffen oder Flugzeugen fasziniert ist. Jeder
hat einen gewissen „Waffenstolz“ entwickelt und macht
Witze über andere Bereiche. Jointness steht im Allgemeinen
militärischen Sprachgebrauch für das Zusammenwirken der
Teilstreitkräfte und militärischen Organisationsbereiche in
einer Operation. Für die Streitkräftebasis bedeutet Jointness
die Zusammenarbeit aller in der Streitkräftebasis eingesetzten Soldaten, gleichgültig ob Sie ursprünglich aus dem
Heer, der Luftwaffe oder der Marine kommen. Es geht nicht
darum, seine militärische Identität zu verlieren oder zu
verleugnen, sondern sein Wissen an der richtigen Stelle
einzubringen, alle davon profitieren zu lassen und
gemeinsam Herausforderungen zu bewältigen. Nur so ist ein
derart vielfältiges und facettenreiches Arbeitsfeld, wie die
Logistik, zu bewältigen.
HI
Die Streitkräftebasis ist der zentrale militärische
Organisationsbereich zur Unterstützung der Bundeswehr im
Einsatz und im Grundbetrieb. Sie unterstützt die Teilstreitkräfte Heer, Luftwaffe und Marine sowie den Zentralen
Sanitätsdienst der Bundeswehr durch die Wahrnehmung
von Aufgaben, die streitkräftegemeinsam effektiver und
effizienter erbracht werden können.
Durch diese Konzentration werden die Teilstreitkräfte
entlastet, Synergieeffekte genutzt und das Leistungsvermögen der Streitkräfte insgesamt gesteigert.
Die Erfahrung, einer gemeinsamen Sache zu dienen und mit
anderen zusammenzuarbeiten, stärken das Gemeinschaftsgefühl und die soldatische Identität.
140
Leutnantsbuch
Der Brief
D
ie Telefonzellen waren wieder einmal alle belegt – bis
auf die zwei, die schon seit einiger Zeit defekt waren.
Niemand schien sich darum zu kümmern. Im Einsatz ist das
besonders ärgerlich, weil die Verbindung nach Hause eine
Bedeutung bekommt, die nur versteht, wer selber schon
einmal für ein paar Monate im Einsatz war.
Aus einer der Zellen kam Oberfeldwebel M. heraus und
stapfte mit verdrießlicher Miene an mir vorbei. „Na, junger
Kamerad“, sprach ich ihn an, „wie geht’s?“ Er schaute mich
unsicher an und antwortete: „Wenn Sie’s wirklich wissen
wollen – mir geht’s heute total beschissen. Und Sie können
mir auch nicht helfen. Das ist was Privates.“
Es war bereits „Rec-time“, wie man heute im Einsatz zum
Dienstschluss sagt. Daher lud ich Oberfeldwebel M., mit
dem ich bereits in der Transall auf dem Herflug ins
Gespräch gekommen war, zu einem Getränk in die OASE
ein. Er willigte nach kurzem Zögern ein – sein Abend war
offensichtlich eh’ schon verdorben und konnte nicht mehr
schlechter werden.
Auf dem Weg zur OASE kamen wir langsam ins Gespräch.
Sein Anruf zu Hause war voll in die Binsen gegangen. Er
hatte sich so auf die Unterhaltung mit seiner Frau gefreut
und auf die Stimme seines kleinen Sohnes, der am Ende
immer noch etwas ins Telefon plappern durfte.
Stattdessen hatte sich der Junge eine schwere Erkältung
zugezogen und hustete erbärmlich. Und die Frau war von
Anfang an gereizt gewesen. Sie hatte wegen der Erkrankung
des Kindes die ganze Nacht nicht geschlafen und schließlich
am Telefon geweint, weil sie sich überfordert und
alleingelassen fühlte. Sie war wohl mit ihren Nerven
ziemlich am Ende und dann hatte irgendwie ein Wort das
141
Leutnantsbuch
andere gegeben. Nach wechselseitigen Vorwürfen hatte sie
einfach aufgelegt – ohne ein Abschiedswort.
Kein Wunder, dass Oberfeldwebel M. jetzt so griesgrämig
war. Als wir in der OASE vor unserem Getränk saßen, fragte
ich vorsichtig: „Haben Sie Ihrer Frau eigentlich schon mal
einen Brief geschrieben?“ – „Ja, damals, ganz am Anfang,
als wir uns kennen lernten. Es war sogar ein Liebesbrief. Ich
glaube, sie hat ihn heute noch in ihrer Schmuckkassette
versteckt.“ – „Und seitdem haben Sie ihr nie wieder etwas
geschrieben?“ – „Nein, wozu auch – es gibt doch Handys
und Telefon. Schreiben ist so umständlich und hier im
Einsatz dauert die Post doch ewig.“
Ich prostete dem Schreibmuffel zu und erzählte ihm, wie ich
das mit meiner Verbindung nach Hause hielt. Dabei hielt ich
ihm ganz bewusst einen kleinen Vortrag und er hörte mir
geduldig zu:
„Selbstverständlich rufe ich auch so oft wie möglich an.
Aber ich schreibe meiner Frau auch jede Woche einen Brief,
meistens am Samstag, wenn ich dafür mehr Zeit habe. Das
Briefeschreiben ist natürlich gerade anfangs etwas
ungewohnt und anstrengend. Aber Sie werden sehen – bald
macht es Ihnen keine Mühe mehr. Und Ihrer Frau machen
Sie damit eine richtige Freude. Denn jedes Telefongespräch
hier ist schneller zu Ende als einem lieb ist. Ihren Brief aber
kann sich Ihre Frau auf das Nachtkästchen legen. Da liegt
dann sozusagen ein Stück von Ihnen neben ihr. Das ist
vielleicht sogar besser als ein Bild, weil so ein Brief Ihre
Gedanken ausdrückt, Ihre Gefühle, Ihre Wünsche und Ihre
Hoffnungen, aber auch Ihre Sorgen und Ihre Befürchtungen.
Das liegt ganz an Ihnen und wie gut Sie das formulieren
können. Aber Übung macht den Meister. Dann ist so ein
Brief nicht nur ein beschriebenes Stück Papier, sondern ein
142
Leutnantsbuch
Ausdruck meiner Persönlichkeit und vielleicht sogar ein
Stück meiner eigenen Geschichte, die ich damit nicht nur
weitergebe, sondern auch bewahre.“
Oberfeldwebel M. schaute mich mit großen Augen an: „So
habe ich das noch gar nicht gesehen. Eigentlich haben Sie ja
recht. Vielleicht sollte ich meiner Frau einfach ’mal wieder
einen Brief schreiben.“
„Ja“, bestärkte ich ihn, „tun Sie das am besten noch heute
Abend. Dann können Sie gleich Ihren missglückten Anruf
aufarbeiten. Oder glauben Sie, dass Sie in Ihrem Brief alle
diese Vorwürfe noch einmal aufwärmen werden, die Sie sich
heute gegenseitig an den Kopf geworfen haben?“ – „Nein,
natürlich nicht. Mir tut es doch jetzt schon leid, was ich da
wieder alles von mir gegeben habe!“
„Sehen Sie“, sagte ich, „genau das ist der große Vorteil beim
Briefeschreiben. Man kann in aller Ruhe überlegen, was
man wirklich loswerden will. Was einmal ausgesprochen ist,
bleibt ausgesprochen. Und wenn es der größte Unsinn war.
Einen missglückten Brief kann ich in den Papierkorb werfen
und noch mal anfangen. Dann muss mir hinterher auch
nichts leid tun. Und wenn’s am Anfang wirklich schwer
fällt, dann setzen Sie doch einfach einen Entwurf auf und
schreiben ihn dann ins Reine. Ich sage Ihnen jetzt schon,
Ihre Frau wird den Brief gar nicht mehr aus der Hand geben.
Vielleicht schreibt Sie Ihnen dann auch zurück. Wäre doch
schön, wenn man ab und zu ’mal so ein leicht parfümiertes,
buntes Kuvert öffnen könnte. Und jetzt sage ich Ihnen noch
ein Letztes. Wenn Sie sich beide regelmäßig schreiben,
haben Sie am Ende ein kleines gemeinsames Einsatztagebuch in Briefform. So eine gemeinsame Erinnerung ist
dann schöner und wertvoller als jedes Kontingentbuch. Und
übrigens: unsere Feldpost ist ganz schön fix!“
143
Leutnantsbuch
Als ich Oberfeldwebel M. einige Tage später wieder an den
Telefonzellen traf, strahlte er über das ganze Gesicht:
„Meine Frau hat gestern meinen Brief bekommen. Und
meinem Junior geht es auch wieder besser. Ich glaube, sie
hat sich über meinen Brief mehr gefreut als über meinen
Liebesbrief damals. Er war aber auch mindestens doppelt so
lang, wenn nicht sogar länger! Ich habe schon wieder
geschrieben. – Aber Telefonieren finde ich trotzdem
schöner!“
HI
Im Einsatz gewinnen Betreuungsleistungen wie zum Beispiel
private Fernmeldeverbindungen ins Heimatland eine
besondere Bedeutung. Die gewohnten Heimatstandards
können aber nicht immer gewährleistet werden. Dann
kommt es darauf an, sich auf eine alte Tugend
zurückzubesinnen – das Briefeschreiben. Die Feldpostämter
in den Einsatzländern sind sehr leistungsfähig und zuhause
freuen sich alle auf einen Feldpostbrief. Früher war das oft
monatelang das einzige Lebenszeichen. Heute ist der
persönliche Brief eine Möglichkeit, einen Einsatz für die
Angehörigen im wörtlichen Sinn „begreifbarer“ und damit
transparenter zu machen. Auch das schafft Verständnis und
Vertrauen.
144
Leutnantsbuch
Glauben hilft!
M
eine Mutter war streng katholisch und so wurde ich
auch erzogen. Als kleiner Bub schon war ich in
kirchlichen Jugendgruppen und Ministrant. Mit der Pubertät
kam dann der Bruch. Ich ging auf Tauchstation und hatte mit
Kirche nicht mehr viel am Hut. Ich wurde sozusagen
„U-Boot-Christ“ und tauchte nur noch gelegentlich in der
Kirche auf.
Doch dann kam mein erster Auslandseinsatz. Die Monotonie
der 7-Tage-Woche, unterbrochen nur durch den freien
Sonntag-Vormittag, der gewöhnlich zum Containerputzen
oder zum Kirchgang genutzt wurde. Wir hatten zwei
Militärseelsorger, die sich mit dem Sonntagsgottesdienst
abwechselten. Ich hatte mir vorgenommen, sowohl den
katholischen als auch den evangelischen Militärpfarrer
zumindest einmal in ihrem Kirchenzelt zum Gottesdienst zu
besuchen. Ich war von beiden angenehm überrascht. Ihre
Predigten hatten ganz realen Bezug zu unserem Einsatz, zu
Dingen die uns beschäftigten. So ging ich über Monate
wieder regelmäßig in die Kirche und kam beim
Kirchenkaffee, dem anschließenden Kaffeetrinken, mit
anderen Gottesdienstbesuchern ins Gespräch. Das Wort
Gespräch wähle ich bewusst; denn es war mehr als
Diskussion, Debatte oder Meinungsaustausch. Es waren
persönliche Gespräche, in denen man ein Stück seiner
Gefühle, seines Glaubens und seiner Zweifel preis gab und
sich ein gutes Stück weit offenbarte, wie ich es außerhalb
der Familie oder dem engsten Freundeskreis nicht für
möglich gehalten hätte.
Nach dem Einsatz suchte ich dann den Kontakt zu meinem
Standortpfarrer, und siehe da, auch er ist ein ganz
vernünftiger Mensch.
145
Leutnantsbuch
Er brachte mich mit anderen Soldaten zusammen, die sich
mit ähnlichen Fragen der vermeintlichen Widersprüche
zwischen Soldat- und Christ-Sein beschäftigten und gab mir
Schriften der GKS zu lesen.
Diese Gemeinschaft Katholischer Soldaten ist mir mittlerweile zur geistigen Heimat geworden. Das christliche
Menschenbild und die abendländischen Werte, die im Kern
ja christliche sind, habe ich als das Fundament meines
soldatischen Dienens erkannt.
Im SFOR-Einsatz, wo wir einer geschundenen Bevölkerung
die Chance auf ein Leben ohne Willkür und Gewalt, auf
einen friedlichen Wiederaufbau und eine Aussöhnung der
Ethnien ermöglicht haben, war alles ganz einfach. Als
Offizier, der noch in Zeiten des Kalten Krieges zur Bundeswehr gekommen war, war ich stolz: Ich war vom
„Kriegsverhinderer“ zum Friedensgestalter geworden.
Doch später im ISAF-Einsatz, als es um Schusswechsel mit
Aufständischen, um getötete Kameraden und Taliban ging,
die Raketen auf unser Lager schossen und mit Sprengfallen
und „Suicide-Bombern“ unsere Konvois angriffen, wurde es
schwieriger.
Doch genau hier bewahrt mich mein christliches Menschenbild vor Rache und Überheblichkeit. Ich erkenne in der
afghanischen Bevölkerung ebenso das Ebenbild Gottes wie
in den Europäern. Ich begegne ihr mit Respekt und bin in
ihrem Land, um ihr zu helfen. Dennoch kann ich den Feind
aber genauso konsequent bekämpfen, ja notfalls sogar töten,
wenn dies die einzige Möglichkeit ist, ihn von seinen
Kampfhandlungen abzubringen. Natürlich braucht man nicht
zwingend ein christliches Wertefundament, um die Regeln
des Kriegsvölkerrechtes einzuhalten. Aber die Erfahrungen
anderer Streitkräfte zeigen, dass dort, wo die Angst vor
Strafverfolgung und ein prägendes Wertefundament fehlen,
die Hemmschwellen sinken.
146
Leutnantsbuch
Als Offizier, der einen so unmittelbaren Bezug zu Verwundung und Tod, zum Töten und getötet werden hat, und
dies nicht nur für sich selbst, sondern auch die Verantwortung trägt, ist mir eines klar: Der christliche Glaube gibt
mir einen inneren Wertekanon, der auch dann noch wirkt,
wenn in einer Ausnahmesituation jede äußere Aufsicht fehlt.
Dann meldet sich die innere Stimme mit ihrem klaren: „Das
tut man nicht!“
HI
Kritische Entscheidungs- und Gefechtssituationen erfordern
ein reflektiertes ethisches Wertefundament. Daher müssen
die ethischen Dimensionen des Dienens im Frieden und
Einsatz notwendiger Bestandteil soldatischer Ausbildung
sein. Der christliche Glaube und das christliche Wertefundament können hier, im Sinne eines Kompasses, Wegweiser
und Handlungsmaxime sein. Andere Religionen können das
auch.
147
Leutnantsbuch
Friendly Fire
A
pril, der „gepanzerte Einsatzverband“ der Brigade
bereitet sich auf dem Truppenübungsplatz auf den
bevorstehenden Auftrag der Friedenssicherung im Großraum
Sarajevo vor. Es ist ein Novum für die Brigade, ja für das
deutsche Heer insgesamt. SFOR ist nicht nur die erste
Mission, in der ein Kampftruppenverband eingesetzt wird,
auch die Gliederung des Verbandes selbst ist ungewöhnlich.
600 Soldaten, gebildet zu je 50% aus Jägern und
Panzeraufklärern. Die Einheiten sind daher sowohl mit dem
Transportpanzer FUCHS als auch mit dem Spähpanzer
LUCHS ausgerüstet und bis in die Zugebene hinein
gemischt. Kohäsion ist oberstes Gebot, in nur zwei Monaten
müssen Jäger und Aufklärer zu einem einsatzbereiten
Bataillon zusammenfinden. Der gemeinsame Auftrag und
die intensive Ausbildung schweißen zusammen, Mannschaft
und Führer fassen Vertrauen zueinander.
Vier Wochen später ist das Bataillon in Rajlovac eingetroffen und hat den Einsatzraum übernommen. Doch
bereits nach wenigen Wochen tritt der Verband zu einem
traurigen Anlass bei einem Appell an. Ein Soldat wurde tot
in seinem Unterkunftscontainer aufgefunden, er starb eines
natürlichen Todes. Trauer und Nachdenklichkeit beherrschen die nächsten Tage. Der Gedanke an das eigene
Schicksal ist plötzlich aufgetaucht. Für eine Atempause ist
jedoch keine Zeit. Die Tage sind lang, das Medieninteresse
an dem ersten „deutschen Kampfeinsatz“, wie die Zeitungen
schreiben, ist riesengroß. Kaum ein Tag vergeht ohne
Pressebegleitung.
Der 21. Juni ist ein strahlender Sommertag. Auf dem
Kettenabstellplatz macht sich eine gemischte Patrouille aus
148
Leutnantsbuch
LUCHS und FUCHS zum Abmarsch bereit. Mehrere
Vertreter der Presse sollen die Soldaten begleiten, die nun
ihre Bord- und Handwaffen laden und überprüfen. Plötzlich
zerreißt ein Feuerstoß aus der 20mm Maschinenkanone des
LUCHS die Stille. Splitter pfeifen durch die Luft, Schreie
ertönen. Mehrere Schüsse aus der Kanone haben den
unmittelbar dahinter aufgefahrenen FUCHS getroffen.
Leutnant J., der Zugführer handelt rasch. Überblick über die
Lage verschaffen, Verwundete bergen und versorgen.
Richtschütze und Kommandant des LUCHS stehen unter
psychischem Schock. Sie werden durch Kameraden vom
Unglücksort abgeschirmt und betreut. Vom unmittelbar
benachbarten Feldlazarett ist ärztliche Hilfe in Minuten zur
Stelle. Alle Bemühungen können indes nicht verhindern,
dass zwei Soldaten wenig später sterben. Ein weiterer
Kamerad hat Splitterverletzungen erlitten, er wird später
wieder voll genesen.
Doch es gibt auch Verwundungen, die nicht so
augenscheinlich sind. Den Angehörigen der Patrouille, wie
auch den Pressevertretern ist der fassungslose Schrecken
anzusehen. Während Kommandant und Richtschütze des
LUCHS mit schwerem psychischem Schock stationär in das
Feldlazarett aufgenommen werden, findet wenige Stunden
später unter fachkundiger Moderation des Truppenpsychologen ein erstes Trauma-Debriefing für die Zeugen
statt. Es geht zunächst darum, sich das eigene Erleben
buchstäblich von der Seele zu reden. Presse, Zugführer und
Mannschaft sind hier einfach nur Hilfesuchende. Mehrere
Sitzungen dieser Art werden in den nächsten Tagen folgen.
Die Schockwelle reicht indes weit über die Zeugen hinaus,
sie hat naturgemäß den ganzen Verband getroffen. Die
mühsam gewachsene Kohäsion droht zu zerbröckeln.
149
Leutnantsbuch
Unausgesprochen steht der hilflose Vorwurf im Raum: „Die
Aufklärer haben die Jäger getötet“.
Unbewusst rückt man voneinander ab, für einen so eng
zusammenlebenden und gemischten Verband eine schwere
Krise. Kommandeur und Kompaniechefs sind sich einig:
Das Thema muss offen angesprochen werden. Auf allen
Ebenen und in zahllosen Runden wird um eine gemeinsame
Haltung gerungen. Eigene Emotionen schwingen mit, die
Situation verlangt Menschenführung im besten Sinne.
Das Bataillon versammelt sich zum zweiten Mal zu einem
Trauerappell, doch ohne die Soldaten der Patrouille. Diese
besprechen unter Leitung von Leutnant J. in einem
abgeschiedenen Betreuungsraum eine zentrale Frage:
Morgen sollen Kommandant und Richtschütze aus dem
Lazarett entlassen werden. Können wir sie je wieder in die
Gemeinschaft unseres Zuges aufnehmen?
Sollte der Kommandeur sie nicht besser „repatriieren“? Er
hat deutlich gemacht, dass diese Maßnahme den beiden die
Möglichkeit nehmen würde, sich dem Geschehen zu stellen
und darüber hinweg zu kommen. Auch strafrechtliche
Gründe verlangen dies nicht, alles deutet zunächst auf einen
technischen Fehler an der Waffenanlage hin. Lange wird an
diesem Abend um eine gemeinsame Entscheidung gerungen,
jeder hat eine gleichberechtigte Stimme. Leutnant J. weiß:
Hier hilft kein Befehl, jeder Einzelne muss menschlich
überzeugt sein, wenn sein Zug noch eine Zukunft haben soll.
Am nächsten Morgen stehen alle fünfzehn Soldaten vor dem
Eingang des Lazaretts. Leutnant J. holt die beiden von ihrem
Zimmer ab. Zögernd treten sie aus dem Gebäude heraus.
Trotz intensiver Betreuung durch Psychologen und
Vorgesetzte haben sie tiefe Schuldgefühle. J.’s
Empfangskommando spürt dies genau. Eine erste Hand wird
zögernd ausgestreckt, aufgestaute Emotionen entladen sich.
150
Leutnantsbuch
Dann liegen die Soldaten sich weinend in den Armen, ziehen
gemeinsam vom Lazarett zum Unterkunftsbereich. Die
Blicke der zufällig anwesenden Jäger und Panzeraufklärer
folgen ihnen, schnell verbreitet sich die Nachricht in der
Truppe.
Auch die nächsten Tage und Wochen sind noch eine
menschliche Herausforderung. Schuldgefühle, Trauer und
Ängste wollen zugelassen und bewältigt werden. Eine
Abordnung des Bataillons fliegt zur Gedenkveranstaltung
und den anschließenden Begräbnissen nach Deutschland.
Doch der Bann ist gebrochen. Leutnant J. hat durch sein
Handeln beigetragen, eine tiefe Krise des gesamten
Verbandes zu überwinden.
HI
Menschliches und technisches Versagen sind auch heute
trotz guter Ausbildung sowie moderner und solider Technik
als Fehlerquellen nicht gänzlich zu vermeiden.
Die Folgen sind oft schwer absehbar, treten überraschend
ein und treffen die Menschen meist völlig unvorbereitet.
Wenn sie so tragisch sind, wie hier dargestellt, darf niemand
mit seiner Belastung alleine gelassen werden. Der Mensch
steht im Mittelpunkt.
Je nach Tragweite sind Einheit oder Verband aufgefordert,
das gesamte zur Verfügung stehende soziale Netzwerk einzusetzen und im jeweiligen Verantwortungsbereich, zu helfen.
In gewachsenen und in sich gefestigten Verbänden, die nach
den Grundsätzen moderner Menschenführung und der
„Inneren Führung“ geführt und ausgebildet worden sind,
gelingt dies meist besonders gut.
151
Leutnantsbuch
Die Truppenpsychologin
II.
Zug stillgestanden! – Zur Meldung – Augen rechts!“.
„
Oberleutnant H. freut sich an diesem Morgen
besonders auf seine Männer und Frauen, da er in dieser
Woche die erste „scharfe“ Patrouille führen wird. Für das
zweite Fahrzeug hat er Feldwebel F. ausgewählt, der bereits
seinen zweiten Auslandseinsatz absolviert und seinem
Zugführer durch ruhige und verlässliche Auftragserfüllung
und kameradschaftliche Fürsorge seiner Gruppe gegenüber
aufgefallen war. Auch der Kompaniechef hat Feldwebel F.
als „sichere Bank“ für diffizile Aufträge beurteilt.
Am nächsten Morgen bemerkt Oberleutnant H. bei der
Befehlsausgabe ein leichtes Zucken im Gesicht unter der
Helmkante bei Feldwebel F., das sich auf dem Weg zu den
Fahrzeugen verstärkt und beim Öffnen der Fahrertür zu
einem hektischen Zittern wird. Die Beruhigungsversuche
durch gutes Zureden und einen freundschaftlichen Armdruck
bringen kaum Besserung, vielmehr wirkt Feldwebel F.
zunehmend gestresst. Der Zugführer entschließt sich
kurzfristig Oberfeldwebel M. mitzunehmen und beantragt
beim Spieß für Feldwebel F. eine Belegart 90/5 zur
ärztlichen Begutachtung erstellen zu lassen.
Die truppenärztliche Untersuchung bescheinigt ihm eine
gute körperliche Fitness und keinerlei medizinische
Einschränkung, sodass alle und allen voran Feldwebel F.
das „Ereignis“ für eine kurzzeitige Schwäche halten.
(Kameraden vermuten Ärger zu Hause, zu wenig Schlaf und
etwas zuviel Alkohol). Feldwebel F. versichert seinem
Zugführer, dass er sich nunmehr im Griff habe und voll
einsatzfähig sei.
152
Leutnantsbuch
Der II. Zug rückt am nächsten Morgen mit Feldwebel F. zu
den Fahrzeugen ab und sitzt auf. Oberleutnant H. kontrolliert
seine Teams persönlich und bemerkt bei Feldwebel F. nun
eine Blässe im Gesicht, durchsetzt von kleinen und großen
roten Flecken. Oberleutnant H. nimmt Feldwebel F. vom
Fahrzeug und gibt ihm den Auftrag, mit dem S 6-Feldwebel
des Bataillons Fernmelde-Gerät auf Vollzähligkeit und
Funktionalität zu überprüfen. Am Abend nimmt er ihn
beiseite und führt ein persönliches Gespräch mit ihm, um
dessen Situation besser einschätzen zu können. Neben
privaten Sorgen mit der Verlobten erfährt er dabei auch von
der unmittelbaren Nähe seines Gruppenführers zu einem
Anschlag während seines ersten Auslandseinsatzes. Bei der
weiteren, genauen Abklärung dazu verhält sich F. reserviert
und wird zunehmend einsilbig. Er scheint auch weniger
ansprechbar zu sein. Oberleutnant H. erinnert sich an einen
Unterricht zur psychologischen Einsatzvorbereitung in
Hammelburg und regt an, dass sein Feldwebel mal bei der
Truppenpsychologin, Oberstlt S., vorbeischauen könnte.
Feldwebel F. ist entsetzt und verteidigt sich spontan: „Ich
bin doch nicht meschugge und lasse mir vom
Seelenklempner die Karriere versauen!" Andererseits
bemerkt er wohl, dass sich sein Verhalten in einer Weise
verändert hat, die er sich nicht mehr selbst erklären kann,
und ganz besonders sein nervöses Zittern und das
Herzpochen, wenn er zur Patrouille aufsitzen soll, lassen ihn
nicht zur Ruhe kommen. Durch seine Feldwebelkameraden,
von denen einer ähnliche Stressfolgen nach einen schweren
Verkehrsunfall schildert, lässt er sich doch zu einem Besuch
bei der Truppenpsychologin bewegen und vereinbart gleich
am nächsten Tag einen Termin. Im Gespräch mit Frau
Oberstleutnant S. ist ihm dann aber zunächst einmal mulmig
und er stottert anfänglich unsicher, was ihm aber durch die
153
Leutnantsbuch
freundliche Akzeptanz und sichere Gesprächsführung
schnell genommen wird. Es wird ihm bewusst, dass es
Situationen, auch im Soldatenleben Situationen gibt, die
einen unvermittelt mit aller Wucht treffen können und damit
unsere sonst auf Konsequenz getrimmten Sinne in der
Schreckenslage auseinander driften und ganz erhebliche
„Speicherfehler“ im Gehirn produzieren. Erinnern ist danach
nur teilweise, zum Beispiel an ein unbestimmtes Gefühl des
Unbehagens und der Angst, möglich, ohne zu wissen, wozu
dieses in der eigenen Erfahrung gehört!
Stück für Stück kann so in diesem ersten Gespräch mit der
Truppenpsychologin eine Verbindung zwischen einem rotgrünen Aufkleber am Handschuhfach seines Fahrzeugs (als
„Auslöser“ seiner Erregung) und irgendwie, wenn auch sehr
diffus, mit dem Anschlag aus dem ersten Auslandseinsatz
aufgezeigt werden.
Auf diese Weise findet Feldwebel F. nach und nach die
Versatzstücke seiner Erinnerung und kann diese so
zusammenbauen, dass das problematische Geschehen geortet werden kann (eine kleine afghanische Flagge, die er
kurz vor der Detonation der Bombe in einem vorbeifahrenden Fahrzeug gesehen hatte und die entsetzlichen
Schreie der Kameraden aus dem Fahrzeug vor ihm, denen er
nicht helfen konnte).
Im weiteren Verlauf der Gespräche merkt Feldwebel F., wie
beim Aufarbeiten dieser Erkenntnis eine große Last von
seiner Seele fällt, er sein altes Selbstvertrauen wiederfinden
und mit Zuversicht seine weitere Karriere planen kann.
Oberleutnant H. ist froh, seinen leistungsfähigen Feldwebel
wieder einsetzten zu können. Wie gut es doch war, sich an
diesen Unterricht aus der Einsatzvorbereitung im richtigen
Moment erinnert zu haben.
HI
154
Leutnantsbuch
Im Moor
D
as Bataillon befand sich seit zwei Wochen auf dem
Truppenübungsplatz BERGEN. Den Kommandanten
und Fahrern war das Gelände inzwischen vertraut.
Und dennoch ...
Die ganze Nacht hatten Teile des I. Panzerzuges der vorn
links eingesetzten Kompanie im Feldposten gestanden.
Immer wieder hatte der Gegner versucht, mit Gefechtsaufklärung die Stellungen des Verbandes in der zeitlich
begrenzten Verteidigung aufzuklären. Diese Aktivitäten
erforderten die volle Aufmerksamkeit der Besatzungen.
Endlich, im Morgengrauen, wurde der Zug herausgelöst und
war auf dem Marsch in den Raum der Reserve. Die Männer
freuten sich auf ein bisschen Ruhe, bis die Folgeaufträge zu
erwarten waren.
Doch plötzlich kam der unerwartete Auftrag an den Leutnant
und Zugführer des I. Panzerzuges: „Alpha hier Nachtigall,
Feind tritt im linken Bereich mit starken Kräften an. Linker
Nachbar kann Stellungen nicht mehr halten. Minenwerfer
ausgefallen. Sie, Auffangen aus Stellung 4 in 15!“
15 Minuten waren knapp bemessen, der Zug befand sich
noch auf dem Marsch in den Raum der Reserve. Aus der
Bewegung befahl der Zugführer, trotz der Einwände seiner
erfahrenen Feldwebel, die Stellung 4 auf einem bisher nicht
erkundeten Weg – am berüchtigten „Meier-Moor“ entlang –
zu erreichen. Nur so war das rechtzeitige Erreichen der
Stellung 4 zu schaffen und der Auftrag „Auffangen in 15!“
zu erfüllen. Aufgrund des nicht bekannten Weges und der zu
erwartenden, eingeschränkten Gangbarkeit des Geländes
entschloss sich der junge Offizier, mit seinem Gefechtsfahrzeug voran zu fahren.
155
Leutnantsbuch
Kurz nach Erreichen der ersten Ausläufer des Moores, nach
einer engen Kurve passierte es ... „Alpha HALT, Alpha
HALT, Alpha HALT!“ Der Kampfpanzer des Zugführers
war durch die hohe Geschwindigkeit vom halbwegs festen
Weg abgekommen, steckte im Moor fest und begann bereits
einzusinken. Umgehend befahl er über Funk seinem
Stellvertreter zu übernehmen und mit den restlichen drei
Gefechtsfahrzeugen den Auftrag weiter fortzusetzen.
Anschließend erkundigte er sich über die Bordsprechanlage
nach dem Befinden seiner Besatzung, ließ das Rohr in die
höchste Erhöhung bringen und den Verschluss schließen.
Sein Fahrer antwortete nicht. Der Richtschütze konnte
erkennen, dass die Sprechhaube des Fahrers heruntergerutscht war und dieser sich an den Kopf fasste. Sofort
befahl der Leutnant der Besatzung das Ausbooten auf das
Heck des Panzers. Der Ladeschütze sollte dabei gemeinsam
mit dem Richtschützen die Bergung des augenscheinlich
verletzten Fahrers übernehmen und Erste-Hilfe Maßnahmen
leisten. Der Zugführer versuchte in der Zwischenzeit
festzustellen, inwieweit die Strecke zurück auf den befestigten Weg gangbar war. Nachdem klar geworden war, dass
die Verwundung des Fahrers behelfsmäßig versorgt war und
der Panzer nicht weiter einsank, meldete er den Realausfall
des Panzers und forderte Sanitäter an.
Zeitgleich hatte der Stellvertreter mit den anderen drei
Kampfpanzern Stellung 4 zeitgerecht erreicht und konnte so
die Flankenstellung solange halten, bis auch die anderen
Züge der Kompanie ausgewichen waren.
HI
156
Leutnantsbuch
Der Offizier hat in einer unvorhergesehenen Situation
entschlossen und ins Ungewisse hinein gehandelt, seine trotz
Realausfall letztlich richtige Entscheidung auch gegen
Bedenken seiner Untergebenen durchgesetzt und den
Auftrag seines Zuges damit erfüllt. Er fährt in einer
unbekannten, potenziell auch gefährlichen Situation voraus
und führt mit gutem Beispiel. Diesen Anspruch kennen wir
aus der Forderung „Sei Vorbild!“.
Durch das abermalige schnelle Erkennen der Lage nach
dem Einsinken im Moor und das umsichtige Handeln des
jungen Offiziers sowie die Übertragung der Führung auf
seinen Stellvertreter zeigt er abermals Entscheidungsfreude.
Nicht selten muss im Gefecht gerade in unpassenden
Situationen ein Ausfall kompensiert werden. Entscheidungsfreunde, Geistesgegenwart und selbstständiges Handeln im
Sinne der übergeordneten Führung können den Auftrag
trotzdem retten. In Gefechtsituationen geht es darüber
hinaus nie um die Ideallösung. Die Lösung muss brauchbar
und damit einfach und vernünftig sein.
Nicht zuletzt aber geht es um das Wohlergehen der
Besatzung. Sich kümmern – auch und insbesondere, wenn
die Situation verfahren ist – ist der Schlüssel zur Sicherstellung der Gefolgschaft der Untergebenen.
Und dies ist schließlich die Basis für die erfolgreiche
Auftragserfüllung.
157
Leutnantsbuch
Blauhelme in Sarajevo
M
itte der neunziger Jahre stellte für mich der Balkankrieg die Weichen für ein neues, erweitertes
Selbstverständnis als Soldat der Bundeswehr im Einsatz.
Ich war in einer integrierten Verwendung eingesetzt und
unser Stab stellte sich darauf ein, der laufenden UNBlauhelmmission im früheren Jugoslawien, dann unter
einem NATO-Mandat, in den Einsatz zu folgen.
So war es nur folgerichtig, dass mit langem Vorlauf Verbindungsoffiziere aus unserem Stab unter dem noch
laufenden UN-Mandat auf den Balkan verlegten, um von
dort Informationen zur Lagefeststellung in unseren Stab zu
übermitteln.
In meiner Abteilung fiel die Wahl auch auf mich. Ich sollte
für einen mehrwöchigen Zeitraum in den damals für
Soldaten der Bundeswehr noch ungewohnten Auslandseinsatz verlegen. Für meine britischen Kameraden war
das überhaupt nichts Ungewöhnliches, hatten die meisten in
Nordirland, auf den Falklands und auch an anderen Orten
dieser Welt bereits Einsatzerfahrungen gesammelt. Manche
hatten im Feuerkampf gestanden, Kameraden verloren oder
Schwerverletzte versorgt und gingen mit Fragen über Tod
und Verwundung sehr respektvoll, aber auch sachlich um.
Für mich war es „Neuland“ und ich hatte eine vergleichbare
Herausforderung in den bisherigen Verwendungen meiner
„Kampftruppenkarriere“ noch nicht erlebt.
Mit blauem Barett und einer Browning-Pistole bewaffnet
fand ich mich in einem britischen Transportflugzeug in
Richtung Sarajevo wieder. Unsere britischen Ausbilder
hatten uns gut auf unsere Aufgaben und die damit
einhergehenden Risiken vorbereitet.
Nach meiner Ankunft in der immer noch durch Bürgerkriegswirren gezeichneten und keineswegs sicheren bosnischen
158
Leutnantsbuch
Hauptstadt sollte ich mich zunächst im dortigen UN-HQ
melden, um dann als Verbindungsoffizier zu meinem
endgültigen Einsatzort in eine kroatische Enklave nördlich
von Sarajevo zu verlegen.
Bereits kurz nach meiner Ankunft und auf dem Transport
vom Flugplatz in die Innenstadt in einem weißen, gepanzerten, französischen Armoured Personnel Carrier (APC) sollte
ich die Realität des Einsatzes hautnah zu spüren bekommen.
Zusammen mit einem Journalisten waren wir die einzigen
„Fahrgäste“. Eine Gruppe französischer Soldaten unter Führung eines weiblichen Oberleutnants stellte die Sicherung.
Auf der Zufahrtsstraße in die Innenstadt, der berüchtigten
„Sniper’s Alley“, wurden wir mit Handwaffen beschossen.
Zwar prallten die Geschosse wirkungslos an unserem
Fahrzeug ab, aber mir wurde schlagartig bewusst, dass
erstmalig in meinem Leben jemand auf mich geschossen
hatte. Kurz zuvor besuchte ich noch mit der Familie einen
Weihnachtsmarkt im „tiefsten Frieden“ und nun war ich
plötzlich mittendrin in einem Feuerkampf, dem ich als
Passagier im Bauch des gepanzerten Fahrzeugs, zudem
„blind“ und ohne Möglichkeit zu eigenem Handeln, gegenüberstand.
Während ich noch damit beschäftigt war, über diese
Extremsituation nachzudenken, hatte die Führerin unserer
Sicherungskräfte die Situation bereits voll im Griff: Kurze
Befehle an die Gruppe, Funkverkehr ohne zu Schreien und
das MG auf unserem Fahrzeug „hämmerte“ los. Von unten
konnte ich den MG-Schützen aus der Luke heraus hinter der
Waffe beobachten.
Er war sicher einer größeren Gefährdung als ich ausgesetzt,
wirkte aber ruhig und ohne Angst, im Gegensatz zu mir!
Auch nachdem wir das gut gesicherte UN-HQ in der Stadt
erreicht hatten, war ich noch völlig aufgewühlt, obwohl es
159
Leutnantsbuch
glücklicherweise keine Verwundeten oder Gefallene gegeben hatte.
Frau Oberleutnant hingegen blieb die Ruhe selbst. Mit
Sicherheit hatte sie eine solche oder ähnliche Situation
bereits zuvor erlebt. Schadensaufnahme an den Kfz, dann
über Funk detaillierte Meldung an die Vorgesetzten, ein paar
Worte zu ihren Soldaten und dann eine Zigarette. Alle waren
offensichtlich erleichtert. Das Zusammenwirken in der
Gruppe hatte funktioniert, jeder hatte richtig reagiert. Ich
war beeindruckt von ihrer Professionalität als militärische
Führerin in dieser damals für mich noch ungewohnten
Situation.
Der Rest meines Einsatzes verlief für mich im Vergleich
dazu ruhig, auch wenn immer noch vor allem französische
Blauhelm-Soldaten in Sarajevo durch Heckenschützen ums
Leben kamen.
Der weibliche französische Oberleutnant hatte zu diesem
Zeitpunkt noch mehrere Monate Einsatz vor sich und auch
wenn ich sie nie wieder gesehen habe, so hat sie doch einen
prägenden Eindruck bei mir hinterlassen.
160
Leutnantsbuch
Mein Spieß
K
osovo. Wir hatten mit dem Einsatz unserer Kompanie
an der Grenze zu Albanien wirklich Glück gehabt.
Eigenes Lager, interessanter Auftrag, weit weg vom
Bataillon eingesetzt und eine ausgesprochen gute
Kameradschaft untereinander. Damit beste Voraussetzungen, um den sechsmonatigen Einsatz gut zu bestehen.
Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt frischgebackener
Kompaniechef und sah den Herausforderungen dieses
Einsatzes optimistisch entgegen, da ich meine Soldaten gut
kannte, ihnen sehr viel zutraute und ihnen vor allem
vertraute.
Es war ein Tag wie jeder andere. Die Soldaten der Züge
gingen ihren Aufträgen nach, das Instandsetzungspersonal
reparierte unsere defekten Fahrzeuge und mein Kompanieeinsatzoffizier musste sich, wie an vielen anderen Tagen
auch, um Besuchergruppen kümmern, die sich ein Bild
von der Grenze und den durchgeführten Absicherungsmaßnahmen machen wollten.
Bei mir klingelte währenddessen das Telefon und ich erhielt
erste Informationen bezüglich eines zusätzlichen Auftrags
vom Kommandeur persönlich. Wir sollten in Kürze
gemeinsam mit einem österreichischen Zug einen bestimmten Grenzabschnitt über einen klar definierten
Zeitraum überwachen, da wir Informationen über geplante
Schmuggelaktivitäten erhalten hatten. Diese sollten wir
unterbinden. Der Kommandeur wies mich im Rahmen seines
fernmündlichen Vorbefehls nochmals ausdrücklich darauf
hin, wirklich nur das unbedingt erforderliche Personal in
diesen Auftrag einzuweisen, um die Möglichkeit eines
Durchsickerns von Informationen möglichst gering zu
161
Leutnantsbuch
halten. Die Befehlsausgabe sollte dann am darauf folgenden
Tag im Gefechtstand unserer Task Force erfolgen.
Ich war sofort Feuer und Flamme und begann sogleich
damit, mir Gedanken zu machen, was jetzt als nächstes zu
tun wäre und wen ich ins Boot holen sollte. Schnell stand für
mich fest, welchen Zug ich einsetzen wollte und umgehend
holte ich mir den Zugführer heran, um mit ihm zusammen
erste Absprachen zu treffen. Zwischenzeitlich hatte ich auch
den österreichischen Zugkommandanten telefonisch erreichen können und mit ihm ein Treffen für den folgenden Tag
noch vor der Befehlsausgabe durch den Kommandeur
vereinbart. Darüber hinaus bekam mein Feldwebel Aufträge
zur Materialbeschaffung und -vorbereitung und stürzte sich
gleich darauf ebenfalls in die Vorbereitung.
Als am nächsten Tag der Zugkommandant mit einer kleinen
Abordnung bei uns im Lager zu den vereinbarten Absprachen eintraf, begannen wir umgehend auf Grundlage
der uns bis dahin bekannten Fakten weiter an der Umsetzung
des Auftrages zu arbeiten. Der Versorgungsdienstfeldwebel
meldete mir während der Besprechung, dass die Vorbereitungen abgeschlossen seien und das zusätzliche
Material bereits in seinem Materialkeller eingelagert und zur
Ausgabe vorbereitet sei. Alles lief nach Plan!
Gemeinsam machten wir uns später auf den Weg zum
Gefechtsstand der Task Force, wo uns der Kommandeur in
den anstehenden Auftrag einwies. Unsere bisherigen
Planungen konnten nahezu zu 100% übernommen werden
und es sollte bereits in den frühen Morgenstunden des
Folgetages losgehen.
Nach Rückkehr in unser Lager machten wir uns alle an die
abschließende Umsetzung und bereiteten uns auf den
Auftrag vor. Im Eifer des Gefechts lief ich plötzlich meinem
162
Leutnantsbuch
Spieß „in die Arme“, der mich – so empfand ich das in
diesem Moment – sehr eigenartig ansah und mich fragte,
was hier eigentlich los sei. Ihm war natürlich nicht
verborgen geblieben, dass hier irgendetwas lief, von dem er
aber noch nichts Konkretes wusste. In diesem Augenblick
fiel es mir wie Schuppen von den Augen ... der Spieß! Ich
hatte den Stabsfeldwebel völlig außer Acht gelassen und
nicht daran gedacht, dass natürlich auch er mit ins Boot hätte
geholt werden müssen.
Nun stand er vor mir, sichtlich verärgert und erwartete eine
Antwort. Um die Sache zu klären, gingen wir in sein Büro
und ich informierte ihn ausführlich über das geplante
Vorhaben, woraufhin er mich auf mehrere Dinge aufmerksam machte, an die ich bislang noch nicht gedacht hatte
und die zweifelsohne in seinen Aufgabenbereich fielen.
In diesem Moment musste ich mir eingestehen, dass es ein
Fehler war, mein Fehler, den Spieß nicht gleich mit
einzubeziehen. Ich bedankte mich für die zusätzlichen
Hinweise, die er mir gegeben hatte. Ich war froh, dass er die
ganze Sache sehr professionell anging und sie nicht
persönlich nahm. Er hatte sicherlich schon mehrmals in
seiner Zeit als Kompaniefeldwebel mit jungen Offizieren zu
tun, die ab und an etwas übereifrig an Dinge herangegangen
waren, und so machte er auch mir auf kameradschaftliche
Weise deutlich, woran bei der Planung und Umsetzung
solcher Aufträge zusätzlich noch so gedacht werden muss!
Dies war mir eine ausgesprochene Lehre, die ich während
meiner gesamten Zeit als Kompaniechef nicht wieder
vergaß. Die Zusammenarbeit mit meinem Spieß lief von
diesem Zeitpunkt an noch viel, viel besser und intensiver.
Nicht zuletzt lag das zweifelsohne auch daran, dass der
Spieß in angebrachter Weise reagierte. Wir jungen Offiziere
163
Leutnantsbuch
sollten uns solcher Ratschläge auf keiner Ebene entziehen
und diese dankbar annehmen.
Gerade die Erfahrungen lebensälterer Kameraden, ganz
unabhängig von Dienstgrad und Laufbahngruppe, geben uns
jungen Offizieren die Möglichkeit, reicher an Wissen und
Erfahrung zu werden, die es uns zu einem späteren
Zeitpunkt ermöglichen, zweckmäßig, zielgerichtet und vor
allem richtig zu handeln!
HI
Bei aller Notwendigkeit, schnell zu handeln und Befehle zu
erteilen, sollte zunächst gelten: Ruhe bewahren, Überblick
verschaffen, klare Lagebeurteilung anstellen! Dabei ist es
kein Zeichen von Schwäche, Ratschlag bei erfahrenen
Kameraden zu suchen. Der Führer bezieht die Fähigkeiten
und Kenntnisse seiner Soldaten immer mit ein, versteckte
Talente erkennt er im Gespräch.
Beteilige Deine Untergebenen und binde sie in der Phase
der Beurteilung der Lage und der Entscheidungsfindung
aktiv ein. So erreicht man Einsicht in die Notwendigkeiten
des Auftrags und Gefolgschaft! Ausklammern demotiviert,
Beteiligung motiviert!
Und wenn einmal ein Fehler geschehen ist und wie in
diesem Fall der Spieß „vergessen“ wurde: Gestehe Fehler
in aller Offenheit ein, suche das Gespräch! Auch so entsteht
Vertrauen!
164
Leutnantsbuch
Offizieranwärter Frank
Erfolgsfaktoren
N
eben der Auseinandersetzung mit der eigenen
„
Persönlichkeit ist die Auseinandersetzung mit dem
Beruf von grundlegender Bedeutung. Wer nicht aus tiefster
Überzeugung hinter dem Beruf des Offiziers steht, wird
keinen Erfolg haben, gefährdet letztendlich sich selbst und
seine ihm anvertrauten Soldaten“, sagt Major Seidel.
Wir sitzen im Biergarten des Kasinos der Offizierschule des
Heeres in Dresden, die Sonne scheint und es geht uns gut.
Major Seidel hatte sich richtig gefreut, uns wieder zu sehen.
Deshalb sind wir seinem Angebot sofort gefolgt, uns noch
einmal zusammenzusetzen. Obwohl wir im Moment ein
wenig „unter Druck“ stehen, kommt uns eine Abwechslung
gerade recht.
„Erinnern Sie sich noch an Ihr Truppenkommando? Damals
im Hörsaal – kurz vor der Formalausbildung – als ich Ihnen
meine Gedanken zur Selbstbestimmtheit erklärt habe?“, fragt
Major Seidel. Natürlich erinnern wir uns noch, wenn
inzwischen auch etwas Zeit vergangen ist!
„Und an die Bierdeckel, die ich während unseres ersten
Treffens künstlerisch gestaltet hatte?“, ergänzt Major Seidel.
„Ich habe sie sogar noch“, erwähnt er fast beiläufig, kramt in
seiner Aktentasche und zieht sie mit einem Lächeln heraus.
Triumphierend hält er die Bierdeckel hoch, legt sie dann auf
den Tisch und sagt: „Ich hatte neben dem Begriff
Selbstbestimmtheit auch den Begriff Erfolgsfaktoren
erwähnt. Um die Sache für Sie „rund“ zu machen, möchte
ich Ihnen auch hierzu noch ein paar Erläuterungen geben.
Allerdings bin ich heute ein wenig unter Zeitdruck, weil
heute Abend noch eine Vortragsveranstaltung im
165
Leutnantsbuch
Militärhistorischen Museum ist, gleich hier um die Ecke. Ich
nehme an, das kennen Sie.“
Ich nutze die Zeit, die Major Seidel braucht um die
Bierdeckel auf dem Tisch zu sortieren und bestelle einen
Latte Macchiato. Nachdem auch die anderen bestellt haben,
fährt Major Seidel fort:
„Betrachten wir zunächst noch kurz die Unterschiedlichkeit
der Menschen. Dabei stellt man fest, dass die Menschen bei
gleichen Startbedingungen, z.B. bei einem Lehrgang, mit
gleichen Ressourcen auskommen müssen, die gleichen
Hindernisse nehmen müssen, trotzdem unterschiedlich
erfolgreich sind und die Ergebnisse teilweise erheblich
voneinander abweichen. Aber nicht nur das, erfolgreiche
Menschen kommen nicht nur schneller am Ziel an und
stehen vorne, sondern sie kommen zu diesem Ergebnis auch
noch auf andere Art und Weise. Oftmals mit einer gewissen
Leichtigkeit. Woran liegt das?
Es liegt vor allem am unterschiedlichen Begabungs- und
Fähigkeitspotenzial der Menschen, ihrer jeweiligen
lebensgeschichtlichen Entwicklung und ihrer Fähigkeit zu
lernen. Aber das ist nicht alles. Sie kennen, bewusst oder
unbewusst, die grundlegend notwendigen Faktoren, der
zweite Schlüssel zur Führungskunst, die einen im Beruf
erfolgreich werden lassen. Ohne diese ist eine erfolgreiche
Führung von Menschen ebenfalls nicht möglich. Schnell
wird man die freiwillige Gefolgschaft verlieren.
Für den Begriff Erfolgsfaktoren habe ich mir auch ein paar
Merksätze zurechtgelegt.
166
Leutnantsbuch
Finde Deine Motivation!
Allgemein ist eine Handlung nur sinnvoll, wenn es einen
Zusammenhang zwischen Weg und Ziel gibt. Zusammenhänge müssen also erkennbar sein, Zusammenhanglosigkeit
ist demzufolge Sinnlosigkeit. Dieser Sinnzusammenhang ist
die Grundlage der eigenen Lebens- bzw. Berufsmotivation.
Er definiert, worum es im eigenen Leben und im Beruf
überhaupt geht. Die schlüssige und überzeugende Beantwortung der Frage, warum man den Beruf des Offiziers
gewählt hat, vermittelt Sinn und stellt damit die eigentliche
Motivationsquelle dar. Wie kann man sonst die physischen
und psychischen Entbehrungen, mit denen man als Offizier
und Heeressoldat konfrontiert wird, ertragen?
Um sich der Beantwortung zu nähern, erscheinen in einem
ersten Schritt folgende Lebensfragen nachdenkenswert:
- Wofür möchte ich mein Leben nutzen?
- Welche Lebenswünsche, z.B. berufliche, finanzielle,
private, will ich mir erfüllen?
- Welche Lebensweise, z.B. Gestaltung, Ablauf,
Rhythmus, Themen, Einsatz der Ressourcen, familiäre
Situation, räumliches Umfeld, Gesundheit, möchte ich
verwirklichen?
- Welche Leistungen, z.B. Ergebnisse, „Werke“, Anerkennung, Befähigung, möchte ich erreichen?
- Welche meiner Anlagen, Begabungen und Stärken
möchte ich weiterentwickeln und ausschöpfen?
- Welchen zentralen Verantwortungen möchte und soll ich
in meinem Leben gerecht werden?
- Worauf kommt es an, damit ich meine Lebensfreude und
Lebenszufriedenheit auf Dauer erhalten kann?
Durch die Beantwortung erkennt man seine eigenen
Zielvorstellungen. Damit kann ein Teil der Sinnzusammenhänge beantwortet werden. Das ist etwas sehr Wertvolles,
167
Leutnantsbuch
denn ohne Ziel stimmen jede Richtung und jeder Weg. Der
Beruf ist einer der Lebensbereiche, um diesen Vorstellungen
näher kommen zu können.
Ob und wie weit man den Weg des Heeresoffiziers gehen
will, hängt meiner Meinung nach auch von der
Beantwortung folgender Fragen ab:
- Kann ich mich mit den aufgezeigten allgemeingültigen
Werten und Normen unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung und den besonderen soldatischen
Tugenden, die teilweise sogar gesetzliche Pflichten darstellen, identifizieren?
- Kann ich mit den Einschränkungen meiner Grundrechte
durch die militärischen Erfordernisse leben?
- Kann ich mich mit den aufgezeigten Besonderheiten von
Landstreitkräften identifizieren?
- Kann ich mit den physischen und psychischen Herausforderungen des Soldatenberufes zurechtkommen?
Die Sicherung und Förderung der eigenen positiven
Stimmung ist von besonderer Bedeutung im Leben
insgesamt. Dabei spielen Glück und Zufriedenheit eine
wesentliche Rolle.
Ich habe mich immer wieder gefragt, was Glück und
Zufriedenheit eigentlich bedeuten. Ich habe darauf ein paar
Antworten gefunden.
Dabei bedeutet Glück für mich:
- eine positive Situation zu erleben, in der mir etwas
Unerwartetes und auch Unverdientes gleichsam in den
Schoß fällt,
168
Leutnantsbuch
-
einen Augenblick zu erleben, in dem ich mich auf eine
positive und angenehme Erfahrung freuen kann oder
diese Erfahrung machen darf.
Somit ist Glück eine Sache der Gegenwart und der eigenen
Wahrnehmung. Daher ist es sinnvoll, sich im Beruf solche
glücklichen Momente bewusst zu vergegenwärtigen.
Ebenso wichtig ist es jedoch, sich seine negativen Gedanken
bewusst zu machen, da diese das Glücksempfinden massiv
beeinträchtigen. Nur wer Macht über seine Gedanken
besitzt, kann verhindern, dass sie zur schlechten Gewohnheit
werden.
Zufriedenheit hingegen entsteht für mich in der Rückschau
und der Gesamtbetrachtung aller Erfahrungen, die sich
zwischen den Gegensätzen z.B. Gelingen und Misslingen,
Gesundheit und Krankheit, Fröhlichsein und Traurigsein
abgespielt haben. Ich bin zufrieden, wenn ich insgesamt eine
positive Bilanz aus meinen Erfahrungen gezogen habe und
meine „wertvollen Zustände“ – meine Werte – erreichen,
erfahren und vermitteln konnte. Dabei helfen mir negative
Erfahrungen, die positiven zu erkennen und wertzuschätzen.
Glückliche Momente dienen dabei mit zum Ausbalancieren
der Gegensätze. Somit gehören Glück und Zufriedenheit
zusammen.
Es gilt noch zwei entscheidende Fragen zur Berufsmotivation zu beantworten:
- Wann erfahre ich glückliche Momente, auch wenn sie
noch so klein sind, im täglichen beruflichen Leben als
Soldat?
- Zeigt sich im täglichen Rückblick, ob ich meine mir
wertvollen Dinge, auch wenn diese noch so klein sind,
169
Leutnantsbuch
erreichen, erfahren oder vermitteln konnte und somit
Zufriedenheit erlange? Wertvolle Dinge sind dabei für
mich erstrebenswerte Zustände.
Mit der Beantwortung dieser Fragen wird der eigene Weg
zum Ziel ständig reflektiert. Entsteht kein Sinnzusammenhang mehr, ist das Ziel also nicht erreichbar, muss
ich die Konsequenzen ziehen. Unmotivierte Menschenführer
sind nicht verantwortbar.
Wenn man seine berufsspezifischen Motive kennt und
verinnerlicht, dann hat man eine gute Startgrundlage. Jetzt
kommt es noch darauf an, die Motivation in die richtigen
Bahnen zu lenken. Um diese Bahnen herauszufinden, ist ein
Denken in größeren Zusammenhängen notwendig, bevor
man konkrete Ziele formuliert und dann entsprechend
handelt.
Denke in größeren Zusammenhängen!
Es ist notwendig, Ziele zu formulieren, die sich aus den
Gegebenheiten und Vorstellungen der über oder unter einem
stehenden Ebene logisch ableiten bzw. in den Gesamtzusammenhang stellen lassen. Das hat Aussicht auf Erfolg.
Daher ist die Absicht der übergeordneten Führung Ausgangspunkt aller Überlegungen. Dieser Ansatz verhindert
nicht ein kreatives Denken und Handeln.
Um dieses Denken in Zusammenhängen zu fördern, sind
Verwendungen auf unterschiedlichen Führungsebenen und
Ausbildungen auf der jeweils nächsthöheren Ebene
bestimmendes Merkmal des Offizierberufs.
Damit aber nicht genug. Von einem Offizier wird erwartet,
dass er sich selbst um Informationen bemüht, um
Zusammenhänge zu erkennen, diese zu vermitteln, also
170
Leutnantsbuch
sinnstiftend wirkt. Sei es durch die aufmerksame Verfolgung
der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik
Deutschland, die Beobachtung gesellschaftlicher, geistiger
und kultureller Strömungen, das Studium der Militärgeschichte oder die Auseinandersetzung mit neuen Technologien. All das hat Auswirkungen auf den täglichen Dienst
und ist in eigenen Entscheidungsprozessen mit zu berücksichtigen.
Setze Dir Ziele!
Ziele sind notwendige Bezugspunkte für menschliche
Aktivitäten. Sie dienen uns als wesentliches Mittel, das
eigene Handeln zu strukturieren und in definierten Bahnen
zielgerichtet zu leiten. Ziele sollten immer sowohl lang- als
auch mittel- sowie kurzfristig angelegt und erreichbar sein.
Dabei muss man ein paar wenige Grundregeln beachten:
- Ein Ziel soll konkret, eindeutig und präzise formuliert
sein.
- Ein Ziel und ein Erreichungsgrad müssen überprüft
werden können, also messbar sein.
- Ein Ziel soll Ansatzpunkte für positive Veränderungen
aufzeigen.
- Ein Ziel soll zwar hoch gesteckt, aber immer noch
erreichbar sein.
- Ein Ziel soll einen ausreichenden zeitlichen Bezug mit
einem festen End(zeit)punkt haben.
Dieses Ziel wird in eine Planung umgesetzt, ausgebildet und
überwacht. Neben dem Fachwissen gehören ebenfalls
bestimmte Fähigkeiten wie Projektplanungsmethoden,
Gesprächs- und Moderationstechniken, Zeitmanagement,
Konfliktmanagementwissen und andere Kompetenzen dazu,
die man sich aneignen muss.
171
Leutnantsbuch
Schaffe Dir Freiheit!
Schon bei der Bestimmung und planmäßigen Umsetzung
von Zielen wird deutlich, dass dies nur möglich ist, wenn
Spielräume und Freiheiten gesichert und gefördert werden.
Persönliche Freiheit muss mit Freiräumen korrespondieren,
die ich den Soldaten, die ich führe, einräume.
Dazu ist es wichtig,
- Entscheidungen rechtzeitig zu treffen und nicht auf die
„lange Bank“ zu schieben,
- Optimismus und Zuversicht zu vermitteln,
- Maß zu halten,
- eine „klare Linie zu fahren“ und berechenbar zu sein,
- Übersicht zu bewahren,
- zu vereinfachen, wo es möglich und zweckmäßig ist;
denn „nur das Einfache hat Erfolg“,
- ehrlich zu sein.
Die Beschränkung von Sachverhalten auf das Wesentliche
gibt Spielräume und Entfaltungsmöglichkeiten für unser
Handeln als militärische Führer.
Mache das Beste aus einer Lage!
Diese Aussage zielt auf eine bestimmte innere Einstellung,
ohne die man keinen Erfolg hat. Die persönliche Motivation
und die Bestimmung von Zielen, Methoden und Mitteln ist
die eine Sache, das konkrete, situationsbezogene Handeln
eine andere. Man kann nicht erwarten, dass nur durch
Zielvorgabe und Projektplan oder Operationsplan alles
gleich planmäßig läuft. Oftmals treten schon beim ersten
Schritt Widerstände oder andere Hindernisse auf.
172
Leutnantsbuch
Daher sind das Können und die innere Einstellung,
- das Beste aus einer bestimmten Ausgangslage zu
machen,
- unter ungünstigen und schwierigen Bedingungen
handlungsbereit und handlungsfähig zu bleiben und
dabei auch hart gegen sich selbst sein zu können,
- Chancen zu erkennen und Gestaltungsmöglichkeiten zu
finden und zu nutzen,
von entscheidender Bedeutung.
Die geleistete Vorarbeit, wie das Verständnis der Zusammenhänge, die Definition von Zielen und die Gedanken
zur Planung, leiten dann das eigene Handeln. Das führt
letztendlich zum Erfolg. Ziele zu setzen, Chancen zu nutzen
und sie zu verwirklichen gehören zusammen.
Entwickle Dich weiter!
Erfolg hat man nur, wenn man die innere Bereitschaft und
den Willen hat, an sich selbst zu arbeiten, sich selbst
weiterzuentwickeln, also lebenslang zu lernen. Sei es in der
Persönlichkeitsentwicklung oder beim Erwerb neuer
Fähigkeiten. Immer gilt: „Wer meint, fertig zu sein, bleibt
stehen“ bzw. „Wer sich nicht verändert, der wird verändert“.
Hierbei spielt die eigene Handlungsfreiheit und wie ich sie
für mich zu nutzen verstehe, eine bedeutende Rolle.
Halte Dich fit!
Die Forderung nach körperlicher Fitness und Robustheit ist
für den Offizier unerlässlich. Ich möchte in diesem
Zusammenhang aber noch auf einen anderen Aspekt
hinweisen.
Um Ziele in die Tat umsetzen zu können, braucht man
Energie und Schaffenskraft. Wenn aber die körperliche
173
Leutnantsbuch
Leistungsfähigkeit nachlässt, wird das Erfolgreichsein
schwieriger. Gerade dann muss man verstärkt auf seinen
Körper achten und die vorhandenen Kräfte effektiv einsetzen.
Im Zusammenhang mit unserer körperlichen Leistungsfähigkeit ist auch die Beachtung des „biologischen“
Rhythmus’ notwendiger denn je. Es ist nicht gut, immer
unter „Volllast“ zu fahren. Dies gilt für uns selbst, aber auch
für die Menschen, die wir führen. Nur der Wechsel zwischen
Aktivität und Entspannung bringt den Erfolg. Die
Fehlerhäufigkeit nimmt ab, der klare Blick bleibt bestehen,
die Gesamtübersicht und die persönliche Motivation bleiben
erhalten oder nehmen sogar zu. Dies ist eine Art von
Fürsorge sich selbst und anderen gegenüber.“
Major Seidel holt tief Luft. Unsere Getränke sind längst leer,
und ein bisschen haben wir den Eindruck, dass Major Seidel
unter Zeitdruck steht. Es ist sieben Uhr, um acht geht seine
Veranstaltung los. Deshalb sage ich:
„Herr Major, ich glaube, das müssen wir erst einmal
verarbeiten. Sie hatten uns doch angeboten, uns Ihre Notizen
mitzugeben. Steht das Angebot noch?“
„Keine Frage, natürlich!“, antwortet er. „Allerdings muss ich
jetzt bald los, sonst komme ich zu spät. Wir werden ja sicher
noch Zeit haben, weiter über unser Projekt zu sprechen. Ich
habe da so eine Idee … mehr verrate ich Ihnen aber nicht. In
zwei Wochen ist unser Ausbildungswochenende. Dann
haben wir freitags Sportfest und abends werden wir grillen.
Wie wäre es, wenn wird uns dann noch einmal
zusammensetzen? Ich will versuchen, noch den ein oder
anderen zu gewinnen, der uns aus seinem Soldatenleben
erzählt. Kann ja nicht schaden, oder?“
174
Leutnantsbuch
„Das ist eine gute Idee“, antwortet Cindy und wir bestätigen
dies durch Kopfnicken. Dann verabschieden wir uns, Major
Seidel geht direkt los und wir bleiben noch ein wenig sitzen.
Jetzt schmeckt auch schon ein Weizenbier.
175
Leutnantsbuch
Offizieranwärter Frank
Das Ausbildungswochenende
W
eitsprung, 5.000-Meter-Lauf, Kugelstoßen und
Schwimmen habe ich schon absolviert, der Rest sollte
kein Problem sein.
Dann habe ich das Sportabzeichen für dieses Jahr auch
erledigt. Ich halte es für wichtig, die Bedingungen möglichst
früh im Jahr abzulegen. Dann kommt man am Ende nicht in
Zeitnot. Außerdem macht es auch mehr Spaß, dies
gemeinsam zu tun. Ich sage das auch immer den anderen,
dass man hier nicht nachlässig sein darf.
Unser Sportfest im Rahmen des Ausbildungswochenendes
hier an der Offizierschule steht unter einem guten Stern, das
Wetter wird auch weiterhin mitspielen – strahlend blauer
Himmel! Bevor wir Offizieranwärter uns nachher mit Major
Seidel treffen, werden wir aber noch an ein paar
Spaßvorhaben im großen Rahmen teilnehmen. Ich habe
mich für Sackhüpfen entschieden, Markus für den
Eierhindernislauf. Annette und Cindy sind in der
Damenmannschaft beim Tauziehen gemeldet und Jonas ist
freiwillig als Schiedsrichter dabei.
Von Major Seidel habe ich bis jetzt noch nichts gesehen,
aber wir hatten uns ja auch erst für den gemütlichen
Ausklang verabredet. Grill- und Lagerfeuerromantik.
Allerdings hatte ich vorhin ganz kurz ein Gespräch mit
Major Steegemann, den ich ja noch aus dem Gespräch im
Kasino kenne. Er sagte, dass er auch zu uns kommen würde
und noch den ein oder anderen Interessierten mitbrächte.
Das kann wieder ein schöner Abend werden, denke ich.
176
Leutnantsbuch
Auf dem Weg zu den Duschen treffe ich Jonas. Die
sportlichen Aktivitäten haben wir hinter uns, jetzt heißt es,
sich fein machen für den geselligen Teil. Jonas sagt:
„Wir sollten Major Seidel noch einmal auf die schriftlichen
Erlebnisberichte ansprechen. Ich fände das eigentlich ganz
gut, wenn man die einzelnen Erzählungen sammelte bevor
man sie irgendwann wieder vergisst.“
„Ja“, antworte ich, „das hatte ich mir auch schon überlegt.
Wir werden ihn darauf ansprechen. Übrigens: Ich habe am
Wochenende auch schon angefangen, mein Erlebnis im
Offizieranwärterbataillon aufzuschreiben. Damals, als ich
während der Übung so oft darüber nachgedacht habe, was
ich eigentlich da gerade tue.“
Nach dem Duschen schlendern Jonas und ich zurück zum
Sportplatz, wo es schon nach Gegrilltem riecht. Nach kurzer
Zeit sehen wir die anderen, und dann auch Major Seidel,
Major Steegemann und einen weiteren Stabsoffizier, den wir
nicht kennen.
Wir treffen uns auf halbem Weg, begrüßen uns, und
vereinbaren, zuerst einmal für das leibliche Wohl zu sorgen.
„In einer halben Stunde am Lagerfeuer“, sagt Major Seidel,
und wir stimmen zu.
Als wir gemütlich in einer kleinen Runde um das Feuer
sitzen, beginnt Major Seidel:
„Bevor wir uns anhören, was Major Steegemann und Major
Schmidthuber zu erzählen haben, möchte ich mit Ihnen noch
eine Idee besprechen, die ich letztens auf der Fahrt nach
Hause hatte. Ich hatte Ihnen ja versprochen, weitere
Erlebnisse und Erfahrungen zu sammeln – nach Möglichkeit
177
Leutnantsbuch
in niedergeschriebener Form. Ein paar Beiträge habe ich
auch schon zusammen. Ich glaube fest daran, dass Sie nicht
die einzigen Offizieranwärter oder Offiziere im Heer oder in
der Bundeswehr sind, die sich die Frage nach dem
Besonderen an unserem Beruf gestellt haben. Wie wäre es,
wenn wir unsere Ideen und Erlebnisse einfach einmal
zusammenschreiben. Bestimmt gibt es andere, die eine
solche „Sammlung“ als Anregung aufnehmen und auch – so
wie wir – gemeinsam über die Inhalte sprechen.“
„Genau das haben Frank und ich heute auch gedacht“,
pflichtet Jonas bei. „Wir fänden das richtig gut – auch für
uns. Bestimmt kommt wieder eine Zeit, in der wir uns eine
solche Sammlung noch einmal vornehmen – als Bettlektüre,
oder einfach so, wenn einmal Zeit dafür ist.“
„Als Arbeitsbegriff für unsere Sammlung“, fährt Major
Seidel fort, könnten wir „Das Leutnantsleben“ oder „Das
Leutnantsbuch“ wählen. Aber das können wir ja noch einmal
später besprechen.“
„Herr Schmidthuber“, sagt Major Steegemann, „Sie hatten
doch neulich auch so ein tolles Erlebnis. Vielleicht beginnen
Sie einfach mal mit Ihrer Geschichte, ich bin sicher, dann
fallen uns noch weitere ein!“
Alle nicken und Major Schmidthuber beginnt zu erzählen.
Das wird sicher ein langer Abend, hier am Lagerfeuer … mit
Muskelkater und großer Zufriedenheit – insbesondere für
Markus, der seinen Eierhindernislauf gewonnen hat.
178
Leutnantsbuch
Einsatz beim Operational Mentoring and Liaison Team
(OMLT) in Afghanistan
F
ast drei Monate beim Einsatzunterstützungsverband
Kabul waren bereits vergangen, als mich der
Kommandeur in meinem Dienstzimmer aufsuchte. Er
meinte, dass wir mal im Schatten des Kompanieblockes
„eine rauchen gehen“ sollten. Das war in der Zeit unserer
Zusammenarbeit – mittlerweile fast eineinhalb Jahre – bisher
noch nicht vorgekommen, zumal ich Nichtraucher bin. Mir
war also klar, dass irgendetwas vorgefallen sein musste.
Sofort dachte ich an die Kräfte meiner Kompanie, die in
Kabul bei angespannter Sicherheitslage unterwegs waren.
Doch der Wind wehte aus einer komplett anderen Richtung.
Der Kommandeur eröffnete mir, dass die Bundeswehr
kurzfristig einen weiteren Ausbildungsauftrag für die
Afghanische Armee (ANA) bekommen hat und dazu sei ab
sofort qualifiziertes Personal abzustellen – Personal, das sich
bereits im Einsatz befindet. Für diese Kameraden würde sich
der Einsatz also um weitere Monate verlängern.
Aufgrund meiner im Vorjahr gesammelten Erfahrungen
sollte ich den Dienstposten des Senior Mentors übernehmen
und damit ein OMLT führen. Dabei wird dem Schlüsselpersonal eines afghanischen Bataillons jeweils ein deutscher
Soldat zugeordnet, der dann im laufenden Dienstgeschäft als
Mentor fungiert. Die Arbeit im OMLT stellt aus vielerlei
Sicht eine besondere Herausforderung dar.
Die OMLT wirken immer mit anderen Nationen, welche
benachbarten, übergeordneten oder unterstellten Verbänden
der ANA beratend zur Seite stehen, zusammen. Damit die
Zusammenarbeit möglichst friktionslos verläuft, ist hier
zwingend interkulturelle Kompetenz und ein hohes Maß an
Kommunikationsfähigkeit gefordert, da durch die hohe
Anzahl an Nationen und Schnittstellen mit unterschied179
Leutnantsbuch
lichem Sprachniveau und verschiedenen Akzenten auch das
eigene Englisch nicht immer verstanden wird. Außerdem
müssen aufgrund der hohen Dienstgraddichte im OMLT
alle anfallenden Tätigkeiten, wie Versorgungsfahrten, Technischer Dienst, Stuben- bzw. Containerreinigung im Team
erledigt werden. Auch wenn man als Führer der oft zitierte
„primus inter pares“, der Erste unter Gleichen ist, an den
besondere Anforderungen gestellt werden, muss alles im
gemeinschaftlichen Rahmen bewältigt werden.
Die größte Herausforderung liegt aber im eigentlichen
Auftrag selbst. Für Ausbildung und Beratung werden meist
Sprachmittler benötigt. Hierbei kommt es immer zu einem
unvermeidlichen Zeitverzug und einer gewissen Unsicherheit, ob das Gesagte auch so verstanden wurde oder mir die
Absicht der afghanischen Kameraden auch richtig übermittelt wurde.
Neben diesen Rahmenbedingungen, die an sich schon eine
gewisse Gelassenheit und diplomatisches Geschick verlangen, befindet sich die ANA in einem rasant verlaufenden
Entwicklungsprozess, der fast täglich Überraschungen mit
sich bringt. Die Führer der ANA lassen sich grob in drei Kategorien einteilen: Die mit Ausbildung im russisch geprägten
System, die mit westlich orientiertem Ausbildungsgang und
die ehemaligen Mudschaheddin, die aufgrund ihrer Stellung
in der afghanischen Gesellschaft sehr einflussreich sind.
Allen ist aber die afghanische Gelassenheit gemein: z.B. Teetrinken und lange Diskussionen während des täglichen
Dienstes.
Aufgabe der internationalen Mentoren ist es, die afghanischen
Führer zu beraten und ihnen Standardverfahren aufzuzeigen,
damit der tägliche Routinedienst, der Ausbildungs- und
Gefechtsdienst organisiert und planbar abläuft. Vieles aus
dem uns vertrauten Dienstbetrieb der Bundeswehr ist bei
180
Leutnantsbuch
einer Armee in der Aufstellung noch nicht vorhanden, sodass wirkliche Pionierarbeit geleistet werden muss.
Wenn beispielsweise ein afghanischer Soldat Urlaub nehmen
wollte, benötigte er die Unterschriften des Gruppenführers,
des Zugführers, des Kompaniechefs, des Spießes, des Rechnungsführers, dann die des stellvertretenden Kommandeurs
und letztendlich die des Bataillonskommandeurs selbst.
Jeder einzelne Führer will immer an jedem Vorgang beteiligt
werden und versucht Einfluss zu nehmen. Dadurch dauerte
es entsprechend lange, bis dann bspw. der Urlaub genehmigt
ist. Der beantragte Zeitraum ist dann oft schon verstrichen.
Nur mit intensiver Überzeugungsarbeit, dass man dem unterstellten Bereich vertrauen kann und dadurch den Kopf
für die wichtigen Führungsaufgaben frei hat, konnten wir
eine Vereinfachung herbeiführen. So waren am Ende nur
noch die Unterschriften des Zugführers, des Spießes und des
Kompaniechefs erforderlich. Allerdings ließ sich der Kommandeur noch melden, wer wann im Urlaub war. Die Vereinfachung bewirkte auch, dass die Soldaten meist zur beantragten Zeit frei bekamen, was deren Motivation natürlich
deutlich steigerte.
Wenn man dann noch erfährt, dass der afghanische Kommandeur dieses Verfahren stolz bei der Kommandeurbesprechung als Fortschritt schildert und damit deutlich
wird, dass die afghanischen Kameraden aus Überzeugung
und nicht nur aus Höflichkeit einen Rat befolgen, dann wird
man für sein eigenes weiteres Handeln motiviert.
HI
181
Leutnantsbuch
Der Offizierberuf fordert u.a. ein hohes Maß an Offenheit,
Flexibilität sowie Kommunikations- und Belastungsfähigkeit
– sowohl im Grundbetrieb als auch im Einsatz. Die Einsätze
der Bundeswehr finden grundsätzlich im multinationalen
Umfeld und in fremden Kulturkreisen statt. Deshalb ist
gerade hier bei den Soldaten – auf der Basis des im Grundgesetz verankerten Menschenbildes – kulturadäquates Verhalten, d.h. der offene, sensitive, tolerante und respektvolle
Umgang mit fremden Kulturen, Sitten und Gebräuchen
unerlässlich. Um darüber hinaus angemessen auf sich
ändernde Rahmenbedingungen reagieren zu können, kommt
es darauf an, auf die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten,
die hochwertige Ausbildung sowie auf das Können der
Soldaten zu vertrauen, um einen Auftrag – und erscheint
dieser zu Beginn noch so schwierig – erfolgreich erfüllen zu
können.
182
Leutnantsbuch
Medien im Einsatz
I
n Vorbereitung auf den Einsatz als Quick Reaction Force
(QRF) des Regional Command North ISAF informierte
uns unser Bataillonskommandeur und designierter Commander QRF während einer Teileinheitsführerbesprechung auf
dem Truppenübungsplatz in Bergen, dass Medienvertreter
ab jetzt unsere ständigen Begleiter sein würden. Er führte
weiter aus, dass den Journalisten offen zu begegnen sei. Sie
seien dafür verantwortlich, dass über unsere gute Leistung
vor und während des Einsatzes in den Medien berichtet
werde. Damit, so der Kommandeur, trage jeder Einzelne von
uns zum Erfolg des Einsatzes bei!
Im Anschluss an diese Besprechung wurde wenig über die
Worte des Kommandeurs geredet. Medienpräsenz war als
Randnotiz aufgenommen worden. Niemand hätte zu diesem
Zeitpunkt geahnt, welche Ausmaße diese Präsenz noch
annehmen sollte.
In den kommenden Wochen nahm das Medieninteresse an
unserer Arbeit jedoch rasant zu. Medientage, Interviews
einzelner Soldaten und die Begleitung unserer Züge in der
Ausbildung durch Journalisten waren bald an der Tagesordnung. Ständig erschienen Berichte über die „Hightechkrieger des Heeres“ und „… unsere Ausbildung zum Jagen
der Taliban …“. Die meisten Berichte freuten uns, viele
sorgten aufgrund der unmilitärischen Ausdrucksweise für
Erheiterung und sehr wenige erregten unseren Unmut. Die
Haltung der Medien war bei allen Begegnungen offen und
fair. Nie habe ich erlebt, dass Journalisten uns gegenüber
unangemessen oder aufdringlich aufgetreten wären. Auch
wurde niemand zu Grundsatzfragen, wie etwa über den Sinn
einer Mandatserweiterung, interviewt. Die Fragen der Journalisten waren ebenengerecht und es wurde akzeptiert, wenn
jemand keine Antwort geben konnte oder wollte. Bald schon
183
Leutnantsbuch
waren wir im Umgang mit den Medien routiniert. Diese
bereits vor dem Einsatz gewonnene Routine half im Einsatz. Mit Beginn unserer Verlegung nach Afghanistan nahm
das Interesse weiter zu. So gab es schon zu Beginn einen
Medientag in Mazar-e-Sharif. Hierbei konnten sich etwa
70 Medienvertreter einen Eindruck davon verschaffen, wie
die QRF in verschiedenen Szenarien vorgeht. Es folgten
Besuche von Fernsehteams, Delegationen der „Hauptstadtpresse“ und bundeswehrinterner Medien. Medienvertreter
folgten uns nach Pol-e-Khomri, auf Patrouille in Samangan
und in die Gegend um Kunduz. Ein Fernsehteam stand
neben uns im Checkpoint bei Aybak. Manche waren einige
Stunden bei uns und hatten offensichtlich relativ feste Fragenkataloge abzuarbeiten. Andere blieben für eine Woche
und begleiteten unseren I. Zug in die Region um Feyzabad.
Dabei konnten sie die QRF hautnah erleben. Wir haben uns
nicht verstellt und keine Fassaden aufgebaut. Wir haben den
Medien als Stellvertreter einer interessierten Öffentlichkeit
gezeigt, was wir machen und welche Probleme uns beschäftigen. Die Journalisten haben mit uns geschwitzt, Staub
geschluckt und gelacht. Sie waren für uns so etwas wie
Gäste und die anfängliche Scheu war gewichen.
Auch nach dem Einsatz zeigten die Medien weiterhin großes
Interesse an uns. Interviews am Rande des Heimkehrerappells, Besuche von Rundfunk und Fernsehen im Standort
sowie etliche Berichte über die Einsatznachbereitung sind
hierfür Zeugnis. Ich selbst habe beim Umgang mit den Medien stets gute Erfahrungen gemacht. Den Wunsch, einen
Soldaten bei der Ankunft in Deutschland zu interviewen und
mit ihm den Heimweg anzutreten, mussten wir ablehnen.
Die ersten Stunden zu Hause gehören unseren Liebsten und
keiner noch so interessierten Öffentlichkeit.
HI
184
Leutnantsbuch
Die Pressearbeit, d.h. die Zusammenarbeit mit den Medien,
ist ein wesentlicher Bestandteil der Informationsarbeit der
Bundeswehr. Sie wendet sich insbesondere an Journalistinnen und Journalisten aller Medien im In- und Ausland.
Der Umgang mit den Medien ist grundsätzlich freiwillig.
Wir betrachten die Journalistinnen und Journalisten als
unsere Partnerinnen und Partner und gehen offen und
ehrlich mit ihnen um. Als Soldaten hinterlegen wir die
Visitenkarte unserer Einheit, des deutschen Heeres und der
Bundeswehr.
Die Berichterstattung in den Medien über die Aufgaben des
Heeres, ihre Einsätze und den Alltag der Soldatinnen und
Soldaten informiert die breite Öffentlichkeit unserer Bevölkerung, erzielt gesellschaftlichen Rückhalt und fördert
das Vertrauen in die Bundeswehr. Sie trägt damit zum erfolgreichen Bestehen in den Einsätzen bei.
185
Leutnantsbuch
Der kühle Kopf!
I
m Spätherbst erhielt meine Einheit den Auftrag im
Einsatzkontingent KFOR eine Sicherungskompanie einer
Task Force zu stellen. Kein außergewöhnlicher oder
besonderer Auftrag, auch nicht für eine Flugabwehrbatterie.
Bei der Erkundung im Dezember wurde aber die Brisanz
dieses Auftrages deutlich. Grenzüberwachung an der Grenze
zu Mazedonien bedeutet Einsatz im Hochgebirge. Die
Ausbildung in allen Teilbereichen begann und schnell
stellten sich die besonderen Herausforderungen an Mensch
und Material heraus.
Im Einsatz angekommen, übernahmen wir die Aufgaben und
lebten uns schnell ein. Wenig Zeit, eine große Fülle an
Aufträgen und Zusatzaufträgen hielten die Einheit auf Trab.
Schnell vergingen die ersten Wochen und die Sicherheit im
Handeln nahm zu. Die Leistungsfähigkeit der Soldaten
nötigte mir als Einheitsführer Respekt ab, und es wurde
schnell deutlich, wie motiviert die Soldaten waren.
Leutnant V. war als Zugführer eines Sicherungszuges
eingesetzt und stellte bereits in der Anfangsphase des
Einsatzes seine Umsicht und Besonnenheit im Umgang mit
seinen Soldaten unter Beweis.
Vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Vorgesetzten und
Untergebenen waren seine Markenzeichen.
So war es auch kein Wunder, dass ein weiterer Zusatzauftrag
zunächst an Leutnant V. erteilt wurde. Die Kompanie hatte
den Auftrag, im Süden des Kosovo einen Bereich der
Grenzsicherung zu Albanien und Mazedonien von der
türkischen Task Force zu übernehmen. Aufgrund der
Ausstattung und Ausrüstung kam für diesen Auftrag nur
unsere Kompanie in Frage. Dieser Einsatz erforderte es, ein
186
Leutnantsbuch
Höhenlager nahe dem Einsatzgebiet einzurichten, und so
wurde Leutnant V. für einige Wochen zum Kommandanten
dieses Höhenlagers.
Unwegsame Straßen und das überwiegend alpine Gelände
forderten den Einsatz von vorgeschobenen Außenposten im
Gebirge. Diese wurden in Zeitabständen von zwei bis drei
Tagen aus dem Höhenlager versorgt.
Zunehmend wurden die Wetterbedingungen in den
Außenposten schlechter und immer öfter zogen Nebel und
eisige Luft in den Beobachtungsbereich, die die
Auftragserfüllung erschwerten. Leutnant V. hatte es sich zur
Angewohnheit gemacht, den Personalwechsel auf den
Observation Posts selbst durchzuführen und begleitete somit
den Transport von Personal und Material zu den
Außenposten. So konnte er sich ein Bild der aktuellen Lage
verschaffen und das nachfolgende Personal selbst einweisen.
Die Soldaten des Zuges schätzten die Nähe des
Vorgesetzten, machte er ihnen doch so die Wichtigkeit ihres
Einsatzes in diesem unwirtlichen Gelände deutlich. Wechsel
und Transport konnten nur mit dem Überschneefahrzeug
Häglund HUSKY durchgeführt werden, alle anderen
Fahrzeuge versagten hier ihren Dienst.
An einem kalten Morgen im Herbst nahm nun das Schicksal
seinen Lauf. Wie so oft startete der HUSKY zum Wechsel
des Personals zu den Außenposten. Beladen mit neun
Soldaten und Verpflegung für drei Tage, war das
Höhenlager schnell verlassen. Eine dichte Wolkendecke
hing über dem Kosovo und der HUSKY gewann schnell an
Höhe. Oberhalb von 2000 m hatte der erste Frost einen
weißen „Zuckerguss“ auf dem spärlichen Bewuchs
hinterlassen.
187
Leutnantsbuch
Bei der direkten Anfahrt auf den Außenposten 2, auf einer
Höhe von 2114 m geschah das, was im Untersuchungsbericht später als Verkettung unglücklicher Umstände
beschrieben wurde. Der steile, mit Berggras bewachsene
Weg war noch feucht vom Frost der Nacht, der HUSKY
bewegte sich langsam auf den Scheitelpunkt des Anstieges
zu. Da der HUSKY über ein automatisches Wandlergetriebe
verfügt, schaltet dieses ab einer bestimmten Drehzahl in
eine höhere Gangstufe. Und genau das tat das Getriebe
jetzt.
Der HUSKY, kurz vor dem Scheitelpunkt, hatte nun keine
Leistung mehr zur Verfügung, um sich weiterhin der
Schwerkraft entgegen zu stemmen. Das Fahrzeug begann
rückwärts zu rutschen und geriet in Schieflage. Nach
wenigen Metern kippte der Wagen und begann sich zu
überschlagen.
Durch mindestens vier Überschläge wurde die Karosserie
zertrümmert, die Insassen und die Ausrüstung in ein
Geröllfeld geschleudert. Die Bodengruppe des HUSKY
blieb mit den Ketten nach oben ebenfalls in diesem
Geröllfeld liegen.
Die Soldaten waren alle verletzt, zwei Soldaten davon
schwer.
Obwohl selbst verletzt, begann Leutnant V. sofort, die
leichter verletzten Soldaten einzuteilen. Einen vom
Außenposten herbeigeeilten Soldaten beauftragte er damit,
einen Notruf abzusetzen. Er selbst und zwei weitere
Soldaten begannen mit der Versorgung der Verletzten.
Später erzählte er mir, dass er in diesen Minuten wie in
Trance handelte. Ob nun wie in Trance oder bei vollem
Bewusstsein, die Erstversorgung wurde später vom
eingetroffenen Notarzt als vorbildlich eingestuft und war
188
Leutnantsbuch
verantwortlich dafür, dass den Verletzten kein bleibender
Schaden entstanden ist.
Erst nach dieser Erstversorgung und nach der Betreuung des
unter Schock stehenden Kraftfahrers gestattete Leutnant V.
einem Soldaten, dass dieser ihm auch seine Verletzungen
versorgte.
Über die OPZ der Task Force wurde ein Notruf abgesetzt,
schnell war der für diese Zwecke vorbereitete Hubschrauber
CH 53 in der Luft. Allerdings war der Pilot nicht in der
Lage, die Maschine in der Nähe des Außenpostens zu
landen. Nebel und schlechte Sicht machten eine Landung
unmöglich. Nach einer ersten notfallmedizinischen
Versorgung wurden die Verletzten mit dem inzwischen
eingetroffenen Beweglichen Arzttrupp (BAT) zum nächsten
möglichen Landeplatz des Hubschraubers transportiert und
in das Feldlazarett nach Prizren geflogen. Noch am gleichen
Abend wurden zwei Soldaten von der Luftwaffe nach Köln
ausgeflogen und dort in ein Bundeswehrkrankenhaus eingeliefert.
Nach einhelliger Meinung aller Beteiligten ist es dem
umsichtigen und besonnenen Verhalten von Leutnant V. zu
verdanken, dass bei den verletzten Soldaten keinerlei
bleibende Schäden an Leib und Seele entstanden sind.
Alle Soldaten dieser Fahrt wurden im Anschluss an die
medizinische Versorgung durch den Truppenpsychologen
betreut und waren nach wenigen Tagen erneut einsatzbereit.
Lange Gespräche mit dem Kraftfahrer nahmen ihm die
Schuldgefühle und auch dieser Soldat war nach einigen
Tagen bereit, sich erneut hinter das Steuer zu setzten.
Der Einsatz ging ohne weitere tragische Vorfälle zu Ende
und seitdem habe ich Leutnant V. etwas aus den Augen
verloren.
189
Leutnantsbuch
Vor einigen Wochen erhielt ich jedoch die Nachricht, dass er
mittlerweile zum Hauptmann befördert wurde und in die
Laufbahn der Berufsoffiziere übernommen wurde.
Über diese Entscheidung freue ich mich außerordentlich, traf
sie doch den Richtigen, einen vorbildlichen Kameraden und
Vorgesetzten.
HI
Vorbild sein, auch in Notlagen! Der Leutnant schuf dadurch
eine verlässliche Vertrauensbasis, dass er sich unablässig
um seine Männer und Frauen kümmerte – im besten Sinne
des Wortes. Er zeigt Interesse für deren Aufgabenerfüllung,
teilt Belastungen mit ihnen und führt von vorn! Er zeigt
fachliche Kompetenz, auch als Ersthelfer am Unfallort!
Trotz eigener Verletzung bewahrt er die Übersicht,
koordiniert die ersten sanitätsdienstlichen Maßnahmen und
aktiviert die Rettungskette. Die Geschichte zeigt auch:
Unsere Rettungskette funktioniert – und dies nicht nur in
diesem Fall!
Besonnen und kompetent handelnde Führer, eine
funktionierende Rettungskette und eine offene Fehler- und
Gesprächskultur nach dem Unfall schaffen Vertrauen und
die Grundlage für ein rasches Wiederherstellen der
Einsatzbereitschaft!
190
Leutnantsbuch
Führen von irgendwo!
I
ch befinde mich seit zwei Tagen auf dem Truppenübungsplatz Wildflecken und nehme mit meinen Kameraden an
der einsatzvorbereitenden Ausbildung teil. Unsere Gruppe
besteht aus einem Oberst, mehreren weiteren Stabsoffizieren
und den Männern aus der „Truppe“.
Vorbereitung für Afghanistan, ein sehr gefährliches Land –
im Süden. Im Norden, so hofften wir damals, im Bereich des
durch die Bundeswehr geführten Regional Command, würde
es hoffentlich etwas anders aussehen. Dort möge man die
Deutschen und freue sich über die zielstrebige Hilfe und die
Unterstützung beim Wiederaufbau des Landes. Dennoch
muss sich jeder Soldat, der die Heimat Richtung Afghanistan
verlässt, auf Gefangenschaft und Geiselhaft vorbereiten. Aus
diesem Grund nehmen wir an der Ausbildungsstation
„Geiselhaft“ teil.
10.00 Uhr: Wir fahren in einem Bus über den Übungsplatz,
als plötzlich vermummte und bewaffnete Milizionäre auf der
Straße stehen. Aus neun Uhr eine MG-Garbe, die den Bus
zum Stehen bringt. Wie es ausgebildet wurde, verhalten wir
uns ruhig und machen keine Anstalten, uns zu wehren. Ohne
Waffen können wir sowieso nichts ändern – Hilflosigkeit!
Der Führer der Geiselnehmer betritt den Bus und schreit mit
ausländischem Akzent: „Wer ist der Chef im Bus?“ Niemand
antwortet – alle warten, Totenstille! Einer der Milizionäre
kommt auf mich zu, nimmt mich am Arm, zerrt mich aus
dem Bus und sagt: „Du Chef!“. Ich denke: „Mist!“. Widersprechen will ich nicht, denn das zieht Sanktionen nach sich.
Es folgen mehrere Stunden Geiselhaft, eine sehr realistische
Ausbildung. Dann ist endlich Schluss!
14.00 Uhr: Einrücken in den U-Raum, um die Schlussbesprechung durchzuführen. Die ganze Gruppe sitzt müde
auf den Stühlen und trotzdem herrscht ein wenig Unruhe.
191
Leutnantsbuch
Ich kann mich vor Spannung kaum auf dem Stuhl halten,
denn mir brennt eine Frage unter den Nägeln. Doch der
Ausbilder ist schneller und direkter, als ich es in dieser
Situation jemals gewesen wäre und stellt dem Oberst, ohne
Umschweife eine mutige Frage: „Zu Beginn der Geiselhaftausbildung fragte der Anführer der Miliz nach dem „Führer
der Gruppe“. Warum haben Sie sich nicht gemeldet? Es
folgte eine Antwort, die jeder Soldat aus seiner Grundausbildung kennt: „Mich hat niemand zum Führer des Busses
eingeteilt!“
192
Leutnantsbuch
Haar- und Barterlass, Piercing und Tatoos
D
ienstagmorgen, 08.30 Uhr:
Seit knapp sechs Monaten bin ich Zugführer in der
4. Kompanie, habe mich nach anfänglichen Höhen und
Tiefen ganz gut bei uns eingewöhnt, die innere tägliche Anspannung ist schon ein bisschen der Routine gewichen, und
ich kenne auch schon die meisten Offiziere im Bataillon.
Heute um 10.00 Uhr ist Offizierweiterbildung mit allen
zusammen im Offizierheim. Der Rechtsberater der Division
kommt, die Spieße sind ebenfalls dabei. Ein Kamerad sagte
mir, das geschähe eher selten. Im Schwerpunkt soll es wohl
um das Disziplinarrecht gehen.
Na ja, Wehrrecht war an der OSH nie meine besondere
Stärke, im UZwGBw fühle ich mich auch heute noch nicht
ganz sicher. Ich werde in Deckung bleiben, keine Fragen
stellen und mich hoffentlich vor dem Kommandeur und den
anderen Offizieren nicht blamieren, wenn sich jemand an
mich wendet.
10.15 Uhr
Nach der Meldung an den Kommandeur durch den
Stellvertreter und einleitenden Worten erklärt der
Kommandeur, wichtig sei ihm die Teilnahme der jüngeren
Offiziere, da auch sie gelegentlich in der Situation seien, den
Chef zu vertreten ...
Toll, das wird ja heiter: Tests für die Oberleutnante und die
Einsatzoffiziere ...
Der Rechtsberater – man nennt ihn RB, ein etwas kühl
wirkender Mensch, Jackett, Krawatte, ausgebeulte Hose, alte
Lederaktentasche, kein großer Sympathieträger – trägt vor,
weniger über einfache Disziplinarmaßnahmen, vielmehr
über den Haar- und Barterlass. Immer wieder gebe es
193
Leutnantsbuch
Beschwerden über diesen Erlass des BMVg, sei es, dass er
vermeintlich zu stark in die Persönlichkeitsrechte des
Einzelnen eingreife, sei es, dass er die Frauen und Männer
ungleich behandle. Da dieser Erlass des BMVg als einer der
ganz wenigen unmittelbaren Befehlscharakter habe, musste
sich der Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts
schon mit ihm beschäftigen. Über den Minister kann man
sich nur dort beschweren.
Na die haben Sorgen. Zum Glück hatte ich damit noch
keinen Ärger. Meine Jungs haben fast alle ganz kurze, einige
auch gar keine Haare auf dem Kopf und die drei Frauen
tragen ausschließlich Zopf im Dienst. Mit kurzen Haaren
möchte ich sie mir gar nicht vorstellen.
Jetzt, nach einigen Minuten, hat sich die Atmosphäre etwas
gelockert und der „kühle Mensch“ aus dem Divisionsstab
zieht mich durch teilweise heitere Beispiele und präzise
Formulierungen schon fast in seinen Bann. Blicke nach links
und rechts bestätigen mir: Den anderen geht es ebenso.
Mir reicht es, wenn ich mir merkte, dass die Pflicht für
Soldaten, sich kurze Haare schneiden zu lassen, nicht
unverhältnismäßig in die Persönlichkeitsrechte eingreife und
zu dulden sei. Zu der ungleichen Behandlung von
Soldatinnen und Soldaten hat der RB einen Kernsatz gesagt,
der mir einleuchtet: „Gleiches ist gleich, Ungleiches
ungleich zu behandeln“.
Prima.
10.45 Uhr
Nach einer kurzen Pause, ich bin überrascht, wie viele doch
noch rauchen, geht es weiter. Hauptmann L., Chef 2. Kompanie, geradlinig, dabei jugendlich, unverheiratet, spricht
manchmal etwas zu laut, hat vorhin das Thema Piercing und
Tatoos angerissen und der Kommandeur bat den RB, darauf
einzugehen.
194
Leutnantsbuch
Achtung, aufgepasst, Oberfeldwebel L. und Feldwebel S.
haben beide Tatoos auf den Oberarmen und Stabsunteroffizier F. habe ich in Zivil schon mit einem Ohrring
gesehen; ich mochte diese Kameraden jedoch noch nicht
darauf ansprechen.
Nun würde es etwas komplizierter werden, ruft der RB
freudig, doch er fängt beim Einfachen an. Piercing sei eine
Art von Schmuck, Tatoos ebenfalls. Die Innendienstvorschrift bestimme, dass männliche Soldaten zur Uniform
keinen Schmuck tragen dürften, ausgenommen zwei Ringe,
Krawattenspange und Manschettenknöpfe.
Wer trägt so was schon ...? OK. Klare Regelung.
Frauen dagegen dürfen, außer im Einsatz, „dezenten“
Schmuck tragen. Ausnahmen kann der Chef aus
Sicherheitsgründen, z.B. Sport, befehlen. Aber was ist schon
dezent?
Zur Freude aller zeigt der RB einige Fotos „gepiercter
Ungetüme“ und sagt unmissverständlich: Lippen- und
Nasenpiercing sind sicher keine dezenten (Duden:
„vornehm-zurückhaltend, unaufdringlich“) Schmuckstücke.
Sie dürfen während des Dienstes nicht getragen werden. Gut
so. Klare Regelung. Aber was ist mit den auffälligen
Ohrsteckern in Form des Cannabisblattes? Meine Gedanken
spricht für mich Chef 1. Kompanie aus.
Jetzt windet sich nach meinem Geschmack der RB und sagt,
hier müsse jeder Einzelfall betrachtet werden. Dies sei
schließlich die königliche Aufgabe des Disziplinarvorgesetzten.
Na toll, das hilft mir kein bisschen weiter, doch nach einigen
Minuten der offenen Diskussion sehe ich ein, dass hier
schlecht ein Katalog des Zulässigen und des Verbotenen
erstellt werden kann.
Der RB fährt fort:
195
Leutnantsbuch
Gleichzeitig sei zu unterscheiden zwischen Schmuck, der
einfach an- und abzulegen sei und demjenigen, der nur
operativ entfernbar sei. Ein Befehl, sich z.B. das Piercing
operativ entfernen zu lassen, ist unzulässig, da der Soldat
oder die Soldatin einen derartigen Eingriff nach § 17 Abs. 4
SG nicht erdulden muss. In der Realität ist dann das
Abkleben mit einem Pflaster die richtige und sinnvollste
Maßnahme.
Auch wichtig für die Beurteilung des Sachverhaltes und das
Durchsetzen des Verbotes ist die Frage, ob das Piercing vor
dem Wehrdienst eingesetzt wurde oder erst nach
Dienstantritt – in Kenntnis des Verbotes – gestochen wurde.
Bei Letzterem läge z.B. eine Dienstpflichtverletzung vor.
Na hoffentlich haben wir bei uns nicht mal so einen Fall ...!
„Und wie verhält es sich mit dem Tatoo, die Schlange von
der Schulter über den Hals bis hin zum Ohr“, fragt der Spieß
der 3. Kompanie. Er hat bestimmt einen konkreten Fall in
der Kompanie im Auge.
Tatoos, oder landläufig Tätowierungen, seien sozusagen
„Permanentschmuck“, und unterlägen denselben Bestimmungen wie Piercings. Gibt es dezente Tatoos? Sie seien
durch Pflaster abzudecken, denn der Befehl, sie wegoperieren zu lassen, sei schlicht nicht durchsetzbar. Aber wie
bei Piercings sei das Stechen von sichtbaren Tatoos während
des Wehrdienstverhältnisses wieder eine Dienstpflichtverletzung.
Auf die Frage, wo man dies alles nachlesen könne, musste
der RB passen. Es gäbe hierzu, neben den Aussagen zu
Schmuck in der Anzugsvorschrift ZDv 37/10, keine
ergänzenden Erlasse. Plötzlich wird er „bissig“ und merkte
noch an, dass man auch in Deutschland nicht das ganze reale
Leben in Erlasse und Vorschriften pressen könne.
Schweigen im Raum.
196
Leutnantsbuch
Mit einer persönlichen Anmerkung des Kommandeurs zu
seiner 15-jährigen Tochter entschärfte dieser die Situation
und wollte zum nächsten Thema „Der Vollzug“ überleiten.
Der RB bat noch um einen Satz zum alten Thema: Durchaus
wieder vertrauensvoll riet er uns, ihn bei solchen Fragen
einfach anzurufen, auch dafür sei er schließlich da und
werde ordentlich bezahlt.
OK! Das war ein guter Schlussstrich und insgesamt
überzeugend.
HI
Sei Vorbild! Halte Maß! Es gibt Grenzen der Toleranz.
Die Achtung der Persönlichkeit ist wesentliches Merkmal
und zugleich Forderung unseres Gemeinwesens. Sie findet
jedoch u.a. dort ihre Grenze, wo die Freiheit Anderer
beeinträchtigt wird oder wo zulässige Einschränkungen auf
Angehörige staatlicher Institutionen wirken. Gesellschaftliche Erwartungshaltungen hinsichtlich der Haartracht und
dem Tragen von Schmuck sind bei der Bundeswehr in
maßvollen Erlassen niedergelegt. Es ist die Pflicht des
Vorgesetzten, diese Bestimmungen durchzusetzen.
197
Leutnantsbuch
Die Besprechung
M
ittwoch. 15.30 Uhr. Ein sonniger Tag im Frühsommer.
Ich bin Zugführer in einem Panzerbataillon. Wir
waren gerade von einem anstrengenden Grundausbildungstag aus dem Gelände zurück. Feuerkampf und
Alarmposten waren die Themen laut Dienstplan. Mein
Zug begann mit dem Waffenreinigen, das der Versorgungsdienstfeldwebel bereits vorbereitet hatte. Tische
mit Gummimatten, Dochte, Reinigungsmittel, alles stand
parat.
Ich verschwand auf meiner Stube, nachdem ich meinem
Stellvertreter die weitere Organisation übergeben hatte.
Der Tag war anstrengend gewesen, ich war müde und hatte
den Kopf voll.
Schon kurz nach dem Mittagessen im Gelände hatte der
Kompanietruppführer die Züge abgefahren und den Befehl
des Kompaniechefs weitergegeben: „Besprechung um
sechzehnhundert im Kompaniebesprechungsraum.“
Mittwoch war Besprechungstag im Bataillon. Die Kompaniechefs und der Stab fanden sich beim Bataillonskommandeur ein, vorher trafen sich die Chefs untereinander.
Daher war der Kompaniechef wohl auch nicht zur
Dienstaufsicht im Gelände. Der Kommandeur war da, hat
aber nichts gesagt.
Die Zeit wird knapp: Waffe grob reinigen und übergeben,
Signalmunition abgeben, Uniform grob ausputzen, Stiefel
wechseln, für’s Reinigen bleibt keine Zeit.
Der Chef nimmt das sehr genau und schließlich will ich im
Kameradenkreis ein Beispiel geben. Bloß keine Patzer!
Unterlagen schnell noch unter den Arm geklemmt, gerade
noch rechtzeitig erreiche ich den Besprechungsraum. Ein
Blick auf den Kompaniechef, er verzieht keine Miene.
198
Leutnantsbuch
Pokerface. Keine Einschätzung der Situation möglich, ich
hoffe, dass alles gut gelaufen ist.
Ich bin erst seit fünf Wochen in der Kompanie, aber der
Besprechungsablauf ist mir schon etwas vertraut.
Punkte aus der Chefbesprechung, erst vom Kommandeur,
dann vom Stab. Punkte vom Kompaniechef, es folgen Spieß,
und Kompanietruppführer, Versorgungsdienstfeldwebel,
Zugführer I bis IV.
Die drei anderen Zugführer sind erfahrene Portepees. Der II.
Zug wird normalerweise auch von einem Offizier geführt.
Ich fühle mich auf mich allein gestellt. Trotz aller
Kameradschaft wollen sich die anderen, erfahrenen
Zugführer immer gut darstellen und wissen auch meist wie.
Auch der Kompaniechef will gut dastehen und stützt sich
sehr auf die anderen drei ab. Er ist noch Oberleutnant und
war vorher S2-Offizier im Bataillon.
Mir fällt es noch nicht so leicht, meinen Zug zu präsentieren.
Ich versuche, objektiv zu bleiben und hoffe, mich
durchzusetzen und respektiert zu werden. Vielleicht sollte
ich auch einfach mal offen auf meine Zugführerkameraden
zugehen und das Gespräch suchen. Die alten Hasen haben
bestimmt ein paar Tipps auf Lager und geben ihre Erfahrung
auch weiter.
Meine Gedanken schweifen ab, etwas zu sehr und so
überhöre ich, dass der Kompaniechef mich direkt anspricht.
Ich schrecke auf. Leises Lachen im Raum. „Konzentrieren
Sie sich. Hier spielt die Musik“, sagt der Chef, „und wenn
die Sonne draußen zu warm war, dann bin ich jetzt mal die
Sonne, damit Ihnen warm wird.“
Wie ich diese Sprüche liebe.
199
Leutnantsbuch
„Jawoll, Herr Oberleutnant“, ich entschuldige mich nicht,
denke ich bei mir, denn das tut ein Offizier nicht, er bittet
um harte, aber gerechte Bestrafung.
Auch so ein seltsamer Spruch, der mir vom letzten Lehrgang
noch in Erinnerung geblieben ist.
Ich weiß nicht, wie lange ich gedanklich abwesend war,
wohl lange genug, um zu überhören, dass der Spieß zwei
Soldaten meines Zuges zum Dienstbeginn auf dem
Geschäftszimmer haben wollte.
Was ich dann hörte, klang vertraut, Dienstaufsichtsbemerkungen des Kommandeurs: Ausbau der Schützenmulden,
Tarnung der Soldaten, Feuereröffnungslinie, einheitliches
Feuerkommando – Ausbildungsablauf i.O., Gruppenführer
engagiert, Soldaten motiviert – na also, alles wird gut. Der
Einsatz von Darstellungsmitteln im I. Zug hat dem Kommandeur besonders gefallen. Hm, ich hätte mich gefreut,
wenn er das auch im Gelände bei der Ausbildung mal gesagt
hätte.
Meine Stimmung hellt sich auf und auch der Kompaniechef
scheint zufrieden.
Er gibt das Wort an die Zugführer. „Keine Punkte, Herr
Oberleutnant“, sage ich. Zu mehr bin ich nicht mehr in der
Lage, der Tag und auch die letzten Wochen waren
anstrengend – auch wenn ich es mir nicht eingestehen will.
Erst viel später fällt mir ein, dass ich mir eigentlich auf dem
Rückweg von der Ausbildung Gedanken machen wollte.
Der Spieß schaut in meine Richtung und sagt: „Schütze
Meyer aus dem I. Zug hat sich nur leicht den Fuß
verknackst, er ist auf dem Weg vom Röntgen in die
Kompanie und wird sich gleich bei Ihnen zurückmelden,
Herr Leutnant.“
Das hätte ich melden müssen, denke ich, schon wieder ein
Fettnäpfchen. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn
200
Leutnantsbuch
und ich vernehme einen Seufzer aus Richtung Kompaniechef. Lieber Gott, lass` es enden, denke ich im Stillen.
Es ist schon nach 17.00 Uhr, der Zug ist auf dem Weg zum
Abendessen.
Endlich vorbei.
Ich beschließe, kein Antreten mehr durchzuführen, der Rest
folgt morgen ... und ein „Anraunzer“ vom Spieß, verbunden
mit der mir deutlich unangenehmen Frage, warum meine
beiden Soldaten nicht wie befohlen bei ihm gewesen wären
und ob ich meinen Zug nicht eingewiesen hätte? Die
Soldaten des I. Zuges wüssten nie über irgendetwas Bescheid.
Ich spare mir hier Weiteres. Meinen Einstieg hatte ich mir
anders vorgestellt.
Ich denke nach.
Wie war das mit der Selbstreflexion und dem inneren
Wachstum?
Ich versuche die Bruchstücke zusammenzusetzen.
Die Ausbildung war gut, ein erster Erfolg, ich habe es
geschafft, Erlerntes umzusetzen. Weiter dranbleiben. Ein
erstes Ziel.
Aber die Besprechung? Auch – nein, gerade dieses
Tagesgeschäft ist ein wichtiger Bestandteil, denn das
Austauschen von Informationen ist wesentliche Grundlage
jeder Führungstätigkeit. War ich zu leichtfertig?
Verantwortung tragen ist nicht immer einfach, heißt aber
auch, sich Fehler einzugestehen, sie zuzulassen und es
besser zu machen.
Ich beschließe, mich beim nächsten Mal mehr zu
konzentrieren. Ich will mich so frühzeitig wie möglich
vorbereiten und mir Notizen machen, als Gedankenstütze –
aufschreiben hilft.
201
Leutnantsbuch
Und woher nehme ich die Zeit dafür während der
Ausbildung?
Ich bin nicht alleine. Ich habe gute Ausbilder im Zug. Wenn
die Ausbildung läuft, dann kann ich die bestimmt mal einige
Minuten alleine arbeiten lassen. Das können die. Vertrauen
ist notwendig, Vertrauen schenken, aber trotzdem die
Kontrolle behalten.
Außerdem können sie den Zug auch auf dem Laufenden
halten, wenn ich Ihnen rechtzeitig die Information gebe, und
umgekehrt mich natürlich auch.
Ein neues Ziel.
HI
Trage Verantwortung! Schenke Vertrauen! Reflektiere Dein
Verhalten!
Die Schlussfolgerungen am Ende der Geschichte
beschreiben wichtige Aspekte des Soldatenberufes. Wichtig
dabei ist, dass man die Erkenntnis hat, dass man nicht
alleine ist! Andere sind auch gut, vielleicht sogar besser –
vertraue Ihnen! Das schafft Zeit für andere Dinge! Wichtig
dabei ist, Informationen aufzunehmen und weiterzugeben –
im Gespräch bleiben.
202
Leutnantsbuch
Die Lehrprobe
E
in knappes Jahr ist seit dem „EK I“, dem Einzelkämpferlehrgang, vergangen und ich bin wieder
Hammelburg. Ich melde mich an der Infanterieschule, in der
Einzelkämpferinspektion zum Lehrgang. Der „Mythos“ ist
für uns nicht mehr so stark, denn alles ist noch sehr vertraut:
die Unterkünfte, die wir wohl kaum die ganze Zeit nutzen
werden, die Ausbilder, der Abseilgarten, die Hindernisbahn
und die Rhön, die uns in den folgenden Wochen noch
einiges abverlangen soll. Meine Erwartungen sind hoch,
denn es handelt sich jetzt um den Einzelkämpferleistungslehrgang oder kurz: „EK II“.
Das Jahr haben wir gut für die Vorbereitung genutzt und ich
fühle mich so fit wie noch nie zuvor. Hindernisbahn,
Geländelauf und auch Gepäckmärsche stellen kein Problem
dar.
Ein Ziel haben wir alle vor Augen: Das Abzeichen für den
Einzelkämpfer, das auch die Befähigung zum Ausbilden der
EK I – Themen deutlich macht.
Wie auf fast jedem Lehrgang beginnt es mit Theorie. Die
Grundlagen aus dem ersten Lehrgang werden aufgefrischt,
erweitert und wir bereiten erste Lehrproben vor.
Knotenkunde, Überwinden von Hindernissen, Überleben
unter widrigen Bedingungen sind durchaus noch präsent.
Zusätzlich kommt der Jagdkampf hinzu, wir gehen also
einen Schritt weiter. Nebenbei erfolgen die ersten Tests der
körperlichen Leistungsfähigkeit, die aber alle problemlos
schaffen.
Schließlich rückt meine erste Lehrprobe auf dem Lehrgang
heran: Ich bin Ausbilder im Abseilgarten der Kaserne. In
dieser Grundlagenausbildung sollen sich die Soldaten im
Karabinersitz vom circa fünf Meter hohen Holzturm
203
Leutnantsbuch
abseilen, um sich an die Höhe und den Umgang mit dem
Material zu gewöhnen. Das Wetter ist gut, die Stimmung
auch. Ein Hörsaalkamerad aus der Truppenschule ist als
Erster an der Reihe, wir beide haben schon an mehreren
Abseilausbildungen teilgenommen.
Der Ablauf ist wie gewöhnlich: Ich rufe ihn zu mir, prüfe
den behelfsmäßigen Brust- und Sitzgurt und hänge das
Bergseil ein. Als alles in Ordnung ist, gebe ich das
Kommando:
„UND AB!“
„STOP – Sind Sie wahnsinnig?!?“, hallt es sofort aus dem
Hintergrund. Heiß und kalt läuft es mir den Rücken
herunter: „Was ist passiert, was habe ich falsch gemacht?“
Der Ausbilder ist mit einem Satz bei uns. Ewig lange
Sekunden vergehen, bis es mir dämmert: der
Schraubkarabiner! Immer und immer wieder haben uns die
Ausbilder darauf hingewiesen, ja den Karabiner
zuzuschrauben … Meine Ausbildung wird abgebrochen und
ein anderer Lehrgangsteilnehmer setzt mit seiner Aufgabe
fort.
Kurz gehen meine Gedanken in alle möglichen Richtungen.
Hätte mir mein Kamerad nicht helfen können? Was passiert
jetzt weiter? Werde ich vom Lehrgang abgelöst?
Was bleibt, ist nur eins: Es war allein mein Fehler und ich
muss für ihn gerade stehen.
Später erfahre ich, dass ich zwar entgegen der Vorschrift
gehandelt habe, aber keine Sicherheitsbestimmung verletzt
wurde. Das bewahrt mich zwar vor der Ablösung vom
Lehrgang, macht mich aber nicht wirklich glücklich. Was
hätte hier oder in einer richtigen Abseilsituation alles
passieren können?
Den Rest des Lehrganges versuche ich alles, um die Scharte
auszuwetzen. Wir marschieren tags und nachts mit über
204
Leutnantsbuch
dreißig Kilogramm Ausrüstung durch die Rhön, führen
Handstreiche, Hinterhalte und weitere Ausbildungen durch.
Obwohl alles gut läuft, kreisen meine Gedanken immer
wieder um die Situation auf dem Turm.
Zum Ende des Lehrganges steht dann fest: bestanden. Die
verpatzte Ausbildung schlägt sich deutlich im Zeugnis
nieder. Trotz nicht besonders guter Noten bekomme ich
zusammen mit allen noch Verbliebenen das Abzeichen
verliehen – zufrieden bin ich nicht.
Eine Woche später sind wir alle zurück an der
Truppenschule und erhalten sofort den Auftrag, den
Nachfolgejahrgang in einer Vorausbildung auf den EK I
vorzubereiten.
Die Themen sind Durchschlagen, Orientieren, Nahkampf
und als letzte Station das Überwinden eines Hindernisses
durch Abseilen mit mir als Stationsleiter.
Nach ein paar Wochen ist es dann soweit. Nicht fünf,
sondern 45 Meter geht es in einem alten Steinbruch nach
unten. Wir bereiten die Abseilstelle vor und testen den Weg
nach unten. Ein Offizieranwärter nach dem anderen kommt
zu mir und meldet sich zum Abseilen. Der eine cool, der
andere zittrig, aber alle geschafft von den Anstrengungen der
letzten Tage und mit Respekt vor der Höhe. Peinlich genau
prüfe ich jeden einzelnen Sitzgurt, jeden Karabiner und das
korrekt eingehakte Sicherungsseil.
Am Ende des Tages sind alle knapp fünfzig Kameraden
sicher auf der Sohle des Steinbruches angekommen und
erleichtert verpacken wir Seile, Gurte und Zubehör.
Als ich einige Kameraden später nach der Ausbildung frage,
höre ich nur positives Echo. Erst jetzt habe ich das Gefühl,
den EK II wirklich bestanden zu haben.
205
Leutnantsbuch
Was habe ich gelernt? Natürlich werde ich den Karabiner
jetzt immer zuschrauben, aber das lässt sich auch auf andere
Bereiche übertragen. Ausbildung ist wichtig und Fehler sind
es ebenso. Ein Sprichwort sagt: „Wer keine Fehler macht,
wird nicht erfahren.“
Aufpassen muss man nur, dass man aus Fehlern in der
Ausbildung lernt, um vorbereitet zu sein, wenn es darauf
ankommt. Außerdem ist es gerade für den Offizier als
militärischen Führer wichtig, Soldaten auch nach Fehlern
wieder in die Verantwortung zu stellen, sie aufzubauen und
sich dann ein eigenes Bild von ihrer Leistungsfähigkeit zu
machen.
Ich bin heute noch dankbar, dass ich auch mir selbst nach
dem Lehrgang beweisen konnte, dass ich das Abzeichen zu
Recht auf der Brust trage.
HI
Akzeptiere Dich! Entwickle Dich weiter!
Führer sein heißt, Verantwortung jederzeit wahrzunehmen.
Aus der Verantwortung wird man nicht entlassen, sie ist
nicht teilbar oder delegierbar! Verantwortungsbewusstes
Handeln beinhaltet immer auch eine persönliche
Fehlerkultur: Eigene Fehler eingestehen, die Fehler anderer
akzeptieren. Wer Fehler nicht erkennt oder sie verschweigt,
wird unzufrieden.
206
Leutnantsbuch
Beim Handgranatenwerfen
E
s ist Februar, der vorletzte Tag eines Truppenübungsplatzaufenthalts in Bergen. Ich bin Oberleutnant in einer
Panzerpionierkompanie und eingeteilt als Leitender beim
Handgranatenwerfen.
Alles läuft reibungslos. Für viele der jungen Kameraden ist
es das erste Mal, dass sie eine Gefechtshandgranate in der
Hand halten. Ich versuche durch erneutes Erläutern des
Ablaufs und vor allem durch das Ausstrahlen von Ruhe, den
Kameraden die Nervosität zu nehmen. Im letzten Rennen ist
ein Gefreiter, der zuvor als Absperrposten eingeteilt war.
Wie die Kameraden vor ihm, weise ich ihn nochmals in den
Ablauf ein, gebe ihm ein Hilfsziel und fange an, die
Kommandos zu geben: „Fertig machen zum Handgranatenwurf!“. Die Granate fest an den Oberschenkel gepresst, löst
er den Ring aus der Arretierung und schaut mich an. Für
mich das Zeichen, dass er bereit ist. Auf mein Kommando
„Wurf!“ schaut er mich wiederum an, wirft aber nicht. „Sie
können jetzt werfen!“, war meine Reaktion. Und das tat er
dann auch. Nur eine kleine, aber entscheidende Sache hat er
dabei vergessen – den Splint zu ziehen. Ich sehe den Splint
an der Granate in der Sonne blitzen, ziehe den Gefreiten aber
dennoch an seiner Splitterschutzweste runter, denn sicher ist
sicher. Erwartungsgemäß bleibt der Detonationsknall aus
und wir beide hocken in der Werferstellung. „Fünf Minuten
die Köpfe unten halten!“, höre ich meinen Sicherheitsoffizier (SO), einen erfahrenen Hauptfeldwebel aus dem
Bunker brüllen. „Der Feuerwerker wird gerade informiert!“.
„Meine Fresse!“, denke ich, „Warum muss so etwas denn
immer kurz vor Toresschluss passieren?“ Innerer Gram
steigt in mir auf und ich frage den Gefreiten, der wie ein
Häufchen Elend mir direkt gegenüber kauert: „Was war
207
Leutnantsbuch
das denn jetzt?“ „Ich weiß auch nicht.“, kam nur zurück.
Schweigend verbrachten wir die restlichen vier Minuten.
Wieder zurück im Bunker, warteten wir auf den
Feuerwerker. Derweil unterhielt ich mich mit meinem SO
und legte ihm immer noch leicht angesäuert dar, dass ich den
Gefreiten nicht mehr werfen lassen wolle. Darauf meinte der
Hauptfeldwebel: „Hören Sie. Der Junge ist jetzt total am
Boden. Wenn er nicht mehr werfen darf, ist das sicherlich
alles andere als gut für sein eh schon angekratztes
Selbstbewusstsein. Ich würde ihm sein Erfolgserlebnis
geben.“ Der Feuerwerker traf erfreulicherweise kurz darauf
ein. Ich schilderte ihm das Geschehene und wies ihn ein.
Nachdem er die Granate gefunden und kurz in Augenschein
genommen hatte, nahm er sie auf und kam wieder zurück
zum Bunker. „Hier ist das gute Stück.“
Der Feuerwerker fuhr mit seinem Wolf wieder aus dem
Gefahrenbereich und ich hatte mir in der Zwischenzeit die
Worte des Hauptfeldwebels noch mal durch den Kopf gehen
lassen. „Gefreiter H., zu mir! Gehörschutz rein, Helm auf
und mitkommen.“ In der Werferstellung wies ich den
Kameraden nochmals explizit in die Übung ein und merkte,
wie seine Anspannung nach meinen „besonders“ beruhigenden Worten nachließ. Man konnte förmlich sehen, wie der
Gefreite das Gesagte in seinem Kopf noch einmal für sich
durchging. Beim Werfen der insgesamt drei Handgranaten
gab es dann auch keine weiteren Mängel.
Im Nachhinein bin ich froh darüber, dass der Hauptfeldwebel mich umgestimmt hat, da eine Ausbildung ohne
Erfolgserlebnis wenig Nährwert hat.
Die letzten Tage unseres Truppenübungsplatzaufenthalts
konnte man den besagten Gefreiten mit einem breiten
Lächeln auf den Lippen herumlaufen sehen.
208
Leutnantsbuch
HI
Höre auf erfahrene Kameraden. Gerade ältere Unteroffiziere mit Portepee haben meist mehr Diensterfahrung.
Die Autorität eines Vorgesetzten wird durch das Annehmen
eines guten Rates nicht geschmälert. Die selbstständige
Unterstützung älterer Kameraden gegenüber einem jungen
Offizier kann sogar Ausdruck von Vertrauen und Anerkennung sein.
209
Leutnantsbuch
Der letzte Flug
A
m Vorabend hatte ich mit ihm noch etwas zusammen
getrunken, bevor am Tag darauf die Meldung durch das
Feldlager in Bosnien ging, dass er mit seinem
Transportpanzer FUCHS an einem Berg abgestürzt und
dabei um`s Leben gekommen war.
Während die sterblichen Überreste in einem Kühlcontainer
aufbewahrt wurden, stellte unser Kommandeur die Frage
nach dem Ehrengeleit bei der Überführung des Sarges in das
Flugzeug nach Hause. Es waren genau weitere sechs
Kameraden in unserem Verband, die denselben Dienstgrad
trugen wie der Verunglückte. Alle erklärten sich sofort
bereit, das letzte Geleit im Einsatzland zu stellen.
In langsamen Schritten trugen wir den Sarg vom Transporter
am Flughafen durch ein langes, multinationales Spalier über
das Flugfeld zum Flieger. Auf der geöffneten Ladeklappe
der Transall stellten wir den Sarg ab und nahmen an dessen
Seite Aufstellung.
Dann blies ein Trompeter das Lied vom guten Kameraden,
welches weit über das Flugfeld hallte.
„Ich hatt’ einen Kameraden,
Einen bessern find’st Du nicht ...“
Da hatte ich den mir sehr sympathischen Kameraden wieder
vor Augen. Nachdem wir bisher das Geschehene gar nicht
richtig fassen konnten, ergriff mich nun plötzlich eine tiefe
Traurigkeit über diesen endgültigen Verlust. Das Lied vom
guten Kameraden hat für mich seitdem einen ganz anderen
Klang, sein Text berührt mich in einer neuen, tiefen Weise.
Wir traten danach aus dem Flugzeug zum Spalier auf dem
Flugfeld, woraufhin sich die Ladeluke schloss, der Flieger
zur Startbahn rollte, direkt aus der Bewegung beschleunigte
210
Leutnantsbuch
und abhob. Dem Beispiel unseres Kommandeurs folgend,
legten wir alle, sicher mehr als hundert Soldaten, die Hand
an die Kopfbedeckung zum letzten Gruß. Schweigend
schauten wir lange dem Flieger nach, bis er in den Wolken
in Richtung Heimat verschwunden war. Ich stellte mir die
Ehefrau mit drei kleinen Kindern vor, die dort warten
würden.
HI
211
Leutnantsbuch
Die Grußpflicht
D
ie Stimme am Telefon klang sehr aufgeregt: „Der
französische Feldlagerkommandant fordert eine harte
Bestrafung. Er will hier endlich die Grußpflicht richtig
durchsetzen. Und das gilt für alle! Jetzt erwartet er, dass an
dem Obergefreiten ein Exempel statuiert wird.“
Was war geschehen? Ich war seit zwei Monaten als S 1
Stabsoffizier beim Deutschen Einsatzkontingent EUFOR in
Bosnien-Herzegowina eingesetzt. Wir saßen im Feldlager
Rajlovac und der Anruf kam aus Mostar von der
Multinationalen Brigade Süd, wo einige unserer Fernmelder
abgestellt waren.
Einer dieser Soldaten, ein Obergefreiter, war dem Feldlagerkommandanten begegnet und hatte ihn wohl nicht in
der Form gegrüßt, wie es dieser erwartete. Daraufhin hatte
ihn der französische Offizier tatsächlich an der Feldbluse
gepackt, ihn beschimpft und ihm das Namensschild herunter
gerissen – sozusagen als Beweisstück für die Missetat. Aber
für wessen Missetat, fragte ich mich sogleich.
Mein Gesprächspartner aus Mostar war mir eigentlich als ein
erfahrener und verständiger Offizier bekannt. Aber offensichtlich hatte er sich von dem Ungestüm des forschen
Feldlagerkommandanten derart einschüchtern lassen, dass er
die unsinnige Forderung nach einer „Bestrafung“ unseres
Obergefreiten unwidersprochen an mich weitergab. Er war
mit dieser Situation offensichtlich etwas überfordert. Aber
aus seiner Stimme hörte ich auch ein deutliches Unbehagen
heraus. Die ganze Sache war von Anfang an völlig aus dem
Ruder gelaufen.
„Nun ’mal ganz langsam!“, sagte ich zu ihm. „Was ist denn
wirklich passiert? Unser Obergefreiter hat den französischen
Major nicht gegrüßt oder hat ihn vielleicht nur nachlässig
gegrüßt. Wenn mir so etwas passiert, stelle ich den
212
Leutnantsbuch
Kameraden zur Rede und belehre ihn über seine Grußpflicht.
Und im Wiederholungsfall bietet mir unser Erlass
Erzieherische Maßnahmen einige Möglichkeiten, die der
französische Kamerad allerdings so nicht hatte.“
Mein Gesprächspartner stimmte mir zu und ich fragte ihn:
„Werden Sie denn selbst von jedem dienstgradniedrigeren
Soldaten gegrüßt – bei Ihnen da unten in Mostar?“
Er lachte durch das Telefon und erwiderte belustigt: „Nein,
natürlich nicht. Viele Soldaten aus den anderen Nationen
kennen doch meine Dienstgradabzeichen gar nicht.
Außerdem laufen gerade in den ersten Tagen alle so
orientierungslos hier herum, dass sie einem fast schon leid
tun können – echte Tapsis halt!“ (Tapsi ist im Einsatz die
liebevolle Abkürzung für: Total ahnungslose Person sucht
Informationen).
Jetzt konnte ich auch mitlachen und fragte weiter: „Und all
diese Tapsis packen Sie dann jedes Mal gleich am
Schlafittchen und reißen ihnen die Namensschilder
herunter?“ – „Nein, natürlich nicht, wo kämen wir denn da
hin?
„Eben!“, bestätigte ich. „Und das darf sich auch kein
Feldlagerkommandant herausnehmen – gleich welcher
Nation und mit welchem Dienstgrad auch immer.“
„Aber man erzählt, er war früher bei der Fremdenlegion!“,
wandte mein Gesprächspartner ein.
„Na und? Das gibt ihm noch lange nicht das Recht, einen
deutschen Obergefreiten an der Jacke zu packen. Wenn sich
hier jemand etwas zuschulden hat kommen lassen, dann
doch wohl der Kamerad Major. Sie können ihm Folgendes
ausrichten:
In unserer Armee gibt es keine exemplarischen Bestrafungen. Hier gibt es einen Erlass Erzieherische Maßnahmen, eine Wehrdisziplinarordnung und ein Wehrstraf213
Leutnantsbuch
recht. Es gibt aber auch eine Wehrbeschwerdeordnung,
Vertrauenspersonen und einen Wehrbeauftragten.
Unsere Disziplinarvorgesetzten sind in der Ausübung ihrer
Disziplinargewalt autonom und selbstverständlich an Recht
und Gesetz gebunden. Sie bestrafen übrigens niemanden –
und schon gar nicht auf Zuruf!
Bestellen Sie dem Herrn Major auch, dass er keinerlei Recht
besitzt, Soldaten derart entwürdigend zu behandeln,
gleichgültig, ob es deutsche oder andere Soldaten sind. Er
soll daher froh sein, wenn nicht gegen ihn selbst ermittelt
wird. Und wenn er das nicht versteht, dann soll er mich
besuchen kommen. Dann rede ich mit ihm. Wir gehen mit
unseren Soldaten nämlich etwas anders um. Unser
Obergefreiter wird nicht bestraft. Ich wüsste nicht, wofür!“
Genauso ist es damals passiert. Wir haben den Obergefreiten
nach Rajlovac zurückgeholt und ich habe mit ihm
gesprochen. Er war ein anständiger und disziplinierter
Soldat, der das Pech hatte, einem schlechtgelaunten
Stabsoffizier in fremder Uniform über den Weg zu laufen.
Mehr war es nicht und hat dennoch für soviel Wirbel
gesorgt.
Übrigens habe ich damals den Begriff ‚Innere Führung‘ mit
keiner Silbe erwähnt. Aber genau darum ging es in dieser
Sache. Innere Führung gilt eben auch im Einsatz; selbst
dann, wenn wir in multinationale Strukturen eingebunden
sind. Und wie dieses kleine Beispiel zeigt, hat unsere Innere
Führung letzten Endes auch funktioniert.
Unser Leitbild vom Staatsbürger in Uniform rückt die
Menschenwürde in den Mittelpunkt unseres gesamten
Handelns. Und daran gibt es nichts zu rütteln – auch im
Einsatz nicht! Darauf können wir wirklich stolz sein und
dürfen es den anderen auch deutlich zeigen. Es gehört nur
etwas Zivilcourage dazu und natürlich die Überzeugung,
214
Leutnantsbuch
dass die Grundsätze der Inneren Führung gut und richtig
sind. Und das sind sie ja auch!
HI
215
Leutnantsbuch
Auf der Standortschießanlage
E
s ist ein sonniger, warmer Tag. Ich sitze hier während
der Mittagspause als Teilnehmer eines Übungsschießens
auf der Standortschießanlage abseits auf einem erhöhten
Punkt. Unter mir sehe ich Soldaten mit Essgeschirr bei der
Verpflegungsausgabe durch den Spieß. Hinter mir ändert das
Funktionspersonal den Zielbau für eine neue Schießübung
nach dem Mittagessen.
Viele Sachen gehen mir beim Anblick der anwesenden
Soldaten durch den Kopf. Dort die Soldaten, die sich als
Schützen auf das Schießen konzentrieren können und nun in
der Mittagspause entspannen wollen. Hier das Funktionspersonal, das für den reibungslosen Ablauf und damit für
den Ausbildungserfolg zu sorgen hat.
Bei längerem Betrachten bemerke ich, wie das ein oder
andere Lächeln über mein Gesicht huscht. Meine Gedanken
schweifen zurück in das Jahr 1996. Es ist ein heißer Sommer
und ich sitze ebenfalls mit meiner Mittagsverpflegung auf
der Standortschießanlage und sehe links und rechts neben
mir 50 Rekruten, die hastig und verschwitzt ihr Essen einnehmen. Ich, Panzerschütze, denke an nichts und wünsche
mir nur, diese dicke, warme olive Uniform mit dem schweren Stahlhelm endlich ablegen zu können, um alle Viere von
mir strecken zu können. Da kommt auch schon mein Zugführer, Leutnant Sch., und teilt uns in diesem immer wiederkehrenden, Disziplin verlangendem Ton mit, „Antreten in
5 Mike“. Unsere Essbewegungen werden schneller, da uns
bewusst ist, es gibt nur einen Wasserhahn für 50 Soldaten,
das Essgeschirr muss noch verpackt und der Anzug gerichtet
werden.
Nach fünf Minuten sind wir im befohlenen Anzug
angetreten und wundern uns wieder, wie und wann der
Leutnant den Zielbau hat umbauen lassen, sein Funktions216
Leutnantsbuch
personal eingewiesen und selbst Verpflegung eingenommen
hat, um nun im gleichen Anzug wie wir vor uns zu stehen.
Es bleibt nicht nur bei der Schießübung. Die von uns allen
mit Frust erwartete Parallelausbildung „ABC-Abwehr“
findet auch noch statt. Leutnant Sch. ist an diesem Tag wie
gewohnt ruhig und fordernd. Er hat seinen Schießtag voll im
Griff und wir jungen Rekruten bemerken keinen einzigen
Fehler des jungen Offiziers. Seine Ausbildungen haben
ohnehin stets Hand und Fuß. Seine Art der Menschenführung haben wir in den letzten sechs Wochen sehr zu
schätzen gelernt.
„Jede Gruppe ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied.“
Ein Satz, den wir immer und immer wieder hören, der sich
eingeprägt hat. Er verlangt keine außergewöhnlichen Sachen
von uns und steht selbst immer vorne. Bei jeder Ausbildung
geht unser Zugführer im gleichen Anzug voran, zeigt uns an
allen Stationen persönlich, was er von uns und von den
Gruppenführern verlangt. Wir zollen ihm größten Respekt.
Nun stehe ich vor ihm und melde mich mit nervösen Knien
mit drei Kameraden zur Schießübung.
Er lässt uns rühren, die Schießbücher abgeben und Munition
empfangen. Ich stehe auf meiner Schießbahn und will mich
bei der Aufsicht melden, als ich den Schrei des Leutnants
durch meinen Gehörschutz wahrnehme. Er kommt direkt auf
mich zu und fragt mich, ob er mich anfassen dürfe. Ich nicke
und bemerke dabei, wie mir der Stahlhelm ins Gesicht
rutscht. Der Kinnriemen, wie konnte ich vergessen, ihn nach
der ABC Parallelausbildung wieder korrekt einzustellen. Er
„friemelt“ ein paar Momente an meinem Helm herum und
stellt ihn für mich passend ein. Dies war der erste
Augenblick während meiner bis dahin kurzen Dienstzeit,
dass sich ein Offizier persönlich um mich kümmerte. Mir
war es sehr peinlich doch auch hilfreich zu gleich. Nie werde
217
Leutnantsbuch
ich diesen Augenausdruck und das bestimmende Verhalten
vergessen.
Das Schießen verlief mit sehr gutem Erfolg und wir
verließen abends in einer müden Verfassung die Schießbahn.
Nach Ende der AGA wurde Leutnant Sch. versetzt und ich
verlor dadurch die Verbindung zu einem Vorgesetzten, den
ich sehr geschätzt und bewundert habe.
Im Jahr 2003 stand in meiner Kompanie der Chefwechsel
vor der Tür. Unser Spieß informierte das Unteroffizierkorps
über den Nachfolger. Ein gewisser Hptm Sch. sollte in den
nächsten zwei Wochen die Kompanie übernehmen.
Das Wiedersehen verlief für beide Seiten sehr erfreulich.
Wir waren doch beide sichtlich erleichtert, ein bekanntes
Gesicht wieder zu sehen und Informationen und Erfahrungen
auszutauschen. Die Führung der Kompanie in den folgenden
beiden Jahren verlief genau so, wie ich es mir von ihm
erwartet hatte. Seine straffe Art der militärischen Führung
und seine Persönlichkeit wurden von jedem respektiert.
Jeder war sichtlich froh und hoch motiviert, unter diesem
Offizier dienen zu dürfen.
Mit meiner Übernahme in die Laufbahn der Offiziere des
militärfachlichen Dienstes wurde ich versetzt und unsere
Wege trennten sich erneut. Geprägt von einem charakterlich
anständigen Offizier und der Erfahrung aus neun Jahren
Mannschafts-, Unteroffiziers- und Feldwebeldienstgraden
durchlief ich die Offz-MilFD-Ausbildung.
Da wir in den letzten Jahren immer wieder in Verbindung
standen und ein nahezu freundschaftliches Verhältnis aufgebaut haben, wusste ich stets um den weiteren Werdegang
meines Kameraden. Er durchlief die Generalstabsausbildung. Er hat sich nie verändert und ist immer derselbe
Mensch geblieben, der er auch schon als Leutnant war.
218
Leutnantsbuch
Offizieranwärter Frank
Verabschiedung
M
orgen geht’s los! Endlich Studium – den anderen
„draußen“ nachziehen: Fachbereichsfeste, Vorlesungen, Scheine machen – Surfschein steht ganz oben auf
meiner Liste!
„Wenn Sie sich da mal nicht täuschen“, sagt Major Seidel
als ich ihm davon berichte. „Halten Sie sich ran,
verschwenden Sie keine Zeit und bleiben Sie am Ball! Der
Zug im Studium fährt schnell ab, verpassen Sie den
Anschluss nicht“, hat er gesagt.
Naja, meine Anmerkung war ja auch nicht ganz ernst
gemeint.
Wir OA sind auf dem Weg zum großen Abschiedsabend in
der Reithalle der Offizierschule in Dresden. Danach werden
sich unsere Wege wieder trennen. Ich werde mit Peter und
Cindy nach München, der Rest nach Hamburg fahren. Wir
sind alle sehr gespannt, was auf uns zukommt.
Als wir uns der Reithalle nähern, geht von dort eine
eigenartige Stimmung aus. Wir wissen, dass sich ab hier
unsere Wege für mehrere Jahre trennen. Bachelor und
Master sind Begriffe, die uns jetzt beschäftigen werden.
„Jetzt wollen wir erst einmal sehen, was das Festkomitee aus
der Halle gemacht hat“, sagt Cindy, und ich habe den
Eindruck, dass sie etwas schneller wird. Annette schließt
sich an und wir sind alle sehr gespannt auf die kommenden
Stunden. Dann betreten wir die Reithalle.
219
Leutnantsbuch
Wir wurden nicht enttäuscht! Ein sehr festlicher Rahmen –
ja, trotz der Ansprachen! Jetzt sitzen wir an unserem Tisch,
Major Seidel ist mit von der Partie.
Er wollte ja noch andere Offiziere und Offizieranwärter
fragen, ob sie nicht auch einige Erlebnisse aufschreiben
wollen. Die Idee, die Major Seidel entwickelt hat, finden wir
alle sehr gut. Wir haben so viele interessante Geschichten
gehört – die darf man einfach nicht vergessen. Und deshalb
hat er stolz verkündet, dass er schon eine Menge Erlebnisse
gesammelt hat für das Projekt „Leutnantsbuch“.
„Denken Sie daran: Nehmen Sie kein Blatt vor den Mund –
aber bleiben Sie bitte sachlich“, gibt uns Major Seidel im
Flüsterton mit. Der Inspektionschef hatte sich inzwischen
von Tisch zu Tisch begeben und Major Seidel hatte gesagt:
„Sicher wird er Sie fragen, wie Ihnen Ihre Zeit vor dem
Studium als Offizieranwärter gefallen hat, was Sie besonders
beeindruckt hat – und was nicht.“
Kurze Zeit später sind wir in das Gespräch mit dem
Inspektionschef vertieft. Ja, er hat alle Fragen gestellt, die
Major Seidel sozusagen angekündigt hatte. Dann kommt er
plötzlich auf die Idee, von Major Seidel zu sprechen.
„Wenn das klappt, dass Major Seidel viele Erlebnisse von
Soldaten für Soldaten zusammenbekommt, dann wird das
Leutnantsbuch sicher ein Riesenerfolg. Ich werde auf jeden
Fall meinen Teil beitragen, und auch aus meiner Zeit im
Einsatz ein Erlebnis aufschreiben. Major Seidel, wie sieht es
denn aus mit Ihrer Idee?“
Major Seidel antwortet: „Sehr gut, Herr Oberstleutnant! Ich
habe nicht nur in meinem alten Bataillon nachgefragt,
sondern auch in anderen Bereichen, in denen ich noch einige
Kameraden kenne. Ich habe schon wunderbare Erlebnisse
220
Leutnantsbuch
zugeschickt bekommen! Das hätte ich nie gedacht! Wenn
Sie einverstanden sind, dann werde ich das Projekt
Leutnantsbuch weiterverfolgen. Wenn ich dann genug
Erlebnisse zusammen habe, dann könnten wir diese an die
zukünftigen Offizieranwärter verteilen. Ich könnte mir
vorstellen, dass andere – vielleicht sogar die Offizieranwärterbataillone – auch ein großes Interesse an so einer
Sammlung haben.“
„Da bin ich mir ziemlich sicher“, antwortet der
Inspektionschef. „Ich habe auch schon ein bisschen
herumtelefoniert. Dabei bin ich auf sehr positive Resonanz
gestoßen. Aber jetzt sagen Sie mal, wie viele Geschichten
konnten Sie denn schon sammeln?“
„Genau weiß ich es nicht, Herr Oberstleutnant, habe noch
nicht gezählt. Aber ich habe für unsere Offizieranwärter hier
jeweils Kopien zusammenstellen lassen. Vielleicht als
„Beruhigungslektüre“ für die ersten Tage an der Uni!“, sagt
Major Seidel mit einem Schmunzeln.
„Dazu habe ich Ihnen – ich hatte es ja versprochen – meine
eigenen Ideen zum beruflichen Selbstverständnis dazugelegt.
Inklusive Bierdeckelkopien!“
Er beugt sich unter den Tisch, unter dem er offensichtlich
etwas abgestellt hat. Dann überreicht er uns einen
Papierpacken, der uns erst kurz aufstöhnen lässt.
Dabei fügt er hinzu: „Ich würde mich freuen, wenn Sie sich
einmal melden, wenn Sie die eine oder andere Geschichte
gelesen haben. Insbesondere interessiert mich Ihre Meinung,
ob sie geeignet sind, Ihren Nachfolgern das Bild des
Offizierberufes anschaulich darzustellen. Ich habe meine
221
Leutnantsbuch
Visitenkarte dazugeheftet, scheuen Sie sich nicht, sie zu
nutzen!
Und wenn Sie Interesse haben, ein bisschen weiter am
Leutnantsbuch zu arbeiten, dann machen Sie ordentlich
Werbung an der Uni. Da gibt es bestimmt viele interessante
Erlebnisse, die ich gut brauchen kann!“
„Na, na Herr Major“, sagt der Inspektionschef, „vergessen
Sie vor lauter Eifer nicht Ihre Hauptaufgabe! Der nächste
Hörsaal kommt bestimmt!“
Der Abend verlief weiter in einer sehr angenehmen
Atmosphäre und wir alle hatten noch viel Spaß.
Am nächsten Morgen dann endgültige Verabschiedung. Wir
haben die Papiere von Major Seidel in den Autos verstaut,
uns noch einmal für die hervorragende Betreuung und das
Interesse, das uns entgegengebracht wurde, bedankt und
machen uns auf den Weg zu unseren schwer bepackten
Autos.
Cindy wird mich zum Bahnhof fahren – ich habe die Masse
meiner Sachen schon bei einem Freund in München
„eingelagert“ und kann so gemütlich mit dem Zug in
Richtung Süden rattern.
Studium. München. Biergarten. Surfseen. Berge. Ski fahren.
So ganz kann ich die angenehmen Gedanken an die Zeit, die
vor mir liegt, nicht verdrängen. Sollte ich wohl auch nicht,
auch das gehört dazu!
Auf dem Weg nach München denke ich noch viel an die
anderen. Wir haben uns vorgenommen, uns regelmäßig zu
treffen. Auch wenn die Entfernung zwischen München und
222
Leutnantsbuch
Hamburg nicht gerade dazu einlädt. Und außerdem haben
wir uns verabredet, tatsächlich eng in Verbindung zu
bleiben, um dem Projekt Leutnantsbuch, soweit es geht,
noch „ein bisschen unter die Arme zu greifen.“
Ich nehme die schwere Mappe in die Hand, die Major Seidel
uns gegeben hat. Viele Geschichten scheinen es zu sein –
mindestens ein Kilo! Als ich die Mappe aufschlage, finde
ich die Visitenkarte von Major Seidel mit einer persönlichen
Widmung und dem Wunsch nach viel Erfolg im Studium.
Dann beginne ich, die erste Geschichte zu lesen …
223
Leutnantsbuch
Fremde Kulturen
E
rstausbildung in Form eines Lehrgesprächs zum Thema
„Die Beurteilung der Lage als Bestandteil des
Führungsprozesses“. Ich befinde mich tausende Kilometer
von Deutschland entfernt in einem stickigen, heißen
Unterrichtsraum. Obwohl zugesagt, funktioniert die vorhandene Klimaanlage nicht und die Temperatur beträgt gut
und gerne 40 °C. Ich schwitze und habe einen Kloß im Hals;
gefühlte Temperatur 50 °C, denn diesmal bin ich nicht
Lehrgangsteilnehmer, sondern 25 Augenpaare sehen mich
erwartungsvoll an.
Ich versuche den Blicken nicht auszuweichen, obwohl ich
die Frage in den Augen einzelner sehen kann: „Warum steht
da ein Leutnant und kein Stabsoffizier?“
Zugegeben, auch ich war überrascht, als mir der
Ausbildungsleiter noch in Deutschland den Auftrag gab,
diese Ausbildung vorzubereiten und durchzuführen. Auf
meine Frage antwortete er: „Ich kenne unsere gründliche
Offizierausbildung und Sie haben bisher gute Leistungen
gezeigt.“ Weiter erklärte er: „Ich will den Auszubildenden
zeigen, dass Kompetenz nicht an bestimmte Dienstgrade
gebunden ist und man Vertrauen in seine unterstellten
Soldaten setzen soll. In den Streitkräften unserer Auszubildenden sind diese Grundsätze nicht verbreitet.“
So stehe ich nun vor dem Bataillonskommandeur, einem
Oberst; den Oberstleutnanten, die in den Gesprächen der
vergangenen Tage berichteten, dass Sie in ihren Streitkräften
Kompaniechefs seien und in dieser Funktion Kriegserfahrung hätten; gleiches gilt für die Stabsoffiziere und
Offiziere des Bataillonsstabes. Die wenigen Feldwebel
224
Leutnantsbuch
haben sich kaum geäußert, es sei denn, sie wurden von ihren
Vorgesetzten dazu aufgefordert. Sie sind zurückhaltend, fast
ängstlich.
Vor Beginn der Ausbildung wurden wir intensiv in unseren
Auftrag und in die Rahmenbedingungen, die uns erwarteten,
eingewiesen.
Mein Mund ist trocken. Gerne hätte ich jetzt einen Schluck
Wasser, aber es ist Ramadan. Wir unterliegen zwar nicht den
religiösen Vorschriften, aber es wurde positiv aufgenommen, dass wir uns mit Rücksicht auf diese zurückziehen,
bevor wir etwas trinken.
Ich bin in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE),
unser Auftrag ist es, irakische Pioniere nach unseren
Grundsätzen auszubilden. Es ist ein Land, das von Luxus
und Überfluss geprägt ist, während unsere Auszubildenden
aus einem Land kommen, in dem derzeit kein Frieden
herrscht. Würde ich mich uneingeschränkt auf die
Ausbildung konzentrieren können oder wären meine
Gedanken nicht auch – zumindest zeitweise – bei meiner
Familie?
Ich atme einmal tief durch, sage mir, dass ich gut vorbereitet
bin und beginne zu sprechen. Nach wenigen Sätzen werde
ich durch den Dolmetscher sanft unterbrochen. In der
Aufregung hatte ich ihn und seine Aufgabe ganz vergessen.
Gestern noch bin ich mit ihm den Unterricht durchgegangen
und war überrascht, wie wenig Rückfragen es gab. Er lebt ja
auch schon sehr lang in Deutschland. Er versteht nicht nur
beide Sprachen, sondern kennt auch beide Kulturen und
somit – obwohl er nicht die gleiche Nationalität hat – auch
die Denkmuster unserer Auszubildenden. Zumindest zu
großen Teilen, denn – so hat er es mir erklärt – nicht nur in
225
Leutnantsbuch
Europa hat jede Nation trotz großer Gemeinsamkeiten eine
eigene Geschichte und Kultur. Und gerade hier treffen in
den Personen der Ausbilder, der Auszubildenden, der
Dolmetscher und der Gastgeber vier Nationen mit sehr
unterschiedlichen Entwicklungen während der letzten
Jahrzehnte aufeinander. So langsam gewinne ich eine
Vorstellung davon, welche Forderungen sich hinter der
Formulierung „Interkulturelle Kompetenz“ verbergen.
Die nächsten Minuten verstehe ich nichts und muss
feststellen, dass die Übersetzung deutlich länger dauert, als
ich angenommen hatte. Immer wieder gibt es Nachfragen zu
Punkten, die aus meiner Sicht jedes Kind verstehen muss.
Könnte ich selbst auf Anhieb ein System verstehen, das
gänzlich von dem abweicht, was mich in der bisherigen
militärischen Laufbahn geprägt hat? Mein Zeitplan gerät
immer mehr ins Rutschen. Ich wollte doch viel weiter
kommen!
Ich erreiche nur einen Bruchteil dessen, was ich mir bis zur
Pause, die mit Rücksicht auf die Gebetszeiten durchgeführt
wird, erreichen wollte. Während ich noch am Pult stehe,
kommt einer der auszubildenden Stabsoffiziere mit einem
Dolmetscher auf mich zu. Nach ein wenig „small-talk“, bei
dem ich mich bemühe – so wie wir es gelernt hatten – nicht
den Dolmetscher, sondern meinen Gesprächspartner anzusehen, fragt er mich, ob er mein Handy nutzen dürfe, um
seine Familie anzurufen. Er hätte eine eigene Mobilfunkkarte, sodass mir keine Kosten entstünden. Mir ist
bewusst, dass wir nur für die Ausbildung zuständig sind,
sämtliche anderen Angelegenheiten liegen in Verantwortung der gastgebenden Nation. Diese hatte uns darauf hingewiesen, dass aus Sicherheitsgründen den in der militärischen
Anlage untergebrachten Auszubildenden die Nutzung von
226
Leutnantsbuch
Mobiltelefonen untersagt sei. Aber, was ist so schlimm,
wenn jemand in dieser Situation seine Familie anruft? Ich
ringe mit mir selbst, habe die Hand schon an der Beintasche,
entschließe mich dann aber, den vor mir stehenden
Stabsoffizier höflich auf die ihm und mir bekannte Auflage
hinzuweisen. Ohne ein weiteres Wort beendet er das
Gespräch. Ich habe Zweifel, ob ich richtig gehandelt habe.
In der folgenden Stunde habe ich keine Zeit, weiter darüber
nachzudenken. Die verbleibende Ausbildungszeit scheint
mir zwischen den Fingern zu verrinnen. Während der Bus
mit den Auszubildenden auf dem Weg zu deren Unterkunft
ist, äußere ich in der Ausbilderbesprechung meine Enttäuschung über die Leistungsfähigkeit der Auszubildenden.
Ein älterer Kamerad fragt mich: „Haben Sie schon darüber
nachgedacht, wer das durch Sie vorgegebene Ziel nicht
erreicht hat. Die Auszubildenden oder Sie?“ Ich spüre, dass
es wert ist, darüber noch einmal nachzudenken.
Nach der Besprechung fahren wir vom Ausbildungsgelände
zu unserer Unterkunft, die außerhalb der militärischen
Anlage liegt. Wie immer werden wir von dem uns nahezu
rund um die Uhr als Ansprechpartner zur Verfügung
stehenden Offizier der gastgebenden Nation begleitet. Mit
ihm kommt man – in Englisch – leicht ins Gespräch. Auf
meine Frage, wie er den bisherigen Verlauf der Ausbildung
empfunden habe, antwortet er: „Ich hatte bisher noch nie mit
deutschen Soldaten zu tun und die Inhalte der Ausbildung
sind mir zum Teil fremd. Aber es ist mir aufgefallen, dass
die Zusammenarbeit hervorragend klappt, getroffene
Absprachen eingehalten werden und man sich aufeinander
verlassen kann.“
227
Leutnantsbuch
Ich sage ihm nicht, dass ich das Vertrauen, das uns auch
über Kulturgrenzen hinweg entgegengebracht wird, fast
enttäuscht hätte.
HI
Entwickle Dich weiter! Im Offizierberuf gibt es immer
wieder neue Herausforderungen, die rasch auf einen Offizier
zukommen können. Deshalb kommt es darauf an, in
größeren Zusammenhängen denken und handeln zu können.
Das Entwickeln von interkultureller Kompetenz ist nicht nur
Aufgabe von Ausbildung und Lehrgängen, sondern
persönliche Herausforderung. Sensibilität für andere
Menschen, Verständnis für unterschiedliche Kulturen und
Akzeptanz der „Andersartigkeit“ gehören hierzu.
Deshalb ist es wichtig, selbst offen zu sein, Neues
aufmerksam zu betrachten und die Kontrolle zu behalten.
228
Leutnantsbuch
Soldaten muslimischen Glaubens in der Bundeswehr
V
or ein paar Jahren begann ich als Offizieranwärter in
einem Transportbataillon meinen Werdegang bei der
Bundeswehr. Bereits am ersten Tag meldete ich meinem
Gruppenführer, dass ich Muslim sei und deshalb kein
Schweinefleisch essen würde. Der Fahnenjunker runzelte ein
wenig die Stirn, lächelte aber zugleich und verwies mich an
den Spieß. Nichts ahnend wer oder was der Spieß sei, suchte
ich das von meinem Gruppenführer besagte Dienstzimmer
auf. Nachdem ich dem Spieß mein Anliegen vorgetragen
hatte, war dieser verwundert und sagte, dass er so einen Fall
noch nie hatte und fragte, warum ich denn kein
Schweinefleisch essen würde. Ich erläuterte ihm die
Situation und er versicherte mir, dass er das mit der Küche
klären und ich bei der Verpflegung berücksichtigt werden
würde. Während der Allgemeinen Grundausbildung konnte
meine Konfession und die damit verbundenen Essensgebote
jedoch nicht immer berücksichtigt werden. Aber, wenn es
beim Essen in der Truppenküche nur ein Gericht mit
Schweinefleisch gab und ich mich als Muslim zu Erkennen
gab, wurde mir kurzer Hand etwas anderes zubereitet. An
Geländetagen oder Übungen gab es für mich häufig einen
„Salatteller“ als Ersatz. Jedoch konnte ich immer den
Schweineanteil aus dem Lunchpaket oder EPA mit
Kameraden tauschen, die mir dafür Käse oder Ähnliches
gaben. Auf dem Einzelkämpferlehrgang in Hammelburg war
Verpflegung auch kein Problem. Es gab sowieso nichts bzw.
nur sehr wenig. An ein bestimmtes Ereignis kann ich mich
aber sehr gut erinnern. Wir waren gerade in der Abschlussübung und hatten nur noch einen Tag vor uns. Nach einem
langen Nachtmarsch kam unsere Gruppe völlig erschöpft
229
Leutnantsbuch
morgens früh an den Platz, wo wir verpflegen und ruhen
sollten. Dabei bekamen wir von unserem Ausbilder den
Auftrag, alles Essbare aus dem Wald zu sammeln. Wir
sammelten Pilze, Kräuter, Beeren usw. Pro Gramm unseres
gesammelten Gutes bekamen wir dann den Anteil in Fleisch
getauscht und konnten uns somit für den „letzten Tag“ der
Abschlussübung stärken. Leider war es Schweinefleisch und
ich war der Einzige in der Gruppe, der davon nichts essen
konnte. Die Gruppe erkannte die Situation und stellte sich
kameradschaftlich hinter mich und beschloss, auch nichts
von dem Fleisch zu essen. Von dieser Kameradschaft war
ich überwältigt, da wir alle ausgehungert waren. Ich versicherte meinen Kameraden, dass ich die Übung auch so
noch durchziehen werde und sie das Fleisch ruhig essen
sollten. Unsere Gruppe beschloss daraufhin, mich für die
Ruhephase aus allen anderen Aufträgen (Sicherung usw.)
herauszunehmen. Einige Zeit später, ich war übermüdet
eingeschlafen, weckte mich unser Hörsaalleiter sehr unsanft
und sagte: „Ich habe gehört, sie konnten nichts essen!
Kommen Sie raus aus dem Zelt, ich hab ein wenig
Putenfleisch für sie besorgt. Aber teilen sie es mit den
Kameraden!“ Tatsächlich hatte der Hauptmann etwas
Putenfleisch für mich besorgt. Diesen fürsorglichen und
kameradschaftlichen Zug meines Hörsaalleiters und meiner
Kameraden werde ich nie vergessen.
HI
Kameradschaft und interkulturelle Kompetenz sind nicht nur
leere Worthülsen. Gehe auf Kameraden mit anderen
religiösen Überzeugungen ein und respektiere sie. Nur
durch praktisch vorgelebte Beispiele wird ein unterstellter
Bereich erkennen, dass Kameradschaft und der damit
verbundene notwendige Respekt vor zunächst als fremdartig
Empfundenem nicht Halt macht.
230
Leutnantsbuch
Feuerlöscheinsatz Griechenland
S
amstagabends, gegen 21.00 Uhr, erreichte mich ein
Anruf meines Staffelkapitäns, dass die Führungsriege
des mittleren Transporthubschrauberregiments am nächsten
Morgen um 09.30 Uhr zusammen kommen sollte, um einen
Feuerlöscheinsatz in Griechenland zu planen und zu organisieren.
Nach häufiger Lageänderung und entsprechenden
Beurteilungen sowie nach Dutzenden von Telefonaten
zwischen der Division, dem Leitverband mTrspHubschrRgt
und uns ging es dann dort darum, die ausgewiesenen
Dienstposten zu besetzen und das notwendige Material
zusammenzutragen. Innerhalb weniger Stunden hatten wir
alle notwendigen Soldaten des Regiments mobilisiert. Mit
beispielgebender Einsatzbereitschaft jedes Einzelnen und
mit großer Flexibilität fanden wir die richtigen Leute für die
Einsatzdienstposten und konnten die Verlegung nach
Griechenland beginnen.
Am Montag flogen früh morgens fünfzehn Soldaten mit CH
53 nach Landsberg und von dort mit TRANSALL Richtung
Elefsis (Griechenland). Allerdings kamen wir dort nicht an,
weil der Flug etwa eine Stunde vor der geplanten Landung
umgeleitet wurde nach Andravida. Mit diesem Standort im
Nordwesten der Peloponnes waren wir deutlich näher an
unserem zugewiesenen Einsatzgebiet als mit einem Standort
in der Nähe von Athen.
Das griechische Phantomgeschwader in Andravida hatte im
Übrigen nicht mehr Zeit, sich auf diese Lageänderung
einzustellen, als wir, zeigte aber eine Professionalität und
Improvisationsfähigkeit, die uns alle positiv überraschte und
keinen Anlass zur Klage bot. Wir wurden herzlich
231
Leutnantsbuch
aufgenommen und durch den Kommodore, den Leiter
Flugbetrieb, einen Einsatzpiloten des Phantomgeschwaders,
einen Einsatzpiloten der dort stationierten Löschflugzeuge
und den Leiter der Feuerwehr in die Lage vor Ort und die
detaillierten Abläufe des Einsatzes eingewiesen.
Währenddessen verlegten drei Besatzungen mit drei CH 53
von Laupheim mit einer Übernachtung in Italien nach
Andravida, wo sie am Dienstag, kurz vor 14.00 Uhr ankamen.
Die Piloten und Techniker übernahmen die Hubschrauber,
brieften die Kameraden mit ihren bis dato erworbenen
Kenntnissen und konnten kurz nach 15.00 Uhr damit
beginnen, die Wasserlöschbehälter SMOKEY (5000 Liter),
die wie das meiste andere Material und Personal mit
TRANSALL eingeflogen worden waren, an die Außenlasthaken zu hängen und den Löscheinsatz zu beginnen.
Dazu nahmen wir an einem ein paar Flugminuten entfernten
großen Speichersee das Löschwasser auf und empfingen
vom Fire Coordination Centre in Athen, das die Löschkräfte
steuerte und die Einsatzräume zuwies, die Koordinaten eines
Waldbrandes ostwärts des antiken Olympia. Dieser Brand
hatte eine Ausdehnung von der Größe eines Fußballfelds mit
etwa 10 Meter hohen Flammen. Die Feuerwehr vor Ort war
offensichtlich mit unzureichenden Löschkräften im Einsatz.
Zudem war das Gelände hügelig und am Boden schwer
zugänglich.
Aufgrund dieses Lagebildes verabredeten wir, dass die
Hubschrauber immer in der Rotte zusammen blieben, um
kurz hintereinander mehrere SMOKEYS über dem Feuer zu
entleeren und so mit einem Vielfachen von 5000 Liter
Wasser das Feuer zu bekämpfen.
232
Leutnantsbuch
Die Wasseraufnahme fand an einem nahegelegenen See und
dem einzig noch wasserführenden Fluss der Gegend statt, so
dass die Umlaufzeiten kurz gehalten werden konnten.
Unsere Löscheinsätze der nächsten Tage gestalteten sich in
derselben Art und Weise. Wir flogen in zwei Schichten,
bekamen aus Athen die Koordinaten bzw. Einsatzräume und
meldeten über den Tower den Erfolg unserer Brandbekämpfung. Dies bedeutete auch, dass wir bei neu entdeckten großen Feuern die Unterstützung von Löschflugzeugen
anforderten, die innerhalb weniger Minuten zusammen mit
uns den Brand bekämpften.
Die Einsätze liefen koordiniert, ruhig und immer mit dem
Maß an Sicherheit ab, welches einen sicheren Flugbetrieb
gewährleistete. Einziges begrenzendes Element während
dieser Einsätze war der Flugkraftstoff, der alle 100 Minuten
am nächsten Flugplatz aufgenommen werden musste und
unsere Bemühungen für 45 bis 60 Minuten unterbrach.
Beim Löschvorgang selbst waren Augenmaß und Erfahrung
gefragt, je nachdem, wie sich das Feuer darstellte. Wir
lernten einzuschätzen, mit welcher Flughöhe und mit
welcher Geschwindigkeit man den Brandherd anfliegen
musste, damit das Wasser nicht verdunstete bevor es den
Boden erreichte und damit wir unterschiedlich große
Flächen beregnen konnten – das immer in Abhängigkeit
vom Gelände und unter der Prämisse, nicht durch den
aufsteigenden Rauch zu fliegen.
Auch hierbei hat sich der Einsatz als Rotte bewährt, da die
nachfolgenden Hubschrauber den Auslösevorgang des
vorausfliegenden Hubschraubers bewerten und entsprechend
mit ihrem Löschvorgang reagieren konnten.
233
Leutnantsbuch
Mit dieser Vorgehensweise und im Zusammenspiel mit
Luftfahrzeugen anderer Nationen konnten wir mehrere
Dutzend Feuer erfolgreich bekämpfen, den vorhandenen
Schaden an Menschen, Gebäuden, Siedlungen sowie Flora
und Fauna einschränken und schließlich aufhalten.
Zwischenzeitlich war die Zahl der Toten auf 64 gestiegen
und landesweit waren mehr als 110 Dörfer vollständig oder
teilweise zerstört. Ca. 16.000 Menschen wurden obdachlos
und kamen entweder bei Verwandten oder bei einer großen
griechischen Hotelkette unter. Etliche Griechen verloren ihre
Existenz, ihre Tiere, ihre Olivenhaine und Zitrusbäume. Eine
Soforthilfe von 200 Millionen Euro wurde bereitgestellt, um
zumindest die ersten Schäden der Katastrophe zu mildern.
Die Feuer in den 29 Regionen Griechenlands waren in
großen Teilen durch Brandstifter gelegt worden bzw.
wurden bei Temperaturen um die 35 °Celsius immer wieder
durch den Wind angefacht.
Diese Temperaturen forderten auch von den Besatzungen
besondere Maßnahmen, denn die pralle Sonne trieb das
Thermometer im Cockpit leicht auf über 45 °C. Ohne eine
bordeigene Klimaanlage und ohne die Möglichkeit, das
Fenster zu öffnen, forderte der Körper eine hohe Zuführung
von Getränken während des gesamten Flugbetriebes.
Zwischen zwei Tankpausen wurden nicht nur pro Hubschrauber ca. 1.800 Liter Sprit verbraucht, sondern auch pro
Besatzungsangehörigem 1,5 Liter Wasser bzw. Saft getrunken. Wer dies anfangs nicht beachtete, merkte sehr
schnell, wie die Konzentration und Leistungsfähigkeit im
Laufe des Nachmittags schnell zurückging.
In den letzten Tagen des Einsatzzeitraumes – wir hatten
mittlerweile mehr als 250 SMOKEY über der Peloponnes
geleert – war die akute Feuerbekämpfung soweit erfolgreich
234
Leutnantsbuch
fortgeschritten, dass uns ein ca. 300 qkm großes Gebiet zur
Überwachung und eventuellen Feuerbekämpfung zugewiesen wurde. Die griechischen Brandbekämpfer hielten die
weiterhin durch aufkommenden Wind angefachten Feuer mit
ihren Löschflugzeugen alleine unter Kontrolle und die ersten
zur Hilfe geeilten Nationen zogen ab.
Die Rückverlegung unserer Hubschrauber begann am
Donnerstag.
Mit einer Übernachtung auf der amerikanischen AF-Base
Aviano (Italien) erreichten wir am Freitag gegen 17.45 Uhr
unser Heimatregiment, wo uns unsere Regimentsführung,
Familienangehörige und Print- und Funkmedien erwarteten
und wir den erfolgreichen Abschluss des Feuerlöscheinsatzes Griechenland melden konnten.
HI
Finde Deine Motivation!
Der Einsatz zeigt, dass körperliche Leistungsfähigkeit,
Einsatzwille und die eigene Motivation wichtig für den
Erfolg sind! Gerade komplexe, „ungewöhnliche“ Einsätze
fordern den militärischen Führer über das eigentlich
Militärische hinaus. Handlungsfähigkeit im multinationalen
Umfeld, unter schwierigen Bedingungen, im Umgang mit
zivilen Behörden zu behalten, zeichnen den Offizier
besonders aus.
235
Leutnantsbuch
Der militärische Gruß
A
ls gerade mal 20-Jähriger wurde ich 1971 zum Leutnant
befördert und zugleich Panzerzugführer mit fünf
Kampfpanzern M 48. Geschultert habe ich diese große
Verantwortung aufgrund einer sehr guten praxisnahen
Ausbildung und einer Reihe vorbildlicher Vorgesetzter, die
fördern und fordern eng miteinander verknüpften.
In unserer Kaserne lag außer dem Panzerbataillon nur noch
eine Instandsetzungskompanie. In dieser diente der einzige
Oberstabsfeldwebel der Kaserne. Oberstabsfeldwebel, das
war früher wesentlich seltener als heute, wirklich etwas
Besonderes.
Kaum befördert, begegnete ich diesem Oberstabsfeldwebel.
Zackig riss er die Hand ans Schiffchen (Barett trugen damals
nur die Kampftruppen) und grüßte mich. Ich war völlig
überrascht. Stolz kam in mir auf, aber zugleich war ich
unangenehm berührt. Dieser leicht grauhaarige Herr, der
dienstgradhöchste Unteroffizier in der Kaserne, grüßte mich
„jungen Schnösel“ von einem Leutnant. Das imponierte mir
dermaßen und nötigte mir soviel Respekt ab, dass ich mich
fortan bemühte, den Herrn Oberstabsfeldwebel zuerst zu
grüßen. Denn ich sah in ihm nicht den vom Dienstgrad her
Untergebenen, sondern einen älteren Kameraden mit einer
großen menschlichen und beruflichen Erfahrung.
HI
Zeige Persönlichkeit! Gebe Beispiel!
Der militärische Gruß ist ein Ausdruck von gelebter
Kameradschaft und gegenseitigem Respekt. Er gehört zum
militärischen Miteinander – ohne auf Erlasse zu pochen.
Der Respekt, den man seinem Gegenüber zollt, ist der
236
Leutnantsbuch
Respekt vor der Persönlichkeit und der Leistung des
anderen. Das sollte man gerade als junger Offizier berücksichtigen, es zeugt von Bescheidenheit und Verantwortungsbewusstsein.
Respekt ist jedoch keine Einbahnstraße. Auch wenn sich
Werdegänge und Anforderungen wandeln, galt 1971 ebenso
wie heute: Auch der jüngste Leutnant hat schon Einiges
geleistet, sonst wäre er nicht zu diesem Dienstgrad befördert
worden. Dies scheint dem jungen Offizier in unserer
Geschichte noch nicht so recht bewusst zu sein – wohl aber
dem Oberstabsfeldwebel, der dies durch sein Verhalten
auszudrücken weiß. Respekt!
237
Leutnantsbuch
Das Offizierkasino
S
o meine Herren, hier befindet sich also die
„
Eingangshalle oder das Foyer unseres Offizierkasinos.
Grundsätzlich, wenn Sie im Rahmen einer dienstlichen
Veranstaltung geselliger Art hierher befohlen werden,
sammeln wir uns erst einmal hier. Dazu folgende
Grundregeln!
Im Offizierkasino ist die Grußpflicht in Form des
militärischen Grußes aufgehoben. Wer kann sich vorstellen
warum? Keiner? Nicht nur, weil Sie dann die ganze Zeit
grüßen würden, sondern weil man das Gefühl des
Gemeinsamen hier bewahren möchte, wo Offiziere unter
sich sind. Dennoch erweisen Sie den Anwesenden in einem
Raum beim Betreten Ihren Gruß, indem Sie in Grundstellung
gehen und eine leichte Verbeugung vollziehen. Sammeln Sie
sich im Foyer, gehen Sie ebenfalls kurz in Grundstellung,
wünschen die Tageszeit und beginnen bei der Person, die
Ihnen am nächsten steht, mit der persönlichen Begrüßung.
Danach suchen Sie sich einen Platz in der Runde und
warten.“
So fing meine erste Einweisung in das Offizierkasino an.
Das Kasino an meinem Standort war eines der wenigen, das
noch außerhalb des geschlossenen Kasernenkomplexes lag.
Als junger OA hatte ich nur selten das Vergnügen, diese
Räumlichkeiten aufzusuchen. Aber ehrlich: Ich habe mich
auch nicht wirklich darum gerissen. Irgendwie erschien mir
das Ganze angestaubt und leblos. Ich weiß heute noch, wie
ungern wir ins Kasino gegangen sind, irgendwie war es eine
Verpflichtung, der keiner von uns die richtige Bedeutung
beimessen konnte.
238
Leutnantsbuch
Neben verschiedenen Vorträgen und der Ausbildung „Stil
und Form“ war das Kasino immer der Ort, an dem einmal im
Monat der Kommandeur „seine“ OA’s zum gemeinsamen
Mittagessen empfing. Im Gegensatz zu den traditionellen
gemeinsamen Essen mit den Offizieren des Bataillons,
waren unsere immer mit einem Kurzvortrag durch ein oder
zwei Kameraden zu vorgegebenen Themen verbunden.
Diese Aufgaben führten nicht wirklich dazu, diesen Ort, zu
dem wir uns eigentlich hingezogen fühlen sollten, zu mögen
oder in unserer Freizeit aufzusuchen. Dies, obwohl uns jeder
Offizierkamerad einen Besuch ans Herz legte.
So verstrichen die ersten Monate der Ausbildung zum
Offizier und es kam zur Versetzung an die Truppenschule.
Auch hier wurde wieder auf Stil und Form sowie Vorträge in
den Räumlichkeiten des Kasinos Wert gelegt. Im Gegensatz
zu meinem alten Standort gab es hier ein „zentrales“
Offizierlager. Hier sollten alle Offiziere des Standortes
untergebracht werden.
Auch einige meiner Kameraden aus anderen Hörsälen
wohnten vom ersten Tag an im Offizierlager. Ich hatte das
Glück, die 18 Monate, die ich zur Truppenschule
kommandiert war, nicht nur im selben Block und in der
selben Stube verbringen zu dürfen, sondern auch genau
gegenüber dem Unteroffizierheim zu wohnen, in dem man ja
ab dem Dienstgrad Fahnenjunker willkommen war. Also
mied ich wiederum die Atmosphäre und Gastlichkeit eines
Offizierkasinos.
An der Offizierschule gab es zwar ein Kasino, aber aufgrund
des Lehrgangs, der Umgebung und der angebotenen
Pizzadienste wurde auch dieses nur selten besucht. Dennoch
wurde es neben den üblichen Vorträgen auch hin und wieder
zum Mittagsessen aufgesucht, meist, wenn es nur
239
Leutnantsbuch
Germknödel oder Eintopf in der Truppenküche gab. Hier
entwickelte sich so etwas wie ein „Wir-Gefühl“. Ich ging
immer mit meinen Kameraden dort hin, und irgendwie fühlte
man sich „unter sich“.
Als ich dann im Dienstgrad Oberfähnrich zurück in mein
altes Bataillon kam, wurde ich in eine Stube im
Dachgeschoss des Offizierheims einquartiert. Hier lernte ich
zum ersten Mal die Vorzüge einer solchen Einrichtung
kennen.
Die
Ordonnanzen
kümmerten
sich
fast
schon
aufopferungsvoll um uns: Ob bei den Essen à la carte oder
aber während der gemütlichen Abende mit Kameraden im
Kaminzimmer, die Aufenthalte in „meinem“ Kasino waren
einfach unbeschreiblich schön. Gespräche und Feiern, die in
diesem mir noch vor wenigen Monaten so verstaubt
wirkenden Objekt stattfanden, waren wohl die Schönsten die
ich bis dahin während meiner Dienstzeit erlebt habe.
Aber nicht nur die Feiern, sondern vor allem die Gespräche
und der Austausch von Erfahrungen mit älteren Kameraden
dienten meiner Horizonterweiterung.
Heute bin ich nun Oberleutnant und führe einen Zug. Wenn
es mir die Zeit erlaubt, besuche ich gerne mit meinem Chef
oder meinen Zugführerkameraden unser Offizierkasino und
genieße dessen Atmosphäre.
HI
Sei engagiert!
Es muss uns gelingen, auch in der heutigen Zeit unsere
Offizierheime – ob noch eigenständig als Verein geführt
oder aber in privatwirtschaftlicher Leitung – als Orte des
240
Leutnantsbuch
außerdienstlichen und dienstlichen Gemeinschaftslebens zu
erhalten und weiterzuentwickeln. Diese Einrichtungen bieten
eine erstklassige Möglichkeit, sich im Kreise Gleichgesinnter auszutauschen, sie bieten Rückzugsräume und die
Möglichkeit zur Entspannung. Dies gilt im Grundbetrieb,
aber auch in den Einsätzen. Dort müssen sich die Betreuungseinrichtungen jedoch den örtlichen Gegebenheiten
lageabhängig anpassen.
Was bleibt, ist die Forderung an den Offizier, sich in diesen
Betreuungseinrichtungen persönlich aktiv zu engagieren.
Wir dürfen unsere Kasinos nicht als „outgesourcte“
Gastwirtschaften verkümmern lassen. Sie sind unsere
Einrichtungen, hier wächst das Offizierkorps zusammen.
Hier besteht die Möglichkeit zur aktiven Gestaltung von
Gemeinschaft und gelebter Kameradschaft. Im Offizierheim
lernen sich alle Offiziere und Offizieranwärter auf gleicher
Augenhöhe persönlich kennen. Gespräche gehen idealer
Weise über das rein Dienstliche hinaus. Hier sollten ein
ausgewogenes menschliches Miteinander und ein von
Offenheit und Ehrlichkeit geprägtes Klima des Vertrauens
herrschen. Die älteren Kameraden leben dieses Miteinander
vor. Was im Kasino im Kameradenkreis besprochen wird,
dringt im Regelfall nicht nach draußen. Kritische und von
Vertrauen geprägte Diskussion ist notwendig. Zu falsch
verstandener Kameraderie darf dies allerdings nicht führen.
Dieses gelebte Miteinander ist die Grundlage für eine
gefestigte Kameradschaft. Das am Standort gewachsene
persönliche Vertrauensverhältnis trägt auch unter Belastungssituationen und im Einsatz.
Umso wichtiger ist es, dass bereits der junge
Offizieranwärter von Beginn seiner Dienstzeit an in diese
Einrichtungen eingeführt wird und sie als „sein“ Kasino
erlebt. Je früher er sein Kasino erlebt und sich hier aktiv
engagiert, desto besser.
241
Leutnantsbuch
Das Einführungsgespräch
W
ie sagte noch unser Hörsaalleiter an der OSH? „Wenn
Sie Ihren Zug übernommen haben, suchen Sie
innerhalb der ersten Wochen das Gespräch mit Ihren
Unteroffizieren. Stellen Sie sich Ihnen persönlich vor und
beantworten Sie sich die Frage: Was weiß ich eigentlich von
meinen Untergebenen?“ Für mich rückte zum damaligen
Zeitpunkt das Thema in den Hintergrund.
So sitze ich an einem Mittwochabend in meinem Zugführerzimmer und überlege mir, was ich eigentlich über
meine Unteroffiziere wissen will. Und, was ich ihnen von
mir erzählen soll! Natürlich habe ich beim Zugantreten kurz
erzählt, wer ich bin und was ich bereits in der Bundeswehr
erlebt habe – eigentlich waren es bisher nur das Studium und
viele Lehrgänge, also wenig spannende Erlebnisse. Über
mich und mein Privatleben habe ich nur wenig erzählt, will
das eigentlich jemand wissen?
Am nächsten Tag geht es los. Ich habe für jeden
Unteroffizier fünfzehn Minuten eingeplant. Hoffentlich
reicht das aus. Ich beginne mein erstes Gespräch mit
Oberfeldwebel W. Um das Eis zu brechen, erzähle ich
zunächst von mir: „Geburtsort Mönchengladbach, dort die
ganze Jugend verlebt, ... Hobbys Inlineskates, Skifahren und
Fußball, aber nicht in der Bundesliga, ... meine
Lebenspartnerin habe ich in Hamburg beim Studium kennen
gelernt, sie fährt wie ich auch gerne Ski und Inlineskates, ...
zur Zeit wohne ich hier am Standort, bin aber
Wochenendpendler, da meine Partnerin in Hamburg
berufstätig ist ...“ Oberfeldwebel W. strahlt mich an: „Da
gibt es ja einige Gemeinsamkeiten. Ich fahre auch gerne
Inlineskates, bin Gladbach-Fan und ebenfalls Wochenendpendler.“
242
Leutnantsbuch
Und dann berichtet er mir von seinen Interessen, aber auch
von einigen Problemen mit seiner Partnerin. Diese seien
wohl auf die Wochenendbeziehung zurückzuführen. Dann
noch der Einsatz und die vielen Übungen, er sei froh, dass
jetzt bald sein Sommerurlaub anstünde und er sich dann
wieder mehr seiner Partnerin widmen könne. Aber auch
dienstlich gibt es eine Menge interessanter Erfahrungen, die
Oberfeldwebel W. zu berichten hat. Er war bereits zweimal
im Einsatz, im Kosovo und in Afghanistan, und kannte
eigentlich alle Truppenübungsplätze in Norddeutschland.
Seine Feldwebellehrgänge hatte er als Lehrgangsbester
bestanden und schließlich weihte er mich in seine Absicht
ein, Berufssoldat zu werden.
Das Gespräch dauert länger als geplant, nach dreißig
Minuten sind wir erst fertig. Aber es hat sich gelohnt, jetzt
wissen wir beide, dass hinter unserer Uniform mehr steckt
als nur Dienstgrad und militärischer Werdegang.
Ich mache mir einige Notizen und nehme diese zu meiner
Handakte.
Einige Tage später: Ich bin auf dem Standortübungsplatz,
mein Zug übt das Einfließen in den Verfügungsraum.
Nachdem ich den Befehl für die Sicherung gegeben habe,
gehe ich den Raum ab. Am Feldposten 1 treffe ich
Oberfeldwebel W., er meldet und trägt mir zur Lage vor. Im
anschließenden Gespräch frage ich ihn: „Na, wie hat
Gladbach gespielt?“ – „Eins zu Null! Ist eben unser Verein,
Herr Oberleutnant“, antwortet er breit grinsend. Wir sind
mitten im Pausengespräch ...
HI
Suchen Sie das offene Gespräch mit Ihren Mitarbeitern.
Fragen Sie nach familiärem Hintergrund, Interessen und
Hobbys. Interessieren Sie sich ehrlich für den Menschen der
243
Leutnantsbuch
in der Uniform steckt. Machen Sie sich vorher Gedanken,
was Sie wissen wollen, und strukturieren Sie das Gespräch.
Seien auch Sie offen und berichten von sich selbst. Sagen Sie
aber auch, was Sie von Ihren Mitarbeitern erwarten, was Sie
erreichen wollen und was Sie auf keinen Fall dulden. Diese
Gespräche sind häufig der Schlüssel, um Pausengespräche
oder Unterhaltungen bei Gemeinschaftsveranstaltungen mit
interessanten Themen zu beginnen, die nicht nur vom
Dienstalltag handeln.
244
Leutnantsbuch
Der „Robuste Soldat“
A
ls ich nach meinem Schulabschluss in die Bundeswehr
einrückte, war ich ein durchschnittlich sportlicher
Abiturient. Die Ausbilder forderten insbesondere von uns
Offizieranwärtern viel, und ich musste rasch feststellen, dass
ich sportlichen Nachholbedarf hatte. Klar, ich wollte
Gruppenführer werden und musste dafür natürlich körperlich
leistungsfähig sein. Außerdem sollte ich im Anschluss an
meinen Gruppenführerlehrgang nach Hammelburg gehen
und den Einzelkämpferlehrgang absolvieren. Dieses Ziel vor
Augen zog ich voll mit, konnte meine Leistungsfähigkeit,
aber auch mein Selbstbewusstsein deutlich steigern.
Einzelkämpferlehrgang und Gruppenführerlehrgang in einer
Grundausbildungsinspektion liefen dann ausgesprochen gut.
Anschließend wurde ich auf den Zugführerlehrgang
kommandiert und irgendwie schienen sich die Anforderungen zu wandeln. Sport und körperliche Leistungsfähigkeit waren zwar ein Bestandteil des Lehrgangs, im
Mittelpunkt standen aber Fähigkeiten eher schulischer
Natur: Klausuren und Wehrrecht, Taktik und Logistik,
Unterrichte und Vorträge. Wenn ich dann am Ende eines
Ausbildungstages auf meine Stube kam, war ich geschafft.
Meistens hielt ich ein kleines Nickerchen und wollte
anschließend die Vor- und Nachbereitung der Ausbildung
erledigen. Aber irgendwie fühlte ich mich matt und ohne
Elan. Ich konnte meine Lehrgangskameraden nicht verstehen
– die machten unmittelbar nach dem Dienst Sport, befassten
sich mit Vor- und Nachbereitung der Lehrgänge und
konnten sogar abends noch in die Stadt gehen – dazu hatte
ich keine Kraft.
Zum Glück gelang es meinen Kameraden, mich trotz meiner
Skepsis zu aktivieren und mit ihnen nach Dienst laufen zu
245
Leutnantsbuch
gehen. Dies verbesserte nicht nur meine Fitness, sondern
steigerte meine gesamte Leistungsfähigkeit – körperlich und
geistig. Das Lernen für Klausuren ging mir plötzlich viel
leichter von der Hand. Mein Selbstbewusstsein stieg und
mich konnte nichts mehr so leicht aus der Bahn werfen. Den
Zugführerlehrgang konnte ich so erfolgreich abschließen.
In meinen folgenden Spezialausbildungen – nämlich der
Hubschrauberpilotenausbildung in den USA und meinem
Studium der Luft- und Raumfahrttechnik in München –
behielt ich diese Angewohnheit konsequent bei und bin
damit immer gut vorangekommen.
Mittlerweile bilde ich selbst junge Feldwebel- und
Offizieranwärter aus und kann ihnen an meinem Beispiel
recht schnell klar machen, dass sich der körperlich
leistungsfähige, der „robuste Soldat“ auf dem Weg zum
Spezialisten nicht nur leichter tut, sondern dass das ganz
selbstverständlich dazu gehört.
Kürzlich traf ich einen Jahrgangskameraden, der bereits den
Stabsoffizierlehrgang in Hamburg absolviert hatte –
übrigens mit einem glänzenden Ergebnis – und von seinem
persönlichen Erfolgsrezept berichtete: „Nach dem Dienst
erstmal einen Stunde laufen gehen, damit der Kopf wieder
frei wird. Dann kann man befreit weiterarbeiten.“
HI
Halte Dich fit!
Mens sana in corpore sano – nur in einem gesunden Körper
kann ein gesunder Geist wohnen!
Es ist nicht gut, immer unter „Volllast“ zu fahren. Dies gilt
für uns selbst, aber auch für die Menschen, die wir führen.
246
Leutnantsbuch
Der Suizid
E
s war vor ziemlich genau einem Jahr. An einem ganz
normalen Morgen.
Wie immer nahm der Kompaniechef routiniert seinen Dienst
auf. Zunächst nur beiläufig wurde registriert, dass der
Kommandeur an diesem Morgen nicht da war. Irgendwann
im Laufe des Vormittages wurde dann eine Entscheidung
des Kommandeurs benötigt.
Frage an sein Vorzimmer: „Wo ist der Kommandeur?“ –
„Weiß ich nicht.“ – „Gibt’s einen Vertreter?“ – „Keine
Ahnung, ich glaube nicht.“
Enttäuscht zog der Chef wieder ab.
Nachdem im Laufe des Vormittags der Kommandeur
nirgendwo gesichtet wurde, wählte das Vorzimmer die
Privatnummer des Kommandeurs an.
Kurz darauf wurde die Tür des Dienstzimmers des
Kompaniechefs unsanft von außen geöffnet. Der S3Feldwebel aus dem Vorzimmer trat unaufgefordert herein.
Noch bevor der Chef etwas sagen konnte, kam ihm der
Feldwebel mit zittriger Stimme zuvor: „Der Kommandeur ist
tot.“ – „Wie bitte? Was haben Sie gesagt?“ – „Der
Kommandeur hat sich heute Nacht das Leben genommen.“
Für einen Moment herrschte eine entsetzliche Leere und
Stille. Dann fingen im Kopf des Chefs die Bilder an zu
laufen, immer mehr und schneller:
- Bilder vom Kommandeur vor der Front
- Bilder von guten Gesprächen mit ihm
- Bilder von seiner untadeligen Dienstauffassung
- Bilder von seiner strengen und fordernden Dienstaufsicht
- ... und so weiter. Und am Ende stand über allem die eine
zentrale Frage nach dem „Warum“.
247
Leutnantsbuch
Wenige Tage später stand der Chef als Totenwache am
Grab. Wieder fingen die gleichen Bilder im Kopf an zu
laufen. Aber die unbeantworteten Fragen nach dem
„Warum“ wurden nicht weniger, sondern mehr.
Auf den ersten Blick lief doch alles hervorragend. Der
Kommandeur hatte seinen Verantwortungsbereich umfassend im Griff, er stand glänzend da. Seine Karriere schien
ungebrochen, eine förderliche Anschlussverwendung stand
kurz bevor.
- Warum trotzdem diese Entscheidung?
- Hätte man es im Voraus erkennen können?
- Hätte man ihm helfen können?
- Warum hat er sich nicht Kameraden offenbart?
An der letzten Frage blieb der Chef hängen. Hat ein
Kommandeur überhaupt Kameraden? Wo findet er zwischen
den nie nachlassenden Anforderungen seines Vorgesetzten
einerseits und seiner Führungsverantwortung nach unten
andererseits kameradschaftliche Unterstützung? Führungsverantwortung macht bekanntlich einsam.
Der § 12 Soldatengesetz fordert von allen Soldaten, Kameraden in Not und Gefahr beizustehen. Wie groß muss die
Not eines Kameraden sein, dass er freiwillig seinem Leben
ein Ende setzt. Und keiner hat die Not erkannt!
Hätte der untergebene Chef dem Kommandeur mehr
Kamerad sein müssen?
Hätte der Vorgesetzte des Kommandeurs diesem mehr
Kamerad sein müssen?
Wo beginnt Kameradschaft und wie lebt man sie?
Die Frage nach der Kameradschaft beschäftigte den Chef
lange Zeit. Auch höhere Vorgesetzter haben Anspruch auf
Kameradschaft, auf Kameraden, die gegebenenfalls in der
Not helfen.
248
Leutnantsbuch
Der Chef jedenfalls hatte sich vorgenommen, zukünftig
nicht nur für seinen Bereich, sondern auch „nach oben“
mehr Kamerad zu sein.
Und heute, ein Jahr danach? Die Bilder vom alten
Kommandeur kommen nur noch selten. Der neue
Kommandeur hatte sich schnell eingearbeitet und steht
glänzend da. Alles ist wie immer, jeden Tag nimmt man
routiniert seinen Dienst auf.
„Weiß jemand, wo heute Morgen der Kommandeur ist?“
HI
Höre zu!
Was wissen Führer eigentlich von ihren Kameraden? Wie
weit öffnet man sich selbst gegenüber anderen? Hören wir
auch unseren Vorgesetzten zu? Erkennen wir Zwischentöne?
Versuchen wir, auch die Nöte und Sorgen von anvertrauten
Soldaten und von Vorgesetzten zu erkennen?
Kameradschaft als soldatische Tugend endet nicht bei
Gleichgestellten!
249
Leutnantsbuch
Die Gneisenaukaserne
Geschichte und Tradition im Pausengespräch
G
rundausbildung in der „Gneisenaukaserne“. Der junge
Leutnant kommt während der Ausbildungspause mit
einigen Rekruten seines Zuges ins Gespräch. Unvermittelt
fragt ihn ein Soldat, was es eigentlich mit dem Namen der
Kaserne auf sich habe. Gneisenau – das sagt ihm irgendwie
etwas. War das nicht ein Schlachtschiff? Aber wir sind doch
beim Heer!
Dem Leutnant fällt hierzu spontan ein, wie sein
Militärgeschichtslehrer an der Offizierschule mit Leidenschaft über die Schlacht bei Waterloo erzählte. Da spielte
doch Neidhardt von Gneisenau ein wichtige Rolle. Genau!
In der Schlacht bei Ligny im Juni 1815, einem Vorgefecht
von Waterloo, hatte die preußische Armee eine Niederlage
gegen Napoleon einstecken müssen. Feldmarschall Blücher,
der bekannte „Marschall Vorwärts“, war in den Abendstunden auf dem Schlachtfeld verschollen. In der sinkenden
Dämmerung, bei peitschendem Regen und Wind, versuchten
seine Offiziere, ihre verstreuten und demoralisierten Truppen
wieder zu sammeln. Chaos. Rückzug. Abseits an einer
Windmühle steht schweigend Gneisenau, der Generalstabschef
der preußischen Armee.
Allmählich sammeln sich die höheren Kommandeure im
Halbkreis um ihn. Befehlsausgabe. Erstmals ist Gneisenau
allein in der Verantwortung. Er spürt die Einsamkeit des
Kommandos. Vor sich hat er die erschöpfte Armee, im
Rücken die Straße, die nach Osten zur Maas führt, in die
Heimat. Im Norden sind irgendwo die verbündeten Briten
unter Wellington. Sie sind aber nur über die verschlammten
Wege unter großen Strapazen zu erreichen. Gneisenau sieht
die zweifelnden Blicke seiner Offiziere. Gerade er, der
250
Leutnantsbuch
Intellektuelle, denken sie, der „Schreibtischstratege“ –
ausgerechnet er soll nun einen großen Entschluss fassen!
Gneisenau richtet sich im Sattel auf und weist mit dem Arm
den Weg: „Die Armee geht nach Norden, nach Wavre!“ Die
Offiziere glauben, nicht recht zu hören. Haben diese
Quälerei und dieser Krieg denn nie ein Ende? Doch Stunden
später sind sie auf dem Marsch. Was sie noch nicht wissen:
In wenigen Tagen werden sie bei Waterloo Weltgeschichte
schreiben. Und Gneisenau – er wird später als einer der
bekannten »Preußischen Reformer« gelten. Die von ihm
gemeinsam mit Gerhard von Scharnhorst, Hermann von
Boyen und Carl von Clausewitz angestoßenen Veränderungen im preußischen Heer sind so modern, dass sie bis in
unsere heutige Zeit hinein Gültigkeit besitzen. Wir denken
vor allem an das Leistungsprinzip, die Auftragstaktik, die
höheren Anforderungen an den Bildungsstand des Offiziers,
die Pflicht zur menschenwürdigen Behandlung Untergebener
und natürlich – an die Wehrpflicht!
Spannende Geschichte, denkt der Rekrut. Der Zugführer hat
echt Ahnung! Auch die anderen aus der Gruppe haben
zugehört. Wie lange ist eigentlich noch Pause? Der Leutnant
ist jetzt in seinem Element, er erzählt weiter. Die jungen
Soldaten erfahren, dass sich die Bundeswehr neben den
preußischen Militärreformen noch auf zwei weitere
Traditionslinien stützt. Tradition ist – so lernen sie nebenbei
– nicht dasselbe wie Geschichte, sondern eine wertebezogene Auswahl aus derselben. Aber bitte nicht zuviel
Theorie! Dass Oberst Graf von Stauffenberg, der am 20. Juli
1944 versuchte, Hitler mit einer Bombe zu töten, ein
Nachfahre Gneisenaus war, klingt interessanter. Und damit
ist ja auch schon eine Brücke geschlagen zum militärischen
Widerstand gegen Hitler. Namen wie Henning von
Tresckow, Werner von Haeften oder Friedrich Olbricht sind
251
Leutnantsbuch
einigen der Rekruten aus Fernsehdokumentationen bekannt.
Ihr Zugführer macht ihnen nochmals deutlich, dass die
meisten Attentäter des 20. Juli eine feste Bindung an
Heimat, Familie, Tradition und christlichen Glauben
besaßen – die Früchte einer konservativen Erziehung. Ihr
Motiv lautete vor allem, dem Staate und dem Volke
verantwortungsvoll zu dienen. „Unbedingter Gehorsam“ war
ihnen fremd.
Durch die Verbrechen der Nationalsozialisten und die immer
fanatischere Führung des Krieges sahen sich zahlreiche
Offiziere moralisch herausgefordert. Hier denkt manch einer
der Rekruten zurück an die Rede des Bataillonskommandeurs, letzte Woche beim Gelöbnis. Da ging es auch
um dieses Thema. Sprach er nicht auch von den Gewissenskonflikten der Männer des 20. Juli? Auch der Leutnant erzählt von den schweren inneren Kämpfen, welche
diese Offiziere ausgetragen haben. Kürzlich hat er dazu im
Internet einen Satz Stauffenbergs gelesen, er kann ihn
sinngemäß wiedergeben: „Es ist Zeit, dass jetzt etwas getan
wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich
bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche
Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann
wäre er ein Verräter vor seinem eigenen Gewissen.“ Was ist
Gewissen?
Ein schlechtes Gewissen hat wohl jeder der jungen Soldaten
schon einmal gehabt, bemerkt der Leutnant nebenbei, also
ist auch keiner von ihnen »gewissen-los«. Der 20. Juli 1944,
so fährt er fort, zeigt aber, dass eine Gewissensentscheidung
nicht nur bedeuten kann, einmal gegen den Strom
schwimmen zu müssen und sich der Anfechtung auszusetzen. Für die Männer um Graf Stauffenberg ging es um
Leben und Tod. General von Tresckow sagte dazu: „Der
sittliche Wert eines Menschen beginnt dort, wo er bereit ist,
252
Leutnantsbuch
für seine Überzeugung sein Leben hinzugeben“. Die
Rekruten hören, dass die Lehren des Widerstandes gegen
Hitler nach über 60 Jahren darin bestehen, dass weder ein
Staat noch eine menschliche Autorität das Recht besitzen,
einen Menschen total zu fordern, sondern allenfalls einen
»mündigen« Gehorsam erwarten dürfen. Es darf nicht Ziel
des Soldaten sein, blind zu gehorchen, sondern gewissenhaft
– also dem Gewissen treu zu sein. Und letztlich soll der
Soldat eben nicht nur Kämpfer sein, sondern auch für die
Durchsetzung und Erhaltung von Grundwerten einstehen.
Viele Rekruten sind nachdenklich geworden. Das war sicher
keine einfache Situation für die Offiziere um Stauffenberg.
So mutig ist bestimmt nicht jeder. Ein Rekrut fragt
schließlich, ob die Bundeswehr denn auch solche berühmten
Soldaten vorzuweisen habe? Sicher, antwortet der Leutnant,
wenn auch nicht so bekannte wie die bisher genannten.
Die meisten der jungen Soldaten hören nun die Namen Wolf
Graf von Baudissin, Ulrich de Maizière und Johann Adolf
Graf von Kielmansegg. Sie erfahren, dass diese Personen
weniger durch herausragende Taten im Krieg bekannt
geworden sind – die Existenz der Bundeswehr hat nämlich
entscheidend dazu beigetragen, seit dem Ende des Zweiten
Weltkrieges den Frieden auf deutschem Boden zu bewahren.
Wahrlich eine Erfolgsgeschichte!
Die Verdienste der sogenannten „Gründerväter“ der
Bundeswehr liegen in anderen Bereichen: Die von ihnen
entwickelte Konzeption der „Inneren Führung“ ermöglicht
es, dass die jungen Rekruten der „Gneisenaukaserne“, die
heute viele Fragen haben, als „Staatsbürger in Uniform“
entsprechend einem zeitgemäßen Menschenbild und einer
modernen Werteordnung ausgebildet, geführt und erzogen
253
Leutnantsbuch
werden. Sie sollen wissen, wofür sie ihren Dienst leisten.
Nicht zuletzt dazu dienen Pausengespräche ...
HI
254
Leutnantsbuch
... lieber spät als nie!
A
llgemein wird mir viel Erfahrung nachgesagt. Ich bin
ausgebildeter Flugsicherheitsoffizier (FSO) und verfüge über 6000 Flugstunden, davon einen Großteil als Fluglehrer. Also ein richtig zuverlässiger Pilot.
Dennoch gibt es Erlebnisse, die eigentlich nicht passieren
dürften. Ein normaler Ausbildungstag mit einem Flugschüler
auf der alten ALOUETTE II, den ich schon seit Wochen
betreute, führte uns zum Außenlandeplatz, an dem wir
Autorotationen üben sollten. Zunächst verlief alles planmäßig, der Schüler machte gute Fortschritte und ich steigerte
den Schwierigkeitsgrad. Leider unterlief mir in der Folge der
Fehler, zu spät einzugreifen. Wir hatten einen zu großen
Anstellwinkel in der Schlussphase und berührten nicht mit
den Kufen, sondern mit dem Hecksporn sehr hart den
Boden. An sich kann so etwas vorkommen. Man stellt die
Maschine ab, informiert die Technik und wartet auf die
Befundung. Im besten Fall fliegt man dann wieder weiter, im
schlechtesten wird die Maschine überführt.
Ich dagegen entschied mich gegen alle Vernunft, zurück zu
fliegen, stellte die Maschine auf dem Hallenvorfeld ab,
absolvierte mein Debriefing und machte mich auf den Weg
nach Hause. Mit Verlassen der Kaserne wurde mir
urplötzlich die Dimension meines Verhaltens bewusst. Ich
drehte um, fuhr zur Technik, sperrte per Eintrag den
Hubschrauber, meldete den Vorfall der Einsatzsteuerung und
informierte den Flugsicherheitsoffizier. Am nächsten Tag
meldete ich vor Dienstbeginn dem Kommandeur den
Vorfall. Mir war klar, dass ich mich mehr als unprofessionell
verhalten hatte. Daher war für mich auch eine disziplinare
Ahndung nachvollziehbar.
255
Leutnantsbuch
Entsprechend unserer Verbandskultur schilderte ich auch im
Rahmen des morgendlichen Briefings mein Fehlverhalten,
um auch darauf hinzuweisen, dass es in der Fliegerischen
Ausbildung immer zu Zwischenfällen führen kann, die man
meldet, um zukünftig vor möglichen Gefahren zu warnen.
Auch bin ich froh, den Mut gefunden zu haben, mich
unverzüglich nachträglich gemeldet zu haben, um weiteren
Schaden zu vermeiden.
HI
Übernimm Verantwortung!
Ehrlichkeit und Verantwortungsbewusstsein gehören zu den
Grundtugenden des Offiziers. Dies auch im Verband oder in
der Einheit zu fördern, ist Aufgabe des militärischen
Führers. Eine gute Verbandskultur stellt sich gegen eine
„Null-Fehler Mentalität“.
256
Leutnantsbuch
Der Anschlag
I
m Mai wurde ich, Oberfeldwebel S., Opfer eines
Selbstmordattentats in Kunduz, Afghanistan, bei dem drei
meiner Kameraden ums Leben kamen, sowie zwei andere
Soldaten, darunter ich selbst, schwer verletzt wurden.
Meine Frau, die in Deutschland durch die Familienbetreuungsstelle benachrichtigt wurde, war ab diesem
Moment absolut überfordert und nach einem Nervenzusammenbruch nicht dazu in der Lage, aus eigener Kraft
ins Krankenhaus nach Koblenz zu kommen und alle anderen
anfallenden Angelegenheiten zu klären.
Ein Hauptmann, der vor Jahren als Leutnant mein Zugführer
war, ist mittlerweile in Idar-Oberstein stationiert, wo ich mit
meiner Familie lebe. Als er durch einen Zufall von diesem
Unglück sowie von der Tatsache, dass ich ein Betroffener
bin, erfuhr, begab er sich direkt mit den Soldaten, welche die
Nachricht überbrachten, zu meiner Frau. Von diesem
Moment an stand er mit Rat, Tat und Trost an der Seite
meiner Frau und half ihr bei „allen“ anfallenden Angelegenheiten in der schweren Zeit. Darunter fällt unter anderem,
dass er sich um die unzähligen Telefonate mit Freunden,
Verwandten und Behörden und darüber hinaus um unseren
achtjährigen Sohn kümmerte, Einkäufe erledigte und über
drei Wochen hinweg täglich meine Frau von Idar-Oberstein
nach Koblenz ins Krankenhaus fuhr. Dort war er rund um
die Uhr die Stütze für meine Frau.
Es ist erwähnenswert, dass der Hauptmann über die ganze
Zeit hinweg, obwohl durch die Sache emotional selbst
angegriffen, seinen Dienst weiterhin verrichtete – wenn auch
nur halbtags unter Einsatz von Freistellungen. Auch andere
Vorgesetzte haben sich hierbei verdient gemacht.
257
Leutnantsbuch
Es ist für mich mit Worten unheimlich schwierig zu erklären
und für Außenstehende, die nicht betroffen sind, eventuell
schwer zu verstehen, welch’ unbezahlbare Hilfe und unglaublich große Leistung dieser Offizier für meine Frau und
letztendlich auch für mich in dieser Zeit vollbracht hat.
Diese Leistung und dieses Verhalten sind meiner Meinung
nach mustergültig, unübertroffen und werden der Vorbildund Fürsorgefunktion eines Offiziers mehr als gerecht.
HI
Zeige Persönlichkeit! Sei Vorbild! Stelle den Mensch in den
Mittelpunkt!
Die Wirkung von eigenem Führungsverhalten auf andere
muss stets reflektiert werden. Kameradschaft ist losgelöst
von hierarchischen Strukturen und stellt den Mensch in den
Mittelpunkt! Deshalb sind Empathie und Fürsorge wichtige
Eigenschaften eines Offiziers.
Darüber hinaus ist es in derart schwierigen Situationen
auch wichtig, professionelle Hilfe anzubieten und auch
anzunehmen. Es gibt inzwischen psychosoziale Netzwerke
(PSN), die auf breiter Fläche diese Hilfe anbieten. Informieren Sie sich und Ihre Untergebenen über die bestehenden
Möglichkeiten.
258
Leutnantsbuch
Team „Hotel“
N
ach meiner bisher wohl schönsten Zeit in der
Bundeswehr – dem Studium der Betriebswirtschaft an
der Universität der Bundeswehr in Hamburg – wurde ich mit
bestandenem Diplom in ein Panzerbataillon versetzt.
Einerseits war ich froh, nach der langen Zeit des Lernens
und der vielen Klausuren und Prüfungen nun wieder in die
Truppe zu kommen, andererseits war Hamburg für mich eine
zweite Heimat geworden. Ich wurde also von dieser
pulsierenden Metropole in eine Provinzstadt versetzt.
Die Bataillonsführung des Panzerbataillons befand sich zum
Zeitpunkt meiner Versetzung im Auslandseinsatz in
Feyzabad, Afghanistan. Der technische Stabsoffizier führte
das Bataillon und setze mich zunächst als Einsatzoffizier der
vierten Kompanie ein. Die „Vierte“ wurde zu diesem
Zeitpunkt durch zwei Oberleutnante der Reserve geführt, die
nach meiner Einschätzung sehr gute Arbeit leisteten.
In den kommenden Wochen entwickelte sich schnell ein
freundschaftliches Verhältnis zwischen uns und so fiel es
nicht schwer, die Herausforderungen einer Grundausbildung
mit 90 Rekruten, sei es im Bereich der Führung, der Ausbildung oder auch im disziplinaren Bereich, zu bewältigen.
Kurze Zeit später endeten jedoch die Wehrübungen beider
Reservisten. Bei der sich nun stellenden Frage, wer die
Kompanie die nächsten Monate führen sollte, fiel die Wahl
auf mich. Eine wahre Herausforderung nach der langen Zeit
der „Abstinenz“ von der Truppe. Auf meinen Schultern
lastete nun die Verantwortung für eine neue Allgemeine
Grundausbildung mit über 150 Soldaten – vom Rekruten bis
zum altgedienten Hauptfeldwebel.
Das Führerkorps der „Vierten“ war trotz Abwesenheit des
Kompaniechefs und des originären Kompaniefeldwebels
259
Leutnantsbuch
eine hocherfahrene und zusammengeschweißte Einheit.
Dieser Umstand erleichterte mir zwar die Arbeit, es entstand
aber auch eine hohe Erwartungshaltung hinsichtlich meiner
Leistungen. Ich hatte die Befürchtung, dass es mir als
jungem, relativ unerfahrenem Oberleutnant schwerfallen
würde, das Vertrauen und die Anerkennung meines unterstellten Bereichs als Kompanieführer zu erlangen.
Glücklicherweise gelang es mir nach meiner Einschätzung
relativ schnell, auch von den älteren erfahrenen Portepeeunteroffizieren akzeptiert zu werden. Rückwirkend betrachtet lag das wohl daran, dass ich mich an die Tipps und
Hinweise meines damaligen Hörsaalleiters an der Panzertruppenschule erinnerte und diese umsetzte.
Ich bin mir sicher, dass die „Vierte“ zum damaligen
Zeitpunkt von mir nicht das Können und die Erfahrung eines
originären Kompaniechefs erwartete, sehr wohl jedoch einen
Offizier, der sich mit vollem persönlichen Einsatz um die
Belange der Kompanie kümmert.
In den folgenden zweieinhalb Monaten durfte ich neben dem
normalen Dienstgeschäft den Besuch des Divisionskommandeurs, diverse Stationen beim Tag der offenen Tür
und einige Besuche bei der Patengemeinde der Kompanie
vorbereiten und durchführen.
Die Zeit als Kompanieführer direkt nach dem Studium war
eine herausfordernde, aber auch hoch interessante und
schöne Zeit. Kaum ein anderer Beruf ist so abwechslungsreich und spannend wie der unsrige.
HI
260
Leutnantsbuch
Wesentlich waren die folgenden fünf Regeln:
-
-
-
Gehe mit Deinem unterstellten Bereich vernünftig um
und suche das offene Wort.
Hab’ keine Angst vor neuen Herausforderungen.
Lass’ Dich vor Deinen Entscheidungen umfangreich
beraten und schöpfe damit das Erfahrungspotenzial
Deiner Untergebenen aus.
Setze Dich mit all Deiner Kraft und vollem persönlichen
Einsatz für Deinen unterstellten Bereich ein. Häufig
fordert Dich diese ungeteilte Verantwortung über die
Regeldienstzeit hinaus.
Nimm die Sorgen, Probleme und Nöte Deines unterstellten Bereichs ernst.
261
Leutnantsbuch
Der Hochwassereinsatz
A
m 01. Juli trat ich meinen Dienst als Offizieranwärter
der Panzergrenadiertruppe an.
Ab Mitte August begann es dann immer häufiger und immer
länger zu regnen. Wir hörten in den Nachrichten von
Hochwasserwarnungen in Tschechien. Später hieß es dann,
auch Deutschland könnte von Hochwasser betroffen werden.
Unser Bataillon wurde in Alarmbereitschaft versetzt, auch
unsere Grundausbildungskompanie sollte bei Hochwasser
zum Einsatz kommen. Unser Zugführer, ein junger
Oberleutnant machte uns „heiß“ auf einen Einsatz für den
Katastrophenfall.
Am nächsten Tag stand Verladen der Ausrüstung auf dem
neuen Zusatzdienstplan. Das komplette Bataillon begann
Kampftragetaschen und Seesäcke auf Zehntonner zu
verladen. Es rollten mehr und mehr zivile Busse an und
fuhren auf dem Antreteplatz auf.
Nach dem Essen trat die Kompanie an und unser
Kompaniechef gab bekannt, dass das Bataillon noch heute
nach Sachsen-Anhalt verlegen und an der Elbe eingesetzt
würde. Unsere 4. Kompanie hatte den Auftrag die Ortschaft
Vockerode bei Dessau vor dem Hochwasser zu schützen.
Nach dem Antreten war noch Zeit, um zu Hause anzurufen.
Da meine Familie auch die Nachrichten verfolgt hatte, war
niemand überrascht, dass wir nun auch in Sachsen-Anhalt
Hilfe leisten mussten und wollten.
Wir kamen in einem Ort mit dem Namen Oranienbaum an
und unser Zug bezog fast geschlossen ein Klassenzimmer
der örtlichen Grundschule.
Am folgenden Morgen begann die Arbeit direkt am linken
Ufer der Elbe. Die A9 war nicht weit entfernt. Wir
wunderten uns allerdings, dass wir keine Fahrzeuge sehen
und hören konnten. Die Autobahn war gesperrt, die Elbe
262
Leutnantsbuch
musste irgendwo bereits weit über die Ufer getreten sein.
Das spornte uns an, sofort mit der Arbeit zu beginnen. Unser
Zug begann den natürlichen Damm mit Sandsäcken zu
verstärken. Wir bildeten eine Kette und reichten uns in
rasendem Tempo die Sandsäcke durch.
Der zweite Tag verlief ähnlich wie der vorherige. Nur
bekamen wir an diesem Tag zusätzliche Unterstützung von
Anwohnern, die helfen wollten, ihr Hab und Gut vor dem
Hochwasser zu retten. Die Pegel waren trotz der Hitze in der
Nacht weiter gestiegen und die untersten unserer Sandsäcke
vom Vortag wurden nass. Die Bevölkerung fuhr nun mit
privaten „Pick-Ups“ und kleinen Nutzfahrzeugen im
Pendelverkehr Sandsäcke zu unserem Damm. So konnten
wir gruppenweise die vielen kleinen Löcher mit Sandsäcken
stopfen und verhindern, dass der Damm brach. Wir kamen
so gut voran, dass unser Kompaniechef zusammen mit der
Feuerwehr beschloss, die Arbeit an diesem Damm
einzustellen. Mein Freund Hans und ich meldeten uns
freiwillig für die Nachtwache am Damm. Ab 20.00 Uhr
waren wir dann mit einem Funkgerät SEM 70, unseren
Rucksäcken, zwei EPA-Rationen Linseneintopf und einem
Esbit-Kocher alleine am neu errichteten Elbdamm. Die
Nacht verbrachten wir in Zweistundenschichten auf der
Autobahnbrücke der A9.
Der Sandsackwall hielt die Nacht über stand. So konnten wir
uns am nächsten Tag wieder darum kümmern, die kleinen
Löcher abzudichten und den Damm weiter zu verlängern.
Das THW meldete, dass der höchste Pegelstand erreicht sei
und der Wasserstand der Elbe ab jetzt wieder sinke. Das ließ
uns jubeln, da wir nun nicht mehr damit rechnen mussten,
dass unser künstlicher Deich doch noch einbrechen würde.
263
Leutnantsbuch
Auch die folgende Nacht hielten zwei Kameraden auf der
A9 Wache, aber die Funksprüche lauteten immer gleich:
„Unser Damm hält!“
Drei Tage später rückten wieder die gesamte Kompanie und
die Bataillonsführung aus nach Vockerode. Dort war an
einer anderen Stelle der natürliche Elbdamm feucht
geworden, und nun drohte ein kleines Neubaugebiet
überschwemmt zu werden. Ein Zug wurde wieder zum
Befüllen der Sandsäcke abgestellt, der Rest verlegte zum
Neubaugebiet. Die Anwohner und die Feuerwehr hatten
bereits große Planen ausgelegt. Darauf sollte später ein
mindestens 1,50 Meter hoher und 200 Meter langer Damm
aus Sandsäcken entstehen.
Sofort begannen wir mit der Arbeit. Am ersten Tag schafften
wir bereits eine Höhe von knapp 50 cm. Das würde fürs
Erste das Wasser abhalten. Die Nacht über wurden wir von
einer anderen Kompanie abgelöst.
Als wir am Morgen wieder in dem Neubaugebiet ankamen,
war der Damm bereits auf einen Meter angewachsen. Wir
konnten bis zum Abend mit Hilfe aller Einwohner des
Neubaugebietes, der Feuerwehr und des THW die erforderliche Höhe von 1,50 Meter erreichen. Am nächsten Tag hieß
es nur noch Lücken schließen. Einige von uns schrieben
Zettel auf denen stand: „Hier entstand der Oberviechtacher
Damm“ oder „Das Panzergrenadierbataillon war hier“. Diese
Zettel wurden in kleine Plastikflaschen gesteckt und unter
Hunderten von Sandsäcken vergraben.
Die erwartete Flut auf das Neubaugebiet kam auch in den
nächsten Tagen nicht. Die 6. Kompanie, die mit dem
Befestigen des feuchten Elbdammes beauftragt war, hatte
ganze Arbeit geleistet.
Das Bataillon bekam den Befehl, Marschbereitschaft
herzustellen und wir erwarteten ein Fernmeldebataillon als
264
Leutnantsbuch
Ablösung. Am letzten Abend gab es bei der Schule ein
kleines Grillfest unserer Kompanie. Auch der Kommandeur
sowie der Bürgermeister von Vockerode waren eingeladen.
Der Bürgermeister, der von unseren „Flaschenandenken“
gehört hatte, verkündete, dass der Sandsackwall, den wir
gebaut hatten, mit Erde aufgeschüttet und dann mit Blumen
bepflanzt werden solle. Zusätzlich solle dieser Wall den
Namen „Oberviechtacher Damm“ tragen. Wir jubelten ihm
zu und freuten uns sehr über diese Ehrung. Am nächsten Tag
verlegten wir in unseren Standort zurück und setzten die
AGA nach drei Tagen Sonderurlaub wieder fort.
Knapp drei Jahre später befand ich mich zusammen mit fünf
Kameraden aus dem Hochwassereinsatz an der Offizierschule des Heeres in Dresden. Wir beschlossen, zusammen
nach Vockerode zu fahren, um den „Oberviechtacher
Damm“ zu besteigen.
In Vockerode angekommen ging es geradewegs in das
altbekannte Neubaugebiet. Von Weitem sahen wir schon den
Damm, den wir damals im Sommer zusammen mit unseren
Kameraden erbaut hatten und in dem wir uns mit unseren
„Flaschenandenken“ verewigt hatten. Der Damm war schön
mit Gras und Blumen bewachsen, ganz so, wie es der
Bürgermeister versprochen hatte. Wir stiegen auf „unseren“
Damm, machten Fotos und gingen noch zu anderen Orten,
an denen wir eingesetzt gewesen waren.
Als wir uns auf den Rückweg machen wollten, sagte einer
von uns: „Es sieht nach Regen aus, meint ihr, wir können es
wagen, hier wegzufahren?“
HI
265
Leutnantsbuch
„Dat hann isch verjess …“
D
amals ...
Wie wichtig es für Vorgesetzte ist, gleichgültig welcher
Dienstgradgruppe oder Dienststellung, ständige Fürsorge
und Kontrolle walten zu lassen, wurde mir an einem
sonnigen Donnerstagnachmittag auf einem Standortübungsplatz im Saarland bewusst. Ich war Fahnenjunker und
junger Offizieranwärter, als Gruppenführer (damals war es
noch üblich in dieser Dienstgradgruppe als Gruppenführer
eingesetzt zu werden) in einer Allgemeinen Grundausbildung eingesetzt – hatte also „meine Gruppe“, meine
zwölf Rekruten.
Nach einem dreitägigen Übungslager auf dem Standortübungsplatz marschierten wir in Zugreihe in den Standort
zurück. Zwölf Kilometer galt es zu schaffen und die ersten
vier Kilometer lagen hinter mir und meiner Gruppe. Bei
einer kurzen Pause nach etwa vier Kilometern, meldete sich
einer der Jäger, der aus der Region stammte, zum Austreten
ab. Ich wurde nach vorne zum Zugführer gerufen, der eine
Lageinformation ausgab und den Weitermarsch befahl.
Zurück bei meiner Gruppe, ließ ich während des Aufbruchs
durchzählen – in bewährter Manier mit taktischen Zeichen.
Alle da!
Im Glauben, die Gruppe sei vollzählig und das Material
vollständig, legten wir circa zehn Minuten Marschweg
zurück, als wir erneut kurz halten mussten. Ich zog meine
Gruppe zusammen, ließ sie auf einer Lichtung halten und
führte eine Vollzähligkeitsprüfung der Handwaffen G3
durch. Ich ließ die Gruppe antreten, die Waffe in
Jägerhaltung. Auf dem Weg an der Gruppe vorbei, sah ich
aus dem Augenwinkel den letzten meiner Jäger, wie
befohlen anständig in Jägerhaltung – allerdings ohne sein
266
Leutnantsbuch
Gewehr … Im Glauben, nach drei Tagen mit nur wenig
Schlaf einer Sinnestäuschung erlegen zu sein, machte ich
Halt, schaute noch einmal, konnte aber erneut kein G 3 in
seinen Händen ausmachen – aber die Jägerhaltung stimmte.
Ich rief meinen Gruppenführerkameraden von der Nachbargruppe heran, bat ihn auch noch einmal auf die Entfernung
zu prüfen, ob dort wirklich kein G 3 bei dem Jäger zu sehen
war oder ob ich halluzinierte. Auch er bestätigte letztendlich:
Die Jägerhaltung stimmt, aber es ist kein G 3 zu sehen …
Mit einer bösen Vorahnung schritten wir zu einer Befragung
des Kameraden. Auf die Frage, wo er denn seine Waffe habe
und warum er ohne diese in der Jägerhaltung stünde, schaute
ich in ein ungläubiges und erschrecktes Augenpaar. Dann
fing der Kamerad an, seine Beintaschen und seine
Brusttaschen abzuklopfen und abzusuchen. Für alle, die mit
dem Gewehr G 3 und dessen Abmessungen nichts anfangen
können – es passt selbst mit eingezogener Schulterstütze
weder in eine Bein- noch in eine Brusttasche …
Der Kamerad blieb denn auch erfolglos beim Abtasten
seines Anzugs, schaute mich seelenruhig an und erklärte mir
in ganz ruhigem und selbstverständlichem Ton im besten
Saarländisch: „Ey, dat hann isch verjess!“ Die Ungläubigkeit
über diese Meldung stand mir ins Gesicht geschrieben,
während mein Gruppenführerkamerad mir auf die Schulter
klopfte und sich breit grinsend auf den Weg zurück zu seiner
Gruppe machte. Ich fragte den Kameraden noch einmal nach
dem Verbleib seiner Waffe. In gleicher Tonlage versicherte
mir der Rekrut erneut, er habe sein Gewehr G 3 vergessen –
das müsse wohl vorhin beim Austreten passiert sein … fügte
er dann etwas kleinlaut hinzu, nachdem sich meine
Gesichtszüge verfinstert hatten. Auf meine Frage, wo er
denn sein Gewehr vergessen habe, bekam ich ganz stolz und
267
Leutnantsbuch
mit einem Fingerzeig in den um uns herum liegenden Wald
die Antwort: „Ey do hinne, am Baum!“ Das hatte gesessen!
Mitten in einem dichten Wald auf einer Lichtung stehend,
erklärt mir mein Rekrut voller Stolz, dass er genau wisse, wo
seine Waffe sei.
Mit einem Zeitansatz von vier Minuten ausgestattet und dem
Hinweis, er möge sehr hoffen, dass das mit Manövermunition teilgeladene Gewehr G 3 noch an eben jenem
Austrete-Baum lehnte, machte er sich auf den Weg und kam
– zu unser aller Erleichterung – mit seinem Gewehr pünktlich wieder zurück.
Heute …
Dass die Geschichte gut ausgegangen ist, verdanke ich wohl
einer glücklichen Fügung und der Tatsache, dass das zivil
genutzte Waldstück zu diesem Zeitpunkt wohl menschenleer
war und nur unser Zug dieses Gebiet nutzte. Allerdings
brannte sich dieses Ereignis – neben der Gewissheit, dass
„Hochdeutsch“ als Amtssprache eine dankbare Festlegung
wäre – gehörig in mein Gedächtnis ein und hält mich auch
heute, sieben Jahre nach diesem denkwürdigen Marsch und
in der Position eines Zugführers und stellvertretenden
Kompaniechefs in einer Grundausbildungseinheit immer
wieder dazu an, ständig auf Ausrüstung und Ausstattung
meiner mir anvertrauten Soldaten zu achten. Waffen werden
eben nicht aus der Hand gelegt, an Gegenstände gelehnt oder
ohne Grund und wenn, nur mit einer ordentlichen Übergabe,
an Kameraden übergeben.
HI
268
Leutnantsbuch
Der Nijmegen-Marsch
E
s ist Dienstag, noch vor Sonnenaufgang, 02.00 Uhr in
der Früh. Ich liege wach auf meinem Feldbett im Camp
Heumensoord. Als Führer einer Nijmegen-Marschgruppe
bin ich nervös und freue mich, dass es endlich los geht. Der
erste von vier Marschtagen. Wir sind 25 Fernmelder, die
sich der Herausforderung, in Formation an vier aufeinander
folgenden Tagen 40 Kilometer mit zehn Kilogramm Gepäck
zu marschieren, stellen. War unsere Vorbereitung ausreichend, werden alle Soldaten am Ende den verdienten
Orden erhalten?
Vor acht Wochen hatte mich der Kommandeur gefragt, ob
ich bereit sei, eine offizielle Nijmegen-Marschgruppe aufzustellen, zu trainieren und natürlich auch in Nijmegen zu
führen. Obwohl für meine Kompanie einige Vorhaben geplant waren, die nicht abgesagt werden sollten, sagte ich
nach kurzer Bedenkzeit und Beratung mit meinem Vertreter,
dem Spieß sowie dem Kompanietruppführer zu.
Im Anschluss lief die Planung und Organisation auf
Hochtouren. Es wurden zehn unterschiedlich lange Marschstrecken erkundet, Verpflegungspunkte festgelegt, ein wehrübender Masseur einberufen, der Truppenpsychologe des
Kreiswehrersatzamtes mit einbezogen, für die Gesangsausbildung das Heeresmusikkorps angesprochen sowie ein
Ausgleichs- und Rahmenprogramm zur Entspannung ausgeplant. Wir hatten an alles gedacht.
Die gedankliche Vorbereitung war jedoch der bedeutend
leichtere Teil der Aufgabe. Parallel dazu musste ich
Marschierer für dieses Projekt „gewinnen“. Mir war klar,
dass mit dem Befehl zur Teilnahme die Motivation der
Soldaten nicht gleichzeitig gegeben war. Ich setzte
ausschließlich auf Freiwillige. Da es sich bei diesem Auftrag
um eine Herausforderung für das gesamte Regiment
269
Leutnantsbuch
handelte, führte ich mehrere Informationsveranstaltungen
durch. Ich stellte die Absicht und den Ablauf der
Vorbereitung vor. Ich machte deutlich, dass vor der
Ordensverleihung mehr als 600 Kilometer zu absolvieren
seien, diese Herausforderung kein „Spaziergang“ würde,
aber dass die Begeisterung der Bevölkerung und das
besondere Erlebnis des Marsches für viele Strapazen
entschädigen würden.
Tatsächlich gelang es mir, das Interesse von etwa 30
Soldaten aller Dienstgradgruppen aus vier Kompanien des
Regimentes zu wecken. Sogar die Einweisung in der
Grundausbildungskompanie hatte Meldungen zur Folge. Ich
fragte mich aber, ob die jungen Rekruten nach ihrer AGA,
nachdem sie erst wenige Monate Kampfstiefel trugen und
lediglich kürzere Eingewöhnungsmärsche absolviert hatten,
diesen Belastungen wirklich würden standhalten können?
Was folgte, waren vier Wochen intensiver Vorbereitung am
Standort. Die ersten zwei Wochen waren die schwierigsten.
Die Füße reagieren auf eine solch’ immense Belastung, sie
verändern sich, schwellen an, werden größer. Die Folge sind
Blasen, Blasen, Blasen. Aber Blasen bringen niemanden um.
Auch mit Blasen zu marschieren ist möglich. Fast jeder
Teilnehmer musste diese Erfahrung machen. Jede Blase hat
zu dem eine Ursache: die Stiefel oder die Socken, zu groß
oder zu klein. Diese Ursachen wurden in den folgenden
Tagen immer erfolgreicher abgestellt.
Die ersten Märsche gingen auch an mir nicht spurlos
vorüber. Meine Soldaten erkannten, dass auch ich nicht mit
„Lederhaut“ an den Füßen marschierte. Trotz Blasen stand
ich am nächsten Tag aber wieder vor meiner Gruppe und
befahl „Stiefel – an, Rucksack – auf, vorwärts – marsch!
Keinen Tag überließ ich die Führung der Gruppe meinem
Stellvertreter.
270
Leutnantsbuch
Nach den Tagesmärschen begann erst mein eigentlicher
Dienst. Ich bearbeitete die Post, schrieb Beurteilungen,
nahm an Besprechungen teil und führte Dienstaufsicht bei
der Ausbildung meiner Kompanie. Die Tage waren
manchmal sehr lang und abends war ich richtig kaputt.
Am Ende der zweiten Woche wollten die Marschierer
wissen, wie ich denn nur so gute Laune haben könne,
obwohl doch jeder wüßte, dass auch ich mindestens drei
Blasen hätte, das Marschieren nun nicht immer Spaß
machte, der Gesang die Schmerzen nicht vertreiben könne
und auch nach den Märschen keine Zeit für mich sei, mir
Ruhe zu gönnen. Meine Antwort war einfach: „Ich habe ein
Ziel: Alle Soldaten dieser Marschgruppe, die in Nijmegen an
den Start gehen, werden den verdienten Orden erhalten. Ich
weiß, dass wir alle, wenn wir nur wollen, dieses Ziel
erreichen werden. Nach diesen ersten zwei Wochen weiß
ich, was Sie alle zu leisten im Stande sind, und das macht
mich zuversichtlich. Jetzt müssen nur noch Sie an sich selbst
glauben.“
Das Training am und um den Standort hat die Soldaten
zusammen geschweißt. Dennoch mussten fünf Soldaten
lehrgangsbedingt oder wegen persönlicher Gründe das
Marschieren aufgeben.
Weitere zwei Wochen Vorbereitung mit allen offiziellen
Marschgruppen der Bundeswehrdelegation auf dem
Truppenübungsplatz Ehra-Lessien folgten. Obwohl Marschieren kein Wettkampf ist und es beim Nijmegen-Marsch
nicht auf die Zeit ankommt, wollte meine Marschgruppe
immer die erste sein, die die Tagesetappe absolviert hatte.
Nicht ich war dabei die treibende Kraft, sondern die Gruppe
wollte es. Meinen Soldaten gab das schnelle Marschieren,
das schneller Sein als andere, einen ernormen Schub, ohne
271
Leutnantsbuch
dass der Einzelne überfordert war. Wir waren einfach gut
vorbereitet.
Nach zehn Tagen auf dem Truppenübungsplatz meldete mir
unser Sanitäter, dass Hauptgefreiter S. nicht mehr weiter
machen könne, sein Knie sei als Folge des Marschierens seit
mehreren Wochen geschwollen. Ich suchte das Gespräch mit
dem Hauptgefreiten S.. Er war am Boden zerstört. Nach fast
400 Trainingskilometern machte sein Körper nicht mehr mit.
Er bat mich, mit der Bahn nach Hause fahren zu können. Ich
lehnte zunächst ab. Noch waren fünf Tage Zeit, bevor es in
Nijmegen richtig losgehen sollte. Nach Rücksprache mit
dem Delegationsarzt und dem Delegationschef wurde vereinbart, den Hauptgefreiten S. aus dem Training herauszunehmen, ihn zu schonen. Sein Knie sollte eine Pause erhalten. Das Thema wurde während der nächsten Trainingsmärsche intensiv diskutiert. Sollen wir in Nijmegen mit dem
Hauptgefreiten S. an den Start gehen. Sollen wir das Risiko,
dass sein Knie wieder anschwillt, eingehen? Am Abend vor
der Verlegung in die Niederlande wendete ich mich an die
gesamte Marschgruppe: „Wir sind eine Gruppe. Wir 25
haben über sechs Wochen hart trainiert und wollen jetzt
gemeinsam die Ernte einfahren, die vier Tage in Nijmegen
genießen. Als Gruppe sind wir stark genug, um einem
Einzelnen weiterzuhelfen. Wir können das Tempo reduzieren, die Pausen verlängern, das Gepäck reihum verteilen.
Der Arzt hat zugestimmt, dass Hauptgefreiter S. wieder
marschieren kann, aus medizinischer Sicht gibt es keine
Einwände. Er gehört selbstverständlich zur Mannschaft
dazu.“
Endlich! Die Vorbereitung ist abgeschlossen. Hier und heute
zählt es. Im Camp Heumensoord geht es gleich los. Die
Anspannung ist überall zu spüren. Nach dem Frühstück
272
Leutnantsbuch
schwört der Delegationschef alle Gruppen und Marschierer
noch einmal ein. Unmittelbar vor dem Ausmarsch aus dem
Camp wird die Nationalhymne gespielt und von allen laut
mitgesungen. Ein Gänsehautgefühl macht sich breit.
Stiefel – an, Rucksack – auf, vorwärts – marsch! Die
Eindrücke auf der Strecke übertreffen unsere kühnsten
Erwartungen, die Begeisterung der Bevölkerung kennt keine
Grenzen, die ersten drei Tage vergehen wie im Flug. Die
gute Vorbereitung macht sich bezahlt, es gibt nahezu keine
Probleme. Auch der Hauptgefreite S. hat sich vollständig
erholt, das Tempo ist wie gewohnt hoch, und die Fernmelder
erreichen stets als erste Deutsche Mannschaft das Ziel. Das
erste Bier nach Ankunft geht natürlich auf meine Kosten. Ich
bin stolz auf die Männer.
Der vierte und letzte Tag soll der krönende Abschluss sein.
Doch schon nach dem Wecken meldet sich Unteroffizier K.,
es gehe ihm nicht gut, er habe sich die Nacht über mehrfach
übergeben müssen. Offensichtlich war eine Magenverstimmung die Ursache. Er wolle der Gruppe nicht zur Last
fallen und lieber im San-Bereich verbleiben. Vor einer
Entscheidung schicke ich ihn zum Arzt. Nach seiner Behandlung und der Einwilligung des Doktors informiere ich
alle. Unteroffizier K. tritt in die erste Rotte ein und gibt das
Tempo vor. Es soll verhindert werden, dass er überfordert
wird. Durch ständigen Gesang zur Ablenkung und weitere
Pausen zwischen den offiziellen Rastplätzen wird die Belastung deutlich reduziert. Die immer heißer strahlende Sonne
um die Mittagszeit, ist dann jedoch nicht mehr auszugleichen. Nach Kilometer 24, vier Kilometer nach dem letzten
Rastplatz mit ärztlicher Versorgung ist Unteroffizier K. mit
seinen Kräften am Ende. Ich befehle sofort eine Pause,
übergebe nach 15 Minuten das Kommando für die Pause
an meinen Stellvertreter, bevor ich mit Unteroffizier K.
273
Leutnantsbuch
gemeinsam die vier Kilometer zum letzten Rastplatz zurück
marschiere. Etwa eine Stunde nach dem Zwischenfall treffen
wir am Rastplatz ein. Wir gehen direkt zum Delegationsarzt,
unterrichten ihn über die Situation. Der Doktor versorgt
Unteroffizier K. sofort, behält ihn für eine weitere Stunde
zur Beobachtung vor Ort und gibt dann grünes Licht für die
Fortsetzung des Marsches. Parallel unterrichte ich meinen
Stellvertreter ständig über den Stand der Dinge, den dieser
an die Soldaten weiter gibt.
Drei Stunden nachdem die unfreiwillige Pause begonnen
hatte, sind wir zurück und werden mit großem Hallo
begrüßt. Unteroffizier K. tritt wieder in der ersten Rotte ein,
sein Gepäck wird alle zwei Kilometer übergeben. Natürlich
sind wir an diesem Tag nicht die Schnellsten, aber wir haben
ohne Ausfall auch den letzten Tag erfolgreich absolviert.
Alle Marschierer erhalten den verdienten Nijmegen-MarschOrden aus den Händen ihres Divisionskommandeurs.
Der Nijmegen-Marsch ist anstrengend, nein, er ist sehr
anstrengend und einzigartig zugleich. Er ist eine Strapaze
und eine Einladung. Er macht jeden Marschierer leer, bis er
während des Marschierens das Denken einstellt und baut ihn
anschließend wieder auf. Er nimmt alle Kraft und gibt sie
dreifach zurück. Im Kopf ist vieles zu steuern. Der Wille,
etwas zu leisten, ist entscheidend.
Jeder Einzelne meiner Marschierer hatte sich bewährt, war
in seiner Persönlichkeit um eine wichtige Erfahrung reicher,
war gereift. Jeder hat seine Grenzen erfahren und erlebt, was
Kameradschaft bedeutet. Als Marschgruppenführer habe ich
dieses Gefühl noch intensiver erlebt. Ich war verantwortlich
und konnte durch mein persönliches Beispiel, mit den
richtigen Entscheidungen und mit meinem Vertrauen auf die
Leistungsfähigkeit der gesamten Gruppe das Ziel, alle
274
Leutnantsbuch
Marschierer bei der Ordensverleihung vorzustellen, erreichen.
Stiefel – an, Rucksack – auf, vorwärts – marsch! Mit diesen
Worten wurde jeder Marschtag begonnen, aber auch die Zeit
nach den vier „Daagsen“, hat dieser Schlachtruf überdauert.
Er passt zum Soldatenleben. Ein Leben in dem es Dinge
gibt, die getan werden müssen, über die man nicht spricht.
Man versucht nicht, sie zu rechtfertigen. Man kann sie nicht
erklären, man kann sie nicht rechtfertigen. Man tut sie
einfach.
Zehn Jahre später trete ich meinen neuen Dienstposten als
Bataillonskommandeur an. Im Rahmen der Übergabe
bespreche ich auch das Personal mit meinem Vorgänger.
Sechs Soldaten, die damals mit mir marschiert sind, bilden
heute wichtige Stützen dieses Bataillons. Aus den
Marschierern sind gute, sehr gute, einsatzbereite und
besonders leistungswillige Soldaten mit der richtigen
Einstellung zum Beruf geworden.
Zwei Wochen nach der Übergabe kommt einer der Soldaten
auf mich zu und fragt: Herr Oberstleutnant, stellen wir
wieder eine Nijmegen-Marschgruppe? Ich bin dabei.
HI
275
Leutnantsbuch
Auslandsstudium USA
I
n den nun fast acht Jahren bei der Bundeswehr erinnere
ich mich gerne an die Zeit von August bis Dezember 2006
zurück, als ein Kamerad und ich ein Auslandssemester in
den USA verbrachten. Damals wurde es zwei Angehörigen
der Universität der Bundeswehr in Hamburg ermöglicht, für
fünf Monate die „United States Military Academy West
Point“ zu besuchen, um dort am Studium der amerikanischen Kadetten teilzunehmen.
An einem sonnigen Tag erreichten wir im Bundesstaat New
York die „Academy“, die circa 70 km nördlich von New
York City liegt. Beim Betreten der Einrichtung entdeckten
wir als erstes eine Tafel mit folgender Inschrift:
„A cadet will not lie, cheat, steal, or tolerate those who do.“
Hierbei handelte es sich um den Cadet Honor Code, der auch
unser Leben in den nächsten Monaten prägen sollte. Strikte
Regeln und klare Anweisungen schränkten uns zwar auch in
dem Semester ein, nichtsdestotrotz genossen wir diese Zeit
sehr.
Die kleine Stube teilten wir uns jeweils mit einem amerikanischen Kadetten, der uns bei den ersten Schritten unterstützte. Bereits in den ersten Tagen zeigte sich die amerikanische Gastfreundschaft, die uns schnell in das System
integrierte. Das Studium gestaltete sich ein wenig anders zu
dem, was wir an der Universität in Hamburg gewöhnt waren.
Die Stundenpläne waren strikt organisiert und neben akademischen Fächern kamen noch ein intensives Sportprogramm
und militärische Ausbildungen auf uns zu. In Fächern wie
„History of the Middle East“ mussten Tests, Zwischenklausuren und Endklausuren geschrieben sowie Referate gehalten werden.
276
Leutnantsbuch
Jedoch vernachlässigten wir auch nicht unseren zweiten
wesentlichen Auftrag, nämlich das Kennenlernen von Land
und Leuten.
Trotz der hohen Anforderungen, denen die Kadetten in
„West Point“ unterlagen, waren sie immer bereit, uns zu
unterstützen. Insgesamt kann man sagen, dass die fünf
Monate in den USA fordernd waren, allerdings auch neue
tiefe Freundschaften schafften und uns das amerikanische
System verständlicher machten. „West Point“ war eine
Erfahrung, die mich persönlich weiterbrachte und mir auch
zeigte, dass ein Auslandsstudium in den USA nicht nur viel
Fleiß und Anstrengung erfordert, sondern auch Spaß bedeuten kann.
HI
277
Leutnantsbuch
„Regen“
D
er Transportzug war mit acht LKW MULTI und drei
TPz FUCHS auf dem bekannten, staubigen Rückweg
von Bagram nach Kabul. Ein Blick nach hinten auf den
Konvoi zeigte das beruhigende Bild einer konzentrierten
Rundumsicherung an den Maschinengewehren und die
üblichen vermummten Gesichter der Soldaten. Soweit war
alles gut gelaufen, die Straße war frei, und bei konstanter
Marschgeschwindigkeit konnte sich jeder ausrechnen, dass
ausnahmsweise alle pünktlich in die Dienstunterbrechung
gehen würden.
Doch dann zog von Süden her eine dunkelbraune
Wolkenwand rasch auf und zu. Innerhalb von zehn Minuten
wurde der gesamte Konvoi von einer riesigen Staubwolke
verschluckt und die Sichtweite reduzierte sich, trotz
Beleuchtungsstufe 2, auf maximal zehn Meter. Ich befahl die
Weiterfahrt in Schrittgeschwindigkeit und während der
Umriss des hinter mir fahrenden Lkw gerade noch erkennbar
war, drückte sich der Staub in alle sich ihm bietenden
Öffnungen. Nach ein paar Minuten waren Staub und Sand
noch schneller wieder verschwunden als sie gekommen
waren. Dafür begann es, wie aus Eimern zu schütten und
jeder, der aus den Luken heraus sicherte, war sofort
durchnässt. Doch auch dieser Spuk war nach kürzester Zeit
vorbei und schon wenige Kilometer später begannen die
stechende Sonne und der Fahrtwind schon damit, uns wieder
zu trocknen.
Kaum waren wir leicht angetrocknet, als sich uns auch schon
das nächste Hindernis in den Weg stellte. Wo sich auf der
Hinfahrt noch ein nur an dem leicht braungrünen Bewuchs
erkennbares Rinnsal befunden hatte, ergoss sich nun ein 20
Meter breiter, flacher Fluss quer über die Straße. Dieser
hatte den linken Teil der Straße unterspült und einen
278
Leutnantsbuch
Kleintransporter etwa 100 Meter mit sich gerissen. Der lag
auf der Seite in einem flachen, braunen See und war
offensichtlich leer. Dafür hatte sich jenseits des Flusses, in
etwa 300 Meter Entfernung direkt neben der Straße eine
etwa siebzigköpfige Menschengruppe gesammelt. Eine
Menschengruppe an dieser Stelle der Straße war absolut
ungewöhnlich und darüber hinaus war zu erkennen, dass in
der Mitte der Gruppe mindestens ein Feuer entzündet
worden war.
Da wir ausschließlich mit voll beladenen 15 Tonnen MULTI
unterwegs waren, entschied ich sofort, dass eine Durchquerung des „Flusses“ ungefährlich war und befahl über
Funk langsam und mit erhöhter Aufmerksamkeit weiterzufahren.
Als der Konvoi langsam an der Menschengruppe vorbeifuhr,
begannen diese zu winken und auf das Feuer in ihrer Mitte
zu zeigen. Direkt neben dem Feuer standen drei Männer, die
jeweils ein nasses, scheinbar lebloses Kind über das Feuer
hielten.
Absurderweise schoss mir sofort der Gedanke „Jetzt kommt
die Verwundeteneinlage“ durch den Kopf. Dann war die
Entscheidung zu treffen: „Anhalten und helfen“ oder
„Weiterfahren und melden“. Ein kurzer Rundumblick in das
in jede Richtung mindestens einen Kilometer offene und
ebene Gelände ließ den Ort denkbar ungünstig für einen
Hinterhalt erscheinen und ich hatte einen TPz San dabei.
Also schneller Befehl per Funk: „100 m weiter rechts ran
fahren, Maschinengewehre sichern rundum, Beifahrer und
Sanitäter zu mir.“ Absitzen, Verkehrsposten einteilen und
dann gingen wir mit circa zehn Mann auf die Afghanen zu.
Mir war ganz schön mulmig zumute, wie würden die
Afghanen reagieren, hoffentlich machst Du alles richtig. Als
wir auf die Afghanen zugingen, teilte sich die Menge und
279
Leutnantsbuch
man ließ uns unbehelligt zu dem Feuer gehen. Als die
Sanitäter und ich den drei Afghanen, welche die Kinder
trugen, bedeuteten, uns zu folgen, taten sie das anstandslos
und ruhig. Wir führten die drei mit den Kindern hinter den
TPz San, und ich befahl dem Sanitätsfeldwebel, die Kinder
zu untersuchen und dem Funker unsere Position und den
Halt an die Operationszenrale zu melden. Als ich mich
umdrehte, sah ich, wie die Menschenmenge langsam und
ruhig auf uns zukam. Noch während mir die Gedanken im
Kopf herumrasten, was ich am besten befehlen sollte, gingen
meine Soldaten schon freundlich, aber bestimmt auf die
Afghanen zu und bedeuteten ihnen mit Gesten zurückzubleiben.
Diese gehorchten sofort, und ich musste nur noch etwas
Ordnung in die „lockere Postenkette“ bringen. Schließlich
meldete mir der Sanitäter, dass wir einen Arzt benötigten.
Wir forderten aus dem nur etwa zehn Kilometer entfernten
Camp einen Beweglichen Arzttrupp (BAT) an, der zugesagt
wurde. Es verging eine knappe Stunde. Die Afghanen
verhielten sich ruhig, nur ich wurde innerlich immer
nervöser – wo bleiben die denn. Als der BAT schließlich
kam, waren wir schon etwa 90 Minuten vor Ort. Der Arzt
übernahm die Behandlung, die allerdings nicht wirklich
reibungslos verlief.
Die Kinder begannen zu „krampfen“ und bis der Arzt alles
unter Kontrolle hatte, waren weitere 90 Minuten vergangen.
Außerdem teilte mir der Arzt mit, dass die Kinder unbedingt
ins Krankenhaus müssten, er sie aber nicht mit zurück ins
Lager nehmen könne. Er schlug eine Verlegung in das Indira
Krankenhaus in der Innenstadt vor. Dies konnte einer
unserer Kameraden, der einige Brocken Arabisch sprach,
den Afghanen auch klarmachen. Ich entschied mich, den
Konvoi zu teilen. Etwa vier Kilometer vor dem Lager bogen
die MULTI in dessen Richtung ab und ich verlegte mit vier
280
Leutnantsbuch
TPz in die Innenstadt. Wir kamen ohne Probleme bis zu dem
Krankenhaus und der Arzt verschwand mit unserem
„Dolmetscher“ im Gebäude, um alles zu regeln. Wir
warteten und warteten und es begann langsam dunkel zu
werden. Als die beiden endlich wieder erschienen, konnten
die Kinder ins Krankenhaus gebracht werden. Unser Arzt
hatte, wie er andeutete, bei den richtigen Leuten das
entsprechende Geld dafür bezahlt. Wieder verschwanden
Arzt und „Dolmetscher“, diesmal mit den Kindern, im
Gebäude. Mittlerweile war es etwa 21.00 Uhr und stockdunkel. Alle vier Maschinengewehre waren zwar in die Luft
gerichtet, aber ständig besetzt. Ich konnte die Erleichterung
aller Soldaten spüren, als die beiden schließlich wieder aus
dem Gebäude traten und mir meldeten, dass alles erledigt
wäre. Ich ließ sofort aufsitzen und wir fuhren durch die
nächtlichen Straßen Kabuls zurück ins Camp. Nachdem
mein Oberfeldwebel, der im Zuggefechtsstand auf mich
gewartet hatte, mir meldete, dass er mit den MULTI gut
angekommen war, ging ich zu meinem Kompaniechef, um
mich zurückzumelden.
Laut Aussage des behandelnden Arztes war durch unser
Eingreifen die Genesung der Kinder innerhalb der nächsten
Tage sichergestellt. Hätten wir hingegen nicht reagiert, wäre
ihr Schicksal höchst ungewiss gewesen.
HI
Kein Befehl kann alle Eventualitäten vorab berücksichtigen
und regeln. Hier schlägt die Stunde der Auftragstaktik.
Kenne Deinen Auftrag und, wichtiger noch, die Absicht des
übergeordneten Führers. Nutze in diesem Rahmen Deine
Spielräume. Entscheide und verantworte. Häufig erfordern
281
Leutnantsbuch
außergewöhnliche Lagen ebenso außergewöhnliche Entscheidungen und Maßnahmen. Wäge sorgfältig, auch wenn
nur wenig Zeit bleibt, und räume der Eigensicherung hohe
Priorität ein. Dann fasse Deinen Entschluss und setze ihn
um. Nicht immer wird sich der Erfolg so einstellen wie in
dieser Geschichte. Unabhängig davon wird man aber in der
Rückschau oft zu der Bewertung gelangen: Einen Versuch
war es wert!
282
Leutnantsbuch
Die Veteranen
A
nlässlich eines Kommandeurwechsels bei unserem
französischen Patenverband, dem 40e Régiment de
Transmissions in Thionville, war ich als Ehrenzugführer
eingeteilt. Nach dem Appell auf einem großen innerstädtischen Platz folgte ein Vorbeimarsch der gesamten Formation, bestehend aus dem französischen Regiment, meinem
deutschen und einem amerikanischen Ehrenzug, an der
Tribüne der Ehrengäste entlang. Wie in Frankreich üblich,
befanden sich die Vertreter diverser Veteranenverbände mit
ihren Fahnen direkt neben dieser Tribüne. Den Vorbeimarsch mit Blickwendung hatten wir im Heimatstandort
fleißig geübt, eine kleine Herausforderung bestand noch in
der Anpassung an das Tempo der französischen Marschmusik. Während ich an der Spitze meiner Formation, direkt
gefolgt von unserer Regimentsfahne, an der Tribüne vorbeimarschierte und den zweiten Richtungsposten sowie
dahinter folgend die Veteranen in den Blick bekam, entschied ich mich spontan, die Ehrung per Blickwendung auch
den kriegsgedienten ehemaligen Soldaten zukommen zu
lassen. Ich hätte es als stillos empfunden, ausgerechnet diese
Menschen keines Blickes zu würdigen.
Die Geste war denkbar klein (das Kommando „Augengeradeaus“ erfolgte eben nur ein paar Sekunden später als
vom Protokoll gewollt), der Effekt jedoch durchschlagend,
wie ich beim anschließenden Empfang im Offizierheim an
den Mienen der alten Kameraden und den zahlreichen
Gesprächen bemerkte. Zum Hintergrund sei noch angemerkt, dass Thionville in Lothringen liegt und die Bewohner
im 20. Jahrhundert mehrmals ihre Loyalität zwischen Frankreich und Deutschland wechseln mussten.
283
Leutnantsbuch
Meine Schlussfolgerungen daraus waren und sind zum
Einen, dass die Blickwendungen in unserer Formaldienstvorschrift eine tiefsinnige deutsche Besonderheit und
keineswegs hohler Selbstzweck sind: Beim Ansehen der
Person werden Botschaften ohne Worte ausgetauscht, die
von unersetzlichem Wert sind (hier: „Wir respektieren Eure
Opferbereitschaft“, bei allgemeinen Antreten: „Ich vertraue
Euch – Wir sind da“ und Ähnliches). Zum Andern, dass
einige zentrale geschichtliche und aktuelle Hintergrundkenntnisse als Vorbereitung für solche Auftritte unerlässlich
sind.
HI
284
Leutnantsbuch
Das Dilemma
D
er Hindukusch – wenn Einsatz, dann hier. Seit zehn
Tagen bin ich nun in Afghanistan. Als Oberleutnant der
Panzertruppe hätte ich hier gerne meinen Zug geführt. Jetzt
habe ich eine Verwendung, die für einen jungen Offizier
ungewöhnlich ist: Ich bin bei CIMIC, und wenige Monate
nach der Versetzung durfte ich auch schon mit in den
Einsatz. Immerhin … Zugegebenermaßen ist die Tätigkeit
sehr viel interessanter als ich sie mir als Kampftruppenmann
vorgestellt habe. Sehr oft unterwegs sein, der Bevölkerung
vor Ort helfen können, und dabei zwangsläufig viel von
Land, Leuten und Kultur kennenzulernen – das hat viel und
gibt mir viel.
Der CIMIC-Trupp, dem ich heute angehöre, wird geführt
von meinem Kompaniechef, einem Afghanistan-erfahrenen
Offizier; außer mir sind noch ein Oberfeldwebel als
Kraftfahrer und unser Sprachmittler dabei. Wir sind seit
gestern mit einer mehrtägigen Patrouille in einer abgelegenen Region im Norden unterwegs. Unsere Aufgabe ist
es, die Patrouille zu begleiten und festzustellen, ob Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung erforderlich sind; und
wenn ja, in welcher Art und welchem Umfang sie durch die
Bundeswehr geleistet werden können. Es ist meine erste
Fahrt durch dieses Land, und ich bin am zweiten Tag schon
ganz durchgeschüttelt, als wir am frühen Nachmittag unser
erstes Ziel erreichen: ein kleines Dorf mit circa 250
Einwohnern.
Am Ortseingang steht ein Polizist, auf einen großen Stock
gestützt, und winkt uns freundlich zu. Wir halten auf seiner
Höhe an, und unser Sprachmittler lässt sich den Weg zum
Haus des Malik, so wird hier der Dorfälteste bezeichnet,
285
Leutnantsbuch
erklären, mit dem wir sprechen wollen. Kaum hält die
Patrouille in der Mitte des Dorfes an, werden wir von einer
Kinderschar umringt, die uns lauthals schreiend offenbar um
etwas bittet, was ich aber nicht verstehe. Nachdem die
Sicherung steht, geht mein gesamter CIMIC-Trupp in
Begleitung des Patrouillenführers zum Malik, der uns
freundlich begrüßt und uns zum Gespräch auf der Veranda
seines Hauses einlädt. Kurze Zeit später sitzen wir auf dem
Boden der Veranda bei einer Tasse süßen Tees, und es
werden die ersten Höflichkeiten ausgetauscht. Mittlerweile
haben sich etwa 50 Kinder zwischen unserem bewachten
Fahrzeug und dem Haus des Maliks versammelt, die
pausenlos etwas rufen und johlen. Diese lautstarke
Untermalung empfinde ich als Störung, sie tut dem
Gesprächsverlauf aber offensichtlich keinen Abbruch, denn
der Malik und mein Chef bleiben gelassen und unterhalten
sich höflich weiter.
Der Polizist, der uns vorhin den Weg gewiesen hatte, kommt
auf die Kindergruppe zu. Mit strengem Gesichtsausdruck
ruft er den Kindern etwas zu, offensichtlich jedoch ohne
Wirkung. Plötzlich hebt er seinen Stock und schlägt
mehrfach nach den Kindern. Ein kleiner Junge, um die
sieben Jahre alt, kann dem Schlag nicht mehr ausweichen
und wird am Kopf getroffen. Er stürzt hin, die Platzwunde
fängt sofort an zu bluten. Anstatt ihm zu helfen, wendet sich
der Polizist den anderen Kindern zu, um sie mit
Stockschlägen vollends zu vertreiben.
In mir steigt Wut hoch. Was fällt dem ein, so auf Kinder
einzuprügeln. Die haben ihm doch gar nichts getan. Was,
wenn er weitere verletzt? Hat der denn kein Gewissen? Wir
sind hier, um der Bevölkerung zu helfen, und der Polizist als
Vertreter der lokalen staatlichen Gewalt wendet in unnötiger
286
Leutnantsbuch
und überzogener Art und Weise Gewalt gegen Wehrlose an?
Und warum greifen denn noch nicht einmal unsere
Sicherungssoldaten ein? Das kann doch alles nicht sein!
Ich will aufspringen, eingreifen, doch mein Chef hält mich
am Arm fest und raunt mir zu, ohne den Blick von seinem
Gesprächspartner zu wenden: „Bleiben Sie bloß sitzen! Alles
weitere später …!“ Ich bin konsterniert. Gelten hier denn
nicht die gleichen Menschenrechte, die zu vertreten mit zu
unserem Auftrag gehört? Ich habe Mühe, dem weiteren
Gesprächsverlauf zu folgen, sehe, wie die Kinderschar sich
auflöst, wie der verletzte Junge von einem anderen gestützt
in die übernächste Hütte geht, wie der Polizist offenbar
gleichgültig in eine Seitenstraße schlendert …
Eine Stunde später sitzen wir wieder im Fahrzeug und
verlassen gerade das Dorf. Ich setze an: „Herr Major, wieso
haben Sie mich vorhin zurückgehalten? So ein Verhalten
dürfen wir doch nicht zulassen!“
„Herr Oberleutnant, Sie waren kurz davor, vieles zu
vergessen, was Sie in Ihrer Ausbildung gelernt haben. Wir
sind zwar hier, um der Bevölkerung zu helfen, aber wir
befinden uns in einer völlig anderen Kultur mit anderen
Gesetzmäßigkeiten. Das müssen wir akzeptieren, zumal das
Leben des Jungen nicht in Gefahr schien“, so mein
Kompaniechef. „Wenn Sie eingegriffen hätten, hätten Sie
die Gastfreundschaft des Malik verletzt, weil Sie einfach
davon gestürmt wären. Sie hätten die Autorität des Polizisten
untergraben, wenn Sie ihn an seinem Tun gehindert hätten.
Ihr Verhalten hätte letztlich dazu führen können, dass wir
nicht mehr als Gäste und Freunde angesehen würden,
sondern womöglich als Besatzer, mit negativen Folgen für
unsere Auftragserfüllung. Wir müssen akzeptieren, dass dies
287
Leutnantsbuch
der für hiesige Verhältnisse normale Umgang mit Kindern
ist, auch wenn es uns schwer fällt. Vielleicht sind wir sogar
mit verantwortlich dafür, weil erst unser Erscheinen zu
diesem Auflauf geführt hat. Und zu guter Letzt hätten Sie
mit Ihrem spontanen Verhalten ein tolles Beispiel für unsere
Sicherungssoldaten abgegeben. Ich sehe Ihre guten Vorsätze, erwarte aber zukünftig von Ihnen, dass Sie überlegter
agieren. Interkulturelle Kompetenz wird im Übrigen gerade
von uns als CIMIC-Soldaten in besonderem Maße erwartet.
Schließlich trägt unsere Aufgabe nicht unmaßgeblich zum
Schutz des gesamten Kontingents bei.“
Je öfter ich über diese Situation nachdenke, umso mehr wird
mir klar, wie Recht mein Kompaniechef hat. So sehr mein
erster Reflex mir richtig erscheint, ein solches, letztlich
unüberlegtes Handelns kann in mehrfacher Hinsicht negative
Auswirkungen haben – für mich wie auch für andere. Sind
wir denn nicht zum Offizier ausgebildet worden, um auch in
unübersichtlichen Situationen erst einen Entschluss zu
fällen, nachdem wir eine Lagebeurteilung angestellt haben?
Und müssen wir nicht auch und gerade in solchen
Momenten einen kühlen Kopf bewahren, ganz gleich, ob es
sich um eine Gefechtssituation handelt oder um eine andere
schwierige Lage? Von uns Offizieren wird doch beispielhaftes Verhalten erwartet, und genau das hätte ich beinahe
vermissen lassen. Ein weiteres Mal passiert mir das ganz
bestimmt nicht!
HI
288
Leutnantsbuch
Der Hindernisparcours
D
er junge Leutnant M. befindet sich mit seinem Jägerzug
im Rahmen der Vollausbildung auf dem Hindernisparcours an der Luftlande- und Transportschule in
Altenstadt, um eine erlebnisorientierte sowie physisch und
psychisch anspruchsvolle Ausbildung für seine Männer
durchzuführen.
Seine jungen Soldaten, die ihm anvertraut sind, führt er
bereits seit über vier Monaten. Sie wissen, was ihr Zugführer von ihnen verlangt, kann er stets selbst vormachen
und so geht auch hier Leutnant M. bei jedem Hindernis, das
es zu überwinden gilt, mit Vorbild als Erster voran. Zudem
wissen sie auch, dass der junge Leutnant ein sehr fordernder
Zugführer ist und dass immer stets so geübt wird, wie man
auch unter realen Gefechtsbedingungen kämpfen würde und,
dass die Gruppe oder der Zug nur so stark sein könne,
wie das schwächste Glied darin.
Über die ersten Hindernisse, die in relativ geringer Höhe
aufgebaut waren, kamen die Soldaten recht zügig und mit
geringer Überwindungskraft hinüber. Dann kam jedoch der
Zug zu einem Tal, über dem ein 80 m langer und in 40 m
Höhe aufgebauter doppelter Seilsteg angebracht war.
Als erstes ging der Zugtrupp mit dem Leutnant M. und die
erste Gruppe mit dem Oberfeldwebel K. über den doppelten
Seilsteg. Viele Soldaten der ersten beiden Zugelemente
waren sehr nervös. Da jedoch der militärische Führer immer
voran ging, folgten ihm alle. Als jedoch die 2. Gruppe mit
Feldwebel W. an der Reihe war, bemerkte der Leutnant, dass
der Feldwebel Probleme hatte, über den Seilsteg zu gehen.
Daraufhin kletterte der Leutnant ein zweites Mal zurück, um
mit dem Feldwebel W. zu sprechen. Im Gespräch unter vier
Augen fragte er ihn, was los sei. Feldwebel W. hatte
289
Leutnantsbuch
Höhenangst und war der Meinung, dass er das Hindernis
nicht schaffen würde. Daraufhin antwortete der Leutnant,
dass er doch die anderen vorherigen Hindernisse bereits
absolviert hätte und dass dieses Hindernis nur etwas höher
sei, aber vom Prinzip das Gleiche. Dies schien den Feldwebel nicht sonderlich zu überzeugen. Deshalb packte der
Leutnant M. den Feldwebel bei seiner Ehre und sagte zu
ihm: „Der militärische Führer darf niemals aufgeben, solange er noch unterstellte Soldaten zu führen hat! Dort ist
Ihre Gruppe. Ich erwarte Sie geschlossen am anderen Ende
des Seilstegs!“ Dann ging der Leutnant zurück auf den
Seilsteg und kletterte bis zur Mitte, dem tiefsten und
wackligsten Punkt auf dem Seilsteg. Er wartete dort auf
seinen Feldwebel und gab ihm indirekt das Gefühl, dass
nichts passieren könne. Da überwand sich der junge
Feldwebel und führte seine ihm anvertrauten Soldaten über
den Seilsteg. Als er am anderen Ende ankam, sagte der
Leutnant zu ihm: „Und, war doch gar nicht so schlimm,
oder?“ Daraufhin antwortete der Feldwebel, dass er nicht so
mutig sei und er Höhenangst habe. Da erwiderte der
Leutnant mit einer beiläufigen Bemerkung, dass es ihm jedes
Mal so erginge, denn auch ihm sei die schwindelige Höhe
nicht geheuer. Jedoch müsste er seine Männer führen und
wenn er sich in solch einer Situation nicht überwinden
könne, dann wäre er der Falsche für diesen Beruf.
HI
290
Leutnantsbuch
Menschenführung im Einsatz
E
s war mein erster Einsatz und zum damaligen Zeitpunkt
wusste ich nur in Ansätzen, was mich erwarten würde
und hatte auch nicht mit allem gerechnet.
Der Spähzug FENNEK des PRT (Provincial Reconstruction
Team) Kunduz hatte den Auftrag, den Bereich der bodengebundenen Spähaufklärung abzudecken. Dies bedeutet
Aufklärung entlang der Marschstrecke, Überwachung gefährdeter Stellen und Patrouille auf gepanzerten Fahrzeugen.
Kern der Vorbereitung ist, alle Soldaten frühestmöglich und
bestmöglich auszubilden.
Das Schaffen von automatischen Reaktionen durch
drillmäßige Ausbildung kann, wenn es hart auf hart kommt,
lebenswichtig sein. „Schweiß in der Ausbildung spart Blut
im Gefecht“, hört sich immer wie eine einfache Floskel an,
wurde für meinen Zug und mich aber schneller Ernst als wir
dachten – doch dazu später mehr.
Menschenführung im Einsatz beginnt lange vor dem Einsatz.
Alleine damit, dass man anfängt, sich Gedanken darüber zu
machen, wen man aufgrund seiner Erfahrung und
Qualifikation mit in den Einsatz nimmt. Darüber hinaus
machte ich mir Gedanken über das zwischenmenschliche
Zusammenspiel, schließlich wäre es nicht sinnvoll gewesen,
Probleme, die einzelne Soldaten miteinander haben, mit in
einen mehrere Monate dauernden Einsatz zu nehmen. Man
sollte dies auch nicht vernachlässigen und denken, dass
erwachsene Menschen damit schon zurecht kommen. Über
einen Zeitraum von vier bis sechs Monaten lässt sich
Dienstliches und Privates nicht trennen. Man muss wissen,
wie man seine Soldaten am besten einsetzen kann, auf wen
291
Leutnantsbuch
man mehr und auf wen man weniger achten muss. Diese
Verantwortung ist unteilbar.
Wir haben viel Zeit und „Schweiß“ in die vorbereitende
Ausbildung gesteckt und jeder von uns war über Monate auf
die vor uns liegenden Belastungen vorbereitet worden. Das
Schaffen von Standards, das gegenseitige Kennenlernen
unserer Stärken und Schwächen, wie auch das Beherrschen
unseres Materials, standen im Vordergrund. Auch die
familiäre Lage der Soldaten muss berücksichtigt werden.
Der Einsatz selbst stellt besonders für junge Soldaten eine
große Belastung dar, viele leiden unter den Ängsten um den
Fortbestand der Beziehung und der oft erstmals langen
Trennung von der Familie.
Daher sollte man den Soldaten und ihrem Umfeld die Zeit
und die Möglichkeit geben, sich auf den Einsatz und die
damit verbundene Trennung vorzubereiten.
Im Juli war es dann soweit, Familie und Freunden auf
Wiedersehen zu sagen und nach Afghanistan zu verlegen.
Meine Soldaten und ich mussten in unserem Einsatzzeitraum
direkt mit drei Anschlägen fertig werden. Damit war die
Belastung außergewöhnlich hoch und für uns der Einsatz
etwas anders als für andere Soldaten. Der schwerste
Anschlag folgte im Oktober. Hierbei wurde ein Kraftfahrer
meines Zuges verwundet.
Der Spähtrupp unter Führung meines Stellvertreters war
nach Abschluss seines Überwachungsauftrags auf dem
Rückweg ins Lager. Es war kurz vor Mitternacht und er traf
den Entschluss, südlich von Kunduz zurück zu verlegen.
Ungefähr acht Kilometer vom Lager entfernt geriet sein
Spähtrupp in einen Hinterhalt.
Sein Fahrzeug als Führungsfahrzeug wurde mit Geschossen
einer Panzerfaust vom Typ RPG 7 beschossen. Eines der
292
Leutnantsbuch
Geschosse traf das rechte Vorderrad des Spähwagens so
ungünstig, dass es das Rad durchschlug und der Geschosskopf in den Kampfraum eindrang. Dabei wurde der
Kraftfahrer durch die Splitterwirkung verletzt. Die Verletzung war so schwer, dass er zwar den FENNEK noch
einige hundert Meter aus der Gefahrenzone bringen konnte,
danach jedoch sofort versorgt werden musste.
Ich kann die Situation meines Stellvertreters gut nachempfinden, erlebte ich eine solche doch selbst erst vor
einigen Monaten. Im August, ebenfalls kurz vor Mitternacht,
südlich vom Lager war ich gerade am Anfang meines
Auftrags und auf dem Weg Richtung Süden, um mit der
Afghanischen Nationalen Polizei (ANP) einen Check Point
zu errichten. Gerade zehn Minuten unterwegs, gab es
plötzlich eine Explosion direkt rechts vor meinem Fahrzeug.
Ich sah bloß ein grelles Licht und vernahm einen lauten
Knall. Ich dachte nicht lange nach, brüllte bloß noch in
meinen Sprechsatz: „Durchstoßen!“ Mein Kraftfahrer gab
sofort Vollgas und mein Systembediener feuerte mit dem
Maschinengewehr grob in Richtung drei Uhr. Der DINGO
hinter uns feuerte daraufhin ebenfalls grob in diese Richtung
und schloss auf mein Fahrzeug auf. Die ANP wusste auf
Grund von Sprachbarriere und anderem taktischen Denken
nicht, was ich wollte und hielt erst an.
Glücklicherweise folgte uns dann auch die ANP, wir
konnten uns 800 Meter entfernt von der Anschlagsstelle
sammeln und alle Fahrzeuge und Besatzungen auf Schäden
und Ausfälle prüfen. Zu unserer positiven Überraschung war
alles in Ordnung.
Anschläge dieser Art bedeuten immer eine extreme
Stresssituation, in der man keine Zeit für langes Denken hat.
Hier muss jetzt das greifen, was man lange und intensiv
293
Leutnantsbuch
geübt hat. In solch einer Situation muss alles wie von alleine
passieren – eben drillmäßig.
Die Verwundung eines Kameraden ist für alle ein schwerer
Moment, er führt die eigene Verletzlichkeit vor Augen und
zeigt auch, dass nicht immer alles gut geht.
Ich selbst erkannte für mich selbst erst hinterher, in einem
Moment der Ruhe, zu wie viel Stress eine solche Situation
führt.
In erster Linie dreht sich alles um den verwundeten
Kameraden – dass es ihm gut geht, was mit ihm passiert. Als
fest stand, dass der Kraftfahrer vorzeitig zurück nach
Deutschland geflogen würde, um die bestmögliche
Behandlung zu bekommen, schaffte dies ein Gefühl der
Zufriedenheit, da ich wusste, dass es ihm bald wieder viel
besser gehen würde. Die Lücke, die aber in einen neun
Mann starken Zug gerissen wird, wenn plötzlich einer fehlt,
ist deutlich spürbar.
Die Angst, die der eine oder andere in sich trug und der
Wunsch, sofort nach Hause zu fliegen, obwohl wir noch
sechs Wochen Einsatz vor uns hatten, zwang mich dazu, als
Vorgesetzter tätig zu werden und alle daran zu erinnern,
warum sie eine Uniform trugen und welche Verantwortung
damit verbunden war. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht
der nette, verständnisvolle Leutnant sein, sondern musste
dafür sorgen, dass mein Zug nicht auseinander brach und ich
meinen Auftrag weiter fortsetzten konnte. Das war auch eine
schwere Zeit für mich; ich musste selber Ruhe und Kraft
finden, um den Kopf wieder frei zu bekommen und um klar
denken zu können.
Ein Grund, weshalb meine Soldaten verstanden, was ich von
ihnen verlangte und mir auch zu hundert Prozent wieder
folgten, war der, dass ich offen war und mich immer
bemühte, meinen Soldaten ein Vorbild zu sein. Ich verlangte
294
Leutnantsbuch
nie mehr von ihnen, als ich mir selbst zutraute. Und auch
dann gab es nur eine Möglichkeit den Zug zusammen zu
halten: „Führen durch Beispiel“. Obwohl ich selber nicht frei
von Sorge war, war ich es, der nach jedem Anschlag als
erster das Lager verließ und in die Nacht hinaus fuhr.
HI
295
Leutnantsbuch
Multinationalität bei SFOR
D
as Inspektionsbataillon ist eine multinationale Einheit
von 55 Kameraden aus Frankreich, Spanien, Italien und
der Bundesrepublik Deutschland.
Der Hauptauftrag ist die regelmäßige Inspektion der
militärischen Liegenschaften aller drei Entitäten im Verantwortungsbereich der Multinationalen Division Süd-Ost.
Geführt wird die MSCU, wie die englische Abkürzung für
Multinational Site Control Unit lautet, von einem spanischen
Major. Sein Stellvertreter ist ein deutscher Hauptmann.
Diese Einheit ist wahrscheinlich eine der am stärksten
multinational ausgeprägten innerhalb der Division, was sich
nicht zuletzt in den hier anzutreffenden unterschiedlichen
Uniformen, Waffen, Kraftfahrzeugen und Speisen sowie
diametral entgegen gesetzten Arbeitsweisen, Vorlieben und
Abneigungen, Urlaubsbestimmungen, Ausgangsreglungen,
nationalen Festtagen, nationalen Verboten und Führungsstilen widerspiegelt. Für den Einzelnen kaum vorstellbar und
man mag es kaum glauben – aber wie auch immer – die
Arbeit funktioniert.
Im Inspektionsbataillon gibt es verschiedene Teams, wie
zum Beispiel die Führungsgruppe, das Team Technik, das
Team Dokumentation und noch einige mehr. Als Herzstück
der Einheit haben die fünf Inspektionsteams den Auftrag, die
militärischen Liegenschaften in regelmäßigen Abständen zu
inspizieren. Binational zusammengesetzt, war der deutsche
Anteil mit den italienischen Kameraden der Teams drei- bis
viermal täglich auf den Straßen Bosnien-Herzegowinas
anzutreffen.
296
Leutnantsbuch
Neben der interessanten Tätigkeit, den wunderschönen
Landschaftsimpressionen und der tollen Kameradschaft galt
hier stets das Motto „Lachen ist gesund“.
Sprachkenntnisse? – „Nema Problema!“
Multi-kulti forever! Hier einmal ein paar Gedanken zur
Amts- bzw. Kommandosprache: Zur Auswahl standen Französisch, Italienisch und Deutsch, also Sprachen, die jeweils
von 25% der Truppe sicher beherrscht wurden.
Dazu gesellten sich recht schnell noch einschlägige Floskeln
aus der „local language“ und dann hatte man ja noch Hände
und Füße zur Verfügung – und natürlich noch ein paar
Brocken Schulenglisch. Einem Außenstehenden wäre es
wohl schon etwas sonderbar vorgekommen, aber für die
Soldaten war es nach kürzester Zeit eigentlich ganz normal,
auf den allmorgendlichen Gruß „Dobro Jutro my friend, how
are you?“ mit einem lockeren „Gracias, very dobro, und
selbst?“, zu antworten.
Multinationalität wird im Inspektionsbataillon so intensiv
gelebt wie in kaum einem anderen Verband auf dem Balkan.
Neben der täglichen Kameradschaft gegenüber den Angehörigen der SFOR-Nationen und der Arbeit mit lokalen
Sprachmittlern hat man intensiven Kontakt mit den militärischen Repräsentanten der Streitkräfte Bosnien-Herzegowinas.
Die Aufträge sind hochinteressant, man erlebt täglich, was
es heißt, die im Dayton-Abkommen festgelegten Waffenund Kaserneninspektionen durchsetzen zu müssen. Die
Komplikationen, die aufgrund der Sprachbarriere auftauchen, werden aber durch die erfolgreiche und spürbare
Arbeit für den Friedensprozess, die vorzügliche Kameradschaft und viele schöne persönliche Erlebnisse mehr als
ausgeglichen.
297
Leutnantsbuch
Am Ende des Einsatzes überwiegen die angenehmen Erinnerungen, trotz der langen Trennung von zu Hause.
HI
Sei offen für andere Kulturen, akzeptiere andere militärische
Traditionen und Umgangsformen! Bereite Dich auf die
Multinationalität aktiv vor – durch sprachliche Aus- und
Weiterbildung, Information über die Streitkräfte und Länder
Deiner Kameraden! Frage Dich nach den Besonderheiten
Deiner Kultur und des Deutschen Heeres! Vertrete Deine
eigenen Streitkräfte sachlich, aber auch mit Stolz! Unsere
Führungskultur kann sich auch international sehen lassen!
298
Leutnantsbuch
Der geeignete Zeitpunkt für Kritik
A
ls junger Oberfähnrich führte ich einen Panzerpionierzug. Ich war Vorgesetzter von 30 jungen
„Kerlen“, die ich vom ersten Tag an in meiner Obhut hatte.
Ich bildete Sie mit meinen Gruppenführern zu guten, loyalen
und disziplinierten Soldaten aus. Der Zug war nach wenigen
Monaten ein eingespieltes Team, um nicht zu sagen, eine
verschworene Gemeinschaft. Jeder achtete den Anderen,
was auch mich als den Zugführer einschloss.
Eines Tages ließ ich den Zug vor dem Kompaniegebäude
antreten, um organisatorische Punkte bekannt zu geben.
Während des Antretens kam der Kompaniechef hinzu und
unterbrach mich prompt in meiner Rede. Er wandte sich vor
dem angetretenen Zug mit folgenden Worten, für alle
hörbar, an mich: „Herr Oberfähnrich, der Flecktarn Ihrer
Jacke passt nicht zum Flecktarn Ihrer Hose. Stellen Sie
diesen Mangel ab!“ Diese Feststellung entsprach der Wahrheit und war durch den unterschiedlichen Abnutzungsgrad
beider Kleidungsstücke begründet. Zugegeben ist dies ein
Mangel. Schließlich sollte man, insbesondere als Vorgesetzter immer um einen vernünftigen Anzug bemüht sein.
Und selbstverständlich steht es einem Vorgesetzten zu,
erkannte Mängel festzustellen und anzusprechen. Jedoch
sollte man dabei Zurückhaltung wahren und mit dem
erforderlichen Gespür für die Verhältnismäßigkeit und den
geeigneten Zeitpunkt vorgehen. Vor allem, wenn es sich bei
der betreffenden Person um einen Vorgesetzten handelt, der
sich in Gegenwart seiner Untergebenen befindet. Der
Kompaniechef hat damals mit seinen wenigen Worten für
einige Unruhe innerhalb des angetretenen Zuges gesorgt. Ich
stand vor der Front und wusste zunächst nicht, was ich sagen
sollte.
299
Leutnantsbuch
Diese Begebenheit beschäftigt mich bis heute. Inzwischen
sind acht Jahre vergangen und ich bin nun selbst
Kompaniechef. In gewisser Hinsicht muss ich meinem
damaligen Chef für diese Erfahrung dankbar sein. Hat Sie
mir doch auf negative Art und Weise vor Augen geführt,
dass man für das Ansprechen und Beseitigen von Mängeln
auch den falschen Ort und Zeitpunkt wählen kann.
HI
300
Leutnantsbuch
Die Kurzeinweisung
A
bschlussantreten der Kompanie am Freitagmittag. Eine
normale Woche des Dienstes am Standort liegt hinter
der Kompanie und nach wenigen Worten und der üblichen
„Belehrung zum Wochenende“ entlasse ich die Kompanie
ins wohlverdiente Wochenende. Ich selbst freue mich auf zu
Hause und auf den mit meiner Frau vereinbarten Einkaufsnachmittag.
Und eben dort erreicht mich am Nachmittag desselben Tages
der Anruf meines Brigadekommandeurs. Ich solle bitte
sofort in die Kaserne kommen. Im Einsatz sei ein Unfall
passiert, ein Transportpanzer (TPz) FUCHS sei verunglückt
und ein deutscher Soldat schwer verletzt. Im Zuge der
üblichen Suche nach Ursache und Verantwortlichkeit sei
man auf den Kraftfahrer des Fahrzeugs gekommen und der
hätte ausgesagt, dass er aufgrund seiner nur verkürzt
durchgeführten Einweisung an diesem Fahrzeug und der
fehlenden Fahrpraxis gar nicht in der Lage gewesen wäre,
die Situation richtig einzuschätzen und in der Folge diesen
tragischen Unfall zu verhindern.
Und diese Einweisung, ich erinnere mich schnell, wurde
etwa ein bis zwei Monate vorher in meiner Kompanie und
unter meiner Verantwortung durchgeführt.
Mit meiner Frau zusammen mache ich mich sofort auf den
Rückweg und melde mich wenig später beim Brigadekommandeur. Mein Bataillonskommandeur ist nicht zugegen. Dem Brigadekommandeur geht es nicht um eine
Vernehmung oder Ähnliches. Nein, primär möchte er „aus
erster Hand“ die Umstände und Rahmenbedingungen dieser,
in einer seiner Kompanien durchgeführten Einweisung am
301
Leutnantsbuch
TPz FUCHS erfahren, um auf eventuelle Fragen aussagekräftig antworten zu können.
Und so schildere ich die näheren Umstände ...
Etwa ein bis zwei Monate zuvor bekomme ich an einem
Dienstag im Dienstzimmer meines Kompanietruppführers
eher zufällig ein Telefongespräch mit dem Kompanietruppführer einer ca. 20 km entfernt liegenden Einheit mit.
Letzterer erkundigt sich nach dem Termin für die nächste
der regelmäßig in meiner Kompanie stattfindenden Einweisungen TPz FUCHS. Mein Kompanietruppführer nennt
die Termine und ich höre, dass der nächste von uns vorgesehene Termin zu spät für die betreffende Einheit ist.
Konkret geht es um einen Soldaten, der als Ersatzkraftfahrer
TPz für den Einsatz geplant ist und kurzfristig bereits am
kommenden Montag, also in sechs Tagen, in den Auslandseinsatz verlegen soll. Tatsächlich aber benötigt er bis
dahin die entsprechende Ausbildung.
Die beiden Kompanietruppführer verbleiben letztlich ohne
Ergebnis. Der Standpunkt der Kompanie ist klar: Eine
Einweisung dauert zwei Wochen und findet in unserer
Kompanie erst zu einem späteren Zeitpunkt statt. Verkürzte
Einweisungen sind grundsätzlich möglich, jedoch auf keinen
Fall eine Einweisung in maximal fünf Tagen.
Kurze Zeit später ruft mich der Kompaniechef des
betreffenden Soldaten an und ich erkläre diesen Standpunkt
erneut. Unmittelbar nach diesem Telefonat informiere ich
den Bataillonskommandeur. Auch ihm erkläre ich kurz die
Hintergründe, einfach auch deshalb, weil ich denke, dass er
kurzfristig einen Anruf seines Kommandeurskameraden
erhalten wird.
Und genauso ist es. Wenig später bekomme ich mit dem
Rückruf meines Kommandeurs den Auftrag, auf dringende
302
Leutnantsbuch
Anfrage des Nachbarbataillons eine entsprechende, stark
verkürzte Ausbildung für einen Soldaten des Nachbarbataillons so durchzuführen, dass dieser am Montag in das
Einsatzland verlegen kann. Die für die Überprüfung des
Soldaten erforderlichen Absprachen mit der am Standort
befindlichen Fahrschulgruppe solle ich treffen.
Ich bin mit diesem Auftrag nicht einverstanden und mache
dies auch deutlich. Letztlich aber bleibt es bei dem Auftrag
und zusammen mit dem Kompanietruppführer, einem
weiteren erfahrenen Feldwebel der Kompanie als Ausbilder
und dem Leiter der Fahrschulgruppe plane ich die
Ausbildung, die bereits am nächsten Tag beginnen soll (und
muss). Ich lege fest, dass wo immer möglich, theoretische
Anteile zugunsten der Fahrpraxis gekürzt werden sollen und
erwähne im Gespräch mit dem für den Sonntag eingeteilten
Prüfer der Fahrschulgruppe, dass die Überprüfung aufgrund
der signifikanten Verkürzung der Ausbildungsdauer nicht
„unter allen Umständen“ erfolgreich verlaufen muss.
Gleichzeitig erteile ich den Auftrag, genau festzuhalten,
welche Ausbildungsgebiete nicht vermittelt werden konnten.
So beginnt am nächsten Tag die kürzeste Einweisung am
TPz FUCHS, die in meiner Verantwortung stattgefunden
hat. Am Sonntag bekomme ich abends den Anruf des
Fahrlehrers über den erfolgreichen Verlauf der Überprüfungsfahrt. Damit bleibt mir, am Montag das Fahrtennachweisheft zu unterschreiben und damit den Abschluss der
Ausbildung zu bestätigen.
Ich tue dies nicht, ohne im Fahrtennachweisheft die
festgehaltenen, nicht durchgeführten Ausbildungsgebiete
aufzulisten und mit meiner Unterschrift und der „dringenden
Empfehlung einer Nachschulung vor Einsatz als Kraftfahrer
TPz im Einsatzland“ zu versehen.
303
Leutnantsbuch
Damit ist der Auftrag erfüllt und das schlechte Gewissen
wird schnell durch den alltäglichen Dienstbetrieb beiseite
gewischt. Umso stärker kommt es zurück, als mich der
eingangs erwähnte Anruf des Brigadekommandeurs erreicht.
Was verbindet dieses Erlebnis nun mit den Werten und
Tugenden eines Offiziers? Welche Lehren ziehe ich aus dem
Erlebten?
Ganz grundsätzlich überwiegen auch Jahre später die
Zweifel daran, ob ich als verantwortlicher Kompaniechef
alles getan habe, diese von vorneherein zu kurze Ausbildung
zu verhindern.
Selbstkritisch geht es dabei zu allerletzt um Bequemlichkeit
oder ein „Sich-aus-der-Verantwortung-Stehlen“. Vielmehr
geht es um die Frage, ob ich den Bataillonskommandeur mit
deutlicheren Worten von seiner Auftragserteilung hätte abbringen können (und müssen)? Konnte der Bataillonskommandeur nur diese Entscheidung treffen, weil der
Kompaniechef ihn nicht ausreichend auf die Hintergründe
aufmerksam gemacht hatte? Hätte ich den Gehorsam verweigern können oder gar müssen? Hätte ich den Kompaniechef im Einsatz telefonisch auf die Umstände der Einweisung und den Zusatz im Fahrtennachweisheft aufmerksam
machen müssen?
Weiterhin steht für mich auch außer Frage, dass ein Auftrag,
so er denn einmal erteilt ist, auch dann auszuführen ist, wenn
die Rahmenbedingungen dem entgegenstehen. „Nach
bestem Wissen und Gewissen“ ist hier das Schlüsselwort für
den in Verantwortung stehenden Offizier. Eine nachträgliche
Schuldzuweisung, an wen auch immer, kommt in diesem
wie in vielen anderen Beispielen nicht in Frage. Zuversicht
und Geradlinigkeit sind auch dann die Tugenden des
Offiziers, wenn er selbst im Zweifel ist.
304
Leutnantsbuch
Abschließend bleibt dem damaligen Kompaniechef aber
auch die Gewissheit, dass auch eine „nach bestem Wissen
und Gewissen“ geplante und durchgeführte Ausbildung mit,
per Unterschrift bestätigten, Ausbildungslücken nebst der
Empfehlung zur Nachschulung bei Eintritt einer schwerwiegenden Folge, keine Entlastung des eigenen Gewissens
ist.
Eine Tugend des Offizierberufs ist es auch, mit diesen
Zweifeln umzugehen ...
Nachtrag: Der Stundenansatz für die Einweisung am TPz
FUCHS wurde in der entsprechenden Ausbildungsvorschrift
wenig später um fünf Stunden Fahrpraxis erhöht!
HI
305
Leutnantsbuch
Diagnose Krebs
Z
weiter Weihnachtstag. Die Familie sitzt gemütlich
beisammen und genießt die weihnachtliche Stimmung
bei Kerzenschein und knisterndem Kamin. Alle sind heiter,
ausgelassen und zufrieden.
Mein Mobiltelefon klingelt. Ein Kamerad meldet sich. Ich
freue mich darüber. Wir tauschen Weihnachtsgrüße aus.
Doch das Gespräch nimmt eine schnelle Wendung. „Er ist
letzte Nacht verstorben … Lungenembolie … ich war zwei
Tage vorher noch bei ihm, … da ging es ihm noch den
Umständen entsprechend …“ Stille … Ich bin irritiert, ich
hatte mit ihm auch vor zwei Tagen noch telefonisch
gesprochen. Ich muss mich setzen.
„Die Beisetzung wird am 30.12. sein … mit militärischen
Ehren.“ „Ich werde kommen … Okay, schön, ich melde
mich morgen, wenn ich die Einzelheiten habe.“ „Ja, … klar
…“ Wir verabschieden uns, wie man sich in so einem
Moment voneinander verabschiedet … Betroffenheit, Trauer
kommen hoch. Gefühle, die ich bis dahin in dieser Form
nicht gekannt hatte. Erinnerungen werden wach.
Einzelkämpfervorbereitung an der Truppenschule. Ich sehe
ihn vor mir. Erster Nachtorientierungsmarsch. Er startet eine
halbe Stunde vor mir. Zwei Stunden später treffen wir uns
wieder. Er bricht schweißgebadet aus einer kleinen
Fichtenschonung. Zunächst dachte ich es wäre ein Reh, aber
dann schaltet er die Taschenlampe an. „Eh, hallo, ... is’ da
wer?“ „Ja, ich bin’s, hier drüben!“ Ich komme ihm entgegen.
„Ah, du bist es, ich hab mich total verfranst. Ich kämpfe
mich hier schon fast eine Stunde durch!“ Ich muss lächeln.
Wem ist das noch nicht passiert. Wir helfen uns gegenseitig
und gehen dann wieder unserer Wege. Letztendlich schaffen
wir beide den Marsch. Erleichterung. Irgendwie war das der
306
Leutnantsbuch
Anfang. Wir waren zusammen auf dem Einzelkämpferlehrgang in einem Hörsaal und an der Offizierschule
ebenfalls. Wir mussten jedes Mal schon lächeln, dass wir
uns immer wieder trafen und dann auch noch im gleichen
Hörsaal. Es wurde daraus nicht direkt eine Freundschaft,
nein, eher ein besonderes kameradschaftliches Verhältnis.
Geprägt war das Verhältnis von Hilfsbereitschaft, Vertrauen,
Respekt, das Einstehen für einander … all die Aspekte, die
man sich unter Kameradschaft einfach vorstellen kann. Er
war eine besondere Persönlichkeit, der seine Zeit als Soldat
genoss und die Werte des Berufs hochhielt. Ein Kämpfer,
Sportler und Gentleman. Dann trafen wir uns an der
Bundeswehruniversität wieder. Er hatte das Sportstudium
nicht bekommen, dafür aber einen Platz bei den Pädagogen.
Und ich hatte den Studiengang gewechselt. Und wieder
trafen wir aufeinander. Schicksal. Er nahm die Möglichkeit
wahr, einen Platz bei den Politologen zu besetzen.
Mit der Zeit wurde aus der Kameradschaft langsam eine
Freundschaft. Wir gingen gemeinsam in die ‚Muckibude‘,
trafen uns zum Gedankenaustausch, wollten zusammen auf
den Springerlehrgang …, und das mit meiner Höhenangst.
Dann kam die vorlesungsfreie Zeit. Er freute sich auf die
Zeit mit seiner Freundin und seinem Kind. Ich freute mich
auf mein Praktikum und meinen Urlaub. Zu schaffen machte
ihm aber noch eine Magen-Darm-Erkrankung, die er
augenscheinlich nicht gut wegsteckte. Aber bei der
Kämpfernatur renkt sich wieder alles ein. Keiner dachte sich
etwas dabei.
Nach der vorlesungsfreien Zeit auf einmal keine Spur von
ihm. Telefon gleich Fehlanzeige. Ich treffe einen gemeinsamen Freund, der ihm näher steht. Der berichtet. „Er
liegt zurzeit im Krankenhaus … man hat einen faustdicken
Tumor an seinem Oberschenkel festgestellt … Leider hat der
307
Leutnantsbuch
Krebs aber schon Metastasen gesetzt, in Bauchraum und
Lunge gestreut … Es sieht nicht gut aus … Du kennst ihn …
Er kämpft … Aber wie lange noch, steht in den Sternen …
Vielleicht müssen sie ihm das Bein abnehmen …“ Ich bin
fassungslos. Man hört zwar immer wieder von Krebs, aber er
scheint immer sehr fern von einem zu sein … Jetzt steht man
auf einmal daneben und muss zuschauen … „Wie kann ich
ihn erreichen?“ Er gibt mir die Krankenhaustelefonnummer
und wir versprechen, uns gegenseitig auf dem Laufenden zu
halten.
Nun saß ich da vor meinem Telefon. Was sage ich ihm? Wie
gehe ich an die Sache heran? Soll ich mich gar nicht melden
und warten? Hunderte von Gedanken gehen mir durch den
Kopf. Irgendwann hatte ich den Hörer in der Hand und er
war am anderen Ende. Riesige Freude. Er erzählt mir alle
Einzelheiten in gewohnter Manier, als ob gar nichts
wäre … fast so, als wäre es lediglich eine Grippe … Er ist
zuversichtlich … Wie immer … Die Hoffnung stirbt zuletzt.
… Er erzählt mir von den anstehenden Behandlungen, von
seiner Familie … Ich glaube, unser erstes Gespräch ging
über eine Stunde. Irgendwann merkte man ihm die Anstrengung an. Ich sagte ihm noch, dass ich vorbeikommen
werde, ihn besuche und dass wir regelmäßig telefonieren
werden. So wurde es abgemacht. Fortan telefonierten wir
jede Woche. Ein Besuch wurde vereinbart. Er wollte erst,
dass ich ihn besuche, wenn er zu Hause ist. Gesagt getan,
doch einen Tag vor dem geplanten Termin bittet er mich,
diesen zu verschieben … Es ginge ihm nicht besonders gut.
Er will „fitter“ sein, wenn ich vorbeikomme … So blieb es
auch bei den anderen Terminen … Noch heute mache ich
mir ab und zu den Vorwurf, dass ich seinen Wunsch
ignorieren und ihn einfach hätte besuchen sollen … Ende
Oktober kündigt er einen Besuch an der Uni an … Er wolle
308
Leutnantsbuch
ein paar Sachen holen, die Leute sehen und so weiter …
Seine Wohnebene bereitet den Besuch vor und lädt mich ein
… Nur wenige sind da … Er kommt mit seiner Freundin …
Insgeheim erschrecke ich, ist er das wirklich … Er ist kaum
wiederzuerkennen. Ich hatte damit gerechnet, dass er anders
ist, und mich versucht darauf einzustellen, aber das, was ich
sehe und erlebe, schockiert mich zutiefst. Er ist schwer
gezeichnet von seiner Krankheit … Smalltalk bei einem
Tässchen Kaffee … Doch nach einer halben Stunde ist schon
Schluss … Er fühlt sich nicht gut … Er ist auch nicht mehr
bei der Sache … Er verabschiedet sich und legt sich hin …
Betroffenes Schweigen in der Runde … Einer bricht das
Schweigen … „Es ist schon erstaunlich, wie er kämpft, kein
anderer hätte es bis hierher geschafft“ … Zustimmung bei
den anderen, aber in jedem Gesicht kann man lesen, dass
keiner daran glaubt, dass er es schafft … Nach zwei Stunden
verabschiede ich mich von den anderen, es war das letzte
Mal, dass ich ihn gesehen habe.
Der Nachmittag lässt mich nicht mehr los. Schwierig die
Gefühle zu beschreiben … Ich telefoniere mit ihm weiterhin.
Er hat manchmal gute und jetzt öfters schlechte Tage … Er
erzählt mir am Telefon, dass er sich ein neues Auto zugelegt
hat und was er, wenn er wieder fit ist, damit alles machen
wird … Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte …
Hilflosigkeit macht sich breit …
Weihnachten rückt immer näher … Kurz vor Heiligabend
telefonieren wir … vereinbaren wieder einen Termin
zwischen den Tagen … wer hätte gedacht, dass es unser
letztes Gespräch ist …
30. Dezember. Der Tag der Beerdigung. Er wird mit
militärischen Ehren beigesetzt. Nur wenige militärische
Freunde sind zu meiner Überraschung anwesend. Die Uni
stellt einige Kameraden als Totenwache und Kranzträger.
309
Leutnantsbuch
Doch die engsten Kameraden wollen dies übernehmen … So
stehen wir zu sechst neben dem Sarg in der kleinen Kapelle.
Ich vorne links. Großer Dienstanzug mit Paradehelm. Der
Sarg geschmückt mit der Bundesdienstflagge und einem
Stahlhelm … Langsam füllt sich die Kapelle mit den Eltern,
Freunden und Bekannten … Die Kapelle füllt sich bis zum
letzten Platz … Einige müssen draußen bleiben … Ich sehe
in die Gesichter der Eltern und der Freundin … Sie sind
gezeichnet von Trauer … Die Worte des Pfarrers sind schön
und beschreiben ihn genau so, wie er war … Anderthalb
Stunden stehen wir am Sarg, bis wir diesen dann zur
Grabstelle tragen … Vorneweg die Kranzträger und ein
Trommler vom Heeresmusikkorps … An der Grabstelle
noch ein paar Worte seines Studentenfachbereichsleiters,
seinem letzten Disziplinarvorgesetzten … Man merkt auch
hier deutlich, dass er mit der Trauer zu kämpfen hat, seine
Stimme zittert … Die Totenwache tritt beiseite … Der Sarg
wird unter leisem Wirbeln des Trommlers herabgelassen …
Jeder nimmt Abschied … als alle Freunde und Bekannten
die Grabstelle verlassen, sind wir an der Reihe uns zu
verabschieden … Ich stehe als Erster vor dem Grab …
Zuerst eine Schaufel Erde … Ich gehe in Grundstellung und
salutiere … Dann trete ich beiseite … Die anderen machen
es mir nach … Als wir durch sind, schauen wir uns an …
Jeder nickt dem anderen zu … Jeder weiß in diesem
Moment, was der andere denkt … Ihm hätte es gefallen,
genau so wollte er es haben …
Mit seinem Grab ist eine persönliche Geschichte verbunden,
die sich in erster Linie mit dem Umgang von Krankheit und
Tod eines Kameraden beschäftigt. Krankheit und Tod
gehören zum Soldaten-, zum Offizierberuf und man hat sich
diesen Begriffen zu stellen. Und ob einen nun
Kameradschaft oder gar Freundschaft verbindet, das
310
Leutnantsbuch
unbedingte Einstehen und Zueinanderstehen ist eine der
Tugenden, die den Offizierberuf von anderen unterscheidet.
Wir haben dem erkrankten Kameraden Hoffnung, Mut und
Vertrauen geschenkt und gezeigt, dass dieser auch und
gerade aus dem militärischen Freundeskreis heraus nicht
alleine gelassen wird.
Der Tod eines Kameraden nach schwerer Krankheit ist eben
nicht „Privatsache“ ... auch und insbesondere dann nicht,
wenn sich für die Kameraden ebenfalls erhebliche
emotionale Schwierigkeiten und in manchen Situationen
auch erhebliche Gewissensbisse ergeben haben. Couragiertes Engagement, Kameradschaft, das Nicht-Wegsehen
und die damit verbundene, echte Teilnahme sowie Respekt
in tiefer militärischer Verbundenheit sind die Schlüsselbegriffe dieser Geschichte.
HI
311
Leutnantsbuch
Das offene Ohr
S
eit hundert Tagen sind wir jetzt in Afghanistan und Ende
des Monats geht es nach Hause. Wir waren schon immer
ein gutes Team. Doch der Einsatz hat uns im Zug noch mehr
zusammengeschweißt. Vor allem eine Situation ist mir noch
gut in Erinnerung, die ich so schnell nicht vergesse. Doch
von vorn:
Vor gut drei Wochen – etwa zwei Drittel der Einsatzzeit
hatten wir hier bereits absolviert – traf ich Stefan im
Raucherzelt vor unserem Block. Wir kennen uns seit unserer
Grundausbildung vor zwei Jahren und haben seither nahezu
jeden Ausbildungsabschnitt gemeinsam absolviert. Hier in
Afghanistan ist er, so wie ich, Beifahrer und MG-Schütze
auf dem TPz.
An diesem Tag war Stefan irgendwie verschlossen und
längst nicht so gut gelaunt wie sonst. Erst nach einiger Zeit
rückte er damit heraus und erzählte mir, was passiert war.
Seine Freundin und er hatten sich mächtig am Telefon
gestritten. Für beide schien die Trennung durch den Einsatz
und in gewisser Hinsicht wohl auch die Ungewissheit
zunehmend unerträglicher. Zudem hatte Clara, so heißt
Stefans Freundin, zum ersten Mal von Trennung gesprochen.
Sie habe gerade eine schwierige Prüfungsphase und erhoffe
sich mehr emotionalen Beistand, erklärte er mir.
Auch ich hatte in dieser Hinsicht bereits meine Erfahrungen
gesammelt und wusste, wie schwierig es ist, in den wenigen
Minuten Telefonat – noch dazu im Einsatz – nicht das
vermeintlich Falsche zu sagen. Doch Stefan schien
regelrecht niedergeschlagen und verzweifelt zu sein. Bis spät
in die Nacht unterhielten wir uns und ich fasste den
Entschluss, ihm, wenn irgend möglich, eine kleine Auszeit
zu verschaffen.
312
Leutnantsbuch
Am nächsten Tag bat ich unseren Zugführer, einen jungen
Oberleutnant, der ein Jahr zuvor unseren Zug übernommen
hatte, darum, mit Stefan den Dienst am darauf folgenden
Tag tauschen zu dürfen. Da ich allerdings Stefans Situation
auch nicht an die große Glocke hängen wollte, erklärte ich
auf Nachfrage meines Vorgesetzten, dass mich eine
Patrouille in den Osten Mazar-e-Sharifs sehr interessiere,
was zugegebenermaßen auch zutraf. Stefan gewann so einen
Tag im Camp und hatte die Möglichkeit einmal ausgiebig
mit Clara zu sprechen.
Das tat er dann auch. Irgendwie schien unser Zugführer
allerdings doch etwas mitbekommen zu haben. Vielleicht
war ihm schlichtweg Stefans Niedergeschlagenheit aufgefallen. Jedenfalls schaffte er es, am darauffolgenden Wochenende, an dem mehrere Video-Live-Konferenzen zu den
Familien nach Deutschland geplant waren, auch einige
Minuten für Stefan und seine Freundin zu reservieren – ein
weiteres Mosaiksteinchen, das seine Wirkung nicht verfehlte. Mittlerweile ist Stefan nahezu wieder der alte und
freut sich, ebenso wie Clara, aufs Monatsende.
Auf mich wartete allerdings noch eine ganz andere
Überraschung, als ich während des Antretens vergangene
Woche durch unseren Zugführer vor die Front geholt wurde.
„Vor allem im Einsatz erstreckt sich Kameradschaft weit
über das Dienstliche hinaus. Einsatzbelastungen betreffen
uns alle. Umso erleichterter bin ich festzustellen, welchen
Stellenwert Teamgeist in diesem Zug hat. Neben mir steht
ein Soldat, der nicht nur im Dienst mit vorbildlichem Einsatz
überzeugt, sondern auch außerhalb des Dienstes für seine
Kameraden ein offenes Ohr hat und auch zusätzliche
Belastungen nicht scheut, wenn er damit anderen helfen
313
Leutnantsbuch
kann. Ich bin froh, solche Kameraden um mich zu wissen“,
erklärte er dann vor versammelter Mannschaft.
Auch wenn es mir vielleicht ein wenig peinlich war, ich bin
normalerweise niemand, der gern im Mittelpunkt steht, war
ich auch stolz auf das Gesagte. Doch lag mir auch daran,
unserem Zugführer, als ich ihn später traf, zu erklären, wie
selbstverständlich das Ganze für mich war. Seine Reaktion
verblüffte mich: „Wissen Sie, Herr Hauptgefreiter, es ist
immer einfach, Vieles schnell als selbstverständlich
hinzunehmen. Ihr Verhalten war schlichtweg vorbildlich, so
etwas sollte nicht verschwiegen werden.“
Lob ist ebenso wie Tadel ein wesentliches Führungsmittel.
Leider wird es oft vernachlässigt. Doch gerade zur Festigung
des Teamgeistes, wirkt vor allem Anerkennung nicht nur
unmittelbar auf den Betroffenen, sondern auch auf sein
unmittelbares Umfeld motivationssteigernd.
HI
Lob und Anerkennung kommen gegenüber dem Tadel oft zu
kurz, obwohl sie wesentlich zur Motivation beitragen und
auch den Teamgeist fördern. Es ist ein Zeichen echter
Kameradschaft, belasteten Kameraden bei der Bewältigung
ihrer Probleme zu unterstützen. Eine solche Hilfsbereitschaft
wird auch von anderen wahrgenommen und gewürdigt.
314
Leutnantsbuch
Die Gruppe in der AGA
I
m Alter von damals 22 Jahren war ich zum ersten Mal
verantwortlich für zehn Soldaten im Alter von 19 bis 24
Jahren. Es stellte sich schnell heraus, dass diese Gruppe sehr
heterogen war – ein ‚Querschnitt der Gesellschaft’, wie man
immer so sagt. Die jungen Soldaten unterschieden sich
deutlich in ihren Bildungsniveaus, der körperlichen Verfassung, der Einstellung zur Bundeswehr und in privaten
Vorlieben. Wenn ich jetzt in meiner kleinen DIN-A6Gruppenführerkladde von damals nachlese, finde ich dort
unterschiedlichste Beschreibungen:
- Der Sohn eines ehemaligen DDR Botschafters in der
damaligen Sowjetunion, Triathlet, mit dem Ziel des
Studiums „Hotelmanagement“ in der Schweiz, der
Interesse an der Übernahme ins Reservistenverhältnis
zeigte.
- Der Offizieranwärter auf Widerruf, der während dieser
Grundausbildung die persönliche Entscheidung pro/
contra Übernahme SaZ 12 zu fällen hatte.
- Der 19-jährige Rekrut, der als engster Verwandter für
die Betreuung der sich in psychiatrischer Behandlung
befindlichen Großmutter verantwortlich war und sich
schnell als informeller Führer herauskristallisierte.
- Der Wasserinstallateur aus Stade, der mit einem
Hauptschulabschluss einerseits kein überdurchschnittliches Bildungsniveau hatte, sich andererseits
durch seine praktischen Fähigkeiten, sein Engagement
und seinen Humor auszeichnete und ein Leistungsträger
der Gruppe war.
- Ein arbeitsloser Tischler, der in der 7. Klasse seine
Schulausbildung abgebrochen hatte, mit Problemen im
privaten Bereich sowie mit der körperlichen Fitness.
315
Leutnantsbuch
All’ diese unterschiedlichen Charaktere mit ihren verschiedensten Fähigkeiten vereinten sich nun in meiner
Gruppe. Meine Aufgabe war es nun, als Ausbilder das
soldatische Grundhandwerkszeug zu vermitteln. Als Führer
und Erzieher wollte ich aus der Summe von Einzelpersonen
eine Gruppe bilden, die zusammenhielt und stolz darauf war,
in eben dieser 5. Gruppe zu sein.
Bei der Umsetzung dieses Zieles war ich dann mit
Problemen konfrontiert, mit denen ich zuvor nicht gerechnet
hatte. Ein Wehrpflichtiger hatte z.B. einen sehr prägnanten
eigenen Körpergeruch, gepaart mit einer ungenügenden
Körperhygiene. Bei der Übung von Schleiftricks im Rahmen
der Sanitätsausbildung wurde er deswegen gemieden. Um
einer Ausgrenzung aus der Gruppe und möglichen
Pflichtverletzungen wie „Pflicht zur Gesunderhaltung“,
„innerdienstliche Wohlverhaltenspflicht“ oder „Pflicht zum
Gehorsam“ frühzeitig entgegenzuwirken, musste ich also
handeln. Leider (oder zum Glück) gibt es für solche und
viele andere Probleme des Truppenalltags keine Patentlösungen, die in Vorschriften oder Ausbildungshilfen, auf
den speziellen Fall zugeschnitten, nachzulesen sind.
Mit Gesprächen, dem Befehl zur Durchführung angemessener Körperhygiene, verstärkter Dienstaufsicht, „Erzieherischen Maßnahmen“ oder Disziplinarmaßnahmen nach
der Wehrdisziplinarordnung steht ein bunter Strauß an Maßnahmen unterschiedlichen „Eskalationsniveaus“ zur Verfügung. Ich führte mit dem Soldaten ein Vieraugengespräch,
zeigte ihm auf, dass seine mangelnde Hygiene das Zusammenleben und -arbeiten der Gruppe belastet und befahl
ihm, sich täglich zu waschen bzw. zu duschen. Dies zeigte
für einige Zeit Erfolg.
Etwa eine Woche später teilte mir der Spieß mit, dass er dem
Soldaten eine schriftliche Ausarbeitung zum Thema
316
Leutnantsbuch
„Hygiene im Felde“ aufgetragen hatte, da dieser mit stark
verschmutztem Essgeschirr bei der Essensausgabe erschien.
Ich befahl dem Rekruten, mir nach Dienst die Ausarbeitung
vorzulegen. Gegen 17.00 Uhr meldete er, dass er die
Ausarbeitung nicht verfassen könne. Ihm fehlten einfach die
geistigen Fähigkeiten, um eine solche Problemstellung zum
Thema „Hygiene“ schriftlich zu erörtern. Ich nahm mir
daraufhin Zeit, um ruhig mit dem Soldaten gemeinsam die
Ausarbeitung zu Papier zu bringen. Dabei öffnete er sich
und berichtete von persönlichen Problemen, einer laufenden
Vaterschaftsklage und dem Tod eines nahen Angehörigen,
die er zuvor für sich behalten hatte.
Am Ende dieses Tages war ich froh, mehr über „meinen
Problemsoldaten“ erfahren zu haben. In der restlichen Zeit
der Allgemeinen Grundausbildung besserte sich das Verhalten des Soldaten, wenngleich er weiterhin manchmal die
eigene Körperhygiene vernachlässigte. Ich beließ die „Erziehung“ auf meiner Ebene. Welches Verhalten hier richtig
war oder was ein anderer an meiner Stelle getan hätte, möge
jeder für sich beurteilen.
Es passt nicht jede Maßnahme x (wie schriftliche Ausarbeitung für verschmutztes Essgeschirr) auf jeden Soldaten
y (der selbstständig eine solche nicht schreiben kann).
Dies war ein Beispiel für eine Herausforderung während
meines Gruppenführerpraktikums. Für mich war dies die
schönste Aufgabe meiner bisherigen Dienstzeit, da ich als
Gruppenführer in der AGA während und auch außerhalb des
Dienstes sehr viel Zeit mit den mir anvertrauten Soldaten
verbracht habe. So konnte ich die Stärken und Schwächen
meiner Soldaten und auch meine eigenen erfahren. Man wird
von seinen Untergebenen hier und auch in anderen
Verwendungen mit Vorgesetztenfunktion nicht nur als
317
Leutnantsbuch
militärischer Vorgesetzter in dienstlichen Belangen, sondern
auch als Ratgeber für allgemeine Dinge, wie Berufsperspektiven oder private Probleme, wahrgenommen, obgleich man kaum älter ist als sie.
HI
318
Leutnantsbuch
Soldatenwallfahrt nach Lourdes
D
er Standortpfarrer hatte im Lebenskundlichen Unterricht davon gesprochen, dass Menschen verändert aus
Lourdes zurückkommen. Was hat er damit gemeint?
Neugierig geworden, habe ich mich für die Internationale
Soldatenwallfahrt nach Lourdes angemeldet.
Wir trafen uns an einem sonnigen Montagmorgen Ende Mai
am Kölner Hauptbahnhof. Hier wartete eine bunte Menge
aus Soldatinnen und Soldaten sowie zivilen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern aus der gesamten Bundeswehr. Unser Militärpfarrer begrüßte uns und wir bekamen erste Instruktionen.
Im Zug vernahmen wir eine Stimme aus dem Zuglautsprecher. Es war eine Durchsage des Militärischen Transportführers (MTF). Er gab präzise Anweisungen zum allgemeinen Verhalten während der Wallfahrt, zur Trageweise
der Uniform, Alkoholverbot usw. Dann meldete sich noch
der Pilgerleiter und lud zu einem gemeinsamen Gebet zu
Beginn der Wallfahrt ein. Der Einladung wurde nicht immer
gefolgt, weil wenige sich als gläubige Christen offenbaren
wollten. Kameradschaft und Geselligkeit waren kein Problem
– aber Stille im Gebet erzeugte Unbehagen.
Gegen Mittag des nächsten Tages fuhr der Zug im Bahnhof
Lourdes ein. Zunächst ging es in geschlossener Marschformation durch die Stadt hoch zum Zeltlager. Die gut drei
Kilometer Fußweg sollten mit einem Lied verkürzt werden.
Wir sollten das Halleluja nach Taizé singen. Das Vorhaben
wurde aber nach kläglichem Versuch schnell wieder aufgegeben.
Wir wurden in großen Zelten untergebracht und hatten Zeit,
uns mit den Lagereinrichtungen vertraut zu machen. Insgesamt war das Zeltlager sehr einfach ausgestattet. Dafür
gab es in der Stadt alles reichlich. Bevor wir das Zeltlager
aber verlassen durften, gab es eine Befehlsausgabe. Auch
319
Leutnantsbuch
gab es einen Tagesdienstplan mit Hinweisen an welchen
Veranstaltungen unser Sonderzug geschlossen teilnehmen
würde. Das waren zum Glück nur sehr wenige Veranstaltungen, so dass jeder sein eigenes Programm zusammenstellen konnte. Angebote gab es genügend. Fast 20.000
Soldatinnen und Soldaten aus mehr als 40 Nationen versammeln sich bei der jährlichen Internationalen Soldatenwallfahrt und eben so viele Zivilisten wollen sich dieses
Spektakel nicht entgehen lassen. Entsprechend bunt und gefüllt war die Stadt.
Zum gemeinsamen Eröffnungsgottesdienst wurde es zum
ersten Mal Ernst. Da traten eine Soldatin und ein Soldat nach
vorne und sie bekannten sich in wilder Ehe zu leben, ein
weiterer bekannte sich zur Homosexualität. Zuerst glaubte
ich an eine ungeheuerliche Störung des Gottesdienstes. Doch
durch den Hauptzelebranten wurden wir aufgefordert, uns
mit den Problemen unserer nächsten Kameraden auseinander
zu setzen und sich nicht zu verschließen bzw. nicht wegzuschauen.
Nach dem Gottesdienst gingen viele nachdenklicher geworden in die Stadt und vielfach wurde über das Erlebte
weitergesprochen.
Abends kam ich schnell mit anderen Kameraden ins Gespräch. Viele sagten, dass sie eigentlich wegen der abendlichen Feiern und der internationalen Begegnung nach
Lourdes gekommen sind. Als die Kameraden sich so unterhalten, sieht man so „ein Leuchten in ihren Augen“. Irgendetwas ist schon passiert an diesem Ort, wo der Legende nach
dem kleinen Mädchen Bernadette die Mutter Gottes erschienen war.
Am nächsten Morgen regnete es in Strömen und die gute
Laune vom Vorabend ist im Zeltlager auf einem
unterirdischen Tiefpunkt gerutscht. Gegen Mittag ging ich
hinunter in die Stadt. Die Cafés waren mit Soldaten gefüllt.
320
Leutnantsbuch
Viele Nationen hatten Musikkorps mitgebracht, die durch
die Stadt zogen und dort, wo der Jubel besonders groß war,
wurde spontan ein Platzkonzert gegeben.
Nur im Heiligen Bezirk fand man Ruhe vor dem Trubel.
Dort hatte Bernadette auf Geheiß der Mutter Gottes nach
einer Quelle des Lebens gesucht.
Man muss sich vorstellen, dass sich ein Rahmenprogramm
in fast beliebigen Sprachen täglich wiederholt. Alle wollen
einen Gottesdienst an der Grotte feiern, eine Lichterprozession organisieren usw. Jede Pilgergruppe kommt zu ihrem
Recht.
Ein Höhepunkt war die Ankunft der kranken Soldaten und
Soldatinnen der Bundeswehr. Gerne meldet man sich für den
Sonderdienst der Krankenbetreuung. Immer gibt es mehr
Freiwillige als zu Betreuende.
Anschließend fand ein gemeinsamer Kreuzweg mit dem
Militärbischof statt. Die Kameraden, die den beschwerlichen
und steinigen Weg bergan nicht gehen konnten, wurden auf
Tragen hinaufgetragen. An jeder Station wurden die Kranken
abgesetzt. Obwohl das Tragen sehr schmerzhaft war, mochte
niemand abgeben.
In der Stille der Nacht trafen sich Soldaten an der Grotte
zum Gebet. Man wird plötzlich und nachhaltig von diesem
Ort ergriffen. Diese besondere Erfahrung und das Erlebnis
bleiben mir unvergessen. Ich habe viele betrübte Soldaten
erlebt, die mit einem Lächeln im Gesicht weggegangen sind.
Auch die Augen der vielen Kranken waren voller Hoffnung
und leuchteten heller als die von manchem augenscheinlich
Gesunden.
Es gäbe noch soviel zu erzählen von diesem besonderen Ort.
Nach fast einer Woche in Lourdes, mit viel Nachdenklichem,
aber auch viel gelebter Kameradschaft mussten wir uns verabschieden.
321
Leutnantsbuch
Wir marschierten geschlossen zur Marienstatue im Heiligen
Bezirk, um Abschied zu nehmen. Und wieder sangen wir das
Halleluja von Taizé. Diesmal sangen alle mit.
Schließlich setzte sich der Zug durch die Nacht in Bewegung. Es war merkwürdig ruhig in den Abteilen. Was hatte
der Standortpfarrer gesagt. „Ihr kommt als anderer Mensch
zurück.“ Und es stimmt. Lourdes war und ist ein außergewöhnliches Erlebnis und für jeden eine sehr individuelle
Erfahrung – in jedem Fall aber eine Bereicherung.
322
Leutnantsbuch
Als Seelsorger in Afghanistan – Erfahrungen und
Einsichten aus einer anderen Welt *
„Es hat gut getan, Ihnen morgens beim Waschen zu
begegnen. Sie haben trotz Kälte und Dreck so viel
Optimismus ausgestrahlt. Das hat mir richtig Kraft für den
Tag gegeben“, so die freundliche Anerkennung eines
Oberstabsarztes mir gegenüber an seinem letzten Tag im
März 2002 im Camp Warehouse in Kabul. Zunächst freute
ich mich ganz einfach über dieses Lob. Dann aber wurde mir
auch deutlich: Dieser Dank enthält im Kern das Seelsorgekonzept der Einsatzbegleitung: Teilen der Lebensbedingungen als Seelsorge. Das ist ungewöhnlich. Ich habe
als Pfarrer bisher ganz unterschiedliche Formen von
seelsorgerlicher Betreuung kennen gelernt: Die Bedeutung
der Besuche im Gemeindepfarramt, das Ritual, wenn ich
Menschen in Übergangssituationen begleite, das Seelsorgegespräch in Konflikt- und Belastungssituationen.
Im Einsatz jedoch ist Seelsorge noch viel elementarer. Sie
besteht vor allem im Mitgehen mit den Soldaten und im
Erleben und Bewältigen der gleichen Lebensbedingungen.
Und schön – wie mein Beispiel zeigt -, wenn wir Pfarrer
dabei Optimismus und Humor ausstrahlen. Das klingt sehr
einfach. Doch als leicht habe ich diese an mich gestellte
Anforderung in Afghanistan nicht empfunden. Im Gegenteil.
Aber dennoch als spannend und facettenreich. Darüber will
ich in diesem Aufsatz erzählen.
Der Aufbruch
„Ich habe mich drei Mal zu Hause von meiner Frau und
meinen Kindern verabschiedet. Und dann stand ich abends
wieder vor der Tür. Das war das absolute Chaos. Ich bin
immer noch sauer. Aber was konnte ich dagegen tun?“
Diesen Kommentar über den Aufbruch in Deutschland im
323
Leutnantsbuch
Januar 2002 habe ich oft von den Soldaten der Luftlandebrigade gehört.
Tatsächlich war der erste Teil der Verlegung der ISAFSoldaten nach Afghanistan durch sich dauernd ändernde
politische Vorgaben gekennzeichnet. Der Abflug verzögerte
sich deshalb fortlaufend. Auch die Aufstellung der
Kontingente. Und das alles ereignete sich zeitgleich zu den
Weihnachtsvorbereitungen in den Familien. Mein katholischer Kollege und ich haben es ganz ähnlich erlebt. Die
innere Anspannung während des Christfestes 2001 werde ich
nicht so schnell vergessen.
Warum haben die wechselnden Lagen und unterschiedlichen
Einplanungen die Soldaten so erschöpft und verbittert? Ich
glaube zum einen, weil die Alarmierung mitten in die
Vorbereitungen des Weihnachtsfestes platzten. Wir alle
freuten uns auf unser familiäres Weihnachtsfest. Und auf
einmal schien es eher unwahrscheinlich, dass wir Weihnachten überhaupt noch zu Hause sein würden.
Zum anderen hatten Soldaten den Eindruck, vor ihren
Angehörigen und Freunden das Gesicht zu verlieren. Sie
hatten angekündigt, beim Afghanistaneinsatz dabei zu sein –
dann waren sie vielleicht auf einmal doch nicht mehr dabei.
Sie sollten im Dezember fliegen – auf einmal verzögerte sich
alles, und es würde vielleicht sogar Februar werden. „Bist du
immer noch da? Wir dachten, du bist schon weg?“, fragten
auch mich Freunde ein wenig schmunzelnd.
Inwiefern konnten wir als Seelsorger den Soldaten helfen?
Ich denke, es war für die Soldaten sicherlich zum einen
hilfreich, dass wir Pfarrer mit ihnen gemeinsam die
Ungewissheiten des Aufbruchs trugen. Ich erinnere mich an
den Tag nach Weihnachten, als wir zusammen auf gepackten
Seesäcken und Kampftragetaschen in einem Büro des
324
Leutnantsbuch
Stabsgebäudes saßen und der kommenden Dinge harrten.
Unserer inneren Unruhe haben wir durch Witzeleien Luft
gemacht. Das hat geholfen und natürlich wurde auch an
diesem Tag nichts aus dem Abflug.
Wichtig ist weiterhin, dass der Pfarrer das Geschick der
Soldaten als Zivilist teilt. Der Pfarrer steht außerhalb der
Hierarchie und ist vor allem Werten wie Gerechtigkeit und
Fürsorge verpflichtet. Damit ist er so etwas wie ein
Bremsschuh für mögliche Willkür und Ungerechtigkeit.
Ja, er ist – dritter Gesichtspunkt – in den Augen vieler so
etwas wie ein Repräsentant von Öffentlichkeit, ein Fenster
nach draußen, durch das in das System und in die inneren
Abläufe der Bundeswehr hineingeschaut werden kann. Das
begrenzt das Gefühl des Ausgeliefertseins, das sich beim
einzelnen Soldaten in Situationen wie der Alarmierungsphase für den Afghanistaneinsatz leicht einstellen kann.
Ankunft im Camp Warehouse in Kabul
„Ach, jetzt kommt unser Beistand, nun kann uns ja gar
nichts mehr passieren!“ So sind mein katholischer Kollege
und ich von einigen Soldaten begrüßt worden, nachdem wir
am 19. Januar 2002 im Camp Warehouse in Kabul eintrafen.
Die Fahrt vom Flughafen Bagram, wo wir landeten und von
den Kameraden in Empfang genommen wurden, bis nach
Kabul glich zuweilen einer Reise durch eine Mondlandschaft. Die Zerstörung aufgrund der jahrelangen Kämpfe
gerade in diesem Gebiet war allgegenwärtig und erzeugte
deprimierende Anblicke. Schließlich erreichten wir Kabul.
Die Menschen in Kabul staunten uns in den Bussen an. So
viele ausländische Soldaten hatten sie schon lange nicht
mehr gesehen. Wir überspielten unsere eigene Unsicherheit
325
Leutnantsbuch
durch freundliches Zulächeln. „Hoffentlich passiert hier
nichts!“, habe ich nur gedacht. Denn wir waren eingepfercht
in einen schrottreifen afghanischen Kleinbus und wären
im Falle von bewaffneten Übergriffen ziemlich wehrlos
gewesen. Das waren die Anfänge. Doch – wie schon angedeutet – schließlich erreichten wir unser Feldlager.
Die Bezeichnung „warehouse“ – auf deutsch „Lagerhaus“
passt, denn das Camp Warehouse ist der ehemalige Bauhof
von Kabul mit großen Werkstatt- und Lagerhallen und
einem mehrstöckigen Bürogebäude. Das Ganze ungefähr
zehn Kilometer außerhalb der Stadt an der Straße von Kabul
nach Jalalabad gelegen.
Allerdings haben die mehrjährigen selbstzerstörerischen
Kämpfe der Mudschaheddin gegeneinander auch diese
Einrichtung nicht unbeschadet gelassen. Im Gegenteil: Die
Hallen sind zum Teil vollständig zerschossen und eingefallen, das Gelände ist vollgestellt mit Baugeräteschrott
und in den Mauern des Stabsgebäudes gab es Mitte Januar
noch keinen Strom, kein Wasser, keine Scheiben vor den
Fenstern, keine Kanalisation.
Ein zuständiger Soldat empfing uns herzlich, wenngleich mit
einigen Frotzeleien und markigen Sätzen. Wahrscheinlich
wollte er uns auf diese Weise die Chance nehmen, allzu sehr
unserer Enttäuschung über den Zustand des Gebäudes und
über die abendliche Kälte in den Räumen nachzuhängen.
Auch waren bei weitem noch nicht so viele Zelte aufgebaut
wie erhofft. Die sehnsüchtig erwarteten Warmluftgeräte
fehlten natürlich auch. Alles war sehr karg. In der Nacht fiel
die Temperatur schließlich bis minus 20 Grad. Aber wir
hatten ja gute Schlafsäcke bekommen. Und nachdem ich
endlich einige Tabletten gegen meine Kopfschmerzen (wir
326
Leutnantsbuch
befanden uns auf einmal auf 1800 Meter Höhe!) geschluckt
hatte, bekam meine Zuversicht wieder die Oberhand.
Ich habe als Soldatenseelsorger eine ganze Zeit gebraucht,
bevor ich mich an diese gängige Bezeichnung „Beistand“
gewöhnt hatte. Es schien mir zu viel Ironie mitzuschwingen.
Irgendwann habe ich begriffen, dass von Seiten der Soldaten
viel Ehrlichkeit in dieser Bezeichnung enthalten ist. Oft
genug sehen Soldaten in uns den einzig verbliebenen
Beistand, der eine gehörige Portion Autorität und Vortragsrecht vor höheren Vorgesetzten hat. Von seelsorgerlicher
Betreuung in Konfliktsituationen ganz abgesehen. Ja und
dann ist mir irgendwann deutlich geworden, dass der Pfarrer
in den Augen der Soldaten tatsächlich so etwas wie die
„Nähe Gottes“ verkörpert. Für die Soldaten bedeutet deshalb
die Begleitung durch den Pfarrer, auch fern von daheim
nicht außerhalb der Fürsorge Gottes geraten zu sein. Diese
Gewissheit kann durchaus eine Hilfe sein, wenn Gefühle der
Fremdheit und Verlorenheit einen zu überwältigen drohen.
Der Raum der Militärseelsorge
„Befehlsfreie Zone“ – diese Bezeichnung hatten wir an den
Raum der Militärseelsorge im Stabsgebäude befestigt. Der
Raum lag im Parterre, nahe dem Treppenhaus. Wir waren
also stets im Blickfeld und leicht erreichbar. In den ersten
Wochen eines neuen Kontingents sind die Soldaten noch mit
dem Aufbau beschäftigt. Die Neuigkeitserfahrungen und die
viele Arbeit lassen das Bedürfnis nach intensiven
Einzelgesprächen eher in den Hintergrund treten. In der
Fallschirmjägertruppe wird ohnehin vieles Persönliche in der
engen und verbindlichen Gemeinschaft der Gruppen und
Trupps besprochen.
327
Leutnantsbuch
Wir sahen aber schnell die entscheidende Betreuungslücke
und machten aus unserem Raum eine erste Betreuungseinrichtung. Voraussetzung dafür waren die preiswerten
Teppiche, die uns ein afghanischer Mitarbeiter besorgte, und
die den Raum wohnlich machten. Mein Mitarbeiter in
Oldenburg schickte mir ein Heißluftgerät, das wir mithilfe
eines technisch versierten Mitbewohners tatsächlich an einen
Generator vor dem Haus anschließen konnten und das dafür
sorgte, dass es bei uns einige Grade wärmer war als im
restlichen Gebäude und erst recht draußen. Außerdem
versorgte uns mein Mitarbeiter mit Instantkaffee und
Keksen, die wir unseren Besuchern anboten.
Dieser Raum der Militärseelsorge wurde stark frequentiert,
oft von 8 Uhr morgens bis 23 Uhr nachts. Und von allen
Dienstgradgruppen. Da war der Dreisternegeneral und Befehlshaber Einsatzführungskommando, der einmal auf unsere
Einladung hin vorbeischaute, eine kleine Pioniergruppe war
regelmäßig Gast, um sich aufzuwärmen, der Chef des Stabes
machte mit einer Zigarette und einem Cappuccino bei uns
Pause, „Instler“ kamen und viele andere Soldaten aus allen
Dienstgradgruppen, um sich eine Auszeit zu nehmen, um
einmal kurz den Blicken ihrer Vorgesetzten zu entschwinden, um die Gemeinschaft zu genießen und sich
auszutauschen. Special guest war die Schriftstellerin Siba
Shabib („Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum
Weinen“), sie gab bei uns eine Autogrammstunde usw. usw.
Und wir? Wir mussten einfach da sein, gastfreundlich
einladen, Zeit haben und vor allem gut zuhören. Doch nicht
immer wurden wir Seelsorger gebraucht, zuweilen reichte
einfach schon der Raum. So werde ich nie vergessen, wie
einmal ein älterer Unteroffizier kam, um für sich zu sein und
zu weinen.
328
Leutnantsbuch
Patrouillenbegleitung
„Blackman soll seine Schulterklappen runternehmen!“ Die
Aufforderung kam per Funk aus dem Führungsfahrzeug vom
Leiter der Gruppe. Blackman war mein Spitzname bei
einigen Fallschirmjägern. Ich konnte die Aufforderungen des
Patrouillenführers, eines Oberfeldwebels, gut nachvollziehen
und hatte meine Schulterstücke schon selbst vorher abgenommen. Ich wollte unsere afghanischen Gesprächspartner
in dieser Anfangsphase nicht irritieren oder gar provozieren.
Damit hätte ich den Dienst unserer Einsatzsoldaten zusätzlich erschwert.
Ich begleitete eine abendliche Patrouille, die vom Camp
Warehouse in die Stadt Kabul in ihren Verantwortungsbereich fuhr. Freundlicherweise muteten die Soldaten mir
nicht wie sich selbst zu, auf der Ladefläche des Zweitonners
Platz zu nehmen, sondern ich durfte in der Führerkabine
mitfahren. Sie ahnten wohl, dass ich nicht die gleiche
körperliche Widerstandskraft gegen die Kälte, den eisigen
Wind und den Schnee haben würde.
In Kabul werden wir zuerst ein Polizeiquartier in unserer
Verantwortungsregion ansteuern, um zusätzlich afghanische
Polizisten aufzunehmen. So gestaltet sich die Auftragsdurchführung. Denn die ISAF-Soldaten (ISAF heißt: International Security Assistence Force, also Unterstützungstruppe) haben nicht die Verantwortung für die Situation in
Kabul, sondern unterstützen lediglich die einheimischen
Kräfte bei ihrem Bestreben, für Sicherheit zu sorgen. Diese
Patrouillen sind wirklich nicht ungefährlich. Die britischen
Fahrzeugkolonnen sind häufiger beschossen worden. Auch
die Sicherheitskräfte wirken nicht unbedingt zuverlässig.
329
Leutnantsbuch
Oberfeldwebel G. möchte auch vor diesem Hintergrund
ungern, dass ich als Pastor erkennbar bin. Er kann das
Verhalten seines afghanischen Partners noch nicht genau
einschätzen. Ja, am Anfang empfand er mich eher als
zusätzliche Belastung. „Jetzt muss ich auf Sie auch noch
aufpassen.“ Doch das änderte sich schnell. Seine
eingeschworene Gruppe, er und ich kamen uns schnell
näher. Er fand mein Interesse an seinem Dienst gut und
beteiligte mich deshalb an allen Gesprächen, die er führte.
Zum Beispiel mit den Polizeioffizieren. Einmal besuchte er
sogar den Gottesdienst. Ein Gegenbesuch bei Blackman
sozusagen. Ein paar Tage, bevor er nach Deutschland flog,
winkte mich der Oberfeldwebel in sein Zelt. „Ich habe etwas
für Sie!“ Er zog aus seiner Tasche ein ledernes Halsband mit
einem Stein. In den Stein war ein Kreuz eingeritzt. „Das
habe ich für Sie gemacht!“
Die Brüdergemeinde
Am Sonntagnachmittag fuhren mein katholischer Kollege
und ich immer zur Brüdergemeinde. Die Brüdergemeinde
bestand aus drei bzw. zwei Brüdern, die zur so genannten
„Christusträgerbruderschaft“ gehörten und die in Kabul zwei
ambulante Kliniken und ein Arbeitsbeschaffungsprojekt
betrieben. Bruder Tschak und Bruder Retho waren schon
über 30 Jahre in Kabul. Sie hatten selbst über die schlimme
Zeit der Mudschaheddinkämpfe, während der ein Großteil
Kabuls zerstört worden war, in der Stadt ausgehalten. Nur
während des Bombenkrieges der USA hatten sie kurzzeitig
ihre Wohnungen und Kliniken verlassen. Die Brüder
wohnten in der ehemaligen Residenz des DDR-Botschafters
im Diplomatenviertel Kabuls. Sie hatten das über viele Jahre
völlig unbewohnte Haus gerettet, als es nach Raketentreffern
drohte auszubrennen. Zu den Gottesdiensten, die wir am
Sonntagnachmittag mit den Brüdern, den kleinen
330
Leutnantsbuch
Schwestern Jesu in Kabul und vielen Mitarbeitern von
NGOs feierten, brachten wir auch immer Soldaten mit. Die
genossen es, das Lager einmal für einige Stunden verlassen
zu können, in einem richtigen Wohnzimmer zu sitzen und
sich mit Zivilisten über die Situation in Afghanistan
auszutauschen. An eine Situation erinnere ich mich noch
besonders. Fast eine ganze Stabsabteilung hatte sich für die
Fahrt zu den „Brüdern“ angemeldet.
Auf dem Gelände angekommen und uns per Funk in der
OPZ „abgemeldet“, stellte ich die Soldaten den Brüdern vor.
Doch kaum hatten sie die Veranda des Gebäudes betreten,
versanken die Soldaten ins Schweigen. Ich ahnte, was in
ihnen vorging. Sie blickten auf den Rasen, die Blumen, die
Sträucher. Sie genossen den Schatten und die kultivierte
Natur. Und auf einmal fiel der ganze Druck des Kabuler
Lagerlebens von ihnen ab. Die Enge im Camp, die
Anspannung aufgrund der Rivalitäten im Stab, die
Erschöpfung aufgrund der fast täglichen Sandstürme und der
brutalen Hitze (es war mittlerweile Sommer), die Sorgen um
das Zuhause. Und sie wurden ganz ruhig.
Und sammelten wieder Kraft.
Verteilen von Kinderschuhen
Die Kinderschuhe waren von unseren Angehörigen in
Deutschland gesammelt worden und die Luftlandeversorgungskompanie organisierte den Transport nach Kabul.
Wir selber fuhren dann mit den Schuhen zu Schulen, deren
Leiter vorinformiert worden waren. So wussten alle Bescheid, als wir mit unserem Geländewagen und Zweitonnern
auf den Schulhof vorfuhren. Der Schulleiter – oder die
Schulleiterin – kamen uns mit ihren Helfern schon entgegen
und begrüßten uns herzlich. Abgesehen von der Kernmannschaft beteiligten wir an diesen Aktionen immer wieder
331
Leutnantsbuch
neue Soldaten. Diese breiteten die Hunderten von Kinderschuhen dann auf Bänken auf dem Schulhof aus. Die
Kinder traten klassenweise an unsere Auslagen und suchten
sich unter unserer Beratung ein paar aus. Oder wir trugen sie
sackweise in Abschätzung der richtigen Schuhgröße für die
Altersstufe in die Klassen. Und dort wurden sie dann in
unserem Dabeisein und unter Aufsicht des Klassenlehrers
verteilt.
Ursprünglicher Anlass für diese Aktion war die Betroffenheit unserer Soldaten über die vielen Kinder in Kabul,
die trotz Kälte und Schnee auch im Januar keine oder nur
ganz unzulängliche Schuhe trugen. Diese Bedürftigkeit tat
uns sehr Leid. Der zweite Grund war: Wir wollten unsere
eigenen Ohnmachtsgefühle überwinden. Denn die frierenden
Kinder im Januar 2002 in Kabul waren ja nur die Spitze des
Eisbergs. Man darf nicht vergessen, wir waren in ein Land
gekommen, in dem seit über 20 Jahren Krieg herrschte.
Afghanistan war nicht nur zerstört, sondern zerfallen in die
Machtbereiche verschiedener Provinzfürsten, die häufig
genug untereinander verfeindet waren. Und manchmal
hatten wir den Eindruck, unser Engagement in Kabul ist
letztlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir haben
nicht die Möglichkeiten, ein Bedingungsgefüge zu schaffen,
unter dem die Menschen ihr Land und ihren Staat wieder
aufbauen können. Zu sehr hat der Krieg die Menschen
geprägt.
Natürlich sollte unsere Aktion nicht an die Stelle einer
nüchternen Bestandaufnahme treten. Aber sie konnte
Gedankenspiralen der Ohnmacht und Resignation unterbrechen. Und sie konnte uns das Gefühl geben: Wir können
etwas tun! Denn Afghanistan besteht nicht nur aus vom Krieg
und Terror traumatisierten Menschen, die passiv geworden
332
Leutnantsbuch
sind. Genauso warten in den Schulen zum Beispiel viele
Kinder, um endlich wieder etwas zu lernen. Und wir selber
sind nicht zum Scheitern verurteilt, sondern das in Kabul
Erreichte wird mit der Zeit auf das ganze Land ausstrahlen.
Veränderung ist möglich.
Ist diese Sichtweise naiv? Ich glaube nicht. Und ich sehe
auch keine Alternative zu dieser Hoffnung.
*) Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung des
Evangelischen Kirchenamtes für die Bundeswehr abgedruckt.
Der Autor, Militärpfarrer Jürgen Walter, hat diesen in dem Buch
„Für Ruhe in der Seele sorgen – Evangelische Militärpfarrer im
Auslandseinsatz der Bundeswehr; Hrsg. Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr, Bonn, 2003“ veröffentlicht.
333
Leutnantsbuch
Selbstverständnis des Heeres
Das Grundgesetz regelt die parlamentarische Kontrolle und
Kommandogewalt über die Bundeswehr. Es betont den Primat der Politik, der die militärische Führung der politischen
Führung unterordnet. Streitkräfte und Staat stehen in einem
besonderen Treueverhältnis. Das Selbstverständnis der Angehörigen des Heeres begründet sich in diesem Rahmen aus
der Verpflichtung, der Bundesrepublik Deutschland treu zu
dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes
tapfer zu verteidigen.
Die Merkmale des Selbstverständnisses des Heeres
•
Das Heer ist Kern der Landstreitkräfte und Träger der
Landoperationen im Rahmen von Einsätzen zum
Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger, bei internationaler Konfliktverhütung und Krisenbewältigung, bei der Unterstützung der Bündnispartner, bei Rettung, Evakuierung und sonstigen
Hilfeleistungen.
•
Das Heer muss weltweit in den unterschiedlichsten
geografischen, klimatischen und kulturellen Regionen
kämpfen, schützen, helfen und vermitteln können.
•
Das Heer setzt die Werte und Normen des Grundgesetzes durch Anwendung der Prinzipien der Inneren
Führung um und wendet zur Erfüllung seiner Aufgaben die Grundsätze der Auftragstaktik an.
•
Das Heer steht in der Tradition der Heeresreformer
um Gerhard von Scharnhorst, der Widerstands334
Leutnantsbuch
kämpfer des 20. Juli 1944 und seiner eigenen über
50-jährigen Geschichte, nicht zu vergessen, tugendhaftes Verhalten und herausragende Einzeltaten aus
unserer langen Militärgeschichte. Dies wird in seinen
Truppenteilen, seinen Truppengattungen und seinem
militärischen Brauchtum erlebbar.
•
Das Heer ist stets durch Vielfalt gekennzeichnet.
Diese Vielfalt spiegelt sich in den unterschiedlichen
Truppengattungen wider.
•
Das Heer steht nie allein, sondern es erfüllt seinen
Auftrag zusammen mit anderen Angehörigen der Bundeswehr und ihrer verbündeten Streitkräfte.
Die Leitsätze der Angehörigen des Heeres
Wir Soldatinnen und Soldaten des Heeres
•
dienen unserem Land treu und diszipliniert. Dafür
sind wir bereit, Opfer und Entbehrungen auf uns zu
nehmen und unser Leben einzusetzen;
•
sind stolz auf unser militärisches Können und bestrebt, uns ständig weiter zu entwickeln – Einsatzbereitschaft und Einsatzfähigkeit sind Richtschnur
unseres Handelns;
•
bestehen im Einsatz alleine oder im Team mit Tapferkeit, Mut, Kompetenz und Besonnenheit;
•
leben Toleranz und Kameradschaft, sind offen für
Neues und achten fremde Kulturen;
335
Leutnantsbuch
•
sind bescheiden, selbstkritisch und wollen Vorbild
sein. Wir bekennen uns zu unserer Tradition und zu
unserem militärischen Brauchtum.
336
Leutnantsbuch
Namenspatron des
79. Offizieranwärterjahrgang des Heeres
Dr. Ferdinand Maria von Senger und
Etterlin
Dr. Ferdinand Maria von Senger und
Etterlin wurde am 8. Juni 1923 in Tübingen als Sohn des
späteren Generals der Panzertruppe Fridolin von Senger und
Etterlin (1891–1963) und seiner Frau Hilda Margarethe,
Tochter des preußischen Generalleutnants Friedrich Wilhelm
von Kracht geboren. Er entstammte einer katholischen
Familie aus Oberfranken, die im 17. Jahrhundert in den
Reichsadelsstand erhoben wurde und sich im Südwesten
Deutschlands niederließ 1. Nach seinem Abitur an einem
humanistischen Gymnasium trat von Senger und Etterlin im
Oktober 1940 als Offizieranwärter beim Ersatztruppenteil
des Kavallerie-Regiments Nr. 3 in Göttingen ein 2. Nach der
Offizierausbildung wurde er als Leutnant und Schwadronführer in das Panzerregiment 24 unter Oberstleutnant von
Bassewitz versetzt, um an der Ostfront eingesetzt zu werden.
Im Herbst 1942 kämpfte die 24. Panzerdivision im Raum
Stalingrad, wo er schwerverwundet aus dem Kessel geflogen
wurde. Nach der Neuaufstellung der Division ging es im
Oktober 1943 erneut an die Ostfront. Als Regimentsadjutant
und Kompaniechef erlebte er die Rückzugskämpfe zum Bug
und die Abwehrschlacht zwischen San und Weichsel. Im
Spätsommer 1944 wurde er zum achten Mal verwundet
und verlor seinen rechten Arm. Ende 1944 wurde der mit
dem Deutschen Kreuz in Gold, dem Panzervernichtungs1
Deutsches Adelsarchiv (Hrsg.): Genealogisches Handbuch des
Adels. Adelige Häuser B XIV, Limburg/Lahn 1981, S. 482f.
2
Sein Vater war bis Ende 1939 Kommandeur dieses Regiments.
337
Leutnantsbuch
abzeichen und der Silbernen Nahkampfspange ausgezeichnete und frisch beförderte Rittmeister persönlicher Adjutant
des Inspekteurs der Panzertruppen, General Leo Frhr. Geyr
von Schweppenburg im OKH. Zusammen mit Teilen des
Stabes geriet von Senger und Etterlin kurzzeitig in amerikanische Kriegsgefangenschaft.
Bereits im Herbst 1945 konnte von Senger und Etterlin in
seiner alten Garnisonstadt Göttingen das Studium der
Rechtswissenschaften aufnehmen. Seine Studien setzte er bis
1948 zeitweise in Zürich und Oxford fort. Im März 1946
heiratete von Senger und Etterlin die ebenfalls 1923 geborene Ebba von Keudell. Anfang der 1950er Jahre absolvierte
er seine zweite juristische Staatsprüfung in Hannover und
wurde mit der Arbeit „Der Parteienstaat: Ein Vergleich
zwischen Weimarer Reichsverfassung und Bonner Grundgesetz“ promoviert. Danach schlug er die Beamtenlaufbahn
im neugeschaffenen Bundesamt für Verfassungschutz, das
dem Bundesinnenministerium unterstand, ein. Im März 1956
ließ er sich als Panzeroffizier reaktivieren. Über seinen
Vater, der sowohl in der Expertengruppe in Himmerod als
auch im Personalgutachterausschuss wirkte, war er bestens
über die neuen Streitkräfteplanungen informiert. Aufgrund
seiner guten Russischkenntnisse wurde er zuerst im Referat
„Grundsatzfragen des Militärischen Nachrichtenwesens und
Fremde Streitkräfte Ost“ als Hilfsreferent eingesetzt.
1959/60 nahm er am 3. Generalstabslehrgang teil und wurde
danach G3-Stabsoffizier für Ausbildung, Führung und
Organisation der Panzerlehrbrigade 9 in Munster. Ein
Schwerpunkt seiner Arbeit war die Erprobung des neuen
Kampfpanzers Leopard 1. Bevor er 1964 Kommandeur des
Panzerlehrbataillons 94 wurde, beschäftigte er sich in der
Studiengruppe des Heeres an der Führungsakademie mit
Fragen der Nukleartaktik und der Heeresplanung. 1967 absolvierte er einen Lehrgang am NATO-Defence-College in
338
Leutnantsbuch
Rom, um danach bis 1969 als G3-Stabsoffizier bei der
NORTHAG in Mönchengladbach verwendet zu werden. Im
Oktober 1969 wurde Oberst Dr. von Senger und Etterlin
dann Kommandeur der Panzerbrigade 20 in Hemer. Bereits
nach einem halben Jahr wurde er in den Führungsstab des
Heeres versetzt und als Brigadegeneral Leiter der Stabsabteilung VI (Heeresplanung). Im Frühjahr 1972 wurde er
als Generalmajor Befehlshaber des Wehrbereichs V in Stuttgart, um zwei Jahre später Kommandeur der 7. Panzerdivision in Unna und im April 1978 als Generalleutnant
Kommandierender General des I. Korps zu werden. Nach
eineinhalb Jahren in Münster wurde er Nachfolger von
General Franz-Joseph Schulze als Oberbefehlshaber der
Alliierten Streitkräfte Europa-Mitte (CINCENT) und General. Im September 1983 wurde er dann in den Ruhestand
verabschiedet. Bereits dreieinhalb Jahre später verstarb der
Vater von vier Kindern im 64. Lebensjahr. Zeit seines
Lebens schrieb der Panzerexperte Fachbücher, darunter die
Geschichte der 24. Panzerdivision, und zahlreiche Beiträge
für Fachzeitschriften. Er war einer der erfolgreichsten
Militärschriftsteller unter den Generalen der Bundeswehr.
General a.D. Dr. von Senger und Etterlin erwarb sich große
Verdienste bei der Aufstellung und Weiterentwicklung des
Heeres, hier vor allem der gepanzerten Truppen, bei der
operativen Planung zur Verteidigung Westeuropas und als
international anerkannter Panzerexperte. Er galt als hochbefähigter, ideenreicher und schwungvoller Truppenführer.
339
Leutnantsbuch
Wo finde ich mehr
Die grundlegenden Dokumente für den Dienst in der
Bundeswehr müssen von jedem Offizieranwärter gekannt
werden. Dazu zählen vor allem das „Weißbuch 2006 zur
Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der
Bundeswehr“ sowie die Zentrale Dienstvorschrift 10/1 (vom
28.1.2008) „Innere Führung“.
Das Weißbuch erläutert die Sicherheitspolitik Deutschlands
in ihren strategischen Rahmenbedingungen und in ihren
Werten, Interessen und Zielen.
Die ZDv 10/1 legt die Konzeption der Inneren Führung fest.
Als grundlegende Vorschrift für den Dienst in der
Bundeswehr bietet sie eine werteorientierte und praxisnahe
Anleitung für erfolgreiches Führen.
Die Vorschriftenstellen, Truppen- und Stabsbüchereien
sowie die Bibliotheken an den Bildungseinrichtungen der
Bundeswehr führen oft sehr reichhaltige Bestände an
Fachliteratur, nicht nur zu militärspezifischen Themen.
Informieren Sie sich auch über deren Neuanschaffungen.
Die folgenden Empfehlungen zum Weiterlesen sind nach
einigen zentralen Themenbereichen geordnet, die in enger
Beziehung zu wesentlichen Aussagen dieses Buches stehen.
Dabei wurden aus der Fülle der vorhandenen Literatur nur
Buchtitel zur Vertiefung der Thematik ausgewählt, die als
Standardwerke gelten, sich einer guten Lesbarkeit erfreuen
und im Regelfall erschwinglich sind. Einige Titel sind leider
nur noch über Bibliotheksausleihe oder antiquarisch
erhältlich. Lassen Sie sich von den genannten Büchern
ansprechen. Sie bilden eine wertvolle, kleine Handbibliothek
für die Stunden der Bildung und Betrachtung.
340
Leutnantsbuch
Philosophie
Kunzmann, P./Burkard, F.-P./Wiedmann, F./Weiß, A.:
dtv-Atlas zur Philosophie.
Schischkoff, G. (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch.
Weischedel, W.: Die philosophische Hintertreppe. Die
großen Philosophen in Alltag und Denken.
Ethik und Lebensführung
De officio. Zu den ethischen Herausforderungen des
Offizierberufs. (Hrsg. im Auftrag des Evangelischen
Militärbischofs vom Evangelischen Kirchenamt für die
Bundeswehr).
Knigge, A. Freiherr von: Über den Umgang mit Menschen.
Pieper, J.: Das Viergespann. Klugheit, Gerechtigkeit,
Tapferkeit, Maß.
Innere Führung
Reeb, H.-J./Többicke: Lexikon Innere Führung.
Hartmann, U.: Innere Führung. Erfolge und Defizite der
Führungsphilosophie für die Bundeswehr.
Schlaffer, R./Schmidt, W. (Hrsg.): Wolf Graf von
Baudissin 1907 – 1993. Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung.
341
Leutnantsbuch
Führungskompetenz
Oetting, D. W.: Auftragstaktik.
Oetting, D. W.: Motivation und Gefechtswert. Vom Verhalten des Soldaten im Kriege.
Spannagel, P.: Von Friedrich II zu Graf Wolf von
Baudissin: Betrachtungen der Leitbilder deutscher Offiziere und Ausbilder.
Sicherheitspolitik
Bundesakademie für Sicherheitspolitik (Hrsg.): Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen. Kompendium zum
erweiterten Sicherheitsbegriff.
Meyer, E.-Ch./Nelte, K.-M./Schäfer, H.-U.: Wörterbuch
zur Sicherheitspolitik. Deutschland in einem veränderten
internationalen Umfeld.
Münkler, H.: Wandel des Krieges. Von der Symmetrie
zur Asymmetrie.
Tradition und militärisches Brauchtum
de Libero, L.: Tradition in Zeiten der Transformation.
Zum Traditionsverständnis der Bundeswehr im frühen
21. Jahrhundert.
Militärgeschichtliches Forschungsamt (MGFA, Hrsg.):
Symbole und Zeremoniell in deutschen Streitkräften
vom 18. bis zum 20. Jahrhundert.
342
Leutnantsbuch
Transfeldt, W., Stein, H.-P. (Hrsg.): Wort und Brauch in
Heer und Flotte.
Militärgeschichte
Keegan, J.: Das Gesicht des Krieges.
Schieder, Th.: Friedrich der Große.
Uhle-Wettler, F.: Höhepunkte und Wendepunkte der
deutschen Militärgeschichte.
Frieser, K.-H.: Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug
1940.
Widerstand
Steinbach, P./Tuchel, J.: Lexikon des Widerstandes
1933–1945.
Lill, R./Oberreuter, H. (Hrsg.): 20. Juli. Porträts des Widerstands.
Militärgeschichtliches Forschungsamt (MGFA, Hrsg.):
Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand
gegen Hitler und das NS-Regime.
Kriegsbriefe und Tagebücher
Witkop, P. (Hrsg.): Kriegsbriefe gefallener Studenten.
Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden. Mit einem
Geleitwort von Franz Josef Strauß.
343
Leutnantsbuch
„Ich will raus aus diesem Wahnsinn“. Deutsche Briefe
von der Ostfront 1941–1945. Aus sowjetischen Archiven. Mit einem Vorwort von Willy Brandt.
Hammer, I./zur Nieden, S. (Hrsg.) Sehr selten habe ich
geweint. Briefe und Tagebücher aus dem Zweiten
Weltkrieg von Menschen aus Berlin.
Klepper, J.: Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den
Tagebüchern der Jahre 1932–1942.
Klemperer, V.: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten.
Tagebücher 1933–1945.
Weitere Klassiker zur Militär- und Kriegsgeschichte
Roth, J.: Radetzkymarsch.
Lernet-Holenia, A.: Die Standarte.
Hasek, J.: Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk.
Renn, L.: Adel im Untergang.
Renn, L.: Krieg/Nachkrieg.
Köppen, E.: Heeresbericht.
Remarque, E.M.: Im Westen nichts Neues.
Jünger, E.: Das gesamte Frühwerk.
Flex, Walter: Der Wanderer zwischen beiden Welten.
Ein Kriegserlebnis.
Ranke-Graves, R. von: Strich drunter.
Lawrence, T.E.: Unter dem Prägestock.
Unruh, K.: Langemarck. Legende und Wirklichkeit.
Eksteins, M.: Tanz über Gräben. Die Geburt der
Moderne und der Erste Weltkrieg.
Tuchman, B.: August 1914.
Bamm, P.: Die unsichtbare Flagge.
Plievier, Th.: Stalingrad.
344
Leutnantsbuch
Glossar
Kategorisierung der Beiträge Leutnantsbuch
1. Menschenführung
2. Politische Bildung
3. Dienstgestaltung und Ausbildung
4. Informationsarbeit
5. Organisation und Personalführung
6. Fürsorge und Betreuung
7. Vereinbarkeit von Familie und Dienst
8. Seelsorge und Religionsausübung
9. Tod und Verwundung
10. Auftreten des Offiziers
zusätzlich wird zwischen Grundbetrieb (GB) und Einsatz (E) unterschieden.
Beitrag:
Kategorie:
Der Bierdeckel
Das Zeitspiel
Der erste Marsch
Der Hinterhalt
Der Grünschnabel und
der Alte
Das Grab
Beförderungsappell
zum Gefreiten
1,3,5
3,5
1
1,9
X
X
X
1,5,10
9
X
X
1,5
X
1,3
1,5,10
X
X
Nicht nur der erste
Eindruck zählt
Der neue Leutnant
345
GB:
E:
X
Leutnantsbuch
Beitrag:
Kategorie:
Ein schöner Tag!
Die Ehefrau
Hochzeit in Hessen
Der Lebensabschnitt
Der Pizza Falter
Die Feldjägerkontrolle
Ein Auftrag zuviel
5,10
X
6,7
1,6,7
4
10
1,10
1,6
X
X
X
X
X
Der Feuerkampf
Das Funkloch
Kameradschaft
Die Todesnachricht
1,2,3
1,5
1,6
1,6,9
Die etwas andere
Patrouille
Jointness
Der Brief
Glauben hilft
Friendly Fire
Die Truppenpsychologin
Im Moor
Blauhelme in
Sarajevo
Mein Spieß
Einsatz im OMLT AFG
Medien im Einsatz
Der kühle Kopf
2,4
4,5
6,7
8
1,8,9
1,6,8
1,5,10
GB:
E:
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
1,3,10
1
X
X
1,3,5
3,4
1,6,10
X
X
X
346
Leutnantsbuch
Beitrag:
Kategorie:
Führen von irgendwo
Haar- und Barterlass,
Piercing und Tatoos
Die Besprechung
Die Lehrprobe
Beim Handgranatenwerfen
Der letzte Flug
Die Grußpflicht
Auf der
Standortschießanlage
Fremde Kulturen
Soldaten muslimischen
Glaubens in der Bw
Feuerlöscheinsatz in
Griechenland
Der militärische Gruß
Das Offizierkasino
Das
Einführungsgespräch
Der „Robuste Soldat“
Der Suizid
Die Gneisenaukaserne
.... lieber spät als nie!
Der Anschlag
Team „Hotel“
Der
Hochwassereinsatz
„Dat hann isch
verjess ...“
10
X
1,10
3
1,3
X
X
X
1,10
7,9
1
X
1,10
2,4,10
X
6,8
X
1,10
4,6
X
X
1
3
6,9
2,3
10
1,6,7,9,10
1,10
X
X
X
X
X
10
X
3
X
347
GB:
E:
X
X
X
X
X
Leutnantsbuch
Beitrag:
Kategorie:
Der Nijmegen-Marsch
Auslandsstudium USA
„Regen“
Die Veteranen
Das Dilemma
Der Hindernisparcours
Menschenführung im
Einsatz
Multinationalität bei
SFOR
Der geeignete
Zeitpunkt
für Kritik
Die Kurzeinweisung
Diagnose Krebs
Das offene Ohr
Die Gruppe in der
AGA
Soldatenwallfahrt nach
Lourdes
Als Seelsorger in
Afghanistan
1
2,3
5,6
2,4
2,4,10
1
GB:
E:
X
X
X
X
X
X
1,3,6,7,9,10
X
2,3,4
X
1
3
9
1,6
X
X
X
X
1,6
X
8
X
8
X
348
Leutnantsbuch
Notizen
Auf den folgenden Seiten können Sie Ihre eigenen Auffassungen zu Ihrem beruflichen Selbstverständnis als Offizier
des deutschen Heeres oder Anmerkungen zu Ihrem persönlichen Werdegang niederschreiben.
349
Leutnantsbuch
350
Leutnantsbuch
351
Leutnantsbuch
352
Leutnantsbuch
353