Materialien zu Musils "Törleß"

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Materialien zu Musils "Törleß"
Die Verwirrungen des Zöglings
Törleß
nach Robert Musil
Begleitmaterialien
Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Theaterfassung nach dem Roman von Robert Musil
Es spielen:
Törleß
Marco Leibnitz
Basini
Nils Amadeus Lange
Beineberg
Reiting
Mirco Monshausen
Andreas Potulski
Božena
Gabriella Weber
Regie, Bühne und Kostüme:
Albrecht Hirche
Dramaturgie:
Regieassistenz:
Sven Schlötcke
Sandra Reitmayer
Licht:
Jochen Jahncke
Ausstattungsassistenz:
Sandra Kruse
Requisite:
Maske:
Sarah Kornettka
Hildegard Winter
Gewand:
Katharina Lautsch
Musiken von Bohren und der Club of Gore, Rammstein, Bat for Lashes, Mary and the boy
Video von United off productions “Transsibirische Eisenbahn”
Premiere: 15. Januar 2009
Spieldauer ca. 105 Minuten
Kontakt und theaterpädagogische Begleitung:
Bernhard Deutsch / Nina Hofmann
Theater an der Ruhr, Akazienallee 61, 45478 Mülheim an der Ruhr
0208/ 599 01 47; Mail: [email protected]
0208/ 599 01 34 ; Mail: [email protected]
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
INHALT
1.
VORBEMERKUNGEN.......................................................................................................... 4
2.
DER STOFF ......................................................................................................................... 5
3.
4.
5.
2.1.
2.2.
Die Geschichte............................................................................................................. 5
Die Hintergründe .......................................................................................................... 7
2.3.
2.4.
Törleß’ Verwirrungen ................................................................................................. 10
Törleß und Kant ......................................................................................................... 11
2.5.
Der kernlose Mensch ................................................................................................. 14
2.6.
2.7.
Thema: Sprachskepsis und Erkenntnis ..................................................................... 15
Macht. Sex. Gewalt .................................................................................................... 15
2.8.
Die Inszenierung ........................................................................................................ 17
Anregungen für den Unterricht ........................................................................................... 20
3.1.
3.2.
Vorbereitung des Theaterbesuchs............................................................................. 20
Thema: Rezeption und Aktualität............................................................................... 21
3.3.
Vorschlag für ein Fächerübergreifendes Projekt: Philosophie/Deutsch .................... 21
3.4.
Vorschlag für die Auseinandersetzung mit dem Thema Mode.................................. 22
Anhang – Materialien zur Inszenierung .............................................................................. 24
4.1.
4.2.
Die Figuren und die Eigenart jugendlichen Denkens................................................. 24
Zu den Kostümen....................................................................................................... 29
4.3.
4.4.
Das Drama - der Roman und die Bühne ................................................................... 33
Die Anstalt - Kurt Tucholsky....................................................................................... 36
Quellen, Literaturhinweise und Links.................................................................................. 39
5.1.
5.2.
Sekundärliteratur........................................................................................................ 39
Filme .......................................................................................................................... 39
5.3.
Internet Links.............................................................................................................. 40
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
1. VORBEMERKUNGEN
„Der Junge Törleß, ein Janusgesichtiges, von verwegenen Erfahrungen und tollkühnen
Gedankenaufschwüngen gezeichnetes ICH: Er ist für mich der erste moderne Mensch in
der deutschen Literatur: dem Hofmannsthalschen Lord Chandos oder dem Rilkischen Malte
Laurids Brigge oder Thomas Manns Hanno Buddenbrook um ein halbes Jahrhundert
voraus.“
Walter Jens „Sadistische Spiele auf dem Dachboden“
Törleß, der empfindsame Jüngling, der sich in Selbstbeobachtungen zwischen Schein und Sein
verliert, der distanzierte Grübler, der unversehens vom beobachtenden Mitläufer zum Täter
wird, dieser „Outcast im Zeichen des Terrors“, wie Walter Jens ihn nennt, ist in der Literatur des
20. Jahrhunderts zum literarischen Topos geworden. Robert Musil beschreibt die Verwirrungen
der Identitätssuche während der Pubertät als Reise in die Abgründe menschlichen Daseins und
weist damit weit über das Thema des Erwachsenwerdens hinaus.
Auch mehr als hundert Jahre nach dem Erscheinen des Romans sind seine Themen hoch
aktuell: Es wird das Bild einer Jugend entworfen, die zwischen Kälte und Romantik, Rationalität
und Rausch, Realität und Virtualität chargiert.
„Denn die erste Leidenschaft des erwachsenen Menschen ist nicht die Liebe zu der einen,
sondern Hass gegen alle. Das sich unverstanden Fühlen und das die Welt nicht verstehen,
begleitet nicht die erste Leidenschaft, sondern ist ihre einzige nicht zufällige Ursache.“
(aus D.V.d.Z.T. von Robert Musil)
Nicht die äußere Handlung, die Geschichte der Internatsschüler, die einen Mitschüler physisch
und psychisch foltern, die Experimente um Macht und Selbsterkenntnis, stehen im Zentrum des
Romans und der Aufführung, sondern der Bewusstwerdungsprozess der Jugendlichen
zwischen bürgerlicher Weltwahrnehmung und dunklen Erfahrungen, zwischen Schein und Sein,
Wirklichkeit und Traum. Die Empfindung einer anderen Wirklichkeit, die sich von der
empirischen Welt unterscheidet, einer dunklen, geheimnisvollen Welt voller Abgründe, zieht
auch das Bild vom eigenen ICH in Zweifel.
Der verstörende Prozess der geistig-sinnlichen Bewusstwerdung der Heranwachsenden, stellt
die sicher geglaubte bürgerliche Welt in Frage. Macht und Ohnmacht, Sexualität und
Grausamkeit, Metaphysik und Vernunft werden zu Gegenständen, Auslösern und Instrumenten
der Selbsterkenntnis. Die Bühne wird dabei zum Laufsteg fiebriger Selbstbehauptung.
Die Themen des Romans und der Theaterfassung des Theater an der Ruhr lassen sich nicht
nur im Deutschunterricht, sondern auch in Philosophie oder Geschichte gleichermaßen gut
behandeln.
Falls Sie Fragen zum Material oder zur Inszenierung haben oder uns Ihre Erfahrungen beim
Vorstellungsbesuch, Ihre Kritik oder auch Ihr Lob mitteilen möchten, freuen wir uns auf Ihre
Rückmeldungen.
Sven Schlötcke
Dramaturg und Künstlerischer Leiter
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2. DER STOFF
2.1.
Die Geschichte
„Törleß“ ist die Geschichte einer Bewusstwerdung. Das Erkennen, Hinzulernen, Erfahrung
machen wird zum größten Lebensreiz. Die Titelfigur wird sich der Existenz einer „zweiten
Wirklichkeit“, wie Musil es nennt, bewusst. Diese Bewusstwerdung über ein inneres und ein
äußeres Selbst, über die eigene Doppelgesichtigkeit, die generelle Dualität aller Erscheinungen
- der Menschen, der Dinge, der Ereignisse - stürzt das sich entwickelnde ICH in eine tiefe Krise
und bildet das thematische Zentrum des Romans. Formal manifestiert sich das Thema der
Zweigesichtigkeit, indem der Autor der äußeren eine innere Handlung zur Seite stellt.
2.1.1.
Die äußere Handlung: Eine Internatsgeschichte
Eine höhere Bildungsanstalt in der Provinz. Dumpfe Gleichförmigkeit bestimmt die Tage – hoch
bezahlter Drill ohne Esprit. Die Zöglinge – zumeist Kinder des gehobenen Bürgertum -sollen
von den Anfechtungen der Städte fern gehalten werden.
Die Enge und Abgeschiedenheit der Kadettenanstalt machen den Ort aber zu einem Treibhaus
der Empfindungen: Die sexuelle Dämmerung wird aufgeheizt von den Schlafsaalheimlichkeiten
der männlichen Gleichaltrigen, der trockenen Ahnungslosigkeit der Lehrer, die scheinbar nie
hinter die Fassade der Vernunft geblickt haben oder nicht mehr blicken wollen und vom Gefühl
der Abgeschiedenheit. Die den Ort streifende Bahnstrecke kündet sehnsüchtig von Ferne und
verstärkt so dieses Gefühl noch.
Draußen nur Felder, Kühe, Bauern und die Bauernmädchen und Bozena, das Weib, die Hure...
Die einzig aufregende Erfahrungsmöglichkeit für die Schüler Basini, Törleß, Reiting und
Beineberg.
In dieser Atmosphäre entlarvt Reiting, der Anführer der Klasse, einen der Mitschüler als Dieb.
Nur drei wissen um das Geheimnis: Der „charmante Sadist“ Reiting, der „Mystagoge und
elegante Folterer“ Beineberg, der „irritierte Schattenleser und Registrator“ Törleß. Statt den
Täter zu melden, was Törleß zunächst fordert, experimentieren die drei mit dem ihnen
Ausgelieferten. Die Motive sind unterschiedlich, – Lust an der Erfahrung der Macht,
Selbsterkenntnis, sexuelle Erfahrungen... – führen aber zur gleichen Methode: Psychische und
physische Gewalt. Basini ist der Dieb, der Täter, der zum hilflosen Opfer wird. Ein Opfer
allerdings, das die sadistischen Spiele verzweifelt zu genießen beginnt.
Nachdem die drei ihre Positionskämpfe um Basini ausgetragen haben – der intrigante Reiting
hintergeht Beineberg und Törleß - und das alte Gleichgewicht der Macht wieder hergestellt ist,
werden die Experimente auf die Spitze getrieben: Beineberg scheitert frustriert mit dem
experimentellen Nachweis seiner eurasischen Mystik durch Hypnose, Reitings sadistische Lust
erlahmt und Törleß hat seine Vivisektion/Zergliederung auf der Suche nach der Seele
schaudernd ausgekostet. Basini taugt nicht mehr zum Gegenstand und wird der Klasse - der
Masse - ausgeliefert, die ihn johlend bis aufs Blut hetzt.
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Törleß verhindert, indem er die Schulleitung informiert, weitere Quälereien an Basini. Der aus
bürgerlichem, sozial schwächerem Umfeld stammende Basini wird der Schule verwiesen. Seine
Zukunft ist zerstört. Törleß kehrt, an Erfahrungen und Selbsterkenntnis reich, zu seinen Eltern
zurück und das Leben liegt vor ihm.
2.1.2.
Die innere „Handlung“: Eine fiebrige, reflexive Bewusstwerdung
„Musil selbst hat die Gestaltung eines Denkprozesses vom sinnlichen Erleben über Erfassen, Verarbeiten bis zur
Bewusstwerdung für das wesentliche Thema des Törleß-Romans und eines der Hauptthemen seines Gesamtwerkes
gehalten.“
Renate Schröder-Werle
Die innere „Handlung“ vollzieht sich im Roman wesentlich auf der Ebene des Erzählers. Die
Deutung des Denkens und Fühlens der Törleß-Figur vollzieht sich, rück- oder vorausblickend,
entweder aus einer distanzierten Erzählergegenwart oder als personale Erzählung (vom
Erzähler beschriebene innere Monologe der Törleß-Figur), die die inneren Vorgänge direkt
wiedergeben. In dieser Darstellung des „Seelenfiebers“ der Bewusstwerdung verschränken sich
Traum und Wirklichkeit, Gefühl und Vernunft zu einem undurchdringlichen Dickicht aus dem die
verwirrenden Doppelgesichter der Erscheinungen auftauchen. Sicher geglaubte Realitäten
stellen sich als trügerisch heraus. Die bürgerliche, äußere Welt entlarvt sich als Trugbild
eingerahmt von Behauptungen. Das Unvermögen, die Empfindungen, Gefühle und sinnlichen
Erfahrungen mit den Mitteln der Sprache und der Vernunft zu veranschaulichen, verwirrt Törleß
zunehmend.
Die Erfahrung des „unterirdischen Eigentlichen“, des Unsagbaren, ist die zentrale Problematik
des Romans, die in der tastenden, symbolisch aufgeladenen Sprache der inneren Handlung
ihren Ausdruck findet.
„Nach Inhelder und Piaget, lässt sich die Eigenart jugendlichen Denkens auf die kurze Formel bringen, dass über das
Denken nachgedacht wird und dass wirkliche Ereignisse auf dem Hintergrund von möglichen Ereignissen gesehen
werden. Diese formalen Qualitäten, nämlich Reflexivität und die Neigung, vom konkreten Fall ausgehend nach
abstrakten Beziehungen zu fragen, haben eine Vielzahl qualitativer Veränderungen der Erlebnisinhalte im
Gefolge.(...)Im Mittelpunkt dieser Zuwendung zum Binnenseelischen steht die Entdeckung des ICH... Entdeckung des
ICH meint auf diesem Hintergrund, vom Faktischen zum Möglichen überzugehen.“
Otto Ewert, Entwicklungspsychologie des Jugendalters
[1983]
Die nächtlichen Ereignisse um Basini treiben Törleß Bewusstwerdung der abgründigen,
unaussprechlichen Vieldeutigkeit von Dingen, Menschen und Ereignissen weiter an. Der
Moment der sexuellen Dämmerung fällt mit der Suche nach dem ICH und den Experimenten
mit Basini zusammen. Wer bin ich wirklich? Wie könnte, wie will ich sein? Ist eine Frage nach
den eigenen Möglichkeiten. Im Anderen – Basini, aber auch Reiting und Beineberg – sieht
Törleß immer auch das Fremde, dessen Innenleben er nicht kennt. Seine Versuche, die
anderen zu erkennen, sind Versuche sich selbst zu erkennen: Das ICH.
Die Erkenntnis reift, dass es eine eindeutige Wirklichkeit, auf die sich das ICH beziehen lässt,
nicht gibt. Stattdessen scheinen die eigenen Empfindungen und die Überformung des
Wahrgenommenen durch Sprache die „Wirklichkeit“ erst zu konstituieren. Dieser Gedanke führt
ins „bodenlose“. Robert Musil schrieb zur Figur Törleß in seinen Tagebüchern, dass dieser das
„Unbegreifliche, Ahnungsvolle, nur ungefähr vorstellbare, wo es auftritt überall begreiflich zu
machen, genetisch, psychologisch.“
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Der Zusammenfall des sexuellen Erwachens und der fiebrigen Suche nach dem ICH setzt
unwillkürlich und mit ungeheurer Wucht Affekte frei - Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude,
Liebe, Hass, Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid - die zu einer Quelle der Grausamkeit werden. Das
Ausschreiten der eigenen Möglichkeiten durch das Ausüben von Macht verliert im Affekt jedes
Maß. Der eigene Seelenterror wird dabei zum Terror über andere.
Törleß hat das Dunkel gesehen: An sich und den Anderen. „Er wusste nun zwischen Tag und
Nacht zu scheiden;..“ Am Ende kann er mit dem Bewusstsein, beide Welten, die „helle“
vernünftige und die „dunkle“ Welt der Empfindungen dahinter, ihren verwirrenden Realismus,
überwinden: Er weiß nun, dass es immer zwei Möglichkeiten gibt, die Welt zu betrachten.
2.2.
Die Hintergründe
Robert Musil begann die Vorarbeit an seinem Erstlingsroman 1902 und schloss das Manuskript
1905 ab. Erst mit Unterstützung des ihm zugeneigten Kritikerfürsten Alfred Kerr gelang 1906 die
Veröffentlichung.
2.2.1.
Autobiografische Hintergründe
Vieles deutet darauf hin, dass Musil sehr stark autobiografische Elemente in D.V.d.Z.T.
verarbeitet hat, auch wenn er selbst diesen Umstand immer wieder abzuschwächen versuchte.
»Nach Absolvierung der Militär-Oberrealschule in Mährisch-Weißkirchen bezog Musil am 1.
September 1897 die Technische Militärakademie in Wien. Dort interessierte ihn im
artilleristischen Fache die Ballistik. [...] Aber im Grunde seines Herzens war er jetzt so weit,
zu erkennen, daß für ihn das Militär, wo man außer Weibern und Pferden keinen
Gesprächsstoff und keine Geistigkeit kannte, nicht die Erfüllung seines Lebenszieles
bedeuten konnte.«
Karl Dinklage: Musils Herkunft und Lebensgeschichte.
In: Robert Musil. Leben, Werk, Wirkung. Hrsg. von K. D.
Zürich/Wien: Amalthea-Verlag, 1960. S. 209.
Die eigenen Erfahrungen in der Kadettenanstalt in Weißkirchen haben Robert Musil als Vorlage
für die Grundsituation des „Törleß“ gedient.
Wie nah Musil seinen Figuren, insbesondere der Törleß-Figur, war, lässt sich aus seinen
„Aufzeichnungen eines Schriftstellers“ (um 1940/41) ermessen:
»Die Anlage tendiert nach verschiedenen Richtungen. Wie der Vogel im Ei. Man drückt
Gemütslagen
aus. Jugendliche
Melancholie. Paraphrasen.
Vorpubertätsu.
Pubertätseinfälle. Die Erfindungen, die Form kommen von außen, von dem, was gerade da
ist. Der Typus des Zusammenwirkens ist der des >Primanerdramas<. Durchaus kein
Realismus. Die Realität wird nicht beachtet. Reale Vorstellungen fehlen völlig. Man ist ein
interessantes Objekt, ohne es zu bemerken; man könnte das interessanteste Buch über
sich schreiben u. weiß nichts davon; möchte es auch verschmähen. (Man hat keine Distanz
zu sich, d. h. keinen Point de vue [frz., Gesichtspunkt] außerhalb der aktuellen Gefühle.
Man hat keine Beobachtung, weil man gar nicht weiß, was mit der Beobachtung anfangen.)
(In der Philosophie spricht man von einer Stufe der Objektivierung, der Spaltung in Subjekt
u. Objekt) Dieser Spaltungsvorgang, die Selbstbeobachtung, wird etwas später besonders
lebendig. Mr. le vivisecteur. [frz., Vivisektion: Zergliederungskunst] Bei mir kam es überdies
auch von der Zeitmode. A la Nietzsche: ein Psychologe. In summa kommt da etwas von
außen. Die >Moderne< kam.«
»Das Fehlen der Realität war immer noch quälend. Trotzdem instinktiv sichere Ablehnung
des Realismus, der damals ein so nahes Vorbild war. [...] Plötzlich der Törleß. Die
Seltsamkeit der Themenwahl. Das unterirdische Eigentliche [...]. Bis daher ist alles
Entwicklung einer Anlage. Keine Besinnung auf die Aufgabe.«
Robert Musil Tagebücher
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Die biografischen Bezüge des Ortes und der Figuren des Romans lassen sich konkret
nachweisen. So beschreibt Karl Corino die Vorbilder für die Figuren Beineberg, Basini und
Reiting, denen Musil im Internat in Mährisch-Weißkirchen tatsächlich begegnet ist:
»In Mezzolombardo/Tirol, am 8. November 1878, wurde Jarto Reising von Reisinger
geboren, Sohn eines Privatiers. Nach zwei Realschulklassen in Graz, zwei Klassen in
Eisenstadt (der dritten und vierten) ist Reising: auch in Weißkirchen 3 Jahre lang
Schulkamerad Musils. Sein Vater stirbt angeblich frühzeitig, seine Mutter Maria lebt in Wien
wie sein Vormund, Dr. Anton Pergelt. Reising war Allerhöchster Privat-Stiftling, das
Kostgeld für ihn wurde vom >Allerhöchsten Privat- und Familienhaus< bezahlt. Reifings
Behauptungen, >daß sein Vater eine merkwürdig unstete, später verschollene Person
gewesen sei. Sein Name sollte überhaupt nur ein Inkognito für den eines sehr hohen
Geschlechtes sein<, erscheinen demnach gar nicht so absurd.[...] Laut Klassenbuch ist er
kräftig entwickelt, vor der Ausmusterung 1,79 m groß, hat eine skrofulöse Anlage, die sich
erst 1896/97 bessert. Seine Klassenplätze schwanken zwischen dem 7. und dem 22., er gilt
als ernst, ehrliebend (was ein Euphemismus für ehrgeizig ist: dieses Attribut bekommt
Musil!), strebsam, auch als empfindlich, zum Widerspruch geneigt, kameradschaftlich,
anständig und nett. [...] Beineberg: Richard Freiherr von Boineburg-Lengsfeld, geboren am
20. Oktober 1878 als Sohn des Rittmeisters im Ulanenregiment Nr. 6, Moritz Freiherr von
Boineburg. Richard von Boineburg sitzt zunächst 5 Volksschulklassen in Wien, dann 5
Jahre in Eisenstadt ab (1889-1894). Das Mal ist er Primus, ein anderes Mal kommt er mit
knapper Not am Repetieren vorbei; so ist er etwa im ersten Halbjahr 1895/96 nur der 40.
unter 44, was bei dem sicherlich begabten jungen Mann zweifellos auf starke
außerschulische Interessen< schließen lässt. [...] Die Beschaffenheit des Geistes und
Gemütes ist bei Boineburg so: 1890/91 bescheinigt man ihm, er habe eine rasche, aber
flüchtige Auffassung, gutes Gedächtnis, sei heiter, lebhaft, reizbar, artig, im Jahr darauf hat
er plötzlich eine gründliche Auffassungsgabe, ist etwas empfindlich, sehr strebsam, artig
und nett; wieder ein Jahr später erscheint er als ernst, etwas empfindlich, sehr ehrliebend,
artig und rein. Schließlich stellt man fest, er habe eine rasche Auffassung, sei heiter,
ehrliebend, sehr artig, ein guter Kamerad. Man lese und staune. Entweder handelt es sich
hier um eine einzige Liste von Verlegenheiten, oder dieser Boineburg ist schon ein kleiner
Mann ohne Eigenschaften.
Schließlich Basini. Er ist die schillerndste Figur, wahrscheinlich deswegen, weil er
synthetisch, d. h. aus Zügen verschiedener realer Personen zusammengesetzt ist. Da ist,
quasi als »Namengeber< Franz Fabini, Sohn eines leichtlebigen, frühverstorbenen
Kaufmanns, geboren am 18. August 1880 in Hermannstadt (Siebenbürgen). Er hatte zwei
Klassen Volksschule und zwei Klassen Realschule in seiner Geburtsstadt und zwei Klassen
Militär-Unterrealschule in Eisenstadt absolviert, ehe er nach Mährisch-Weißkirchen kam.
Aufgrund seiner Bedürftigkeit und zunächst befriedigender Leistungen bekam er einen
Preußschen Stiftungsplatz und vier Gulden Monatszulage. Im Winterhalbjahr 1894/95 hielt
er als 25. unter 44 Mitschülern noch einen Mittelplatz, im Frühling und Sommer 1895 stürzte
er auf Platz 46 von 48 ab und mußte sich einer Nachprüfung unterziehen; im Februar 1896
war er gar 48. von 48 Schülern, was darauf deutet, daß sich in seinem Leben trotz
angeblich entsprechender Fähigkeiten und ziemlich guter Auffassungsgabe Dramatisches
ereignet haben muß.[...] Ein Foto, das ihn mit Mutter und Schwester porträtiert, zeigt einen
hübschen, ein wenig femininen Jungen mit sinnlichem Mund und großen, etwas schwülen
Augen. Diese Qualitäten machen ihn zum attraktiven päderastischen Sexualobjekt, ein Dieb
war Fabini nicht. Anders ein gewisser Hugo Hoinkes. Als Zögling des II. Jahrgangs (Klasse
c) beging Hoinkes am 13. 2. 1896 einen Diebstahl, indem er »ein Paket Cigaretten-Tabak
im Werte von 17 kr. und einen Silbergulden aus der Spiel- respektive Schulbanklade
anderer Zöglinge heimlich entwendete. Hoinkes war geständig und wurde daraufhin über
Antrag des Klassenvorstandes an die Lehrerkonferenz dem Reichskriegsministerium zur
Entfernung aus der Militärerziehung vorgeschlagen. Dem Antrag des Anstaltskommandos
wurde am 20. 2. 1896 stattgegeben.[...] konstruiert aus seinem Vergehen das Motiv für
Basinis sexuelle Unterjochung - Freiheit der dichterischen Psychologie.«
Karl Corino: Törleß ignotus. Zu den biographischen
Hintergründen von Robert Musils Roman
Eine realistische Geschichte einer k. u. k. Militär und Bildungsanstalt zu schreiben war
allerdings nicht Musils Gegenstand:
»Die Schilderung einer >k. u. k. Militär-Erziehungs- und Bildungsanstalt< [...] wäre seltsam
genug, auch abgesehen von der Wichtigkeit des Zöglings für die spätere Politik. Die
Umformung im Törleß.
Die Wahrheit. - Gehört sie zur Franzisco-Josephinischen Ära oder ist der Ursprung älter ?
Es war noch etwas daran wie der Grundsatz, der Offizier solle aus der Mannschaft
hervorgehn. ? Grenzergeist ? Gleiche Grundidee wie die alte Kadettenschule? Ich müßte
nachlesen. Sagen wir, spartanisch. [...]
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Die Erziehung war, mit Ausnahme der Akademie, fast ganz unteroffiziersmäßig. Die
Lehrgehilfen u. der Klassenfeldwebel (u. meine Opposition gegen ihn). Die Monturen u. das
Schuhwerk. Die bloß nicht passende Paradeuniform u. die aller Beschreibung spottenden
Schulmonturen. Ärger als Sträflinge.«
Robert Musil, Tagebücher I (Heft 33), S. 6.
2.2.2.
Historische Hintergründe
Das 19. Jahrhundert hatte die wissenschaftliche Welterkundung und Welterklärung, die
"Entzauberung der Welt" (Max Weber), weit vorangetrieben. Im Zuge der Aufklärung war der
»Himmel eingestürzt«. Die Religion vermochte keinen Halt mehr zu geben. Die Ära des Fin de
siècle, die Zeit von etwa 1890 bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges, ist geprägt von einem
Schwanken zwischen Zukunftseuphorie und diffuser Zukunftsangst, Weltschmerz und
Leichtlebigkeit, Frivolität und Dekadenz. Eine allgemeine Krise hatte das Bewusstsein der
gesellschaftlich maßgeblichen Schichten ergriffen, da mit der Aufklärung, dem technischen
Fortschritt und der sich sprunghaft entwickelnden industriellen Massengesellschaft die
Grundwerte des sozialen Lebens ins Wanken geraten waren. Wie im Wilhelminischen
Deutschland reagierten die Führungsschichten auch in der österreichisch-ungarischen
Doppelmonarchie, die den historischen Hintergrund für Robert Musils Erstlingswerk liefert, mit
einer beispiellosen Bürokratisierung und Militarisierung der Gesellschaft. Das Glück der
affektlosen Ruhe der reinen Vernunft, das die Philosophie schon in der antiken Stoa suchte,
schien die dem modernen Menschen angemessene Geisteshaltung. Die Reinigung der
Vernunft von Emotionen gehört in Folge der Aufklärung zu einer der Gründungsbedingungen
der Moderne. Wie bereits in der Romantik, erhob sich um 1900 in Europa die Klage über die
Entleerung des Lebens durch die Dominanz einer rationalistischen Weltsicht. Gefühlsbetonte
Interpretationen des Lebens wandten sich gegen die Herrschaft des Verstandes. So streben die
Künstler und Intellektuellen des Fin de siècle angesichts der ökonomisierten, marktgetriebenen,
von Technik und Naturwissenschaften gekennzeichneten Massengesellschaft ohnmächtig dem
Schönen entgegen und gestalten ästhetische Gegenwelten. Die Überwindung des Naturalismus
wird erklärtes Ziel. Die Künstler stilisieren sich als Bohemiens und ihre dekadente
Lebenshaltung
als
provokative
Antwort
auf
die
scheinbar
vernünftigen
bürgerlichen
Lebensentwürfe.
In seinem Essay »Das hilflose Europa« bemerkte Robert Musil sarkastisch über seine das
Denken verachtenden Zeitgenossen:
»Der Chor der Geisteskämpfer und Seelevollen aber – von angeblich Goethe bis zum
kleinsten geistigen Moritz und Gottseibeimir von heute – hat längst einstimmig intuitiert: es
gibt überhaupt nichts Erbärmlicheres als Empirismus. Wir plärren für das Gefühl gegen den
I ntellekt und vergessen, dass Gefühl ohne diesen – abgesehen von Ausnahmefällen – eine
Sache so dick wie ein Mops ist. Wir haben nicht zuviel Verstand und zuwenig Seele,
sondern wir haben zuwenig Verstand in den Fragen der Seele.«
In seinen Werken zeigte sich Musil jedoch nicht als Widersacher der Gegenbewegung zur
rationalistischen Aufklärung. Seine Protagonisten suchen das Wahre, Gute und Schöne in der
Balance zwischen Vernunft und Gefühl.
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
2.3.
Törleß’ Verwirrungen
Meine Logik, zumindest von meiner Logik kann ich wissen, dass sie gesund funktioniert; zu
jedem Ja sagt sie ein Nein, und zu jedem Nein sagt sie ein Ja, das ist real. Nur hatte ich
bisher zur Einsicht in diese Realität nicht genügend Kraft; jetzt bin ich in zwei verschiedene,
einander genau deckende logische Teile zerrissen; alles, was ich weiß, was ich fühle, ist
identisch mit dem, was ich nicht fühle und was ich nicht weiß; das Wissen, dahinter das
Nichtwissen, dahinter das Wissen, und kein Ende.
Péter Nádas
Der junge Törleß ist ein repräsentativer Vertreter des Fin de siècle, einer Epoche, die geprägt
war von einer allgemeinen Richtungslosigkeit und Unsicherheit. Der Internatszögling hat nicht
das Gefühl einen festen Boden unter den Füßen und eine feste Haut um sich zu haben, das
den meisten Menschen so natürlich erscheint. Dieser Mangel schmerzt ihn, denn er vermag
sich zu Anfang des Romans ein Leben ohne ewige unantastbare Wahrheiten und feste
Grundsätze nicht vorzustellen. Diese Geisteshaltung resultiert aus seiner Angst vor ihm seltsam
erscheinenden Dingen und Menschen, die auf ihn gefährlich und bedrohlich wirken.
Fast zwanghaft richtet er seine Aufmerksamkeit auf alle Phänomene, die mit dem
Alltagsverstand nicht zu enträtseln sind, die gewissermaßen eine Lücke in der Kausalität
unseres Denkens aufreißen. Immer wieder erlebt er Momente, da die gewohnte, für ihn normal
erscheinende Wirklichkeit sich plötzlich umwandelt und ihre bisher verborgene, geheimnisvolle
Existenz offenbart. Verbissen versucht er, die Welt als Ganzes zu begreifen und ist irritiert, als
er die unmittelbare Nähe einer dunklen, unerklärlichen Seite zur taghellen Welt erkennt. Er
selber bemüht sich darum, diese beiden Welten genau voneinander zu trennen und so
schmerzt es ihn, als die Hure Bozena, die er der dunklen Seite zugehörig sieht, das Wort
Mutter, das für ihn das absolut Reine bezeichnet, ausspricht. Auch dass der Spielladendieb
einer seiner Mitschüler ist und nicht wie zunächst gehofft ein Diener, verunsichert Törleß sehr.
Lange Zeit hatte Törleß geglaubt, dass es die Dinge sind, die sich verändern. Basini, wie er
nackt vor ihm steht, empfindet er als Kunstwerk und bewundert dessen weiche mädchenhafte
Formen. Durch den gemeinen Dieb, der ihn einerseits abstößt, erkennt er andererseits zum
ersten Mal, was Schönheit bedeutet.
Später muss Törleß einsehen, dass es nicht Basini ist, der sich verändert, gleich jenem Helden
der Geschichte von Robert Louis Stevenson, die von dem guten Dr. Jekyll erzählt, der durch
einen geheimnisvollen Trank zu dem gewissenlosen Hyde wird. Es ist Törleß selbst, der die
Dinge und Menschen bald mit dem Verstand, bald mit der Emotion begreift. Als er dies erfasst
hat, gesteht er sich auch selbst ein, dass auch er von der Nachtseite des Lebens nicht allzu
weit entfernt ist und, wenn ich einmal wirklich so handelte wie Basini, ebenso wenig
Außergewöhnliches dabei empfinden würde wie er.
Wie Musil, der oft betonte, der Törleß höre dort auf, wo später Der Mann ohne Eigenschaften
beginne, begreift auch dieser die vermeintliche Doppelheit der Dinge als variable
Erscheinungsform desselben Seins.
Da sich ja weder an den Wänden und Dingen etwas wirklich änderte und kein Gott das Zimmer
dieses Ungläubigen betrat und Ulrich selbst keineswegs auf die Klarheit seines Urteils
verzichtete, konnte es nur die Beziehung zwischen ihm und seiner Umgebung sein, was dieser
Veränderung unterworfen war. ES ist ein anderes Verhalten; ich werde anders und dadurch
auch das, was mit mir in Verbindung steht! dachte Ulrich.
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(Der Mann ohne Eigenschaften)
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Im Gegensatz zu seinen auch körperlich starken Mitschülern Reiting und Beineberg ist Törleß
bewusst, dass das Fundament, auf dem er seine Überzeugungen, sein Denken aufgebaut hat,
wacklig ist.
Schwindlig wird ihm, als er feststellen muss, dass er auch dort, wo er sicher war, mit festen
Tatsachen zu operieren und festen gesicherten Boden unter den Füßen zu haben, kurz vor dem
Abgrund steht. Die Mathematik, Inbegriff des Rationalen, Festen, Gesicherten, ist bereit, ins
Irrationale umzuschlagen.
Dies erkennt Törleß, als er über das Phänomen der Imaginären Zahlen nachdenkt. Wenn selbst
die Mathematik Unsicherheiten birgt, dann muss angenommen werden, dass das ganze Leben
ein Irrtum ist. Die logische Gesichertheit der Welt ist offenbar eine Täuschung.
Die Erkenntnis, dass die Welt auf keiner Stufe unserer Erkenntnis wirklich das ist, wofür wir sie
jeweils halten, beunruhigt Törleß zutiefst. Er sucht Halt, daher ist er auch bereit, sich an der
Folter Basinis durch seine Mitschüler zu beteiligen. Er hofft, durch die Beobachtung der Seele
Basinis in einer extremen Situation Aufschluss über seine eigene Seele zu erhalten und
Rückschlüsse auf sich selbst ziehen zu können. Die Gewissenhaftigkeit seines Verstandes
erlaubt ihm eine Gewissenlosigkeit des Gemüts. Er, der zwanghaft bemüht ist, eine eigene
Weltanschauung herauszuarbeiten und die Verantwortung für sein Handeln übernehmen zu
wollen, ist dabei unabsichtlich überfordert.
2.4.
Törleß und Kant
Immanuel Kant war einer der Philosophen, der viel über die Grenzen des Erkenntnisvermögens
und über die Möglichkeit zu moralischem Handeln nachgedacht hat. Um die Frage nach dem
richtigen Handeln beantworten zu können, brauchen wir einen Ausgangsort, von dem aus wir
eine Begründung dafür ableiten, was richtig und was falsch ist. Dieser Standpunkt fehlt Törleß.
Es ist ihm nicht möglich, mit Hilfe seines Verstandes eine Vernunftregel für sittliches Verhalten
aufzustellen.
Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und
Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte
Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.
Dieser Ausruf Kants trifft auf Törleß, der zwar über die Unendlichkeit des Himmels nachdenkt,
nur unvollständig zu. Kant nennt das Vermögen des Menschen, aus eigener Spontaneität und
Willensfreiheit ein Sollen als Maxime für ihr Handeln auszubilden, den intelligiblen Charakter
des Menschen. Intelligibel bedeutet in diesem Fall etwas, das über den sinnlich
wahrnehmbaren Naturablauf hinausgeht. In dem Verhalten Törleß gegenüber Basini wäre es
die nirgendwo in der Natur anzutreffende Notwendigkeit, zu helfen. Durch die Figur des Törleß
wird erkennbar, warum bestimmte menschliche Eigenschaften nicht ausschließlich gut sein
müssen. Der Verstand, den ihm seine Mitschülern zugestehen, ist natürlich etwas
Erstrebenswertes. Doch wenn man bedenkt, wozu ihn Törleß einsetzt, mag man einwenden,
dass er nicht an sich gut ist. Nach Kant können bestimmte Eigenschaften schädlich werden,
wenn der Wille nicht gut ist. So gibt es nichts, was ohne Einschränkung für gut erklärt werden
kann, außer dem guten Willen.
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Dem berühmten Königsberger Philosophen zufolge ist der Wille des Menschen in der Lage,
sich selbst ein Gesetz zu geben und darum autonom. Der Mensch als handelndes Wesen ist
nach Kant frei. Die Freiheit bestimmt sich nicht aus der empirischen Welt, sondern gründet sich
im Denken selbst. Der Mensch ist jedoch gebunden an die Welt der Erscheinungen, in dieser
besteht das Gesetz von Ursache und Wirkung. Durch unmittelbares Aufnehmen erkennt er die
Welt der Erscheinungen, durch die kritische Reflexion, - das Denken kann sich allgemeingültige
Grundsätze schaffen, eine Allgemeingültigkeit für das Handeln entwickeln. Als oberster
Grundsatz muss dem vernunftbegabten Wesen die goldene Regel des kategorischen Imperativ
gelten.
Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könne.
Wie moralisches Handeln aussieht, beantwortet Kant mit dem kategorischen Imperativ, der –
sehr verkürzt ausgedrückt – ein Sittengesetz ist, bei dem sich die Maxime meines Handelns
einer bestimmten Gesetzmäßigkeit unterzieht, die für alle Menschen allgemein und notwendig
wie ein Naturgesetz gilt. Die Erfahrung, die Törleß in der Affäre um Basini macht, zeigt, dass
Erfahrungen ungeeignet sind, ein oberstes Prinzip der Sittlichkeit zu begreifen. Törleß wird zwar
aus dem Internat verabschiedet, doch hat er sich seit langer Zeit dort nicht wohl gefühlt und
zurück zu seinen Eltern gewünscht. Er kommt straflos aus der Geschichte heraus. Weder
während der Quälereien noch als er sich im Erwachsenenalter an sie erinnert, kommen ihm
moralische Bedenken. Das Ziel des Wachstums seines Verstandes und seiner Seele erscheint
ihm als Rechtfertigung, einem minderwertigen Menschen, als den er Basini empfindet, Schaden
zu zufügen. Basini ist für Törleß nur ein kleines Rädchen, das abgeschrieben wird, wenn es
seine Funktion nicht mehr erfüllt. Törleß handelt somit gegen Kants dritte Formel des
kategorischen Imperativs:
Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden
anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.
Eingestehen will sich Törleß nicht, dass ihn auch ein sinnliches Verlangen an Basini reizt.
Törleß, der mit Basini fast allein im Internat zurückbleibt, als die anderen einige schulfreie Tage
für Ausflüge zu ihren Eltern nutzen, wird von Reiting angewiesen, Basini zu überwachen.
Reiting fürchtete, dass Basini die Gelegenheit nutzen könnte, bei den Lehrern Schutz vor
seinen und Beinebergs Angriffen zu suchen. Aus der Sichtweise der kantschen Theorie gibt es
keinen Grund dieser Forderung Folge zu leisten, da sich die Anweisung Reitings nicht als
allgemeine Gesetzgebung erweist, sondern vielmehr als ein Akt der Willkür, ausgelöst durch
Reitings Herrschaftsdrang. Törleß scheint, obschon er sehr bemüht um Erkenntnis ist, träge im
Denken. Als sein Lehrer ihm von den Werken Kants erzählt, will sich Törleß in dessen Werke
vertiefen, um sich den Anstrengungen des eigenen Denkens nicht aussetzen zu müssen.
Spöttisch hatte Kant selbst diese Art der Erkenntnisforschung beschrieben:
Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, so brauche ich mich ja nicht selbst zu
bemühen.
Törleß hofft, dass sich die Gedanken selbst formen, statt auf ihren Urheber zu warten. Der
Zustand dieses verdutzten Gefühls, das viele Leute Intuition nennen, ist für den eher
denkfaulen Törleß erstrebenswert. Intuition zu haben bedeutet für ihn außerdem, sein Tun nicht
mit der Vernunft verantworten zu müssen. Er will in dem Glauben leben, dass alles eine
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Ursache hat und er daher nicht der Herr seiner selbst ist. Gelassen und souverän entzieht er
sich der Verantwortung für Basini und überlässt diesen dem Unwillen seiner Mitschüler.
Er hat im Verlauf der Handlung keinen Charakter herausgebildet und ist sich dessen bewusst.
Auch ist es Törleß nicht möglich, zwischen dem unmittelbaren Aufnehmen und der kritischen
Reflexion zu unterscheiden. Ihn verwirren diese Gegensätze.
Es kam wie eine Tollheit über Törleß, Dinge, Vorgänge und Menschen als etwas
Doppelsinniges zu empfinden. Als etwas, das durch die Kraft irgendwelcher Erfinder an ein
harmloses, erklärendes Wort gefesselt war, und als etwas ganz Fremdes, das jeden
Augenblick sich davon loszureißen drohte.
Törleß wird von den Dingen stark affiziert. Er geht von der unmittelbaren Wahrnehmung aus
und nimmt sie ungeprüft als Erfahrungsurteil hin und ist sich nicht bewusst, dass unmittelbare
Wahrnehmung nicht Erkenntnis bedeutet, sondern nur deren Vorbedingung ist. Seine
Erkenntnisfähigkeit wird auch dadurch erschwert, dass er kaum zwischen Ereignissen und
Einbildung zu unterscheiden vermag. Törleß ist sich weiterhin darüber unklar, dass er die
Quadratur des Kreises unternimmt, als er versucht, die Welt in ihrem Reinzustand
wahrzunehmen. Da sich der Beobachtende schon immer in das zu Beobachtende mit einbringt,
ist dieses Vorhaben unmöglich. Alle Beobachtung der Welt ist nur als Beobachtung in der Welt
möglich.
Im „Mann ohne Eigenschaften“ bekräftigt Musil seine Ansicht, dass die Mannigfaltigkeit der
Geister, Charaktere, Befindlichkeiten und Temperamente der Menschen zu groß ist, um
allgemeingültige Gesetze für sie zu finden. Die gleiche Sache hat hundert Seiten, die Seite
hundert Beziehungen, und an jeder hängen andere Gefühle.
Wie später Törleß verpflichtet sich Musil dem Denken in Denkdispositionen. Denkdispositionen
erlauben einen Spielraum, der sich an den Kategorien möglicher Erkenntnis orientiert, jedoch
den starren Kausalitätsanspruch im Sinne von Ursache und Wirkung verneint. Ein Vertreter im
Törleß, der sich dem Denken in Systemen zuneigt, ist der Mathematiklehrer. Für Musil ist diese
Art des Denkens totes Denken. In dem Leitfaden, an dem sich das Denken des Lehrers entlang
bewegt, sieht Musil eine Begrenzung der Erkenntnis. Weiterhin wirft Musil Kant vor, die
empirische Welt zu verleugnen.
„Die Philosophie ist hinter den Tatsachen ein wenig zurückgeblieben und das verführt zu dem
Glauben, dass der auf Tatsachen gerichtete Sinn etwas Antiphilosophisches sei“.
In dem Romanfragment „Der Mann ohne Eigenschaften“ wird es Ulrich einmal so ausdrücken:
Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehrter; ein Mann, der seine Subjektivität spielen
lassen will, wird vielleicht Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, das
dazwischen liegt?
Kant hat jedoch nie bestritten, dass die Sinnlichkeit für den Erkenntnisgewinn unerlässlich ist:
Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel, denn
wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es
nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren, uns teils von selbst Vorstellungen
bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie
zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer
Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt?
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
In der Suche nach der verlorenen Zeit beschreibt Marcel Proust, wie sich bei der Mutter seiner
Hauptfigur gegenüber ihrer Nichte das Gefühl der Übersättigung einstellt. Die Nichte trägt schon
seit Jahren Lippenrot auf, doch die Mutter bemerkt dies erst, als sich an ihren Gefühlen
gegenüber dem jungen Mädchen etwas geändert hat. Nicht die Lippenfarbe der jungen Dame
hat sich verändert, sondern es war eine Verwandlung in der Anschauung der Mutter ebendieser
Nichte. So hält der Törleß, der zu Beginn des Romans gezeigt wird, seine Mutter für rein und
unfähig zu jeder sexuellen Neigung. Auf den letzen Seiten erfährt der Leser, dass Törleß von
seiner Mutter aus dem Konvikt abgeholt wird und er an dieser einen zarten Parfumduft feststellt,
der von ihrer Hüfte zu ihm aufströmt. Auch in diesem Fall ist es wahrscheinlich, dass es nicht
eine neue Gewohnheit der Mutter ist sich zu parfümieren, sondern dass es die Wahrnehmung
ihres Sohnes ist, die sich im Verlauf der Handlung verändert hat. Im Gegensatz zu seinem
Schöpfer glaubt Törleß am Anfang des Romans, dass man, um wohlbehalten durch geöffnete
Türen zu kommen, ihren festen Rahmen akzeptieren muss. Durch Begriffsbestimmungen
versucht er, seinen Verwirrungen zu entgehen. Er sucht Halt in starren Satzungen. Wenn er
verlangt, dass Basini von der Schule verwiesen wird und er ihn als Dieb bezeichnet, sucht er
einerseits Halt in festen Begriffen und versucht gleichzeitig, sich von Basini abzugrenzen, denn
er ahnt, dass er von dessen dunkler Seite nicht so weit entfernt ist, wie er hofft. Dingen, die ihn
erschrecken versucht er ihre Bedrohlichkeit zu nehmen, indem er sie an Begriffe fesselt. Basini
versucht er mit dem Begriff Dieb zu fassen. Die Motivation für das Verhalten Basinis versucht er
unter anderem zu deuten, indem er ihm auf den Hinterkopf starrt, während er vor einem
aufgeschlagenen Schulheft sitzt, in das er bereits die Überschrift zu seinen
Forschungsergebnissen geschrieben hat: De natura hominum. Das Warten auf Stimmungen,
die kluge Gedanken aus seinem Inneren hervorzaubern, zieht er dem langsamen analytischen
Nachdenken und genauen Schlussfolgerungen vor. Törleß hat weder wie Kant es fordert, den
Mut noch die Lust sich des eigenen Verstandes zu bedienen, er will etwas anschauen und
plötzlich intuitiv begreifen. Zudem besitzt Törleß die Gabe der Intuition. Reiting, der Talent zur
verwickelten, langsamen Intrige hat, einen kleinen, analytischen Geist, Törleß hingegen weiß
auf wunderbar geniale Weise, die Mittel, mit denen er Basini verletzen kann.
Törleß sucht seine Individuation. Er glaubt an größere Möglichkeiten in sich selbst, an seine
Exklusivität. An einen Schatz in seinem Innern. Er fühlt sich besonders und seinen zwar
körperlich starken Freunden, denen jedoch der feine Sinn des Ästheten fehlt, überlegen.
Dennoch orientiert er sich an ihnen und lässt sich in seinen Handlungen stark von ihnen
beeinflussen.
2.5.
Der kernlose Mensch
Und in der Tat erlangt Törleß durch die erste Aneignung des Möglichkeitssinn eine gewisse
Freiheit, doch wird er unfrei durch zu viele Wahlmöglichkeiten. Dadurch, dass er sich alle
Optionen offen halten will, gewinnt er kein Zentrum. Trotz aller Möglichkeiten scheint Törleß
nicht zu wissen, was er will, was möglich sein könnte. Zudem erweist sich die große Freiheit als
einengend, da sie Törleß suggeriert, alles wäre möglich, also auch recht, was auf der Welt
geschehe. Da er sich nicht mehr auf etwas wahrhaftig einlässt, wird er unfähig zu jeglicher
Empfindung. Die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, ist ihm abhanden gekommen. Da immer
auch das Gegenteil und sogar noch eine dritte Möglichkeit zwischen den beiden Antipoden
denkbar ist, kann sich der Möglichkeitsmensch nicht für eine Vorstellung entscheiden. Die
Frage, ob er so ist wie er ist, weil die Welt so oder so ist oder ob die Welt so oder so ist, weil er
ist wie er ist, stellt er sich gegen Ende des Romans nicht.
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
2.6.
Musil
Thema: Sprachskepsis und Erkenntnis
stellt
seinem
Roman
ein
Maeterlinck-Zitat
voran,
um
wie
er
selbst
sagt
Missverständnissen vorzubeugen:
Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der
Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht
der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er
entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und
wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben
mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.
Für Maeterlinck ist die Seele von einem unsichtbaren Prinzip abhängig. Sie führt eine von
Taten, Worten, Gedanken, Charakter unabhängige Existenz und ist so für die Vernunft und die
Sprache unerreichbar. Im Mann ohne Eigenschaften bekennt die Titelfigur, dass ihm keine
Worte zur Verfügung standen, als er über nichtalltägliches sprechen wollte:
Worte springen wie die Affen von Baum zu Baum, aber in dem dunklen Bereich, wo man
wurzelt, entbehrt man ihrer freundlichen Vermittlung.
Die Sprache bleibt weit hinter der Erkenntnis, dem Schatz, den man im Inneren wähnt, zurück,
sie kann nur unzureichende Worte für das Empfundene und Erkannte liefern. Gegenüber der
unmittelbaren Fülle, die das Leben zu bieten hat, scheint die Sprache leer. Sie reicht nicht hin,
ins Innere der Dinge zu dringen (Hugo von Hofmannsthal). Begriffe können Dinge bloß
benennen, sie vermögen jedoch nicht das Wesen der Dinge zu fassen. Die Erfahrung der
gelähmten Zunge machen die Musilschen Helden immer wieder. Zudem widerfährt es ihnen,
dass harmlose Worte und domestizierte Begriffe plötzlich aufreißen können und ihr
ungezähmtes Inneres bloßlegen, voll des Ungeheuren.
Einmal lag Törleß im Park auf dem Rücken und sah in den Himmel. Und plötzlich bemerkte
er, - und es war ihm, als geschähe dies zum ersten Male, - wie hoch eigentlich der Himmel
sei. Es erschreckte Törleß, denn was er hier entdeckte, war das Unendliche. Aber es war
nicht der gezähmte Begriff des Unendlichen, wie er Törleß aus dem Mathematikunterricht
geläufig war und mit dem er täglich seine kleinen Kunststückchen gemacht hatte, sondern
etwas Drohendes, Beunruhigendes haftete jetzt diesem Wort an; etwas über den Verstand
gehendes, Wildes, Vernichtendes schien durch die Arbeit irgendwelcher Erfinder
hineingeschläfert worden zu sein und war nun plötzlich aufgewacht und wieder fruchtbar
geworden.
D.V.d.Z.T.
Seine inneren Bilder können zwar sprachlich übersetzt werden, aber nicht unmittelbar und nur
unzureichend, daher verliert Törleß das Vertrauen in die Begriffe. Es ist das plötzliche und
immer nur Augenblicke dauernde ganz andere Erleben der Dinge von dem er sich
angesprochen fühlt. Vor der dunklen und unbegreiflichen Welt, die Törleß während der Besuche
bei Bozena und während der Ereignisse um Basini, angesichts der Unendlichkeit des Himmels
und der nächtlichen Natur, empfindet, versagen die Begriffe, die sonst Ordnung zu stiften
vermochten.
2.7.
Macht. Sex. Gewalt
Michel Foucault, Max Weber, Hannah Arendt, Sigmund Freud, Alfred Adler, Friedrich Nietzsche,
Elias Canetti: Die Liste der Philosophen, Psychologen, Soziologen und Intellektuellen, die sich
mit dem Begriff der Macht auseinandergesetzt haben, ist lang und schillernd. Die theoretischen
Ansätze könnten unterschiedlicher kaum sein. Max Webers bekannte Begriffsdefinition sieht
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
von einer legitimierten Machtausübung ab und betrachtet Macht als »jede Chance, innerhalb
einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen,
gleichviel, worauf diese Chance beruht.« Im Gegensatz dazu definiert Hannah Arendt »Macht«
durchaus positiv als das Zusammenwirken von freien Menschen im politischen Raum
zugunsten des Gemeinwesens. Dieses Beispiel zeigt, wie gegensätzlich Begriffe gedacht
werden können. Macht ist offenkundig ein allgegenwärtiger Bestandteil des Lebens. Die
berauschende Wirkung der Macht erklärt sich aus der Triebstruktur: Die Tendenz, das eigene
Selbst auf Kosten anderer zu erweitern, sich andere dienstbar zu machen, ihnen den eigenen
Willen aufzuzwingen. Dieser »Wille zur Macht« ist nach F. Nietzsche Symbol des Lebens, das
als solches niemals bloße Selbst- oder Arterhaltung, sondern immer Erweiterung und
Entgrenzung ist. Macht als eine Erfahrung der Erweiterung des Selbst verwirklicht sich im
Einfluss auf andere Menschen, Gruppen oder ganze Nationen. Wer Macht ausübt, knüpft und
kontrolliert Beziehungen, bestimmt Verhalten, legt Normen und Werte fest. In der Erfahrung der
Macht transzendiert, überschreitet der Einzelne die Begrenztheit und Enge seines Selbst bis hin
zum Gefühl der Unendlichkeit, ja Unsterblichkeit. Der Einfluss auf Andere generiert scheinbar
»Sinn«, der ohne Macht nicht zu haben ist.
Die »Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt« spiegelt sich in der
Sexualität. Begriffe wie »Kampf der Geschlechter«, sexuelle Praktiken wie Sadismus oder die
im Zuge von Kriegshandlungen verbreitete Gewalt gegen Frauen als Akt der Unterwerfung, sind
Ausdruck der sexuellen Komponente der Macht bzw. der Machtkomponente innerhalb der
Sexualität. Im Zustand der Nacktheit wird ein Höchstmaß an Verletzlichkeit und Ausgeliefertsein
erreicht. Die Enge und Abgeschiedenheit der Internatsanstalt, die Nivellierung und
Unterdrückung des individuellen Denkens und Empfindens durch Vorschriften und Uniformen
machen den Ort zu einem Treibhaus der Sehnsüchte und des Begehrens. Die Tabuisierung der
Sexualität und die institutionell organisierte Triebunterdrückung sind Ausdruck des Wunsches
der Gesellschaft nach einer möglichst umfassenden Kontrolle des Individuums. Individuelles
Denken und Fühlen könnten einer auf Ordnung und Gehorsam ausgerichteten Welt gefährlich
werden. Die Triebunterdrückung und Triebkontrolle in der Anstalt führt zu einem Affektstau, der
in aggressiven Ersatzhandlungen ein Ventil sucht und in den gewalttätigen Experimenten mit
Basini mündet. Die durch Gesellschaft und Schule erfahrene Unterdrückungsmechanismen
entladen sich in der sexuellen Unterwerfung des Mitschülers.
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
2.8.
Die Inszenierung
»Die Art, wie es uns gegeben ist, die Erscheinungen des Lebens aufzufassen, lässt uns an
jedem Punkte des Daseins eine Mehrheit von Kräften fühlen; und zwar so, daß eine jede von
diesen eigentlich über die wirkliche Erscheinung hinausstrebt, ihre Unendlichkeit an der andern
bricht und in bloße Spannkraft und Sehnsucht umsetzt. Denn der Mensch ist ein dualistisches
Wesen von Anbeginn an; und dies verhindert die Einheitlichkeit seines Tuns so wenig, daß es
grade erst als Ergebnis einer Vielfachheit von Elementen eine kraftvolle Einheit zeigt. Eine
Erscheinung, der solche Verzweigung von Wurzelkräften fehlte, würde uns arm und leer sein.
Erst indem jede innere Energie über das Maß ihrer sichtbaren Äußerung hinausdrängt, gewinnt
das Leben jenen Reichtum unausgeschöpfter Möglichkeiten, der seine fragmentarische
Wirklichkeit ergänzt; erst damit lassen seine Erscheinungen tiefere Kräfte, ungelöstere
Spannungen, Kampf und Frieden umfänglicherer Art ahnen, als ihre unmittelbare Gegebenheit
verrät. Dieser Dualismus kann nicht unmittelbar beschrieben, sondern nur an den einzelnen
Gegensätzen, die für unser Dasein typisch sind, als ihre letzte, gestaltende Form gefühlt
werden.«
Simmel, Georg: Philosophie der Mode [1905]
Während die Verfilmung von Volker Schlöndorff vor allem die politische Parabel, die Vorahnung
der nationalsozialistischen Diktatur in den Blick nimmt, gegenwärtige Theaterfassungen
Themen wie Gewalt, Sexualität und Mobbing unter Jugendlichen fokussieren, wird am Theater
an der Ruhr der Versuch unternommen, die Komplexität des Romans für die Bühne zu
bewahren. Der verstörende Prozess der geistig-sinnlichen Bewusstwerdung der
Heranwachsenden wird als ein Blick in das Dunkel menschlicher Existenz ins Zentrum der
Aufführung gerückt.
Törleß durchlebt einen Erfahrungs- und Erkenntnisprozess, der ihm das dualistische Wesen
des Daseins, das Spannungsverhältnis von kontrolliertem, vernunftgesteuertem Alltagsleben
und wilder, unfassbarer Affektgeladenheit, ins Bewusstsein rückt. Das Scheitern seines
Versuchs, die verwirrenden Erlebnisse und Empfindungen mittels Sprache zu bändigen, das
Unsagbare sagbar zu machen, richtet die Grenzen von Vernunft und Erkenntnis abgründig vor
ihm auf.
Diese komplexe Darstellung der „Doppelgesichtigkeit“ kann nicht unmittelbar, als lineare
Erzählung auf dem Theater wiedergegeben werden. Georg Simmel schreibt: „Dieser Dualismus
kann nicht unmittelbar beschrieben, sondern nur an den einzelnen Gegensätzen, die für unser
Dasein typisch sind, als ihre letzte gestaltende Form gefühlt werden.“
In diesem Sinne wird mit der Inszenierung der Versuch unternommen, die Fülle, Komplexität
und Vielgestaltigkeit in fragmentarischen, assoziativen Szenen und Bildern fühlbar zu machen.
Die Form des Erzählens ergibt sich also aus den thematischen und formalen Charakteristika
des Romans.
Bei der Dramatisierung eines Romans besteht grundsätzlich die Fragestellung, wie die epische
Fülle des Materials für die Bühne oder den Film übersetzt werden kann. So erscheint es
beispielsweise schwierig, die im Roman so wichtige Erzählerebene direkt auf das Theater zu
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
übertragen. In der Mülheimer Fassung wird die „Erzählerfigur“ auf die vier Zöglinge und vor
allem auf Bozena übertragen, die als sexuelles Erfahrungsobjekt und als eine Art mütterliche
Vertauensperson für Törleß, sowohl Teil des Geschehens als auch rück- und vorausblickende
Beobachterin ist.
2.8.1.
Kein Realismus!
„Das Fehlen der Realität war immer noch quälend. Trotzdem instinktiv sichere Ablehnung
des Realismus, der damals so ein nahes Vorbild war.(...) Plötzlich der Törleß. Die
Seltsamkeit der Themenwahl. Das unterirdische Eigentliche(...).“
Robert Musil in „Aufzeichnungen eines Schriftstellers“
Das immer wiederkehrende Interesse Musils an geistig-sinnlichen Erkenntnisvorgängen
durchzieht sein gesamtes Werk. Der Versuch des Autors, im „Törleß“ die Wahrnehmung des
Unsagbaren, die Bewusstwerdung des Abgründigen des menschlichen Wesens zu fassen,
musste zwangsläufig über den Realismus hinausführen. Der Roman ist durchzogen von
Symbolen, Metaphern und sprachlich formalen Elementen, die dem „Unwirklich-Wirklichen“
Ausdruck verleihen. So steht die immer wieder auftauchende Tür/Tor/Mauer-Symbolik für die
Grenzen zwischen rationaler Alltagswelt und irrationaler Gefühls- und Geisteswelt. Erst am
Ende eröffnen sich für Törleß Zugänge von der einen zur anderen Welt.
Törleß: „..., dass von der hellen, täglichen Welt [...] ein Tor zu einer leidenschaftlichen, nackten,
vernichtenden führte...“
Die Lichtsymbolik betont ebenso die Dualität von rationaler, heller Vernunftwelt und irrationaler,
dunkler Gefühlswelt.
„Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreis des Gehirns, zur anderen Hälfte in dem dunklen
Boden des Innersten.“
(Törleß in der Rede an die Lehrer).
Auch in der Sprache unternimmt Musil den Versuch, das unsagbare sagbar zu machen, was
sich vor allem in den zahlreichen Metaphern („die Dornenkrone seiner Gewissensbisse“) und
Vergleichen („...dieses Licht. Wie ein Auge zu einer fremden Welt.“) niederschlägt. Die durch
Symbolik, Metaphern und sprachliche Form entstehende oszillierende Atmosphäre zwischen
Traum und Wirklichkeit, die im Roman episch ausführlich entfaltet werden kann, wird in der
Spielfassung in eine fragmentarische Form übersetzt und in der Inszenierung in assoziative
Situationen, Stimmungen, und choreografische Bilder übertragen, um den verstörenden
Grundton des Materials zu erhalten.
2.8.2.
Laufsteg der Selbstbehauptung – Zu Raum und Kostümen
Bühnenraum und Kostüme der Inszenierung greifen die den Roman prägenden Dualismus auf:
Tag und Nacht, Gefühl und Vernunft, Traum und Wirklichkeit, Schein und Sein, Gemeinschaft
und Individualität, Körper und Seele.... So deutet der einfache schwarz-weiße Bühnenraum mit
seinen starken hell-dunkel Kontrasten das reale, geheimnisvolle Zwielicht der Gänge und
Kammern des verwinkelten Internats an und verweist gleichzeitig auf die Ambivalenz der
Erscheinungen, an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. Zudem entsteht eine Art
Laufsteg, eine Fecht-Planche, auf der die Schüler ihre Machtkämpfe zwischen
Selbstbehauptung und Anpassung, Individualisierungsstreben und Gemeinschaftszwang
austragen.
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Die Uniformen der Kadetten sind Ausdruck der Unterordnung des Einzelnen unter bestimmte
Regeln, die die Individualisierungsversuche der Jugendlichen begrenzen. Andererseits standen
sie für die sichtbare Formulierung der Zugerhörigkeit zu einer Gemeinschaft der
Bessergestellten. Heutige Mode ist durch die Einheitsgrößen, die im 18. Jahrhundert mit der
Einführung konfektionierter Uniformen aufgekommen sind und durch die Notwendigkeiten der
Massenproduktion, ebenfalls zu einem Instrument der Gleichschaltung und der Unterordnung
unter die Bedingungen der konsumorientierten Massengesellschaft geworden.
Materialien: Heike Jenß zeigt in ihrem Essay „Customize Me!“ die Entwicklung der Uniform als
Voraussetzung für die industrielle Massenproduktion heutiger Konfektionsmode (Siehe Anhang
Mode: Uniformität und Individualisierung).
Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel schreibt in seinem 1895 erschienenen und immer
noch hochaktuellen Aufsatz „Zur Psychologie der Mode“:
„...Sie (die Mode) genügt einerseits dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung, insofern sie
Nachahmung ist; sie führt den Einzelnen auf der Bahn, die alle gehen; andererseits befriedigt
sie auch das Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung,
Sichabheben(...) Namentlich junge Menschen zeigen oft eine plötzliche Wunderlichkeit, in ihrer
Art sich zu geben... Man kann dies als Personalmode bezeichnen...“
Materialien: Ausführlicher Ausschnitt im Anhang ( Abschnitt 4.2)
Das Kostümkonzept der Inszenierung übersetzt die Kadettenuniform des beginnenden 20.
Jahrhunderts ins Modische und eröffnet so einen assoziativen Weg in die Gegenwart. Sich
modisch zu kleiden ist einerseits der Versuch, ein bestimmtes Bild von sich zu kreieren. Ein
äußeres Bild, das zeigt, wie man gesehen werden möchte. In diesem Sinne ist Mode
Verkleidung, Maskierung. Die „Häutung“, die der Wechsel des Kleidungsstils bedeutet, ist
Maskentausch. Das Bild der Mode ist zudem eine Metapher für das Spannungsfeld von
fremdbestimmter Anpassung und der Sehnsucht nach Individualisierung. Der Bühnenraum wird
so zu einem Laufsteg der Selbstbehauptung.
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
3. Anregungen für den Unterricht
3.1.
Vorbereitung des Theaterbesuchs
Um den Theaterbesuch vorzubereiten, schlagen wir vor, dass Sie mit Ihren Schülern
besprechen, wie sie sich die Umsetzung des Roman-Textes, der zahlreiche Figuren involviert,
auf der Bühne vorstellen: Wie viele Schauspieler braucht man? Wie könnte das Bühnenbild, wie
könnten die Kostüme aussehen?
Welche Aspekte der Erzählung (z. B. Sexuelle Dämmerung, Macht und Gewalt, Törleß
Bewusstwerdungsprozess und die Suche nach dem ICH …) dürften auf keinen Fall fehlen, auf
welche Erzählstränge bzw. Figuren könnte man hingegen verzichten?
Nach dieser offenen Fragestellung schlagen wir die Auseinandersetzung mit der Übertragung
des Romans in die Bühnenfassung vor. Das bedeutet z.B. dass die Erzählerfigur, die die innere
Handlung, also Gedanken und Gefühle der Figuren, beschreibt, auf die Figuren auf der Bühne
übertragen werden muss. Denn während im Roman ein zu lesender Text vorhanden ist, wird
dieser auf der Bühne gesprochen – in Form eines Monologes oder Dialoges. Um diesen
Prozess anschaulich zu machen, vergleichen Sie einen Abschnitt aus dem Roman mit dem
äquivalenten Abschnitt der Strichfassung.
Auszug aus der Strichfassung, entspricht Seiten 70/71, aus: Robert Musil: Die Verwirrungen
des Zöglings Törleß. Rowohlt Verlag, 2008.
Folgende Fragen können dazu gestellt werden:
Wer spricht welchen Text, was wissen die Figuren im Roman voneinander und was wissen sie
auf der Bühne voneinander. Warum wird Basini zwar im Roman beschrieben, aber nicht in der
Szene auf der Bühne. Welche Rolle spielt die Regieanweisung in Bezug auf den Romantext.
Wie unterscheidet sich der Vergleich von Romantext und abgedrucktem Stücktext mit dem
gesprochenen Text während der laufenden Vorstellung, d.h. welche Rolle spielt in diesem
Moment, was auf der Bühne zu sehen ist. Warum erzählen Reitung und Beineberg die
Geschichte mit dem Strumpfband, welche Figuren hätten das sonst erzählen können. Spielt es
eine Rolle, wer die Strumpfbandgeschichte erzählt. Warum.
Danach lässt sich nochmals an der offenen Fragestellung anknüpfen: Inwiefern stimmt der
Vergleich Romantext/Strichfassung mit den Vermutungen und Erwartungen der Klasse überein.
21.
Bozena
Reit/Beine
Basini LIEST
Der schönste Augenblick des Basini!
Sein schönster Augenblick. Sein schönster Augenblick. Sein
schönster Augenblick.
Mein schönster Augenblick?
Immer wenn ich von Bozena wegging und es hinter mir hatte,
LÄUFT NACH HINTEN. BASINI UND TÖRLEß IM
LAUFEN, RUDERN MIT DEN ARMEN IM HINTERGRUND.
REITING UND BEINEBERG IM FECHTSCHRITT NACH
VORNE. TAPE.
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
-
denn es ist mir nur um den Besitz der Erinnerung gegangen.
22.
Reiting
Beineberg
Reiting
Beineberg
Reiting
Beineberg
Reiting
Beineberg
Reit/Beine
3.2.
Einmal...
... darf ich?
Aber schnell…
Als Basini einmal ein Strumpfband in seinem Koffer mitgebracht
hatte...
... ein liebes, kleines, duftendes ...
... himmelblaues!
... himmelblaues Strumpfbändchen,
ja, Strumpfbanzal stellte sich nachträglich heraus, dass es von
niemand anderem als seiner
…eigenen zwölfjährigen Schwester war.
Thema: Rezeption und Aktualität
Wir schlagen vor, die Verfilmung von Volker Schlöndorff „Der junge Törleß“ aus dem Jahr 1966
mit den Schülern anzuschauen oder Ausschnitte auf youtube.com unter zur Hilfenahme von
begleitender
Literatur
(z.B.
aus
„Erläuterungen
und
Dokumente
Robert
Musil
Die
Verwirrungen...“ von Renate Schröder-Werle; Reclam; Abschnitt V.2. Die Verfilmung) zur
Kenntnis zu nehmen. Nach dem Theaterbesuch böte sich ein Interpretationsvergleich an:
Welche Unterschiede in den Möglichkeiten der Darstellung bestehen zwischen Film und
Theater (z.B. Raum, Zeit, Technik, Illusion)?
Was ist der Schwerpunkt der Auseinandersetzung in Schlöndorffs Verfilmung? Worauf wird in
der Theateraufführung thematisch besonderer Wert gelegt? Welche Gründe könnte es für die
unterschiedlichen thematischen Schwerpunktsetzungen gegeben haben?
Dabei sollte die Frage nicht außer Acht gelassen werden, was das Spezifische an Theater bzw.
an Film ist. Denn während Theater immer live ist und die Anwesenheit der Körper der
beteiligten Schauspieler auf der Bühne dies veranschaulichen, bleiben diese im Film immer auf
Distanz bzw. unfassbar. Das heißt, die Theateraufführung ist jeweils ein einzigartiges, aber
auch vergängliches Ereignis, während dieser auch die Reaktionen des Publikums variieren.
Welche Bedeutung die Publikumsreaktionen haben, könnten Sie im Anschluss an die
Vorstellung mit der Klasse diskutieren. Achten Sie während der laufenden Vorstellung auf die
Reaktionen der Klasse und diskutieren Sie danach die jeweilige Haltung besonders hinsichtlich
des Schlusses. Waren die Schüler gelangweilt, überrascht, irritiert, erschrocken gab es
Zwischenrufe, usw.
Diskutieren
Sie
einen
oder
mehrere
Zeitungsrezensionen
und
vergleichen
Sie
die
unterschiedlichen Schwerpunkte und Sichtweisen der Kritiker untereinander und mit denen der
Klasse.
3.3.
Vorschlag für ein Fächerübergreifendes Projekt: Philosophie/Deutsch
„Die Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant behandeln (Literaturvorschlag: „Kant für
Anfänger. Die Kritik der reinen Vernunft.“ Eine Leseeinführung von Ralf Ludwig, dtv). Was meint
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
„Kopernikanische Wende“ in Kants Philosophie? Wie spiegeln sich Kants Thesen in „Die
Verwirrungen des Zöglings Törleß“ wieder? Welche Rolle spielt die Figur KANT in Musils
Roman?
3.4.
Vorschlag für die Auseinandersetzung mit dem Thema Mode
Diskutieren Sie in der Klasse, welche Rolle Mode in ihrem Leben spielt. Folgende Fragen
lassen sich dabei beispielsweise stellen: Welche Kleidung wird in der Klasse getragen und
warum. Was ist gerade in bzw. out und warum?
Beachten Sie dabei, dass Kleidung zwar Ausdruck von Individualität ist, dennoch von der
Modeindustrie vorgegeben wird (Konfektion/Trends/Werbung). Warum ist das so und gibt es
eine Möglichkeit, trotz Modediktat einen eigenen Stil zu kreieren.
Sprechen Sie über Gegenbewegungen zu Modetrends und was aus diesen geworden ist, z.B.
Punk: Mit zerrissenen Jeans und Löchern, kaputten Kleidungsstücken, die von
Sicherheitsnadeln zusammen gehalten wurden, ausgefallenen Farben und Haarschnitten
protestierten die Punks gegen Konformität und die bürgerliche Lebensweise. Gleichzeitig
fungierte das Programm „Do it yourself“ auch als Provokation. Grundlage waren die geringen
Berufsaussichten aufgrund der Wirtschaftskrise und dem in England steifen Klassensystem. Die
Jugendlichen fühlten sich ausgeschlossen und betrogen, besonders in Bezug auf das Leben,
das sie sich nicht leisten konnten. Später wurde die Subkultur von der Mode adaptiert und damit
salonfähig gemacht, die unbekannte Vivienne Westwood, die als „Queen of Punk“ galt und
mehrere kleine Shops u.a. unter den Namen „Let it Rock at Paradise Garage“ und „Too fast to
live, Too young to die“ in London hatte, zählt heute zu den bekanntesten Modeschöpferinnen
und Punk mittlerweile als Mainstream.
Welche Modeerscheinungen der Vergangenheit sind heute noch angesagt und welche nicht?
Zum Beispiel: Karottenhose, Mieder, Reifrock, Perücke vs. Schlaghose, Hosenanzug, Vokuhila,
Minirock. Gibt es ein modisches Ideal, ist mittlerweile alles erlaubt, sind die „aktuellen Trends“
nur Wiederholungen?
Gibt es Anlässe, zu denen man sich anders als sonst kleidet, welche sind das und wie kleidet
man sich?
Welche Berufe werden durch Kleidung repräsentiert (Polizist, Nonne, Stewardess, Arzt),
welchen Sinn hat berufliche Uniformierung, sprich Arbeitskleidung?
Zum Thema Fasching: Welche typischen Kostüme gibt es, was assoziiert man mit ihnen und
welche Symbole oder Attribute gehören zu diesen Kostümen und was bedeuten sie?
Pirat – Augenklappe, Holzbein, Enterhaken – Verletzungen aus Kampf, Verwegenheit, Mut
Prinzessin – Kleid, Krone, Schuhe – Erhabenheit, Reichtum, Feinheit, keine Arbeitskleidung
Diskutieren Sie im Anschluss an die Vorstellung, welche Bedeutung die Kostüme haben und
welche Rolle der Kleidertausch bzw. das Ablegen der Kleidung spielt.
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Stichpunkte können sein: Schuluniform, Farben (grün/rot/schwarz/weiß), Plateauschuhe,
Karomuster, schwarze Mützen, adidas Sweater, Schminke, Augenklappe, Gummistiefel, farbige
Perücken, weiße Bandagen, Alltagskleidung.
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
4. Anhang – Materialien zur Inszenierung
4.1.
Die Figuren und die Eigenart jugendlichen Denkens
Walter Jens
„Gewiß, oberflächlich betrachtet, ist auch der Zögling Törleß einer aus der Reihe jener
Ästheten, die in der zeitgenössischen Literatur als ein schwacher Widerpart ihrer stärkeren
Väter - stereotyp wiederholt - figurieren; blickt man jedoch genauer hin, so erkennt man,
jenseits aller typisierenden Tendenzen, das Porträt eines Jugendlichen von schauerlicher
Modernität. Törleß, ein über sich selbst gebeugter, die Reaktionen seines Gehirns
beobachtender Ästhet; ein Jüngling von überwacher Nervosität, der allem Begegnenden
ausgeliefert ist und sich nicht zu wehren weiß, widersteht auf der anderen Seite nicht der
Versuchung, sich - und sei's nur von ferne - an den Entsetzens-Ritualen seiner InternatsKollegen zu beteiligen. Der Outcast im Zeichen des Terrors, der Intellektuelle, der Ästhet mit
dem Kainsmal des Mörders ... dieser in der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder
charakterisierte Typ wird von Musil als erstem beschrieben. Ihm, dem Wiener Romancier, ist es
zu danken, daß - weit vor den Analysen Hermann Brochs und Thomas Manns - jene Symbiose
von Kälte und Romantik, Nüchternheit und Rausch Gestalt gewann, die zu beschreiben die
Poesie unserer Tage nicht müde geworden ist, wenn es darum geht, das Bild des Jugendlichen
zu entwerfen.“
Walter Jens: Erwachsene Kinder. Das Bild des Jugendlichen in der modernen Literatur. [1962]
»Kein Zweifel, da redet ein Kritiker, der sich mit den Intentionen des jungen Talents Robert
Musil rückhaltlos identifiziert: Bewundernswert sei es, so Kerr, mit welcher Hellsicht und Kälte
der Autor das „unabgesteckte Reich des Schauervollen und Brauchlosen“ mit den
dazugehörenden Schreckens-Ritualen, dem Sadismus und Seelen-Terror, veranschaulicht
habe: „Nicht alles kann ich nachprüfen. Der Schwerpunkt dieser Dinge liegt mir so fern wie die
Menschenfresserei der Südsee: aber ich weiß doch, daß es Menschen in diesem Drange gibt.
Ich hab' es bisher nicht geglaubt: jetzt glaub' ich es.“
Der Schwerpunkt dieser Dinge: Gemeint ist damit die Zerstörung einer scheinbar geordneten,
unverrückbaren moralischen Normen folgenden Bürgerwelt, gespiegelt in den sadistischen
Spielen einer Reihe von Internatszöglingen aus den oberen Schichten, die sich einem der Ihren
gegenüber (einem sozial schlechter Gestellten, der zum Dieb wird) wie Experimentatoren in
einem Konzentrationslager aufführen - anno 1906, wohlgemerkt!
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß - das ist keine Pubertätsgeschichte, kein Pendant zu
Wedekinds Frühlings Erwachen, [...] Hesses Unterm Rad; hier wird vielmehr am Beispiel von
vier jungen Menschen, des charmanten Sadisten Reiting, des Mystagogen und eleganten
Folterers Beineberg, des erniedrigten Opfers Basini und des Registrators Törleß, der sich auf
die Folterungen einlässt, um, in der Rolle des Musilschen »Monsieur le vivisecteur«, neue,
ungeahnte, bis dahin verbotene Erkenntnisse auszukosten hier wird die Geschichte eines
Quasi-Mords aus der Perspektive des Ästheten geschildert, dem gerade das Grauenhafteste
zur Beförderung seines Fühl- und Erkenntnisvermögens zu dienen hat. Nicht die Faktizität, das
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
krude „Was“, sondern das „Wie“, die gedankliche Bewältigung der sadistischen Spiele auf dem
Dachboden, ist für Musil entscheidend: wobei es charakteristisch ist, dass die wirklichen
Geschehnisse in der Vorstellung des Helden auf der gleichen Realitätsebene wie Philosopheme
oder mathematische Gleichungen liegen. Das Auspeitschen eines Menschen, Kants
Philosophie, imaginäre Zahlen: alles hat für den jungen Törleß ein und dieselbe Bedeutung.
Wirklichkeit und Traum, die Sache und das Nachdenken über die Sache gehören untrennbar
zusammen: Nicht nur Reiting und Beineberg - auch Törleß ließe sich, vierzig Jahre nach seiner
Präsentation durch Robert Musil, auf der Seite philosophierender Scharfrichter denken:
angeekelt zwar von einfallslosen Brutalitäten, aber zu gleicher Zeit erfüllt vom Lustgefühl des
Ästheten, dem Hochverrat des Geistes am Geist Tribut gezollt zu haben. Eine hellsichtige
Geschichte, der Törleß, und eine sehr persönliche dazu. Musil kannte sich aus in der von ihm
beschriebenen Welt, hatte die Militär-Unterrealschule in Eisenstadt, später die Oberrealschule
in Mährisch-Weißkirchen besucht, auch sie eine Militäranstalt: Das Entsetzen der Eingeweihten
über die kecke Preisgabe pädagogischer Interna (und familiärer dazu) muss gewaltig gewesen
sein, um 1906. Sadomasochistische Exzesse an einer kaiserlichköniglichen Unterrichtsanstalt;
die Familie des Autors durch geheime Bezüge zwischen einer Hure namens Bozena und
Törleß' Mutter verunglimpft, und das um so mehr, als der Lebenswandel Hermine Musils in der
Tat zu mancherlei Bedenken Anlass gab. [...]
Dichtung und Wahrheit, wie häufig bei Musil, bunt durcheinandergemischt: Es stimmt, dass der
Autor den Stoff an zwei Schriftsteller verschenkte, und es stimmt auch, dass er die Atmosphäre
von Eisenstadt und Mährisch-Weißkirchen konsequent verfremdet hat, indem er aus des
Teufels Arschloch' mit seinem Unteroffiziersdrill, seinen widerwärtigen Abtritten und dem
ganzen österreichischen Spartaner-Drill (»Fußlappen, alte Stiefel«) eine eher aristokratische
Anstalt machte, wo unter den sich blasiert und weltmännisch gebenden Reinen und Feinen der
oberen Zehntausend Schöngeisterei, gepaart mit dem ausgeklügelten Reglement der exer-citia
terroris, immerhin in gewissem Ansehen stand.
[...] Ob Alfred Kerr das Manuskript wirklich Zeile für Zeile durchgearbeitet hat, erscheint selbst
dann ein wenig zweifelhaft, wenn man in Rechnung stellt, dass der Rezensent, was das
Vermeiden von Sentimentalitäten angeht, nicht gerade ein Meister war. Aber Sätze wie die
folgenden hätte er, bei penibler Zeile-für-Zeile-Korrekrur, gewiss nicht durchgehen lassen: „In
(Törleß') Innern war eine Heiterkeit, die er sonst nicht an sich gekannt hatte ... Das musste sich
wohl unter den Einflüssen der letzten Zeit in aller Stille entwickelt haben und pochte nun
plötzlich mit gebieterischem Finger an. Ihm war zumute wie einer Mutter, die zum ersten Mal die
herrischen Bewegungen ihrer Leibesfrucht fühlt“. [D.V.d.Z.T] Ja, es gibt sprachlich viel
Misslungenes in diesem Erstling (und nicht nur dort: Stilsicherheit à la Thomas Mann ist nie
Musils Stärke gewesen): pathetisch vorgetragene Klischees, ein Gemengsel von Poesie und
Amtssprache, vages Drumherumreden statt exakter Benennung. Musil selbst kannte die
sprachlichen Ungeschicklichkeiten des Törleß genau - und auch über den oft unbeholfenen
Wechsel der Perspektive, übers räsonierende Dreinreden des Autors, über die mangelnde
Integration der Szenen »Im Cafe« oder »Bei Bozena« wird er sich - so gut wie Alfred Kerr - im
klaren gewesen sein: geschenkt, verehrte Rezensenten, vergessen wir das. Und, tatsächlich,
man kann sie vergessen, jene Fülle notierbarer Unstimmigkeiten, wenn man sie mit den
Qualitäten des Buches konfrontiert: der ringkompositorischen Struktur (am Anfang und Ende die
Bahnhofsszene), der leitmotivischen Handhabung, der Schlüsselbegriffe (Garten, Uhr, Spiegel),
der exakten, zugleich realistischen und symbolträchtigen Beschreibung der Lokalität: unten die
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Klassenzimmer, in der Mitte die Schlafräume, oben die geheimnisträchtige Bodenkammer:
Aufstieg vom Alltäglich-Normalen in die Zonen des Verboten-Exzentrischen. Der Acheron:
angesiedelt in witziger Paradoxie hoch oben auf dem Olymp! Und dann das Eigentliche: Zum
ersten Mal in der Weltliteratur gelingt es einem Schriftsteller - im Alter von fünfundzwanzig
Jahren! -, nicht nur den Seelenhaushalt von Jugendlichen zu beschreiben, die bis um 1900
immer nur als halbe Erwachsene dargestellt werden konnten, sondern, was weit schwerer ist,
die Denkweise junger Menschen zu analysieren und das nicht in gelehrter Prosa, der Weise
Ernst Machs zum Beispiel, der Musils eigentlicher, ihm das Problem »Wie kommen
Erkenntnisprozesse zustande?, eröffnender Lehrer gewesen ist, sondern sinnlich, anschaulich
und konkret.
Intellektuelle Zustände sehen sich durch eine Prosa »verifiziert«, vergegenwärtigt, fühlbar
gemacht, die das Ziel verfolgt, am Beispiel des Weltverständnisses von Jugendlichen ein
dichterisches Modell des Denkens schlechthin zu entwickeln: »Der Sechzehnjährige., heißt es
in Musils Tagebüchern, »ist eine List. Verhältnismäßig einfaches und darum bildsames Material
für die Gestaltung von seelischen Zusammenhängen, die im Erwachsenen durch zuviel anderes
kompliziert sind, was hier ausgeschaltet bleibt.« Das lebendige Denken und das
gedankenträchtige Fühlen: das Wechselspiel von Un-, Vor- und Halbbewußtem hier und hoher
Rationalität dort auf den poetischen Begriff gebracht zu haben ist die eigentliche Leistung des
Schriftstellers Musil, der sich im Törleß als genuiner und eigenständiger Partner Sigmund
Freuds erwies: nicht, das wäre denn doch zuwenig, wegen der Schilderung des
Sadomasochismus in der Adoleszenz, auch nicht allein wegen der Fähigkeit, »die
Triebgrundlage des Dritten Reichs« - so Musil im Gespräch - visionär vorauszubeschreiben,
sondern wegen der»exemplarischen Verdeutlichung von Denkvorgängen, die, in direkter
Beschreibung, unmittelbar und, durch die Darstellung korrelierender Vorgänge, Naturereignisse
und Stimmungen, mittelbar dargestellt werden. Der junge Törleß, ein janusgesichtiges, von
verwegenen Erfahrungen und tollkühnen Gedankenaufschwüngen gezeichnetes Ich: Er ist für
mich der erste moderne Mensch in der deutschen Literatur: dem Hofmannsthalschen Lord
Chandos oder dem Rilkeschen Malte Laurids Brigge oder Thomas Manns Hanno Buddenbrook
um ein halbes Jahrhundert voraus. Weshalb? Weil sich bei Musil die unheilige Allianz von
Ästhetizismus und Terror, gedanklicher Unbedingtheit und moralischer Neutralität am Beispiel
eines Menschen beschrieben sieht, dem jedes Mittel recht ist, das tauglich sein könnte, ihm,
dem aus allen Zusammenhängen Herausgenommenen, zu neuer Natürlichkeit und neuem
Vertrauen in eine Weltordnung zu verhelfen, in der die Dinge, anders, als er es erfährt, wieder
vernünftig und verlässlich benannt werden können. Eine Weltordnung, die, in ihren Tag- und,
mehr noch, ihren von Alfred Kerr beschworenen Nachtseiten, nur von jenen erfahren werden
kann, die „einen Sinn mehr als andere haben“: den Ästheten .vom Schlage Törleß', wie ihn
Robert Musil beschrieb. Törleß, aus dem alles werden kann, ein hellsichtiger Aufklärer am
Rande des Abgrunds, aber auch ein Faschist - beides ist möglich, je nachdem, wie die » auf die
Schärfe eines Nadelstichs konzentrierte Inkubation« [DV.d.Z.T.], die bis zur Perversion des
Humanen ins Unmenschliche gehen kann, ihren Niederschlag findet. Wo hätte dieser Törleß
wohl gestanden, 1933 - auf Seiten Klaus Manns, als Emigrant in Paris, oder Seit an Seit mit
Gottfried Benn in Berlin? Törleß - einer, der zu sich selbst gekommen wäre (»Eine Entwicklung
war abgeschlossen«), ein für allemal gefeit? Oder einer, der bedroht bliebe, jederzeit bereit, den
Teufelspakt (wenn auch mit der gebotenen reservatio mentalis) zu erneuern? (»Die Erinnerung,
dass ... fiebernde Träume um die Seele schleichen, die festen Mauern zernagen und
unheimliche Gassen aufreißen - auch diese Erinnerung hatte sich tief in ihn gesenkt.«) So oder
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
so: Er bleibt Zeitgenosse, der Sechzehnjährige, von einem fünfundzwanzigjährigen Schriftsteller
beschriebene Zögling. »Das Leben liegt vor ihm«, hat Alfred Kerr 1906 geschrieben - und das
gilt auch heute noch von diesem Möglichkeitsmenschen, der in seiner Vielschichtigkeit, seiner
Widersprüchlichkeit, seinem Hermaphroditen-Wesen wirklichkeitsmächtiger als seine
Zeitgenossen bleibt, die tatsächlich gelebt haben. »Es schien damals, dass er überhaupt keinen
Charakter habe«: und trotzdem, achtzig Jahre danach, quicklebendig!
Walter Jens: Sadistische Spiele auf dem Dachboden, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 19.
Juli 1984.
Eduard Spranger
»Diese Gesellschaft wird als ein fertiges Gebilde auf einer bereits sehr komplizierten Stufe ihrer
Entwicklung vorgefunden. Der Jugendliche hat sie nicht gewollt, er wird von diesem
überindividuellen Lebensganzen zunächst verschlungen, und es dauert noch sehr lange, bis er
daran als individuelles Glied produktiv mitwirken und es tragen helfen kann. Sodann: diese
Gesellschaft bindet nur noch an ganz wenigen Stellen wirklich Person an Person; im allgemeinen beansprucht sie den Menschen nur von einer bestimmten, begrenzten Seite aus. Die
Sehnsucht des Jugendlichen aber geht stärker auf die totale Wesensgemeinschaft als auf
flüchtige Berührung zu diesem oder jenem Zweck. Drittens: die erwachsene Gesellschaft ist
durch und durch geregelt, vom staatlich gesetzten Recht an über spezielle Satzungen bis zu
den Verkehrssitten und Umgangsformen. Der Jugendliche aber widerstrebt solchen von außen
kommenden Regelungen; er will Ungebundenheit und Bewegungsfreiheit, obwohl er bald die
Entdeckung machen muss, dass er ohne jede Regelgebung gar nichts mit sich anzufangen
wüsste. Viertens: Die Gesellschaft treibt das Prinzip der Arbeitsteilung und Spezialisierung auf
die Spitze. Nirgends gestattet sie, das ganze Leben zu leben, wie der Jugendliche mit seiner
geringen Fähigkeit, sich innerlich zu teilen, es ersehnt, sondern überall begegnen ihm
mechanisierte Fragmente des Lebens, getragen von einer Fülle äußerlicher Zweckverbände,
die alle ganz unpersönlich aufgebaut sind. Und endlich überhaupt: Es gibt in dieser reifen
Gesellschaft nur noch geringe Reste organischer, naturgeborener Formen. Das meiste wird
durch künstlichen Zusammenschluss erreicht, der bis ins letzte überlegt und rationalisiert ist.
Die Spannung also zwischen der Struktur der Verbände, die die Kultur tragen, und der noch
sehr einfachen, undifferenzierten Struktur der jugendlichen Seele kann nicht groß genug
gedacht werden. Irgendwie aber muss der junge Mensch damit fertig werden, wenn er
überhaupt kulturfähig werden soll. [...]
Der Jugendliche macht die Beobachtung, dass ein großer Unterschied ist zwischen dem, was
die Gesellschaft fordert, und dem, was sie durchschnittlich ist und tut. Das Auseinanderfallen
von moralischen Normen und von moralischer Substanz wäre vielleicht keine so erschütternde
Entdeckung. Aber dass man von anderen moralisch fordert, was man für sich selbst nicht
befolgt, ja kaum als Norm gelten lässt, weist auf einen schweren Bruch und auf eine tiefe Unehrlichkeit hin. Zum erstenmal enthüllt sich dieses Doppelwesen von Scheinenwollen und Sein,
von Pharisäertum und abgründiger Verlogenheit. Und man muss diese fürchterliche
Entdeckung nicht nur bei irgendwem machen, sondern sie unterwühlt auch die Grundlagen, auf
denen man das Bild der Nächsten, der Eltern, der Erzieher, errichtet hat. Der Blick in diese
Realistik ist ein neues Moment, das den Jugendlichen in sich selber hineintreibt; wem soll man
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noch trauen? Die Wirkung kann je nach der ethischen Substanz, auf die diese »Enthüllungen«
treffen, verschieden sein: Man hört auf, die ganze Sache auch für sich sehr ernst zu nehmen,
und man beginnt, die Moral (ähnlich wie früher den schwarzen Mann) als einen Kinderschreck
abzutun; oder man gräbt sich nur noch fester in die Idealwelt ein und hält sie vor dem Gifthauch
der Wirklichkeit geschützt im Innersten wie Heiligtümer, von denen man nicht spricht, die aber
eine magische Kraft verleihen. Die Erfahrung der ersten Art erweitert sich bei manchen zu
einem immer schärferen Organ für die Ungerechtigkeit der Welt, für die Morschheit der Bühne,
auf der die Erwachsenen ihre Rolle spielen, und schließlich für die Immoralität aller Moral.«
Eduard Spranger: Psychologie des Jugendalters. Heidelberg: Quelle & Meyer, J'1963. S. 132 f.,
159.
Otto Ewert
»Nach Inhelder und Piaget', läßt sich die Eigenart jugendlichen Denkens auf die kurze Formel
bringen, daß über das Denken nachgedacht wird und daß wirkliche Ereignisse auf dem
Hintergrund von möglichen Ereignissen gesehen werden. Diese formalen Qualitäten, nämlich
Reflexivität und die Neigung, vom konkreten Fall ausgehend nach abstrakten Beziehungen zu
fragen, haben eine Vielzahl qualitativer Veränderungen der Erlebnisinhalte im Gefolge. Die
Reflexion über Gefühle beispielsweise begünstigt, worauf Spranger hingewiesen hat, bei
einigen Jugendlichen Sentimentalität. In das erlebte Gefühl mischt sich die Reflexion darüber,
daß man dieses Gefühl erlebt. Die Spiegelung der Gefühle, man erlebt, daß man erlebt, mag für
den Erwachsenen unecht wirken, für den Jugendlichen sind es »Lehrjahre der Gefühle«, in
denen sich ihm ein Verständnis für komplexe Gefühlsregungen wie Stolz, Hingabe, Einsamkeit,
Ehrfurcht, Verachtung u. a. erschließt. In zahlreichen Untersuchungen wurde der Nachweis geführt, daß sich mit dem Eintritt in das Jugendalter sowohl Auffassungskategorien für Seelisches,
wie entsprechende sprachliche Ausdrucksmittel erweitern und differenzieren. Dies zeigt sich in
Nacherzählungen, in Stellungnahmen zu Bildvorlagen, aber auch in Tagebüchern und
literarischen Versuchen.
Im Mittelpunkt dieser Zuwendung zum Binnenseelischen steht die Entdeckung des Ich. Wenn
von einer Entdeckung die Rede ist, so heißt das nicht, daß nicht auch schon das Kleinkind und
Schulkind über einen Ich-Begriff verfüge. Dieser wird aber als eine Art Faktum, als etwas
Gegebenes hingenommen. »Ich« bedeutet dann, ein Junge oder ein Mädchen sein, jüngeres
oder älteres Geschwister sein, groß oder klein, stark oder schwach, ein guter oder schlechter
Schüler sein, helles oder dunkles Haar haben usw. Entdeckung des Ich meint auf diesem
Hintergrund, vom Faktischen zum Möglichen überzugehen. Wer bin ich wirklich, d. h., über das
konkrete Gegebene hinaus? Welche Möglichkeiten habe ich, wie könnte ich, wie sollte ich sein?
Dies sind Fragen, die den Jugendlichen bewegen. Wie ein Existenzialist in der Nachfolge
Sartres entwirft sich der Jugendliche in die Zukunft und macht von Vorgegebenem nur in
Auswahl Gebrauch. Kleidung, Haartracht, Handschrift und vieles andere mehr werden zum
Experimentierfeld, auf dem immer neue Formen der Selbstgestaltung und Selbstdarstellung
erprobt werden. Mit der Einsicht, daß es nicht selbstverständlich ist, daß man gerade der ist, der
man ist, ja daß Änderungen nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert und geboten sind,
erwächst eine »historische Einstellung zum eigenen Selbst«. Der Jugendliche setzt sich von
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dem ab, der er als Kind war, und reflektiert, wie er eigentlich sei, nämlich auf dem Hintergrund
möglicher Selbstverwirklichung.«
Otto Ewert: Emwicklungspsychologie des Jugendalters. Stuttgart [u. a.]: Kohlhammer, 1983.
S. 116.
4.2.
Zu den Kostümen
Die Uniform der Kadetten stand einerseits für die sichtbare Formulierung der Zugerhörigkeit zu
einer Gemeinschaft der Bessergestellten. Andererseits diente die Uniform als
Disziplinierungsinstrument, indem sie die nach Individualität strebenden, pubertierenden
Jugendlichen äußerlich gleichschaltete. Uniformen sind Ausdruck der Unterordnung des
Einzelnen unter bestimmte Werte, Normen und Vorstellungen.
4.2.1.
Georg Simmel: Zur Psychologie der Mode. 1895
Die wesentlichen Lebensformen innerhalb der Geschichte unserer Gattung zeigen durchweg
die Wirksamkeit dieser antagonistischen Prinzipien, jede stellt auf ihrem Gebiet eine besondere
Art dar, das Interesse an der Dauer und dem Beharren mit dem an der Veränderung und dem
Wechsel zu vereinen, zwischen der Tendenz zum Allgemeinen und Gleichartigen und der zum
Besonderen und Einzigartigen eine Versöhnung zu stiften, die Hingabe an das soziale Ganze
und die Durchsetzung der Individualität zu einem Kompromiss zu bringen.
In den sozialen Ausgestaltungen dieser Gegensätze wird die eine Seite derselben meistens von
der psychologischen Tendenz zur Nachahmung getragen. Die Nachahmung gewährt uns
zunächst den Reiz einer zweckmäßigen Kraftbewährung, die doch keine erhebliche
persönliche, schöpferische Anstrengung fordert, sondern wegen der Gegebenheit ihres Inhaltes
leicht und glatt abrollt. Zugleich aber gibt sie uns die Beruhigung, bei diesem Handeln nicht
allein zu stehen, sie erhebt sich über den bisherigen Ausübungen derselben Tätigkeit wie auf
einem festen Unterbau, der die jetzige von der Schwierigkeit, sich selbst zu tragen, entlastet. In
der Nachahmung trägt die Gruppe den Einzelnen, dem sie einfach die Formen seines Verhaltens überliefert und den sie so von der Qual der Wahl und von der individuellen
Verantwortlichkeit für dieselbe befreit. Aber eben nur einer der Grundrichtungen unseres
Wesens entspricht die Nachahmung, nur derjenigen, die sich an der Gleichmäßigkeit, der
Einheitlichkeit, der Einschmelzung des Einzelnen in die Allgemeinheit befriedigt, die das
Bleibende im Wechsel betont. Nicht so derjenigen, die umgekehrt den Wechsel im Bleibenden
sucht, die individuelle Differenzierung, die Selbständigkeit, das Sich abheben von der
Allgemeinheit. Betrachtet man diese beiden antagonistischen Tendenzen unter dem Bilde ihrer
biologischen Grundformen, so kann man die Nachahmung als eine psychologische Vererbung
bezeichnen, während das Streben über sie hinaus, zu neuen und eigenen Lebensformen, der
Variabilität entspricht.
Für die Mode ist nun das Folgende wesentlich. Sie genügt einerseits dem Bedürfnis nach
sozialer Anlehnung, insofern sie Nachahmung ist; sie führt den Einzelnen auf der Bahn, die alle
gehen; andererseits aber befriedigt sie auch das Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf
Differenzierung, Abwechslung, Sich abheben, und zwar sowohl durch den Wechsel ihrer
Inhalte, der der Mode von heute ein individuelles Gepräge gegenüber der von gestern und
morgen gibt, wie durch den Umstand, daß Moden immer Klassenmoden sind, daß die Moden
der höheren Schicht sich von denen der tieferen unterscheiden und in dem Augenblick verlas-
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
sen werden, in dem diese letzteren sie sich aneignen. Die Mode ist eine besondere unter jenen
Lebensformen, durch die man ein Kompromiss zwischen der Tendenz nach sozialer
Egalisierung und der nach individuellen Unterschiedsreizen herzustellen suchte. In dieses
Grundwesen der Mode ordnen sich die einzelnen psychologischen Züge ein, die wir an ihr
beobachten.
In soziologischer Beziehung ist sie, wie erwähnt, ein Produkt klassenmäßiger Scheidung.
Gerade wie die Ehre ursprünglich Standesehre ist, d. h. ihren Charakter und vor allem ihre
sittlichen Rechte daraus zieht, dass der Einzelne in seiner Ehre zugleich die seines sozialen
Kreises, seines Standes repräsentiert und wahrt: so bedeutet die Mode einerseits den
Anschluss an die Gleichgestellten, andererseits den Abschluss dieser als einer ganzen Gruppe
gegen die Tieferstehenden. Die gesellschaftlichen Formen, die Kleidung, die ästhetischen
Beurteilungen, der ganze Stil, in dem der Mensch sich ausdrückt, sind in fortwährender
Umbildung durch die Mode begriffen, indes so, dass die »Mode«, d. h. die neue Mode in
alledem nur den oberen Ständen zukommt. Diese schließen sich dadurch von den unteren ab,
sie markieren damit die Gleichheit ihrer Angehörigen untereinander und im gleichen Moment
die Differenz gegen die Tieferstehenden. Sobald daher diese letzteren sich die Mode
anzueignen beginnen - weil sie eben immer nach oben sehen und streben und das noch am
ehesten auf den der Mode unterworfenen Gebieten können so wenden sich die oberen Stände
von dieser Mode ab und einer neuen zu, durch die sie sich wieder von den breiten Massen
differenzieren. [...]
Wo eines von beiden Momenten fehlt: entweder Bedürfnis und Möglichkeit, sich abzusondern,
oder Bedürfnis und Wunsch, sich zusammenzuschließen, da endet das Reich der Mode. [...]
Das Wesen der Mode besteht darin, dass immer nur ein Teil der Gruppe sie übt, die
Gesamtheit aber sich auf dem Wege zu ihr befindet. Sie ist nie, sondern wird immer. Sobald sie
total durchgedrungen ist, d. h. sobald einmal dasjenige, was ursprünglich nur einige taten,
wirklich von allen ausnahmslos geübt wird, bezeichnet man es nicht mehr als Mode, z.B.
gewisse Elemente der Kleidung, der Umgangsformen. Aus dieser Tatsache, dass die Mode als
solche eben noch nicht allgemein verbreitet sein kann, quillt nun für den Einzelnen die
Befriedigung, dass sie an ihm immerhin noch etwas Besonderes, Auffälliges darstellt, während
er zugleich doch von der nach Gleichem strebenden Gesamtheit nicht wie bei sonstigen
sozialen Befriedigungen von der Gleiches tuenden Gesamtheit getragen wird. Deshalb ist die
Gesinnung, der der Modische begegnet, eine wohltuende Mischung von Billigung und Neid.
Die Mode ist so der eigentliche Tummelplatz für Individuen, welche innerlich und inhaltlich
unselbständig, anlehnungsbedürftig sind, deren Selbstgefühl aber doch einer gewissen
Auszeichnung,
Aufmerksamkeit,
Besonderung
bedarf.
Sie
erhebt
eben
auch
den
Unbedeutenden dadurch, dass sie ihn zum Repräsentanten einer Gesamtheit macht, er fühlt
sich von einem Gesamtgeist getragen. In dem Modenarren und Gigerl erscheint dies auf eine
Höhe gesteigert, auf der es wieder den Schein des Individualistischen, Besonderen, annimmt.
Das Gigerl treibt die Tendenz der Mode über das sonst innegehaltene Maß hinaus: wenn spitze
Schuhe Mode sind, läßt er die seinigen in Schiffsschnäbel münden, wenn hohe Kragen Mode
sind, trägt er sie bis zu den Ohren, wenn es Mode ist, Sonntags in die Kirche zu gehen, bleibt er
von Morgens bis Abends darin usw. Das Individuelle, das er vorstellt, besteht in quantitativer
Steigerung von Elementen, die ihrem Quale nach eben Gemeingut der Menge sind. Er geht den
anderen voraus, wenngleich genau auf ihrem Wege. Scheinbar marschiert er an der Tête der
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Gesamtheit, da es eben die letzterreichten Spitzen des öffentlichen Geschmacks sind, die er
darstellt; tatsächlich aber gilt von dem Modehelden, was allenthalben im Verhältnis des
einzelnen zu seiner sozialen Gruppe zu beobachten ist: dass der Führende im Grunde der
Geführte ist. Der Modeheld repräsentiert so ein wirklich originelles Gleichgewichtsverhältnis
zwischen sozialem und individualisierendem Trieb, und aus dem Reize davon verstehen wir die
äußerlich so abstruse Modenarrheit manches sonst verständigen und sogar bedeutenden
Menschen. - In primitiven, aber auch in höheren Verhältnissen entsteht eine Mode oft dadurch,
daß eine irgendwie hervorragende Persönlichkeit einen Modus der Kleidung, des Betragens,
der Interessen usw. erfindet, durch den sie sich von den anderen abhebt; die so aufgetauchte
Auszeichnung suchen diese anderen nun wegen der Bedeutung jenes so schnell wie möglich
nachzuahmen. Die Befriedigung des ersten liegt offenbar in der Mischung des
Individualgefühles, etwas Besonderes zu haben, und des Sozialgefühles, von der Allgemeinheit
nachgeahmt und so durch ihren Geist getragen zu werden. Obgleich beide Gefühle sich logisch
zu widersprechen scheinen, so vertragen sie sich psychologisch durchaus und steigern sich
sogar. Jeder Nachahmende nimmt, natürlich in abgeschwächten Graden, an dieser
Gefühlskonstellation teil, bis die Mode völlig durchgedrungen ist, also das individuelle Moment
wegfällt. Eine gleiche Kombination jener beiden Tendenzen, wie sie durch extremen Gehorsam
der Mode gegenüber erreicht wird, kann man aber auch durch Opposition ihr gegenüber
gewinnen. Wer sich bewusst unmodern trägt oder benimmt, erreicht das damit verbundene
Individualisierungsgefühl nicht eigentlich durch eigene, individuelle Qualifikation, sondern durch
bloße Negation des sozialen Beispiels: wenn Modernität Nachahmung dieses letzteren ist, so
ist die absichtliche Unmodernität seine Nachahmung mit umgekehrten Vorzeichen, die aber
nicht weniger Zeugnis von der Macht der sozialen Tendenz ablegt, die uns in irgend einer
Weise, positiver oder negativer, von sich abhängig macht. Es kann sogar in ganzen Kreisen
innerhalb einer ausgedehnten Gesellschaft direkt Mode werden, sich unmodern zu tragen eine
der merkwürdigsten soziologischen Komplikationen, in der der Trieb nach individueller
Auszeichnung sich erstens, wie gesagt, mit einer bloßen Umkehrung der sozialen Nachahmung
begnügt und zweitens seinerseits wieder seine Stärke aus der Anlehnung an einen gleich
charakterisierten engeren Kreis zieht: soziologisch also ganz analog dem Vereine der Vereinsgegner. [...]
Mit mehr oder weniger Absicht schafft sich oft das Individuum für sich selbst ein Benehmen,
einen Stil, der sich durch den Rhythmus seines Auftauchens, Sichgeltendmachens und
Abtretens als Mode charakterisiert. Namentlich junge Menschen zeigen oft eine plötzliche
Wunderlichkeit in ihrer Art, sich zu geben, ein unvermutet, sachlich unbegründet auftretendes
Interesse, das ihren ganzen Bewusstseinskreis beherrscht und ebenso irrational wieder verschwindet: Man kann dies als Personalmode bezeichnen, die einen Grenzfall der Sozialmode
bildet. Sie wird durch das individuelle Unterscheidungsbedürfnis getragen und ersetzt das
Nachahmungs- und Sozialbedürfnis durch die Konzentration des eigenen Bewusstseins darauf,
die einheitliche Färbung, die das eigene Wesen dadurch erhält und die vielleicht eine noch
engere Geschlossenheit, ein noch innigeres Getragenwerden dieses einzelnen durch die
Gesamtinhalte des Ich bedeutet, als wenn es zugleich die Mode anderer wäre.
Georg Simmel: Zur Psychologie der Mode.
Sociologische Studie [1895]
Georg Simmel (* 1. März 1858 in Berlin; † 26.
September 1918 in Straßburg) war ein deutscher
Philosoph und Soziologe.)
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
4.2.2.
Heike Jenß - Customize Me!
„Ihre zunehmende Vereinheitlichung und Vereinfachung habe die Mode zu Fall gebracht, so
Teri Agins in ihrem Buch „The End of Fashion“. Die massive Verbreitung von Cargohosen und
T-Shirts, die sogenannte Casual-Wear auf Basis eigentlich außermodischer, nämlich militärischuniformierter Bekleidungsformen, sind für Agins Anzeichen eines deutlichen Wertewandels, der
sich auf der Seite der Konsumenten vollzogen hat. Die Mode ist am Ende, weil der Konsument
ihrem Diktat nicht mehr folgt. Stattdessen kleiden sich alle freiwillig im „globalen Einheitslook“
wie er gerade von den großen Bekleidungsketten zum günstigen Preis angeboten wird und
nunmehr schichtübergreifend das Aussehen von Strasse und Passanten zu dominieren scheint.
Wie passt diese Uniformität in der alltäglichen Bekleidungspraxis zu einer Zeit, in der die
Herstellung von Einzigartigkeit als das erstrebenswerte – für Undine Eberlein sogar
religionsersetzende – Ideal gilt? Ist in Zeiten, in denen „Anderssein“ zum Massenbedürfnis
geworden ist, ein einheitliches Erscheinungsbild nicht eher unerwünscht? In welcher Beziehung
stehen hier Mode und Uniformität und wie verhält sich Massenmode zum Prozess der
Individualisierung?
Die Matrix der modernen Kleidung ist die militärische Uniform. Gerade die aktuell bevorzugten
Basics und ihre sogenannten „Klassiker“ wie T-Shirt, Parka, Trenchcoat, Cargohose oder
Fliegerjacke haben ihren Ursprung im Militär.(...) Neben den einzelnen Bekleidungsformen ist
aber nicht zuletzt überhaupt das Prinzip der standardisierten Uniformfertigung grundlegend für
die massenhafte Verbreitung modische Kleidung. Das uniforme Moment ist damit potenziell
jedem modernen, seriell hergestellten Kleidungsstück schon – quasi anatomisch – inhärent.
Und auch in der Markierung von Zugehörigkeit und Abgrenzung, die eine entscheidende
Wirkungsmacht der westlichen Mode ist, zeigt sie ihre Nähe zu dem Konzept der militärischen
Uniform.
Wie Gisela Krause dargestellt hat, kann die uniforme Einkleidung des stehenden Berufsheers
unter Friedrich Wilhelm I. von Preußen (1688 – 1740), als Grundstein für die serielle Produktion
standardisierter Konfektionskleidung angesehen werden. Sie basiert auf einer ganz
entscheidenden Voraussetzung der Vermessung der Körper und der Vereinheitlichung und
Standardisierung der Kleidergrößen, die sich aus der Zusammenfassung der großen Anzahl
von Soldaten in vier Körpergrößen ergab (Mentges 1993). Auf der Basis dieser
vorgenommenen Kategorisierung der menschlichen Körperhöhe konnte ein rationales System
für die massenhafte Herstellung einheitlicher Kleidungsstücke entwickelt werden (Mentges
1993), die mit der Konfektionierung der Kleidung bis in das 20. Jahrhundert stetig optimiert
wurde. Aufgrund der Fortschritte in der Konfektionierung und Massenproduktion von Kleidung
nach dem Zweiten Weltkrieg, konnte sich die Mode in den 1960er Jahre als ein für beinahe alle
sozialen Schichten leicht erschwinglicher Massenartikel etablieren. (...)
Wandel und Innovation vollziehen sich seit den 1980er Jahren eher in der Wiederaufnahme und
der neuen Kombination früherer Bekleidungsformen und Stile. Die Retro-Looks vergangener
Jahrzehnte, die durch die Neuinterpretation mittels neuer Materialien immer facettenreichere
Erscheinungen annehmen können, machen dies deutlich....“
Anmerkungen zur Massenindividualisierung in der Mode (Auszüge) (aus: Mentges,
Gabriele, Richard, Birgit (Hg.), Schönheit der Uniformität: Körper, Kleidung, Medien,
Frankfurt am)
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4.3.
Das Drama - der Roman und die Bühne
Die Literaturtheorie und auch der allgemeine Sprachgebrauch unterscheiden Texte in
Gattungen. Die beiden größten Differenzierungen sind zunächst in fiktionale und non fiktionale
Texte, wobei erstere in erzählende, lyrische und dramatische Texte unterschieden werden.
Während in der erzählenden Literatur eine Erzählerposition vermittelt und die Lyrik Ausdruck
einer Subjektivität ist, äußern sich die Figuren in der Dramatik selbst. Das wesentliche Element
der dramatischen Literatur ist das dialogische oder monologische Sprechen. Der Text der
Figuren ist zum einen an ein Gegenüber gerichtet und zum anderen an die Zuschauer, so
dienen Orts- und Zeitangaben in Dialogen zwischen Stückfiguren vielfach primär als
Orientierung für den Zuschauer. Neben dem Haupttext im Drama, der aus dem dialogischen
und monologischen Sprechen der Figuren zusammengesetzt ist, finden sich die so genannten
Nebentexte oder Regieanweisungen. Hierzu zählen Bühnenanweisungen zu Dekoration und
Handlungsanweisungen für die Darsteller. Diese Nebentexte treten verstärkt erst im 19.
Jahrhundert in der dramatischen Literatur auf. Insbesondere die Literatur des 20. Jahrhunderts
hat feste Gattungsbegriffe hinter sich gelassen: So finden sich monologische Erzählungen oder
dramatische Texte mit kommentierenden Erzählern.
Grundsätzlich unterscheidet sich der Prozess des Lesens von dem des Zuschauens. Der Leser
ist in der Regel allein mit einem Text und verwandelt die sprachlichen Zeichen in eigene Bilder.
Der Zuschauer ist im Theater einer Vielzahl von Zeichen gleichzeitig ausgesetzt. Zu dem
gesprochenen Text kommt die Sprechweise der Darsteller, die Kostüme und der Raum, in dem
gesprochen wird. Während der Leser selbst die Zeit seines Lesens bestimmen kann und die
Erzählung wesentlich leichter mit Zeitraffungen und – sprüngen arbeiten kann, ist die
Aufführung im Theater viel stärker einem realen Zeitrahmen unterworfen.
Die Bearbeitung einer Erzählung für die Bühne verdeutlicht einen Transformationsprozess, der
bei jeder Inszenierung eines Dramas notwendig ist. Im 18. Jahrhundert begann eine Auffassung
vielerorts Fuß zu fassen, die auch heute noch stark verbreitet ist: Die großen Dramen der
Weltliteratur fände ihre wahre künstlerische Umsetzung nur im Lesen. Diese Meinung führte
zum einen zu der literarischen Form des Lesedramas, zum anderen behinderte sie lange den
notwenigen Transformationsprozess geschriebenen Text zu einer lebendigen Aufführung. Zu
bedenken ist dabei, dass die Niederschrift von dramatischen Texten nicht Grundlage für alle
Theaterformen ist, wie z.B. der italienischen Commedia dell’ Arte. Die Inszenierung, das in
Szene setzen eines dramatischen Textes ist immer eine Auseinandersetzung mit diesem Text.
Wie der Leser eines Buches sich seine eigenen Bilder entwirft und eigene Akzente bei der
Lektüre eines Buches setzt, so geschieht dies auch in einer Theaterinszenierung. Gerade
diesen
Lektüreprozess
verdeutlicht
das
Theater.
Aus
einer
schier
unendlichen
Möglichkeitsvielfalt müssen einzelne Ansatzpunkte gewählt werden. Während der Text linear zu
lesen ist, ist der Zuschauer einer Reihe von visuellen und akustischen Eindrücken ausgesetzt.
So kann eine Geste den gesprochenen Text in der Wahrnehmung überlagern, ein Satz sich
durch die Sprechweise völlig verändern.
Der Dramentext oder eine Erzählung dient als Grundlage der Inszenierung bzw. stößt einen
Auseinandersetzungsprozess an. In der Vorbereitungsphase entsteht durch Kürzungen eine so
genannte Strichfassung, die sich im Probenprozess immer wieder verändern kann. Einerseits
können Texte weiter verändert oder durch Fremdtexte ergänzt werden, andererseits werden
häufig einzelne Passagen der Vorlage wieder einbezogen. Während der Probenphase wird der
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Text in einen szenischen Ablauf gesetzt. Hierbei erfolgt einerseits eine Konzentration auf
einzelne Aspekte der Vorlage, andererseits erhalten einzelne Elemente eine Aufladung bzw.
Vieldeutigkeit. Zusätzlich spiele Text eine große Rolle, die nicht direkt zu hören sind, aber die
Arbeit gedanklich beeinflussen: Diese kann man als Referenztexte bezeichnen. So entsteht
nach einem mehrmonatigen Arbeitsprozess eine Bühnenfassung.
Eine Theaterinszenierung ist immer eine Auseinandersetzung mit einem Text und versteht sich
nicht als einzig allgemeingültige Bebilderung. Die Theateraufführung ist für den Augenblick
geschaffen und ist nur mögliche Auseinandersetzung mit einem Text. Wichtig für die
Beurteilung einer Inszenierung ist nicht wie genau das Ergebnis die Vorlage abbildet, sondern
wie intensiv sich die Arbeit mit der Vorlage auseinandergesetzt hat.
Im Film sind Auseinandersetzungen mit literarischen Vorlagen noch selbstverständlicher und
weit verbreiteter als im Theater. Gleichzeitig spielt beim Film die Regie eine selbstverständlich
größere Rolle als im Theater. Während im Theater Regisseure sich immer wieder für ihre
Auseinandersetzung mit Stücken rechtfertigen müssen, sind die Namen von Filmregisseuren
wesentlich bekannter als die der Drehbuchautoren. Film und Theater haben einige
Gemeinsamkeiten, wie die große Gleichzeitigkeit von Bild und Sprache, aber auch große
Differenzen in der Wahrnehmung. Wesentlich für das Theater ist der spezielle Moment der
Aufführung, Darsteller und Zuschauer verbringen gemeinsam die gleiche Zeit und können sich
wechselseitig wahrnehmen. Während die Kamera einen Ausschnitt und Blickpunkt vorgibt,
können die Theaterzuschauer viel freier über den Focus ihrer Aufmerksamkeit entscheiden. Der
Film verdeckt sehr häufig seinen Herstellungsprozess und erschafft eine bruchlose Illusion. Das
Theater hingegen kommt nicht umhin sich auf stärkere Weise mit der Herstellung von Illusionen
auseinanderzusetzen. Beispielsweise kann ein einfacher Stuhl auf der Bühne einen
Königsthron darstellen, er bleibt aber letztendlich gleichzeitig auch ein Stuhl und ist als solcher
sichtbar.
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Schaubilder
Textverhältnisse
Stücktexte
Textvorlagen
Übersetzungen
Stückfassungen
Referenztexte
Fremdtexte
StrichfassungEN
Textimprovisation
Bühnenfassung
Zeichen im Theater
Darsteller
akustisch
flüchtig
visuell
Raum
länger
andauernd
Geräusche
Musik
Stimme - Sprache
Stimme - Geräusche
Mimik (Gesicht der Darsteller)
Gestik (Körper der Darsteller)
Bewegung der Darsteller im Raum
Kostüm/ Maske
Bühnenbild
Requisiten
Beleuchtung
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4.4.
Die Anstalt - Kurt Tucholsky
Betritt Revision die Zellen (Aufsichtsbehörde Vorsteher, Inspektoren, Geistliche, der
Anstaltsarzt und so weiter), so erhebt sich der Gefangene, bleibt vor seinem Arbeitsplatz
stehen und erwartet, das Gesicht nach der Tür zugekehrt, den Besuch. Bei nächtlicher
Revision unterbleibt dies.
Aus der Hausordnung einer preußischen Strafanstalt
(…) Die Anstalt dient einem Zweck: Menschen sollen in ihr aufbewahrt, gebessert, geheilt,
erzogen, zur Arbeit angeleitet werden. Jedes Anstaltsleben dient neben diesem plakatierten
Zweck einem Selbstzweck: es hat sich selbständig gemacht, denn stets wachsen dem
Menschen seine Zwecke über den Kopf. Dass die Anstalt durch ihr Wirken einen Zweck erfüllen
soll, vergessen sämtliche Beteiligten leicht – bei der Gründung sowie bei Festsetzung der
Hausordnung wird auf diesen Zweck der Anstalt noch Bezug genommen. Die Menschen, die
ständig in einer Anstalt leben und arbeiten, sind in zwei Gruppen zu teilen: in die Leidenden und
in die Leitenden.
(…)Das Leiden der Anstalts-Leidenden besteht hierin: Ihr privates Leben ist
zusammengeschrumpft. Sie haben entweder so gut wie gar keines (Strafgefangene) oder ein
zu beengtes – und hier und nur hier liegt der tiefe Grund der Verzweiflung dieser Leute. Die
Anstalt frisst sie auf.
Zunächst ist da die Zeiteinteilung. Der Mensch kann es nur sehr schwer ertragen, stets nach
einer fremden Uhr zu leben – und nun noch nach einer, die ihm den Tag zerreißt, seinen Tag.
Regelmäßigkeit allein wäre freilich kein Grund zur Verzweiflung, besonders dann nicht, wenn
sie sich jemand freiwillig auferlegt hat – der wahre Grund liegt darin, dass kein menschliches
Wesen es verträgt, auf die Dauer als Sache behandelt zu werden. Man kann einen Sklaven
patriarchalisch prügeln – das ist lange nicht so schlimm wie die stumme und unerbittliche
Einordnung in ein vom Eingeordneten nicht oder so nicht gewolltes Nummernsystem. Irgend
etwas möchte jeder Mensch irregulär tun: über eine Hecke springen, rauchen, wenn andere
nicht rauchen; einmal laut schreien – ich sehe hier von groben Exzessen ab. Macht man ihm
das unmöglich, so legt man den Grund zu unendlicher Traurigkeit, Verzweiflung, Ekel am
Leben. Solch ein Mensch geht seelisch ein. Verglichen mit dem, was er mit seiner ›Freiheit‹, die
er ja in dieser Gesellschaftsordnung gar nicht haben kann, wirklich anfängt, fehlt ihm gar nicht
so sehr viel – und alles. Es fehlt ihm das, was wir mit unserer kleinen Freiheit beginnen:
umhergehen, wann es uns passt; telefonieren; pfeifen; nicht sprechen, wenn wir nicht sprechen
wollen; früh ins Bett gehen; spät ins Bett gehen – die Anstaltsinsassen können das entweder
gar nicht oder nur unvollkommen. Selbst ihr Schlaf ist Dienst. Darunter leiden sie unermesslich.
Das Verhältnis der Leidenden untereinander ist selten gut. Immer ist da ein Stärkerer, ein
Oberleidender, der mit der Zeit die höchste Stufe des Kellers erreicht – er kann mit dem Kopf
hinaussehen und reicht beinah in das Unterpersonal hinein. Dieses verwehrt ihm natürlich in
Ernstfällen den Zutritt; in leichten Fällen wird er ihm gewährt, und das hebt ihn sehr und lässt
ihn viel von dem, was er zu erleiden hat, vergessen. Er bezahlt das teuer, vielmehr: seine
Mitleidenden bezahlen das teuer. Er ist meist ein Angeber, ein Speichellecker, ein Unterhund –
er ist der Helfer von Helfershelfern. Auf seine kleinen Vergünstigungen ist er nicht so stolz wie
auf den leichten Schein einer Pseudo-Autorität, die er auf diese Weise genießt.
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Leidende verachten sich untereinander – das ist das Primäre. Liebe, Freundschaft, gutes Herz,
Trieb und Temperamente können diese Verachtung auflösen und überbrücken. Die Leidenden
stehen niemals gegen die Leiter zusammen. Täten sie es wirklich, so wären jene ziemlich
machtlos. Ein solcher Universalwille kann aber deshalb nicht zustande kommen, weil in jedem
Leidenden der Machttrieb schlummert. Er leidet wohl – aber zutiefst bejaht er dieses Leiden; er
verneint nur die Rollenverteilung: er ist es, der gern leiden machen möchte. Oft setzt er sich im
Tagtraum an die Stelle des Leiters. Daher wird er sich stets nur dazu verstehen, etwas zu tun,
was man im Anstaltsjargon und auch sonst ›stänkern‹ nennt – er wird kleine Sticheleien, Lügen,
Klatschereien gegen die Leitung und das Personal aufbringen, Schwierigkeiten zu vergrößern
suchen, schon, um sich wichtig zu machen und hier wenigstens ein kleines Gebiet zu haben,
das ihm allein gehört. Er wird sich aber fast niemals, solange er diesen Machttrieb innerlich
nicht überwunden hat, gegen das System auflehnen. Er kann es nicht. Es ist sein System. Die
schwere seelische Störung durch die Einengung der Persönlichkeitssphäre zeigt sich bei den
Leidenden
auch in ihrem
rührenden
Verhältnis
zu allen Gegenständen, die nicht
›Anstaltssachen‹ sind: Vogelbauer, Pantoffeln, Kalender oder eine Zeitung ... das ist das ihre, in
diese Ersatzhandlungen konzentriert sich die ganze Sehnsucht nach verlorenem Glück. Die
Leiter neiden es ihnen und verkleinern es, wo sie nur können.
So ergänzen sich Leidende und Leitende zu einer schönen Einheit: zur Anstalt. Es ist durchaus
nicht immer grobe Gewalt, die dieses Getriebe zusammenhält, auch nicht immer die Not – es ist
darüber hinaus eine gewachsene Einheit, eine Zusammengehörigkeit von Menschen, die sich
dieser Gesetzmäßigkeit nicht bewusst sind. Beide sehen ineinander den Feind: beide können
miteinander nicht anders leben.
Und so leben sie :
Düster schwelt unter dem Nummernleben der Leidenden der Rest von Seele, der ihnen
geblieben ist. Er entlädt sich in seiner Karikatur: in Fressen, Zoten, Klatsch und Masturbation.
Dies sind nicht etwa, wie die Leiter meinen, ›Laster‹ – sondern eben jene letzten, den
Leidenden gebliebenen Symbole für das Unregelmäßige, zu dem jeder Mensch spielerisch, als
Gegengewicht für seine Bindungen, hinstrebt. Das übliche Anstaltsleben ist sozialschädigend –
weil es keinen echten Kollektivismus, der allein auf freiem Willen aufgebaut werden kann, in
sich birgt. Kommen solche Menschen aus der Anstalt heraus, so haben sie meistens mehr
Schwierigkeiten mit der Umwelt zu überwinden als vorher.
Der Leitende aber hat, wie die Sprache so tief sagt: »in der Arbeit seine Befriedigung«. Er hat
sie wirklich. Er kann sich in ihr ausleben. Er herrscht. Er macht sich zum Sklaven seiner Arbeit,
wenn er ein anständiger Kerl ist – aber er herrscht. Und feuert sich ununterbrochen wieder an
und entzündet sich: am Widerstand seiner Helfer, am Widerstreben der Leidenden, an den
Schwierigkeiten des Apparats, an den Reibereien mit seiner Zentrale, die ihn von allem am
meisten bedrücken, weil hier die Grenzen seiner Freiheit sind. Auch fühlt er sich meist in seiner
Arbeit nicht anerkannt – er träumt von Größerem: mehr organisieren! mehr Anstalten! viele! alle!
Der Machttrieb spielt auf ihm sein Lied. Leitende Frauen unterliegen dem Machttrieb stärker als
Männer, weil die meisten zu tun vermögen, was nur wenige Männer können: eine Arbeit bis in
die letzte Falte hinein ernst nehmen. Frauen glauben an das, was sie im Dienst tun, wie an ein
Evangelium. Daher sind sie: doppelt so aufopferungsbereit wie Männer, doppelt so machtgierig,
doppelt so boshaft wie jene, wenn es diese Macht zu verteidigen und auszubauen gilt. Sehr oft
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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
schlägt der Machttrieb bei Frauen in seelischen Sadismus um – dann wohl immer, wenn sie
geschlechtlich nicht voll befriedigt sind. So kommen viele Kindermisshandlungen zustande.
Die Anstalt dient einem Zweck: Menschen sollen in ihr aufbewahrt, gebessert, gedrillt, erzogen,
zur Arbeit angeleitet werden ... aber in allen regiert über Menschen und Sachen der soziale
Geltungsdrang einer herrschenden Klasse.
Kurt Tucholsky, 1929
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5. Quellen, Literaturhinweise und Links
5.1.
Sekundärliteratur
Aller, Jan: Als Zögling zwischen Maeterlinck und Mach. In: Martini, Fritz: Probleme des
Erzählens in der Weltliteratur (Klett)
Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. Erich Schmidt Verlag: Berlin 2003,
S. 82.
Berghahn, Wilfried: Robert Musil in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. (Rowohlt)
Brosthaus, Heribert: Der Entwicklungsroman einer Idee. Untersuchungen zu Gehalt, Struktur
und Stil in Robert Musils Roman »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« (Gugel)
Corino, Karl: Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. (Rowohlt)
Corino, Karl: Törleß ignotus. Zu den biographischen Hintergründen von Robert Musils Roman
»Die Verwirrungen des Zöglings Törleß«.
Dinklage, Karl: Robert Musil. Leben, Werk, Wirkung. (Rowohlt)
Dinklage, Karl u.a.: Robert Musil. Studien zu seinem Werk. (Rowohlt)
Freij, Lars W.: Türlosigkeit. Robert Musils »Törleß« in Mikroanalysen mit Ausblicken auf andere
Texte des Dichters. (Aluyquist und Wizsell)
Ludwig, Ralf: Kant für Anfänger. Die Kritik der reinen Vernunft. Eine Leseeinführung von Ralf
Ludwig (dtv)
Luserke, Matthias: Robert Musil (Sammlung Metzler)
Mulot,
Sibylle:
Der
junge
Musil.
Seine
Beziehungen
zu
Literatur
und
Kunst
der
Jahrhundertwende. (Heinz)
Roth, Marie-Luise: Robert Musil. Ethik und Ästhetik. Zum theoretischen Werk des Dichters (List)
Schröder-Werte, Renate: Erläuterungen und Dokumente: Robert Musil. Die Verwirrungen des
Zöglings Törleß. (Reclams UB)
Walter, Jens: Sadistische Spiele auf dem Dachboden. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.) :
Romane von gestern- heute gelesen, Frankfurt am Main
5.2.
Filme
Der junge Törleß, (Deutschland/Frankreich: 1966): Volker Schlöndorff (Regie/ Drehbuch),
Mathieu Carrière, Bernd Tischer, Fred Dietz (Darsteller)
A Clockwork Orange, (Großbritannien 1971): Stanley Kubrick (Regie/Drehbuch), Michael Bates,
Patrick Magee, Malcolm McDowell, Waren Clarke (Darsteller)
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5.3.
Internet Links
Begleitmaterialien im Internet: www.theater-an-der-ruhr.de
www.modetheorie.de : Georg Simmel
www.youtube.com. Suchbegriff: Törleß. Ausschnitte aus dem Film von Volker Schlöndorff
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Impressum:
Theater an der Ruhr
Spielzeit 2008/2009
Künstlerische Leitung: Roberto Ciulli, Gralf Edzard Habben, Helmut Schäfer, Sven Schlötcke
Redaktion: Sandra Höhne, Tobias Fritsche, Sven Schlötcke
Stand: 15.01.2009
Theater an der Ruhr
Akazienallee 61
45478 Mülheim an der Ruhr
Kontakt und theaterpädagogische Begleitung:
Bernhard Deutsch / Nina Hofmann
Theater an der Ruhr, Akazienallee 61, 45478 Mülheim an der Ruhr
0208/ 599 01 47; Mail: [email protected]
0208/ 599 01 34 ; Mail: [email protected]
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