Materialien zu Musils "Törleß"
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Materialien zu Musils "Törleß"
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß nach Robert Musil Begleitmaterialien Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Theaterfassung nach dem Roman von Robert Musil Es spielen: Törleß Marco Leibnitz Basini Nils Amadeus Lange Beineberg Reiting Mirco Monshausen Andreas Potulski Božena Gabriella Weber Regie, Bühne und Kostüme: Albrecht Hirche Dramaturgie: Regieassistenz: Sven Schlötcke Sandra Reitmayer Licht: Jochen Jahncke Ausstattungsassistenz: Sandra Kruse Requisite: Maske: Sarah Kornettka Hildegard Winter Gewand: Katharina Lautsch Musiken von Bohren und der Club of Gore, Rammstein, Bat for Lashes, Mary and the boy Video von United off productions “Transsibirische Eisenbahn” Premiere: 15. Januar 2009 Spieldauer ca. 105 Minuten Kontakt und theaterpädagogische Begleitung: Bernhard Deutsch / Nina Hofmann Theater an der Ruhr, Akazienallee 61, 45478 Mülheim an der Ruhr 0208/ 599 01 47; Mail: [email protected] 0208/ 599 01 34 ; Mail: [email protected] 2 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß INHALT 1. VORBEMERKUNGEN.......................................................................................................... 4 2. DER STOFF ......................................................................................................................... 5 3. 4. 5. 2.1. 2.2. Die Geschichte............................................................................................................. 5 Die Hintergründe .......................................................................................................... 7 2.3. 2.4. Törleß’ Verwirrungen ................................................................................................. 10 Törleß und Kant ......................................................................................................... 11 2.5. Der kernlose Mensch ................................................................................................. 14 2.6. 2.7. Thema: Sprachskepsis und Erkenntnis ..................................................................... 15 Macht. Sex. Gewalt .................................................................................................... 15 2.8. Die Inszenierung ........................................................................................................ 17 Anregungen für den Unterricht ........................................................................................... 20 3.1. 3.2. Vorbereitung des Theaterbesuchs............................................................................. 20 Thema: Rezeption und Aktualität............................................................................... 21 3.3. Vorschlag für ein Fächerübergreifendes Projekt: Philosophie/Deutsch .................... 21 3.4. Vorschlag für die Auseinandersetzung mit dem Thema Mode.................................. 22 Anhang – Materialien zur Inszenierung .............................................................................. 24 4.1. 4.2. Die Figuren und die Eigenart jugendlichen Denkens................................................. 24 Zu den Kostümen....................................................................................................... 29 4.3. 4.4. Das Drama - der Roman und die Bühne ................................................................... 33 Die Anstalt - Kurt Tucholsky....................................................................................... 36 Quellen, Literaturhinweise und Links.................................................................................. 39 5.1. 5.2. Sekundärliteratur........................................................................................................ 39 Filme .......................................................................................................................... 39 5.3. Internet Links.............................................................................................................. 40 3 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 1. VORBEMERKUNGEN „Der Junge Törleß, ein Janusgesichtiges, von verwegenen Erfahrungen und tollkühnen Gedankenaufschwüngen gezeichnetes ICH: Er ist für mich der erste moderne Mensch in der deutschen Literatur: dem Hofmannsthalschen Lord Chandos oder dem Rilkischen Malte Laurids Brigge oder Thomas Manns Hanno Buddenbrook um ein halbes Jahrhundert voraus.“ Walter Jens „Sadistische Spiele auf dem Dachboden“ Törleß, der empfindsame Jüngling, der sich in Selbstbeobachtungen zwischen Schein und Sein verliert, der distanzierte Grübler, der unversehens vom beobachtenden Mitläufer zum Täter wird, dieser „Outcast im Zeichen des Terrors“, wie Walter Jens ihn nennt, ist in der Literatur des 20. Jahrhunderts zum literarischen Topos geworden. Robert Musil beschreibt die Verwirrungen der Identitätssuche während der Pubertät als Reise in die Abgründe menschlichen Daseins und weist damit weit über das Thema des Erwachsenwerdens hinaus. Auch mehr als hundert Jahre nach dem Erscheinen des Romans sind seine Themen hoch aktuell: Es wird das Bild einer Jugend entworfen, die zwischen Kälte und Romantik, Rationalität und Rausch, Realität und Virtualität chargiert. „Denn die erste Leidenschaft des erwachsenen Menschen ist nicht die Liebe zu der einen, sondern Hass gegen alle. Das sich unverstanden Fühlen und das die Welt nicht verstehen, begleitet nicht die erste Leidenschaft, sondern ist ihre einzige nicht zufällige Ursache.“ (aus D.V.d.Z.T. von Robert Musil) Nicht die äußere Handlung, die Geschichte der Internatsschüler, die einen Mitschüler physisch und psychisch foltern, die Experimente um Macht und Selbsterkenntnis, stehen im Zentrum des Romans und der Aufführung, sondern der Bewusstwerdungsprozess der Jugendlichen zwischen bürgerlicher Weltwahrnehmung und dunklen Erfahrungen, zwischen Schein und Sein, Wirklichkeit und Traum. Die Empfindung einer anderen Wirklichkeit, die sich von der empirischen Welt unterscheidet, einer dunklen, geheimnisvollen Welt voller Abgründe, zieht auch das Bild vom eigenen ICH in Zweifel. Der verstörende Prozess der geistig-sinnlichen Bewusstwerdung der Heranwachsenden, stellt die sicher geglaubte bürgerliche Welt in Frage. Macht und Ohnmacht, Sexualität und Grausamkeit, Metaphysik und Vernunft werden zu Gegenständen, Auslösern und Instrumenten der Selbsterkenntnis. Die Bühne wird dabei zum Laufsteg fiebriger Selbstbehauptung. Die Themen des Romans und der Theaterfassung des Theater an der Ruhr lassen sich nicht nur im Deutschunterricht, sondern auch in Philosophie oder Geschichte gleichermaßen gut behandeln. Falls Sie Fragen zum Material oder zur Inszenierung haben oder uns Ihre Erfahrungen beim Vorstellungsbesuch, Ihre Kritik oder auch Ihr Lob mitteilen möchten, freuen wir uns auf Ihre Rückmeldungen. Sven Schlötcke Dramaturg und Künstlerischer Leiter 4 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 2. DER STOFF 2.1. Die Geschichte „Törleß“ ist die Geschichte einer Bewusstwerdung. Das Erkennen, Hinzulernen, Erfahrung machen wird zum größten Lebensreiz. Die Titelfigur wird sich der Existenz einer „zweiten Wirklichkeit“, wie Musil es nennt, bewusst. Diese Bewusstwerdung über ein inneres und ein äußeres Selbst, über die eigene Doppelgesichtigkeit, die generelle Dualität aller Erscheinungen - der Menschen, der Dinge, der Ereignisse - stürzt das sich entwickelnde ICH in eine tiefe Krise und bildet das thematische Zentrum des Romans. Formal manifestiert sich das Thema der Zweigesichtigkeit, indem der Autor der äußeren eine innere Handlung zur Seite stellt. 2.1.1. Die äußere Handlung: Eine Internatsgeschichte Eine höhere Bildungsanstalt in der Provinz. Dumpfe Gleichförmigkeit bestimmt die Tage – hoch bezahlter Drill ohne Esprit. Die Zöglinge – zumeist Kinder des gehobenen Bürgertum -sollen von den Anfechtungen der Städte fern gehalten werden. Die Enge und Abgeschiedenheit der Kadettenanstalt machen den Ort aber zu einem Treibhaus der Empfindungen: Die sexuelle Dämmerung wird aufgeheizt von den Schlafsaalheimlichkeiten der männlichen Gleichaltrigen, der trockenen Ahnungslosigkeit der Lehrer, die scheinbar nie hinter die Fassade der Vernunft geblickt haben oder nicht mehr blicken wollen und vom Gefühl der Abgeschiedenheit. Die den Ort streifende Bahnstrecke kündet sehnsüchtig von Ferne und verstärkt so dieses Gefühl noch. Draußen nur Felder, Kühe, Bauern und die Bauernmädchen und Bozena, das Weib, die Hure... Die einzig aufregende Erfahrungsmöglichkeit für die Schüler Basini, Törleß, Reiting und Beineberg. In dieser Atmosphäre entlarvt Reiting, der Anführer der Klasse, einen der Mitschüler als Dieb. Nur drei wissen um das Geheimnis: Der „charmante Sadist“ Reiting, der „Mystagoge und elegante Folterer“ Beineberg, der „irritierte Schattenleser und Registrator“ Törleß. Statt den Täter zu melden, was Törleß zunächst fordert, experimentieren die drei mit dem ihnen Ausgelieferten. Die Motive sind unterschiedlich, – Lust an der Erfahrung der Macht, Selbsterkenntnis, sexuelle Erfahrungen... – führen aber zur gleichen Methode: Psychische und physische Gewalt. Basini ist der Dieb, der Täter, der zum hilflosen Opfer wird. Ein Opfer allerdings, das die sadistischen Spiele verzweifelt zu genießen beginnt. Nachdem die drei ihre Positionskämpfe um Basini ausgetragen haben – der intrigante Reiting hintergeht Beineberg und Törleß - und das alte Gleichgewicht der Macht wieder hergestellt ist, werden die Experimente auf die Spitze getrieben: Beineberg scheitert frustriert mit dem experimentellen Nachweis seiner eurasischen Mystik durch Hypnose, Reitings sadistische Lust erlahmt und Törleß hat seine Vivisektion/Zergliederung auf der Suche nach der Seele schaudernd ausgekostet. Basini taugt nicht mehr zum Gegenstand und wird der Klasse - der Masse - ausgeliefert, die ihn johlend bis aufs Blut hetzt. 5 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Törleß verhindert, indem er die Schulleitung informiert, weitere Quälereien an Basini. Der aus bürgerlichem, sozial schwächerem Umfeld stammende Basini wird der Schule verwiesen. Seine Zukunft ist zerstört. Törleß kehrt, an Erfahrungen und Selbsterkenntnis reich, zu seinen Eltern zurück und das Leben liegt vor ihm. 2.1.2. Die innere „Handlung“: Eine fiebrige, reflexive Bewusstwerdung „Musil selbst hat die Gestaltung eines Denkprozesses vom sinnlichen Erleben über Erfassen, Verarbeiten bis zur Bewusstwerdung für das wesentliche Thema des Törleß-Romans und eines der Hauptthemen seines Gesamtwerkes gehalten.“ Renate Schröder-Werle Die innere „Handlung“ vollzieht sich im Roman wesentlich auf der Ebene des Erzählers. Die Deutung des Denkens und Fühlens der Törleß-Figur vollzieht sich, rück- oder vorausblickend, entweder aus einer distanzierten Erzählergegenwart oder als personale Erzählung (vom Erzähler beschriebene innere Monologe der Törleß-Figur), die die inneren Vorgänge direkt wiedergeben. In dieser Darstellung des „Seelenfiebers“ der Bewusstwerdung verschränken sich Traum und Wirklichkeit, Gefühl und Vernunft zu einem undurchdringlichen Dickicht aus dem die verwirrenden Doppelgesichter der Erscheinungen auftauchen. Sicher geglaubte Realitäten stellen sich als trügerisch heraus. Die bürgerliche, äußere Welt entlarvt sich als Trugbild eingerahmt von Behauptungen. Das Unvermögen, die Empfindungen, Gefühle und sinnlichen Erfahrungen mit den Mitteln der Sprache und der Vernunft zu veranschaulichen, verwirrt Törleß zunehmend. Die Erfahrung des „unterirdischen Eigentlichen“, des Unsagbaren, ist die zentrale Problematik des Romans, die in der tastenden, symbolisch aufgeladenen Sprache der inneren Handlung ihren Ausdruck findet. „Nach Inhelder und Piaget, lässt sich die Eigenart jugendlichen Denkens auf die kurze Formel bringen, dass über das Denken nachgedacht wird und dass wirkliche Ereignisse auf dem Hintergrund von möglichen Ereignissen gesehen werden. Diese formalen Qualitäten, nämlich Reflexivität und die Neigung, vom konkreten Fall ausgehend nach abstrakten Beziehungen zu fragen, haben eine Vielzahl qualitativer Veränderungen der Erlebnisinhalte im Gefolge.(...)Im Mittelpunkt dieser Zuwendung zum Binnenseelischen steht die Entdeckung des ICH... Entdeckung des ICH meint auf diesem Hintergrund, vom Faktischen zum Möglichen überzugehen.“ Otto Ewert, Entwicklungspsychologie des Jugendalters [1983] Die nächtlichen Ereignisse um Basini treiben Törleß Bewusstwerdung der abgründigen, unaussprechlichen Vieldeutigkeit von Dingen, Menschen und Ereignissen weiter an. Der Moment der sexuellen Dämmerung fällt mit der Suche nach dem ICH und den Experimenten mit Basini zusammen. Wer bin ich wirklich? Wie könnte, wie will ich sein? Ist eine Frage nach den eigenen Möglichkeiten. Im Anderen – Basini, aber auch Reiting und Beineberg – sieht Törleß immer auch das Fremde, dessen Innenleben er nicht kennt. Seine Versuche, die anderen zu erkennen, sind Versuche sich selbst zu erkennen: Das ICH. Die Erkenntnis reift, dass es eine eindeutige Wirklichkeit, auf die sich das ICH beziehen lässt, nicht gibt. Stattdessen scheinen die eigenen Empfindungen und die Überformung des Wahrgenommenen durch Sprache die „Wirklichkeit“ erst zu konstituieren. Dieser Gedanke führt ins „bodenlose“. Robert Musil schrieb zur Figur Törleß in seinen Tagebüchern, dass dieser das „Unbegreifliche, Ahnungsvolle, nur ungefähr vorstellbare, wo es auftritt überall begreiflich zu machen, genetisch, psychologisch.“ 6 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Der Zusammenfall des sexuellen Erwachens und der fiebrigen Suche nach dem ICH setzt unwillkürlich und mit ungeheurer Wucht Affekte frei - Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Liebe, Hass, Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid - die zu einer Quelle der Grausamkeit werden. Das Ausschreiten der eigenen Möglichkeiten durch das Ausüben von Macht verliert im Affekt jedes Maß. Der eigene Seelenterror wird dabei zum Terror über andere. Törleß hat das Dunkel gesehen: An sich und den Anderen. „Er wusste nun zwischen Tag und Nacht zu scheiden;..“ Am Ende kann er mit dem Bewusstsein, beide Welten, die „helle“ vernünftige und die „dunkle“ Welt der Empfindungen dahinter, ihren verwirrenden Realismus, überwinden: Er weiß nun, dass es immer zwei Möglichkeiten gibt, die Welt zu betrachten. 2.2. Die Hintergründe Robert Musil begann die Vorarbeit an seinem Erstlingsroman 1902 und schloss das Manuskript 1905 ab. Erst mit Unterstützung des ihm zugeneigten Kritikerfürsten Alfred Kerr gelang 1906 die Veröffentlichung. 2.2.1. Autobiografische Hintergründe Vieles deutet darauf hin, dass Musil sehr stark autobiografische Elemente in D.V.d.Z.T. verarbeitet hat, auch wenn er selbst diesen Umstand immer wieder abzuschwächen versuchte. »Nach Absolvierung der Militär-Oberrealschule in Mährisch-Weißkirchen bezog Musil am 1. September 1897 die Technische Militärakademie in Wien. Dort interessierte ihn im artilleristischen Fache die Ballistik. [...] Aber im Grunde seines Herzens war er jetzt so weit, zu erkennen, daß für ihn das Militär, wo man außer Weibern und Pferden keinen Gesprächsstoff und keine Geistigkeit kannte, nicht die Erfüllung seines Lebenszieles bedeuten konnte.« Karl Dinklage: Musils Herkunft und Lebensgeschichte. In: Robert Musil. Leben, Werk, Wirkung. Hrsg. von K. D. Zürich/Wien: Amalthea-Verlag, 1960. S. 209. Die eigenen Erfahrungen in der Kadettenanstalt in Weißkirchen haben Robert Musil als Vorlage für die Grundsituation des „Törleß“ gedient. Wie nah Musil seinen Figuren, insbesondere der Törleß-Figur, war, lässt sich aus seinen „Aufzeichnungen eines Schriftstellers“ (um 1940/41) ermessen: »Die Anlage tendiert nach verschiedenen Richtungen. Wie der Vogel im Ei. Man drückt Gemütslagen aus. Jugendliche Melancholie. Paraphrasen. Vorpubertätsu. Pubertätseinfälle. Die Erfindungen, die Form kommen von außen, von dem, was gerade da ist. Der Typus des Zusammenwirkens ist der des >Primanerdramas<. Durchaus kein Realismus. Die Realität wird nicht beachtet. Reale Vorstellungen fehlen völlig. Man ist ein interessantes Objekt, ohne es zu bemerken; man könnte das interessanteste Buch über sich schreiben u. weiß nichts davon; möchte es auch verschmähen. (Man hat keine Distanz zu sich, d. h. keinen Point de vue [frz., Gesichtspunkt] außerhalb der aktuellen Gefühle. Man hat keine Beobachtung, weil man gar nicht weiß, was mit der Beobachtung anfangen.) (In der Philosophie spricht man von einer Stufe der Objektivierung, der Spaltung in Subjekt u. Objekt) Dieser Spaltungsvorgang, die Selbstbeobachtung, wird etwas später besonders lebendig. Mr. le vivisecteur. [frz., Vivisektion: Zergliederungskunst] Bei mir kam es überdies auch von der Zeitmode. A la Nietzsche: ein Psychologe. In summa kommt da etwas von außen. Die >Moderne< kam.« »Das Fehlen der Realität war immer noch quälend. Trotzdem instinktiv sichere Ablehnung des Realismus, der damals ein so nahes Vorbild war. [...] Plötzlich der Törleß. Die Seltsamkeit der Themenwahl. Das unterirdische Eigentliche [...]. Bis daher ist alles Entwicklung einer Anlage. Keine Besinnung auf die Aufgabe.« Robert Musil Tagebücher 7 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Die biografischen Bezüge des Ortes und der Figuren des Romans lassen sich konkret nachweisen. So beschreibt Karl Corino die Vorbilder für die Figuren Beineberg, Basini und Reiting, denen Musil im Internat in Mährisch-Weißkirchen tatsächlich begegnet ist: »In Mezzolombardo/Tirol, am 8. November 1878, wurde Jarto Reising von Reisinger geboren, Sohn eines Privatiers. Nach zwei Realschulklassen in Graz, zwei Klassen in Eisenstadt (der dritten und vierten) ist Reising: auch in Weißkirchen 3 Jahre lang Schulkamerad Musils. Sein Vater stirbt angeblich frühzeitig, seine Mutter Maria lebt in Wien wie sein Vormund, Dr. Anton Pergelt. Reising war Allerhöchster Privat-Stiftling, das Kostgeld für ihn wurde vom >Allerhöchsten Privat- und Familienhaus< bezahlt. Reifings Behauptungen, >daß sein Vater eine merkwürdig unstete, später verschollene Person gewesen sei. Sein Name sollte überhaupt nur ein Inkognito für den eines sehr hohen Geschlechtes sein<, erscheinen demnach gar nicht so absurd.[...] Laut Klassenbuch ist er kräftig entwickelt, vor der Ausmusterung 1,79 m groß, hat eine skrofulöse Anlage, die sich erst 1896/97 bessert. Seine Klassenplätze schwanken zwischen dem 7. und dem 22., er gilt als ernst, ehrliebend (was ein Euphemismus für ehrgeizig ist: dieses Attribut bekommt Musil!), strebsam, auch als empfindlich, zum Widerspruch geneigt, kameradschaftlich, anständig und nett. [...] Beineberg: Richard Freiherr von Boineburg-Lengsfeld, geboren am 20. Oktober 1878 als Sohn des Rittmeisters im Ulanenregiment Nr. 6, Moritz Freiherr von Boineburg. Richard von Boineburg sitzt zunächst 5 Volksschulklassen in Wien, dann 5 Jahre in Eisenstadt ab (1889-1894). Das Mal ist er Primus, ein anderes Mal kommt er mit knapper Not am Repetieren vorbei; so ist er etwa im ersten Halbjahr 1895/96 nur der 40. unter 44, was bei dem sicherlich begabten jungen Mann zweifellos auf starke außerschulische Interessen< schließen lässt. [...] Die Beschaffenheit des Geistes und Gemütes ist bei Boineburg so: 1890/91 bescheinigt man ihm, er habe eine rasche, aber flüchtige Auffassung, gutes Gedächtnis, sei heiter, lebhaft, reizbar, artig, im Jahr darauf hat er plötzlich eine gründliche Auffassungsgabe, ist etwas empfindlich, sehr strebsam, artig und nett; wieder ein Jahr später erscheint er als ernst, etwas empfindlich, sehr ehrliebend, artig und rein. Schließlich stellt man fest, er habe eine rasche Auffassung, sei heiter, ehrliebend, sehr artig, ein guter Kamerad. Man lese und staune. Entweder handelt es sich hier um eine einzige Liste von Verlegenheiten, oder dieser Boineburg ist schon ein kleiner Mann ohne Eigenschaften. Schließlich Basini. Er ist die schillerndste Figur, wahrscheinlich deswegen, weil er synthetisch, d. h. aus Zügen verschiedener realer Personen zusammengesetzt ist. Da ist, quasi als »Namengeber< Franz Fabini, Sohn eines leichtlebigen, frühverstorbenen Kaufmanns, geboren am 18. August 1880 in Hermannstadt (Siebenbürgen). Er hatte zwei Klassen Volksschule und zwei Klassen Realschule in seiner Geburtsstadt und zwei Klassen Militär-Unterrealschule in Eisenstadt absolviert, ehe er nach Mährisch-Weißkirchen kam. Aufgrund seiner Bedürftigkeit und zunächst befriedigender Leistungen bekam er einen Preußschen Stiftungsplatz und vier Gulden Monatszulage. Im Winterhalbjahr 1894/95 hielt er als 25. unter 44 Mitschülern noch einen Mittelplatz, im Frühling und Sommer 1895 stürzte er auf Platz 46 von 48 ab und mußte sich einer Nachprüfung unterziehen; im Februar 1896 war er gar 48. von 48 Schülern, was darauf deutet, daß sich in seinem Leben trotz angeblich entsprechender Fähigkeiten und ziemlich guter Auffassungsgabe Dramatisches ereignet haben muß.[...] Ein Foto, das ihn mit Mutter und Schwester porträtiert, zeigt einen hübschen, ein wenig femininen Jungen mit sinnlichem Mund und großen, etwas schwülen Augen. Diese Qualitäten machen ihn zum attraktiven päderastischen Sexualobjekt, ein Dieb war Fabini nicht. Anders ein gewisser Hugo Hoinkes. Als Zögling des II. Jahrgangs (Klasse c) beging Hoinkes am 13. 2. 1896 einen Diebstahl, indem er »ein Paket Cigaretten-Tabak im Werte von 17 kr. und einen Silbergulden aus der Spiel- respektive Schulbanklade anderer Zöglinge heimlich entwendete. Hoinkes war geständig und wurde daraufhin über Antrag des Klassenvorstandes an die Lehrerkonferenz dem Reichskriegsministerium zur Entfernung aus der Militärerziehung vorgeschlagen. Dem Antrag des Anstaltskommandos wurde am 20. 2. 1896 stattgegeben.[...] konstruiert aus seinem Vergehen das Motiv für Basinis sexuelle Unterjochung - Freiheit der dichterischen Psychologie.« Karl Corino: Törleß ignotus. Zu den biographischen Hintergründen von Robert Musils Roman Eine realistische Geschichte einer k. u. k. Militär und Bildungsanstalt zu schreiben war allerdings nicht Musils Gegenstand: »Die Schilderung einer >k. u. k. Militär-Erziehungs- und Bildungsanstalt< [...] wäre seltsam genug, auch abgesehen von der Wichtigkeit des Zöglings für die spätere Politik. Die Umformung im Törleß. Die Wahrheit. - Gehört sie zur Franzisco-Josephinischen Ära oder ist der Ursprung älter ? Es war noch etwas daran wie der Grundsatz, der Offizier solle aus der Mannschaft hervorgehn. ? Grenzergeist ? Gleiche Grundidee wie die alte Kadettenschule? Ich müßte nachlesen. Sagen wir, spartanisch. [...] 8 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Die Erziehung war, mit Ausnahme der Akademie, fast ganz unteroffiziersmäßig. Die Lehrgehilfen u. der Klassenfeldwebel (u. meine Opposition gegen ihn). Die Monturen u. das Schuhwerk. Die bloß nicht passende Paradeuniform u. die aller Beschreibung spottenden Schulmonturen. Ärger als Sträflinge.« Robert Musil, Tagebücher I (Heft 33), S. 6. 2.2.2. Historische Hintergründe Das 19. Jahrhundert hatte die wissenschaftliche Welterkundung und Welterklärung, die "Entzauberung der Welt" (Max Weber), weit vorangetrieben. Im Zuge der Aufklärung war der »Himmel eingestürzt«. Die Religion vermochte keinen Halt mehr zu geben. Die Ära des Fin de siècle, die Zeit von etwa 1890 bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges, ist geprägt von einem Schwanken zwischen Zukunftseuphorie und diffuser Zukunftsangst, Weltschmerz und Leichtlebigkeit, Frivolität und Dekadenz. Eine allgemeine Krise hatte das Bewusstsein der gesellschaftlich maßgeblichen Schichten ergriffen, da mit der Aufklärung, dem technischen Fortschritt und der sich sprunghaft entwickelnden industriellen Massengesellschaft die Grundwerte des sozialen Lebens ins Wanken geraten waren. Wie im Wilhelminischen Deutschland reagierten die Führungsschichten auch in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, die den historischen Hintergrund für Robert Musils Erstlingswerk liefert, mit einer beispiellosen Bürokratisierung und Militarisierung der Gesellschaft. Das Glück der affektlosen Ruhe der reinen Vernunft, das die Philosophie schon in der antiken Stoa suchte, schien die dem modernen Menschen angemessene Geisteshaltung. Die Reinigung der Vernunft von Emotionen gehört in Folge der Aufklärung zu einer der Gründungsbedingungen der Moderne. Wie bereits in der Romantik, erhob sich um 1900 in Europa die Klage über die Entleerung des Lebens durch die Dominanz einer rationalistischen Weltsicht. Gefühlsbetonte Interpretationen des Lebens wandten sich gegen die Herrschaft des Verstandes. So streben die Künstler und Intellektuellen des Fin de siècle angesichts der ökonomisierten, marktgetriebenen, von Technik und Naturwissenschaften gekennzeichneten Massengesellschaft ohnmächtig dem Schönen entgegen und gestalten ästhetische Gegenwelten. Die Überwindung des Naturalismus wird erklärtes Ziel. Die Künstler stilisieren sich als Bohemiens und ihre dekadente Lebenshaltung als provokative Antwort auf die scheinbar vernünftigen bürgerlichen Lebensentwürfe. In seinem Essay »Das hilflose Europa« bemerkte Robert Musil sarkastisch über seine das Denken verachtenden Zeitgenossen: »Der Chor der Geisteskämpfer und Seelevollen aber – von angeblich Goethe bis zum kleinsten geistigen Moritz und Gottseibeimir von heute – hat längst einstimmig intuitiert: es gibt überhaupt nichts Erbärmlicheres als Empirismus. Wir plärren für das Gefühl gegen den I ntellekt und vergessen, dass Gefühl ohne diesen – abgesehen von Ausnahmefällen – eine Sache so dick wie ein Mops ist. Wir haben nicht zuviel Verstand und zuwenig Seele, sondern wir haben zuwenig Verstand in den Fragen der Seele.« In seinen Werken zeigte sich Musil jedoch nicht als Widersacher der Gegenbewegung zur rationalistischen Aufklärung. Seine Protagonisten suchen das Wahre, Gute und Schöne in der Balance zwischen Vernunft und Gefühl. 9 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 2.3. Törleß’ Verwirrungen Meine Logik, zumindest von meiner Logik kann ich wissen, dass sie gesund funktioniert; zu jedem Ja sagt sie ein Nein, und zu jedem Nein sagt sie ein Ja, das ist real. Nur hatte ich bisher zur Einsicht in diese Realität nicht genügend Kraft; jetzt bin ich in zwei verschiedene, einander genau deckende logische Teile zerrissen; alles, was ich weiß, was ich fühle, ist identisch mit dem, was ich nicht fühle und was ich nicht weiß; das Wissen, dahinter das Nichtwissen, dahinter das Wissen, und kein Ende. Péter Nádas Der junge Törleß ist ein repräsentativer Vertreter des Fin de siècle, einer Epoche, die geprägt war von einer allgemeinen Richtungslosigkeit und Unsicherheit. Der Internatszögling hat nicht das Gefühl einen festen Boden unter den Füßen und eine feste Haut um sich zu haben, das den meisten Menschen so natürlich erscheint. Dieser Mangel schmerzt ihn, denn er vermag sich zu Anfang des Romans ein Leben ohne ewige unantastbare Wahrheiten und feste Grundsätze nicht vorzustellen. Diese Geisteshaltung resultiert aus seiner Angst vor ihm seltsam erscheinenden Dingen und Menschen, die auf ihn gefährlich und bedrohlich wirken. Fast zwanghaft richtet er seine Aufmerksamkeit auf alle Phänomene, die mit dem Alltagsverstand nicht zu enträtseln sind, die gewissermaßen eine Lücke in der Kausalität unseres Denkens aufreißen. Immer wieder erlebt er Momente, da die gewohnte, für ihn normal erscheinende Wirklichkeit sich plötzlich umwandelt und ihre bisher verborgene, geheimnisvolle Existenz offenbart. Verbissen versucht er, die Welt als Ganzes zu begreifen und ist irritiert, als er die unmittelbare Nähe einer dunklen, unerklärlichen Seite zur taghellen Welt erkennt. Er selber bemüht sich darum, diese beiden Welten genau voneinander zu trennen und so schmerzt es ihn, als die Hure Bozena, die er der dunklen Seite zugehörig sieht, das Wort Mutter, das für ihn das absolut Reine bezeichnet, ausspricht. Auch dass der Spielladendieb einer seiner Mitschüler ist und nicht wie zunächst gehofft ein Diener, verunsichert Törleß sehr. Lange Zeit hatte Törleß geglaubt, dass es die Dinge sind, die sich verändern. Basini, wie er nackt vor ihm steht, empfindet er als Kunstwerk und bewundert dessen weiche mädchenhafte Formen. Durch den gemeinen Dieb, der ihn einerseits abstößt, erkennt er andererseits zum ersten Mal, was Schönheit bedeutet. Später muss Törleß einsehen, dass es nicht Basini ist, der sich verändert, gleich jenem Helden der Geschichte von Robert Louis Stevenson, die von dem guten Dr. Jekyll erzählt, der durch einen geheimnisvollen Trank zu dem gewissenlosen Hyde wird. Es ist Törleß selbst, der die Dinge und Menschen bald mit dem Verstand, bald mit der Emotion begreift. Als er dies erfasst hat, gesteht er sich auch selbst ein, dass auch er von der Nachtseite des Lebens nicht allzu weit entfernt ist und, wenn ich einmal wirklich so handelte wie Basini, ebenso wenig Außergewöhnliches dabei empfinden würde wie er. Wie Musil, der oft betonte, der Törleß höre dort auf, wo später Der Mann ohne Eigenschaften beginne, begreift auch dieser die vermeintliche Doppelheit der Dinge als variable Erscheinungsform desselben Seins. Da sich ja weder an den Wänden und Dingen etwas wirklich änderte und kein Gott das Zimmer dieses Ungläubigen betrat und Ulrich selbst keineswegs auf die Klarheit seines Urteils verzichtete, konnte es nur die Beziehung zwischen ihm und seiner Umgebung sein, was dieser Veränderung unterworfen war. ES ist ein anderes Verhalten; ich werde anders und dadurch auch das, was mit mir in Verbindung steht! dachte Ulrich. 10 / 41 (Der Mann ohne Eigenschaften) Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Im Gegensatz zu seinen auch körperlich starken Mitschülern Reiting und Beineberg ist Törleß bewusst, dass das Fundament, auf dem er seine Überzeugungen, sein Denken aufgebaut hat, wacklig ist. Schwindlig wird ihm, als er feststellen muss, dass er auch dort, wo er sicher war, mit festen Tatsachen zu operieren und festen gesicherten Boden unter den Füßen zu haben, kurz vor dem Abgrund steht. Die Mathematik, Inbegriff des Rationalen, Festen, Gesicherten, ist bereit, ins Irrationale umzuschlagen. Dies erkennt Törleß, als er über das Phänomen der Imaginären Zahlen nachdenkt. Wenn selbst die Mathematik Unsicherheiten birgt, dann muss angenommen werden, dass das ganze Leben ein Irrtum ist. Die logische Gesichertheit der Welt ist offenbar eine Täuschung. Die Erkenntnis, dass die Welt auf keiner Stufe unserer Erkenntnis wirklich das ist, wofür wir sie jeweils halten, beunruhigt Törleß zutiefst. Er sucht Halt, daher ist er auch bereit, sich an der Folter Basinis durch seine Mitschüler zu beteiligen. Er hofft, durch die Beobachtung der Seele Basinis in einer extremen Situation Aufschluss über seine eigene Seele zu erhalten und Rückschlüsse auf sich selbst ziehen zu können. Die Gewissenhaftigkeit seines Verstandes erlaubt ihm eine Gewissenlosigkeit des Gemüts. Er, der zwanghaft bemüht ist, eine eigene Weltanschauung herauszuarbeiten und die Verantwortung für sein Handeln übernehmen zu wollen, ist dabei unabsichtlich überfordert. 2.4. Törleß und Kant Immanuel Kant war einer der Philosophen, der viel über die Grenzen des Erkenntnisvermögens und über die Möglichkeit zu moralischem Handeln nachgedacht hat. Um die Frage nach dem richtigen Handeln beantworten zu können, brauchen wir einen Ausgangsort, von dem aus wir eine Begründung dafür ableiten, was richtig und was falsch ist. Dieser Standpunkt fehlt Törleß. Es ist ihm nicht möglich, mit Hilfe seines Verstandes eine Vernunftregel für sittliches Verhalten aufzustellen. Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Dieser Ausruf Kants trifft auf Törleß, der zwar über die Unendlichkeit des Himmels nachdenkt, nur unvollständig zu. Kant nennt das Vermögen des Menschen, aus eigener Spontaneität und Willensfreiheit ein Sollen als Maxime für ihr Handeln auszubilden, den intelligiblen Charakter des Menschen. Intelligibel bedeutet in diesem Fall etwas, das über den sinnlich wahrnehmbaren Naturablauf hinausgeht. In dem Verhalten Törleß gegenüber Basini wäre es die nirgendwo in der Natur anzutreffende Notwendigkeit, zu helfen. Durch die Figur des Törleß wird erkennbar, warum bestimmte menschliche Eigenschaften nicht ausschließlich gut sein müssen. Der Verstand, den ihm seine Mitschülern zugestehen, ist natürlich etwas Erstrebenswertes. Doch wenn man bedenkt, wozu ihn Törleß einsetzt, mag man einwenden, dass er nicht an sich gut ist. Nach Kant können bestimmte Eigenschaften schädlich werden, wenn der Wille nicht gut ist. So gibt es nichts, was ohne Einschränkung für gut erklärt werden kann, außer dem guten Willen. 11 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Dem berühmten Königsberger Philosophen zufolge ist der Wille des Menschen in der Lage, sich selbst ein Gesetz zu geben und darum autonom. Der Mensch als handelndes Wesen ist nach Kant frei. Die Freiheit bestimmt sich nicht aus der empirischen Welt, sondern gründet sich im Denken selbst. Der Mensch ist jedoch gebunden an die Welt der Erscheinungen, in dieser besteht das Gesetz von Ursache und Wirkung. Durch unmittelbares Aufnehmen erkennt er die Welt der Erscheinungen, durch die kritische Reflexion, - das Denken kann sich allgemeingültige Grundsätze schaffen, eine Allgemeingültigkeit für das Handeln entwickeln. Als oberster Grundsatz muss dem vernunftbegabten Wesen die goldene Regel des kategorischen Imperativ gelten. Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Wie moralisches Handeln aussieht, beantwortet Kant mit dem kategorischen Imperativ, der – sehr verkürzt ausgedrückt – ein Sittengesetz ist, bei dem sich die Maxime meines Handelns einer bestimmten Gesetzmäßigkeit unterzieht, die für alle Menschen allgemein und notwendig wie ein Naturgesetz gilt. Die Erfahrung, die Törleß in der Affäre um Basini macht, zeigt, dass Erfahrungen ungeeignet sind, ein oberstes Prinzip der Sittlichkeit zu begreifen. Törleß wird zwar aus dem Internat verabschiedet, doch hat er sich seit langer Zeit dort nicht wohl gefühlt und zurück zu seinen Eltern gewünscht. Er kommt straflos aus der Geschichte heraus. Weder während der Quälereien noch als er sich im Erwachsenenalter an sie erinnert, kommen ihm moralische Bedenken. Das Ziel des Wachstums seines Verstandes und seiner Seele erscheint ihm als Rechtfertigung, einem minderwertigen Menschen, als den er Basini empfindet, Schaden zu zufügen. Basini ist für Törleß nur ein kleines Rädchen, das abgeschrieben wird, wenn es seine Funktion nicht mehr erfüllt. Törleß handelt somit gegen Kants dritte Formel des kategorischen Imperativs: Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. Eingestehen will sich Törleß nicht, dass ihn auch ein sinnliches Verlangen an Basini reizt. Törleß, der mit Basini fast allein im Internat zurückbleibt, als die anderen einige schulfreie Tage für Ausflüge zu ihren Eltern nutzen, wird von Reiting angewiesen, Basini zu überwachen. Reiting fürchtete, dass Basini die Gelegenheit nutzen könnte, bei den Lehrern Schutz vor seinen und Beinebergs Angriffen zu suchen. Aus der Sichtweise der kantschen Theorie gibt es keinen Grund dieser Forderung Folge zu leisten, da sich die Anweisung Reitings nicht als allgemeine Gesetzgebung erweist, sondern vielmehr als ein Akt der Willkür, ausgelöst durch Reitings Herrschaftsdrang. Törleß scheint, obschon er sehr bemüht um Erkenntnis ist, träge im Denken. Als sein Lehrer ihm von den Werken Kants erzählt, will sich Törleß in dessen Werke vertiefen, um sich den Anstrengungen des eigenen Denkens nicht aussetzen zu müssen. Spöttisch hatte Kant selbst diese Art der Erkenntnisforschung beschrieben: Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Törleß hofft, dass sich die Gedanken selbst formen, statt auf ihren Urheber zu warten. Der Zustand dieses verdutzten Gefühls, das viele Leute Intuition nennen, ist für den eher denkfaulen Törleß erstrebenswert. Intuition zu haben bedeutet für ihn außerdem, sein Tun nicht mit der Vernunft verantworten zu müssen. Er will in dem Glauben leben, dass alles eine 12 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Ursache hat und er daher nicht der Herr seiner selbst ist. Gelassen und souverän entzieht er sich der Verantwortung für Basini und überlässt diesen dem Unwillen seiner Mitschüler. Er hat im Verlauf der Handlung keinen Charakter herausgebildet und ist sich dessen bewusst. Auch ist es Törleß nicht möglich, zwischen dem unmittelbaren Aufnehmen und der kritischen Reflexion zu unterscheiden. Ihn verwirren diese Gegensätze. Es kam wie eine Tollheit über Törleß, Dinge, Vorgänge und Menschen als etwas Doppelsinniges zu empfinden. Als etwas, das durch die Kraft irgendwelcher Erfinder an ein harmloses, erklärendes Wort gefesselt war, und als etwas ganz Fremdes, das jeden Augenblick sich davon loszureißen drohte. Törleß wird von den Dingen stark affiziert. Er geht von der unmittelbaren Wahrnehmung aus und nimmt sie ungeprüft als Erfahrungsurteil hin und ist sich nicht bewusst, dass unmittelbare Wahrnehmung nicht Erkenntnis bedeutet, sondern nur deren Vorbedingung ist. Seine Erkenntnisfähigkeit wird auch dadurch erschwert, dass er kaum zwischen Ereignissen und Einbildung zu unterscheiden vermag. Törleß ist sich weiterhin darüber unklar, dass er die Quadratur des Kreises unternimmt, als er versucht, die Welt in ihrem Reinzustand wahrzunehmen. Da sich der Beobachtende schon immer in das zu Beobachtende mit einbringt, ist dieses Vorhaben unmöglich. Alle Beobachtung der Welt ist nur als Beobachtung in der Welt möglich. Im „Mann ohne Eigenschaften“ bekräftigt Musil seine Ansicht, dass die Mannigfaltigkeit der Geister, Charaktere, Befindlichkeiten und Temperamente der Menschen zu groß ist, um allgemeingültige Gesetze für sie zu finden. Die gleiche Sache hat hundert Seiten, die Seite hundert Beziehungen, und an jeder hängen andere Gefühle. Wie später Törleß verpflichtet sich Musil dem Denken in Denkdispositionen. Denkdispositionen erlauben einen Spielraum, der sich an den Kategorien möglicher Erkenntnis orientiert, jedoch den starren Kausalitätsanspruch im Sinne von Ursache und Wirkung verneint. Ein Vertreter im Törleß, der sich dem Denken in Systemen zuneigt, ist der Mathematiklehrer. Für Musil ist diese Art des Denkens totes Denken. In dem Leitfaden, an dem sich das Denken des Lehrers entlang bewegt, sieht Musil eine Begrenzung der Erkenntnis. Weiterhin wirft Musil Kant vor, die empirische Welt zu verleugnen. „Die Philosophie ist hinter den Tatsachen ein wenig zurückgeblieben und das verführt zu dem Glauben, dass der auf Tatsachen gerichtete Sinn etwas Antiphilosophisches sei“. In dem Romanfragment „Der Mann ohne Eigenschaften“ wird es Ulrich einmal so ausdrücken: Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehrter; ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, das dazwischen liegt? Kant hat jedoch nie bestritten, dass die Sinnlichkeit für den Erkenntnisgewinn unerlässlich ist: Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel, denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren, uns teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt? 13 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß In der Suche nach der verlorenen Zeit beschreibt Marcel Proust, wie sich bei der Mutter seiner Hauptfigur gegenüber ihrer Nichte das Gefühl der Übersättigung einstellt. Die Nichte trägt schon seit Jahren Lippenrot auf, doch die Mutter bemerkt dies erst, als sich an ihren Gefühlen gegenüber dem jungen Mädchen etwas geändert hat. Nicht die Lippenfarbe der jungen Dame hat sich verändert, sondern es war eine Verwandlung in der Anschauung der Mutter ebendieser Nichte. So hält der Törleß, der zu Beginn des Romans gezeigt wird, seine Mutter für rein und unfähig zu jeder sexuellen Neigung. Auf den letzen Seiten erfährt der Leser, dass Törleß von seiner Mutter aus dem Konvikt abgeholt wird und er an dieser einen zarten Parfumduft feststellt, der von ihrer Hüfte zu ihm aufströmt. Auch in diesem Fall ist es wahrscheinlich, dass es nicht eine neue Gewohnheit der Mutter ist sich zu parfümieren, sondern dass es die Wahrnehmung ihres Sohnes ist, die sich im Verlauf der Handlung verändert hat. Im Gegensatz zu seinem Schöpfer glaubt Törleß am Anfang des Romans, dass man, um wohlbehalten durch geöffnete Türen zu kommen, ihren festen Rahmen akzeptieren muss. Durch Begriffsbestimmungen versucht er, seinen Verwirrungen zu entgehen. Er sucht Halt in starren Satzungen. Wenn er verlangt, dass Basini von der Schule verwiesen wird und er ihn als Dieb bezeichnet, sucht er einerseits Halt in festen Begriffen und versucht gleichzeitig, sich von Basini abzugrenzen, denn er ahnt, dass er von dessen dunkler Seite nicht so weit entfernt ist, wie er hofft. Dingen, die ihn erschrecken versucht er ihre Bedrohlichkeit zu nehmen, indem er sie an Begriffe fesselt. Basini versucht er mit dem Begriff Dieb zu fassen. Die Motivation für das Verhalten Basinis versucht er unter anderem zu deuten, indem er ihm auf den Hinterkopf starrt, während er vor einem aufgeschlagenen Schulheft sitzt, in das er bereits die Überschrift zu seinen Forschungsergebnissen geschrieben hat: De natura hominum. Das Warten auf Stimmungen, die kluge Gedanken aus seinem Inneren hervorzaubern, zieht er dem langsamen analytischen Nachdenken und genauen Schlussfolgerungen vor. Törleß hat weder wie Kant es fordert, den Mut noch die Lust sich des eigenen Verstandes zu bedienen, er will etwas anschauen und plötzlich intuitiv begreifen. Zudem besitzt Törleß die Gabe der Intuition. Reiting, der Talent zur verwickelten, langsamen Intrige hat, einen kleinen, analytischen Geist, Törleß hingegen weiß auf wunderbar geniale Weise, die Mittel, mit denen er Basini verletzen kann. Törleß sucht seine Individuation. Er glaubt an größere Möglichkeiten in sich selbst, an seine Exklusivität. An einen Schatz in seinem Innern. Er fühlt sich besonders und seinen zwar körperlich starken Freunden, denen jedoch der feine Sinn des Ästheten fehlt, überlegen. Dennoch orientiert er sich an ihnen und lässt sich in seinen Handlungen stark von ihnen beeinflussen. 2.5. Der kernlose Mensch Und in der Tat erlangt Törleß durch die erste Aneignung des Möglichkeitssinn eine gewisse Freiheit, doch wird er unfrei durch zu viele Wahlmöglichkeiten. Dadurch, dass er sich alle Optionen offen halten will, gewinnt er kein Zentrum. Trotz aller Möglichkeiten scheint Törleß nicht zu wissen, was er will, was möglich sein könnte. Zudem erweist sich die große Freiheit als einengend, da sie Törleß suggeriert, alles wäre möglich, also auch recht, was auf der Welt geschehe. Da er sich nicht mehr auf etwas wahrhaftig einlässt, wird er unfähig zu jeglicher Empfindung. Die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, ist ihm abhanden gekommen. Da immer auch das Gegenteil und sogar noch eine dritte Möglichkeit zwischen den beiden Antipoden denkbar ist, kann sich der Möglichkeitsmensch nicht für eine Vorstellung entscheiden. Die Frage, ob er so ist wie er ist, weil die Welt so oder so ist oder ob die Welt so oder so ist, weil er ist wie er ist, stellt er sich gegen Ende des Romans nicht. 14 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 2.6. Musil Thema: Sprachskepsis und Erkenntnis stellt seinem Roman ein Maeterlinck-Zitat voran, um wie er selbst sagt Missverständnissen vorzubeugen: Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert. Für Maeterlinck ist die Seele von einem unsichtbaren Prinzip abhängig. Sie führt eine von Taten, Worten, Gedanken, Charakter unabhängige Existenz und ist so für die Vernunft und die Sprache unerreichbar. Im Mann ohne Eigenschaften bekennt die Titelfigur, dass ihm keine Worte zur Verfügung standen, als er über nichtalltägliches sprechen wollte: Worte springen wie die Affen von Baum zu Baum, aber in dem dunklen Bereich, wo man wurzelt, entbehrt man ihrer freundlichen Vermittlung. Die Sprache bleibt weit hinter der Erkenntnis, dem Schatz, den man im Inneren wähnt, zurück, sie kann nur unzureichende Worte für das Empfundene und Erkannte liefern. Gegenüber der unmittelbaren Fülle, die das Leben zu bieten hat, scheint die Sprache leer. Sie reicht nicht hin, ins Innere der Dinge zu dringen (Hugo von Hofmannsthal). Begriffe können Dinge bloß benennen, sie vermögen jedoch nicht das Wesen der Dinge zu fassen. Die Erfahrung der gelähmten Zunge machen die Musilschen Helden immer wieder. Zudem widerfährt es ihnen, dass harmlose Worte und domestizierte Begriffe plötzlich aufreißen können und ihr ungezähmtes Inneres bloßlegen, voll des Ungeheuren. Einmal lag Törleß im Park auf dem Rücken und sah in den Himmel. Und plötzlich bemerkte er, - und es war ihm, als geschähe dies zum ersten Male, - wie hoch eigentlich der Himmel sei. Es erschreckte Törleß, denn was er hier entdeckte, war das Unendliche. Aber es war nicht der gezähmte Begriff des Unendlichen, wie er Törleß aus dem Mathematikunterricht geläufig war und mit dem er täglich seine kleinen Kunststückchen gemacht hatte, sondern etwas Drohendes, Beunruhigendes haftete jetzt diesem Wort an; etwas über den Verstand gehendes, Wildes, Vernichtendes schien durch die Arbeit irgendwelcher Erfinder hineingeschläfert worden zu sein und war nun plötzlich aufgewacht und wieder fruchtbar geworden. D.V.d.Z.T. Seine inneren Bilder können zwar sprachlich übersetzt werden, aber nicht unmittelbar und nur unzureichend, daher verliert Törleß das Vertrauen in die Begriffe. Es ist das plötzliche und immer nur Augenblicke dauernde ganz andere Erleben der Dinge von dem er sich angesprochen fühlt. Vor der dunklen und unbegreiflichen Welt, die Törleß während der Besuche bei Bozena und während der Ereignisse um Basini, angesichts der Unendlichkeit des Himmels und der nächtlichen Natur, empfindet, versagen die Begriffe, die sonst Ordnung zu stiften vermochten. 2.7. Macht. Sex. Gewalt Michel Foucault, Max Weber, Hannah Arendt, Sigmund Freud, Alfred Adler, Friedrich Nietzsche, Elias Canetti: Die Liste der Philosophen, Psychologen, Soziologen und Intellektuellen, die sich mit dem Begriff der Macht auseinandergesetzt haben, ist lang und schillernd. Die theoretischen Ansätze könnten unterschiedlicher kaum sein. Max Webers bekannte Begriffsdefinition sieht 15 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß von einer legitimierten Machtausübung ab und betrachtet Macht als »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.« Im Gegensatz dazu definiert Hannah Arendt »Macht« durchaus positiv als das Zusammenwirken von freien Menschen im politischen Raum zugunsten des Gemeinwesens. Dieses Beispiel zeigt, wie gegensätzlich Begriffe gedacht werden können. Macht ist offenkundig ein allgegenwärtiger Bestandteil des Lebens. Die berauschende Wirkung der Macht erklärt sich aus der Triebstruktur: Die Tendenz, das eigene Selbst auf Kosten anderer zu erweitern, sich andere dienstbar zu machen, ihnen den eigenen Willen aufzuzwingen. Dieser »Wille zur Macht« ist nach F. Nietzsche Symbol des Lebens, das als solches niemals bloße Selbst- oder Arterhaltung, sondern immer Erweiterung und Entgrenzung ist. Macht als eine Erfahrung der Erweiterung des Selbst verwirklicht sich im Einfluss auf andere Menschen, Gruppen oder ganze Nationen. Wer Macht ausübt, knüpft und kontrolliert Beziehungen, bestimmt Verhalten, legt Normen und Werte fest. In der Erfahrung der Macht transzendiert, überschreitet der Einzelne die Begrenztheit und Enge seines Selbst bis hin zum Gefühl der Unendlichkeit, ja Unsterblichkeit. Der Einfluss auf Andere generiert scheinbar »Sinn«, der ohne Macht nicht zu haben ist. Die »Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt« spiegelt sich in der Sexualität. Begriffe wie »Kampf der Geschlechter«, sexuelle Praktiken wie Sadismus oder die im Zuge von Kriegshandlungen verbreitete Gewalt gegen Frauen als Akt der Unterwerfung, sind Ausdruck der sexuellen Komponente der Macht bzw. der Machtkomponente innerhalb der Sexualität. Im Zustand der Nacktheit wird ein Höchstmaß an Verletzlichkeit und Ausgeliefertsein erreicht. Die Enge und Abgeschiedenheit der Internatsanstalt, die Nivellierung und Unterdrückung des individuellen Denkens und Empfindens durch Vorschriften und Uniformen machen den Ort zu einem Treibhaus der Sehnsüchte und des Begehrens. Die Tabuisierung der Sexualität und die institutionell organisierte Triebunterdrückung sind Ausdruck des Wunsches der Gesellschaft nach einer möglichst umfassenden Kontrolle des Individuums. Individuelles Denken und Fühlen könnten einer auf Ordnung und Gehorsam ausgerichteten Welt gefährlich werden. Die Triebunterdrückung und Triebkontrolle in der Anstalt führt zu einem Affektstau, der in aggressiven Ersatzhandlungen ein Ventil sucht und in den gewalttätigen Experimenten mit Basini mündet. Die durch Gesellschaft und Schule erfahrene Unterdrückungsmechanismen entladen sich in der sexuellen Unterwerfung des Mitschülers. 16 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 2.8. Die Inszenierung »Die Art, wie es uns gegeben ist, die Erscheinungen des Lebens aufzufassen, lässt uns an jedem Punkte des Daseins eine Mehrheit von Kräften fühlen; und zwar so, daß eine jede von diesen eigentlich über die wirkliche Erscheinung hinausstrebt, ihre Unendlichkeit an der andern bricht und in bloße Spannkraft und Sehnsucht umsetzt. Denn der Mensch ist ein dualistisches Wesen von Anbeginn an; und dies verhindert die Einheitlichkeit seines Tuns so wenig, daß es grade erst als Ergebnis einer Vielfachheit von Elementen eine kraftvolle Einheit zeigt. Eine Erscheinung, der solche Verzweigung von Wurzelkräften fehlte, würde uns arm und leer sein. Erst indem jede innere Energie über das Maß ihrer sichtbaren Äußerung hinausdrängt, gewinnt das Leben jenen Reichtum unausgeschöpfter Möglichkeiten, der seine fragmentarische Wirklichkeit ergänzt; erst damit lassen seine Erscheinungen tiefere Kräfte, ungelöstere Spannungen, Kampf und Frieden umfänglicherer Art ahnen, als ihre unmittelbare Gegebenheit verrät. Dieser Dualismus kann nicht unmittelbar beschrieben, sondern nur an den einzelnen Gegensätzen, die für unser Dasein typisch sind, als ihre letzte, gestaltende Form gefühlt werden.« Simmel, Georg: Philosophie der Mode [1905] Während die Verfilmung von Volker Schlöndorff vor allem die politische Parabel, die Vorahnung der nationalsozialistischen Diktatur in den Blick nimmt, gegenwärtige Theaterfassungen Themen wie Gewalt, Sexualität und Mobbing unter Jugendlichen fokussieren, wird am Theater an der Ruhr der Versuch unternommen, die Komplexität des Romans für die Bühne zu bewahren. Der verstörende Prozess der geistig-sinnlichen Bewusstwerdung der Heranwachsenden wird als ein Blick in das Dunkel menschlicher Existenz ins Zentrum der Aufführung gerückt. Törleß durchlebt einen Erfahrungs- und Erkenntnisprozess, der ihm das dualistische Wesen des Daseins, das Spannungsverhältnis von kontrolliertem, vernunftgesteuertem Alltagsleben und wilder, unfassbarer Affektgeladenheit, ins Bewusstsein rückt. Das Scheitern seines Versuchs, die verwirrenden Erlebnisse und Empfindungen mittels Sprache zu bändigen, das Unsagbare sagbar zu machen, richtet die Grenzen von Vernunft und Erkenntnis abgründig vor ihm auf. Diese komplexe Darstellung der „Doppelgesichtigkeit“ kann nicht unmittelbar, als lineare Erzählung auf dem Theater wiedergegeben werden. Georg Simmel schreibt: „Dieser Dualismus kann nicht unmittelbar beschrieben, sondern nur an den einzelnen Gegensätzen, die für unser Dasein typisch sind, als ihre letzte gestaltende Form gefühlt werden.“ In diesem Sinne wird mit der Inszenierung der Versuch unternommen, die Fülle, Komplexität und Vielgestaltigkeit in fragmentarischen, assoziativen Szenen und Bildern fühlbar zu machen. Die Form des Erzählens ergibt sich also aus den thematischen und formalen Charakteristika des Romans. Bei der Dramatisierung eines Romans besteht grundsätzlich die Fragestellung, wie die epische Fülle des Materials für die Bühne oder den Film übersetzt werden kann. So erscheint es beispielsweise schwierig, die im Roman so wichtige Erzählerebene direkt auf das Theater zu 17 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß übertragen. In der Mülheimer Fassung wird die „Erzählerfigur“ auf die vier Zöglinge und vor allem auf Bozena übertragen, die als sexuelles Erfahrungsobjekt und als eine Art mütterliche Vertauensperson für Törleß, sowohl Teil des Geschehens als auch rück- und vorausblickende Beobachterin ist. 2.8.1. Kein Realismus! „Das Fehlen der Realität war immer noch quälend. Trotzdem instinktiv sichere Ablehnung des Realismus, der damals so ein nahes Vorbild war.(...) Plötzlich der Törleß. Die Seltsamkeit der Themenwahl. Das unterirdische Eigentliche(...).“ Robert Musil in „Aufzeichnungen eines Schriftstellers“ Das immer wiederkehrende Interesse Musils an geistig-sinnlichen Erkenntnisvorgängen durchzieht sein gesamtes Werk. Der Versuch des Autors, im „Törleß“ die Wahrnehmung des Unsagbaren, die Bewusstwerdung des Abgründigen des menschlichen Wesens zu fassen, musste zwangsläufig über den Realismus hinausführen. Der Roman ist durchzogen von Symbolen, Metaphern und sprachlich formalen Elementen, die dem „Unwirklich-Wirklichen“ Ausdruck verleihen. So steht die immer wieder auftauchende Tür/Tor/Mauer-Symbolik für die Grenzen zwischen rationaler Alltagswelt und irrationaler Gefühls- und Geisteswelt. Erst am Ende eröffnen sich für Törleß Zugänge von der einen zur anderen Welt. Törleß: „..., dass von der hellen, täglichen Welt [...] ein Tor zu einer leidenschaftlichen, nackten, vernichtenden führte...“ Die Lichtsymbolik betont ebenso die Dualität von rationaler, heller Vernunftwelt und irrationaler, dunkler Gefühlswelt. „Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreis des Gehirns, zur anderen Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten.“ (Törleß in der Rede an die Lehrer). Auch in der Sprache unternimmt Musil den Versuch, das unsagbare sagbar zu machen, was sich vor allem in den zahlreichen Metaphern („die Dornenkrone seiner Gewissensbisse“) und Vergleichen („...dieses Licht. Wie ein Auge zu einer fremden Welt.“) niederschlägt. Die durch Symbolik, Metaphern und sprachliche Form entstehende oszillierende Atmosphäre zwischen Traum und Wirklichkeit, die im Roman episch ausführlich entfaltet werden kann, wird in der Spielfassung in eine fragmentarische Form übersetzt und in der Inszenierung in assoziative Situationen, Stimmungen, und choreografische Bilder übertragen, um den verstörenden Grundton des Materials zu erhalten. 2.8.2. Laufsteg der Selbstbehauptung – Zu Raum und Kostümen Bühnenraum und Kostüme der Inszenierung greifen die den Roman prägenden Dualismus auf: Tag und Nacht, Gefühl und Vernunft, Traum und Wirklichkeit, Schein und Sein, Gemeinschaft und Individualität, Körper und Seele.... So deutet der einfache schwarz-weiße Bühnenraum mit seinen starken hell-dunkel Kontrasten das reale, geheimnisvolle Zwielicht der Gänge und Kammern des verwinkelten Internats an und verweist gleichzeitig auf die Ambivalenz der Erscheinungen, an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. Zudem entsteht eine Art Laufsteg, eine Fecht-Planche, auf der die Schüler ihre Machtkämpfe zwischen Selbstbehauptung und Anpassung, Individualisierungsstreben und Gemeinschaftszwang austragen. 18 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Die Uniformen der Kadetten sind Ausdruck der Unterordnung des Einzelnen unter bestimmte Regeln, die die Individualisierungsversuche der Jugendlichen begrenzen. Andererseits standen sie für die sichtbare Formulierung der Zugerhörigkeit zu einer Gemeinschaft der Bessergestellten. Heutige Mode ist durch die Einheitsgrößen, die im 18. Jahrhundert mit der Einführung konfektionierter Uniformen aufgekommen sind und durch die Notwendigkeiten der Massenproduktion, ebenfalls zu einem Instrument der Gleichschaltung und der Unterordnung unter die Bedingungen der konsumorientierten Massengesellschaft geworden. Materialien: Heike Jenß zeigt in ihrem Essay „Customize Me!“ die Entwicklung der Uniform als Voraussetzung für die industrielle Massenproduktion heutiger Konfektionsmode (Siehe Anhang Mode: Uniformität und Individualisierung). Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel schreibt in seinem 1895 erschienenen und immer noch hochaktuellen Aufsatz „Zur Psychologie der Mode“: „...Sie (die Mode) genügt einerseits dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung, insofern sie Nachahmung ist; sie führt den Einzelnen auf der Bahn, die alle gehen; andererseits befriedigt sie auch das Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sichabheben(...) Namentlich junge Menschen zeigen oft eine plötzliche Wunderlichkeit, in ihrer Art sich zu geben... Man kann dies als Personalmode bezeichnen...“ Materialien: Ausführlicher Ausschnitt im Anhang ( Abschnitt 4.2) Das Kostümkonzept der Inszenierung übersetzt die Kadettenuniform des beginnenden 20. Jahrhunderts ins Modische und eröffnet so einen assoziativen Weg in die Gegenwart. Sich modisch zu kleiden ist einerseits der Versuch, ein bestimmtes Bild von sich zu kreieren. Ein äußeres Bild, das zeigt, wie man gesehen werden möchte. In diesem Sinne ist Mode Verkleidung, Maskierung. Die „Häutung“, die der Wechsel des Kleidungsstils bedeutet, ist Maskentausch. Das Bild der Mode ist zudem eine Metapher für das Spannungsfeld von fremdbestimmter Anpassung und der Sehnsucht nach Individualisierung. Der Bühnenraum wird so zu einem Laufsteg der Selbstbehauptung. 19 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 3. Anregungen für den Unterricht 3.1. Vorbereitung des Theaterbesuchs Um den Theaterbesuch vorzubereiten, schlagen wir vor, dass Sie mit Ihren Schülern besprechen, wie sie sich die Umsetzung des Roman-Textes, der zahlreiche Figuren involviert, auf der Bühne vorstellen: Wie viele Schauspieler braucht man? Wie könnte das Bühnenbild, wie könnten die Kostüme aussehen? Welche Aspekte der Erzählung (z. B. Sexuelle Dämmerung, Macht und Gewalt, Törleß Bewusstwerdungsprozess und die Suche nach dem ICH …) dürften auf keinen Fall fehlen, auf welche Erzählstränge bzw. Figuren könnte man hingegen verzichten? Nach dieser offenen Fragestellung schlagen wir die Auseinandersetzung mit der Übertragung des Romans in die Bühnenfassung vor. Das bedeutet z.B. dass die Erzählerfigur, die die innere Handlung, also Gedanken und Gefühle der Figuren, beschreibt, auf die Figuren auf der Bühne übertragen werden muss. Denn während im Roman ein zu lesender Text vorhanden ist, wird dieser auf der Bühne gesprochen – in Form eines Monologes oder Dialoges. Um diesen Prozess anschaulich zu machen, vergleichen Sie einen Abschnitt aus dem Roman mit dem äquivalenten Abschnitt der Strichfassung. Auszug aus der Strichfassung, entspricht Seiten 70/71, aus: Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Rowohlt Verlag, 2008. Folgende Fragen können dazu gestellt werden: Wer spricht welchen Text, was wissen die Figuren im Roman voneinander und was wissen sie auf der Bühne voneinander. Warum wird Basini zwar im Roman beschrieben, aber nicht in der Szene auf der Bühne. Welche Rolle spielt die Regieanweisung in Bezug auf den Romantext. Wie unterscheidet sich der Vergleich von Romantext und abgedrucktem Stücktext mit dem gesprochenen Text während der laufenden Vorstellung, d.h. welche Rolle spielt in diesem Moment, was auf der Bühne zu sehen ist. Warum erzählen Reitung und Beineberg die Geschichte mit dem Strumpfband, welche Figuren hätten das sonst erzählen können. Spielt es eine Rolle, wer die Strumpfbandgeschichte erzählt. Warum. Danach lässt sich nochmals an der offenen Fragestellung anknüpfen: Inwiefern stimmt der Vergleich Romantext/Strichfassung mit den Vermutungen und Erwartungen der Klasse überein. 21. Bozena Reit/Beine Basini LIEST Der schönste Augenblick des Basini! Sein schönster Augenblick. Sein schönster Augenblick. Sein schönster Augenblick. Mein schönster Augenblick? Immer wenn ich von Bozena wegging und es hinter mir hatte, LÄUFT NACH HINTEN. BASINI UND TÖRLEß IM LAUFEN, RUDERN MIT DEN ARMEN IM HINTERGRUND. REITING UND BEINEBERG IM FECHTSCHRITT NACH VORNE. TAPE. 20 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß - denn es ist mir nur um den Besitz der Erinnerung gegangen. 22. Reiting Beineberg Reiting Beineberg Reiting Beineberg Reiting Beineberg Reit/Beine 3.2. Einmal... ... darf ich? Aber schnell… Als Basini einmal ein Strumpfband in seinem Koffer mitgebracht hatte... ... ein liebes, kleines, duftendes ... ... himmelblaues! ... himmelblaues Strumpfbändchen, ja, Strumpfbanzal stellte sich nachträglich heraus, dass es von niemand anderem als seiner …eigenen zwölfjährigen Schwester war. Thema: Rezeption und Aktualität Wir schlagen vor, die Verfilmung von Volker Schlöndorff „Der junge Törleß“ aus dem Jahr 1966 mit den Schülern anzuschauen oder Ausschnitte auf youtube.com unter zur Hilfenahme von begleitender Literatur (z.B. aus „Erläuterungen und Dokumente Robert Musil Die Verwirrungen...“ von Renate Schröder-Werle; Reclam; Abschnitt V.2. Die Verfilmung) zur Kenntnis zu nehmen. Nach dem Theaterbesuch böte sich ein Interpretationsvergleich an: Welche Unterschiede in den Möglichkeiten der Darstellung bestehen zwischen Film und Theater (z.B. Raum, Zeit, Technik, Illusion)? Was ist der Schwerpunkt der Auseinandersetzung in Schlöndorffs Verfilmung? Worauf wird in der Theateraufführung thematisch besonderer Wert gelegt? Welche Gründe könnte es für die unterschiedlichen thematischen Schwerpunktsetzungen gegeben haben? Dabei sollte die Frage nicht außer Acht gelassen werden, was das Spezifische an Theater bzw. an Film ist. Denn während Theater immer live ist und die Anwesenheit der Körper der beteiligten Schauspieler auf der Bühne dies veranschaulichen, bleiben diese im Film immer auf Distanz bzw. unfassbar. Das heißt, die Theateraufführung ist jeweils ein einzigartiges, aber auch vergängliches Ereignis, während dieser auch die Reaktionen des Publikums variieren. Welche Bedeutung die Publikumsreaktionen haben, könnten Sie im Anschluss an die Vorstellung mit der Klasse diskutieren. Achten Sie während der laufenden Vorstellung auf die Reaktionen der Klasse und diskutieren Sie danach die jeweilige Haltung besonders hinsichtlich des Schlusses. Waren die Schüler gelangweilt, überrascht, irritiert, erschrocken gab es Zwischenrufe, usw. Diskutieren Sie einen oder mehrere Zeitungsrezensionen und vergleichen Sie die unterschiedlichen Schwerpunkte und Sichtweisen der Kritiker untereinander und mit denen der Klasse. 3.3. Vorschlag für ein Fächerübergreifendes Projekt: Philosophie/Deutsch „Die Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant behandeln (Literaturvorschlag: „Kant für Anfänger. Die Kritik der reinen Vernunft.“ Eine Leseeinführung von Ralf Ludwig, dtv). Was meint 21 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß „Kopernikanische Wende“ in Kants Philosophie? Wie spiegeln sich Kants Thesen in „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ wieder? Welche Rolle spielt die Figur KANT in Musils Roman? 3.4. Vorschlag für die Auseinandersetzung mit dem Thema Mode Diskutieren Sie in der Klasse, welche Rolle Mode in ihrem Leben spielt. Folgende Fragen lassen sich dabei beispielsweise stellen: Welche Kleidung wird in der Klasse getragen und warum. Was ist gerade in bzw. out und warum? Beachten Sie dabei, dass Kleidung zwar Ausdruck von Individualität ist, dennoch von der Modeindustrie vorgegeben wird (Konfektion/Trends/Werbung). Warum ist das so und gibt es eine Möglichkeit, trotz Modediktat einen eigenen Stil zu kreieren. Sprechen Sie über Gegenbewegungen zu Modetrends und was aus diesen geworden ist, z.B. Punk: Mit zerrissenen Jeans und Löchern, kaputten Kleidungsstücken, die von Sicherheitsnadeln zusammen gehalten wurden, ausgefallenen Farben und Haarschnitten protestierten die Punks gegen Konformität und die bürgerliche Lebensweise. Gleichzeitig fungierte das Programm „Do it yourself“ auch als Provokation. Grundlage waren die geringen Berufsaussichten aufgrund der Wirtschaftskrise und dem in England steifen Klassensystem. Die Jugendlichen fühlten sich ausgeschlossen und betrogen, besonders in Bezug auf das Leben, das sie sich nicht leisten konnten. Später wurde die Subkultur von der Mode adaptiert und damit salonfähig gemacht, die unbekannte Vivienne Westwood, die als „Queen of Punk“ galt und mehrere kleine Shops u.a. unter den Namen „Let it Rock at Paradise Garage“ und „Too fast to live, Too young to die“ in London hatte, zählt heute zu den bekanntesten Modeschöpferinnen und Punk mittlerweile als Mainstream. Welche Modeerscheinungen der Vergangenheit sind heute noch angesagt und welche nicht? Zum Beispiel: Karottenhose, Mieder, Reifrock, Perücke vs. Schlaghose, Hosenanzug, Vokuhila, Minirock. Gibt es ein modisches Ideal, ist mittlerweile alles erlaubt, sind die „aktuellen Trends“ nur Wiederholungen? Gibt es Anlässe, zu denen man sich anders als sonst kleidet, welche sind das und wie kleidet man sich? Welche Berufe werden durch Kleidung repräsentiert (Polizist, Nonne, Stewardess, Arzt), welchen Sinn hat berufliche Uniformierung, sprich Arbeitskleidung? Zum Thema Fasching: Welche typischen Kostüme gibt es, was assoziiert man mit ihnen und welche Symbole oder Attribute gehören zu diesen Kostümen und was bedeuten sie? Pirat – Augenklappe, Holzbein, Enterhaken – Verletzungen aus Kampf, Verwegenheit, Mut Prinzessin – Kleid, Krone, Schuhe – Erhabenheit, Reichtum, Feinheit, keine Arbeitskleidung Diskutieren Sie im Anschluss an die Vorstellung, welche Bedeutung die Kostüme haben und welche Rolle der Kleidertausch bzw. das Ablegen der Kleidung spielt. 22 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Stichpunkte können sein: Schuluniform, Farben (grün/rot/schwarz/weiß), Plateauschuhe, Karomuster, schwarze Mützen, adidas Sweater, Schminke, Augenklappe, Gummistiefel, farbige Perücken, weiße Bandagen, Alltagskleidung. 23 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 4. Anhang – Materialien zur Inszenierung 4.1. Die Figuren und die Eigenart jugendlichen Denkens Walter Jens „Gewiß, oberflächlich betrachtet, ist auch der Zögling Törleß einer aus der Reihe jener Ästheten, die in der zeitgenössischen Literatur als ein schwacher Widerpart ihrer stärkeren Väter - stereotyp wiederholt - figurieren; blickt man jedoch genauer hin, so erkennt man, jenseits aller typisierenden Tendenzen, das Porträt eines Jugendlichen von schauerlicher Modernität. Törleß, ein über sich selbst gebeugter, die Reaktionen seines Gehirns beobachtender Ästhet; ein Jüngling von überwacher Nervosität, der allem Begegnenden ausgeliefert ist und sich nicht zu wehren weiß, widersteht auf der anderen Seite nicht der Versuchung, sich - und sei's nur von ferne - an den Entsetzens-Ritualen seiner InternatsKollegen zu beteiligen. Der Outcast im Zeichen des Terrors, der Intellektuelle, der Ästhet mit dem Kainsmal des Mörders ... dieser in der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder charakterisierte Typ wird von Musil als erstem beschrieben. Ihm, dem Wiener Romancier, ist es zu danken, daß - weit vor den Analysen Hermann Brochs und Thomas Manns - jene Symbiose von Kälte und Romantik, Nüchternheit und Rausch Gestalt gewann, die zu beschreiben die Poesie unserer Tage nicht müde geworden ist, wenn es darum geht, das Bild des Jugendlichen zu entwerfen.“ Walter Jens: Erwachsene Kinder. Das Bild des Jugendlichen in der modernen Literatur. [1962] »Kein Zweifel, da redet ein Kritiker, der sich mit den Intentionen des jungen Talents Robert Musil rückhaltlos identifiziert: Bewundernswert sei es, so Kerr, mit welcher Hellsicht und Kälte der Autor das „unabgesteckte Reich des Schauervollen und Brauchlosen“ mit den dazugehörenden Schreckens-Ritualen, dem Sadismus und Seelen-Terror, veranschaulicht habe: „Nicht alles kann ich nachprüfen. Der Schwerpunkt dieser Dinge liegt mir so fern wie die Menschenfresserei der Südsee: aber ich weiß doch, daß es Menschen in diesem Drange gibt. Ich hab' es bisher nicht geglaubt: jetzt glaub' ich es.“ Der Schwerpunkt dieser Dinge: Gemeint ist damit die Zerstörung einer scheinbar geordneten, unverrückbaren moralischen Normen folgenden Bürgerwelt, gespiegelt in den sadistischen Spielen einer Reihe von Internatszöglingen aus den oberen Schichten, die sich einem der Ihren gegenüber (einem sozial schlechter Gestellten, der zum Dieb wird) wie Experimentatoren in einem Konzentrationslager aufführen - anno 1906, wohlgemerkt! Die Verwirrungen des Zöglings Törleß - das ist keine Pubertätsgeschichte, kein Pendant zu Wedekinds Frühlings Erwachen, [...] Hesses Unterm Rad; hier wird vielmehr am Beispiel von vier jungen Menschen, des charmanten Sadisten Reiting, des Mystagogen und eleganten Folterers Beineberg, des erniedrigten Opfers Basini und des Registrators Törleß, der sich auf die Folterungen einlässt, um, in der Rolle des Musilschen »Monsieur le vivisecteur«, neue, ungeahnte, bis dahin verbotene Erkenntnisse auszukosten hier wird die Geschichte eines Quasi-Mords aus der Perspektive des Ästheten geschildert, dem gerade das Grauenhafteste zur Beförderung seines Fühl- und Erkenntnisvermögens zu dienen hat. Nicht die Faktizität, das 24 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß krude „Was“, sondern das „Wie“, die gedankliche Bewältigung der sadistischen Spiele auf dem Dachboden, ist für Musil entscheidend: wobei es charakteristisch ist, dass die wirklichen Geschehnisse in der Vorstellung des Helden auf der gleichen Realitätsebene wie Philosopheme oder mathematische Gleichungen liegen. Das Auspeitschen eines Menschen, Kants Philosophie, imaginäre Zahlen: alles hat für den jungen Törleß ein und dieselbe Bedeutung. Wirklichkeit und Traum, die Sache und das Nachdenken über die Sache gehören untrennbar zusammen: Nicht nur Reiting und Beineberg - auch Törleß ließe sich, vierzig Jahre nach seiner Präsentation durch Robert Musil, auf der Seite philosophierender Scharfrichter denken: angeekelt zwar von einfallslosen Brutalitäten, aber zu gleicher Zeit erfüllt vom Lustgefühl des Ästheten, dem Hochverrat des Geistes am Geist Tribut gezollt zu haben. Eine hellsichtige Geschichte, der Törleß, und eine sehr persönliche dazu. Musil kannte sich aus in der von ihm beschriebenen Welt, hatte die Militär-Unterrealschule in Eisenstadt, später die Oberrealschule in Mährisch-Weißkirchen besucht, auch sie eine Militäranstalt: Das Entsetzen der Eingeweihten über die kecke Preisgabe pädagogischer Interna (und familiärer dazu) muss gewaltig gewesen sein, um 1906. Sadomasochistische Exzesse an einer kaiserlichköniglichen Unterrichtsanstalt; die Familie des Autors durch geheime Bezüge zwischen einer Hure namens Bozena und Törleß' Mutter verunglimpft, und das um so mehr, als der Lebenswandel Hermine Musils in der Tat zu mancherlei Bedenken Anlass gab. [...] Dichtung und Wahrheit, wie häufig bei Musil, bunt durcheinandergemischt: Es stimmt, dass der Autor den Stoff an zwei Schriftsteller verschenkte, und es stimmt auch, dass er die Atmosphäre von Eisenstadt und Mährisch-Weißkirchen konsequent verfremdet hat, indem er aus des Teufels Arschloch' mit seinem Unteroffiziersdrill, seinen widerwärtigen Abtritten und dem ganzen österreichischen Spartaner-Drill (»Fußlappen, alte Stiefel«) eine eher aristokratische Anstalt machte, wo unter den sich blasiert und weltmännisch gebenden Reinen und Feinen der oberen Zehntausend Schöngeisterei, gepaart mit dem ausgeklügelten Reglement der exer-citia terroris, immerhin in gewissem Ansehen stand. [...] Ob Alfred Kerr das Manuskript wirklich Zeile für Zeile durchgearbeitet hat, erscheint selbst dann ein wenig zweifelhaft, wenn man in Rechnung stellt, dass der Rezensent, was das Vermeiden von Sentimentalitäten angeht, nicht gerade ein Meister war. Aber Sätze wie die folgenden hätte er, bei penibler Zeile-für-Zeile-Korrekrur, gewiss nicht durchgehen lassen: „In (Törleß') Innern war eine Heiterkeit, die er sonst nicht an sich gekannt hatte ... Das musste sich wohl unter den Einflüssen der letzten Zeit in aller Stille entwickelt haben und pochte nun plötzlich mit gebieterischem Finger an. Ihm war zumute wie einer Mutter, die zum ersten Mal die herrischen Bewegungen ihrer Leibesfrucht fühlt“. [D.V.d.Z.T] Ja, es gibt sprachlich viel Misslungenes in diesem Erstling (und nicht nur dort: Stilsicherheit à la Thomas Mann ist nie Musils Stärke gewesen): pathetisch vorgetragene Klischees, ein Gemengsel von Poesie und Amtssprache, vages Drumherumreden statt exakter Benennung. Musil selbst kannte die sprachlichen Ungeschicklichkeiten des Törleß genau - und auch über den oft unbeholfenen Wechsel der Perspektive, übers räsonierende Dreinreden des Autors, über die mangelnde Integration der Szenen »Im Cafe« oder »Bei Bozena« wird er sich - so gut wie Alfred Kerr - im klaren gewesen sein: geschenkt, verehrte Rezensenten, vergessen wir das. Und, tatsächlich, man kann sie vergessen, jene Fülle notierbarer Unstimmigkeiten, wenn man sie mit den Qualitäten des Buches konfrontiert: der ringkompositorischen Struktur (am Anfang und Ende die Bahnhofsszene), der leitmotivischen Handhabung, der Schlüsselbegriffe (Garten, Uhr, Spiegel), der exakten, zugleich realistischen und symbolträchtigen Beschreibung der Lokalität: unten die 25 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Klassenzimmer, in der Mitte die Schlafräume, oben die geheimnisträchtige Bodenkammer: Aufstieg vom Alltäglich-Normalen in die Zonen des Verboten-Exzentrischen. Der Acheron: angesiedelt in witziger Paradoxie hoch oben auf dem Olymp! Und dann das Eigentliche: Zum ersten Mal in der Weltliteratur gelingt es einem Schriftsteller - im Alter von fünfundzwanzig Jahren! -, nicht nur den Seelenhaushalt von Jugendlichen zu beschreiben, die bis um 1900 immer nur als halbe Erwachsene dargestellt werden konnten, sondern, was weit schwerer ist, die Denkweise junger Menschen zu analysieren und das nicht in gelehrter Prosa, der Weise Ernst Machs zum Beispiel, der Musils eigentlicher, ihm das Problem »Wie kommen Erkenntnisprozesse zustande?, eröffnender Lehrer gewesen ist, sondern sinnlich, anschaulich und konkret. Intellektuelle Zustände sehen sich durch eine Prosa »verifiziert«, vergegenwärtigt, fühlbar gemacht, die das Ziel verfolgt, am Beispiel des Weltverständnisses von Jugendlichen ein dichterisches Modell des Denkens schlechthin zu entwickeln: »Der Sechzehnjährige., heißt es in Musils Tagebüchern, »ist eine List. Verhältnismäßig einfaches und darum bildsames Material für die Gestaltung von seelischen Zusammenhängen, die im Erwachsenen durch zuviel anderes kompliziert sind, was hier ausgeschaltet bleibt.« Das lebendige Denken und das gedankenträchtige Fühlen: das Wechselspiel von Un-, Vor- und Halbbewußtem hier und hoher Rationalität dort auf den poetischen Begriff gebracht zu haben ist die eigentliche Leistung des Schriftstellers Musil, der sich im Törleß als genuiner und eigenständiger Partner Sigmund Freuds erwies: nicht, das wäre denn doch zuwenig, wegen der Schilderung des Sadomasochismus in der Adoleszenz, auch nicht allein wegen der Fähigkeit, »die Triebgrundlage des Dritten Reichs« - so Musil im Gespräch - visionär vorauszubeschreiben, sondern wegen der»exemplarischen Verdeutlichung von Denkvorgängen, die, in direkter Beschreibung, unmittelbar und, durch die Darstellung korrelierender Vorgänge, Naturereignisse und Stimmungen, mittelbar dargestellt werden. Der junge Törleß, ein janusgesichtiges, von verwegenen Erfahrungen und tollkühnen Gedankenaufschwüngen gezeichnetes Ich: Er ist für mich der erste moderne Mensch in der deutschen Literatur: dem Hofmannsthalschen Lord Chandos oder dem Rilkeschen Malte Laurids Brigge oder Thomas Manns Hanno Buddenbrook um ein halbes Jahrhundert voraus. Weshalb? Weil sich bei Musil die unheilige Allianz von Ästhetizismus und Terror, gedanklicher Unbedingtheit und moralischer Neutralität am Beispiel eines Menschen beschrieben sieht, dem jedes Mittel recht ist, das tauglich sein könnte, ihm, dem aus allen Zusammenhängen Herausgenommenen, zu neuer Natürlichkeit und neuem Vertrauen in eine Weltordnung zu verhelfen, in der die Dinge, anders, als er es erfährt, wieder vernünftig und verlässlich benannt werden können. Eine Weltordnung, die, in ihren Tag- und, mehr noch, ihren von Alfred Kerr beschworenen Nachtseiten, nur von jenen erfahren werden kann, die „einen Sinn mehr als andere haben“: den Ästheten .vom Schlage Törleß', wie ihn Robert Musil beschrieb. Törleß, aus dem alles werden kann, ein hellsichtiger Aufklärer am Rande des Abgrunds, aber auch ein Faschist - beides ist möglich, je nachdem, wie die » auf die Schärfe eines Nadelstichs konzentrierte Inkubation« [DV.d.Z.T.], die bis zur Perversion des Humanen ins Unmenschliche gehen kann, ihren Niederschlag findet. Wo hätte dieser Törleß wohl gestanden, 1933 - auf Seiten Klaus Manns, als Emigrant in Paris, oder Seit an Seit mit Gottfried Benn in Berlin? Törleß - einer, der zu sich selbst gekommen wäre (»Eine Entwicklung war abgeschlossen«), ein für allemal gefeit? Oder einer, der bedroht bliebe, jederzeit bereit, den Teufelspakt (wenn auch mit der gebotenen reservatio mentalis) zu erneuern? (»Die Erinnerung, dass ... fiebernde Träume um die Seele schleichen, die festen Mauern zernagen und unheimliche Gassen aufreißen - auch diese Erinnerung hatte sich tief in ihn gesenkt.«) So oder 26 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß so: Er bleibt Zeitgenosse, der Sechzehnjährige, von einem fünfundzwanzigjährigen Schriftsteller beschriebene Zögling. »Das Leben liegt vor ihm«, hat Alfred Kerr 1906 geschrieben - und das gilt auch heute noch von diesem Möglichkeitsmenschen, der in seiner Vielschichtigkeit, seiner Widersprüchlichkeit, seinem Hermaphroditen-Wesen wirklichkeitsmächtiger als seine Zeitgenossen bleibt, die tatsächlich gelebt haben. »Es schien damals, dass er überhaupt keinen Charakter habe«: und trotzdem, achtzig Jahre danach, quicklebendig! Walter Jens: Sadistische Spiele auf dem Dachboden, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 19. Juli 1984. Eduard Spranger »Diese Gesellschaft wird als ein fertiges Gebilde auf einer bereits sehr komplizierten Stufe ihrer Entwicklung vorgefunden. Der Jugendliche hat sie nicht gewollt, er wird von diesem überindividuellen Lebensganzen zunächst verschlungen, und es dauert noch sehr lange, bis er daran als individuelles Glied produktiv mitwirken und es tragen helfen kann. Sodann: diese Gesellschaft bindet nur noch an ganz wenigen Stellen wirklich Person an Person; im allgemeinen beansprucht sie den Menschen nur von einer bestimmten, begrenzten Seite aus. Die Sehnsucht des Jugendlichen aber geht stärker auf die totale Wesensgemeinschaft als auf flüchtige Berührung zu diesem oder jenem Zweck. Drittens: die erwachsene Gesellschaft ist durch und durch geregelt, vom staatlich gesetzten Recht an über spezielle Satzungen bis zu den Verkehrssitten und Umgangsformen. Der Jugendliche aber widerstrebt solchen von außen kommenden Regelungen; er will Ungebundenheit und Bewegungsfreiheit, obwohl er bald die Entdeckung machen muss, dass er ohne jede Regelgebung gar nichts mit sich anzufangen wüsste. Viertens: Die Gesellschaft treibt das Prinzip der Arbeitsteilung und Spezialisierung auf die Spitze. Nirgends gestattet sie, das ganze Leben zu leben, wie der Jugendliche mit seiner geringen Fähigkeit, sich innerlich zu teilen, es ersehnt, sondern überall begegnen ihm mechanisierte Fragmente des Lebens, getragen von einer Fülle äußerlicher Zweckverbände, die alle ganz unpersönlich aufgebaut sind. Und endlich überhaupt: Es gibt in dieser reifen Gesellschaft nur noch geringe Reste organischer, naturgeborener Formen. Das meiste wird durch künstlichen Zusammenschluss erreicht, der bis ins letzte überlegt und rationalisiert ist. Die Spannung also zwischen der Struktur der Verbände, die die Kultur tragen, und der noch sehr einfachen, undifferenzierten Struktur der jugendlichen Seele kann nicht groß genug gedacht werden. Irgendwie aber muss der junge Mensch damit fertig werden, wenn er überhaupt kulturfähig werden soll. [...] Der Jugendliche macht die Beobachtung, dass ein großer Unterschied ist zwischen dem, was die Gesellschaft fordert, und dem, was sie durchschnittlich ist und tut. Das Auseinanderfallen von moralischen Normen und von moralischer Substanz wäre vielleicht keine so erschütternde Entdeckung. Aber dass man von anderen moralisch fordert, was man für sich selbst nicht befolgt, ja kaum als Norm gelten lässt, weist auf einen schweren Bruch und auf eine tiefe Unehrlichkeit hin. Zum erstenmal enthüllt sich dieses Doppelwesen von Scheinenwollen und Sein, von Pharisäertum und abgründiger Verlogenheit. Und man muss diese fürchterliche Entdeckung nicht nur bei irgendwem machen, sondern sie unterwühlt auch die Grundlagen, auf denen man das Bild der Nächsten, der Eltern, der Erzieher, errichtet hat. Der Blick in diese Realistik ist ein neues Moment, das den Jugendlichen in sich selber hineintreibt; wem soll man 27 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß noch trauen? Die Wirkung kann je nach der ethischen Substanz, auf die diese »Enthüllungen« treffen, verschieden sein: Man hört auf, die ganze Sache auch für sich sehr ernst zu nehmen, und man beginnt, die Moral (ähnlich wie früher den schwarzen Mann) als einen Kinderschreck abzutun; oder man gräbt sich nur noch fester in die Idealwelt ein und hält sie vor dem Gifthauch der Wirklichkeit geschützt im Innersten wie Heiligtümer, von denen man nicht spricht, die aber eine magische Kraft verleihen. Die Erfahrung der ersten Art erweitert sich bei manchen zu einem immer schärferen Organ für die Ungerechtigkeit der Welt, für die Morschheit der Bühne, auf der die Erwachsenen ihre Rolle spielen, und schließlich für die Immoralität aller Moral.« Eduard Spranger: Psychologie des Jugendalters. Heidelberg: Quelle & Meyer, J'1963. S. 132 f., 159. Otto Ewert »Nach Inhelder und Piaget', läßt sich die Eigenart jugendlichen Denkens auf die kurze Formel bringen, daß über das Denken nachgedacht wird und daß wirkliche Ereignisse auf dem Hintergrund von möglichen Ereignissen gesehen werden. Diese formalen Qualitäten, nämlich Reflexivität und die Neigung, vom konkreten Fall ausgehend nach abstrakten Beziehungen zu fragen, haben eine Vielzahl qualitativer Veränderungen der Erlebnisinhalte im Gefolge. Die Reflexion über Gefühle beispielsweise begünstigt, worauf Spranger hingewiesen hat, bei einigen Jugendlichen Sentimentalität. In das erlebte Gefühl mischt sich die Reflexion darüber, daß man dieses Gefühl erlebt. Die Spiegelung der Gefühle, man erlebt, daß man erlebt, mag für den Erwachsenen unecht wirken, für den Jugendlichen sind es »Lehrjahre der Gefühle«, in denen sich ihm ein Verständnis für komplexe Gefühlsregungen wie Stolz, Hingabe, Einsamkeit, Ehrfurcht, Verachtung u. a. erschließt. In zahlreichen Untersuchungen wurde der Nachweis geführt, daß sich mit dem Eintritt in das Jugendalter sowohl Auffassungskategorien für Seelisches, wie entsprechende sprachliche Ausdrucksmittel erweitern und differenzieren. Dies zeigt sich in Nacherzählungen, in Stellungnahmen zu Bildvorlagen, aber auch in Tagebüchern und literarischen Versuchen. Im Mittelpunkt dieser Zuwendung zum Binnenseelischen steht die Entdeckung des Ich. Wenn von einer Entdeckung die Rede ist, so heißt das nicht, daß nicht auch schon das Kleinkind und Schulkind über einen Ich-Begriff verfüge. Dieser wird aber als eine Art Faktum, als etwas Gegebenes hingenommen. »Ich« bedeutet dann, ein Junge oder ein Mädchen sein, jüngeres oder älteres Geschwister sein, groß oder klein, stark oder schwach, ein guter oder schlechter Schüler sein, helles oder dunkles Haar haben usw. Entdeckung des Ich meint auf diesem Hintergrund, vom Faktischen zum Möglichen überzugehen. Wer bin ich wirklich, d. h., über das konkrete Gegebene hinaus? Welche Möglichkeiten habe ich, wie könnte ich, wie sollte ich sein? Dies sind Fragen, die den Jugendlichen bewegen. Wie ein Existenzialist in der Nachfolge Sartres entwirft sich der Jugendliche in die Zukunft und macht von Vorgegebenem nur in Auswahl Gebrauch. Kleidung, Haartracht, Handschrift und vieles andere mehr werden zum Experimentierfeld, auf dem immer neue Formen der Selbstgestaltung und Selbstdarstellung erprobt werden. Mit der Einsicht, daß es nicht selbstverständlich ist, daß man gerade der ist, der man ist, ja daß Änderungen nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert und geboten sind, erwächst eine »historische Einstellung zum eigenen Selbst«. Der Jugendliche setzt sich von 28 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß dem ab, der er als Kind war, und reflektiert, wie er eigentlich sei, nämlich auf dem Hintergrund möglicher Selbstverwirklichung.« Otto Ewert: Emwicklungspsychologie des Jugendalters. Stuttgart [u. a.]: Kohlhammer, 1983. S. 116. 4.2. Zu den Kostümen Die Uniform der Kadetten stand einerseits für die sichtbare Formulierung der Zugerhörigkeit zu einer Gemeinschaft der Bessergestellten. Andererseits diente die Uniform als Disziplinierungsinstrument, indem sie die nach Individualität strebenden, pubertierenden Jugendlichen äußerlich gleichschaltete. Uniformen sind Ausdruck der Unterordnung des Einzelnen unter bestimmte Werte, Normen und Vorstellungen. 4.2.1. Georg Simmel: Zur Psychologie der Mode. 1895 Die wesentlichen Lebensformen innerhalb der Geschichte unserer Gattung zeigen durchweg die Wirksamkeit dieser antagonistischen Prinzipien, jede stellt auf ihrem Gebiet eine besondere Art dar, das Interesse an der Dauer und dem Beharren mit dem an der Veränderung und dem Wechsel zu vereinen, zwischen der Tendenz zum Allgemeinen und Gleichartigen und der zum Besonderen und Einzigartigen eine Versöhnung zu stiften, die Hingabe an das soziale Ganze und die Durchsetzung der Individualität zu einem Kompromiss zu bringen. In den sozialen Ausgestaltungen dieser Gegensätze wird die eine Seite derselben meistens von der psychologischen Tendenz zur Nachahmung getragen. Die Nachahmung gewährt uns zunächst den Reiz einer zweckmäßigen Kraftbewährung, die doch keine erhebliche persönliche, schöpferische Anstrengung fordert, sondern wegen der Gegebenheit ihres Inhaltes leicht und glatt abrollt. Zugleich aber gibt sie uns die Beruhigung, bei diesem Handeln nicht allein zu stehen, sie erhebt sich über den bisherigen Ausübungen derselben Tätigkeit wie auf einem festen Unterbau, der die jetzige von der Schwierigkeit, sich selbst zu tragen, entlastet. In der Nachahmung trägt die Gruppe den Einzelnen, dem sie einfach die Formen seines Verhaltens überliefert und den sie so von der Qual der Wahl und von der individuellen Verantwortlichkeit für dieselbe befreit. Aber eben nur einer der Grundrichtungen unseres Wesens entspricht die Nachahmung, nur derjenigen, die sich an der Gleichmäßigkeit, der Einheitlichkeit, der Einschmelzung des Einzelnen in die Allgemeinheit befriedigt, die das Bleibende im Wechsel betont. Nicht so derjenigen, die umgekehrt den Wechsel im Bleibenden sucht, die individuelle Differenzierung, die Selbständigkeit, das Sich abheben von der Allgemeinheit. Betrachtet man diese beiden antagonistischen Tendenzen unter dem Bilde ihrer biologischen Grundformen, so kann man die Nachahmung als eine psychologische Vererbung bezeichnen, während das Streben über sie hinaus, zu neuen und eigenen Lebensformen, der Variabilität entspricht. Für die Mode ist nun das Folgende wesentlich. Sie genügt einerseits dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung, insofern sie Nachahmung ist; sie führt den Einzelnen auf der Bahn, die alle gehen; andererseits aber befriedigt sie auch das Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sich abheben, und zwar sowohl durch den Wechsel ihrer Inhalte, der der Mode von heute ein individuelles Gepräge gegenüber der von gestern und morgen gibt, wie durch den Umstand, daß Moden immer Klassenmoden sind, daß die Moden der höheren Schicht sich von denen der tieferen unterscheiden und in dem Augenblick verlas- 29 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß sen werden, in dem diese letzteren sie sich aneignen. Die Mode ist eine besondere unter jenen Lebensformen, durch die man ein Kompromiss zwischen der Tendenz nach sozialer Egalisierung und der nach individuellen Unterschiedsreizen herzustellen suchte. In dieses Grundwesen der Mode ordnen sich die einzelnen psychologischen Züge ein, die wir an ihr beobachten. In soziologischer Beziehung ist sie, wie erwähnt, ein Produkt klassenmäßiger Scheidung. Gerade wie die Ehre ursprünglich Standesehre ist, d. h. ihren Charakter und vor allem ihre sittlichen Rechte daraus zieht, dass der Einzelne in seiner Ehre zugleich die seines sozialen Kreises, seines Standes repräsentiert und wahrt: so bedeutet die Mode einerseits den Anschluss an die Gleichgestellten, andererseits den Abschluss dieser als einer ganzen Gruppe gegen die Tieferstehenden. Die gesellschaftlichen Formen, die Kleidung, die ästhetischen Beurteilungen, der ganze Stil, in dem der Mensch sich ausdrückt, sind in fortwährender Umbildung durch die Mode begriffen, indes so, dass die »Mode«, d. h. die neue Mode in alledem nur den oberen Ständen zukommt. Diese schließen sich dadurch von den unteren ab, sie markieren damit die Gleichheit ihrer Angehörigen untereinander und im gleichen Moment die Differenz gegen die Tieferstehenden. Sobald daher diese letzteren sich die Mode anzueignen beginnen - weil sie eben immer nach oben sehen und streben und das noch am ehesten auf den der Mode unterworfenen Gebieten können so wenden sich die oberen Stände von dieser Mode ab und einer neuen zu, durch die sie sich wieder von den breiten Massen differenzieren. [...] Wo eines von beiden Momenten fehlt: entweder Bedürfnis und Möglichkeit, sich abzusondern, oder Bedürfnis und Wunsch, sich zusammenzuschließen, da endet das Reich der Mode. [...] Das Wesen der Mode besteht darin, dass immer nur ein Teil der Gruppe sie übt, die Gesamtheit aber sich auf dem Wege zu ihr befindet. Sie ist nie, sondern wird immer. Sobald sie total durchgedrungen ist, d. h. sobald einmal dasjenige, was ursprünglich nur einige taten, wirklich von allen ausnahmslos geübt wird, bezeichnet man es nicht mehr als Mode, z.B. gewisse Elemente der Kleidung, der Umgangsformen. Aus dieser Tatsache, dass die Mode als solche eben noch nicht allgemein verbreitet sein kann, quillt nun für den Einzelnen die Befriedigung, dass sie an ihm immerhin noch etwas Besonderes, Auffälliges darstellt, während er zugleich doch von der nach Gleichem strebenden Gesamtheit nicht wie bei sonstigen sozialen Befriedigungen von der Gleiches tuenden Gesamtheit getragen wird. Deshalb ist die Gesinnung, der der Modische begegnet, eine wohltuende Mischung von Billigung und Neid. Die Mode ist so der eigentliche Tummelplatz für Individuen, welche innerlich und inhaltlich unselbständig, anlehnungsbedürftig sind, deren Selbstgefühl aber doch einer gewissen Auszeichnung, Aufmerksamkeit, Besonderung bedarf. Sie erhebt eben auch den Unbedeutenden dadurch, dass sie ihn zum Repräsentanten einer Gesamtheit macht, er fühlt sich von einem Gesamtgeist getragen. In dem Modenarren und Gigerl erscheint dies auf eine Höhe gesteigert, auf der es wieder den Schein des Individualistischen, Besonderen, annimmt. Das Gigerl treibt die Tendenz der Mode über das sonst innegehaltene Maß hinaus: wenn spitze Schuhe Mode sind, läßt er die seinigen in Schiffsschnäbel münden, wenn hohe Kragen Mode sind, trägt er sie bis zu den Ohren, wenn es Mode ist, Sonntags in die Kirche zu gehen, bleibt er von Morgens bis Abends darin usw. Das Individuelle, das er vorstellt, besteht in quantitativer Steigerung von Elementen, die ihrem Quale nach eben Gemeingut der Menge sind. Er geht den anderen voraus, wenngleich genau auf ihrem Wege. Scheinbar marschiert er an der Tête der 30 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Gesamtheit, da es eben die letzterreichten Spitzen des öffentlichen Geschmacks sind, die er darstellt; tatsächlich aber gilt von dem Modehelden, was allenthalben im Verhältnis des einzelnen zu seiner sozialen Gruppe zu beobachten ist: dass der Führende im Grunde der Geführte ist. Der Modeheld repräsentiert so ein wirklich originelles Gleichgewichtsverhältnis zwischen sozialem und individualisierendem Trieb, und aus dem Reize davon verstehen wir die äußerlich so abstruse Modenarrheit manches sonst verständigen und sogar bedeutenden Menschen. - In primitiven, aber auch in höheren Verhältnissen entsteht eine Mode oft dadurch, daß eine irgendwie hervorragende Persönlichkeit einen Modus der Kleidung, des Betragens, der Interessen usw. erfindet, durch den sie sich von den anderen abhebt; die so aufgetauchte Auszeichnung suchen diese anderen nun wegen der Bedeutung jenes so schnell wie möglich nachzuahmen. Die Befriedigung des ersten liegt offenbar in der Mischung des Individualgefühles, etwas Besonderes zu haben, und des Sozialgefühles, von der Allgemeinheit nachgeahmt und so durch ihren Geist getragen zu werden. Obgleich beide Gefühle sich logisch zu widersprechen scheinen, so vertragen sie sich psychologisch durchaus und steigern sich sogar. Jeder Nachahmende nimmt, natürlich in abgeschwächten Graden, an dieser Gefühlskonstellation teil, bis die Mode völlig durchgedrungen ist, also das individuelle Moment wegfällt. Eine gleiche Kombination jener beiden Tendenzen, wie sie durch extremen Gehorsam der Mode gegenüber erreicht wird, kann man aber auch durch Opposition ihr gegenüber gewinnen. Wer sich bewusst unmodern trägt oder benimmt, erreicht das damit verbundene Individualisierungsgefühl nicht eigentlich durch eigene, individuelle Qualifikation, sondern durch bloße Negation des sozialen Beispiels: wenn Modernität Nachahmung dieses letzteren ist, so ist die absichtliche Unmodernität seine Nachahmung mit umgekehrten Vorzeichen, die aber nicht weniger Zeugnis von der Macht der sozialen Tendenz ablegt, die uns in irgend einer Weise, positiver oder negativer, von sich abhängig macht. Es kann sogar in ganzen Kreisen innerhalb einer ausgedehnten Gesellschaft direkt Mode werden, sich unmodern zu tragen eine der merkwürdigsten soziologischen Komplikationen, in der der Trieb nach individueller Auszeichnung sich erstens, wie gesagt, mit einer bloßen Umkehrung der sozialen Nachahmung begnügt und zweitens seinerseits wieder seine Stärke aus der Anlehnung an einen gleich charakterisierten engeren Kreis zieht: soziologisch also ganz analog dem Vereine der Vereinsgegner. [...] Mit mehr oder weniger Absicht schafft sich oft das Individuum für sich selbst ein Benehmen, einen Stil, der sich durch den Rhythmus seines Auftauchens, Sichgeltendmachens und Abtretens als Mode charakterisiert. Namentlich junge Menschen zeigen oft eine plötzliche Wunderlichkeit in ihrer Art, sich zu geben, ein unvermutet, sachlich unbegründet auftretendes Interesse, das ihren ganzen Bewusstseinskreis beherrscht und ebenso irrational wieder verschwindet: Man kann dies als Personalmode bezeichnen, die einen Grenzfall der Sozialmode bildet. Sie wird durch das individuelle Unterscheidungsbedürfnis getragen und ersetzt das Nachahmungs- und Sozialbedürfnis durch die Konzentration des eigenen Bewusstseins darauf, die einheitliche Färbung, die das eigene Wesen dadurch erhält und die vielleicht eine noch engere Geschlossenheit, ein noch innigeres Getragenwerden dieses einzelnen durch die Gesamtinhalte des Ich bedeutet, als wenn es zugleich die Mode anderer wäre. Georg Simmel: Zur Psychologie der Mode. Sociologische Studie [1895] Georg Simmel (* 1. März 1858 in Berlin; † 26. September 1918 in Straßburg) war ein deutscher Philosoph und Soziologe.) 31 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 4.2.2. Heike Jenß - Customize Me! „Ihre zunehmende Vereinheitlichung und Vereinfachung habe die Mode zu Fall gebracht, so Teri Agins in ihrem Buch „The End of Fashion“. Die massive Verbreitung von Cargohosen und T-Shirts, die sogenannte Casual-Wear auf Basis eigentlich außermodischer, nämlich militärischuniformierter Bekleidungsformen, sind für Agins Anzeichen eines deutlichen Wertewandels, der sich auf der Seite der Konsumenten vollzogen hat. Die Mode ist am Ende, weil der Konsument ihrem Diktat nicht mehr folgt. Stattdessen kleiden sich alle freiwillig im „globalen Einheitslook“ wie er gerade von den großen Bekleidungsketten zum günstigen Preis angeboten wird und nunmehr schichtübergreifend das Aussehen von Strasse und Passanten zu dominieren scheint. Wie passt diese Uniformität in der alltäglichen Bekleidungspraxis zu einer Zeit, in der die Herstellung von Einzigartigkeit als das erstrebenswerte – für Undine Eberlein sogar religionsersetzende – Ideal gilt? Ist in Zeiten, in denen „Anderssein“ zum Massenbedürfnis geworden ist, ein einheitliches Erscheinungsbild nicht eher unerwünscht? In welcher Beziehung stehen hier Mode und Uniformität und wie verhält sich Massenmode zum Prozess der Individualisierung? Die Matrix der modernen Kleidung ist die militärische Uniform. Gerade die aktuell bevorzugten Basics und ihre sogenannten „Klassiker“ wie T-Shirt, Parka, Trenchcoat, Cargohose oder Fliegerjacke haben ihren Ursprung im Militär.(...) Neben den einzelnen Bekleidungsformen ist aber nicht zuletzt überhaupt das Prinzip der standardisierten Uniformfertigung grundlegend für die massenhafte Verbreitung modische Kleidung. Das uniforme Moment ist damit potenziell jedem modernen, seriell hergestellten Kleidungsstück schon – quasi anatomisch – inhärent. Und auch in der Markierung von Zugehörigkeit und Abgrenzung, die eine entscheidende Wirkungsmacht der westlichen Mode ist, zeigt sie ihre Nähe zu dem Konzept der militärischen Uniform. Wie Gisela Krause dargestellt hat, kann die uniforme Einkleidung des stehenden Berufsheers unter Friedrich Wilhelm I. von Preußen (1688 – 1740), als Grundstein für die serielle Produktion standardisierter Konfektionskleidung angesehen werden. Sie basiert auf einer ganz entscheidenden Voraussetzung der Vermessung der Körper und der Vereinheitlichung und Standardisierung der Kleidergrößen, die sich aus der Zusammenfassung der großen Anzahl von Soldaten in vier Körpergrößen ergab (Mentges 1993). Auf der Basis dieser vorgenommenen Kategorisierung der menschlichen Körperhöhe konnte ein rationales System für die massenhafte Herstellung einheitlicher Kleidungsstücke entwickelt werden (Mentges 1993), die mit der Konfektionierung der Kleidung bis in das 20. Jahrhundert stetig optimiert wurde. Aufgrund der Fortschritte in der Konfektionierung und Massenproduktion von Kleidung nach dem Zweiten Weltkrieg, konnte sich die Mode in den 1960er Jahre als ein für beinahe alle sozialen Schichten leicht erschwinglicher Massenartikel etablieren. (...) Wandel und Innovation vollziehen sich seit den 1980er Jahren eher in der Wiederaufnahme und der neuen Kombination früherer Bekleidungsformen und Stile. Die Retro-Looks vergangener Jahrzehnte, die durch die Neuinterpretation mittels neuer Materialien immer facettenreichere Erscheinungen annehmen können, machen dies deutlich....“ Anmerkungen zur Massenindividualisierung in der Mode (Auszüge) (aus: Mentges, Gabriele, Richard, Birgit (Hg.), Schönheit der Uniformität: Körper, Kleidung, Medien, Frankfurt am) 32 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 4.3. Das Drama - der Roman und die Bühne Die Literaturtheorie und auch der allgemeine Sprachgebrauch unterscheiden Texte in Gattungen. Die beiden größten Differenzierungen sind zunächst in fiktionale und non fiktionale Texte, wobei erstere in erzählende, lyrische und dramatische Texte unterschieden werden. Während in der erzählenden Literatur eine Erzählerposition vermittelt und die Lyrik Ausdruck einer Subjektivität ist, äußern sich die Figuren in der Dramatik selbst. Das wesentliche Element der dramatischen Literatur ist das dialogische oder monologische Sprechen. Der Text der Figuren ist zum einen an ein Gegenüber gerichtet und zum anderen an die Zuschauer, so dienen Orts- und Zeitangaben in Dialogen zwischen Stückfiguren vielfach primär als Orientierung für den Zuschauer. Neben dem Haupttext im Drama, der aus dem dialogischen und monologischen Sprechen der Figuren zusammengesetzt ist, finden sich die so genannten Nebentexte oder Regieanweisungen. Hierzu zählen Bühnenanweisungen zu Dekoration und Handlungsanweisungen für die Darsteller. Diese Nebentexte treten verstärkt erst im 19. Jahrhundert in der dramatischen Literatur auf. Insbesondere die Literatur des 20. Jahrhunderts hat feste Gattungsbegriffe hinter sich gelassen: So finden sich monologische Erzählungen oder dramatische Texte mit kommentierenden Erzählern. Grundsätzlich unterscheidet sich der Prozess des Lesens von dem des Zuschauens. Der Leser ist in der Regel allein mit einem Text und verwandelt die sprachlichen Zeichen in eigene Bilder. Der Zuschauer ist im Theater einer Vielzahl von Zeichen gleichzeitig ausgesetzt. Zu dem gesprochenen Text kommt die Sprechweise der Darsteller, die Kostüme und der Raum, in dem gesprochen wird. Während der Leser selbst die Zeit seines Lesens bestimmen kann und die Erzählung wesentlich leichter mit Zeitraffungen und – sprüngen arbeiten kann, ist die Aufführung im Theater viel stärker einem realen Zeitrahmen unterworfen. Die Bearbeitung einer Erzählung für die Bühne verdeutlicht einen Transformationsprozess, der bei jeder Inszenierung eines Dramas notwendig ist. Im 18. Jahrhundert begann eine Auffassung vielerorts Fuß zu fassen, die auch heute noch stark verbreitet ist: Die großen Dramen der Weltliteratur fände ihre wahre künstlerische Umsetzung nur im Lesen. Diese Meinung führte zum einen zu der literarischen Form des Lesedramas, zum anderen behinderte sie lange den notwenigen Transformationsprozess geschriebenen Text zu einer lebendigen Aufführung. Zu bedenken ist dabei, dass die Niederschrift von dramatischen Texten nicht Grundlage für alle Theaterformen ist, wie z.B. der italienischen Commedia dell’ Arte. Die Inszenierung, das in Szene setzen eines dramatischen Textes ist immer eine Auseinandersetzung mit diesem Text. Wie der Leser eines Buches sich seine eigenen Bilder entwirft und eigene Akzente bei der Lektüre eines Buches setzt, so geschieht dies auch in einer Theaterinszenierung. Gerade diesen Lektüreprozess verdeutlicht das Theater. Aus einer schier unendlichen Möglichkeitsvielfalt müssen einzelne Ansatzpunkte gewählt werden. Während der Text linear zu lesen ist, ist der Zuschauer einer Reihe von visuellen und akustischen Eindrücken ausgesetzt. So kann eine Geste den gesprochenen Text in der Wahrnehmung überlagern, ein Satz sich durch die Sprechweise völlig verändern. Der Dramentext oder eine Erzählung dient als Grundlage der Inszenierung bzw. stößt einen Auseinandersetzungsprozess an. In der Vorbereitungsphase entsteht durch Kürzungen eine so genannte Strichfassung, die sich im Probenprozess immer wieder verändern kann. Einerseits können Texte weiter verändert oder durch Fremdtexte ergänzt werden, andererseits werden häufig einzelne Passagen der Vorlage wieder einbezogen. Während der Probenphase wird der 33 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Text in einen szenischen Ablauf gesetzt. Hierbei erfolgt einerseits eine Konzentration auf einzelne Aspekte der Vorlage, andererseits erhalten einzelne Elemente eine Aufladung bzw. Vieldeutigkeit. Zusätzlich spiele Text eine große Rolle, die nicht direkt zu hören sind, aber die Arbeit gedanklich beeinflussen: Diese kann man als Referenztexte bezeichnen. So entsteht nach einem mehrmonatigen Arbeitsprozess eine Bühnenfassung. Eine Theaterinszenierung ist immer eine Auseinandersetzung mit einem Text und versteht sich nicht als einzig allgemeingültige Bebilderung. Die Theateraufführung ist für den Augenblick geschaffen und ist nur mögliche Auseinandersetzung mit einem Text. Wichtig für die Beurteilung einer Inszenierung ist nicht wie genau das Ergebnis die Vorlage abbildet, sondern wie intensiv sich die Arbeit mit der Vorlage auseinandergesetzt hat. Im Film sind Auseinandersetzungen mit literarischen Vorlagen noch selbstverständlicher und weit verbreiteter als im Theater. Gleichzeitig spielt beim Film die Regie eine selbstverständlich größere Rolle als im Theater. Während im Theater Regisseure sich immer wieder für ihre Auseinandersetzung mit Stücken rechtfertigen müssen, sind die Namen von Filmregisseuren wesentlich bekannter als die der Drehbuchautoren. Film und Theater haben einige Gemeinsamkeiten, wie die große Gleichzeitigkeit von Bild und Sprache, aber auch große Differenzen in der Wahrnehmung. Wesentlich für das Theater ist der spezielle Moment der Aufführung, Darsteller und Zuschauer verbringen gemeinsam die gleiche Zeit und können sich wechselseitig wahrnehmen. Während die Kamera einen Ausschnitt und Blickpunkt vorgibt, können die Theaterzuschauer viel freier über den Focus ihrer Aufmerksamkeit entscheiden. Der Film verdeckt sehr häufig seinen Herstellungsprozess und erschafft eine bruchlose Illusion. Das Theater hingegen kommt nicht umhin sich auf stärkere Weise mit der Herstellung von Illusionen auseinanderzusetzen. Beispielsweise kann ein einfacher Stuhl auf der Bühne einen Königsthron darstellen, er bleibt aber letztendlich gleichzeitig auch ein Stuhl und ist als solcher sichtbar. 34 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Schaubilder Textverhältnisse Stücktexte Textvorlagen Übersetzungen Stückfassungen Referenztexte Fremdtexte StrichfassungEN Textimprovisation Bühnenfassung Zeichen im Theater Darsteller akustisch flüchtig visuell Raum länger andauernd Geräusche Musik Stimme - Sprache Stimme - Geräusche Mimik (Gesicht der Darsteller) Gestik (Körper der Darsteller) Bewegung der Darsteller im Raum Kostüm/ Maske Bühnenbild Requisiten Beleuchtung 35 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 4.4. Die Anstalt - Kurt Tucholsky Betritt Revision die Zellen (Aufsichtsbehörde Vorsteher, Inspektoren, Geistliche, der Anstaltsarzt und so weiter), so erhebt sich der Gefangene, bleibt vor seinem Arbeitsplatz stehen und erwartet, das Gesicht nach der Tür zugekehrt, den Besuch. Bei nächtlicher Revision unterbleibt dies. Aus der Hausordnung einer preußischen Strafanstalt (…) Die Anstalt dient einem Zweck: Menschen sollen in ihr aufbewahrt, gebessert, geheilt, erzogen, zur Arbeit angeleitet werden. Jedes Anstaltsleben dient neben diesem plakatierten Zweck einem Selbstzweck: es hat sich selbständig gemacht, denn stets wachsen dem Menschen seine Zwecke über den Kopf. Dass die Anstalt durch ihr Wirken einen Zweck erfüllen soll, vergessen sämtliche Beteiligten leicht – bei der Gründung sowie bei Festsetzung der Hausordnung wird auf diesen Zweck der Anstalt noch Bezug genommen. Die Menschen, die ständig in einer Anstalt leben und arbeiten, sind in zwei Gruppen zu teilen: in die Leidenden und in die Leitenden. (…)Das Leiden der Anstalts-Leidenden besteht hierin: Ihr privates Leben ist zusammengeschrumpft. Sie haben entweder so gut wie gar keines (Strafgefangene) oder ein zu beengtes – und hier und nur hier liegt der tiefe Grund der Verzweiflung dieser Leute. Die Anstalt frisst sie auf. Zunächst ist da die Zeiteinteilung. Der Mensch kann es nur sehr schwer ertragen, stets nach einer fremden Uhr zu leben – und nun noch nach einer, die ihm den Tag zerreißt, seinen Tag. Regelmäßigkeit allein wäre freilich kein Grund zur Verzweiflung, besonders dann nicht, wenn sie sich jemand freiwillig auferlegt hat – der wahre Grund liegt darin, dass kein menschliches Wesen es verträgt, auf die Dauer als Sache behandelt zu werden. Man kann einen Sklaven patriarchalisch prügeln – das ist lange nicht so schlimm wie die stumme und unerbittliche Einordnung in ein vom Eingeordneten nicht oder so nicht gewolltes Nummernsystem. Irgend etwas möchte jeder Mensch irregulär tun: über eine Hecke springen, rauchen, wenn andere nicht rauchen; einmal laut schreien – ich sehe hier von groben Exzessen ab. Macht man ihm das unmöglich, so legt man den Grund zu unendlicher Traurigkeit, Verzweiflung, Ekel am Leben. Solch ein Mensch geht seelisch ein. Verglichen mit dem, was er mit seiner ›Freiheit‹, die er ja in dieser Gesellschaftsordnung gar nicht haben kann, wirklich anfängt, fehlt ihm gar nicht so sehr viel – und alles. Es fehlt ihm das, was wir mit unserer kleinen Freiheit beginnen: umhergehen, wann es uns passt; telefonieren; pfeifen; nicht sprechen, wenn wir nicht sprechen wollen; früh ins Bett gehen; spät ins Bett gehen – die Anstaltsinsassen können das entweder gar nicht oder nur unvollkommen. Selbst ihr Schlaf ist Dienst. Darunter leiden sie unermesslich. Das Verhältnis der Leidenden untereinander ist selten gut. Immer ist da ein Stärkerer, ein Oberleidender, der mit der Zeit die höchste Stufe des Kellers erreicht – er kann mit dem Kopf hinaussehen und reicht beinah in das Unterpersonal hinein. Dieses verwehrt ihm natürlich in Ernstfällen den Zutritt; in leichten Fällen wird er ihm gewährt, und das hebt ihn sehr und lässt ihn viel von dem, was er zu erleiden hat, vergessen. Er bezahlt das teuer, vielmehr: seine Mitleidenden bezahlen das teuer. Er ist meist ein Angeber, ein Speichellecker, ein Unterhund – er ist der Helfer von Helfershelfern. Auf seine kleinen Vergünstigungen ist er nicht so stolz wie auf den leichten Schein einer Pseudo-Autorität, die er auf diese Weise genießt. 36 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Leidende verachten sich untereinander – das ist das Primäre. Liebe, Freundschaft, gutes Herz, Trieb und Temperamente können diese Verachtung auflösen und überbrücken. Die Leidenden stehen niemals gegen die Leiter zusammen. Täten sie es wirklich, so wären jene ziemlich machtlos. Ein solcher Universalwille kann aber deshalb nicht zustande kommen, weil in jedem Leidenden der Machttrieb schlummert. Er leidet wohl – aber zutiefst bejaht er dieses Leiden; er verneint nur die Rollenverteilung: er ist es, der gern leiden machen möchte. Oft setzt er sich im Tagtraum an die Stelle des Leiters. Daher wird er sich stets nur dazu verstehen, etwas zu tun, was man im Anstaltsjargon und auch sonst ›stänkern‹ nennt – er wird kleine Sticheleien, Lügen, Klatschereien gegen die Leitung und das Personal aufbringen, Schwierigkeiten zu vergrößern suchen, schon, um sich wichtig zu machen und hier wenigstens ein kleines Gebiet zu haben, das ihm allein gehört. Er wird sich aber fast niemals, solange er diesen Machttrieb innerlich nicht überwunden hat, gegen das System auflehnen. Er kann es nicht. Es ist sein System. Die schwere seelische Störung durch die Einengung der Persönlichkeitssphäre zeigt sich bei den Leidenden auch in ihrem rührenden Verhältnis zu allen Gegenständen, die nicht ›Anstaltssachen‹ sind: Vogelbauer, Pantoffeln, Kalender oder eine Zeitung ... das ist das ihre, in diese Ersatzhandlungen konzentriert sich die ganze Sehnsucht nach verlorenem Glück. Die Leiter neiden es ihnen und verkleinern es, wo sie nur können. So ergänzen sich Leidende und Leitende zu einer schönen Einheit: zur Anstalt. Es ist durchaus nicht immer grobe Gewalt, die dieses Getriebe zusammenhält, auch nicht immer die Not – es ist darüber hinaus eine gewachsene Einheit, eine Zusammengehörigkeit von Menschen, die sich dieser Gesetzmäßigkeit nicht bewusst sind. Beide sehen ineinander den Feind: beide können miteinander nicht anders leben. Und so leben sie : Düster schwelt unter dem Nummernleben der Leidenden der Rest von Seele, der ihnen geblieben ist. Er entlädt sich in seiner Karikatur: in Fressen, Zoten, Klatsch und Masturbation. Dies sind nicht etwa, wie die Leiter meinen, ›Laster‹ – sondern eben jene letzten, den Leidenden gebliebenen Symbole für das Unregelmäßige, zu dem jeder Mensch spielerisch, als Gegengewicht für seine Bindungen, hinstrebt. Das übliche Anstaltsleben ist sozialschädigend – weil es keinen echten Kollektivismus, der allein auf freiem Willen aufgebaut werden kann, in sich birgt. Kommen solche Menschen aus der Anstalt heraus, so haben sie meistens mehr Schwierigkeiten mit der Umwelt zu überwinden als vorher. Der Leitende aber hat, wie die Sprache so tief sagt: »in der Arbeit seine Befriedigung«. Er hat sie wirklich. Er kann sich in ihr ausleben. Er herrscht. Er macht sich zum Sklaven seiner Arbeit, wenn er ein anständiger Kerl ist – aber er herrscht. Und feuert sich ununterbrochen wieder an und entzündet sich: am Widerstand seiner Helfer, am Widerstreben der Leidenden, an den Schwierigkeiten des Apparats, an den Reibereien mit seiner Zentrale, die ihn von allem am meisten bedrücken, weil hier die Grenzen seiner Freiheit sind. Auch fühlt er sich meist in seiner Arbeit nicht anerkannt – er träumt von Größerem: mehr organisieren! mehr Anstalten! viele! alle! Der Machttrieb spielt auf ihm sein Lied. Leitende Frauen unterliegen dem Machttrieb stärker als Männer, weil die meisten zu tun vermögen, was nur wenige Männer können: eine Arbeit bis in die letzte Falte hinein ernst nehmen. Frauen glauben an das, was sie im Dienst tun, wie an ein Evangelium. Daher sind sie: doppelt so aufopferungsbereit wie Männer, doppelt so machtgierig, doppelt so boshaft wie jene, wenn es diese Macht zu verteidigen und auszubauen gilt. Sehr oft 37 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß schlägt der Machttrieb bei Frauen in seelischen Sadismus um – dann wohl immer, wenn sie geschlechtlich nicht voll befriedigt sind. So kommen viele Kindermisshandlungen zustande. Die Anstalt dient einem Zweck: Menschen sollen in ihr aufbewahrt, gebessert, gedrillt, erzogen, zur Arbeit angeleitet werden ... aber in allen regiert über Menschen und Sachen der soziale Geltungsdrang einer herrschenden Klasse. Kurt Tucholsky, 1929 38 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 5. Quellen, Literaturhinweise und Links 5.1. Sekundärliteratur Aller, Jan: Als Zögling zwischen Maeterlinck und Mach. In: Martini, Fritz: Probleme des Erzählens in der Weltliteratur (Klett) Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. Erich Schmidt Verlag: Berlin 2003, S. 82. Berghahn, Wilfried: Robert Musil in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. (Rowohlt) Brosthaus, Heribert: Der Entwicklungsroman einer Idee. Untersuchungen zu Gehalt, Struktur und Stil in Robert Musils Roman »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« (Gugel) Corino, Karl: Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. (Rowohlt) Corino, Karl: Törleß ignotus. Zu den biographischen Hintergründen von Robert Musils Roman »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß«. Dinklage, Karl: Robert Musil. Leben, Werk, Wirkung. (Rowohlt) Dinklage, Karl u.a.: Robert Musil. Studien zu seinem Werk. (Rowohlt) Freij, Lars W.: Türlosigkeit. Robert Musils »Törleß« in Mikroanalysen mit Ausblicken auf andere Texte des Dichters. (Aluyquist und Wizsell) Ludwig, Ralf: Kant für Anfänger. Die Kritik der reinen Vernunft. Eine Leseeinführung von Ralf Ludwig (dtv) Luserke, Matthias: Robert Musil (Sammlung Metzler) Mulot, Sibylle: Der junge Musil. Seine Beziehungen zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. (Heinz) Roth, Marie-Luise: Robert Musil. Ethik und Ästhetik. Zum theoretischen Werk des Dichters (List) Schröder-Werte, Renate: Erläuterungen und Dokumente: Robert Musil. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. (Reclams UB) Walter, Jens: Sadistische Spiele auf dem Dachboden. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.) : Romane von gestern- heute gelesen, Frankfurt am Main 5.2. Filme Der junge Törleß, (Deutschland/Frankreich: 1966): Volker Schlöndorff (Regie/ Drehbuch), Mathieu Carrière, Bernd Tischer, Fred Dietz (Darsteller) A Clockwork Orange, (Großbritannien 1971): Stanley Kubrick (Regie/Drehbuch), Michael Bates, Patrick Magee, Malcolm McDowell, Waren Clarke (Darsteller) 39 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 5.3. Internet Links Begleitmaterialien im Internet: www.theater-an-der-ruhr.de www.modetheorie.de : Georg Simmel www.youtube.com. Suchbegriff: Törleß. Ausschnitte aus dem Film von Volker Schlöndorff 40 / 41 Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Impressum: Theater an der Ruhr Spielzeit 2008/2009 Künstlerische Leitung: Roberto Ciulli, Gralf Edzard Habben, Helmut Schäfer, Sven Schlötcke Redaktion: Sandra Höhne, Tobias Fritsche, Sven Schlötcke Stand: 15.01.2009 Theater an der Ruhr Akazienallee 61 45478 Mülheim an der Ruhr Kontakt und theaterpädagogische Begleitung: Bernhard Deutsch / Nina Hofmann Theater an der Ruhr, Akazienallee 61, 45478 Mülheim an der Ruhr 0208/ 599 01 47; Mail: [email protected] 0208/ 599 01 34 ; Mail: [email protected] 41 / 41