Rechtsprechung

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1. Kriterien eines gefestigten Konkubinats:
BGer, n. publ. Urteil vom 3. Dezember 2010 (5A_613/2010)
98
2. Familienwohnung (Art. 169 ZGB):
BGE 136 III 257 ( = Die Praxis 1/2011 43 ff.)
106
3. Zuteilung der Obhut:
BGer, n. publ. Urteil vom 10. September 2012 (5A_284/2012)
108
4. Ehescheidung: Kinderbelange:
BGer, n. publ. Urteil vom 26. Juni 2012 (5A_138/2012)
123
5. Kindesanhörung; Mindestalter (aArt. 144 Abs. 2 ZGB; jetzt Art. 298
ZPO):
BGE 131 III 553
134
6. Kindesanhörung; durch Drittperson, Verzicht auf Anhörung (aArt. 144
Abs. 2 ZGB; jetzt Art. 298 ZPO):
BGE 133 III 553
138
7. Kindesrückführung; Beschleunigungsgebot (Art. 11 Abs. 2 HKÜ; Art. 8
Abs. 1 BG-KKE):
BGE 137 III 529
141
8. Wegzug ins Ausland; Entscheidungskompetenzen des alleinigen
Obhutsinhabers:
BGE 136 III 353
144
9. Kinderunterhaltspflicht und Beistandspflicht bei einem ausserehelichen
Kind (Art. 159 Abs. 3 ZGB):
BGE 127 III 68
157
10. Vaterschaftsklage und Kindesinteresse (Art. 256c, 260c ZGB):
BGE 136 III 593 (s. jusletter 10. Januar 2011)
162
11. Anspruch des volljährigen ehelichen Kindes auf Kenntnis der eigenen
Abstammung (Art. 8 EMRK, Art. 28 ZGB):
BGE 134 III 241
168
12. Adoption eines verwandten Kindes (Art. 264 und 268a ZGB):
BGE 135 III 80
171
13. Adoption Unmündiger; Adoption durch Grosseltern (Art. 264 ZGB):
BGE 136 III 423
175
14. Stiefkindadoption durch eingetragenen Partner (Art. 264a ZGB, Art. 28 PartG):
BGE 137 III 241
183
96
15. Zustimmung der Eltern zur Adoption; Untersuchungsgrundsatz (Art. 264 ff.
ZGB):
BGE 137 III 1
186
16. Namensänderung bei einem adoptierten Erwachsenen (Art. 30 Abs. 1, 267
Abs. 1 ZGB):
BGE 137 III 97
194
17. Voraussetzungen und Gründe zur Anfechtung der Adoption (Art. 8 EMRK, Art.
264 ff., 269 ff. ZGB):
BGE 137 I 154
200
18. Haftung des Familienhaupts (Art. 333 ZGB):
BGE 133 III 556
207
19. Verhältnis der Unterhaltspflicht zum Recht auf persönlichen Verkehr
der Eltern gegenüber ihrem Kind (Art. 133 Abs. 1, Art. 276 Abs. 2 und
Art. 277 ZGB):
BGE 120 II 177
211
20. Persönlicher Verkehr:
BGer, n. publ. Urteil vom 20. August 2013 (5A_505/2013)
214
21. Begleitetes Besuchsrecht (Art. 274 Abs. 2 ZGB):
BGE 122 III 404
229
22. Fürsorgerische Freiheitsentziehung (seit 1.1.2013: Fürsorgerische Unterbringung); Gutachten eines Sachverständigen:
BGE 137 III 289
235
23. Fürsorgerische Freiheitsentziehung (seit 1.1.2013: Fürsorgerische Unterbringung); Entlassung der Beschwerde führenden Person aus der psychiatrischen Anstalt während des vor Bundesgericht hängigen Beschwerdeverfahrens; aktuelles rechtlich geschütztes Interesse an der Behandlung der
Beschwerde in Zivilsachen (Art. 397a und 397d ZGB; Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG):
BGE 136 III 497
240
24. Beistandschaft:
BGer, n. publ. Urteil vom 3. Dezember 2013 (5A_540/2013, Publikation),
NZZ vom 16. Januar 2014
245
Stand: 139 III 444
97
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
5A_613/2010
Urteil vom 3. Dezember 2010
II. zivilrechtliche Abteilung
Besetzung
Verfahrensbeteiligte
Bundesrichterin Hohl, Präsidentin,
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter von Werdt,
Gerichtsschreiber Möckli.
X.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Barbara Schnitter Weber,
Beschwerdeführerin,
gegen
Z.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Kaiser,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Abänderung des Scheidungsurteils,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Aargau, Zivilgericht, 2. Kammer, vom
10. Juni 2010.
98
Sachverhalt:
A.
Die am 16. Juni 1972 geschlossene Ehe von Z.________ und
X.________ wurde mit Urteil des Bezirksgerichts Laufenburg vom
27. Januar 1994 geschieden. Der Ehemann wurde gestützt auf
Art. 151 Abs. 1 aZGB zu einer Unterhaltsrente verpflichtet von
Fr. 500.-- bis zur AHV-Berechtigung der Ehefrau und danach von
Fr. 700.--. Seit November 2001 lebt diese mit Y.________ in einer
Wohnung zusammen.
B.
Angesichts dieser Tatsache verlangte Z.________ mit Klage vom
19. Januar 2009 die ersatzlose Aufhebung der Unterhaltsrente. Mit
Urteil vom 20. August 2009 wies das Bezirksgericht Laufenburg die
Klage ab. Hingegen hiess das Obergericht des Kantons Aargau die
Klage mit Urteil vom 10. Juli 2010 gut und hob die Unterhalts verpflichtung auf.
C.
Gegen das oberinstanzliche Urteil hat X.________ am 6. Sep tember
2010 eine Beschwerde in Zivilsachen erhoben mit dem Begehren um
dessen Aufhebung und Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils.
Sodann verlangt sie die unentgeltliche Rechtspflege. Es wurden keine
Vernehmlassungen eingeholt.
Erwägungen:
1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über die Auf hebung des nachehelichen Unterhalts, wobei der Streitwert
Fr. 30'000.-- übersteigt; die Beschwerde in Zivilsachen erweist sich als
zulässig (Art. 72 Abs. 1, Art. 51 Abs. 4 i.V.m. Art. 74 Abs. 1 lit. b,
Art. 75 Abs. 1 und Art. 90 BGG).
In rechtlicher Hinsicht sind alle Rügen gemäss Art. 95 f. BGG zulässig
und das Bundesgericht wendet in diesem Bereich das Recht von
Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), was heisst, dass es be hauptete Rechtsverletzungen (Art. 42 Abs. 2 BGG) mit freier Kognition
prüft.
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Dagegen ist das Bundesgericht an den festgestellten Sachverhalt
grundsätzlich gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesbezüglich kann
einzig vorgebracht werden, er sei offensichtlich unrichtig festgestellt
worden (Art. 97 Abs. 1 BGG), wobei "offensichtlich unrichtig" mit "will kürlich" gleichzusetzen ist (Botschaft, BBl 2001 IV 4338; BGE 133 II
249 E. 1.2.2 S. 252; 133 III 393 E. 7.1 S. 398), oder er beruhe auf
einer anderen Rechtsverletzung im Sinn von Art. 95 BGG (z.B. Art. 29
Abs. 2 BV oder Art. 8 ZGB). Ausserdem muss in der Beschwerde
aufgezeigt werden, inwiefern die Behebung der vorerwähnten Mängel
für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97
Abs. 1 BGG; BGE 135 I 19 E. 2.2.2 S. 22). Für all diese Elemente gilt
das strenge Rügeprinzip (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249
E. 1.4.2 S. 255). Das bedeutet, dass das Bundesgericht nur klar und
detailliert erhobene und soweit möglich belegte Rügen prüft, während
es auf ungenügend begründete Rügen und rein appellatorische Kritik
am angefochtenen Entscheid nicht eintritt. Wird die Verletzung des
Willkürverbots gerügt, reicht es sodann nicht aus, die Lage aus Sicht
des Beschwerdeführers darzulegen und den davon abweichenden angefochtenen Entscheid als willkürlich zu bezeichnen; vielmehr ist im
Einzelnen darzulegen, inwiefern das kantonale Gericht willkürlich entschieden haben soll und der angefochtene Entscheid deshalb an
einem qualifizierten und offensichtlichen Mangel leidet (BGE 134 II
244 E. 2.2 S. 246).
2.
Vorliegend geht es um die Frage, ob zwischen der Beschwerde führerin und Y.________ ein gefestigtes Konkubinat besteht, das ehe ähnlich ist und deshalb wie die Wiederverheiratung zur Aufhebung der
Scheidungsrente berechtigt: Es handelt sich um eine altrechtliche
Scheidungsrente gemäss Art. 151 aZGB, weshalb sich nach der intertemporalrechtlichen Bestimmung von Art. 7a Abs. 3 SchlT ZGB auch
die Abänderung nach den Bestimmungen des früheren Rechts richtet.
Art. 153 Abs. 1 aZGB sah vor, dass die Pflicht zur Entrichtung der
Rente aufhört, wenn der berechtigte Ehegatte sich wieder verheiratet.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu der betreffenden
Norm steht der Wiederverheiratung der Fall gleich, in welchem der
unterhaltsberechtigte Teil in einer festen Beziehung lebt, die ihm
ähnliche Vorteile sichert wie die Ehe, indem er mit dem neuen Partner
eine so enge Lebensgemeinschaft bildet, dass dieser bereit ist, ihm
Beistand und Unterstützung zu leisten, wie es Art. 159 Abs. 3 ZGB von
einem Ehegatten fordert (BGE 118 II 235 E. 3a S. 237; 124 III 52
E. 2a/aa S. 54).
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Gemäss der in BGE 118 II 235 E. 3b S. 238 publizierten Definition gilt
als Konkubinat im engeren Sinn eine auf längere Zeit, wenn nicht auf
Dauer angelegte umfassende Lebensgemeinschaft von zwei Personen
unterschiedlichen Geschlechts mit grundsätzlich Ausschliesslichkeits charakter, die sowohl eine geistig-seelische, als auch eine körperliche
und eine wirtschaftliche Komponente aufweist und auch etwa als
Wohn-, Tisch- und Bettgemeinschaft bezeichnet wird. Indessen kommt
nicht allen drei Komponenten dieselbe Bedeutung zu. Fehlt die Ge schlechtsgemeinschaft oder die wirtschaftliche Komponente, leben die
beiden Partner aber trotzdem in einer festen und ausschliesslichen
Zweierbeziehung, halten sich gegenseitig die Treue und leisten sich
umfassenden Beistand, so ist eine eheähnliche Gemeinschaft zu
bejahen. Der Richter hat in jedem Fall eine Würdigung sämtlicher
massgeblicher Faktoren vorzunehmen. Die gesamten Umstände des
Zusammenlebens sind von Bedeutung, um die Qualität einer Lebens gemeinschaft beurteilen zu können.
Diese Formel wurde in verschiedenen jüngeren Entscheiden bestätigt
(z.B. Urteile 5C.70/2003 vom 2. Juni 2003 E. 3; 5P.135/2005 vom
22. Juli 2005 E. 2.1; 5A_81/2008 vom 11. Juni 2008 E. 5.1.2).
3.
Mit Bezug auf die drei relevanten Komponenten hat das Obergericht
folgende Sachverhaltsfeststellungen getroffen:
Die Beschwerdeführerin und ihr Partner lernten sich im Internet beim
"chatten" kennen. Sie schrieben sich in der Folge und trafen sich,
wobei er ihr das Bündnerland zeigte. Er arbeitete damals in
C.________, suchte aber nach eigenen Aussagen eine andere Arbeit.
Sie machte ihn auf eine Stelle im Werk S.________ in A.________
aufmerksam, worauf er in ihre Wohnung einzog, wo sie seither gemeinsam leben. Nach der Einschätzung der Tochter der Beschwerdeführerin soll es sich einfach um Freundschaft handeln, um eine
Zweckgemeinschaft, "leben und leben lassen", es sei Gleichgültigkeit,
keine Gefühle, man sei auch nicht eifersüchtig, er mache das, sie
mache das. Man lebe aneinander vorbei. Einer der Söhne der Beschwerdeführerin führte aus, die beiden würden "WG-mässig" zusammenleben, aber man komme "nicht so draus als Aussenstehender".
Das Obergericht hat weiter festgehalten, am Anfang sei die Beziehung
gemäss bestätigender Aussage der Beschwerdeführerin intim gewesen. Auch ihr Partner habe als Zeuge ausgesagt, dass man früher ein
Liebespaar gewesen sei. Aktuell bezeichne er die Beziehung als
"verschissen" mit der Begründung, es sei nicht mehr so wie am
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101
Anfang, man gehe nicht mehr fort, mache nichts mehr am Computer;
wenn es nicht mehr stimme, gebe es keinen Sex, das habe es aber
früher gegeben, das sei normal, in jeder Beziehung so. Nach seiner
Darstellung hätten sich die Vorstellungen nicht erfüllt; die Beschwerde führerin ist in seinen Augen liederlich. Das ändere aber nichts daran,
dass er sich mit ihr solidarisch fühle. So habe er ausgesagt, er könne
sie "nicht hocken lassen", und er sei auch froh, wenn er angesichts
seiner Herzprobleme "jemanden habe", wenn er ins Spital müsse. Die
Beschwerdeführerin ihrerseits sei auch froh gewesen, sie habe
Bandscheibenprobleme gehabt und ins Spital gehen müssen. Nach
eigener Einschätzung unterstütze er sie auch finanziell. Die Regelung
geht nach den Feststellungen des Obergerichts im Übrigen dahin,
dass sie das Essen, das Waschpulver sowie ihre Krankenkasse bezahlt, er die Miete, das Telefon sowie den ganzen Rest; die Wohnung
wird mehrheitlich von ihr geputzt, die Einkäufe erfolgen durch sie oder
gemeinsam, mehrheitlich kocht auch die Beschwerdeführerin (die
Mahlzeiten werden in der Regel gemeinsam eingenommen) und sie
macht die Wäsche. Als gemeinsame Hobbies seien der Computer und
das Fotografieren genannt worden. Nach Darstellung der Tochter
machten die beiden zwar mangels Geld keine "Ferien", aber die Be schwerdeführerin würde sich mehr oder weniger regelmässig mit ihm
in seinem Wohnwagen in B.________ aufhalten. Das Obergericht hat
weiter festgehalten, dass er sich mit der Tochter der Beschwerde führerin und deren Mann angefreundet habe. Er sei auch zur Hochzeit,
die in eher kleinem Rahmen stattgefunden habe, eingeladen gewesen,
dies ohne weitere Diskussion, weil er "dazu ge höre". Zu den 1½ und
3½ Jahre alten Kindern (Grosskinder der Beschwerdeführerin) habe er
guten Kontakt; er kenne sie seit Geburt, spiele mit ihnen und das
kleinere Kind schlafe zuweilen im Kinderbett in seinem Zimmer. An der
Taufe der Grosskinder sei er ebenfalls dabei gewesen. Auch sonst
werde er zu Familienfesten eingeladen.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, diese Ausführungen seien in
diversen Punkten zu "kommentieren", weil sie nicht den Tatsachen
entsprächen; insgesamt ergebe sich ein anderes Bild. In der Folge
schildert sie den Sachverhalt aus eigener Sicht. Wie in E. 1 dargelegt,
ist jedoch der kantonal festgestellte Sachverhalt für das Bundesgericht
grundsätzlich verbindlich (Art. 105 Abs. 1 BGG); er könnte einzig mit
substanziiert begründeten Verfassungsrügen angefochten werden
(Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG). Die Beschwerdeführerin
beschränkt sich aber auf rein appellatorische Ausführungen, was unzulässig ist (dazu E. 1), und sagt im Übrigen nicht einmal, welches
verfassungsmässige Recht verletzt sein soll.
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102
Auf die Ausführungen in der Beschwerde ist mithin nicht einzutreten,
soweit sie den Sachverhalt beschlagen, und für die weiteren Erwägungen betreffend Rechtsanwendung ist auf den vom Obergericht
festgestellten Sachverhalt abzustellen.
4.
Im Rahmen der rechtlichen Würdigung hat das Obergericht befunden,
das Kennenlernen und Zusammenziehen sei nach dem Muster des
Aufbaus und Wachsens einer Liebesbeziehung zwischen zwei Men schen und nicht nach demjenigen der Bildung einer aus praktischen
und finanziellen Gründen eingegangenen Wohngemeinschaft erfolgt.
Das Zusammensein beschränke sich nicht auf das Wohnen; vielmehr
würden die Partner die wesentlichen Teile des Alltags miteinander
gestalten und als zueinander gehörend erleben, auch wenn sich die
körperliche Anziehung mittlerweile verflüchtigt haben sollte. Die Part ner hätten gemäss übereinstimmenden Aussagen nie Drittbeziehungen gehabt, d.h. die Verbindung habe Ausschliesslichkeitscharakter,
und sie unterschiede sich nicht wesentlich von mancher in die Jahre
gekommenen ehelichen Beziehung. Dass diese stabil und eheähnlich
sei, zeige sich auch in der Aussage des Partners, er könne die Be schwerdeführerin "nicht hocken lassen", und in der Antwort auf die
Frage, wie weit seine Solidarität gehe: "Bis das Konto leer ist, dann ist
die Grenze erreicht". Damit sei auch in wirtschaftlicher Hinsicht von
einer eheähnlichen Versorgung auszugehen. Insgesamt liege ein ehe ähnliches Konkubinat im Sinn der Rechtsprechung vor.
Was die Beschwerdeführerin diesbezüglich vorbringt – es liege eine
reine Zweckgemeinschaft bzw. eine WG vor –, beschlägt in erster
Linie wiederum den Sachverhalt. Mit den rechtlichen Erwägungen des
angefochtenen Entscheides sowie mit der einschlägigen bundes gerichtlichen Rechtsprechung (dazu E. 2) setzt sie sich nur am Rand
auseinander und führt entgegen der Begründungspflicht von Art. 42
Abs. 2 BGG nicht einmal an, welche Rechtsnorm und inwiefern diese
durch den angefochtenen Entscheid verletzt worden sein soll. Eine
falsche Rechtsanwendung durch das Obergericht ist denn auch nicht
ersichtlich:
An der geistig-seelischen Komponente – die in der Beschwerde
gleichzeitig bestritten (S. 6), aber auch anerkannt wird (S. 7) – könnten angesichts der zitierten Aussagen der Kinder der Beschwerde führerin gewisse Zweifel aufkommen; indes muss sie angesichts der
Tatsache, dass die beiden Partner nach den übrigen kantonalen Sach verhaltsfeststellungen eben nicht aneinander vorbeileben, sondern
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weitgehend ihren Lebensalltag und die Freizeit zusammen bestreiten,
gemeinsame Hobbies haben, im Krankheitsfall gegenseitig zueinander
schauen und generell froh sind, jemanden zu haben, aber auch von
aussen als zusammengehörig wahrgenommen werden ("er gehört
einfach dazu"), als erstellt gelten.
In wirtschaftlicher Hinsicht behauptet die Beschwerdeführerin zwar
eine blosse Wohngemeinschaft. Die kantonalen Feststellungen zeigen
indes eine Verflechtung im Sinn einer klassischen Rollenteilung, bei
welcher der eine Partner überwiegend die Haushaltführung besorgt
und der andere den massgeblichen Teil der finanziellen Lasten trägt,
ohne dass gegenseitig über die erbrachten Leistungen abgerechnet
würde. Der finanziell versorgende Partner zeigt sich im Übrigen soli darisch im Sinn der eherechtlichen Verpflichtungsnorm von Art. 159
Abs. 3 ZGB, indem er die Beschwerdeführerin "nicht hocken lassen"
kann und diese unterstützten würde, "bis das Konto leer ist".
Was die körperliche Komponente anbelangt, so kommt dieser ent gegen den sinngemässen Ausführungen in der Beschwerde keine
Bedeutung in dem Sinn zu, dass für die Annahme eines qualifizierten
Konkubinates anhaltender sexueller Verkehr erforderlich wäre. Mit der
Aussage, "wenn es nicht mehr stimme, gebe es keinen Sex, das habe
es aber früher gegeben, das sei normal, in jeder Beziehung so",
beschreibt der Partner der Beschwerdeführerin genau das, was auch
für viele Ehen zutrifft, dass nämlich das aktive Sexualleben – welches
im Übrigen nur einen Teil der körperlichen Komponente ausmacht –
mit der Zeit an Bedeutung verliert oder sogar gänzlich zum Erliegen
kommen kann, ohne dass hierdurch die geistig-seelische Ebene und
namentlich die wirtschaftliche Verbindung im Sinn einer Versorgungs gemeinschaft Schaden nehmen müsste. Diese beiden anderen Komponenten genügen aber nach der in E. 2 wiedergegebenen Recht sprechung, wenn es sich trotz der (zwischenzeitlich) fehlenden kör perlichen Verbindung um eine feste und ausschliessliche Zweierbeziehung handelt; dies trifft vorliegend zu, umso mehr als unbe strittenermassen keiner der Partner eine Drittbeziehung unterhält.
Ausgehend von der kantonalen Sachverhaltsbasis ist nach dem
Gesagten kein Bundesrecht verletzt, wenn das Obergericht das Kon kubinat aufgrund seines Ausschliesslichkeitscharakters, aufgrund der
bestehenden Schicksalsgemeinschaft, aufgrund des gegenseitigen
Beistandes, aber auch aufgrund der weitgehend gemeinsamen Bestreitung des Alltags und der Freizeit als eheähnlich angesehen hat.
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5.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Beschwerde in Zivilsachen
abzuweisen ist, soweit auf sie eingetreten werden kann. Wie die vor stehenden Erwägungen zeigen, muss sie aufgrund der unzulänglichen
Rügen als von Anfang an aussichtslos bezeichnet werden, weshalb es
an den materiellen Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege
mangelt und das entsprechende Gesuch abzuweisen ist (Art. 64
Abs. 1 BGG). Die Gerichtskosten sind der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Gegenpartei ist kein entschädigungspflichtiger Aufwand entstanden.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde in Zivilsachen wird abgewiesen, soweit darauf ein zutreten ist.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin
auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons
Aargau, Zivilgericht, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 3. Dezember 2010
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin:
Der Gerichtsschreiber:
Hohl
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
5A_284/2012
Urteil vom 10. September 2012
II. zivilrechtliche Abteilung
Besetzung
Verfahrensbeteiligte
Bundesrichterin Hohl, Präsidentin,
Bundesrichter Marazzi, von Werdt,
Gerichtsschreiber Schwander.
X.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Carla Wassmer,
Beschwerdeführer,
gegen
Z.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Helen Schmid,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Obhut,
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz, Kammer III, vom
8. März 2012.
108
Sachverhalt:
A.
Z.________ (geb. xxxx 1966) und X.________ (geb. xxxx) sind die
nicht miteinander verheirateten Eltern der gemeinsamen Tochter
Y.________ (geb. xxxx 2006).
Am 30. Mai 2006 unterzeichneten Z.________ und X.________ einen
Unterhaltsvertrag. Darin vereinbarten sie für die Dauer der Haus gemeinschaft die gemeinsame Wahrnehmung der Erziehungsverantwortung und den gemeinsamen finanziellen Unterhalt für das Kind
unter Berücksichtigung der Aufteilung der Betreuung. Für den Fall der
Auflösung der Hausgemeinschaft vereinbarten sie im Wesentlichen,
Y.________ in alternierender Obhut zu betreuen; wenn immer möglich
solle Y.________ je zur Hälfte der Zeit von beiden Eltern teilen betreut
und erzogen werden. Die Vormundschaftsbehörde der Gemeinde
Schwyz genehmigte diesen Vertrag am 25. August 2006.
Im September 2007 zog Z.________ aus dem Einfamilienhaus von
X.________ aus und bezog in der gleichen Ortschaft eine Wohnung.
Y.________ lebte von da an abwechselnd bei der Mutter und beim
Vater.
Am 22. Januar 2009 schlossen Z.________ und X.________ einen
Vergleich. Dieser sah, soweit vorliegend relevant, im Wesentlichen
vor, dass der Vater das Kind am ersten und dritten Wochenende eines
jeden Monats von Donnerstag 10.00 Uhr bis Sonntag 19.00 Uhr
betreut und jedes zweite und vierte Wochenende von Donnerstag
10.00 Uhr bis Samstag 10.00 Uhr sowie während sechs Ferienwochen
pro Jahr. In der übrigen Zeit sei Y.________ von der Mutter zu betreuen; jeweils am Mittwoch werde Y.________ zudem in einer Kinderkrippe fremdbetreut.
Dieser Vergleich wurde vom Bezirksgericht Schwyz am 23. Januar
2009 sowie von der Vormundschaftsbehörde Schwyz am 17. April
2009 genehmigt.
Am 3. Dezember 2009 klagte Z.________ beim Regierungsrat des
Kantons Schwyz als vormundschaftliche Aufsichtsbehörde auf Zuteilung der elterlichen Sorge (einschliesslich einer Neuregelung des Be suchsrechts), heiratete am 4. Dezember 2009 ihren neuen Partner mit
Wohnsitz im Liechtenstein, kündigte per Ende Januar 2010 ihre An-
Seite 2
109
stellung als Psychomotorik-Therapeutin in B.________ und verlegte
ihren Wohnsitz im April 2010 zu ihrem Ehemann nach Liechtenstein.
Nach Einholung eines kinderpsychiatrischen Gutachtens vom 24. Juni
2011 beschloss der Regierungsrat des Kantons Schwyz am 17. August 2011, das Gesuch um Neuregelung der gemeinsamen elterlichen
Sorge abzuweisen (Dispositiv-Ziff. 1), übertrug die Obhut auf den
Vater (Dispositiv-Ziff. 2) und liess die geltende Betreuungsregelung
bestehen bzw. ordnete für den Fall der Nichtumsetzbarkeit derselben
an, dass die Mutter jedes zweite Wochenende von Freitag 17.00 Uhr
bis Sonntagabend 19.00 Uhr mit Y.________ verbringen könne zuzüg lich sechs Wochen Ferien pro Jahr (Dispositiv-Ziff. 3).
B.
Gegen diesen Beschluss erhob Z.________ am 8. September 2011
Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz und
erneuerte im Wesentlichen ihre vor erster Instanz gestellten Anträge.
Mit Entscheid vom 8. März 2012 hob das Verwaltungsgericht des
Kantons Schwyz (soweit vorliegend relevant) die Ziffern 2 und 3 des
angefochtenen Regierungsratsbeschlusses auf und übertrug die Obhut
von Y.________ nach dem Ende des laufenden Kindergartenjahres
2011/2012 (d.h. ab Anfang Juli 2012) auf die Mutter bzw. ordnete an,
die weitere Einschulung habe an deren Wohnsitz im Liechtenstein zu
erfolgen (Dispositiv-Ziff. 1.1); im Übrigen wies es die Beschwerde ab
und liess insbesondere die gemeinsame elterliche Sorge bestehen
(Dispositiv-Ziff. 1.2).
C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 19. April 2012 gelangt X.________
(nachfolgend: Beschwerdeführer) an das Bundesgericht und verlangt
im Wesentlichen die Übertragung der Obhut an sich. Ausserdem sei
die Betreuungsregelung vom 22. Januar 2009 (mit je hälftiger Obhut)
beizubehalten. Sollte sie nicht umsetzbar sein, sei der Mutter jedes
zweite Wochenende ein Besuchsrecht von Freitag 17.00 Uhr bis
Sonntagabend 19.00 einzuräumen zuzüglich sechs Wochen Ferien
pro Jahr. Zudem ersucht er um Gewährung der aufschiebenden Wirkung.
Am 8. Mai 2012 verfügte die Präsidentin der II. zivilrechtlichen Abteilung, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Es wurden die Akten, in der Sache selbst aber keine Vernehmlas sungen eingeholt. Im Rahmen ihrer Stellungnahme zum Gesuch um
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aufschiebende Wirkung hat die Vorinstanz unaufgefordert gleichwohl
zur Hauptsache Stellung genommen .
Erwägungen:
1.
1.1 Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid einer vor mundschaftlichen Aufsichtsbehörde, der die Obhut eines Kindes unverheirateter Eltern bei bestehender gemeinsamer elterlicher Sorge
neu regelt (Art. 298a Abs. 2 ZGB), mithin ein öffentlich-rechtlicher Ent scheid, der in unmittelbarem Zusammenhang mit Zivilrecht steht; die
Beschwerde in Zivilsachen steht somit grundsätzlich offen (Art. 72
Abs. 2 lit. b Ziff. 5 bzw. Ziff. 7, Art. 75 Abs. 1 und Art. 90 BGG).
1.2 Das Bundesgericht prüft die Verletzung von Bundesrecht mit freier
Kognition (Art. 95 lit. a BGG). Dabei wendet es – im Rahmen der
gestellten Anträge – das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG; vgl. dazu BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4
S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht – unter Berücksichtigung
der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG) – grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, es sei
denn, die rechtlichen Mängel sind geradezu offensichtlich. Das Bundesgericht ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden Rechtsfragen zu untersuchen, wenn diese
vor Bundesgericht nicht (mehr) vorgetragen werden (BGE 133 II 249
E. 1.4.1 S. 254 mit Hinweisen).
Die Beschwerde ist dabei hinreichend zu begründen, andernfalls wird
auf sie nicht eingetreten. In der Beschwerdeschrift ist in gedrängter
Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid Recht verletzt
(Art. 42 Abs. 2 BGG). Dazu ist es unerlässlich, dass die Beschwerde
auf die Begründung des angefochtenen Entscheids konkret eingeht
und im Einzelnen aufzeigt, worin eine Rechtsverletzung liegt. Der Be schwerdeführer soll in der Beschwerdeschrift nicht bloss die Rechts standpunkte, die er im kantonalen Verfahren eingenommen hat, erneut
bekräftigen, sondern mit seiner Kritik an den als rechtsfehlerhaft erachteten Erwägungen der Vorinstanz ansetzen (vgl. BGE 134 II 244
E. 2.1 S. 245 f.).
1.3 Das Bundesgericht ist an den festgestellten Sachverhalt grundsätzlich gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesbezüglich kann einzig
vorgebracht werden, er sei offensichtlich unrichtig festgestellt worden
Seite 4
111
(Art. 97 Abs. 1 BGG), wobei "offensichtlich unrichtig" mit "willkürlich"
gleichzusetzen ist (Botschaft, BBl 2001 IV 4338; BGE 133 II 249
E. 1.2.2 S. 252; 133 III 393 E. 7.1 S. 398), oder er beruhe auf einer
anderen Rechtsverletzung im Sinn von Art. 95 BGG (z.B. Art. 29
Abs. 2 BV oder Art. 8 ZGB). Ausserdem muss in der Beschwerde
aufgezeigt werden, inwiefern die Behebung der vorerwähnten Mängel
für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97
Abs. 1 BGG; BGE 135 I 19 E. 2.2.2 S. 22). Für all diese Elemente gilt
das strenge Rügeprinzip (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249
E. 1.4.2 S. 255). Das bedeutet, dass das Bundesgericht nur klar und
detailliert erhobene und soweit möglich belegte Rügen prüft, während
es auf ungenügend begründete Rügen und rein appellatorische Kritik
am angefochtenen Entscheid nicht eintritt. Wird die Verletzung des
Willkürverbots gerügt, reicht es sodann nicht aus, die Lage aus Sicht
des Beschwerdeführers darzulegen und den davon abweichenden
angefochtenen Entscheid als willkürlich zu bezeichnen; vielmehr ist im
Einzelnen darzulegen, inwiefern das kantonale Gericht willkürlich entschieden haben soll und der angefochtene Entscheid deshalb an
einem qualifizierten und offensichtlichen Mangel leidet (BGE 134 II
244 E. 2.2 S. 246).
2.
Strittig ist vorliegend einzig die Obhutszuteilung, nicht aber die Bei behaltung des gemeinsamen elterlichen Sorgerechts.
2.1 Haben unverheiratete Eltern das gemeinsame Sorgerecht über ihr
gemeinsames Kind inne, kann die Vormundschaftsbehörde – auf Begehren eines Elternteils, des Kindes oder von Amtes wegen – die Zu teilung des Sorgerechts neu regeln, wenn dies wegen wesentlicher
Veränderung der Verhältnisse zum Wohl des Kindes geboten ist
(Art. 298a Abs. 2 ZGB). Diese Grundsätze gelten auch für eine
Neuregelung der Obhut (als Teilgehalt der elterlichen Sorge). Für die
Zuteilung der Obhut an einen Elternteil gelten grundsätzlich die gleichen Kriterien wie im Scheidungsfall.
Nach der Rechtsprechung hat das Wohl des Kindes Vorrang vor allen
anderen Überlegungen, insbesondere vor den Wünschen der Eltern
(zuletzt: Urteil 5A_157/2012 vom 23. Juli 2012 E. 3.1). Vorab muss die
Erziehungsfähigkeit der Eltern geklärt werden. Ist diese bei beiden
Elternteilen gegeben, sind vor allem Kleinkinder und grundschul pflichtige Kinder demjenigen Elternteil zuzuteilen, der die Möglichkeit hat
und dazu bereit ist, sie persönlich zu betreuen. Erfüllen beide Eltern teile diese Voraussetzung ungefähr in gleicher Weise, kann die Stabili-
Seite 5
112
tät der örtlichen und familiären Verhältnisse ausschlaggebend sein.
Unter Umständen kann die Möglichkeit der persönlichen Betreuung
auch dahinter zurücktreten (Urteil 5C.212/2005 vom 25. Januar 2006
E. 4.2 und 4.4.1, in: FamPra.ch 2006 S. 753 ff.). Schliesslich ist – je
nach Alter der Kinder – ihrem eindeutigen Wunsch Rechnung zu tragen. Diesen Kriterien lassen sich die weiteren Gesichtspunkte zuord nen, namentlich die Bereitschaft eines Elternteils, mit dem anderen in
Kinderbelangen zusammenzuarbeiten oder die Forderung, dass eine
Zuteilung der Obhut von einer persönlichen Bindung und echter Zunei gung getragen sein sollte (vgl. BGE 115 II 206 E. 4a S. 209; 115 II 317
E. 2 und 3 S. 319 ff.; 117 II 353 E. 3 S. 354 f.; 136 I 178 E. 5.3 S. 180
f.).
Bei der Beurteilung der für die Obhutszuteilung massgebenden Krite rien verfügt das Sachgericht über ein weites Ermessen (vgl. alle so eben zitierten Urteile). Auf Beschwerde greift das Bundesgericht deshalb nur ein, wenn das Sachgericht grundlos von in Rechtsprechung
und Lehre anerkannten Grundsätzen abgewichen ist, wenn es Gesichtspunkte berücksichtigt hat, die keine Rolle hätten spielen dürfen,
oder wenn es umgekehrt rechtserhebliche Umstände ausser Acht ge lassen hat. Der Ermessensentscheid muss sich als im Ergeb nis offensichtlich unbillig, als in stossender Weise ungerecht erweisen
(BGE 109 la 107 E. 2c S. 109; 117 II 353 E. 3 S. 355; 128 III 4 E. 4b
S. 6 f.; 132 III 97 E. 1 S. 99).
2.2 Die Vorinstanz erwog im Wesentlichen Folgendes:
Die seit September 2007 getrennt lebenden Eltern hätten ihre Tochter
zunächst gemäss dem sog. Pendelmodell betreut. Da die Mutter seit
Ende November 2011 in Schwyz über keine Mietwohnung mehr verfüge, im Fürstentum Liechtenstein wohne und die Einschulung von
Y.________ absehbar werde, erweise es sich – im Sinne einer
erwünschten Konstanz und Kontinuität – als unumgänglich, der
Lebensmittelpunkt von Y.________ auf einen Wohnort zu beschränken. Auch das eingeholte Gutachten spreche sich mit Nachdruck für eine solche Lösung aus. Werde die Obhut der Mutter zugeteilt, was sich vorliegend aufdränge (dazu sogleich), sei mit einer
"Entkrampfung" des Elternverhältnisses zu rechnen, weshalb sich
vorliegend die Aufrechterhaltung der gemeinsamen Sorge rechtfertige.
Mit Blick auf die Obhutsfrage schloss sich die Vorinstanz – nach einer
umfassenden Prüfung der Situation – der gutachterlichen Empfehlung
an, diese der Mutter zuzuteilen. Die vorinstanzliche Gesamtwürdigung
Seite 6
113
umfasst im Wesentlichen die folgenden Gesichtspunkte: Dass
Y.________ zu Schwyz bereits einen gewissen Bezug habe, stehe
einer Obhutszuteilung an die Mutter nicht entgegen, da für
Y.________ aufgrund ihres Alters primär ihre Bezugsperson im Vordergrund stehe und nicht ein bestimmter Ort. Ferner lebe der Be schwerdeführer in einem "Junggesellenhaushalt", wobei seine Freundin im Kanton Bern wohne und arbeite, während die Mutter mit ihrem
neuen Ehemann zusammenlebe, was für Y.________ vorteilhafter sei.
Der Vater gehe ausserdem – nebst seiner Büroarbeit – in der ge samten Deutschschweiz auf Kundenbesuch und müsse sich öfters in
dem von ihm verpachteten Restaurations- und Ferienhüttenbetrieb
aufhalten, was als Aufenthaltsort für ein sechsjähriges Kind nicht adä quat sei; demgegenüber sei die Mutter mit einem Pensum von 20-30%
erwerbstätig. Obschon auch bezüglich des Verhaltens der Mutter Ver besserungspotenzial bestehe, sei der Vater im Falle einer Obhuts zuteilung voraussichtlich nicht bereit, Y.________ uneingeschränkten
Zugang zur Mutter zu gewähren. Bezüglich des logopädischen bzw.
motorischen Behandlungsbedarfs von Y.________ sei die Mutter
zudem sensibilisierter und aufmerksamer, zumal sie von Beruf Psychomotorik-Therapeutin sei.
3.
Der Beschwerdeführer wirft der Vorinstanz zunächst eine Verletzung
von kantonalem Verwaltungsverfahrensrecht vor. Obwohl im vorliegenden Verfahren der Untersuchungsgrundsatz gelte, habe sich das
Verwaltungsgericht in Verletzung von § 55 der Verordnung über die
Verwaltungsrechtspflege vom 6. Juni 1974 nicht auf die Prüfung des
Ermessensmissbrauchs bzw. der Ermessensüberschreitung beschränkt.
Es trifft zu, dass das Verwaltungsgericht nach dem anwendbaren § 55
der Verordnung über die Verwaltungsrechtspflege den regierungsrätlichen Ermessensentscheid nur auf Ermessensmissbrauch bzw. -überschreitung hätte prüfen dürfen.
Das Verwaltungsgericht hat aber festgestellt, dass die Frage des Kin deswohls stets im Hinblick auf die aktuellen Verhältnisse zu beant worten sei (E. 3.4.2) und dass sich die Verhältnisse im Vergleich zum
Zeitpunkt der regierungsrätlichen Beschlussfassung geändert hätten
(E. 3.4.3). Der Beschwerdeführer widerspricht keiner der beiden Erwägungen.
Seite 7
114
Sodann führt das Verwaltungsgericht an, in Kinderbelangen gelte die
Untersuchungsmaxime (E. 3.5.1), was der Beschwerdeführer insofern
bestätigt, als er selber mehrfach die Verletzung derselben geltend
macht. In der Tat gelten in allen Kinderbelangen vor allen kantonalen
Instanzen von Bundesrechts wegen die Offizial- und die Untersuchungsmaxime (BGE 128 III 411 E. 3 S. 412; 126 III 298 E. 2.a/bb
S. 302; 122 III 404 E. 3d S. 408). Gerade die Untersuchungsmaxime
führt dazu, dass die mit der Sache befasste Instanz neue Umstände
berücksichtigen muss (BGE 131 III 91 E. 5.2.1 S. 95; Urteil
5A_591/2008 vom 24. Oktober 2008 E. 3.2 und Urteil 5A_721/2011
vom 4. Januar 2012 E. 2.5). Insofern das kantonale Prozessrecht in
Kinderbelangen die Berücksichtigung neuer Tatsachen verbietet, steht
es im Widerspruch zum Bundesrecht und bleibt daher unbeachtlich.
Daraus folgt ohne weiteres, dass bei Vorliegen neuer Tatsachen, die
Überprüfungsbefugnis der Vorinstanz nicht auf Ermessensmissbrauch
bzw. -überschreitung beschränkt sein konnte. Die Rüge erweist sich
als unbegründet.
4.
Unter dem Titel „unrichtige Feststellung des Sachverhalts“ erhebt der
Beschwerdeführer zahlreiche Rügen. Zum Teil handelt es sich
tatsächlich um Sachverhaltsfragen und solche der Beweiswürdigung
(s. dazu E. 4.1 bis 4.4 sogleich); teilweise macht er indes Rechtsfehler
(Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes; falsche Gewichtung von
Zuteilungskriterien, Anwendung unzulässiger Zuteilungskriterien) geltend; diese Rügen werden in den E. 5 und 6 hiernach beurteilt.
4.1 Eine Sachverhaltsfeststellung ist willkürlich, wenn sie offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem Wider spruch
steht oder auf einem offenkundigen Versehen beruht (BGE 129 I 173
E. 3.1 S. 178). Willkür in der Beweiswürdigung liegt vor, wenn das
Gericht Sinn und Tragweite eines Beweismittels offensichtlich ver kannt hat, wenn es ohne sachlichen Grund ein wichtiges Beweismittel,
das für den Entscheid wesentlich sein könnte, unberücksichtigt gelassen hat oder wenn es auf Grundlage der festgestellten Tatsachen
unhaltbare Schlussfolgerungen getroffen hat (BGE 129 I 8 E. 2.1 S. 9).
Dass die Ergebnisse des Beweisverfahrens auch Schlüsse gestatten,
die nicht mit den vom Sachgericht gezogenen übereinstimmen, be deutet hingegen nicht schon Willkür (BGE 116 Ia 85 E. 2b S. 88). Es
obliegt gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG dem Beschwerdeführer, Willkür
klar und detailliert und, soweit möglich, belegt zu rügen und im Ein zelnen darzulegen, inwiefern die Beweiswürdigung an einem qualifizierten und offensichtlichen Mangel leidet (BGE 130 I 258 E. 1.3
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S. 261 f.). Sodann muss er aufzeigen, inwiefern die Behebung desselben für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG; BGE 135 I 19 E. 2.2.2 S. 22).
4.2 Zunächst rügt der Beschwerdeführer, dass die Vorinstanz auf
seine Vernehmlassung vom 30. September 2011 abgestellt und daraus den Schluss gezogen habe, es sei unglaubwürdig, dass er bereit
sei, der Tochter uneingeschränkten Zugang zur Mutter zu gewähren
und es könne nicht angenommen werden, er sei bestrebt, Y.________
nicht einem Loyalitätskonflikt auszusetzen (E. 5.5.2 des angefochtenen Entscheids). Es sei nämlich gerichtsnotorisch, dass „die TochterVerlust-Angst für den Kindsvater emotional höchst belastend sei“,
weshalb seinen Äusserungen nicht die Beachtung hätte zukommen
dürfen, welche das Verwaltungsgericht ihnen zugemessen hat. Der
Sache nach rügt der Beschwerdeführer Willkür in der Beweiswürdigung.
Dem Gericht unterbreitete abschätzige Äusserungen betreffend den
anderen Elternteil lassen sich nicht mit angeblichen Verlustängsten
rechtfertigen. Die Vorinstanz durfte auf die in der Vernehmlassung
vom 30. September 2011 enthaltenen Ausführungen abstellen und die
darin zum Ausdruck gebrachte Einstellung des Beschwerdeführers
entsprechend würdigen.
4.3 Im Zusammenhang mit der vorinstanzlichen Feststellung, wonach
vernünftig klingende Absprachen bezüglich Betreuungszeiten „offenbar nicht möglich“ gewesen seien (E. 5.5.3 des angefochtenen Entscheids), wendet der Beschwerdeführer sodann ein, die Vor instanz
treffe Annahmen, ohne sich je vergewissert zu haben, was tatsächlich
vorgefallen sei (S. 8 der Beschwerde). Dabei übergeht er mit Stillschweigen, dass das Verwaltungsgericht ausdrücklich auf zwei Aktenstellen verweist, und er behauptet nicht etwa, aus den fraglichen Akten
lasse sich die gezogene Schlussfolgerung nicht ziehen. Auch diese
Sachverhaltsrüge ist unbegründet.
5.
Ausserdem rügt der Beschwerdeführer in zweifacher Hinsicht eine
Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes.
5.1 Wie bereits ausgeführt, gilt in Kinderbelangen uneingeschränkt
der Untersuchungsgrundsatz (vgl. E. 3). Letzterer verpflichtet den
Richter, von sich aus alle Elemente in Betracht zu ziehen, die ent scheidwesentlich sind, und unabhängig von den Anträgen der Parteien
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116
Beweise zu erheben. Diese Pflicht ist indes nicht ohne Grenzen und
entbindet die Parteien nicht von einer aktiven Mitwirkung am Ver fahren, indem sie Hinweise zum Sachverhalt machen oder Beweise
bezeichnen (dazu BGE 128 III 411 E. 3.2.1 und 3.2.2 S. 412 ff.;
zuletzt: 5A_775/2011 vom 8. März 2012 E. 2.1.3).
Wer sich auf die Untersuchungsmaxime beruft bzw. eine Verletzung
derselben geltend macht, muss daher zunächst aufzeigen, dass das
Gericht den Sachverhalt unvollständig und damit willkürlich festgestellt
hat. Sodann muss der Beschwerdeführer diejenigen Tatsachen be haupten, die das Gericht festzustellen bzw. abzuklären unterlassen
hat. Schliesslich obliegt es ihm darzutun, inwiefern die behaupteten
Tatsachen für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sind (s.
dazu Urteil 5A_299/2012 vom 2012 E. 3.4).
5.2 Diesen Begründungsanforderungen kommt der Beschwerdeführer
nicht nach.
5.2.1 Zunächst hält der Beschwerdeführer der Vorinstanz vor, erwogen zu haben, bei einer Zuteilung der Obhut an die Beschwerde gegnerin werde die Tochter unter der Woche in einem Haushalt mit
weiblicher und männlicher Bezugsperson aufwachsen, während der
Beschwerdeführer unter der Woche alleine lebe und die Tochter somit
in einem Junggesellenhaushalt aufwachsen würde (E. 5.2 des angefochtenen Entscheids), und zwar ohne abgeklärt zu haben, ob der
Ehemann der Beschwerdegegnerin unter der Woche auch tatsächlich
im gemeinsamen Haushalt lebt und Y.________ mit einer männlichen
Bezugsperson aufwachsen kann (S. 7 und S. 11 der Beschwerde).
Indes behauptet der Beschwerdeführer nicht, der Ehemann der Beschwerdegegnerin verbringe die Wochentage nicht im Liechtenstein,
noch zeigt er auf, dass diese Sachverhaltselemente letztlich ausschlaggebend waren für die Zuteilung der Obhut an die Beschwerde gegnerin, bzw. dass, falls der Ehemann tatsächlich nur die Wochen enden im gemeinsamen Haushalt verbringen würde, die Obhut dem
Beschwerdeführer hätte übertragen werden müssen. Überdies ergeben sich auch aus den Akten keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der
Ehemann der Beschwerdegegnerin seine arbeitsfreie Zeit ausserhalb
des gemeinsamen Haushalts verbringt, und auch der Beschwerdeführer behauptet dies nicht. Vor diesem Hintergrund hatte das Ver waltungsgericht keine Veranlassung, diesbezüglich weitere Abklärungen vorzunehmen.
Seite 10
117
5.2.2 Ferner wendet der Beschwerdeführer ein, die Vorinstanz sei davon ausgegangen, er müsse regelmässig seinen verpachteten Restaurations- und Ferienhüttenbetrieb in C.________ aufsuchen (wobei ein
solcher Aufenthaltsort, sollte er regelmässig anfallen, für ein 6-jähriges
Kind kaum als adäquat zu beurteilen wäre; E. 5.3 des angefochtenen
Entscheids), ohne darüber Beweis geführt zu haben, wie viel Zeit die
Betreuung der verpachteten Restaurationsbetriebe in Anspruch nehme. Er habe Zeugen offeriert, um seine Betreuungskapazität und
-intensität zu belegen (S. 8 der Beschwerde). Auch hier behauptet der
Beschwerdeführer nicht und legt nicht dar, wie viel (bzw. wie wenig)
Zeit er tatsächlich aufwendet, um sich um die fraglichen Restaura tionsbetriebe zu kümmern. Ebenso wenig führt er aus, wie (bzw. wie
wenig) sich diese Aufgaben auf seine eigene Betreuungskapazität
auswirken würden; die Behauptung, Zeugen könnten dies bestätigen,
genügt nicht, wenn unklar bleibt, was genau diese Zeugen bestätigen
könnten.
5.2.3 Den in diesem Zusammenhang jeweils gleichzeitig erhobenen,
aber nicht selbständig begründeten Sachverhalts- und Gehörsrügen
kommt keine eigenständige Bedeutung zu; darauf ist nicht einzutreten.
6.
6.1 Sodann wirft der Beschwerdeführer der Vorinstanz vor, offensicht lich und willkürlich verkannt zu haben, dass Y.________ „seit ihrer
Geburt in Schwyz eingebettet“ sei und mit einem „überdurchschnittlich
grossen Kreis von Familienangehörigen und Freunden des Kindesvaters“ Kontakt habe (S. 7 der Beschwerde). Vom Umfeld des Kindes
in Liechtenstein wisse die Vorinstanz eben so wenig wie er selbst: Die
Vorinstanz erwähne denn auch nur den dortigen Kindergarten.
Mit Blick auf das Alter von Y.________ hat die Vorinstanz fest gehalten, die Stabilität der Verhältnisse hänge in erster Linie von den
Bezugspersonen ab und nicht von den örtlichen Verhältnissen, weshalb letzterem Kriterium vorliegend eine untergeordnete Bedeutung
zukomme (E. 5.1 des angefochtenen Entscheids). Daraus ergibt sich
zunächst einmal, dass das Verwaltungsgericht die räumliche Verwurzelung der Tochter und damit das Kriterium der örtlichen Stabilität sehr
wohl in seine Beurteilung einbezogen, aber demjenigen der persönlichen Stabilität mehr Gewicht beigemessen hat. Der Beschwerdeführer legt nicht dar, inwiefern das Verwaltungsgericht mit dieser Gewichtung das ihm zustehende Ermessen überschritten haben soll. Die
Rüge ist unbegründet.
Seite 11
118
6.2 Der Beschwerdeführer führt zudem ins Feld, er verfüge im Gegen satz zur Kindsmutter über keinen "Ernährer qua Heirat". Daraus einen
Obhuts-Vorteil der Kindsmutter abzuleiten, sei verfassungsrechtlich
"mehr als verwegen und realitätsfremd". Was der Beschwerdeführer
der Vorinstanz unterstellt, hat diese gar nicht gesagt. Darauf ist nicht
einzutreten.
6.3 Ferner wendet der Beschwerdeführer ein, die Gutachter attestier ten ihm die zur Obhut des Kindes notwendigen Eigenschaften. Wenn
die Vorinstanz folgere, die „Psychomotorik-Therapeutin-Kindsmutter“
sei eher zur Obhut geeignet, so sei dies aktenwidrig und zudem dis kriminiere die Vorinstanz damit den Kindsvater, was eine ganz klare
Rechtsverletzung und Willkür sei.
Insofern der Beschwerdeführer hier eine Sachverhaltsrüge vorträgt
(Einwand der Aktenwidrigkeit), kommt er seiner Begründungspflicht
nicht nach (s. dazu E. 1.3), zumal nicht ersichtlich ist, welche Sachverhaltsfeststellung er überhaupt meint; darauf ist nicht einzutreten.
Das Verwaltungsgericht hat – nebst zahlreichen anderen Faktoren –
die berufliche Qualifikation der Beschwerdegegnerin als Psychomotorik-Therapeutin in ihre Erwägungen einbezogen. Dieses Kriterium war
deshalb relevant, weil die behandelnde Logopädin ausgeführt hatte,
Y.________ „hinke“ in Sachen Motorik „hintendrein“. Darauf hat der
Beschwerdeführer selbst hingewiesen (E. 5.7 des angefochtenen Entscheids). Wenn nun das Verwaltungsgericht daraus folgert, die Ausbil dung der Kindsmutter spreche daher eher für eine Obhut bei ihr, ist
kein Ermessensmissbrauch und damit keine Rechtsverletzung ersichtlich.
Ebenso wenig ist darin eine Diskriminierung des Kindsvaters zu erkennen, denn die Attestierung der Erziehungsfähigkeit des Vaters genügt
für sich alleine nicht, um die Obhutsfrage zu beantworten (s. dazu
E. 2.1)
6.4 Ausserdem wirft der Beschwerdeführer dem Verwaltungsgericht
vor, auf das Gutachten der Ambulanten Psychiatrischen Dienste
(APD) des Kantons Zug abgestellt zu haben, obwohl die Gutachter
sich nicht vom Wohl des Kindes, sondern von demjenigen der Kinds mutter hätten leiten lassen. So hätten diese eine Empfehlung zur Ein schulung der Tochter im Liechtenstein abgegeben, weil der Kinds mutter nicht zugemutet werden könne, an mehreren Tagen pro Woche
in der Region Schwyz zu leben.
Seite 12
119
Der Beschwerdeführer gibt die fraglichen Ausführungen im Gutachten
verkürzt wieder. Dort wird nämlich nicht nur festgehalten, dass es die
Mutter nach dem Vorgefallenen zu sehr belasten würde, mehrere Tage
pro Woche in Schwyz zu wohnen, sondern auch, dass sich diese
Belastung negativ auf das Kind auswirken würde (Gutachten S. 29
oben). Damit haben die Gutachter das Kindeswohl nicht nur nicht
unterschlagen, sondern explizit berücksichtigt. Der hier erhobene Vorwurf trifft mithin nicht zu. Nachdem der Beschwerdeführer keine weiteren Einwendungen gegen die Vollständigkeit, die Nachvoll ziehbarkeit oder die Schlüssigkeit des Gutachtens erhebt, durfte das Ver waltungsgericht im Rahmen der ihm obliegenden freien Beweis würdigung darauf abstellen (allgemein: BGE 133 II 384 E. 4.2.3 S. 391;
132 II 257 E. 4.4.1 S. 269, je mit Hinweisen).
Den in diesem Zusammenhang erhobenen Rügen der Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes und der Begründungspflicht kommt keine
selbständige Bedeutung zu; darauf ist nicht einzutreten.
6.5 Unter Hinweis auf das Bundesgerichtsurteil 5A_170/2009 vom
10. Juni 2009 macht der Beschwerdeführer sodann geltend, auch im
Zusammenhang mit der Obhutszuteilung müsse gelten, dass eine
Änderung der bisherigen Regelung nur dann gerechtfertigt sei, wenn
die Grundbedingungen für eine gemeinsame Verantwortung nicht
mehr gegeben seien. Vorliegendenfalls habe die Beschwerdegegnerin
ohne Not und ohne Absprache mit dem Beschwerdeführer ihren
Wohnsitz wie auch denjenigen der Tochter verlegt und ihre Wohnung
in Schwyz aufgegeben. Dies könne niemals ausreichend Grund sein,
die Vereinbarung betreffend die gemeinsame elterliche Sorge und
Obhut aufzuheben und in Anwendung von Art. 298a Abs. 2 ZGB neu
zu regeln.
Dem Beschwerdeführer ist insofern zuzustimmen, als eine Vereinbarung über die elterliche Sorge und Obhut nicht einseitig aufgekündigt
werden kann. Wie indes bereits dargelegt, ist die Obhut neu zu regeln,
wenn dies wegen wesentlicher Veränderung der Verhältnisse zum
Wohl des Kindes geboten ist (E. 2.1). Ob sich die Verhältnisse geändert haben, ist nach objektiven Kriterien zu beurteilen. Grundsätzlich
bleiben die Gründe, welche zu den veränderten Verhältnissen geführt
haben, unbeachtlich; vorbehalten bleibt einzig der offenbare Rechts missbrauch. Einen solchen macht der Beschwerdeführer – zu Recht –
nicht geltend; ebenso wenig bestreitet er, dass sich die Verhältnisse
(Wegzug der Mutter nach Liechtenstein, Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in Liechtenstein, Erreichen des Kindergartenalters der Toch -
Seite 13
120
ter) tatsächlich geändert haben. Nach dem Gesagten ist nicht entscheidend, dass die Beschwerdegegnerin die Gründe für die Veränderung der Verhältnisse gesetzt hat; massgebend ist das Wohl des
Kindes. Dass Letzterem am besten gedient ist, wenn die Tochter in die
alleinige Obhut der Mutter gestellt wird, vermag der Beschwerdeführer
– wie in den vorstehenden Erwägungen dargetan – nicht zu wider legen.
6.6 Schliesslich wirft der Beschwerdeführer der Vorinstanz die Verletzung einer ganzen Reihe verfassungs- bzw. völkerrechtlicher Normen
vor (Art. 8, Art. 9, Art. 11, Art. 14 und Art. 41 BV; Art. 8 EMRK; Art. 3,
Art. 7, Art. 9 und Art. 18 UNKRK). Diesen Bestimmungen kommt indes
keine über Art. 298a Abs. 2 ZGB hinausgehende Bedeutung zu, was
der Beschwerdeführer im Übrigen auch nicht darlegt (vgl.
BGE 133 III 585 E. 3.4 S. 587). Auf diese, teilweise auf einigermassen
abenteuerlichen Überlegungen basierenden Rügen ist nicht einzutreten.
7.
Zusammenfassend ist die Obhutszuteilung nicht zu beanstanden. Hinsichtlich der Regelung des Besuchsrechts erhebt der Beschwerdeführer keine selbständigen Rügen. Ebenso wenig begründet er, ob bzw.
weshalb er die vorinstanzliche Kostenregelung unabhängig vom Ausgang des bundesgerichtlichen Verfahrens anficht (vgl. Rechtsbegehren Ziff. 3). Darauf ist daher nicht weiter einzugehen.
Damit wird die Umteilung der Obhut über das Kind Y.________ an die
Beschwerdegegnerin bzw. dessen Einschulung in den Kindergarten im
Liechtenstein definitiv und muss vollstreckt werden. Da der in der vor instanzlichen Urteilsziffer 1.1 im Hinblick auf die Vollstreckung angeordnete Termin ("anfangs Juli 2012") inzwischen abgelaufen ist, wird
er auf den Beginn der Herbstschulferien in Schwyz (1. Oktober 2012)
neu angesetzt. Hinsichtlich persönlichem Verkehr und Betreu ung von
Y.________ gelten bis zu diesem Zeitpunkt weiterhin die im Zwischen bescheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz vom 21. De zember 2011 getroffenen Anordnungen, es sei denn die Eltern treffen
einvernehmlich eine andere Regelung.
8.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf
eingetreten werden kann.
Seite 14
121
Die Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66
Abs. 1 BGG). Der Gegenseite ist kein entschädigungspflichtiger Aufwand entstanden.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden
kann.
Die Obhut über das Kind Y.________ wird ab dem 1. Oktober 2012
auf die Kindsmutter übertragen. Bis zu diesem Zeitpunkt gilt weiterhin
die Betreuungsregelung gemäss dem Zwischenbescheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz vom 21. Dezember 2011.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer
auferlegt.
3.
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kan tons Schwyz, Kammer III, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 10. September 2012
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin:
Der Gerichtsschreiber:
Hohl
Schwander
Seite 15
122
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
5A_138/2012
Urteil vom 26. Juni 2012
II. zivilrechtliche Abteilung
Besetzung
Verfahrensbeteiligte
Bundesrichterin Hohl, Präsidentin,
Bundesrichter Marazzi, von Werdt,
Gerichtsschreiber Möckli.
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Hans Hegetschweiler,
Beschwerdeführer,
gegen
Z.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Manuela Schiller,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Ehescheidung,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, vom
27. Dezember 2011.
123
Sachverhalt:
A.
Mit Urteil vom 13. Mai 2011 schied das Bezirksgericht Dielsdorf die
Ehe zwischen X.________ (1970) und Z.________ (1972). Das gemeinsame Kind Y.________ (geb. 27. April 2004) wurde unter die
elterliche Sorge der Mutter gestellt, unter Regelung des Besuchsrechts des Vaters und Verpflichtung desselben zu Kindesunterhaltsbeiträgen von Fr. 815.-- (zzgl. Kinderzulagen).
Mit Urteil vom 27. Dezember 2011 bestätigte das Obergericht des
Kantons Zürich die Regelung der Kinderbelange.
B.
Diesbezüglich hat der Vater am 8. Februar 2012 eine Beschwerde in
Zivilsachen eingereicht, mit welcher er beantragt, das Kind
Y.________ sei unter seine elterliche Sorge zu stellen, unter Fest legung des Besuchsrechts der Mutter und deren Verpflichtung zu Kindesunterhaltsbeiträgen von Fr. 650.--, eventualiter sei die Sache zur
Vornahme weiterer Abklärungen zum Kindeswohl an das Obergericht
zurückzuweisen. Ferner wird die hälftige Verteilung der kantonalen
Kosten (statt 2/3 der erstinstanzlichen sowie gesamte oberinstanzliche
Kosten zulasten des Vaters) sowie die unentgeltliche Rechtspflege
verlangt. Mit Präsidialverfügung vom 24. Februar 2012 wurde antrags gemäss die aufschiebende Wirkung erteilt. In der Sache selbst wurden
keine Vernehmlassungen eingeholt.
Seite 2
124
Erwägungen:
1.
Angefochten sind vermögensrechtliche und nicht vermögensrechtliche
Nebenfolgen eines kantonal letztinstanzlichen Scheidungsurteils; somit steht die Beschwerde in Zivilsachen streitwertunabhängig offen
(Art. 72 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1, Art. 75 Abs. 1 und Art. 90 BGG).
2.
In rechtlicher Hinsicht sind bei der Beschwerde in Zivilsachen alle
Rügen gemäss Art. 95 f. BGG zulässig und das Bundesgericht wendet
in diesem Bereich das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG), was heisst, dass es behauptete Rechtsverletzungen (Art. 42
Abs. 2 BGG) mit freier Kognition prüft.
Dagegen ist das Bundesgericht an den festgestellten Sachverhalt
grundsätzlich gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesbezüglich kann
einzig vorgebracht werden, er sei offensichtlich unrichtig festgestellt
worden (Art. 97 Abs. 1 BGG), wobei "offensichtlich unrichtig" mit "will kürlich" gleichzusetzen ist (Botschaft, BBl 2001 IV 4338; BGE 133 II
249 E. 1.2.2 S. 252; 133 III 393 E. 7.1 S. 398), oder er beruhe auf
einer anderen Rechtsverletzung im Sinn von Art. 95 BGG (z.B. Art. 29
Abs. 2 BV oder Art. 8 ZGB). Ausserdem muss in der Beschwerde auf gezeigt werden, inwiefern die Behebung der vorerwähnten Mängel für
den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG; BGE 135 I 19 E. 2.2.2 S. 22). Für all diese Elemente gilt das
strenge Rügeprinzip (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.2
S. 255). Das bedeutet, dass das Bundesgericht nur klar und detailliert
erhobene und soweit möglich belegte Rügen prüft, während es auf
ungenügend begründete Rügen und rein appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid nicht eintritt. Wird die Verletzung des Willkür verbots gerügt, reicht es sodann nicht aus, die Lage aus Sicht des
Beschwerdeführers darzulegen und den davon abweichenden angefochtenen Entscheid als willkürlich zu bezeichnen; vielmehr ist im Ein zelnen darzulegen, inwiefern das kantonale Gericht willkürlich entschieden haben soll und der angefochtene Entscheid deshalb an
einem qualifizierten und offensichtlichen Mangel leidet (BGE 134 II
244 E. 2.2 S. 246).
In der Beschwerde in Zivilsachen dürfen überdies keine neuen Tatsachen und Beweismittel vorgebracht werden, es sei denn, erst der
Entscheid der Vorinstanz habe dazu Anlass gegeben (Art. 99 Abs. 1
BGG). In der Beschwerde ist darzutun, inwiefern die Voraussetzung
Seite 3
125
für eine nachträgliche Einreichung von Tatsachen und Beweismitteln
erfüllt sein soll (BGE 133 III 393 E. 3 S. 395).
3.
In tatsächlicher Hinsicht hat das Obergericht (teilweise unter Verweis
auf das erstinstanzliche Urteil) festgehalten, dass die Parteien seit
dem 27. August 2007 getrennt lebten. Als sich die Wohnsituation bei
der Mutter verschlechtert habe, hätten die Parteien Ende 2008 ver einbart, dass Y.________ bis Mai 2009 bei den Grosseltern väter licherseits im Kosovo betreut werde, damit sie beide ihre jeweilige
Wohn- und Arbeitssituation in Ordnung bringen könnten. Die Rückkehr
von Y.________ in die Schweiz habe sich bis September 2009 verzögert. Seither wohne er beim Vater. Mit bezirksgerichtlicher Verfügung vom 29. Dezember 2009 sei ihm für die Dauer des Scheidungsverfahrens die alleinige Obhut zugeteilt worden. Das bei Dr. phil.
W.________ in Auftrag gegebene kinderpsychologische Gutachten
zum Sorge- und Besuchsrecht komme zum Schluss, dass beide
Elternteile grundsätzlich erziehungsfähig seien, die Mutter allerdings
für die Übernahme der elterlichen Sorge als geeigneter erscheine. Als
Gründe hierfür würde die etwas günstigere Infrastruktur (Wohnung,
Betreuung, Arbeit) sowie die höhere Bereitschaft zur zuverlässigen
und nachhaltigen Zusammenarbeit aufgeführt. Die Erziehungsvorstellungen der Mutter würden den mitteleuropäischen Zielsetzungen entsprechen und mit den schulischen Anforderungen in der Schweiz weitgehend übereinstimmen. Sie fordere Y.________ stärker und rege ihn
zur Selbständigkeit und Rücksichtnahme gegenüber Erwachsenen und
Gleichaltrigen an. Sie sei sich ihrer Unsicherheiten bewusst und zeige
eine gute Bereitschaft, sich beraten zu lassen. Sodann lasse sich den
Ausführungen des Vaters anlässlich der Befragung durch das Gericht
entnehmen, dass dieser sich nicht mit wirklichem Willen dafür ein setze, die Besuche des Sohnes bei der Mutter zu fördern. Er bringe
immer wieder vor, dass er seinen Sohn auf keinen Fall zu etwas
zwingen möchte, was dieser nicht wolle. Gemäss dem Gutachten
seien seine Erziehungsvorstellungen stark durch den Kulturkreis des
Kosovo geprägt. Kleine Jungen würden allzu viel Hingabe und Bewun derung erfahren und reagierten später mit Verärgerung und Zorn,
wenn sie mit der Forderung nach Selbständigkeit konfrontiert würden.
Insbesondere mache der Vater dem Sohn auch keinen Gefallen damit,
dass sie gemeinsam in einem Bett schliefen; dies sei für dessen
Entwicklung ungünstig und führe dazu, dass er immer mehr von der
Mutter entfremdet werde. Aus dem Gutachten ergebe sich ausserdem,
dass Y.________ seine Mutter möge, jedoch in Anwesenheit des
Vaters nicht offen darüber sprechen könne.
Seite 4
126
Das Obergericht ist (teilweise unter Verweis auf das erstinstanzliche
Urteil) zum Schluss gekommen, dass die enge und oft auch allzu
fürsorgliche Betreuung durch den Vater nicht im Kindeswohl sei. Die
momentane Besuchsrechtsregelung genüge für einen weiteren Beziehungsaufbau zur Mutter nicht und es habe sich im Verlauf des Schei dungsverfahrens gezeigt, dass der Vater nicht in der Lage sei, bei der
Errichtung eines normalen Besuchsrechts zur Mutter zu helfen; dieses
scheitere immer wieder an der sturen Haltung des Vaters, dass jede
Verweigerungshaltung des Sohnes akzeptiert und nicht durchbrochen
werde. Die väterliche Behauptung, ein normales Besuchsrecht der
Mutter fördern zu wollen, sei leere Versprechung geblieben. Der Vater
habe sich auch im Rahmen der psychologischen Begutachtung als un zuverlässig und nicht kooperationsbereit gezeigt: Zur ersten Sitzung
sei er gar nicht erst erschienen und den Folgetermin habe er be schränkt mit der Begründung, Y.________ aus dem Kindergarten ab holen zu müssen; die für Y.________ vereinbarte Sitzung habe er
ebenfalls unbenutzt verstreichen lassen und dies einige Tage später
mit eigener Krankheit begründet; eine weitere Sitzung habe er eine
halbe Stunde vorher krankheitshalber abgesagt; gemeinsame Besprechungen mit der Mutter habe er verweigert und sich immer wieder in
Vorwürfen ihr gegenüber verloren. Sodann habe er auf Lösungsvorschläge der Mutter unkonstruktiv reagiert. Beim Verlesen eines Vergleichsvorschlages habe er wütend den Gerichtssaal verlassen. Die
Mutter ihrerseits habe die Zeit, in welcher Y.________ im Kosovo
gewesen sei, genutzt und könne diesem heute stabile Wohn- und
Betreuungsverhältnisse bieten. Sie sei bereit, den Kontakt zum Vater
zu unterstützen und ein übliches Besuchsrecht zu fördern, weshalb
das Gericht in Übereinstimmung mit dem Gutachten davon überzeugt
sei, dass sie geeigneter sei, die elterliche Sorge zu übernehmen.
Spezifisch mit Bezug auf die obergerichtlichen Vorbringen des Vaters
– die Mutter sei seinerzeit wegen des Unfalles schwer depressiv
geworden; er habe Y.________ seither gut betreut, was sich an
dessen aufgeweckter und unauffälliger Art zeige; er habe die Mutter
nie gezwungen, ein Kopftuch zu tragen; er trage nicht traditionelle isla mische Kleidung, sondern T-Shirt und Jeans, und er habe nicht einen
islamischen, sondern einen kurzen europäischen Bart; Y.________
sperre sich mit Händen und Füssen dagegen, zur Mutter zu gehen
bzw. bei ihr statt bei ihm zu übernachten; die Verlustangst sei mit der
Vorgeschichte erklärbar und man habe dieser traumatisierenden Vorgeschichte viel zu wenig Gewicht beigemessen, sondern die Fehler
bei ihm als Vater gesucht; die Mutter stamme als Italienerin ebenfalls
aus einem fremden Kulturkreis und spreche nach wie vor nicht
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127
einwandfrei Deutsch, während er als früherer Jurastudent immerhin
über eine gute Bildung verfüge – hat das Obergericht erwogen, dass
es keines ergänzenden Beweisverfahrens bedürfe und das Gutachten
W.________ nach wie vor aktuell sei. Vorliegend sei beiden Eltern teilen die Erziehungsfähigkeit zu attestieren. Indes würde bei einer
Sorgerechtszuteilung an den Vater die Beziehung von Y.________ zur
Mutter verkümmern, weil dieser das Kind nicht davon überzeugen
könne und wolle, die Mutter zu besuchen und bei ihr zu übernachten,
sondern lediglich für ein minimales begleitetes Besuchsrecht von drei
Stunden pro Woche Hand biete. Er verkenne, dass er als gegenwärtiger Obhutsinhaber die Pflicht habe, darauf hinzuwirken, dass die
Mutter das Besuchsrecht tatsächlich ausüben könne, und es bestehe
kein Grund zur Annahme, dass er seine Haltung in Zukunft ändern
würde, womit es zu einer für die Entwicklung von Y.________ ungünstigen Entfremdung zur Mutter käme. Diese wäre demgegenüber
bereit, (falls nötig mit Dritthilfe) darauf hinzuwirken, dass zu beiden
Elternteilen eine gute und tragfähige Beziehung bestehe. Schliesslich
könne aus dem Kontinuitätsprinzip insofern nichts abgeleitet werden,
als dieses Prinzip bei den Kindern mit dem Älterwerden schrittweise
an Bedeutung verliere und eine allfällige Belastung infolge Umgebungswechsels hinzunehmen sei, wenn im Gegenzug eine angemessene Beziehung zu beiden Elternteilen erreicht werde.
4.
Der Vater wirft dem Obergericht vor, ungeachtet der Offizial- und
Untersuchungsmaxime ausschliesslich auf die Akten und dabei insbesondere auf das veraltete Gutachten vom November 2010 und die
erstinstanzliche Anhörung der Parteien im Dezember 2010 abgestellt
zu haben. Die betreffenden Sachverhaltserhebungen seien nicht mehr
aktuell, nachdem er in der Zwischenzeit eine Stelle gefunden habe
und das Kind nun regelmässig im Hort platziert sei, womit dieses ganz
andere Kontakte zur Aussenwelt habe.
In Kinderbelangen bei familienrechtlichen Verfahren gilt der Offizialund Untersuchungsgrundsatz (Art. 296 ZPO). Dies kann dazu führen,
dass das befasste Sachgericht gegebenenfalls weitere Beweise zu
erheben, namentlich eine erneute Anhörung durchzuführen oder ein
weiteres Gutachten einzuholen hat; massgeblich ist dabei, ob neue
Erkenntnisse zu erwarten oder ob die Ergebnisse der früheren Unter suchungen nach wie vor aktuell sind (BGE 133 III 553 E. 4 S. 555).
Soweit sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht wesentlich verändert
haben, ist im Zusammenhang mit der Kinderzuteilung insbesondere
keine erneute Anhörung durch das obere kantonale Gericht erfor-
Seite 6
128
derlich (Urteile 5C.19/2002 vom 15. Oktober
5A_444/2008 vom 14. August 2008 E. 2.1).
2002
E.
2.1;
Vorliegend hat das Obergericht die Bindungstoleranz der Eltern in den
Mittelpunkt der Erwägungen gestellt und befunden, einzig bei einer
Zuteilung an die Mutter sei eine Beziehung von Y.________ zu beiden
Elternteilen gewährleistet, während mit einer völligen Entfremdung zur
Mutter zu rechnen sei, wenn das Kind beim Vater belassen werde.
Was dessen neue Arbeitsstelle und die Platzierung des Kindes in
einem Hort mit der Frage der Bindungstoleranz bzw. der Ermöglichung
einer normalen Beziehung zu beiden Elternteilen zu tun haben soll, ist
unerfindlich; diese beiden Sachverhaltselemente können jedenfalls
nicht Anlass zu einer neuerlichen Begutachtung oder Anhörung des
Kindes geben. Ebenso scheinen zu dieser Frage weitere Berichte seitens des Jugendsekretariates und des Hortes bzw. der Schule entbehrlich. Schliesslich ist der Sinn eines Amtsberichtes zur Besuchs rechtsausübung nicht einsichtig, wenn der Vater selbst festhält, dass
diese nicht klappt, mithin der betreffende Sachverhalt gar nicht um stritten ist.
Wirkliche Gründe, welche weitere Abklärungen als erforderlich hätten
erscheinen lassen, zeigt der Vater entgegen seinen qualifizierten
Rüge- und Substanziierungspflichten im Zusammenhang mit der Sachverhaltsfeststellung (dazu E. 2) nicht auf. Es geht wie gesagt um die
Grundlagen für die Beurteilung der Bindungstoleranz der Elternteile,
welche das Obergericht als ausschlaggebendes materielles Zuteilungskriterium angesehen hat (dazu E. 5). Der Vater hatte in der kan tonalen Berufung – und auch in der vorliegenden Beschwerde – nirgends zum Ausdruck gebracht, dass er von seinem Standpunkt, wonach die Beziehung des Sohnes zu seiner Mutter in dessen freiem
Belieben stehen soll, Abstand nehmen und eine vernünftige MutterKind-Beziehung aktiv fördern würde. Beim erstinstanzlichen Verfahren
war Y.________ 6 bis 7 Jahre alt, inzwischen ist er 8-jährig. Damit ist
er nach wie vor in einem Alter, in welchem er den Ansichten und
Erwartungen des hauptbetreuenden Elternteils vollständig ausgeliefert
ist: Weder kann er aus eigener Anschauung über die entwicklungs psychologische Bedeutung einer tragfähigen Beziehung zu beiden
Elternteilen und deren Wichtigkeit für seine gedeihliche Entwicklung
wissen, noch kann er sich der Erwartungshaltung des Vaters ent gegenstellen und aus eigener Kraft eine Bindung zur Mutter aufbauen.
Insofern durfte das Obergericht davon ausgehen, dass die sich aus
dem Gutachten und den erstinstanzlichen Aussagen ergebenden tat-
Seite 7
129
sächlichen Grundlagen unverändert geblieben und deshalb weitere
Abklärungen entbehrlich seien.
Neu und damit von vornherein nicht zu hören (vgl. E. 2) ist sodann das
Vorbringen, der Gutachter sei kein Psychiater, sondern nur Psychologe, was angesichts der Vorgeschichte (stark traumatisierendes Un fallereignis) ungenügend sei und ein neues Gutachten erfordere.
Das Eventualbegehren um Rückweisung der Sache zu weiteren Abklärungen ist nach dem Gesagten unbegründet.
5.
In materieller Hinsicht ist vorauszuschicken, dass dem Sachgericht in
Zuteilungsfragen ein weites Ermessen zukommt (Art. 4 ZGB; BGE 117
II 353 E. 3 S. 355), bei dessen Überprüfung sich das Bundesgericht
grosse Zurückhaltung auferlegt (BGE 132 III 97 E. 1 S. 99; 135 III 121
E. 2 S. 123 f.).
Im Zusammenhang mit der Zuteilung der elterlichen Sorge im Rahmen
des Scheidungsverfahrens sind nicht die Wünsche und Vorstellungen
der Eltern von zentraler Bedeutung, sondern ist das Kindeswohl die
oberste Leitmaxime (BGE 115 II 206 E. 4a S. 209; 115 II 317 E. 2
S. 319; 117 II 353 E. 3 S. 355). Zu den wesentlichen Kriterien gehören
die mit der Ermöglichung einer altersgerechten und optimalen Entfaltung in geistig-psychischer, körperlicher und sozialer Hinsicht verbundene Erziehungsfähigkeit der Eltern, die Möglichkeit zu weitgehend persönlicher Betreuung, die bisher gelebte Situation bzw. die
Stabilität der Verhältnisse und die Bindungstoleranz der Elternteile
(vorgenannte publizierte Entscheide sowie Urteile 5A_181/2008 vom
25. April 2008 E. 3.1; 5A_444/2008 vom 14. August 2008 E. 3.1;
5A_591/2008 vom 24. Oktober 2008 E. 5.4; 5A_742/2008 vom 22. Ja nuar 2009 E. 3.1; 5A_823/2008 vom 27. März 2009 E. 3.1;
5A_94/2010 vom 27. Mai 2010 E. 3.1). Zwischen diesen Kriterien gibt
es keine eigentliche Hierarchie; vielmehr ist auf die Besonderheiten
des Einzelfalles einzugehen (Urteil 5A_591/2008 vom 24. Oktober
2008 E. 5.4).
Die Kritik des Vaters, das Gutachten sei über weite Strecken ein Sam melsurium von anti-balkanischen Vorurteilen, geht an der Sache
vorbei: Entgegen dem, was in der Beschwerde insinuiert wird, hat das
Obergericht nicht auf Dinge wie Religion, Bart und Kleidung, sondern
ausschlaggebend darauf abgestellt, welcher der beiden Elternteilen
die nötige Bindungstoleranz aufweist. Im Übrigen hat es entgegen der
Seite 8
130
impliziten Behauptung in der Beschwerde den Kontinuitätsfaktor nicht
ausgeblendet, sondern die beiden Kriterien wertend gegeneinander
abgewogen und befunden, eine Umteilung von Y.________ sei vorliegend unumgänglich, damit er in Zukunft zu beiden Elternteilen eine
gesunde Beziehung haben könne.
Wenn das Obergericht auf die leicht bessere Eigenbetreuungs- und
Wohnsituation der Mutter hingewiesen, andererseits den Kontinuitäts faktor erwähnt, letztlich jedoch der Bindungstoleranz im vorliegenden
Fall eine ganz besondere Bedeutung zugemessen hat, so hat es nicht
nur die rechtlich relevanten Zuteilungskriterien gewürdigt, sondern
auch eine im vorliegenden Einzelfall sachlich gerechtfertigte Begründungslinie verfolgt: Soweit an sich beiden Elternteilen die Erziehungs fähigkeit zu attestieren ist, kann die Bereitschaft und die Fähigkeit
eines Elternteils, mit dem anderen Teil in Kinderbelangen zusammen zuarbeiten und insbesondere eine normale Beziehung zum anderen
Teil zuzulassen und aktiv zu fördern, eine entscheidende Bedeutung
bei der Sorgerechtszuteilung erhalten (Urteile 5A_444/2008 vom
14. August 2008 E. 3.1; 5A_823/2008 vom 27. März 2009 E. 3.4.3;
5A_223/2009 vom 30. April 2009 E. 2; 5A_94/2010 vom 27. Mai 2010
E. 3.2), denn aufgrund des schicksalhaften Eltern-Kind-Verhältnisses
ist die Beziehung des Kindes zu beiden Elternteilen wichtig, kann sie
doch bei der Identitätsfindung eine entscheidende Rolle spielen
(BGE 130 III 585 E. 2.2.2 S. 590; 131 III 209 E. 4 S. 211 f.). Ein
weiteres einschlägiges Zuteilungskriterium hat das Obergericht befolgt, wenn es ausserdem gewürdigt hat, dass die Mutter bereit ist, mit
Dritten zusammenzuarbeiten und auf die hiesigen Anforderungen und
Anschauungen im schulischen und im allgemeinen kulturellen Umfeld
Rücksicht zu nehmen; dies kann einem Kind, welches in der Schweiz
aufwächst, demnach hier zur Schule geht, hier seinen Freundeskreis
aufbaut und sich dereinst dem hiesigen Arbeitsmarkt wird stellen müssen, nur zum Vorteil gereichen. Vor dem Hintergrund, dass das Kin deswohl die oberste Zuteilungsmaxime darstellt, ist dem Obergericht
mithin in rechtlicher Hinsicht nichts vorzuwerfen.
In tatsächlicher Hinsicht hat das Obergericht die Bindungstoleranz an hand der diesbezüglichen Feststellungen im Gutachten und der Aussagen der Eltern – namentlich auch anhand des Standpunktes des
Vaters, die Beziehung zur Mutter sei dem freien Willen des Sohnes zu
überlassen – beurteilt. Dies wird vom Vater denn auch nicht bestritten;
vielmehr bringt er diese Haltung in der Beschwerde erneut zum Aus druck. Er zweifelt aber, ob die Verweigerungshaltung des Kindes tatsächlich auf sein väterliches Verhalten zurückgeführt werden könne,
Seite 9
131
nachdem das Kind ja nunmehr massiv gestiegene Aussenkontakte
habe (Beistand, Hort, Schule), und er wirft dem Obergericht vor, die
traumatisierenden Ereignisse rund um den Autounfall zu wenig berücksichtigt, sondern auf das Gutachten abgestellt zu haben, gemäss
welchem der Sohn einfach dem Vater gefallen wolle bzw. dessen ablehnender Haltung folge. Indes lässt sich mit solch vagen Andeu tungen keine willkürliche Sachverhaltsfeststellung aufzeigen (zu den
Begründungsanforderungen von Willkürrügen siehe E. 2), zumal ein
Kind im Alter von Y.________ naturgemäss der Erwartungshaltung
des hauptbetreuenden Elternteils entsprechen will und sich diesem
nicht entgegenstellt; wenn das Gutachten festhält, dass Y.________
seine Mutter möge, jedoch in Anwesenheit des Vaters nicht offen
darüber sprechen könne, spiegelt dies die typische Haltung eines Kin des im Alter von Y.________, welches weitgehend vom anderen
Elternteil abgeschirmt wird.
6.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Beschwerde in Zivilsachen
abzuweisen ist, soweit auf sie eingetreten werden kann. Die kantonalen Kosten sind folglich nicht neu zu verlegen, zumal es dem betref fenden Antrag auch an einer Begründung fehlt.
7.
Vor dem Hintergrund, dass vorliegend zwar erstmalig über die Zuteilung des Sorgerechts befunden wird, indes die Zuteilung an die Mu tter aufgrund der bisherigen Obhutsregelung faktisch die Umplatzie rung des Kindes bedeutet, so dass namentlich auch das Konti nuitätsprinzip ins Spiel kam, lässt sich nicht sagen, die Beschwerde
sei von Anfang an aussichtslos gewesen. Es rechtfertigt sich deshalb,
dem Beschwerdeführer, der immer noch als bedürftig gelten kann,
auch für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu erteilen, unter Verbeiständung durch den ihn vertretenden
Rechtsanwalt (Art. 64 BGG). Demzufolge sind die ausgangsgemäss
dem Beschwerdeführer aufzuerlegenden Gerichtskosten (Art. 66
Abs. 1 BGG) einstweilen auf die Gerichtskasse zu nehmen, und sein
Rechtsvertreter ist aus der Gerichtskasse zu entschädigen. Hingegen
hat der Beschwerdeführer ausgangsgemäss die Kosten für die Stellungnahme zum Gesuch um aufschiebende Wirkung zu übernehmen
(Art. 68 Abs. 2 BGG), weil von der unentgeltlichen Rechtspflege nur
die eigenen, nicht aber die Kosten der Gegenpartei erfasst werden.
Zufolge Entschädigung durch den Beschwerdeführer ist das von der
Beschwerdegegnerin ihrerseits gestellte Gesuch um unentgeltliche
Seite 10
132
Rechtspflege nur unter dem Vorbehalt der Uneinbringlichkeit der Kos ten beim Beschwerdeführer gutzuheissen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde in Zivilsachen wird abgewiesen, soweit darauf ein zutreten ist.
2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt
und er wird durch Rechtsanwalt Hans Hegetschweiler verbeiständet.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdeführer
auferlegt, jedoch einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.
4.
Rechtsanwalt Hans Hegetschweiler wird aus der Gerichtskasse mit
Fr. 1'000.-- entschädigt.
5.
Der Beschwerdeführer hat die Beschwerdegegnerin mit Fr. 300.-- zu
entschädigen.
6.
Der Beschwerdegegnerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und sie wird durch Rechtsanwältin Manuela Schiller verbei ständet. Diese wird für den Fall der Uneinbringlichkeit der Entschädigung gemäss Ziff. 5 aus der Gerichtskasse mit Fr. 300.-- entschädigt.
7.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons
Zürich, II. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 26. Juni 2012
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin:
Der Gerichtsschreiber:
Seite 11
133
Urteilskopf
131 III 553
71. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen Y.
(Berufung)
5C.63/2005 vom 1. Juni 2005
Regeste
Anhörung der Kinder (Art. 144 Abs. 2 ZGB).
Im Sinn einer Richtlinie ist die Kinderanhörung grundsätzlich ab dem
vollendeten sechsten Altersjahr möglich (E. 1).
Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 553
Aus den Erwägungen:
Erwägung 1
1. Die Klägerin beanstandet die unterbliebene Anhörung der Kinder und
macht eine Verletzung von Art. 144 Abs. 2 ZGB sowie von Art. 12 der
UNO-Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989 (KRK; SR 0.107) geltend.
1.1 Art. 144 Abs. 2 ZGB bestimmt, dass bei Anordnungen über Kinder diese
in geeigneter Weise durch das Gericht oder durch eine beauftragte
Drittperson persönlich anzuhören sind, soweit nicht ihr Alter oder andere
wichtige Gründe dagegen sprechen. Diese Norm findet auf alle gerichtlichen
Verfahren Anwendung, in denen Kinderbelange zu regeln sind. Sie gilt demnach
nicht nur im Scheidungs-, sondern auch im Eheschutzverfahren sowie
namentlich für die vorsorglichen Massnahmen im Sinn von Art. 137 ZGB (siehe
BGE 126 III 497) und im Abänderungsverfahren nach Art. 134 ZGB.
BGE 131 III 553 S. 554
Die Anhörung ist Ausfluss der Persönlichkeit des Kindes und somit ein
höchstpersönliches Recht (dazu insb. SCHÜTT, Die Anhörung des Kindes im
Scheidungsverfahren, Diss. Zürich 2002, S. 50 ff.). Sobald das Kind
urteilsfähig ist, nimmt es seinen Anspruch selbst wahr; ab diesem Stadium
erhält der Gehörsanspruch die Komponente eines persönlichen
Mitwirkungsrechts, welches das Kind insbesondere berechtigt, (auch im
Verfahren seiner Eltern) die Anhörung zu verlangen, soweit es betroffen ist
(SCHÜTT, a.a.O., S. 51 und 81 ff.; LEVANTE, Die Wahrung der Kindesinteressen
im Scheidungsverfahren - die Vertretung des Kindes im Besonderen, Diss. St.
Gallen 2000, S. 42; RUMO-JUNGO, Die Anhörung des Kindes [im Folgenden:
Anhörung], in: AJP 1999 S. 1579 und 1589; BODENMANN/RUMO-JUNGO, Die Anhörung
von Kindern, in: FamPra.ch 2003 S. 24). Daneben dient die Anhörung
unabhängig vom Alter des Kindes der (von Amtes wegen vorzunehmenden, vgl.
Art. 145 ZGB) Ermittlung des Sachverhalts (REUSSER, Die Stellung des Kindes
im neuen Scheidungsrecht, in: Vom alten zum neuen Scheidungsrecht, Bern
1999, N. 4.75; FREIBURGHAUS, Auswirkungen der Scheidungsrechtsrevision auf
die Kinderbelange und die vormundschaftlichen Organe [im Folgenden:
Auswirkungen], in: ZVW 1999 S. 141; SCHWEIGHAUSER, in: Praxiskommentar
Scheidungsrecht, Basel 2000, N. 7 zu Art. 144 ZGB; SCHÜTT, a.a.O., S. 52
f.), weshalb die Eltern die Anhörung des Kindes aufgrund ihrer
Parteistellung als Beweismittel anrufen können (SCHÜTT, a.a.O., S. 51 f. und
99; vgl. auch RUMO-JUNGO, Anhörung, S. 1579 und 1589; Bodenmann/ RUMO-JUNGO,
a.a.O., S. 24). In dieser Hinsicht geht Art. 144 ZGB über Art. 12 KRK
hinaus, der ein Meinungsäusserungsrecht in allen das Kind belangenden
134
Verfahren gewährt, soweit dieses fähig ist, sich eine eigene Meinung zu
bilden, was nach der Lehre mit der Urteilsfähigkeit im Sinn von Art. 16 ZGB
gleichzusetzen ist (BRÄM, Die Anhörung des Kindes im neuen Scheidungsrecht,
in: AJP 1999 S. 1570; vgl. auch BIRCHLER, Die Anhörung des Kindes, in: ZVW
2000 S. 239; SCHÜTT, a.a.O., S. 29 ff. und 68; vgl. schliesslich BGE 120 Ia
369 E. 1 S. 371).
Der im Rahmen des revidierten Scheidungsrechts am 1. Januar 2000 in Kraft
getretene Art. 144 Abs. 2 ZGB stellt im Sinn der vorstehenden Ausführungen
klar, dass Kinder grundsätzlich anzuhören sind, soweit nicht einer der
beiden Ausnahmetatbestände - Alter oder andere wichtige Gründe - gegeben ist
(vgl. namentlich: LEVANTE, a.a.O., S. 43; RUMO-JUNGO, Anhörung, S. 1581).
Insofern
BGE 131 III 553 S. 555
ist der vom Obergericht für seinen ablehnenden Entscheid angerufene BGE 122
III 401 obsolet; dieser Entscheid erging zum alten Scheidungsrecht, wo die
Kinderanhörung gesetzlich nicht vorgesehen war, aber Zuteilungswünsche
älterer Kinder aufgrund der bundesgerichtlichen Rechtsprechung in die
Entscheidfindung miteinzubeziehen waren.
1.2 Das Gesetz selbst legt nicht fest, bis zu welchem Alter von einer
Anhörung abzusehen sei; auch der Botschaft zum neuen Scheidungsrecht lässt
sich keine konkrete Alterslimite entnehmen.
1.2.1 Auch das Bundesgericht hat bislang kein Schwellenalter für die
Anhörung von Kindern festgelegt. In seiner bisherigen Rechtsprechung hat es
lediglich festgehalten, die Anhörung eines normal entwickelten 9½-jährigen
Kindes sei nicht willkürlich (Urteil 5P.204/2002 vom 6. August 2002, E.
3.4), während es den Verzicht auf die Anhörung von zehn- und zwölfjährigen
Kindern entgegen dem ausdrücklichen Begehren und ohne Angabe von Gründen als
willkürlich erachtet hat (Urteil 5P.112/2001 vom 27. August 2001, E. 4).
Hingegen hat das Bundesgericht entschieden, es sei nicht willkürlich, wenn
das Gericht davon absehe, ein sieben- bzw. fünfjähriges Kind, das bereits im
Rahmen einer psychologischen Begutachtung befragt worden und im Übrigen
durch die chronische Auseinandersetzung zwischen den Eltern stark belastet
war, erneut anzuhören (Urteil 5P.322/2003 vom 18. Dezember 2003, E. 3.2).
Sodann hat es den Verzicht auf die Anhörung eines knapp sechsjährigen Kindes
geschützt, weil dieses bis anhin nie Kontakt zum Vater gehabt hatte und sich
deshalb keine eigene Meinung bilden konnte (BGE 124 III 90); bei diesem Fall
gilt es im Übrigen zu beachten, dass einzig eine Verletzung von Art. 12 KRK
zu prüfen war, der im Gegensatz zu Art. 144 Abs. 2 ZGB die Urteilsfähigkeit
des Kindes voraussetzt (vgl. Ziff. 1.1).
In der gelebten kantonalen Rechtspraxis scheint ein grosser Teil der
Gerichte bis zum elften bzw. zwölften Altersjahr von einer Anhörung
abzusehen, wenn die Zuteilung der Kinder unstrittig ist und keine
Anhaltspunkte bestehen, dass durch die gewählte Lösung das Kindeswohl
gefährdet wird (vgl. BIRCHLER, a.a.O., S. 240; SCHÜTT, a.a.O., S. 71;
STAUBLI, Anhörung und Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen in allen sie
betreffenden Verfahren, insbesondere im Scheidungsverfahren, in:
Kinderrechte - Kinderschutz, Basel 2002, S. 98; SUTER, L'audition de
l'enfant en procédure matrimoniale,
BGE 131 III 553 S. 556
in: Revue jurassienne de jurisprudence [RJJ] 2002 S. 33).
In der Literatur gehen die Meinungen zur Frage, bis zu welchem Alter in
jedem Fall von einer Anhörung abzusehen sei, auseinander. Auf die deutsche
Praxis verweisend, nach der Kinder teilweise ab dem zweiten und jedenfalls
ab dem dritten Lebensjahr angehört werden, plädieren einige Autoren für eine
Anhörung ab diesem Alter (BREITSCHMID, Kind und Scheidung der Elternehe, in:
Das neue Scheidungsrecht, Zürich 1999, S. 123 f.; vgl. auch JACCOTTET
TISSOT, L'audition de l'enfant, in: FamPra.ch 2000 S. 83) oder jedenfalls ab
135
einem solchen von fünf bis sechs Jahren (BODENMANN/ RUMO-JUNGO, a.a.O., S.
26; RUMO-JUNGO, Anhörung, S. 1582; derselbe, Das Kind und die Scheidung
seiner Eltern: ausgewählte Fragen, in: Kindeswohl, Zürich 2003, S. 156;
ZIMMERMANN, Le témoignage d'enfants dans le contexte juridique: la question
de la suggestibilité, in: Revue valaisanne de jurisprudence (RVJ) 2002 S.
126; vgl. auch SUTTER/FREIBURGHAUS, Kommentar zum neuen Scheidungsrecht,
Zürich 1999, N. 35 zu Art. 144 ZGB). Der wohl überwiegende Teil der Lehre
plädiert für eine Anhörung nicht vor sechs bzw. sieben Jahren (FREIBURGHAUS,
Auswirkungen, S. 142; derselbe, Der Einfluss des Übereinkommens auf die
schweizerische Rechtsordnung, in: Die Rechte des Kindes, 2001, S. 195;
HAUSHEER, Die wesentlichen Neuerungen des neuen Scheidungsrechts, in: ZBJV
135/1997 S. 29; auf Letzteren verweisend: REUSSER, a.a.O., N. 4.79; LEVANTE,
a.a.O., S. 43 f.).
1.2.2 Das Gesetz spricht von einer "Anhörung", was semantisch eine
verbale Äusserung des Kindes voraussetzt; die blosse "Anschauung" oder
Beobachtung des Kindes wird diesem Erfordernis nicht gerecht. Folglich setzt
die Anhörung ein entsprechendes Alter des Kindes voraus und insofern ist sie
von der kinderpsychiatrischen Begutachtung abzugrenzen, bei der die
Beobachtung des Kindes eine von mehreren Erkenntnisquellen darstellen kann
und für deren Anordnung kein bestimmtes Mindestalter vorausgesetzt ist.
Auf der anderen Seite ist das Schwellenalter für die Anhörung aber auch zu
unterscheiden von der kinderpsychologischen Erkenntnis, dass formallogische
Denkoperationen erst ab ungefähr elf bis dreizehn Jahren möglich sind und
auch die sprachliche Differenzierungs- und Abstraktionsfähigkeit erst ab
ungefähr diesem
BGE 131 III 553 S. 557
Alter entwickelt ist (vgl. FELDER/NUFER, Die Anhörung des Kindes aus
kinderpsychologischer Sicht [im Folgenden: Anhörung], in: Vom alten zum
neuen Scheidungsrecht, Bern 1999, N. 4.131; dieselben, Richtlinien für die
Anhörung des Kindes aus kinderpsychologischer/kinderpsychiatrischer Sicht
gemäss Art. 12 der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes [im Folgenden:
Richtlinien], in: SJZ 95/1999 S. 318; NUFER, Die Kommunikationssituation bei
der Anhörung von Kindern, in: SJZ 95/1999 S. 317, sowie in: ZVW 1999 S.
209). Die Anhörung setzt nicht voraus, dass das Kind im Sinn von Art. 16 ZGB
urteilsfähig ist. Bei kleineren Kindern ist auch nicht nach konkreten
Zuteilungswünschen zu fragen, können sich diese doch hierüber noch gar nicht
losgelöst von zufälligen gegenwärtigen Einflussfaktoren äussern und in
diesem Sinn eine stabile Absichtserklärung abgeben (vgl. ARNTZEN, Elterliche
Sorge und Umgang mit Kindern, München 1994, S. 12 und 65; FELDER/NUFER,
Richtlinien, S. 318; dieselben, Anhörung, N. 4.131). Die Aussagen jüngerer
Kinder haben deshalb für die Zuteilungsfrage nur einen beschränkten
Beweiswert (HAUSHEER, a.a.O., S. 29; REUSSER, a.a.O., N. 4.79). Bei ihnen
geht es in erster Linie darum, dass sich das urteilende Gericht ein
persönliches Bild machen kann und über ein zusätzliches Element bei der
Sachverhaltsfeststellung und Entscheidfindung verfügt (vgl. BRÄM, a.a.O., S.
1569; SchweigHAUSER, a.a.O., N. 7 zu Art. 144 ZGB; FELDER/ NUFER, Anhörung,
N. 4.128).
1.2.3 Aus den genannten Gründen geht das Bundesgericht im Sinn einer
Richtlinie davon aus, dass die Kinderanhörung grundsätzlich ab dem
vollendeten sechsten Altersjahr möglich ist. Indes ist nicht von vornherein
ausgeschlossen, dass sich je nach den konkreten Umständen auch die Anhörung
eines etwas jüngeren Kindes aufdrängen könnte, etwa wenn von mehreren
Geschwistern das jüngste kurz vor dem genannten Schwellenalter steht.
1.2.4 Vorliegend hatte die Klägerin die Einvernahme der sieben- und
neunjährigen Mädchen beantragt. Weil die Anhörung als Pflichtrecht
ausgestaltet ist (vgl. RUMO-JUNGO, Anhörung, S. 1579), wäre das Obergericht
folglich - unter Vorbehalt anderer wichtiger Gründe (dazu Ziff. 1.3) - in
Anwendung von Art. 144 Abs. 2 ZGB zur Anhörung der beiden Kinder
verpflichtet gewesen. Mit seiner Begründung, die Kinder seien zu einer
Stellungnahme noch gar nicht in der Lage und ihren Aussagen könnte ohnehin
kein bedeutendes Gewicht beigemessen werden, verkennt das Obergericht
136
BGE 131 III 553 S. 558
die grundsätzliche Bedeutung und den persönlichkeitsrechtlichen Aspekt der
Kinderanhörung. Nichts anderes ergibt sich aus dem vom Obergericht
aufgeführten BGE 127 III 295, wurde doch in jenem Fall von der (erneuten)
Einvernahme eines neunjährigen Kindes, das seinen Vater kaum je gesehen
hatte, im Wesentlichen deshalb abgesehen, weil es bereits im Rahmen eines
umfassenden Gutachtens durch einen Kinderpsychiater befragt worden war.
1.3 Nebst dem Kindesalter kann auch aus anderen wichtigen Gründen, die
das Gesetz wiederum nicht näher spezifiziert, von der Anhörung abgesehen
werden.
1.3.1 Die Botschaft nennt beispielhaft die Ablehnung der Anhörung durch
das Kind als wichtigen Grund (BBl 1996 I 144), wobei sicherzustellen wäre,
dass das Kind dabei nicht durch einen Elternteil beeinflusst ist. Die
Literatur nennt als weitere wichtige Gründe den begründeten Verdacht auf
Repressalien gegenüber dem Kind, dessen dauernder Aufenthalt im Ausland, die
Beeinträchtigung von dessen Gesundheit durch die Anhörung sowie die
besondere Dringlichkeit der Anordnungen (vgl. namentlich: REUSSER, a.a.O.,
N. 4.85; ZIMMERMANN, a.a.O., S. 126; BALTZER-BADER, Die Anhörung des Kindes
- praktisches Vorgehen, in: AJP 1999 S. 1576). Schliesslich würde es keinen
Sinn machen, ein Kind anzuhören, das geistig behindert oder in seiner
Entwicklung in einer Weise retardiert ist, dass seinen Ausführungen kein
Aussagewert beigemessen werden könnte. Hingegen würde es nicht angehen, auf
die Anhörung mit dem (nicht weiter belegten) Vorwand zu verzichten, man
wolle dem Kind die Belastung ersparen (BRÄM, a.a.O., S. 1571; RUMO-JUNGO,
Anhörung, S. 1582).
1.3.2 Das Obergericht hat bei seinem ablehnenden Entscheid unter anderem
auf die Briefchen der Kinder - nach dem einen möchten sie gerne bei der
Mutter wohnen, nach dem andern freuen sie sich, beim Vater zu leben - und
die Zeugenaussage der Leiterin des Kinderhorts verwiesen, wonach der
betreffende Entscheid für die Mädchen ein Problem sei, weil sie keinem der
Elternteile wehtun möchten. Das Gericht hat daraus gefolgert, dass die
Kinder in einem Loyalitätskonflikt stünden und die Anhörung für sie eine
Belastung darstellen würde.
1.3.3 Im Normalfall sind Kinder beiden Elternteilen gleichermassen
zugeneigt und sie wünschen sich in Trennungssituationen deren
BGE 131 III 553 S. 559
Wiedervereinigung (ARNTZEN, a.a.O., S. 1 f.). Deshalb steht fast jedes
Scheidungskind in einem latenten oder offenen Loyalitätskonflikt, der sich
mehr oder weniger belastend auswirkt. Insofern könnte die Kinderanhörung mit
dem blossen Verweis auf die - letztlich bei jedem familienrechtlichen
Verfahren auf die eine oder andere Weise bestehende - Belastungssituation
systematisch unterlaufen werden. Nicht zu übersehen ist in diesem
Zusammenhang schliesslich die Tatsache, dass in aller Regel nicht die
(einmalige) Anhörung, sondern die (gegebenenfalls chronisch
konfliktbeladene) Familiensituation die eigentliche Belastung für das Kind
darstellt. Deshalb darf von einer beantragten Anhörung nur dann abgesehen
werden, wenn - nebst anderen möglichen Gründen (dazu Ziff. 1.3.1) - eine
eigentliche Beeinträchtigung der physischen oder psychischen Gesundheit des
Kindes zu befürchten ist. Aus dem für das Bundesgericht verbindlich
festgestellten Sachverhalt (Art. 63 Abs. 2 OG) gehen keine Anzeichen für
eine Belastung hervor, die über das hinausginge, was jedem Verfahren, in
welchem Kinderbelange zu regeln sind, inhärent ist.
1.4 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass das Obergericht mit der
Verweigerung der von der Klägerin beantragten Kindesanhörung Art. 144 Abs. 2
ZGB verletzt hat.
137
Familienrecht – 133 III 553
553
II. FAMILIENRECHT
DROIT DE LA FAMILLE
DIRITTO DI FAMIGLIA
71. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen
Abteilung i.S. X. gegen Y. (Berufung)
5C.316/2006 vom 5. Juli 2007
Kindesanhörung (Art. 144 Abs. 2 ZGB).
Werden Kinder durch eine beauftragte Drittperson angehört, muss diese unabhängig und qualifiziert sein. Wo dies für das Kind eine unzumutbare Belastung bedeuten würde, ist von einer erneuten Anhörung durch den Richter abzusehen (E. 4).
Audition de l'enfant (art. 144 al. 2 CC).
Lorsque l'enfant est entendu par un tiers nommé à cet effet, celui-ci doit être
indépendant et qualifié. Il y a lieu de renoncer à une nouvelle audition par
le juge si cela représente une épreuve insupportable pour l'enfant (consid. 4).
Audizione del figlio (art. 144 cpv. 2 CC).
Se i figli vengono sentiti da una terza persona incaricata, questa dev'essere
indipendente e qualificata. Si deve prescindere da una nuova audizione
da parte del giudice nei casi in cui questa comportasse una sofferenza che
non può essere imposta al figlio (consid. 4).
A. X. und Y. heirateten im Jahr 2000. Sie haben die gemeinsamen
Kinder A., geb. 1987, und B., geb. 1998.
B. Der erstinstanzliche Scheidungsrichter teilte die elterliche Sorge
über B. der Mutter zu, unter Gewährung eines Besuchsrechts für den
Vater von einem Samstag und einem Wochenende pro Monat im
ersten halben Jahr und anschliessend von zwei Wochenenden pro
Monat sowie eines Ferienrechts von zwei Wochen pro Jahr.
Beide Parteien wandten sich gegen die Regelung des persönlichen
Verkehrs mit der Tochter. Der Vater forderte ein Ferienrecht von drei
Wochen, während die Mutter eine Beschränkung des Besuchsrechts
auf zwei Tage pro Monat verlangte. Das Obergericht des Kantons
Aargau wies beide Appellationen ab.
138
554
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
C. Dagegen hat die Mutter Berufung erhoben mit den Begehren
um diesbezügliche Aufhebung, um Rückweisung der Sache an die
Vorinstanz zur Abnahme weiterer Beweise betreffend das Besuchsrecht, insbesondere zur Anhörung von B. In seiner Berufungsantwort hat der Vater ausdrücklich auf die Stellung eines Antrages verzichtet.
Das Bundesgericht heisst die Berufung gut.
Aus den Erwägungen:
3. Sind Anordnungen über Kinder zu treffen, werden diese durch
das Gericht oder eine beauftragte Drittperson persönlich angehört,
soweit nicht ihr Alter oder andere wichtige Gründe dagegen sprechen (Art. 144 Abs. 2 ZGB). Was den Ausschlussgrund des (mangelnden) Alters des Kindes anbelangt, hat das Bundesgericht die
Schwelle im Sinn einer Richtlinie auf den Zeitpunkt des vollendeten sechsten Altersjahres festgelegt (BGE 131 III 553 E. 1.2.3).
Beim erstinstanzlichen Urteil war B. sieben und beim obergerichtlichen Urteil sogar acht Jahre alt. Dass somit der Ausschlussgrund des
Kindesalters nicht gegeben war und dem in zweiter Instanz ausdrücklich gestellten Antrag auf Anhörung grundsätzlich hätte stattgegeben werden müssen (BGE 131 III 553 E. 1.2.4), hat implizit auch das
Obergericht anerkannt. Es hat jedoch befunden, auf eine eigene Anhörung verzichten zu können, wenn eine solche bereits im Rahmen
einer Begutachtung stattgefunden habe und keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten seien.
4. Die Anhörung des Kindes durch den Richter selbst und diejenige durch eine beauftragte Drittperson stehen nach dem Wortlaut von
Art. 144 Abs. 2 ZGB auf der gleichen Stufe. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung soll zwar der Richter die Anhörung in der
Regel selbst vornehmen und sie jedenfalls nicht systematisch an Dritte delegieren; ebenso wenig sollen aber die vom Gesetz gewährten
Spielräume unnötig beschränkt werden: Während der Anhörung
durch den urteilenden Richter der Vorzug der Unmittelbarkeit innewohnt, wird dieser oft weniger an spezifischer Ausbildung und Erfahrung aufweisen als eine Fachperson (BGE 127 III 295 E. 2a und
2b). So oder anders ist eine Anhörung um der Anhörung willen zu
vermeiden. Insbesondere ist von wiederholten Anhörungen abzusehen, wo dies für das Kind eine unzumutbare Belastung bedeuten würde, was namentlich bei akuten Loyalitätskonflikten der Fall sein
139
Familienrecht – 133 III 553
555
kann, und überdies keine neuen Erkenntnisse zu erwarten wären
oder der erhoffte Nutzen in keinem vernünftigen Verhältnis zu der
durch die erneute Befragung verursachten Belastung stünde (Urteile
5P.322/2003 vom 18. Dezember 2003, E. 3.2, publ. in: FamPra.ch
2004 S. 711; 5C.247/2004 vom 10. Februar 2005, E. 6.3.2). Diesfalls
hat der Richter bei seinem Entscheid auf die Ergebnisse der Anhörung durch die Drittperson abzustellen. Dabei kann es sich auch um
ein Gutachten handeln, das in einem anderen Verfahren in Auftrag
gegeben worden ist. Ausschlaggebend muss sein, dass es sich beim
Dritten um eine unabhängige und qualifizierte Fachperson handelt,
dass das Kind zu den entscheidrelevanten Punkten befragt worden
ist und dass die Anhörung bzw. deren Ergebnis aktuell ist.
5. Im vorliegenden Fall hat das Obergericht auf einen Therapiebericht von K., Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychologie
FSP, vom 15. Juni 2004 sowie auf ein Schreiben des damaligen Erziehungsbeistandes L., Amtsvormund des Bezirks T., vom 25. Mai
2005 verwiesen.
Ersterer berichtet über die therapeutische Begleitung von B. im Zusammenhang mit dem seinerzeitigen Verdacht auf sexuelle Ausbeutung. Im Bericht wird ausdrücklich festgehalten, dass eine Befragung
oder eine Begutachtung aus dem therapeutischen Auftrag ausgeschlossen worden sei. Es werden denn auch keine Gespräche zwischen Therapeutin und Kind wiedergegeben. Im Übrigen stammt der
Bericht aus der Zeit der Klageanhebung und kann bei der über zwei
Jahre später erfolgten obergerichtlichen Beurteilung nicht mehr als
aktuell gelten, zumal sich die Verhältnisse gerade bei kleineren Kindern schnell ändern können.
Das Schreiben des Amtsvormundes ist an die Parteien gerichtet. Es
steht zwar insofern in losem Zusammenhang mit der vorliegend interessierenden Besuchsrechtsfrage, als sich B. diesem gegenüber positiv über bisherige Besuche beim Vater geäussert hat. Abgesehen
davon, dass eine "Anhörung" durch den Erziehungsbeistand im Rahmen der Besuchsrechtsausübung ungenügend wäre (Urteil 5P.276/
2005 vom 28. September 2005, E. 3.2), hat das Schreiben aber gar
keine Anhörung zum Gegenstand und wäre es im Übrigen auch zu
oberflächlich.
140
529
I. FAMILIENRECHT
DROIT DE LA FAMILLE
DIRITTO DI FAMIGLIA
77. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung
i.S. X. gegen Y. (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_674/2011 vom 31. Oktober 2011
Art. 11 Abs. 2 HKÜ; Art. 8 Abs. 1 BG-KKE; Kindesrückführung; Beschleunigungsgebot.
Organisation des Verfahrens vor dem Hintergrund der sechswöchigen Frist,
namentlich mit Blick auf die Vermittlungsverhandlung bzw. Mediation
(E. 2.2).
Art. 11 al. 2 CLaH 80; art. 8 al. 1 LF-EEA; retour de l'enfant; principe de
célérité.
Organisation de la procédure sous l'angle du respect du délai de six se maines, eu égard notamment à l'obligation de procéder à la conciliation,
respectivement à la médiation (consid. 2.2).
Art. 11 cpv. 2 CArap; art. 8 cpv. 1 LF-RMA; ritorno del minore; principio
di celerità.
Organizzazione della procedura sotto il profilo del rispetto del termine di sei
settimane, segnatamente con riferimento alla procedura di conciliazione
rispettivamente alla mediazione (consid. 2.2).
A. Y. und X. sind die Eltern der 2000 geborenen Z. Die ersten Lebensjahre verbrachte das Kind mit seinen Eltern in der Schweiz.
Die Ehe der Parteien wurde am 16. November 2006 in Sofia geschieden, wobei das Sorgerecht der Mutter übertragen wurde. Die
Tochter lebte im Anschluss zusammen mit ihrer Mutter in Bulgarien.
Der Vater blieb weiterhin in der Schweiz. Wie in den vergangenen
Jahren hatten die Eltern auch für die Sommerferien 2010 verein34
AS 137 III - 2011
141
530
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
bart, dass Z. diese bei ihrem Vater in Bern verbringen und Anfang
August 2010 wieder nach Bulgarien zurückkehren würde. Indes behielt der Vater sie bei sich in Bern zurück.
B. Am 9. November 2010 stellte die Mutter (Y.) beim Obergericht
des Kantons Bern einen Antrag auf Rückführung von Z. nach Bulgarien.
Mit Entscheid vom 20. September 2011 ordnete das Obergericht
die Rückführung von Z. an und regelte die betreffenden Modalitäten.
C. Gegen diesen Entscheid hat X. am 29. September 2011 Beschwerde in Zivilsachen erhoben, welche das Bundesgericht abweist, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung)
Aus den Erwägungen:
2.
2.2 (...)
Im Zusammenhang mit der vom Vater erwähnten 6-Wochen-Frist
gemäss Art. 11 Abs. 2 des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindsentführung (HKÜ; SR 0.211.230.02) wird allerdings deutlich, dass
dem von ihm angerufenen Beschleunigungsgebot bei Kindesrückführungen eine besondere Bedeutung zukommt. Zwar zeigt sich in
der Praxis, dass die 6-Wochen-Frist im erstinstanzlichen Verfahren
oft schwer einzuhalten ist, namentlich vor dem Hintergrund der Gehörsgewährung, und gemäss Konventionswortlaut kommt ihr denn
auch explizit nur Richtliniencharakter zu. Indes ergibt sich aus dieser sowie aus den weiteren auf ein rasches Handeln zielenden Normen (Art. 1 lit a HKÜ: sofortige Rückgabe; Art. 2 HKÜ: schnellstmögliche Verfahren; Art. 11 Abs. 1 HKÜ: gebotene Eile), dass die
notwendigen Instruktionsmassnahmen mit Vorteil in einer umgehend erlassenen Instruktionsverfügung zu kondensieren sind (nach
Möglichkeit bereits verbunden mit der Ansetzung einer Vermittlungsverhandlung oder einer Schlussverhandlung für den Fall des
Scheiterns einer Mediation, soweit eine solche Verhandlung angebracht erscheint) und insbesondere eine gestützt auf Art. 8 Abs. 1
des Bundesgesetzes vom 21. Dezember 2007 über internationale
Kindesentführung und die Haager Übereinkommen zum Schutz von
Kindern und Erwachsenen (BG-KKE; SR 211.222.32) gegebenenfalls angeordnete Mediation nicht quasi ausserhalb der vom HKÜ
142
531
vorgegebenen Richtlinienfrist stattfinden kann, ist sie doch Teil des
erstinstanzlichen Rückführungsverfahrens. Auch bei Anordnung einer solchen ist mithin auf äusserste Speditivität zu achten und das
Verfahren strikt in richterlicher Hand zu behalten. Eine allfällige
Mediation ist deshalb in strukturierter Weise und, wie sich bereits
aus der Botschaft zum BG-KKE ergibt (BBl 2007 2625 Ziff. 6.7),
geknüpft an richterlich vorgegebene Fristen anzuordnen (beispielsweise drei Sitzungen innerhalb einer Woche oder Sitzungen an
zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden und begründete Benachrichtigung des Rückführungsgerichtes bzw. begründetes Ersuchen
um Fristverlängerung, falls noch kein Resultat erzielt worden, aber
ein solches in absehbarer Zeit zu erwarten ist und die Mediation deshalb weitergeführt werden sollte). Ferner ist zu beachten, dass sich
der Zweck einer Mediation darauf beschränkt, die freiwillige Rückführung des Kindes zu erreichen oder eine gütliche Regelung der
Angelegenheit herbeizuführen (Art. 8 Abs. 1 BG-KKE), sie aber insbesondere nicht der Abklärung von irgendwelchen Sachverhaltselementen dient. (...)
143
353
I. FAMILIENRECHT
DROIT DE LA FAMILLE
DIRITTO DI FAMIGLIA
53. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S.
A.X. gegen B.X. (subsidiäre Verfassungsbeschwerde)
5D_171/2009 vom 1. Juni 2010
Wegzug ins Ausland; Entscheidungskompetenzen des alleinigen Obhutsinhabers.
Inhalt des elterlichen Sorgerechts (E. 3.1). Inhalt des Obhutsrechts. Dieses
umfasst insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht, weshalb in der
Regel der alleinige Inhaber mit dem Kind ohne Zustimmung des anderen Elternteils ins Ausland ziehen darf. Der neuen Situation ist mit einer
darauf zugeschnittenen Regelung des Besuchsrechts Rechnung zu tragen
(E. 3.2). Bei ernsthafter Gefährdung des Kindeswohls kann die Vormundschaftsbehörde den Wegzug untersagen (E. 3.3). Der alleinige Obhutsinhaber macht sich durch den Wegzug nicht strafbar (E. 3.4). Der nicht
obhutsberechtigte Elternteil kann kein Rückführungsbegehren gemäss
HKÜ stellen (E. 3.5).
Départ pour l'étranger; pouvoir de décision du titulaire unique du droit de
garde.
Composantes de l'autorité parentale (consid. 3.1). Composantes du droit de
garde. Il comprend en particulier la faculté de déterminer le lieu de résidence de l'enfant, de sorte que son titulaire unique peut en règle générale déménager à l'étranger sans l'accord de l'autre parent. Le droit de
visite doit être adapté en conséquence (consid. 3.2). En cas de menaces
sérieuses pour le bien de l'enfant, l'autorité tutélaire peut interdire le départ pour l'étranger (consid. 3.3). Le titulaire unique du droit de garde
ne se rend coupable d'aucune infraction en s'installant à l'étranger (consid. 3.4). Le parent qui n'est pas titulaire du droit de garde n'a pas qualité pour former une demande de retour au sens de la CLaH 80 (consid. 3.5).
Partenza per l'estero; potere decisionale dell'unico detentore della custodia.
Contenuto dell'autorità parentale (consid. 3.1). Contenuto del diritto di custodia. Questo include segnatamente il diritto di determinare il luogo di
23
AS 136 III - 2010
144
354
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
residenza, motivo per cui il suo unico detentore può di regola trasferirsi
all'estero con il figlio senza il consenso dell'altro genitore. Occorre tenere conto della nuova situazione con un adeguamento del diritto di visita
(consid. 3.2). In caso di una seria minaccia del bene del figlio l'autorità
tutoria può vietare il trasferimento (consid. 3.3). L'unico detentore del
diritto di custodia non si rende punibile con il trasferimento (consid. 3.4).
Il genitore che non è detentore del diritto di custodia non può presentare
un'istanza che chiede il ritorno secondo la CArap (consid. 3.5).
A. Mit Eheschutzurteil vom November 2008 genehmigte das Bezirksgericht Bremgarten die zwischen den Parteien abgeschlossene
Trennungsvereinbarung, wonach die beiden Kinder (Jahrgänge 2003
und 2006) unter die Obhut der Mutter zu stellen sind. Ferner wurden in der Vereinbarung das Besuchsrecht und die Unterhaltspflicht
geregelt.
B. Mit Abänderungsklage vom Februar 2009 verlangte die Ehefrau,
die Kinder seien unter ihre alleinige elterliche Sorge zu stellen und
es sei ihr zu erlauben, für sich und die beiden Söhne den Wohnsitz
nach Tschechien zu verlegen, für den Konfliktfall sei dem Ehemann
ein (in Tschechien auszuübendes) Besuchsrecht an jedem zweiten
Wochenende sowie ein Ferienrecht von drei Wochen zu gewähren.
Der Ehemann beantragte Abweisung; eventualiter seien die beiden
Söhne unter seine Obhut zu stellen.
Mit Urteil vom Mai 2009 stellte das Bezirksgericht Bremgarten die
beiden Kinder unter die alleinige Obhut und elterliche Sorge der
Mutter und erklärte den Vater für berechtigt, die Kinder jedes zweite
Wochenende zu besuchen und jährlich mit ihnen drei Wochen Ferien zu verbringen.
In zweiter Instanz verlangte der Ehemann die Abweisung der Abänderungsklage. Eventualiter sei ihm die elterliche Sorge über die
beiden Kinder zu belassen und für den Fall des Wegzuges der Ehefrau nach Tschechien seien die Kinder unter seine Obhut zu stellen.
Subeventualiter verlangte er die Berechtigung, bei einem Wegzug
nach Tschechien die Kinder jedes zweite Wochenende von Donnerstag- bis Sonntagabend (alternierend an den Wohnorten der Eltern)
und während vier Wochen pro Jahr sowie an bestimmten Feiertagen
zu sich zu nehmen.
Das Obergericht des Kantons Aargau hiess die Beschwerde dahingehend gut, dass es die Kinder unter die Obhut der Mutter und (erst)
ab dem Wegzug nach Tschechien unter ihre alleinige elterliche
Sorge stellte. Bezüglich des Besuchsrechts legte es mit Blick auf den
145
Familienrecht – 136 III 353
355
Wegzug nach Tschechien fest, dass der Vater berechtigt sei, die
Kinder alle 14 Tage von Freitag- bis Sonntagabend zu besuchen,
jährlich mit ihnen drei Wochen Ferien zu verbringen und sie alternierend über Ostern und Pfingsten sowie Weihnachten und Neujahr
auf Besuch zu nehmen.
C. Vor Bundesgericht verlangt der Ehemann, dass ihm die elterliche Sorge über die beiden Kinder zu belassen sei, dass die Frage der
Obhutszuteilung zur Ergänzung des Sachverhalts und neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen sei, dass ihm ein Ferienrecht von vier Wochen zu erteilen sei und dass das Wochenendbesuchsrecht alternierend an den Wohnorten der Eltern stattzufinden
habe. Die Ehefrau verlangt die Abweisung der Beschwerde, soweit
darauf einzutreten sei.
(Zusammenfassung)
Aus den Erwägungen:
3. Das Obergericht hat befunden, das der Mutter über die beiden
Söhne zustehende Obhutsrecht sei für einen so weitreichenden
Schritt wie den Wegzug ins Ausland nicht ausreichend. Weil sich
der Vater hiergegen zur Wehr setze, müsse ihm ab dem Zeitpunkt
des Wegzuges vollumfänglich die elterliche Sorge entzogen werden. Dies sei auch deshalb erforderlich, weil sich die Mutter sonst
nach Art. 220 StGB strafbar machen würde und der Vater ein Rückführungsgesuch nach dem Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen (HKÜ; SR 0.211.230.02) stellen könnte.
Der Vater hält diesen Rechtsstandpunkt wie insbesondere auch dessen Begründung für willkürlich bzw. in willkürlicher Weise gegen
Art. 297 Abs. 2 ZGB verstossend. Die Mutter dürfe bereits gestützt
auf das ihr zustehende Obhutsrecht wegziehen, weshalb sie sich damit auch nicht strafbar mache und ihm ein Rückführungsbegehren
verwehrt sei. Mithin wäre der Entzug der elterlichen Sorge nur möglich, wenn die Parteien nicht mehr zusammenwirken könnten, wofür keine Anhaltspunkte bestünden. Als solcher komme insbesondere nicht in Betracht, dass er mit dem Wegzug nach Tschechien
nicht einverstanden sei; soweit sich dieser als zulässig erweisen sollte und nicht wie beantragt die Obhut auf ihn übertragen werde, würde er selbstverständlich den betreffenden Gerichtsentscheid und damit den Wegzug akzeptieren.
146
356
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
Nach dem Gesagten ist zunächst der Inhalt der elterlichen Sorge
(dazu E. 3.1) und des Obhutsrechts (dazu E. 3.2) zu erörtern, ferner
auch die Frage des Kindeswohls bei einem Wegzug (dazu E. 3.3).
Zu prüfen sind sodann die strafrechtlichen Aspekte (dazu E. 3.4)
und bei Wegzug ins Ausland die Vereinbarkeit mit dem HKÜ (dazu E. 3.5).
3.1 Die elterliche Sorge ist nach heute überwiegender Ansicht ein
Pflichtrecht, das die Gesamtheit der elterlichen Verantwortlichkeit
und Befugnisse gegenüber dem Kind umfasst, insbesondere mit Bezug auf die Erziehung, die gesetzliche Vertretung und die Vermögensverwaltung (statt vieler: HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts,
5. Aufl. 1999, Rz. 25.02). Während der Ehe üben die Eltern die elterliche Sorge gemeinsam aus (Art. 297 Abs. 1 ZGB). Wird der gemeinsame Haushalt aufgehoben oder die Ehe getrennt, so kann das Gericht die elterliche Sorge einem Ehegatten allein zuteilen (Art. 297
Abs. 2 ZGB). In der Regel wird im Rahmen des Eheschutzverfahrens oder von vorsorglichen Massnahmen während des Scheidungsverfahrens jedoch nur das Obhutsrecht übertragen (Urteile 5A_752/
2009 vom 11. Februar 2010 E. 2.1 und 5A_183/2010 vom 19. April
2010 E. 3.3.1; je mit Hinweisen). Bereits in der Botschaft zum revidierten Scheidungsrecht wurde es als wünschbar bezeichnet, sich
auf diesen geringeren Eingriff in die Eltern-Kind-Beziehung zu beschränken, sofern das Kindeswohl nicht etwas anderes erfordere
(Botschaft vom 11. Juli 1979 über die Änderung des ZGB [...], BBl
1979 II 1278 Ziff. 219.223.2).
3.2 Das Obhutsrecht ist ein Teil der elterlichen Sorge. Sein Kern
ist die Befugnis, den Aufenthaltsort des Kindes sowie die Art und
Weise seiner Unterbringung zu bestimmen (BGE 128 III 9 E. 4a);
was den unselbständigen Wohnsitz des Kindes anbelangt, bestimmt
Art. 25 Abs. 2 ZGB, dass dieses bei getrennten Eltern den Wohnsitz des Elternteils hat, unter dessen Obhut es steht. Des Weiteren
ist der Träger des Obhutsrechtes verantwortlich für die tägliche
Betreuung, Pflege und Erziehung des Kindes; teilweise wird dabei
auch von faktischer Obhut (garde de fait) gesprochen (vgl. etwa
STETTLER, Das Kindesrecht, SPR Bd. III/2, 1992, S. 233; BRÄM, in:
Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 1998, N. 81B zu Art. 176 ZGB). In der
Rechtsprechung wird allgemein nicht zwischen Obhutsrecht und
faktischer Obhut unterschieden, sondern generell von Obhut gesprochen, mit welcher das gesamte Rechtsbündel (Aufenthaltsbestimmung, tägliche Betreuung, Pflege und Erziehung) gemeint ist.
147
Familienrecht – 136 III 353
357
Wird die Obhut auf einen Elternteil übertragen, verbleibt dem Inhaber der elterlichen "Restsorge" im Wesentlichen (zum Besuchsrecht
vgl. E. 3.4) ein Mitentscheidungsrecht bei zentralen Fragen der Lebensplanung des Kindes. Dabei ist zu denken – stets im Sinn von
Grundsatzentscheidungen – an die Namensgebung (vgl. Art. 301
Abs. 4 ZGB), an die allgemeine und berufliche Ausbildung (vgl.
Art. 302 ZGB), an die Wahl der religiösen Erziehung (vgl. Art. 303
ZGB), an medizinische Eingriffe und andere einschneidende bzw.
das Leben des Kindes prägende Weichenstellungen wie beispielsweise die Ausübung von Hochleistungssport.
Was die Ausbildung des Kindes anbelangt, ist die Einschulung am
neuen Ort als solche durch das Aufenthaltsbestimmungsrecht als wesentlichster Teilgehalt des Obhutsrechts abgedeckt, ergibt sich doch
die Tatsache eines Schulwechsels direkt und zwangsläufig aus der
Verlegung des Wohnortes und der betreffenden örtlichen Schulpflicht. Dies gilt jedenfalls, soweit die Schulsituation vergleichbar
ist; einzig bei Entscheidungen, die über den eigentlichen Ortswechsel hinausgehen wie etwa bei einem Wechsel von der öffentlichen
Schule zu Privatunterricht, in ein Internat, zu einer streng religiösen
Schule und dergleichen mehr, wäre das Sorgerecht des anderen Elternteils betroffen.
Der Wegzug in ein anderes Land, aber auch ein solcher innerhalb
der Schweiz kann schliesslich dazu führen, dass bei eingeschulten
Kindern die (Haupt-)Unterrichtssprache wechselt. Obwohl dies indirekt durchaus auch eine Weichenstellung für das spätere Leben
des Kindes sein kann, hat der Mitinhaber der elterlichen Sorge dies
insoweit hinzunehmen, als die Einschulung am neuen Ort eine unmittelbare Folge des Aufenthaltsbestimmungsrechts des obhutsberechtigten Elternteils ist und die Unterrichtssprache am neuen Ort
der Disposition der Eltern in der Regel entzogen ist. Der Inhaber der
elterlichen "Restsorge" hat ein Mitbestimmungsrecht insoweit, als
Fragen der Sprachwahl elternseitig beeinflussbar sind (etwa bei einer zweisprachigen Schule an der Sprachgrenze, bei der Wahl eines
Internates mit einer bestimmten Unterrichtssprache, bei der Fremdsprachenwahl in der Schule, aber insbesondere auch bei der Sprachregelung im häuslichen Umfeld).
3.3 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der Inhaber der alleinigen
Obhut – unter Vorbehalt des Rechtsmissbrauches (z.B. Wegzug ohne plausible Gründe bzw. ausschliesslich zur Vereitelung von Kon-
148
358
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
takten zwischen Kind und anderem Elternteil) – mit den Kindern
wegziehen darf, namentlich auch ins Ausland, ohne dass es hierfür
einer gerichtlichen Bewilligung bedürfte. Die Ausübung der elterlichen Sorge wie auch des Obhutsrechtes als dessen Teilgehalt muss
jedoch stets auf das Wohl des Kindes gerichtet sein (vgl. Art. 301
Abs. 1 ZGB). Ist dessen Wohl gefährdet und sorgen die Eltern nicht
von sich aus für Abhilfe oder sind sie dazu ausserstande, so trifft
die Vormundschaftsbehörde – bzw. der Eheschutz- oder Massnahmerichter (vgl. Art. 315a Abs. 1 ZGB) – die geeigneten Massnahmen zum Schutz des Kindes (Art. 307 Abs. 1 ZGB). Dazu gehören
als mildeste Massnahme in der Stufenfolge der Kindesschutzmassnahmen insbesondere Weisungen nach Art. 307 Abs. 3 ZGB, die
sämtliche Bereiche elterlichen Handelns erfassen können und die
Maximen der Subsidiarität, Komplementarität und Proportionalität
erfüllen müssen. Weil für Kinderbelange die Offizialmaxime gilt,
kann die Vormundschaftsbehörde oder das mit den Kinderbelangen befasste Gericht von Amtes wegen Massnahmen im Sinn von
Art. 307 ff. ZGB treffen; in der Regel geschieht dies aber auf Antrag eines Elternteils.
Was nun den Wegzug anbelangt, kann dem obhutsberechtigten
Ehegatten mit einer auf Art. 307 Abs. 3 ZGB gestützten Weisung
untersagt werden, das Kind ausser Landes zu bringen, soweit dessen Wohl dadurch ernsthaft gefährdet würde. Dabei ist zunächst
klarzustellen, dass anfängliche Integrations- und/oder sprachliche
Schwierigkeiten in aller Regel keine ernsthafte Gefährdung des Kindeswohls begründen. Diese sind in mehr oder weniger grossem Umfang einem jeden Wechsel des Wohnortes inhärent, und zwar nicht
nur bei einem Wegzug ins Ausland, sondern auch bei einem Wechsel in einen anderen Landesteil, und sie würden in weitgehend gleicher Weise auch dann auftreten, wenn nicht nur der Obhutsberechtigte, sondern einvernehmlich die ganze Familie wegzöge. Vor diesem
Hintergrund wird eine ernsthafte Gefährdung des Kindeswohls bei
kleineren Kindern nur ganz selten gegeben sein, aber auch bei etwas
älteren Kindern ist insbesondere der blosse Tatbestand der Einschulung am neuen Ort für sich genommen kein Hinderungsgrund, würde dies doch letztlich bedeuten, dass Familien mit eingeschulten
Kindern nicht mehr ihren Wohnort verändern dürften bzw. diesfalls
die Vormundschaftsbehörde jeweils von Amtes wegen intervenieren
müsste; eine Wohnsitzfixierung bei eingeschulten Kindern widerspräche indes der sozialen Wirklichkeit.
149
Familienrecht – 136 III 353
359
Sinngemäss gilt das Gesagte auch für das Besuchsrecht. Wohl trifft
es zu, dass die Besuchsrechtsausübung bei grösserer Distanz zunehmend erschwert wird, zwar nicht rechtlich, wohl aber faktisch.
Dies ist indes für sich allein kein Grund, dem getrennten und allein
obhutsberechtigten Ehegatten den Wegzug ins Ausland zu verbieten, jedenfalls wenn mit dem anderen Elternteil weiterhin ein persönlicher Verkehr möglich bleibt und der Wegzug auf sachlichen
Gründen beruht; es würde nicht angehen, demjenigen Elternteil, der
die ganzen Erziehungslasten trägt, selbst für den Normalfall eine
faktische Residenzpflicht in der Nähe des bloss besuchsberechtigten Elternteils aufzuerlegen und ihm damit gegebenenfalls auch einen Umzug innerhalb der Schweiz zu verwehren (in diesem Sinn bereits BGE 101 II 200). Vielmehr ist der grösseren Distanz mit einer
angepassten Regelung des persönlichen Umgangs Rechnung zu tragen, indem etwa weniger, aber (soweit möglich, namentlich bei eingeschulten Kindern) längere Wochenenden oder als Kompensation
für die selteneren Besuchswochenenden ein ausgedehntes Ferienrecht gewährt wird (vgl. BGE 95 II 385 E. 3 S. 388).
Eine auf Art. 307 ZGB gestützte Weisung, mit welcher dem allein
obhutsberechtigten Ehegatten untersagt wird, mit dem Kind ins Ausland oder in einen anderen Landesteil zu ziehen, ist demnach nur
gerechtfertigt, wenn das Wohl des Kindes dadurch gefährdet wäre.
Zu denken ist etwa an den Fall, dass das Kind an einer Krankheit leidet und ihm im geplanten Zuzugsstaat die nötige medizinische Versorgung nicht gewährt werden kann, dass es in der Schweiz fest verwurzelt ist und zum Zuzugsstaat kaum eine Beziehung hat oder
dass es relativ nahe an der Mündigkeit steht und bei deren Erreichen
voraussichtlich wieder in die Schweiz zurückkehren würde. Insbesondere bei älteren Kindern wird sodann deren Meinungsäusserung
im Rahmen der Anhörung eine gewichtige Rolle spielen. Im Übrigen ist nicht zu verkennen, dass bei der erwähnten Gefährdung des
Kindeswohls ohnehin häufig eher eine Obhutszuteilung an den anderen Elternteil im Vordergrund steht und sich damit die Frage einer Weisung gemäss Art. 307 ZGB gar nicht erst stellt.
3.4 Gemäss Art. 220 StGB wird auf Antrag mit Gefängnis oder mit
Busse bestraft, wer eine unmündige Person dem Inhaber der elterlichen oder der vormundschaftlichen Gewalt entzieht oder sich weigert, sie ihm zurückzugeben.
In einer mit BGE 91 IV 136 eingeleiteten Praxisänderung hat das
Bundesgericht befunden, dass auch der Inhaber der elterlichen Sor-
150
360
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
ge als Täter in Frage kommen könne. Dieser und die sich anschliessenden Entscheide betrafen durchwegs die Konstellation, dass entweder beide Elternteile die volle elterliche Sorge besassen (BGE 95
IV 67; 98 IV 35; 118 IV 61) oder aber der nicht obhutsberechtigte
Mitinhaber der elterlichen Sorge die Kinder dem allein Obhutsberechtigten entzogen bzw. nicht zurückgebracht hatte (vgl. BGE 91
IV 136, 228; 104 IV 90; 110 IV 35; 125 IV 14; 128 IV 154). Das
Bundesgericht hat in diesem Zusammenhang betont, dass mit der
Übertragung der alleinigen Obhut auf den einen Elternteil dem anderen das Recht zur Bestimmung über den Aufenthalt, die Pflege
und Erziehung der Kinder entzogen sei (insbesondere BGE 91 IV
136 S. 137, 228 E. 1 S. 230 f.; 110 IV 35 E. 1 S. 37). Auch in der Literatur wird durchwegs betont, dass das Aufenthaltsbestimmungsrecht das geschützte Rechtsgut von Art. 220 StGB sei (vgl. etwa
SCHUBARTH, in: Kommentar zum schweizerischen Strafrecht, Bd. IV,
1997, N. 8 zu Art. 220 StGB; HURTADO POZO, Droit pénal, Partie spéciale, 2009, Rz. 3539).
Davon zu unterscheiden ist die in der Literatur umstrittene Frage,
ob umgekehrt auch der alleinige Obhutsinhaber dem Mitinhaber
der elterlichen Sorge das Kind im Sinn von Art. 220 StGB entziehen kann, namentlich durch Vereitelung des Besuchsrechts. Die
Anwendbarkeit von Art. 220 StGB bei dieser Konstellation wird
von einem Teil der Lehre abgelehnt mit der Begründung, das Besuchsrecht sei nicht Teil der elterlichen Sorge (namentlich SCHUBARTH, a.a.O., N. 38 zu Art. 220 StGB; HÜPPI, Straf- und zivilrechtliche Aspekte der Kindesentziehung gemäss Art. 220 StGB mit
Schwergewicht auf den Kindesentführungen durch einen Elternteil, 1988, S. 118; ECKERT, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II,
2. Aufl. 2007, N. 14 zu Art. 220 StGB). Die Grundlage des Besuchsrechts ist nicht restlos geklärt; in der Lehre wird es teilweise als ein
verbleibender Rest der entzogenen elterlichen Sorge angesehen,
teilweise aber auch auf die leibliche Abstammung zurückgeführt
(vgl. STETTLER, a.a.O., S. 235 m.w.H.), während es nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung als direkt aus dem Persönlichkeitsrecht
fliessend charakterisiert wird (BGE 98 IV 35 E. 2 S. 37; 111 II 405
E. 3 S. 407; 119 II 201 E. 3 S. 204; 122 III 404 E. 3a S. 406; 123 III
445 E. 3b S. 451). Jedenfalls kann das Besuchsrecht nicht im eigentlichen Sinn ein Teilgehalt der elterlichen Sorge sein; andernfalls
könnte weder demjenigen Elternteil, dem sie vollständig entzogen
worden ist – was nach wie vor der Regelfall bei der Scheidung ist
151
Familienrecht – 136 III 353
361
(vgl. Art. 133 Abs. 1 ZGB), aber auch bei Massnahmen gemäss
Art. 311 ZGB zutrifft –, ein Besuchsrecht zukommen, noch dürfte
es bei ausserordentlichen Umständen gestützt auf Art. 274a ZGB
Drittpersonen eingeräumt werden. Unabhängig von der rechtlichen
Einordnung des Besuchsrechts hält die strafrechtliche Abteilung des
Bundesgerichts entgegen der vorstehend zitierten Lehrmeinung dafür, dass die Verletzung einer Besuchsrechtsregelung strafbar sei,
wobei nicht das Besuchsrecht als solches von Art. 220 StGB geschützt werde (BGE 98 IV 35 E. 2 S. 37), wohl aber die gerichtlich
festgesetzte Besuchsrechtsregelung (BGE 98 IV 35 E. 3 S. 39; vgl.
auch BGE 128 IV 154 E. 3.2 S. 160).
Die in den zwei vorangehenden Absätzen dargestellte Rechtsprechung, wonach einerseits strafbar ist, wer die Kinder dem Inhaber
der Obhut entzieht, und andererseits, wer eine Besuchsrechtsregelung vereitelt, soll in der neuen Fassung von Art. 220 StGB, die im
Zusammenhang mit der geplanten Revision des ZGB betreffend die
gemeinsame elterliche Sorge vorgeschlagen wird, klarer zum Ausdruck kommen. Gemäss Vorentwurf vom Januar 2009 soll Art. 220
StGB zukünftig lauten: "Wer eine minderjährige Person dem Inhaber des Obhutsrechts entzieht oder sich weigert, sie ihm zurückzugeben, wer sich weigert, eine minderjährige Person dem Inhaber
eines Besuchsrechts zu übergeben, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft."
Wie es sich mit der im Vernehmlassungsverfahren zur geplanten Gesetzesrevision stark kritisierten Pönalisierung der Vereitelung des
Besuchsrechts im Einzelnen verhält bzw. verhalten wird, ist vorliegend nicht von Belang. Entscheidend ist vielmehr, dass die Veränderung des Aufenthaltsortes bzw. des Wohnsitzes des Kindes durch
das Obhutsrecht abgedeckt ist (E. 3.2) und dass grundsätzlich nicht
strafrechtlich verpönt sein kann, was zivilrechtlich erlaubt ist (HÜPPI,
a.a.O., S. 108 oben). Jedenfalls wenn der Wegzug aus sachlichen
bzw. nachvollziehbaren Gründen und nicht einzig in der Absicht erfolgt, die Kontakte zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil
zu unterbinden, kann sich eine Strafbarkeit insbesondere auch nicht
aus dem Umstand ergeben, dass der Wegzug – nicht nur ins Ausland, sondern gegebenenfalls auch innerhalb der Schweiz – rein faktisch eine Erschwerung der Besuchsrechtsausübung bedeuten kann;
der räumlichen Distanz ist wie gesagt durch eine angepasste Regelung des Besuchs- und Ferienrechts Rechnung zu tragen (dazu
E. 3.3). Erst wenn diese Besuchsrechtsregelung vom Inhaber des
152
362
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
Obhutsrechts unterlaufen wird, stellt sich die Frage der Strafbarkeit
nach Art. 220 StGB.
3.5 Die vom HKÜ geschützte Sorgerechtsposition (rights of custody gemäss englischem, droit de garde gemäss französischem Konventionstext) sind in einem weiten Sinn zu verstehen. Besonderes
Gewicht liegt auf dem in Art. 5 HKÜ namentlich genannten Aufenthaltsbestimmungsrecht, aber geschützt sind auch weitere Personensorgebefugnisse wie namentlich die Pflege und Erziehung (vgl. RASELLI/HAUSAMMANN/MÖCKLI/URWYLER, in: Ausländerrecht, 2. Aufl. 2009,
Rz. 16.155 m.w.H.). Soweit das im HKÜ geschützte Sorgerecht gesetzlich begründet ist, bemessen sich dessen Bestand und Inhalt gemäss Art. 3 lit. a HKÜ nach dem internationalen Privatrecht am
gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes (vgl. auch Art. 16 Abs. 4
des Haager Kinderschutzübereinkommens vom 19. Oktober 1996
[HKsÜ; SR 0.211.231.011]). Das schweizerische IPRG (SR 291)
unterstellt in Art. 82 Abs. 1 die Beziehungen zwischen Eltern und
Kind dem Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes; mithin
kommen im vorliegend interessierenden Fall die Normen des ZGB
zum Tragen. Dies wiederum bedeutet, dass der Begriff des Sorgerechts im Sinn des HKÜ mit dem Obhutsrecht nach schweizerischem Recht übereinstimmt, welches nebst dem Aufenthaltsbestimmungsrecht die tägliche Pflege und Erziehung umfasst (dazu
eingehend BUCHER, in: AJP 2008 S. 480 f.). Das bedeutet, dass die
dem Inhaber der elterlichen "Restsorge" zustehende Rechtsposition
nicht im Sinn von Art. 3 lit. a HKÜ verletzt ist, wenn der alleinige
Obhutsinhaber die Kinder aus der Schweiz in einen anderen HKÜVertragsstaat verbringt. Einzig bei der in E. 3.3 erwähnten Weisung
gemäss Art. 307 ZGB (sog. non-removal clause) wäre das Verbringen des Kindes widerrechtlich im Sinn von Art. 3 lit. a HKÜ, sind
doch solche Anordnungen des Herkunftsstaates durch das HKÜ geschützt und vom Zufluchtsstaat im Rahmen des Rückführungsverfahrens zu respektieren (vgl. PIRRUNG, in: Staudingers Kommentar
zum BGB, Berlin 2009, Vorbem. zu Art. 19 EGBGB, D 30; RASELLI/
HAUSAMMANN/MÖCKLI/URWYLER, a.a.O., Rz. 16.155; je m.w.H.).
3.6 Zusammenfassend ergibt sich, dass der alleinige Inhaber der
Obhut unter Vorbehalt des Rechtsmissbrauchsverbotes befugt ist,
mit den Kindern ins Ausland zu ziehen, ohne dass er hierfür einer
gerichtlichen oder behördlichen Bewilligung bedürfte und ohne dass
er sich dabei nach schweizerischem Recht strafbar machen würde
oder der Inhaber der elterlichen "Restsorge", soweit dem alleinigen
153
Familienrecht – 136 III 353
363
Obhutsinhaber der Wegzug nicht gerichtlich oder durch die Vormundschaftsbehörde untersagt worden ist, ein Rückführungsgesuch
gemäss HKÜ stellen könnte.
3.7 Vorliegend hat das Obergericht dem Vater die elterliche Sorge
ausschliesslich mit der Begründung entzogen, die Mutter mache sich
ansonsten strafbar und der Vater könne ein Rückführungsgesuch
stellen. Die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit des Entzuges der elterlichen Sorge bei Unfähigkeit der Eltern, zum Wohl des Kindes
zusammenzuwirken, hat es zwar im Sinn allgemeiner Ausführungen
erwähnt, aber ausdrücklich offengelassen, ob es sich vorliegend
auch tatsächlich so verhalte bzw. die Befürchtung der Mutter, der
Vater würde ihre Entscheidungen dauernd mit seinem Veto blockieren, zutrifft.
Das Obergericht hat dem Vater die elterliche Sorge ab Wegzug folglich nicht mit zwei unabhängigen Alternativbegründungen, sondern
allein mit einer nach den vorstehenden Erwägungen nicht zu haltenden Begründung und damit in willkürlicher Weise entzogen. Ob der
Entzug der elterlichen Sorge auch im Ergebnis willkürlich wäre oder
die mit Bezug auf das Zusammenwirken der Eltern erhobenen Rügen des Beschwerdeführers begründet sind (die Parteien äussern sich
insbesondere auch im Rahmen der Replik und Duplik zur Frage des
Zusammenwirkens, wobei ihre Ausführungen fast ausschliesslich
Noven betreffen), lässt sich mangels betreffender Sachverhaltsfeststellungen nicht prüfen. In diesem Punkt ist der angefochtene Entscheid
aufzuheben und zur Sachverhaltserstellung und neuen Entscheidung
an das Obergericht zurückzuweisen. In diesem Zusammenhang sei
bemerkt, dass mit Blick auf die per September 2010 geplante Einschulung von D. in Tschechien durch die Rückweisung an das Obergericht keine Gefahr im Verzug liegt, kann doch die Mutter gestützt
auf das ihr zustehende Obhutsrecht den Wohnsitz in der Zwischenzeit bereits verlegen und D. auch in der Schule anmelden (vgl. E. 3.2).
Im Übrigen stünde der diesbezüglichen Rückweisung eine allenfalls vom kantonalen Prozessrecht vorgesehene Konzentrationsmaxime nicht entgegen, weil für Kinderbelange von Bundesrechts wegen
die Offizialmaxime gilt.
4. Mit Bezug auf den persönlichen Verkehr hat das Obergericht ein
Besuchsrecht an jedem zweiten Wochenende von Freitag- bis Sonntagabend sowie ein Ferienrecht von drei Wochen als eine der Distanz und den Verhältnissen angepasste Minimalregelung für den
154
364
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
Konfliktfall angesehen. Von einer Ausdehnung des Besuchsrechts
bereits auf den Donnerstag hat es abgesehen, weil D. am Freitag den
obligatorischen Vorschulkindergarten besuchen müsse, und die Verpflichtung der Mutter, die beiden Söhne für jeden zweiten Besuch
in die Schweiz zu bringen, hat es als mit dem Kindesalter unvereinbar abgelehnt. Schliesslich hat es das Begehren um Ausdehnung des
Ferienrechts auf vier Wochen abgewiesen mit der Begründung, üblicherweise betrage das Ferienrecht zwei Wochen, weshalb die vorliegend gewährten drei Wochen genügten.
Mit der Behauptung, die monatliche Reise in die Schweiz bedeute
für die Kinder "fun" und "action" und bei Müdigkeit würden sie einfach schlafen, ist keine Willkür mit Bezug auf die obergerichtliche
Erwägung darzutun, die stetige Reiserei gereiche den beiden 3- und
6-jährigen Kindern nicht zum Wohl, liegt doch Willkür nicht bereits vor, wenn eine andere Möglichkeit auch vertretbar wäre, sondern erst, wenn der angefochtene Entscheid schlichtweg unhaltbar
ist (vgl. BGE 129 I 8 E. 2.1 S. 9). Keine Willkür darzutun ist ferner
mit der Behauptung, die Reisezeit betrage nur fünf und nicht wie
vom Obergericht angenommen sechs Stunden, ist doch Kern der obergerichtlichen Erwägung, dass ein permanentes Hin und Her für die
Kinder zu vermeiden sei.
Zutreffend ist hingegen das Vorbringen des Vaters, das Obergericht
sei mit Bezug auf den Umfang des Ferienrechts überhaupt nicht auf
den Einzelfall eingegangen, sondern habe einfach auf das Übliche
verwiesen, obwohl mit dem vorliegend geplanten Wegzug gerade
keine gewöhnliche Konstellation gegeben sei. Angesichts der faktischen Erschwerung der Besuchsrechtsausübung durch den Wegzug
nach Tschechien, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Kinder ein enges Verhältnis zum Grossvater in der Schweiz haben und
dieses nur noch im Rahmen des Ferienrechts sowie der FeiertageWochenenden wird gepflegt werden können, aber insbesondere auch
mit Blick auf die nicht unbegründete Befürchtung des Vaters, dass
die Deutschkenntnisse der Kinder in Tschechien schrittweise abnehmen werden, was die Kommunikation erschwere, hätte es sachliche
Gründe für ein noch ausgedehnteres Ferienrecht gegeben. Zur Aufhebung eines Entscheides genügt es indes nicht, wenn er sich nur
in der Begründung als willkürlich erweist; vielmehr ist erforderlich, dass er auch im Ergebnis unhaltbar ist (BGE 132 III 209 E. 2.1
S. 211; 133 I 149 E. 3.1 S. 153). Dies lässt sich vorliegend insofern
nicht sagen, als der Vater ein 14-tägliches Besuchsrecht hat und die-
155
Familienrecht – 136 III 365
365
ses aufgrund seiner Arbeitszeiten und der Flugmöglichkeiten auch
tatsächlich regelmässig wird ausüben können, so dass kontinuierlich ein Kontakt bestehen bleibt, mithin ein Unterschied zur Konstellation besteht, wo ein Elternteil fast nur im Rahmen des Ferienrechts persönlichen Umgang mit dem Kind pflegen kann.
156
Urteilskopf
127 III 68
11. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom
16. Januar 2001 i.S. X. gegen Z. (Berufung)
Inhaltsverzeichnis
Regeste
- Deutsch
Sachverhalt
Erwägungen
Erwägung 2
Erwägung 3
Seiten
68 69 70 71
72 73
- Français
- Italiano
Seite 68 (BGE_127_III_68)
Regeste
Art. 159 und 285 ZGB; Kinderunterhaltspflicht und Beistandspflicht
bei einem ausserehelichen Kind.
Für die Bestimmung der Leistungsfähigkeit des unterhaltspflichtigen
Elternteils massgebende Kriterien (E. 2).
Zur Pflicht des Ehegatten, den anderen beim Unterhalt
gegen über einem ausserehelichen Kind zu unterstützen (E.
3).
Sachverhalt
A.- X. und Y., beide türkische Staatsangehörige,
sind verheiratet und Eltern zweier Kinder, geboren
am 14. Januar 1991 und am 2. Dezember 1995. Die Familie
bezieht Leistungen der F ürsorgebehörde B.
B.- Am 18. Februar 1998 wurde Z. geboren. Auf ihre
Klage stellte das Bezirksgericht Liestal die Vaterschaft von
X. fest (Ziffer 1) und verpflichtete diesen zu monatlichen,
nach dem Alter des Kindes abgestuften Unterhaltsbeiträgen von
Fr. 400.-, von Fr. 450.- und von Fr. 500.-, jeweils zuzüglich
Kinderzulagen (Ziffer 2). Es wies die Arbeitgeberin von
X. an, von dessen Einkommen Fr. 400.- pro Monat zuzüglich
künftige und nachbezahlte Kinderzulagen abzuziehen und der
für die Klägerin zust ändigen Fürsorgebehörde F. zu überweisen,
und verpflichtete X., Kinderzulagen für sein aussereheliches
Kind geltend zu machen (Ziffer 3). Die Unterhaltsbeiträge
wurden indexiert (Ziffer 4 des Urteils vom 19. August
1999). Gegen das bezirksgerichtliche Urteil erhoben beide
Parteien beim Obergericht des Kantons Basel -Landschaft Appellation,
die Z. an der Hauptverhandlung wieder zurückzog. Das
Obergericht hiess die Appellation von X. teilweise gut und
setzte die Unterhaltsbeiträge fest auf Fr. 195.- von der
Geburt bis zum vollendeten 6. Altersjahr, auf Fr. 275.- vom
7. bis zum vollendeten
Seite 69 (BGE_127_III_68)
12. Altersjahr, auf Fr. 375.- vom 13. bis zum vollendeten
157
16. Altersjahr und auf Fr. 470.- vom 16. bis zum vollendeten
18. Altersjahr, jeweils zuzüglich Kinderzulagen, verbunden
mit den daran angepassten bezirksgerichtlichen Weisungen und
Verpflichtungen (Ziffern 2 und 3 des Urteils vom 15. August
2000).
C.- Mit eidgen össischer Berufung beantragt X. dem Bundesgericht,
die Klage betreffend Kindesunterhalt abzuweisen.
Für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht er um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege. Das Obergericht hat keinen
Antrag gestellt. Z. schliesst auf Abweisung der Berufung;
eventualiter seien die Unterhaltsbeiträge gemäss bezirksgerichtlichem
Urteil oder gemäss Bundesgerichtspraxis festzulegen.
Das Bundesgericht heisst die Berufung gut, soweit darauf
einzutreten ist, hebt das angefochtene Urteil auf und
weist die Sache zur Ergänzung der Akten und zu neuer Entscheidung
an die Vorinstanz zur ück.
Auszug aus den Erwägungen:
Aus den Erwägungen:
Erw ägung 2
2.- Gemäss Art. 285 Abs. 1 ZGB soll der
Unterhaltsbeitrag den Bed ürfnissen des Kindes sowie der
Lebensstellung und Leistungsf ähigkeit der Eltern entsprechen
und ausserdem Vermögen und Einkünfte des Kindes sowie den
Beitrag des nicht obhutsberechtigten Elternteils an der
Betreuung des Kindes ber ücksichtigen. Nachgewiesenermassen
ist der Bedarf der Klägerin in keiner Weise gedeckt und
verfügt die Kindsmutter weder über Einkommen noch über
Vermögen. Nach den Feststellungen des Obergerichts steht dem
Notbedarf der Familie des Beklagten von Fr. 4'330. - das Nettoeinkommen
des Beklagten von Fr. 3'750.- gegen über. Trotz
dieser offensichtlichen Unterdeckung hat das Obergericht der
Klägerin Unterhaltsbeiträge zugesprochen und den damit verbundenen
Eingriff in das Existenzminimum des Beklagten f ür
zul ässig gehalten, weil nur auf diese Weise eine Gleichbehandlung
der Klägerin mit den beiden ehelichen Kindern des
Beklagten zu verwirklichen sei. Dass von der Kindsmutter an
Unterhalt der Klägerin nichts zu erwarten ist, stellen die
Parteien nicht in Frage. Beide
wenden sich gegen die obergerichtliche Beurteilung der Leistungsfähigkeit
des Beklagten.
a) Das Obergericht hat festgestellt, der Beklagte weise
ein monatliches Nettoeinkommen von Fr. 3'750.- exkl.
Kinderzulagen aus (...).
b) Das Existenzminimum des Beklagten beläuft sich nach
den Feststellungen des Obergerichts auf Fr. 4'330.-. Es ist
unzulässig, dass der Beklagte in seiner Berufungsschrift stillschweigend
das um Fr. 60.- höhere Existenzminimum der
Fürsorgebehörde seinen
Seite 70 (BGE_127_III_68)
Überlegungen zugrunde legt, ohne ausnahmsweise zulässige
Sachverhaltsrügen zu erheben (Art. 63 Abs. 2 und Art. 64 OG;
zuletzt: BGE 126 III 59 E. 2a S. 65).
Vom Existenzminimum des Beklagten ist hingegen der auf Fr.
350.- geschätzte Steueranteil pro Monat abzuziehen; die
Steuerlast hat bei engen finanziellen Möglichkeiten unber ücksichtigt
zu bleiben (BGE 126 III 353 E. 1a/aa S. 356). Sodann
sind die eingesetzten Grundbeträge für die beiden ehelichen
Kinder von Fr. 470. - auszuklammern, wie der Beklagte selber
einräumt. Beträge in dieser H öhe d ürfen für die ehelichen
158
Kinder nur eingesetzt werden, wenn feststeht, dass dem
beklagtischen Haushalt nicht mehr als das Existenzminimum zusteht,
und wenn sie der H öhe nach nicht unbegründet vom Betrag
für die Klägerin als ausserehelichem Kind abweichen
(BGE 126 III 353 E. 2b/bb S. 360). Denn bei angespannten finanziellen
Verhältnissen vereitelte eine derartige Festsetzung
des Existenzminimums von vornherein den Grundsatz, dass
alle unterhaltsberechtigten Kinder vom Pflichtigen im Verhältnis
zu ihren objektiven Bedürfnissen finanziell gleich
zu behandeln sind (BGE 126 III 353 E. 2b S. 358).
Das Existenzminimum des Beklagten von Fr. 4'330. - reduziert
sich damit - ohne Steuerlast und ohne den für die
ehelichen Kinder eingesetzten Grundbetrag - auf Fr. 3'510.pro Monat.
c) Das Obergericht hat angenommen, der Grundsatz der
Gleichbehandlung aller Kinder lasse sich nur verwirklichen,
wenn in das Existenzminimum des Beklagten eingegriffen werde,
und hat der Klägerin unbesehen der tatsächlichen Möglichkeiten
des Beklagten gleich hohe Grundbeträge wie den beiden
ehelichen Kindern zuerkannt. Der Beklagte bestreitet die Zulässigkeit
der Vorgehensweise. Ein solcher Eingriff in das
Existenzminimum des Beklagten findet selbst dann noch statt,
wenn bei einem monatlichen Einkommen von Fr. 3'750. - von
einem betreibungsrechtlichen Notbedarf von Fr. 3'510. - ausgegangen
wird.
Zu schützen ist in Fällen knapper finanzieller Mittel
zumindest das betreibungsrechtliche Existenzminimum des
Rentenschuldners (BGE 126 III 353 E. 1a/aa und bb S. 356).
Das Bundesgericht l ässt in seinem Grundsatzentscheid zur
finanziellen Leistungskraft des Unterhaltsschuldners im Familienrecht
Ausnahmen von der Regel zu, dass das betreibungsrechtliche
Existenzminimum unangetastet bleiben muss (BGE 123
III 1 E. 3e S. 7); auch bei der Bemessung des Betrags für die
Kinder nach Art. 285 Abs. 1 ZGB kann sich der Richter aber in
der Regel nicht über die Schranke der Leistungsfähigkeit des
Seite 71 (BGE_127_III_68)
unterhaltspflichtigen Elternteils hinwegsetzen (E. 5 S. 9).
Die unterhaltsrechtliche Gleichbehandlung aller Kinder nach Massgabe der Gleichheit ihrer objektiven Bed ürfnisse kann nicht als selbstständige Ausnahme von der
Unantastbarkeit des betreibungsrechtlichen Existenzminimums
anerkannt werden, h öhlte sie die Regel doch aus. Wäre der
Auffassung des Obergerichts zu folgen, w ürde in angespannten
finanziellen Verhältnissen lebenden Unterhaltspflichtigen mit
mehr als einem unterhaltsberechtigten Kind das betreibungsrechtliche
Existenzminimum gar nie verbleiben. Dem
Gleichbehandlungsgrundsatz wird vielmehr dadurch Rechnung
getragen, dass die Grundbeträge für die in der Familie
lebenden Kinder bei angespannten finanziellen Verhältnissen
vom Existenzminimum des Unterhaltsschuldners vorerst
ausgeklammert werden, um den Umfang seiner wirklichen
Leistungsfähigkeit festzustellen. Im Übrigen hat das
Bundesgericht die Unantastbarkeit des betreibungsrechtlichen
Existenzminimums in einem mit dem vorliegenden
übereinstimmenden Fall erst kürzlich bestätigt (nicht veröffentlichtes
Urteil des Bundesgerichts vom 5. September 2000
i.S. A. gegen L., E. 3a, 5C.127/2000). Die gegenteilige und offenbar st ändige (vgl. bereits Urteil vom 22. September
1992, in: ZVW 1993 S. 120 E. 9 und 10 S. 127 ff.) - Praxis
des Obergerichts ist im gezeigten Sinne bundesrechtswidrig.
Unter die drei Kinder zu verteilen bleibt somit der Betrag
von Fr. 240.- (Einkommen von Fr. 3'750.-, abzüglich
Existenzminimum von Fr. 3'510.-).
Erw ägung 3
159
3.- Selbst wenn angesichts der wirtschaftlichen Verhältnisse
davon ausgegangen werden muss, dass nicht viel mehr als die
betreibungsrechtlichen Grundbeträge als den Bedürfnissen der
drei Kinder des Beklagten entsprechend anzusehen sind, reicht
dessen Leistungsfähigkeit nicht aus, um diese mit dem Alter
der Kinder steigenden Beträge zu decken. Es bleibt deshalb zu
prüfen, ob und in welchem Umfang auf die Beistandspflicht der
Ehefrau des Beklagten zurückgegriffen und ihr eine Erhöhung
ihres Beitrags an die eigene Familie zugemutet werden kann,
um ihrem Ehemann die Bezahlung der Unterhaltsbeiträge an die
Klägerin als seinem ausserehelichen Kind zu ermöglichen.
Aus der allgemeinen Beistandspflicht unter den Ehegatten
gemäss Art. 159 Abs. 3 ZGB - und nicht aus ihrer Konkretisierung
in Art. 278 Abs. 2 ZGB für voreheliche Kinder folgt, dass die Ehegatten einander bei der Erziehung selbst
von ausserehelichen Kindern im Grundsatz finanziell aushelfen
müssen, wenn auch in erster Linie die Eltern des ausserehelichen
Kindes und nicht deren
Seite 72 (BGE_127_III_68)
Ehegatten für den Unterhalt verantwortlich sind. Wo die
Mittel des einen Ehegatten nicht ausreichen, um neben dem
bisherigen Beitrag an den ehelichen Unterhalt seinen Anteil
an den Unterhalt des ausserehelichen Kindes zu leisten, ist
eine verhältnismässige Veränderung der Anteile an den ehelichen
Unterhalt zu Lasten des andern Ehegatten unausweichlich;
insoweit besteht für den Stiefelternteil eine indirekte
Beistandspflicht, die in Ausnahmefällen auch zur Folge haben
kann, dass der Ehegatte des Unterhaltspflichtigen eine
Erwerbstätigkeit aufnehmen oder eine bestehende Erwerbstätigkeit
ausdehnen muss (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Berner
Kommentar, N. 42 und BRÄM/HASENB ÖHLER, Zürcher
Kommentar, N. 143 f., je zu Art. 159 ZGB; vgl. auch
BREITSCHMID, Basler Kommentar, N. 5 zu Art. 278 ZGB;
kritisch, zumindest im Ergebnis aber übereinstimmend:
HEGNAUER, Berner Kommentar, N. 59 f. und N. 66 zu Art.
278 ZGB). Das Bundesgericht hat sich dieser Rechtsauffassung
im Grundsatz angeschlossen, und zwar unabhängig davon, ob das
aussereheliche Kind in der Familie des Erzeugers lebt oder
nicht (BGE 126 III 353 , nicht veröffentlichte E. 4b; Urteil
des Bundesgerichts vom 12. November 1998, E. 3c, in: Rep 1999
S. 60; nicht veröffentlichtes Urteil vom 9. August 1995 i.S.
W. gegen J., E. 4b, 5C.127/1995).
Wenn das Obergericht schon heute bis zum Erreichen der
Volljährigkeit der Klägerin nach dem Alter gestaffelte
Unterhaltsbeiträge festsetzen will (Art. 286 Abs. 1 ZGB),
darf es nicht einfach in das Existenzminimum des Beklagten
eingreifen, sondern hat von Amtes wegen zu klären, ob im
dargelegten Rahmen auf die Beistandspflicht der Ehefrau des
Beklagten zurückgegriffen werden kann. Das Obergericht hat
diese Frage deshalb offen gelassen, weil die Ehefrau des Beklagten
nachgewiesenermassen kein Erwerbseinkommen erziele
und nach wie vor arbeitsunfähig sei. Demgegenüber konnte vor
Bezirksgericht noch ein monatliches Einkommen von Fr.
1'920. - berücksichtigt werden. Das Obergericht verletzt
unter diesen Umständen seine Sachverhaltsabklärungspflicht,
wenn es einzig auf Grund eines Arztzeugnisses, mit welchem
die Ehefrau des Beklagten ohne nähere Erläuterung bis auf
weiteres krank geschrieben ist, die Frage nach deren Beistandspflicht
umgeht. Der Beklagte schuldet der Klägerin jedenfalls
noch bis 2016 Unterhalt (Art. 277 Abs. 1 ZGB), was
eingehende Abklärungen über die Zumutbarkeit von Anstrengungen
der Ehefrau des
Seite 73 (BGE_127_III_68)
160
Beklagten zu Gunsten ihrer Familie notwendig macht. Dazu
fehlen entsprechende Tatsachenfeststellungen, namentlich betreffend
den Gesundheitszustand der Ehefrau des Beklagten auf
längere Sicht, ihre Erwerbsmöglichkeiten oder ihr Ersatzeinkommen
aus einem offenbar hängigen IV-Abklärungsverfahren,
ihren Ausbildungsstand, usw. Die Sache ist deshalb zur
Sachverhaltsergänzung und zu neuer Entscheidung an das
Obergericht zur ückzuweisen (Art. 64 Abs. 1 OG; BGE 122 III
404 E. 3d S. 408).
Inhaltsverzeichnis
Regeste
- Deutsch
- Français
Erwägungen
Erwägung 2
Sachverhalt Erwägung 3
Seiten
68 69 70 71
72 73
- Italiano
161
593
I. FAMILIENRECHT
DROIT DE LA FAMILLE
DIRITTO DI FAMIGLIA
88. Extrait de l'arrêt de la IIe Cour de droit civil dans la cause
X. contre Y. et Z. (recours en matière civile)
5A_492/2010 du 13 décembre 2010
Art. 260c al. 3 CC; action en contestation de la reconnaissance de paternité, restitution du délai.
Examen de la célérité avec laquelle doit agir le demandeur dès que la cause
de retard a pris fin (consid. 6.1).
L'intérêt de l'enfant ne constitue pas une condition supplémentaire qui serait mise à l'admission d'une restitution du délai pour ouvrir l'action du
père en contestation de la reconnaissance de paternité (consid. 6.2).
Art. 260c Abs. 3 ZGB; Anfechtung der Vaterschaftsanerkennung, Wiederherstellung der Klagefrist.
Prüfung der Beschleunigung, mit welcher der Kläger nach Wegfall des Verspätungsgrundes vorgehen muss (E. 6.1).
Das Kindesinteresse stellt keine zusätzliche Bedingung dar, um die Wiederherstellung der Frist zur Klage des Vaters auf Anfechtung der Vaterschaftsanerkennung zuzulassen (E. 6.2).
Art. 260c cpv. 3 CC; azione di contestazione del riconoscimento di paternità, restituzione del termine.
Esame della celerità con la quale l'attore deve agire dopo la cessazione della
causa di ritardo (consid. 6.1).
L'interesse del figlio non costituisce una condizione supplementare per ammettere la restituzione del termine per promuovere l'azione del padre di
contestazione del riconoscimento di paternità (consid. 6.2).
A. X., né en 1944, et Y., née en 1962, se sont connus à Genève en
1993.
Le 23 juillet 1994, Y. a donné naissance à un garçon, prénommé Z.
X. a reconnu l'enfant devant l'officier d'état civil le 4 août suivant.
38
AS 136 III - 2010
162
594
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
X. et Y. se sont mariés le 5 mai 1995. Par jugement du 27 mai 2008,
confirmé par arrêt de la Cour de justice du 16 octobre 2009, le Tribunal de première instance de Genève a prononcé leur divorce.
B. Le 3 octobre 2008, X. a formé une action en désaveu de paternité. Il a demandé qu'il soit constaté qu'il n'est pas le père biologique
de l'enfant et que les rectifications nécessaires soient effectuées dans
les registres de l'état civil. La mère et l'enfant, représenté par son curateur, se sont opposés à la demande.
Par jugement du 3 décembre 2009, le Tribunal de première instance
de Genève a constaté la non-paternité de X. Il a examiné la demande
au regard des dispositions sur la contestation de la reconnaissance
de paternité, dès lors que le demandeur avait reconnu l'enfant après
sa naissance.
Le 28 mai 2010, sur appel de la mère, la Chambre civile de la Cour
de justice a annulé ce jugement et rejeté l'action en désaveu de paternité, respectivement en contestation de la reconnaissance de paternité, pour le motif qu'elle était périmée.
C. X. a exercé un recours en matière civile au Tribunal fédéral (...).
Celui-ci a admis le recours, annulé l'arrêt cantonal et renvoyé la
cause pour nouvelle décision dans le sens des considérants.
(extrait)
Extrait des considérants:
6. (...)
6.1
6.1.1 Selon l'art. 260c al. 1 CC, le demandeur doit intenter l'action
dans le délai d'un an à compter du jour où il a appris que la reconnaissance a eu lieu et que son auteur n'est pas le père ou qu'un tiers
a cohabité avec la mère à l'époque de la conception, ou à compter
du jour où l'erreur a été découverte ou de celui où la menace a été
écartée, mais en tout cas dans les cinq ans depuis la reconnaissance.
Dans le cas particulier, il n'est pas contesté que le recourant n'a pu
respecter ni l'un ni l'autre délai.
L'art. 260c al. 3 CC dispose toutefois que l'action peut néanmoins
être intentée après l'expiration du délai lorsque de justes motifs
rendent le retard excusable. Cela a pour conséquence qu'une restitution est en principe admissible de manière illimitée dans le temps.
Pour tenir compte de l'allongement considérable du délai d'ouver-
163
Familienrecht – 136 III 593
595
ture d'action, il convient d'interpréter strictement la notion de justes
motifs (cf. ATF 132 III 1 consid. 2.2 p. 3 et les références), d'éventuels rumeurs ou soupçons n'étant toutefois pas suffisants pour agir
en justice.
Une fois que le demandeur a connaissance du motif de restitution
du délai, l'art. 256c al. 3 CC ne lui accorde cependant aucun délai
supplémentaire, même de courte durée; il lui incombe ainsi d'agir
avec toute la célérité possible, dès que la cause du retard a pris fin
(ATF 132 III 1 consid. 3.2 p. 5; 129 II 409 consid. 3 p. 412; arrê t
5C.217/2006 du 29 septembre 2005 consid. 5), en principe dans le
mois qui suit la fin de la cause du retard, sauf circonstances exceptionnelles, telles que la maladie ou une période de vacances (cf. ATF
132 III 1 consid. 3.2 p. 5 et arrêt 5C.113/2005 du 29 septembre 2005:
actions introduites [à temps] dans le mois suivant la connaissance
du motif de restitution; ATF 85 II 305 consid. 2 p. 311/312 et arrêt
5C.217/2006 du 19 février 2007: actions introduites [tardivement]
sept semaines, respectivement quatre mois, après la connaissance
du motif de restitution, sans que le demandeur invoque de raisons
spéciales l'ayant empêché d'agir plus tôt; cf. également BURGAT/
GUILLOD, Les actions tendant à la destruction du lien de filiation, in
Quelques actions en annulation, 2007, p. 35 n° 110).
6.1.2 En l'espèce, le recourant n'a pas eu de raison de douter de sa
paternité avant l'été 2008. Il ressort en effet de l'arrêt attaqué qu'il a
appris fortuitement, dans le courant du mois de juin 2008, qu'il
n'était pas le père de l'enfant alors qu'il croyait l'être. La non-paternité a été confirmée par une expertise ADN réalisée lors d'un voyage
en Bulgarie des intéressés. Ce document a été légalisé le 31 juillet
2008 par le Ministère de la Santé publique de la République de
Bulgarie. Il ressort par ailleurs du dossier que le recourant a par la
suite fait procéder à la traduction officielle de l'expertise, qui a reçu
la légalisation du Ministère bulgare des affaires étrangères le 6 août
2008. A cette même date, l'expertise a été munie de l'apostille de la
Convention de La Haye du 5 octobre 1961. Le recourant a ensuite
requis d'un notaire genevois et obtenu, le 18 septembre 2008, les
certifications de conformité à l'original de l'expertise et de sa traduction. S'agissant d'un document qui était rédigé dans une langue
étrangère et rendu par un organisme étranger, de telles démarches
étaient objectivement nécessaires. Elles ont en outre été conduites
sans désemparer. A leur terme, l'action a été introduite dans les quinze
jours. Dans ces circonstances, il faut admettre que le recourant a agi
164
596
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
avec toute la célérité requise. C'est dès lors en violation du droit fédéral que la Cour de justice a considéré que le recourant a tardé à
agir.
6.2 La motivation que la Chambre civile a entendu adopter par
surabondance ne permettrait pas de justifier l'arrêt entrepris. A la
suivre, la restitution du délai de l'art. 260c al. 1 CC serait soumise
à l'examen de trois conditions cumulatives: l'existence d'un juste
motif; l'ouverture, avec célérité, de l'action dès que la cause de retard a pris fin; l'intérêt de l'enfant à la restitution. Si la jurisprudence citée dans l'arrêt entrepris fait certes état de ce dernier élément
(arrêts 5C.130/2003 du 14 octobre 2003 consid. 2; 5C.292/2005 du
16 mars 2006 consid. 3.4), elle n'a pas la portée que veut lui donner
l'autorité cantonale. L'intérêt de l'enfant ne doit pas être compris
comme une condition supplémentaire qui serait mise à l'admission
d'une restitution du délai pour ouvrir l'action du père en contestation de la reconnaissance de paternité. Il intervient comme un élément d'appréciation lorsque les circonstances ne suffisent pas à fonder un juste motif. Si, dans une telle hypothèse, il n'est pas dans
l'intérêt de l'enfant que la question du lien de filiation soit tout de
même éclaircie, la restitution doit être refusée.
Cela étant, c'est à tort que l'autorité cantonale a considéré que l'action devait être rejetée pour le motif qu'elle était périmée. Le recours doit donc être admis et la cause renvoyée pour examen des
conditions de la demande en contestation de la reconnaissance de
paternité.
165
Jurius
Vaterschaftsklage: Rechtzeitige Aberkennungsklage
BGer – Eine späte Anfechtung der Vaterschaft kann laut Bundesgericht auch dann zulässig sein, wenn die Klage des vermeintlichen Vaters den Interessen des Kindes zuwiderläuft.
(BGE 5A_492/2010)
 
Rechtsgebiet(e): Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Vormundschaft; Aus dem
Bundesgericht
Zitiervorschlag: Jurius, Vaterschaftsklage: Rechtzeitige Aberkennungsklage, in: Jusletter 10. Januar 2011
ISSN 1424-7410, www.jusletter.ch, Weblaw AG, [email protected], T +41 31 380 57 77
166
Jurius, Vaterschaftsklage: Rechtzeitige Aberkennungsklage, in: Jusletter 10. Januar 2011
[Rz 1] Der Mann hatte seinen vermeintlichen Sohn 1994 anerkannt. Ein Jahr später heiratete er die Mutter des Kindes.
Im Frühjahr 2008 wurde die Ehe geschieden. Auf einer Bulgarienreise im folgenden Sommer liess der Ex-Gatte einen
DNA-Test durchführen. Dieser ergab, dass das mittlerweile
14-jährige Kind nicht von ihm abstammt.
[Rz 2] Rund drei Monate nach diesem unerfreulichen Ergebnis focht der Vater seine Vaterschaft an. Das Genfer
Kantonsgericht wies die Klage jedoch zurück. Es war einerseits zum Schluss gekommen, dass der Betroffene mit
der Einreichung der Klage nach Bekanntwerden des DNAErgebnisses zu lange zugewartet habe. Eine Aufhebung der
Vaterschaft würde andererseits auch nicht im Interesse des
Kindes liegen, zumal der tatsächliche Vater nach Angaben
der Mutter bereits verstorben sei. Das Bundesgericht hat
dem Mann nun Recht gegeben, seine Beschwerde gutgeheissen und die Sache zur weiteren Behandlung an die Genfer
Justiz zurückgeschickt.
[Rz 3] Das Gericht erinnert zunächst daran, dass mehr als
fünf Jahre nach Anerkennung der Vaterschaft eine Aberkennungsklage nur noch möglich ist, wenn wichtige Gründe
bestehen. Nach deren Bekanntwerden sei zudem rasches
Handeln gefordert. Diese Voraussetzungen seien hier erfüllt.
Zunächst habe der Mann bis im Sommer 2008 keinen Grund
gehabt, an seiner Vaterschaft zu zweifeln. Anschliessend
habe er das Ergebnis offiziell bestätigen und übersetzen
lassen müssen. Danach habe er innert 15 Tagen und damit
rechtzeitig Klage erhoben.
[Rz 4] Falsch lagen die Genfer Richter zudem mit ihrer Gewichtung des Kindesinteresses. Laut Bundesgericht darf
dieses nicht als zusätzliches Erfordernis für die Zulassung
einer späten Klage auf Vaterschaftsanerkennung verstanden
werden.
BGE 5A_492/2010 vom 13. Dezember 2010
Quelle: SDA
* * *
2
167
Urteilskopf
134 III 241
42. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Y. und Z. (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_506/2007 vom 28. Februar 2008
Regeste
Art. 8 EMRK, Art. 28 ZGB; Schutz der Identität.
Anspruch des volljährigen ehelichen Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung (E. 5).
Sachverhalt ab Seite 241
BGE 134 III 241 S. 241
X. wurde am 2. September 1943 während der Ehe von Y. und Z. geboren. Die Ehe wurde um 1950 geschieden.
Am 6. Dezember 2005 erhob X. beim Bezirksgericht Baden Klage gegen ihre (wiederverheirate) Mutter Z. und den
vormaligen Ehemann Y. und beantragte die Feststellung, dass Y. nicht ihr Vater sei. Mit Urteil vom 28. November
2006 wies das Bezirksgericht Baden die Klage ab. Zur Begründung hielt es im Wesentlichen fest, die Klage auf
Anfechtung der Vermutung der Vaterschaft des Ehemannes (Art. 256 ZGB) sei verspätet und es lägen keine
wichtigen Gründe im Sinne von Art. 256c Abs. 3 ZGB vor, um die Klagefrist wiederherzustellen. Sodann hat das
Bezirksgericht einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf (blosse) Kenntnis der eigenen genetischen Abstammung
vom hochbetagten, sich einem DNA-Test widersetzenden Y. verneint.
BGE 134 III 241 S. 242
Gegen das Urteil des Bezirksgerichts erhob X. Appellation, welche das Obergericht des Kantons Aargau,
Zivilgericht, 2. Kammer, mit Urteil vom 11. Juli 2007 abwies.
Mit Eingabe vom 11. September 2007 führt X. Beschwerde in Zivilsachen und beantragt dem Bundesgericht, das
Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass Y. nicht ihr Vater sei.
Y. (Beschwerdegegner) beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Z.
(Beschwerdegegnerin) hat sich nicht vernehmen lassen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
Auszug aus den Erwägungen:
Aus den Erwägungen:
5.
5.1 Das Obergericht hat die Klage der Beschwerdeführerin auf Anfechtung der Ehelichkeitsvermutung gemäss Art.
256 ZGB zu Recht abgewiesen. Damit bleibt der Beschwerdegegner der rechtliche Vater der Beschwerdeführerin.
Das Obergericht hat - mit Bezug auf die beantragte (blosse) Feststellung der Abstammung - geprüft, ob gestützt auf
Art. 8 EMRK ein grundrechtlicher Anspruch auf Kenntnis der eigenen Abstammung bestehe, welcher der
Beschwerdeführerin unabhängig von der Anfechtungsklage zustehe. Es hat unter Hinweis auf das Urteil des EGMR
i.S. Jäggi gegen Schweiz vom 13. Juli 2006 (VPB 70/2006 Nr. 116 S. 1894) anerkannt, dass die Beschwerdeführerin
ein gewichtiges Interesse habe, ihre leiblichen Eltern zu kennen. Die Vorinstanz hat sich im Rahmen einer Abwägung
der Interessen auf die Vorbringen des Beschwerdegegners gestützt, wonach er wegen seines hohen Alters (90
Jahre) nicht bereit sei, sich einer DNA-Untersuchung zu unterziehen und er "die Angelegenheit" auf sich ruhen
lassen wolle. Der Beschwerdegegner habe geltend gemacht, dass ihn die wissenschaftliche Gewissheit, die
Beschwerdeführerin sei nicht seine leibliche Tochter, psychisch zu stark belasten würde und der Arzt ihm die
Untersuchung wegen des Alters ausgeredet habe; er wolle damit nichts mehr zu tun haben, zumal "es ja als
erwiesen anzusehen sei". Gestützt auf diese Vorbringen hat die Vorinstanz geschlossen, dass sich der
Beschwerdegegner auf schwerwiegende Interessen berufe und sich aus gerechtfertigten Gründen gegen den Eingriff
in seine körperliche und psychische Integrität wehre. Die Beschwerdeführerin selber lässt offen, ob ein absoluter
Anspruch auf Kenntnis der eigenen,
BGE 134 III 241 S. 243
genetischen Abstammung bestehe. Sie beruft sich einzig auf die EMRK und rügt, dass die nach Art. 8 EMRK
vorzunehmende Interessenabwägung jedenfalls dazu führe, ihren Anspruch auf Kenntnis der eigenen Abstammung
zuzulassen.
5.2 Umstritten ist, ob und unter welchen Voraussetzungen die Beschwerdeführerin als volljähriges und eheliches
Kind Anspruch auf Kenntnis der eigenen Abstammung hat.
168
5.2.1 Nach dem Urteil des EGMR i.S. Jäggi (Ziff. 38 und 40) umfasst das Recht auf Achtung des Privatlebens
gemäss Art. 8 EMRK wichtige Aspekte der persönlichen Identität; zu diesen gehört die Kenntnis der eigenen
Abstammung, wobei das fortgeschrittene Alter einer Person deren Interesse an der Kenntnis der eigenen
Abstammung in keiner Weise verringert. Wer versucht, seine Abstammung zu erfahren, hat ein schwerwiegendes
und von der EMRK geschütztes Interesse daran, die hierfür verfügbaren Informationen zu erhalten.
Der EGMR geht im Urteil i.S. Jäggi (Ziff. 43) davon aus, dass die Regeln über die Zulässigkeit der
Vaterschaftsklage nicht als Argument zum Schutz der Rechtssicherheit genügen, um einem Kind das Recht auf
Kenntnis der eigenen (genetischen) Abstammung zu verweigern. Das Obergericht hat daher zu Recht geprüft, ob die
Beschwerdeführerin Anspruch auf Kenntnis der eigenen Abstammung hat, obwohl die Anfechtungsklage (gemäss
Art. 256c Abs. 2 und 3 ZGB) verwirkt ist. Weiter hat der EGMR anerkannt, dass bei der Beurteilung des Anspruchs
auf Kenntnis der eigenen Abstammung notwendig ist, die Rechte Dritter zu schützen; dies kann die Möglichkeit,
jemanden zu einer medizinischen Analyse wie einem DNA-Test zu zwingen, ausschliessen (Ziff. 38 im Urteil i.S.
Jäggi ; in Bestätigung des Urteils des EGMR i.S. Mikulic gegen Kroatien vom 7. Februar 2002, Ziff 64; vgl.
SAMANTHA BESSON, Das Grundrecht auf Kenntnis der eigenen Abstammung, ZSR 124/2005 I S. 58). Das
Obergericht hat diese Rechtsprechung, wonach Interessen Dritter vorbehalten sind, nicht verletzt, wenn es eine
konkrete Interessenabwägung vorgenommen hat (Ziff. 37 und 38 im Urteil i.S. Jäggi ; REGINA E. Aebi-Müller, EGMR
-Entscheid Jäggi c. Suisse: Ein Meilenstein zum Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung?, Jusletter 2. Oktober
2006, Rz. 8).
5.2.2 In der schweizerischen Lehre ist anerkannt, dass das Wissen über die genetische Abstammung für den
Einzelnen auch
BGE 134 III 241 S. 244
unabhängig von einer rechtlichen Zuordnung von Bedeutung sein kann (vgl. REGINA E. AEBI-MÜLLER,
Abstammung und Kindesverhältnis - wo stehen wir heute?, in: Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 2007,
Zürich 2007, S. 129 ff.; AUDREY LEUBA/PHILIPPE MEIER/SUZETTE SANDOZ, Quelle famille pour le XXIème
siècle?, in: Rapports suisses présentés au XVIème Congrès international de droit comparé, Bd. I, Zürich 2002, S. 168;
SABRINA BURGAT/OLIVIER GUILLOD, Les actions tendant à la destruction du lien de la filiation, spécialement
l'action en désaveu de paternité, in: Bohnet [Hrsg.], Quelques actions en annulation, Neuenburg 2007, Ziff. 151, S.
48 f.). Das Bundesgericht hat bereits entschieden, dass der Anspruch, die leiblichen Eltern zu kennen, dem
volljährigen Adoptivkind von Verfassungs wegen unabhängig von einer Abwägung mit entgegenstehenden
Interessen zusteht und entsprechend unbedingt sei; es handelt sich um ein unverzichtbares und nicht verwirkbares
Recht (BGE 128 I 63 E. 5 S. 77 f.). Wenn das Recht auf Achtung des Privatlebens wichtige Aspekte der persönlichen
Identität einschliesslich der Kenntnis der eigenen, genetischen Abstammung gewährt, muss dieses Recht
grundsätzlich allen Kindern zustehen, also auch einem - wie der Beschwerdeführerin - in der Ehe geborenen Kind
(vgl. ANDREA BÜCHLER, Sag mir, wer die Eltern sind ... Konzeptionen rechtlicher Elternschaft im Spannungsfeld
genetischer Gewissheit und sozialer Geborgenheit, AJP 2004 S. 1183). Allerdings unterscheidet sich die Lage des
ehelichen (oder ausserehelichen) Kindes von derjenigen des Adoptivkindes: Es liegen keine Daten im
Zivilstandsregister oder bei Behörden vor, sondern diese müssen von den involvierten Personen eingebracht werden;
dies macht den Zugang zur Kenntnis nicht nur in praktischer Hinsicht, sondern wegen der rechtlich geschützten
Interessen der anderen Parteien auch in rechtlicher Hinsicht schwieriger (vgl. BESSON, a.a.O., S. 61 f.). Die
staatlichen Organe haben jedoch dafür zu sorgen, dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter
Privaten wirksam werden (Art. 35 Abs. 3 BV).
5.3 Zu prüfen ist, auf welche privatrechtliche Grundlage sich der Anspruch auf Kenntnis der eigenen Abstammung
stützen kann, wenn er unter Privaten geltend gemacht wird und wenn beteiligte Personen - wie der
Beschwerdegegner - sich weigern, für Abklärungen zur Verfügung zu stehen. Denn ohne Zustimmung der
betroffenen Person sind genetische Untersuchungen nur gestützt auf eine besondere gesetzliche Grundlage auf
Anordnung des Gerichts
BGE 134 III 241 S. 245
zulässig (Art. 5 Abs. 1 und Art. 32 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 8. Oktober 2004 über genetische
Untersuchungen beim Menschen [GUMG; SR 810.12]).
5.3.1 Der Anspruch auf Erforschung der eigenen Herkunft gehört nach allgemeiner Auffassung zum von Art. 28
ZGB gewährleisteten Schutz der Identität (MARIO M. PEDRAZZINI/NIKLAUS OBERHOLZER, Grundriss des
Personenrechts, 4. Aufl., Bern 1993, Ziff. 6.4.2.3.2, S. 136). Sodann entspringt aus der zwischen Eltern und Kindern
geltenden Beistandspflicht gemäss Art. 272 ZGB die Pflicht zur gegenseitigen Information, soweit diese zur Wahrung
schutzwürdiger Interessen erforderlich ist (INGEBORG SCHWENZER, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, 3.
Aufl. 2006, N. 5 zu Art. 272 ZGB). Auch wenn die Pflichten aus Art. 272 ZGB grundsätzlich nicht klagbar sind (vgl.
SCHWENZER, a.a.O., N. 9 zu Art. 272 ZGB), so ergibt sich aus dieser Leitbildnorm und einer grundrechtskonformen
Auslegung des privatrechtlichen Schutzes der Identität, dass sich das Kind zur Geltendmachung seines Anspruchs
auf Kenntnis der eigenen Abstammung auf das Persönlichkeitsrecht berufen kann (vgl. MÉLANIE BORD, Existe-t-il
un droit général d'accéder aux données relatives à ses origines?, in: Bord/Premand/Sandoz/Piotet [Hrsg.], Le droit à
la connaissance de ses origines, Genf 2006, S. 59; AEBI-MÜLLER, EGMR-Entscheid Jäggi, a.a.O., Rz. 6).
5.3.2 Für die Mitwirkungspflicht, aber auch die Aktiv- und Passivlegitimation im Rahmen der Durchsetzung des
Anspruchs ausserhalb einer im Gesetz vorgesehenen Statusklage ist die verfahrensrechtliche Grundlage zu klären.
169
Die Feststellung der Vaterschaft bildet Gegenstand einer Vorfrage in der Statusklage (BGE 79 II 253 E. 4 S. 259),
welche das Kindesverhältnis und damit ebenfalls die persönlichen Verhältnisse im Sinne von Art. 28 Abs. 1 ZGB
regelt (BGE 108 II 344 E. 1b S. 348). Vorliegend wird die Statusklage zusätzlich mit dem Antrag auf blosse
Feststellung der eigenen Abstammung verbunden, jedoch sind die Klagevoraussetzungen zur Statusklage nicht
gegeben. Da Gegenstand der Statusklagen ebenfalls die Aufklärung der Abstammung ist, erscheint aufgrund des
Sachzusammenhangs in verfahrensrechtlicher Hinsicht naheliegend, für die Durchsetzung des Anspruchs auf
Kenntnis der eigenen Abstammung die Mitwirkungspflicht für Statusklagen in analoger Weise anzuwenden, ohne
dass die Rechtswirkungen der Statusklage eintreten (in diesem Sinn ["Klage eigener Art"] VINCENT STAUFFER, Les
secrets et la détermination des liens biologiques entre
BGE 134 III 241 S. 246
individus par des tests génétiques, in: Zen-Ruffinen [Hrsg.], Les secrets et le droit, Genf 2004, S. 184; JEANINE DE
VRIES REILINGH, Le droit fondamental de l'enfant à connaître son ascendance, AJP 2003 S. 371; a.M. wohl
PHILIPPE MEIER/MARTIN STETTLER, Droit de la filiation, Bd. I, 3. Aufl., Genf 2005, Rz. 383 f.:
persönlichkeitsrechtliche Klage). Die analoge Anwendung von Art. 254 Ziff. 2 ZGB bei Anfechtung der
Ehelichkeitsvermutung bedeutet, dass die Beschwerdeführerin den Auskunftsanspruch zu Recht gegen die Mutter
und den als Vater vermuteten Ehemann richtet und die Parteien und Dritte an Untersuchungen mitzuwirken haben,
die zur Aufklärung der Abstammung nötig sind, und ohne Gefahr für die Gesundheit sind (vgl. BGE 112 Ia 248 E. 3
S. 249; Urteil 5P.466/2001 vom 20. Februar 2002, E. 5c, zusammengefasst in: Zeitschrift für Datenrecht und
Informationssicherheit [digma] 2002 S. 91).
5.4 Bleibt zu prüfen, ob dem persönlichkeitsrechtlichen Interesse der Beschwerdeführerin auf Kenntnis der eigenen
Abstammung ein überwiegendes Interesse des Persönlichkeitsschutzes der Eltern entgegensteht (vgl. Art. 28 Abs. 2
ZGB).
5.4.1 Vorliegend steht ausser Frage, dass die Beschwerdeführerin hinreichenden Anlass hat, um ihren Anspruch
auf Kenntnis der eigenen Abstammung geltend zu machen; es gibt keinen Hinweis, dass die Durchsetzung auf
blosser persönlicher Animosität gründen würde (vgl. MEIER/STETTLER, a.a.O., Rz. 384 und Fn. 732). Die
Beschwerdeführerin ist volljährig, weshalb Interessen, welche ein Minderjähriger an einem festen familiären
Identifikationsgefüge hat und welche der Untersuchung zur Klärung der Frage, ob der soziale bzw. rechtliche Vater
auch sein genetischer Vater ist, entgegenstehen (vgl. Art. 268c Abs. 1 ZGB), nicht zu erörtern sind.
5.4.2 Der Beschwerdegegner hat wohl ein Interesse, dass die biologische Vaterschaft nicht überprüft wird; denn er
könnte das Kind seiner Ehegattin als sein eigenes erzogen haben. Der Einwand des Beschwerdegegners, er wolle
wegen seines hohen Alters mit der Sache nichts zu tun haben und die allfällige Gewissheit, dass er nicht der leibliche
Vater sei, vermögen indessen das grundsätzlich hoch einzustufende Interesse der Beschwerdeführerin an der
Kenntnis der eigenen Abstammung nicht zurückzudrängen, zumal er sich offenbar selber bereits damit abgefunden
hat, dass "es ja erwiesen sei", mithin er wohl nicht der leibliche Vater sei. Unter diesen Umständen ist nicht
gerechtfertigt, von der Beschwerdeführerin zu
BGE 134 III 241 S. 247
verlangen, ein existenzielles Aufklärungsbedürfnis, welches durch die Sicherheit über die Abstammung behoben
werden kann, näher darzulegen (Urteil i.S. Jäggi, Ziff. 40). Insoweit ist kein gewichtiger Grund ersichtlich, welcher
den Beschwerdegegner in seinen persönlichen Rechten ernsthaft berühren würde.
5.4.3 Bei der Entnahme eines Wangenschleimhautabstriches sowie bei der Blutentnahme handelt es sich um
leichte Eingriffe in das Recht auf körperliche Integrität, wenn keine aussergewöhnlichen gesundheitlichen Risiken
bestehen (BGE 124 I 80 E. 2d S. 82; BGE 128 II 259 E. 3.3 S. 269). Vorliegend besteht kein Anhaltspunkt, dass die
Durchführung des Tests die Gesundheit des 90-jährigen Beschwerdegegners beeinträchtigen könnte und daher
unverhältnismässig sei. Im Weiteren hat die Beschwerdegegnerin (als Mutter) keine Interessen geltend gemacht,
welche dem Anspruch ihres Kindes auf Klärung der Abstammung entgegenstehen könnten. Die Beschwerdeführerin
rügt daher zu Recht, dass die vorinstanzliche Interessenabwägung nicht haltbar ist. Ihr Anspruch auf Kenntnis der
eigenen Abstammung ist zu ihrem Schutz gerechtfertigt; die Durchsetzung ist zumutbar und unter dem Blickwinkel
des Verhältnismässigkeitsprinzips nicht zu beanstanden.
5.5 Nach dem Dargelegten ist die Beschwerde insoweit begründet und gutzuheissen, als der Beschwerdeführerin
der Anspruch auf Auskunft zur Feststellung der eigenen Abstammung verweigert wurde. In diesem Punkt ist die
Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie gegenüber den Mitwirkungspflichtigen die Anordnungen zur
Durchsetzung des Anspruchs treffe, zumal die Regelung des Verfahrens und die zur Duldungspflicht erforderlichen
Zwangsmittel grundsätzlich vom kantonalen Recht bestimmt werden (vgl. MEIER/STETTLER, a.a.O., Rz. 215; Urteil
5P.444/2004 vom 2. Mai 2005, E. 3.3, FamPra.ch 2005 S. 944 f.).
170
Urteilskopf
135 III 80
11. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. und Y. gegen Sozialbehörde Z., Vormundschaft
(Beschwerde in Zivilsachen)
5A_215/2008 vom 24. Oktober 2008
Regeste
Art. 264 und 268a ZGB; Adoption eines verwandten Kindes.
Die Adoption eines Neffen, welcher dem kinderlosen Ehepaar überlassen wird, entspricht in der Regel nicht dem
Wohl des Kindes. Voraussetzungen zur Verweigerung der Adoption im Fall eines bewilligten Pflegeverhältnisses (E.
2 und 3).
Sachverhalt ab Seite 81
BGE 135 III 80 S. 81
X. und Y. waren in den Jahren 1992 bis 1995 und sind seit dem Jahre 2002 wieder verheiratet. Seither leben sie
zusammen in der Schweiz. Der Ehemann ist seit dem Jahre 1991 (zunächst als Saisonnier) in der Schweiz wohnhaft.
Die Ehegatten sind albanischer Abstammung und lebten vor ihrer Übersiedlung in die Schweiz in SerbienMontenegro. Die Ehe blieb kinderlos.
B. ist der Bruder von X. und lebt mit seiner Ehefrau C. in D., Republik Serbien. Dieses Ehepaar hat vier Kinder
(geboren 1998, 2000, 2002 und 2003). Als die Ehefrau das fünfte Kind erwartete, kamen die beiden Ehepaare
überein, dieses Kind, F. (geboren 2003), dem kinderlosen Ehepaar zu überlassen.
In der Folge ersuchten X. und Y. im Hinblick auf eine Adoption um eine Pflegeplatzbewilligung für F. Mit Verfügung
vom 31. Mai 2005 erteilte das Amt für Jugend und Berufsberatung des Kantons Zürich, Zentralbehörde Adoption, die
definitive Bewilligung, das Kind F. aus Serbien-Montenegro zwecks späterer Adoption aufzunehmen. Zwei Monate
später reiste das Kind in die Schweiz ein und lebt seither bei seinen Pflegeeltern.
Am 7. Juni 2006 beantragten X. und Y. die Adoption ihres Pflegesohnes F.; ebenso schloss die Vormündin des
Kindes auf Adoption. Mit Beschluss vom 5. Oktober 2006 überprüfte die Sozialbehörde Z. als
Vormundschaftsbehörde die formellen Voraussetzungen zur Adoption und stimmte dem Adoptionsgesuch zu; sie
beantragte dem Bezirksrat Hinwil als Aufsichtsbehörde, der Adoption gemäss Art. 422 Ziff. 1 ZGB zuzustimmen und
diese gemäss Art. 268 ZGB auszusprechen.
Der Bezirksrat Hinwil verweigerte mit Beschluss vom 8. Februar 2007 die Zustimmung zum Adoptionsgesuch und
sprach die Adoption nicht aus. Gegen diesen Beschluss gelangten X. und Y. an das Obergericht des Kantonsgerichts
Zürich, II. Zivilkammer, welches den Rekurs mit Beschluss vom 22. Mai 2007 abwies und den Beschluss des
Bezirksrates bestätigte.
Mit Eingabe vom 7. April 2008 führen X. und Y. Beschwerde in Zivilsachen. Die Beschwerdeführer beantragen dem
Bundesgericht, den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich vom 22. Mai
BGE 135 III 80 S. 82
2007 aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventuell sei die
Adoption des Kindes F. durch die Beschwerdeführer zu bewilligen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Auszug aus den Erwägungen:
Aus den Erwägungen:
2.
2.1 Das Obergericht hat im Wesentlichen erwogen, dass der zu adoptierende F. eine intakte Familie mit
Geschwistern in Serbien habe. Die leiblichen Eltern von F. wollten ihr rechtliches Eltern-Kind-Verhältnis allein
deshalb aufgeben, um dem Bruder bzw. der Schwägerin (den Beschwerdeführern) mit diesem Neffen das Erlebnis
der Elternschaft zu ermöglichen. Es liege keine soziale Elternlosigkeit des Kindes vor. Zudem bestehe ein
erhebliches Risiko, dass das Kind in eine Identitätskrise bzw. einen Zwiespalt zwischen seinen Adoptiveltern und den
leiblichen Eltern bzw. Geschwistern gerate, zumal die Familien in Kontakt stünden. Das Kind lebe zwar seit rund 13/4
Jahren bei den Pflegeeltern (den Beschwerdeführern). Eine Rückkehr zu den leiblichen Eltern sei wohl ein
erheblicher Eingriff, jedoch sei längerfristig keine ernsthafte Beeinträchtigung des Kindeswohls zu befürchten. Der
Familienwechsel sei nicht gerechtfertigt und die Zustimmung zur Adoption bzw. deren Aussprechung vom Bezirksrat
zu Recht verweigert worden.
171
2.2 Die Beschwerdeführer machen im Wesentlichen geltend, dass ihnen die kantonale Zentralbehörde im Mai 2005
gestützt auf die massgebenden Bestimmungen die definitive Aufnahme des Kindes zur Adoption bewilligt habe. Die
Prüfung des Kindeswohls sei bei der Erteilung der Adoptionspflegebewilligung bereits erfolgt. Am Verlauf des
Pflegeverhältnisses werde nichts ausgesetzt, so dass die Verweigerung der Adoption nicht gerechtfertigt und nicht im
Kindesinteresse sei. Dass es sich beim Kind, das sie zur Adoption aufgenommen hätten, um den Neffen handelt, sei
bereits bei Erteilung der Aufnahmebewilligung klar gewesen. Als Pflegeeltern hätten sie darauf vertrauen dürfen,
dass die Adoption bewilligt werde, wenn sie sich gut um das Kind kümmern würden. Die Vorinstanz habe ohne
Beizug eines Sachverständigen angenommen, dass es für das Wohl des Kindes nachteilig sei, wenn es von den
Beschwerdeführern adoptiert würde. Handelte es sich beim Kind F. um einen Ausnahmefall, der die
Adoptionsverweigerung rechtfertigen würde, müsste dies durch weitere Abklärungen bzw. eine sachverständige
BGE 135 III 80 S. 83
Person festgestellt werden. Im Weiteren hätten die leiblichen Eltern bewusst auf die soziale Verwurzelung des
Kindes in der eigenen Familie bzw. die Elternschaft verzichtet. Missbrauch der Adoption liege nicht vor, sondern
lediglich eine Art der Freigabe eines Kindes, welche für schweizerische Verhältnisse unüblich sei, was aber nicht zur
Verweigerung der Adoption führen könne. Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung von Art. 264 ZGB
(Allgemeine Voraussetzungen zur Adoption) und Art. 268a ZGB (Untersuchung des Sachverhalts) und weiter einen
Verstoss gegen verschiedene Verfassungsbestimmungen (Art. 8, 9 und 29 BV).
3. Anlass zur Beschwerde gibt die Verweigerung der Adoption. Es steht fest, dass mit Verfügung vom 31. Mai 2005
das Amt für Jugend und Berufsberatung des Kantons Zürich, Zentralbehörde Adoption, die definitive
Adoptionspflegebewilligung für das aus Serbien stammende Kind F. erteilt hat, und dass die Entwicklung des
Adoptionspflegeverhältnisses zu keinerlei Bemerkungen Anlass gibt. Aus dem Entscheid des Bezirksrates geht
hervor, dass sich die Beschwerdeführer liebevoll um F. kümmern. Umstritten ist, ob die Voraussetzungen gegeben
sind, um die Adoption auszusprechen.
3.1 Im vorliegenden internationalen Verhältnis (Art. 1 Abs. 1 IPRG [SR 291]) haben die zuständigen kantonalen
Instanzen auf die Adoption und ihre Voraussetzungen zu Recht schweizerisches Recht angewendet (Art. 75 Abs. 1,
Art. 77 Abs. 1 IPRG). Das Haager Übereinkommen vom 29. Mai 1993 über den Schutz von Kindern und die
Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Internationalen Adoption (SR 0.211.221.311; im Folgenden: HAÜ) regelt durch
ein System der internationalen Zusammenarbeit die geordnete grenzüberschreitende Adoption von Kindern,
bestimmt aber nicht das für die Adoption massgebende Recht (Botschaft vom 19. Mai 1999 zum HAÜ und
Bundesgesetz zum HAÜ, BBl 1999 5806 f.); zudem ist nur die Schweiz, nicht aber Serbien Vertragsstaat.
3.2 Gemäss Art. 264 ZGB darf ein Kind adoptiert werden, wenn nach den gesamten Umständen zu erwarten ist,
die Adoption diene seinem Wohl (BGE 107 II 18 E. 4 S. 20). Dies trifft zu, wenn die Voraussetzungen für eine gute
Entwicklung seiner Persönlichkeit verbessert werden. Zu berücksichtigen sind dabei die Begründung eines
Kindesverhältnisses mit den Adoptiveltern und die Aufhebung des bisherigen Kindesverhältnisses zu den leiblichen
Eltern (HEGNAUER/BREITSCHMID, Grundriss des Kindesrechts [...], 5. Aufl.
BGE 135 III 80 S. 84
1999, S. 82 Rz. 11.03). Art. 264 ZGB bestimmt weiter, dass das Kind nur adoptiert werden darf, wenn die
Adoptiveltern ihm während wenigstens eines Jahres Pflege und Erziehung erwiesen haben. Die Adoption darf erst
nach umfassender Untersuchung aller wesentlichen Umstände, nötigenfalls unter Beizug von Sachverständigen,
ausgesprochen werden (Art. 268a Abs. 1 ZGB).
3.3 Das Obergericht hat zu Recht angenommen, dass der kulturelle Aspekt, einem kinderlosen Ehepaar durch die
Überlassung des Neffen den Wunsch nach einem Kind zu erfüllen, nicht entscheidend ist. Das schweizerische
Institut der Adoption ist ausschliesslich auf die Bedürfnisse des Kindes ausgerichtet, welches sich ungeachtet der
Herkunft des Kindes nach den hiesigen Vorstellungen richtet (Urteil 5A.35/2004 vom 4. Februar 2005 E. 4, in:
Fampra.ch 2005 S. 948 f.). Weiter ist das Obergericht zu Recht davon ausgegangen, dass das Kindeswohl auch für
die Würdigung ausserordentlicher Umstände, wie sie vorliegen, wenn ein verwandtes Kind - der Neffe - adoptiert
werden soll, massgebend ist (BGE 119 II 1 E. 3 S. 2, betreffend Enkelkind; HEGNAUER/BREITSCHMID, a.a.O., S.
82 Rz. 11.03). Eine derartige Adoption ist mit besonderen Risiken behaftet (vgl. LAMMERANT, L'adoption et les
droits de l'homme en droit comparé, Brüssel 2001, S. 238 Rz. 195). Das Bundesgericht hat im bereits erwähnten
Urteil aus dem Jahre 2005 die Bewilligung zum Adoptionspflegeverhältnis in einem Fall verweigert, in welchem es
um einen Neffen ging, dessen Eltern das Kind dem nahe wohnenden kinderlosen Ehepaar überlassen wollten, weil
derartige Verhältnisse einer vollständigen Integration des Kindes in die Adoptionsfamilie hinderlich und damit mit dem
Grundgedanken der Adoption unvereinbar seien (Urteil 5A.35/2004 vom 4. Februar 2005 E. 4.2, in: Fampra.ch 2005
S. 949). Auf dieses Urteil stützt sich auch das Obergericht. Allerdings geht es vorliegend - anders als in jenem Urteil nicht um die Bewilligung zum Adoptionspflegeverhältnis, sondern um die Bewilligung der Adoption nach erfolgreich
verlaufendem Pflegeverhältnis. Zu prüfen ist im Folgenden, ob das Obergericht - wie die Beschwerdeführer rügen die Tragweite dieses Pflegeverhältnisses verkannt habe, wenn es die Adoption als nicht im Interesse von F. erachtet
und diese verweigert hat.
3.3.1 Der Verlauf des Pflegeverhältnisses erlaubt zu beurteilen, ob die Adoption dem Wohl des Kindes dient; das
erfolgreiche Pflegeverhältnis bildet eine selbständige Rechtfertigung der Adoption (BGE 125 III 161 E. 3a S. 162;
BGE 126 III 412 E. 2a S. 413; HEGNAUER,
172
BGE 135 III 80 S. 85
Berner Kommentar, 4. Aufl. 1984, N. 28 zu Art. 264 ZGB; MEIER/STETTLER, Droit de la filiation, Bd. I, 3. Aufl.
2005, Rz. 305). Es ist anerkannt, dass für das Gelingen der Adoption die Auswahl der künftigen Adoptiveltern vor der
Platzierung des Kindes entscheidend ist (vgl. Ziff. 111 des Kreisschreibens des Bundesrates vom 21. Dezember
1988 an die Aufsichtsbehörden über das Pflegekinderwesen und die Adoptionsvermittlung, BBl 1989 I 4). Vor diesem
Hintergrund sind die neuen Bestimmungen der Verordnung vom 19. Oktober 1977 über die Aufnahme von Kindern
zur Pflege und zur Adoption (PAVO; SR 211.222.338) zu sehen, welche die Aufnahme eines Kindes zur Adoption
regeln (Art. 11a-j PAVO) und gestützt auf Art. 26 des Bundesgesetzes vom 22. Juni 2001 zum Haager
Adoptionsübereinkommen und über Massnahmen zum Schutz des Kindes bei internationalen Adoptionen (BG-HAÜ;
SR 211.221.31) erlassen wurden. Sie stützen sich auf die Erfahrung, dass sich während eines Pflegeverhältnisses so
starke Bindungen des Kindes an seine Pflegefamilie ergeben, dass eine Umplatzierung oder Rückkehr nur noch in
ganz seltenen Fällen in seinem Interesse liegt (MEIER/STETTLER, a.a.O., Rz. 309), weshalb eine Verweigerung der
Adoption höchstens in krassen Fällen in Frage kommt (BBl 1999 5802; vgl. Kreisschreiben, a.a.O.).
3.3.2 Vorliegend geht es um die Trennung des (im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Urteils) über 3 1/2jährigen Kindes von seinen faktischen Eltern, bei denen es seit dem Alter von 18 Monaten lebt. Anerkannt ist, dass in
Fällen, in denen die rechtliche Anerkennung verweigert wird und das Kind von seinen Pflegeeltern getrennt wird, das
Pflegekind auf die Unterbrechung seiner Gefühlsbindung mit Trauer und mit Rückschritten in seiner Entwicklung
antwortet, nicht anders als auf den Verlust von den natürlichen Eltern durch Trennung oder Tod
(GOLDSTEIN/FREUD/SOLNIT, Jenseits des Kindeswohls, Frankfurt 1991, S. 30). Die Vorinstanz hat angenommen,
dass nicht zu befürchten sei, dass bei einer Rückkehr von F. in die ursprüngliche Familie "das Wohl längerfristig
ernsthaft beeinträchtigt wird", und dass "angesichts seines noch relativ jungen Alters und der zwar erheblichen, aber
nicht sehr langen Dauer des Aufenthalts bei den Pflegeeltern wohl kaum unüberwindliche Hindernisse für eine
Reintegration in die ursprüngliche Familie bestehen". Im angefochtenen Urteil wird jedoch nicht ausgeführt, aus
welchen Erkenntnissen diese vagen Schlussfolgerungen gezogen werden, zumal kein Gutachten zu den möglichen
Folgen
BGE 135 III 80 S. 86
der Trennung von F. von seinen faktischen Eltern in den Akten liegt. Das Obergericht hat im Weiteren nicht
berücksichtigt, dass F. vor seiner Einreise in die Schweiz offenbar von seiner Grossmutter und nicht von seinen
leiblichen Eltern betreut wurde und bereits während dieser Phase die (künftigen) Pflegeeltern mehrere Monate mit
dem Kind im Herkunftsland verbrachten. Die Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Entscheid erlauben den
Schluss nicht, dass die Verweigerung der rechtlichen Anerkennung der gewachsenen faktischen Eltern-KindBeziehung mehr im Interesse des Kindes sei als die Adoption. Weiter hat das Obergericht erwogen, dass F.
Rückkehr und Aufnahme in einer "intakten" Familie finden werde. Hinweise über die tatsächliche Situation und die
Aufnahmebereitschaft der Ursprungsfamilie fehlen jedoch im angefochtenen Entscheid. Selbst wenn die
Verweigerung der Adoption nicht zwangsläufig die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern zur Folge hat, ist
der Status eines Pflegekindes in verschiedener Hinsicht nachteilig (vgl. BBl 1999 5803 ff.) und nicht mit demjenigen
eines adoptierten Kindes zu vergleichen, was bei der Interessenabwägung des Obergerichts im konkreten Fall nicht
berücksichtigt worden ist. Schliesslich fehlt vorliegend jeder Hinweis auf die Abklärung, ob im Herkunftsstaat die
Adoption ausgesprochen wurde bzw. ob F. mit seiner Ursprungsfamilie noch rechtlich verbunden ist (vgl. BUCHER,
La nouvelle Convention de La Haye relative à l'adoption internationale, ZVW 1994 S. 111). Insoweit liegt keine
hinreichende Abklärung der Umstände in Bezug auf die Interessenlage des Kindes vor (Art. 268a ZGB).
3.3.3 Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt. Die Adoptionspflegebewilligung wird nur erteilt, wenn - nach
Untersuchungen der von Gesetzes wegen zuständigen einzigen kantonalen Behörde (Art. 316 Abs. 1bis ZGB) keine rechtlichen Hindernisse entgegenstehen und die gesamten Umstände, namentlich die Beweggründe der
künftigen Adoptiveltern erwarten lassen, dass die Adoption dem Wohl des Kindes dient (Art. 11b Abs. 1 lit. b
PAVO). Die Adoptionspflegebewilligung ist daher geeignet, Vertrauen zu schaffen. Die Voraussetzungen, die zu
deren Erteilung erfüllt sein müssen, sollen zur Herstellung der gewünschten Dauerbeziehung ermutigen und
möglichst vermeiden, dass die zukünftigen Adoptiveltern das Kind während der Adoptionspflegezeit als "auf Probe"
behandeln (vgl. GOLDSTEIN/FREUD/SOLNIT, a.a.O., S. 36 f.). Auch vor diesem Hintergrund soll die Adoption nicht
ohne Not gestützt auf
BGE 135 III 80 S. 87
Tatsachen verweigert werden, die beim Erteilen der Adoptionspflegebewilligung der kantonalen Behörde bekannt
waren, es sei denn, die Verhältnisse hätten sich in einer Weise gewandelt, welche die Adoption mit dem Kindeswohl
nicht mehr vereinbaren lässt. Die vom Obergericht erwähnten möglichen Nachteile, dass F. später einmal von einer
Identitätskrise heimgesucht werden könnte, können nicht in Abrede gestellt werden. Diese Nachteile sind jedoch
denjenigen gegenüberzustellen, die mit der Trennung des Kindes von seinen faktischen Eltern verbunden sind, oder
die - im Fall, dass F. bei seinen Pflegeeltern bleiben würde - auftreten können, wenn er später erkennen muss, dass
seine faktischen Eltern weder seine leiblichen noch Adoptiveltern sind und er insoweit "elternlos" ist. Auch vor diesem
Hintergrund mangelt es an einer hinreichenden Abklärung der Umstände (Art. 268a ZGB).
3.4 Nach dem Dargelegten ergibt sich, dass die vorliegende Untersuchung nicht alle für die Adoption wesentlichen
Umstände erfasst hat und die Prüfung des Kindeswohls dem in Art. 268a ZGB festgelegten Untersuchungsgrundsatz
nicht genügt. Die Beschwerde ist begründet, und die Sache ist zu weiteren Abklärungen, allenfalls unter Beizug von
173
Sachverständigen, und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei diesem Ergebnis erübrigt sich,
die angebliche Verletzung von verschiedenen Verfassungsbestimmungen zu erörtern, zumal die Vorbringen in der
Beschwerdeschrift im Wesentlichen auf den Vorwurf einer Verletzung der adoptionsrechtlichen Bestimmungen
hinauslaufen.
174
Familienrecht – 136 III 423
423
III. FAMILIENRECHT
DROIT DE LA FAMILLE
DIRITTO DI FAMIGLIA
61. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S.
X. und Y. gegen Z. (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_198/2010 vom 23. August 2010
Art. 264 ZGB; Adoption Unmündiger.
Voraussetzungen zur Adoption eines Kindes durch seine Grosseltern (E. 3).
Art. 264 CC; adoption de mineurs.
Conditions de l'adoption d'un enfant par ses grands-parents (consid. 3).
Art. 264 CC; adozione di minori.
Presupposti per l'adozione di un minorenne da parte dei nonni (consid. 3).
A.
A.a A. wurde am 24. Januar 2000 als eheliches Kind von Z. und
B. geboren. Die Eltern trennten sich ein halbes Jahr nach der Geburt und wurden mit Urteil des Gerichtskreises II Biel-Nidau vom
19. September 2006 geschieden. Dabei wurde die elterliche Sorge
der Mutter (geboren 1982) zugesprochen; der Vater verzichtete gemäss Scheidungskonvention auf ein Besuchsrecht, währenddem die
Mutter keine Unterhaltsansprüche stellte. Seit der Trennung seiner
Eltern wuchs A. bei den Grosseltern mütterlicherseits, X. und Y.
(geboren 1939 bzw. 1948), auf, die vollumfänglich für seine Pflege
und Erziehung sorgen. Das seit mehreren Jahren dauernde Pflegeverhältnis hat nie zu Beanstandungen Anlass gegeben. Die Mutter
von A. wechselte nach der Trennung mehrmals den Wohnort. Im
Jahre 2006 unternahm sie einen Selbstmordversuch; in der Folge
konnte sie mit Hilfe ihrer Eltern in deren Nähe ziehen und eine Lehre im elterlichen Unternehmen machen.
A.b Am 4. Mai 2007 stellten X. und Y. bei der Justiz-, Gemeindeund Kirchendirektion des Kantons Bern (nachfolgend: JGK) das Gesuch um Adoption ihres Enkels A. Zur Begründung trugen sie vor,
dass A. seit der Trennung seiner Eltern bei ihnen aufgewachsen sei
und sie für ihn seither wie ein eigenes Kind gesorgt hätten. Die El-
175
424
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
tern von A. erteilten die Zustimmung zur Adoption. In der Folge (gestützt auf ein Rechtsmittelverfahren) wurde A. durch eine Fachperson angehört und eine Stellungnahme der weiteren leiblichen Kinder
der Gesuchsteller eingeholt. Mit Entscheid vom 16. November 2009
wies die JGK das Adoptionsgesuch ab.
B. Gegen den Entscheid der JGK appellierten X. und Y. Mit Entscheid vom 8. Februar 2010 wies das Obergericht des Kantons Bern
(Appellationshof, 2. Zivilkammer) die Appellation und das Adoptionsgesuch ab.
C. X. und Y. führen mit Eingabe vom 17. März 2010 Beschwerde in
Zivilsachen. Die Beschwerdeführer 1 und 2 beantragen dem Bundesgericht, den obergerichtlichen Entscheid aufzuheben und die
Adoption ihres Enkels A. zu bewilligen. Eventuell sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an
die Vorinstanz zurückzuweisen. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde in Zivilsachen ab.
(Auszug)
Aus den Erwägungen:
3. Anlass zur Beschwerde gibt die Verweigerung der Adoption des
Kindes A. durch seine Grosseltern bzw. die Beschwerdeführer. Nach
Art. 264 ZGB darf ein Kind adoptiert werden, wenn ihm die künftigen Adoptiveltern während wenigstens eines Jahres Pflege und Erziehung erwiesen haben und nach den gesamten Umständen zu erwarten ist, die Begründung eines Kindesverhältnisses diene seinem
Wohl, ohne andere Kinder der Adoptiveltern in unbilliger Weise
zurückzusetzen. Vorliegend steht fest, dass die Beschwerdeführer
dem Kind bereits während mehrerer Jahre klaglose Pflege und Erziehung erwiesen haben, die anderen leiblichen Kinder der Beschwerdeführer (d.h. nebst der Mutter des Kindes eine weitere Tochter und
zwei Söhne) das Adoptionsgesuch unterstützen und die leiblichen
Eltern des Kindes mit der Adoption einverstanden sind. Die beschwerdeführenden Grosseltern werfen der Vorinstanz im Wesentlichen vor, die Adoption zu Unrecht mit dem Argument verweigert
zu haben, dass der Altersunterschied zu A. zu gross sei und die leibliche Mutter eine sozial-psychische Bindung zum Kind habe.
3.1 Zu Recht haben die kantonalen Instanzen angenommen, dass die
Adoption eines Kindes durch seine Grosseltern erlaubt ist. Bei der
Adoption eines verwandten Kindes liegen allerdings ausserordent-
176
Familienrecht – 136 III 423
425
liche Umstände vor. Für deren Würdigung ist ausschliesslich das
Kindeswohl massgebend (BGE 135 III 80 E. 3.3 S. 84), und ein entsprechendes Adoptionsgesuch ist mit besonderer Aufmerksamkeit
zu prüfen (BGE 119 II 1 E. 3b S. 3; MEIER/STETTLER, Droit de la filiation, 4. Aufl. 2009, Rz. 273 S. 135). Es ist anerkannt, dass eine derartige Adoption mit besonderen Risiken behaftet ist (vgl. LAMMERANT, L'adoption et les droits de l'homme en droit comparé, Brüssel
2001, S. 238 Rz. 195). Das Bundesgericht schreitet mit Bezug auf
die Würdigung des Kindeswohls (vgl. Art. 4 ZGB) durch die kantonalen Instanzen nur dann ein, wenn grundlos von den in Lehre und
Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen abgegangen wird, wenn
Tatsachen berücksichtigt werden, die keine Rolle hätten spielen dürfen, oder wenn umgekehrt Umstände ausser Betracht geblieben sind,
die hätten beachtet werden müssen (Urteil 5A_619/2008 vom 16. Dezember 2008 E. 5.1, in: FamPra.ch 2009 S. 499; vgl. BGE 126 III 223
E. 4a S. 227/228).
3.2 Die Beschwerdeführer machen geltend, die Vorinstanz habe unrichtig bzw. unzureichend berücksichtigt, dass die Kindsmutter von
ihren Eltern (den Beschwerdeführern) abhängig und nach wie vor
nicht in der Lage sei, für das Kind "zu sorgen" oder die "Erziehung
zu übernehmen"; sie verfüge nicht über die "charakterlichen Voraussetzungen zur Erziehung", sondern lebe in einer unstabilen Lebenssituation, welche unter anderem im Jahre 2006 zu einem Selbstmordversuch geführt habe. Sodann sei "erstaunlich", dass sich das
Gemeinwesen der Adoption widersetzen könne, obwohl alle Beteiligten – gerade auch die Mutter – mit der Adoption einverstanden
seien. Diese Vorbringen sind unbehelflich. Vorliegend geht es nicht
um die Erziehungsfähigkeiten der Mutter. Sie wird in der Ausübung
ihrer elterlichen Sorge seit langem durch die Beschwerdeführer als
Pflegeeltern vertreten (vgl. Art. 300 ZGB). Es ist auch nicht über
die Entziehung der elterlichen Sorge von der Mutter von A. (vgl.
Art. 311 und Art. 312 ZGB) und die Übertragung auf die Grosseltern (vgl. zum Vorrecht der Verwandten Art. 380 ZGB) zu entscheiden. Diese Massnahmen bleiben bis zur Mündigkeit von A. möglich.
Wenn die Beschwerdeführer geltend machen, A. müsste "im Heim
aufwachsen", wenn sie als Grosseltern nicht für ihn sorgen würden,
so blenden sie aus, dass mit der Adoption die rechtliche Beziehung
zu seiner leiblichen Mutter gerade endgültig aufgehoben wird. Ebenso wenig kann der grosse Einsatz der Grosseltern – wie sie ausführen – eine "Legitimierung" für die Adoption darstellen. Dieser liegt
177
426
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
zwar im Interesse des Kindes und kann (wie beschrieben) zu familienrechtlichen Massnahmen führen. Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang aber allein, ob es im Interesse des Kindes liegt,
das rechtliche Band zu den leiblichen Eltern zu durchtrennen und
durch ein solches zu den Grosseltern zu ersetzen (vgl. HEGNAUER,
Berner Kommentar, 3. Aufl. 1964, N. 15 zu Art. 264 ZGB).
3.3 Einem Adoptionsgesuch der Grosseltern ist in der Regel nicht
zu entsprechen, wenn die leibliche Mutter bzw. der leibliche Vater
im Haushalt der Grosseltern oder in deren Nähe wohnt und sie oft
besucht (BGE 119 II 1 E. 4b S. 4). Der Abbruch persönlicher Beziehungen ist zwar keine förmliche Adoptionsvoraussetzung (BIDERBOST, in: Handkommentar zum Schweizerischen Privatrecht, 2007,
N. 17 zu Art. 264 ZGB), aber eine Familiengemeinschaft, in der die
leiblichen Eltern auch nach der Adoption ihres Kindes tatsächlich
dessen Entwicklung mitverfolgen können, ist in hohem Masse konfliktgefährdet (FRANK, Grenzen der Adoption, Rechtsvergleichende
Untersuchung zur Schutzbedürftigkeit faktischer Eltern-Kind-Verhältnisse, 1978, S. 136; MEULDERS-KLEIN, Le printemps des grandsparents et le droit, in: Mélanges Grossen, 1992, S. 178). Das Bundesgericht hat – gestützt auf die in BGE 119 II 1 ff. festgelegten Grundsätze – in einem Urteil aus dem Jahre 1998 betreffend eine Enkeladoption betont, dass die Qualifikation der bestehenden Beziehung
(partnerschaftlich, autoritär, etc.) zwischen dem zu Adoptierenden
und seiner Mutter nicht ausschlaggebend sei (Urteil 5C.146/1998
vom 27. Juli 1998 E. 4). Ebenso wurden die Adoption eines Bruders
(Urteil 5A_619/2008 vom 16. Dezember 2008 E. 5.3, in: FamPra.ch
2009 S. 500) oder die Bewilligung des Adoptionspflegeverhältnisses für einen Neffen verweigert (Urteil 5A.35/2004 vom 4. Februar
2005 E. 4.2, in: FamPra.ch 2005 S. 949), weil ein Bestehen bzw.
Fortdauern wesentlicher Beziehungen zu den leiblichen Eltern bzw.
zu einem Elternteil feststanden.
3.3.1 Im angefochtenen Urteil wird nichts über das Bestehen einer
Beziehung von A. zu seinem leiblichen Vater erwähnt. Nach den
Ausführungen der Beschwerdeführer sollen keine entsprechenden
persönlichen Beziehungen bestehen und gehe aus den Akten hervor, dass die leibliche Mutter keine Mutter-Kind-Beziehung aufgebaut habe. Was die Beziehung zwischen A. und seiner Mutter anbelangt, so hat das Obergericht – für das Bundesgericht verbindlich –
festgestellt, dass die beiden sich regelmässig sehen, die Mutter in
der Nähe wohnt und diese immer wieder, wenn auch vielleicht nur
178
Familienrecht – 136 III 423
427
zum Essen, Kontakt mit A. hat. Anlässlich der Anhörung hat A. zu
verstehen gegeben, dass er mit seiner leiblichen Mutter ("Mama")
gut auskomme. Wenn das Obergericht gestützt auf diese tatsächlichen Umstände auf das Bestehen einer gelebten sozial-psychischen
Beziehung zwischen A. und seiner Mutter geschlossen und gefolgert hat, diese Beziehung spreche gegen die Annahme, dass die
Adoption durch die Grosseltern im Interesse des Kindes liegt, kann
insoweit nicht von einer Rechtsverletzung gesprochen werden.
3.3.2 Nach Lehre und Rechtsprechung kann sich eine Adoption als
im Interesse des Kindes erweisen, wenn die leibliche Mutter bzw.
der leibliche Vater angesichts des jugendlichen Alters oder des geistigen Zustandes überhaupt nicht fähig ist, eine normale soziale und
psychische Beziehung zum Kind aufzubauen (BGE 119 II 1 E. 4b
S. 4; HEGNAUER, a.a.O., N. 17 zu Art. 264 ZGB). Darauf berufen
sich die Beschwerdeführer und machen geltend, die Mutter von A.
sei bei der Geburt äusserst jung (knapp 18 Jahre alt) gewesen, sei
dies auch heute noch und in erster Linie mit sich selbst beschäftigt.
Die Vorinstanz hat indessen festgestellt, dass keine Anhaltspunkte
für eine gravierende psychische Abnormität der Mutter vorlägen.
Sie habe ein Handelsdiplom erworben, mache eine Weiterbildung
und arbeite im Betrieb der Eltern; sie könne sich (mit 28 Jahren) im
Berufsalltag behaupten und normale soziale Kontakte pflegen. Unter diesen Umständen geht der Vorwurf, das Obergericht habe eine
grundsätzliche Beziehungsunfähigkeit der Mutter zu ihrem Kind
übergangen, fehl. Insoweit besteht kein Anlass, in das Ermessen des
kantonalen Gerichts einzugreifen, wenn dieses erwogen hat, die bestehende Beziehung zwischen A. und seiner leiblichen Mutter spreche gegen die Adoption.
3.4 Die Beschwerdeführer bezeichnen die Überlegung der Vorinstanz, die leibliche Mutter verspüre vielleicht eines Tages doch das
Bedürfnis, sich intensiver um ihren Sohn zu kümmern, als reine Spekulation.
3.4.1 Im Falle einer Verwandtenadoption zu Lebzeiten der leiblichen Eltern ist eine Prognose über die Entwicklung des persönlichen Kontaktes zwischen Mutter und Kind in der Tat kaum möglich
(vgl. FRANK, a.a.O., S. 137, 173). Zu Recht haben daher die kantonalen Behörden untersucht, welche äusseren Umstände die Adoption von A. durch seine Grosseltern wirklich notwendig machen,
denn je mehr die Freigabe eines Kindes von äusseren Umständen er-
179
428
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
zwungen war, umso eher kann sie vom – grösser werdenden – Kind
verstanden werden und desto weniger beeinträchtigt sie das Selbstwertgefühl des Adoptierten (DETTENBORN/WALTER, Familienrechtspsychologie, 2002, S. 275). Auf diese entscheidende Überlegung des
Obergerichts gehen die Beschwerdeführer nicht ein. Ihr Hinweis, die
Beziehung der leiblichen Mutter zu A. sei "äusserst locker", währenddem die Beziehung zu ihnen als Grosseltern "viel enger" sei, ist
unbehelflich. Damit ist nicht dargetan, dass das Obergericht mit
Blick auf mögliche zukünftige Entwicklungen das Interesse von A.
das Kindesverhältnis zu seiner Mutter aufzuheben und durch ein solches zu den Grosseltern zu ersetzen bzw. seine Mutter rechtlich zur
Schwester werden zu lassen, missachtet habe.
3.4.2 Die Beschwerdeführer kritisieren in diesem Zusammenhang,
dass die Vorinstanz den Äusserungen der Mutter nicht allzu grosses Gewicht beigemessen habe. Das Obergericht habe nicht beachtet, dass die Mutter die Verantwortung für ein Kind gar nicht suche
und (im Schreiben vom 17. Dezember 2009 an die JKG) darauf hingewiesen habe, dass "die Eltern an ihre Stelle" getreten seien. Die
Beschwerdeführer übergehen allerdings, dass die Benennung der
eigentlichen Motive zur Freigabe des Kindes schwierig zu ergründen
sind, wie oft in Fällen psychischer Überforderung, oder wenn das Elternhaus der Mutter die erzieherischen Kompetenzen abspricht (DETTENBORN/WALTER, a.a.O., S. 269). Darauf hat die Erstinstanz für den
konkreten Fall hingewiesen. Auch die Vorinstanz durfte dies berücksichtigen, zumal der Beschwerdeführer 1 in der Appellationsschrift
erklärt, bereits seine Mutter habe sich nicht um ihn (Beschwerdeführer 1) gekümmert und seine Tochter, die Mutter von A. habe den
"gleichen Charakter", insbesondere was die Beziehungsprobleme
mit Männern betreffe, obwohl sie in einer intakten Familie aufgewachsen sei. Sodann wird im angefochtenen Entscheid eine gewisse
Abhängigkeit der Mutter von A. von ihren Eltern, den Beschwerdeführern festgestellt und hat die Mutter (jedenfalls mit dem Selbstmordversuch im Jahre 2006) psychische Probleme zum Ausdruck
gebracht. Ferner schliesst die Mutter (im erwähnten Schreiben vom
17. Dezember 2009) nicht aus, "für A. da zu sein, wenn meinen Eltern etwas zustossen würde". Wenn das Obergericht demnach eine
vorsichtige Würdigung der Äusserungen der leiblichen Mutter vorgenommen und miterwogen hat, dass sie sich später vielleicht wieder vermehrt um A. kümmern will, hält sich dies im Rahmen des Ermessens, über welches die Vorinstanz verfügt.
180
Familienrecht – 136 III 423
429
3.5 Sodann hat das Obergericht – entgegen der Darstellung der Beschwerdeführer – die Bewilligung zur Adoption nicht allein wegen
des Altersunterschiedes verweigert. Es hat zum Altersunterschied von
61 bzw. 52 Jahren jedoch seine Bedenken zum Ausdruck gebracht
("es drängt sich die Frage auf ..."). Dies ist nicht zu beanstanden.
HEGNAUER hat bei einer Enkeladoption den Altersunterschied von
53 und 49 Jahren als gross, aber gerechtfertigt bezeichnet, weil das
Kind im betreffenden Fall rechtlich vaterlos und die Mutter früh gestorben war und sich in einer ungesicherten Situation befand (ZVW
1994 S. 123). Wenn hier das Obergericht den Altersunterschied für
die Adoption als eher problematisch erachtet hat, ist dieses Kriterium – gerade vor dem Hintergrund der bestehenden Beziehung zwischen der Mutter und dem Kind – nicht in sachwidriger Weise gewürdigt worden. Die Beschwerdeführer bringen weiter vergeblich
vor, die Vorinstanz habe die durch die Adoption bessere finanzielle
Absicherung von A. nicht berücksichtigt. Aus den Erwägungen der
JGK – auf welche das Obergericht verwiesen hat – geht hervor, dass
finanzielle bzw. erbrechtliche Wirkungen der Adoption des Kindes
nur sekundäre Bedeutung haben (vgl. HEGNAUER, a.a.O., N. 60 zu
Art. 264 ZGB). Sodann sei die Befürchtung, dass die leiblichen Eltern sich bei frühem Versterben der Grosseltern "Zugang zu den
(dem Grosskind vererbten) Vermögenswerten verschaffen", unbegründet, zumal entsprechende Massnahmen zum Schutz des Kindesvermögen (Art. 324 f. ZGB) angeordnet werden könnten. Dies
lassen die Beschwerdeführer beiseite; sie legen nicht dar, inwiefern
das Obergericht hier für das Kindeswohl wesentliche Gesichtspunkte übergangen habe.
3.6 Schliesslich werfen die Beschwerdeführer dem Obergericht eine
Verletzung des Willkürverbotes und Gehörsanspruches (Art. 9 bzw.
Art. 29 Abs. 2 BV) vor, u.a. weil es den Antrag auf ihre persönliche
Anhörung, eine persönliche Anhörung der leiblichen Mutter und
eine zweite Anhörung von A. abgewiesen habe.
3.6.1 Die Beschwerdeführer machen geltend, ihre persönliche Anhörung könne aufzeigen, dass sie in der Lage seien, A. zu erziehen,
und die zweite Anhörung des Kindes könne belegen, dass die Beziehung während der Dauer des Verfahrens zwischen ihnen und A.
noch tiefer geworden sei und wie sich das Kind entwickelt habe. Die
Vorbringen gehen fehl. Die Vorinstanz hat die Beweisanträge mit
der Begründung abgewiesen, dass die Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführer nicht in Frage stehe und unbestritten sei, dass sie
181
430
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
vollumfänglich in der Lage seien, für das Kind zu sorgen, und dass
A. eine enge und gute Bindung zu ihnen habe. Die Beschwerdeführer übergehen, dass der Sachverhalt insoweit als abgeklärt betrachtet wurde, und legen nicht dar, inwiefern es für die Nichtabnahme
weiterer Beweismittel durch das Obergericht an einer sachlichen
Begründung fehle (vgl. BGE 114 II 291 E. 2a S. 291).
3.6.2 Sodann hat bereits die JGK festgehalten, dass Gegenstand des
Berichts ("Abklärungsbericht Familienpflegeplätze") des Regionalen Sozialdienstes Büren vom 12. Februar 2008 die Eignung der Beschwerdeführer als Pflegeeltern gewesen sei, und nichts enthalte,
was den Schluss zulasse, A. ginge es mit einer Adoption besser als
ohne. Inwiefern die Würdigung dieses Berichts, welche das Obergericht zu seiner eigenen gemacht hat, in tatsächlicher Hinsicht offensichtlich unhaltbar bzw. willkürlich sei (vgl. BGE 128 I 81 E. 2 S. 86),
legen die Beschwerdeführer nicht dar. Entgegen ihrer Darstellung
hat das Obergericht den Wunsch der Mutter, A. zur Adoption freizugeben, berücksichtigt. Es hat festgehalten, dass beide Eltern die
Zustimmung zur Adoption gegeben haben, so dass von willkürlicher Sachverhaltsfeststellung nicht gesprochen werden kann.
3.7 Zusammenfassend ergibt sich, dass dem Obergericht keine schematische Entscheidfindung vorgeworfen werden kann. Seine Würdigung der konkreten Verhältnisse (vgl. Art. 268a ZGB) mit Blick
auf das Kindeswohl hält vor den bundesrechtlichen Voraussetzungen zur Adoption (Art. 264 ZGB) stand. Das kantonale Gericht hat
sein Ermessen nicht verletzt, wenn es keine hinreichenden Umstände erblickt hat, welche das Interesse von A. am Erlöschen des Kindesverhältnisses zur leiblichen Mutter an der Begründung eines
neuen Kindesverhältnisses zu den Grosseltern überwiegen lassen.
Andere Rechtsverletzungen werden nicht hinreichend begründet, im
Übrigen auch nicht, inwiefern die EMRK den Beschwerdeführern
ein Recht auf Adoption eines Kindes garantiere und dieses Recht
verletzt worden sei.
Siehe auch S. 431 -- Voir aussi p. 431 -- Vedi anche pag. 431
182
241
I. FAMILIENRECHT
DROIT DE LA FAMILLE
DIRITTO DI FAMIGLIA
39. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung
i.S.von Känel gegen Vormundschaftsbehörde
Greifensee (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_774/2010 vom 5. Mai 2011
Art. 264a ZGB und Art. 28 PartG; Stiefkindadoption durch eingetragene
Partner.
Personen, die in einer eingetragenen Partnerschaft leben, sind nach geltendem Recht nicht zur Adoption zugelassen, auch nicht zur Stiefkindadoption (E. 4). Frage offengelassen, ob das Adoptionsverbot völkerrechts konform ist, weil die behauptete Diskriminierung gegenüber Ehepaaren
im vorliegenden Einzelfall nicht gegeben war (E. 5).
Art. 264a CC et art. 28 LPart; adoption par l'un des partenaires enregistrés de l'enfant de l'autre.
Les personnes liées par un partenariat enregistré ne sont pas, selon le droit
en vigueur, autorisées à adopter un enfant, même s'il s'agit de l'enfant du
partenaire (consid. 4). Savoir si l'interdiction de l'adoption est conforme
au droit international peut rester indécis, la prétendue discrimination par
rapport aux couples mariés n'étant pas réalisée dans le cas particulier
(consid. 5).
Art. 264a CC e art. 28 LUD; adozione da parte di un partner registrato
del figlio dell'altro partner.
Secondo il diritto in vigore chi è vincolato da un'unione domestica registrata non può adottare, nemmeno se si tratta del figlio del partner (consid. 4). La questione a sapere se il divieto di adozione sia conforme al
diritto internazionale può rimanere indecisa, la pretesa discriminazione
rispetto alle coppie coniugate non essendo realizzata nella fattispecie
(consid. 5).
16
AS 137 III - 2011
183
242
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
A. Maria von Känel, geb. 20. Mai 1971, lebt seit 9. März 2007 in einer eingetragenen Partnerschaft mit Martina Rahel Scheibling, geb.
11. Februar 1971. Letztere ist die leibliche Mutter des am 9. März
2009 geborenen Kindes Sina Rayelle Scheibling.
Die Vormundschaftsbehörde Uster hat mit Beschluss vom 12. Mai
2009 auf die Errichtung einer Beistandschaft verzichtet und festgestellt, dass Sina Rayelle gestützt auf Art. 298 Abs. 1 ZGB unter
der elterlichen Sorge ihrer Mutter steht.
B. Mit Schreiben vom 9. März 2010 stellte Maria von Känel bei der
Vormundschaftsbehörde Greifensee das Gesuch, Sina Rayelle zu
adoptieren. In ihrem Beschluss vom 21. April 2010 beantragte die
Vormundschaftsbehörde beim Bezirksrat Uster die Ablehnung des
Gesuches. Mit Entscheid vom 14. Juni 2010 wies der Bezirksrat Uster
das Gesuch um Stiefkindadoption ab.
Dagegen rekurrierte Maria von Känel am 25. Juni 2010, wobei sie
die Rückweisung zur Neubeurteilung und die Bewilligung der Stiefkindadoption verlangte. Mit Entscheid vom 29. September 2010 wies
das Obergericht, II. Zivilkammer, den Rekurs ab.
C. Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 3. November 2010 verlangt
Maria von Känel im Wesentlichen die Zulassung der Adoption. Das
Obergericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
Aus den Erwägungen:
4. Die Ehe steht homosexuellen Paaren nach schweizerischem Recht
nicht offen. Seit Inkrafttreten des Partnerschaftsgesetzes vom 18. Juni
2004 (PartG; SR 211.231) können diese jedoch eine eingetragene
Partnerschaft begründen.
Gemäss Art. 28 PartG sind Personen, die in einer eingetragenen Partnerschaft leben, weder zu fortpflanzungsmedizinischen Verfahren
noch zur Adoption zugelassen, insbesondere auch nicht zur vorliegend verlangten Stiefkindadoption. Diesbezüglich bestimmt Art. 264a
Abs. 3 ZGB, dass eine Person das Kind ihres Ehegatten adoptieren
darf, wenn die Ehegatten seit mindestens fünf Jahren verheiratet sind.
5. Ob das in Art. 28 PartG enthaltene Adoptionsverbot als solches
mit der Bundesverfassung und dem Völkerrecht vereinbar ist, soweit dies aufgrund von Art. 190 BV überprüft werden dürfte, kann
vorliegend offengelassen werden, weil die von der Beschwerdefüh-
184
243
rerin behauptete Diskriminierung gegenüber Ehepaaren in der vorliegenden Konstellation nicht gegeben ist:
Eine Adoption durch den Stiefelter ist gemäss Art. 264a Abs. 3 ZGB
frühestens nach fünf Ehejahren möglich, wobei die Zeitspanne zwischen Eheschluss und Adoptionsgesuch massgebend ist. Die Beschwerdeführerin lebte bei Gesuchseinreichung seit drei Jahren in
einer eingetragenen Partnerschaft. Bei verheirateten Paaren müsste
das entsprechende Adoptionsgesuch abgewiesen werden. Die Beschwerdeführerin verlangt mithin etwas, was verheirateten Ehepaaren nach schweizerischem Recht nicht zustehen würde. Folglich ist
die Beschwerdeführerin durch die Abweisung des Gesuches nicht
diskriminiert; vielmehr wären Ehepaare diskriminiert, wenn homosexuelle Paare ohne Abwarten von Fristen das Kind des eingetragenen Partners adoptieren könnten. Dass die in Art. 264a Abs. 3 ZGB
aufgestellte Frist als solche mit übergeordnetem Recht unvereinbar
wäre und deshalb auch für Ehepaare nicht gelten könnte, wird in
der Beschwerde nirgends behauptet und ist folglich auch nicht zu
erörtern, weil das Bundesgericht wegen der in Art. 42 Abs. 2 BGG
statuierten Begründungspflicht nur gerügte Rechtsverletzungen prüft
(BGE 134 II 244 E. 2.1 S. 245 f.).
185
1
I. FAMILIENRECHT
DROIT DE LA FAMILLE
DIRITTO DI FAMIGLIA
1. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung
i.S. S. gegen V. (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_521/2010 vom 4. November 2010
Art. 264 ff. ZGB; Zustimmung der Eltern zur Adoption; Untersuchungs grundsatz.
Weder die Adoption einer mündigen Person noch die Adoption eines Kindes, das während des Adoptionsverfahrens mündig wird, bedürfen der Zustimmung der Eltern. Der Eintritt der Mündigkeit während der Rechtsmittelfrist ist von der oberen kantonalen Instanz zu berücksichtigen (E. 2-5).
Art. 264 ss CC; consentement des parents à l'adoption; maxime inquisitoire.
L'adoption d'une personne majeure ou celle d'un mineur, qui devient majeur
durant la procédure d'adoption, ne nécessite pas le consentement des parents. L'instance cantonale supérieure doit prendre d'office en compte la
survenance de la majorité durant le délai de recours (consid. 2-5).
Art. 264 segg. CC; consenso dei genitori all'adozione; massima inquisitoria.
Né l'adozione di una persona maggiorenne né quella di una persona minorenne che diventa maggiorenne durante la procedura di adozione necessitano del consenso dei genitori. L'istanza cantonale superiore deve prendere in considerazione il raggiungimento della maggior età intervenuto
durante il termine di ricorso (consid. 2-5).
T., geboren im Februar 1992, ist die eheliche Tochter von M. und
V., die 1991 geheiratet hatten. Das Amtsgericht schied die Ehe und
stellte T. unter die elterliche Sorge ihrer Mutter M. (Urteil vom
4. Juli 1997). Ihre Mutter schloss 2002 die Ehe mit S. 2009 stellte
1
AS 137 III - 2011
186
2
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
S. das Gesuch, ihm die Adoption seiner Stieftochter T. zu bewilligen
und von der Zustimmung des leiblichen Vaters V. abzusehen. Die
Direktion des Innern des Kantons Zug wies das Adoptionsgesuch
ab, weil der leibliche Vater seine Zustimmung zur Adoption nicht
zu erteilen bereit sei und von seiner Zustimmung nicht abgesehen
werden dürfe (Verfügung vom 27. Januar 2010). Die von S. dagegen
erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Zug ab. Es hielt dafür, die inzwischen eingetretene Mündigkeit von
T. könne nicht mehr berücksichtigt werden und teilte in der Sache
die erstinstanzliche Beurteilung, von der verweigerten Zustimmung
des leiblichen Vaters dürfe nicht abgesehen werden (Urteil vom
27. Mai 2010). Dem Bundesgericht beantragt S. (Beschwerdeführer), die Adoption gemäss Gesuch auszusprechen, eventuell die Sache an die kantonale Direktion des Innern zurückzuweisen. Das
Verwaltungsgericht und V. (Beschwerdegegner) schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt das angefochtene Urteil auf und weist die Sache an die
kantonale Direktion des Innern zurück.
(Zusammenfassung)
Aus den Erwägungen:
2. Der Beschwerdeführer hat sein Adoptionsgesuch in einem Zeitpunkt eingereicht, als seine Stieftochter noch unmündig war. Nach
dem erstinstanzlichen Entscheid ist die Stieftochter während laufender Rechtsmittelfrist mündig geworden. Es stellt sich zunächst
die Frage, welche Bedeutung dem Erreichen des Mündigkeitsalters
im hängigen Adoptionsverfahren zukommt. Das mit der ZGB-Revision von 1972/73 neu geschaffene Adoptionsrecht unterscheidet
den Regelfall der Unmündigenadoption (Art. 264 ff. ZGB) und den
Ausnahmefall der Erwachsenenadoption (Art. 266 ZGB), verknüpft
die beiden Arten von Adoptionen aber durch Verweise (Art. 266
Abs. 3 und Art. 268 Abs. 3 ZGB), deren Tragweite unklar ist und
durch Gesetzesauslegung zu ermitteln ist (vgl. zu den Auslegungsgrundsätzen: BGE 136 II 149 E. 3 S. 154 und 187 E. 7.3 S. 194; 136
III 23 E. 6.6.2.1 S. 37).
3. Gemäss Art. 266 ZGB darf eine mündige oder entmündigte Person adoptiert werden, wenn Nachkommen fehlen und einer der drei
im Gesetz genannten besonderen Gründe vorliegt (Abs. 1 ) und im
Falle der Adoption einer verheirateten Person deren Ehegatte zustimmt (Abs. 2). Im Übrigen finden gemäss Art. 266 Abs. 3 ZGB die
187
Familienrecht – 137 III 1
3
Bestimmungen über die Adoption Unmündiger entsprechende Anwendung. Die Unmündigenadoption setzt unter anderem die Zustimmung der Eltern des Kindes voraus (Art. 265a-265d ZGB). Es
stellt sich heute die Frage, ob "entsprechende" ("par analogie";
"analogicamente") Anwendung auch umfasst, dass eine mündige
Person nur adoptiert werden darf, wenn deren Eltern zustimmen.
3.1 Gemäss Art. 265 Abs. 2 ZGB von 1907/12 konnte die Annahme
einer unmündigen oder entmündigten Person, auch wenn sie urteilsfähig war, nur mit Zustimmung ihrer Eltern oder der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde erfolgen. Diese Vorschrift über die
Kindesannahme bedeutete umgekehrt, dass ein mündiges Kind sich
ohne Zustimmung seiner Eltern adoptieren lassen konnte (vgl. BGE
97 I 619 E. 4b S. 623). Gemäss den Vorarbeiten zum Adoptionsrecht
sollte daran offenbar nichts geändert werden (vgl. die Nachweise bei
HEGNAUER, Berner Kommentar, 1984, N. 29 zu Art. 266 ZGB). Eine
derartige Absicht des Gesetzgebers ergibt sich unmittelbar weder
aus der Botschaft des Bundesrates (BBl 1971 I 1200, 1223 Ziff.
3.5.1.3.1) noch aus der Beratung in den Räten (AB 1971 S 724 f.;
AB 1972 N 588-590, N 606-609, S 396 und N 1001). Die Frage
wurde nicht angesprochen. Die Berichterstatter der Mehrheit im Nationalrat haben als Hauptanwendungsfall der Erwachsenenadoption
immerhin die neu eingefügte sog. Nachadoption gemäss Art. 12c
SchlT ZGB bezeichnet (Voten Copt und Frau Blunschy, AB 1972
N 588 f.). Übergangsrechtlich kann aufgrund dieser Vorschrift eine
mündige oder entmündigte Person nach den neuen Bestimmungen
über die Adoption Unmündiger adoptiert werden, wenn das bisherige Recht die Adoption während ihrer Unmündigkeit nicht zugelassen hat, die Voraussetzungen des neuen Rechts aber damals erfüllt gewesen wären. Für diesen Fall einer Erwachsenenadoption
hat der Gesetzgeber in Art. 12c Abs. 2 SchlT ZGB ausdrücklich vorgesehen, dass die Vorschriften des bisherigen und des neuen Rechts
über die Zustimmung der Eltern zur Adoption Unmündiger keine
Anwendung finden. Der Ausschluss des Zustimmungserfordernisses
wurde zwar auch nicht näher erörtert (AB 1972 N 629, S 398 f. und
N 1001), gestattet aber immerhin den Schluss, dass für den Gesetzgeber selbstverständlich gewesen sein muss, eine mündige Person
dürfe ohne Zustimmung ihrer Eltern adoptiert werden.
3.2 Abweichendes ergibt sich insbesondere auch aus dem Zweck
der Regelung nicht. Das Zustimmungserfordernis der Eltern ist mit
Rücksicht darauf, dass die Adoption die Bande zwischen dem Kind
188
4
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
und seinen leiblichen Eltern praktisch endgültig zerschneidet, Ausfluss ihres Persönlichkeitsrechts (vgl. BGE 113 Ia 271 E. 7a S. 277;
132 III 359 E. 4.3.1 S. 369) und nicht etwa der elterlichen Sorge
(vgl. BGE 104 II 65 E. 3 S. 66). Dieses Recht der leiblichen Eltern,
der Adoption ihres Kindes zuzustimmen, besteht in den gesetzlichen
Schranken gegenüber dem unmündigen Kind (Art. 265a-d ZGB).
Wird das Kind aber mündig, kommt seine Persönlichkeit und insbesondere sein Selbstbestimmungsrecht voll zur Entfaltung und
überwiegt sein Interesse an der Adoption durch einen Dritten das gegenteilige Interesse seiner Eltern am Fortbestand des Kindesverhältnisses (vgl. zur praktisch einhelligen Lehre: MEIER/STETTLER, Droit
de la filiation, 4. Aufl. 2009, S. 165 N. 320, mit Hinweisen, und
STETTLER, Das Kindesrecht, SPR Bd. III/2, 1992, § 7/VI/D/4 S. 118 f.).
3.3 Die entsprechende Anwendung der Bestimmungen über die
Adoption Unmündiger auf die Erwachsenenadoption (Art. 266
Abs. 3 ZGB) bedeutet aus den dargelegten Gründen nicht, dass eine
mündige Person nur adoptiert werden darf, wenn deren Eltern zustimmen. Eine mündige Person kann sich vielmehr ohne Zustimmung ihrer Eltern adoptieren lassen. Der vereinzelt anzutreffenden
Feststellung, die leiblichen Eltern hätten der Adoption ihres mündigen Kindes zugestimmt (z.B. BGE 106 II 278 E. 3 S. 280), kommt
rechtlich insoweit keine Bedeutung zu.
4. Der Gesetzgeber hat nicht nur die Adoption Unmündiger und die
Adoption Mündiger oder Entmündigter je für sich geregelt, sondern in Art. 268 Abs. 3 ZGB auch den Fall, dass die zu adoptierende Person zu Beginn des Verfahrens noch unmündig sein kann,
vor Abschluss des Verfahrens aber das Mündigkeitsalter erreicht.
Wird gemäss Art. 268 Abs. 3 ZGB das Kind nach Einreichung des
Adoptionsgesuches mündig, so bleiben die Bestimmungen über die
Adoption Unmündiger anwendbar, wenn deren Voraussetzungen vorher erfüllt waren ("si les conditions étaient réalisées auparavant";
"se le pertinenti condizioni erano precedentemente adempite"). Es
stellt sich wiederum die Frage, ob der Verweis auf die Bestimmungen über die Adoption Unmündiger auch das Erfordernis der Zustimmung der Eltern umfasst, d.h. ob die Adoption eines Kindes,
das bei Einreichung des Adoptionsgesuches noch unmündig war,
im Zeitpunkt des Adoptionsentscheids aber mündig ist, die Zustimmung der leiblichen Eltern voraussetzt.
4.1 Der Wortlaut von Art. 268 Abs. 3 ZGB lässt keinen Vorbehalt
erkennen, so dass gestützt darauf anzunehmen wäre, die Zustim-
189
Familienrecht – 137 III 1
5
mung der Eltern sei eine Adoptionsvoraussetzung, obschon die zu
adoptierende Person bereits mündig ist. Dass gleichwohl nicht von
einem klaren Wortlaut ausgegangen werden darf, verdeutlichen die
vorstehenden Ausführungen, wonach sich eine mündige Person ohne Zustimmung ihrer Eltern adoptieren lassen darf (E. 3). Die Fälle
unterscheiden sich insofern, als die Mündigkeit der zu adoptierenden Person bei der Erwachsenenadoption von Beginn an besteht,
während sie bei Art. 268 Abs. 3 ZGB im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung fehlt und erst im Verlaufe des Verfahrens eintritt. Die
praktisch einhellige Lehre vertritt die Ansicht, die Zustimmung der
Eltern sei auch im zweiten Fall nicht mehr nötig (CYRIL HEGNAUER,
Adoption eines Stiefkindes bei Eintritt der Mündigkeit während
des Verfahrens [Art. 268 Abs. 3 ZGB], ZVW 42/1987 S. 49 ff.;
MEIER/STETTLER, a.a.O., S. 165 N. 320 und S. 174 f. N. 329, mit Hinweisen, und STETTLER, a.a.O., § 9/IV/B S. 150).
4.2 Die Materialien zu Art. 268 Abs. 3 ZGB sind nicht schlüssig.
Eine Bestimmung dieses Inhalts wird erstmals von der Kommission
des Nationalrats beantragt, der den Vorschlag in der Folge aber
nicht diskutiert, sondern – wie zuvor der Ständerat als Erstrat (AB
1971 S 726-732) – die Frage erörtert, ob ein Gericht oder eine andere Behörde über die Adoption entscheiden soll (AB 1972 N 609617). Während die Zuständigkeitsfrage den Ständerat in der Differenzbereinigung weiter beschäftigt hat, ist die Zustimmung zum
heutigen Art. 268 Abs. 3 ZGB diskussionslos erfolgt (AB 1972 S
396-398). Die Materialien geben unmittelbar keine Antwort auf die
gestellte Frage.
4.3 Wiederum drängt sich der Vergleich mit dem Tatbestand der
sog. Nachadoption auf. Gemäss Art. 12c Abs. 1 SchlT ZGB kann
eine mündige oder entmündigte Person nach den neuen Bestimmungen über die Adoption Unmündiger adoptiert werden, wenn das
bisherige Recht die Adoption während ihrer Unmündigkeit nicht zugelassen hat, die Voraussetzungen des neuen Rechts aber damals erfüllt gewesen wären. Übergangsrechtlich wird damit der gleiche Fall
geregelt wie in Art. 268 Abs. 3 ZGB mit Bezug auf Veränderungen
während des Adoptionsverfahrens. Hier wie dort werden auf eine
mündige Person die Bestimmungen über die Adoption Unmündiger
angewendet, wenn deren Voraussetzungen vorher – d.h. zur Zeit der
Unmündigkeit bzw. unter Herrschaft des früheren Rechts der Kindesannahme – erfüllt waren. Beiden Regelungen liegen somit die
gleichen Interessen und Wertungen zugrunde. Dass der Gesetzge-
190
6
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
ber bei der sog. Nachadoption das Erfordernis der elterlichen Zustimmung ausdrücklich ausgeschlossen hat (Art. 12c Abs. 2 SchlT
ZGB), im Fall von Art. 268 Abs. 3 ZGB hingegen nicht, legt den
Schluss nahe, der Gesetzgeber habe die Frage im Fall von Art. 268
Abs. 3 ZGB nicht bedacht und hätte sie, wenn ihm die Frage gestellt
worden wäre, gleich beantworten wollen wie bei der sog. Nachadoption.
4.4 Der Schluss wird vom Zweck der Regelung in Art. 268 Abs. 3
ZGB bestätigt. Allein wegen der Dauer, die das Adoptionsverfahren
beansprucht, soll das Kind keine Nachteile erleiden. Verändern sich
die tatsächlichen Verhältnisse während des Verfahrens, sind diese
Änderungen beim Adoptionsentscheid insoweit zu berücksichtigen,
als sie geeignet sind, das Kindeswohl zu beeinflussen (vgl. Urteil
5A_619/2008 vom 16. Dezember 2008 E. 4.2, zusammengefasst in:
ZVW 64/2009 S. 127). Dem Kindeswohl aber dürfte besser entsprechen, dass das mündig gewordene Kind frei und ungeachtet der
Zustimmung oder Ablehnung seiner leiblichen Eltern darüber entscheiden kann, ob es von der Person oder den Personen adoptiert
werden will, mit denen es zuletzt in Hausgemeinschaft zusammengelebt hat (Art. 264 ZGB). Der Verweis in Art. 268 Abs. 3 ZGB auf
die Bestimmungen über die Adoption Unmündiger dient somit nicht
der Wahrung elterlicher Zustimmungsrechte, sondern will die Benachteiligung des im Verlaufe des Adoptionsverfahrens mündig gewordenen Kindes vermeiden, dessen Adoption nach den strengen
Voraussetzungen der Erwachsenenadoption oftmals ausgeschlossen wäre (Art. 266 ZGB; vgl. für die Adoption eines mündigen Stiefkindes: BGE 106 II 278 E. 4 S. 280 ff.) und den Erwerb des Kantons- und Gemeindebürgerrechts der Adoptiveltern zudem nicht
bewirken könnte (Art. 267a ZGB).
4.5 Als Auslegungsergebnis kann festgehalten werden, dass die Zustimmung der leiblichen Eltern des Kindes nicht erforderlich ist,
wenn das Kind nach Einreichung des Adoptionsgesuchs mündig
wird. Nach ihrem Zusammenhang und Zweck ist die Regelung in
Art. 268 Abs. 3 ZGB dahin gehend auszulegen, dass in Fällen, in denen das Kind nach Einreichung des Gesuchs mündig wird, mit Ausnahme der Vorschriften über die Zustimmung der Eltern die Bestimmungen über die Adoption Unmündiger anwendbar bleiben, wenn
deren Voraussetzungen vorher erfüllt waren. Ob auch andere Veränderungen als das Erreichen des Mündigkeitsalters während eines
Adoptionsverfahrens Ausnahmen von der Verweisung in Art. 268
191
Familienrecht – 137 III 1
7
Abs. 3 ZGB nahelegen, ist heute nicht zu entscheiden (vgl. dazu
HEGNAUER, Berner Kommentar, 1984, N. 28 ff. zu Art. 268 ZGB).
5. Das Verwaltungsgericht hat es abgelehnt, die Tatsache zu berücksichtigen, dass die zu adoptierende Stieftochter des Beschwerdeführers zwischen den Instanzen mündig geworden ist.
5.1 Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass
bei der Unmündigenadoption die Zustimmung der leiblichen Eltern
nicht mehr benötigt wird, wenn das zu adoptierende Kind während
der Verfahrensdauer mündig wird. Es hat zwar dafürgehalten, neu
eingetretene Tatsachen wie hier die Mündigkeit des Kindes könnten im Rechtsmittelverfahren berücksichtigt werden, wenn wichtige
prozessökonomische Gründe dafür sprächen, der Streitgegenstand
nicht verändert werde und keine neuen Ermessensfragen aufgeworfen würden. Diese Voraussetzungen seien vorliegend jedoch nicht
erfüllt. Würde nämlich die Mündigkeit des Kindes berücksichtigt
und von der Zustimmung des leiblichen Elternteils abgesehen, änderte sich der Streitgegenstand in dem Sinne, als in (noch) umfassenderer Weise geprüft und entschieden werden müsste, ob die anbegehrte Adoption dem Kindeswohl diene, was die Beweggründe
dazu seien, wie die Einstellung der anderen Nachkommen sei usw.
Diese vertieft zu treffenden Abklärungen wie auch der im Rahmen
des zulässigen Ermessens zu fällende Entscheid würden aber im
Kompetenzbereich der Vorinstanz liegen. Die nach Abschluss des
erstinstanzlichen Verfahrens eingetretene Mündigkeit sei daher im
vorliegenden Verfahren nicht zu beachten.
5.2 Gemäss Art. 268a Abs. 1 ZGB darf die Adoption erst nach umfassender Untersuchung aller wesentlichen Umstände, nötigenfalls
unter Beizug von Sachverständigen, ausgesprochen werden. Die
Verfahrensbestimmung legt weiter fest, welche Umstände namentlich abzuklären sind (Art. 268a Abs. 2 ZGB). Sie schreibt für das
Adoptionsverfahren den Untersuchungsgrundsatz vor (vgl. BGE
135 III 80 E. 3.4 S. 87). Soweit sie die Prüfung des Kindeswohls
zu beeinflussen geeignet sind, müssen während des Adoptionsverfahrens neu eingetretene Tatsachen und die dazugehörigen Beweismittel – selbst in der Rechtsmittelinstanz – berücksichtigt werden.
Denn massgebend sind die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt
der Entscheidung in der Sache (vgl. dazu Urteil 5A_619/2008 vom
16. Dezember 2008 E. 4, zusammengefasst in: ZVW 64/2009 S. 127).
5.3 Den bundesrechtlichen Anforderungen entsprechend sieht § 63
Abs. 4 des Verwaltungsrechtspflegegesetzes des Kantons Zug vom
192
8
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
1. April 1976 (BGS 162.1; nachfolgend: VRG) vor, dass die Anbringung neuer Tatsachen und die Bezeichnung neuer Beweismittel in
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig sind. Allein die Auslegung durch das Verwaltungsgericht verhindert somit, dass die nach
dem Wortlaut von § 63 Abs. 4 VRG zulässige neue und für das Kindesinteresse wesentliche Tatsache der Mündigkeit im kantonalen
Adoptionsverfahren nicht mehr berücksichtigt werden konnte. Die
Auslegung einer kantonalen Novenrechtsregelung aber, die Sinn und
Geist des bundesgesetzlichen Untersuchungsgrundsatzes zuwiderläuft, missachtet den Vorrang des Bundesrechts (Art. 49 Abs. 1 BV;
vgl. BGE 116 II 215 E. 3 S. 218 f.; 123 III 213 E. 5b S. 218). Das
Verwaltungsgericht hätte deshalb die form- und fristgerecht geltend gemachte und belegte neue Tatsache, das zu adoptierende
Kind sei nach Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens mündig
geworden, berücksichtigen müssen.
193
97
I. PERSONENRECHT
DROIT DES PERSONNES
DIRITTO DELLE PERSONE
16. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S.
Z. gegen Departement Inneres und Kultur des Kantons
Appenzell Ausserrhoden (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_477/2010 vom 27. Januar 2011
Art. 30 Abs. 1 und Art. 267 Abs. 1 ZGB; Namensänderung bei einem adoptierten Erwachsenen.
Der Wunsch einer 56-jährigen Person, nach der Adoption den bisherigen
Familiennamen weiterzuführen, bringt die enge Verbindung zwischen
dem Namen und der Persönlichkeit zum Ausdruck und genügt als wichtiger Grund im Sinne von Art. 30 Abs. 1 ZGB, um die Namensänderung
zu bewilligen (Änderung der Rechtsprechung; E. 3).
Art. 30 al. 1 et art. 267 al. 1 CC; changement de nom d'un adulte
adopté.
Le désir d'une personne de 56 ans de continuer à porter, après son adoption, son nom de famille antérieur, exprime la relation étroite entre le
nom et la personnalité et suffit à constituer un juste motif, au sens de
l'art. 30 al. 1 CC, de changement de nom (modification de jurisprudence;
consid. 3).
Art. 30 cpv. 1 e art. 267 cpv. 1 CC; cambiamento del nome di un adulto
adottato.
Il desiderio di una persona di 56 anni di conservare, dopo la sua adozione,
il suo cognome anteriore esprime lo stretto legame tra il nome e la personalità ed è sufficiente, quale motivo grave ai sensi dell'art. 30 cpv. 1
CC, per concedere il cambiamento del nome (cambiamento di giurisprudenza; consid. 3).
A. Am 21. Juni 2008 stellte A.Z. (geb. 1927) das Gesuch um Adoption von E.H. (geb. 1953). Gleichzeitig ersuchte E.H. um Bewilli-
194
98
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
gung, nach der Adoption ihren bisherigen Familiennamen weiterführen zu dürfen. Mit Beschluss des Regierungsrates des Kantons
Appenzell Ausserrhoden vom 20. Januar 2009 wurde die Erwachsenenadoption gemäss Art. 266 ZGB ausgesprochen und erhielt E.H.
den Familiennamen Z. Das Gesuch von E.Z. um Änderung ihres Namens gemäss Art. 30 Abs. 1 ZGB in "H." wurde mit Verfügung des
Departementes für Inneres und Kultur des Kantons Appenzell Ausserrhoden vom 6. Februar 2009 abgewiesen.
B. E.Z. gelangte betreffend die Verweigerung der Namensänderung
an den Regierungsrat Appenzell Ausserrhoden, welcher die Beschwerde am 7. Juli 2009 abwies. Hiergegen erhob E.Z. Beschwerde an das Verwaltungsgericht Appenzell Ausserrhoden, welche mit
Urteil vom 24. Februar 2010 abgewiesen wurde.
C. Mit Eingabe vom 28. Juni 2010 führt E.Z. Beschwerde in Zivilsachen. Die Beschwerdeführerin beantragt dem Bundesgericht, das
Urteil des Verwaltungsgerichts Appenzell Ausserrhoden vom 24. Februar 2010 aufzuheben und die Änderung ihres Namens von "Z." in
"H." zu bewilligen. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde in Zivilsachen gut.
(Auszug)
Aus den Erwägungen:
3. Anlass zur vorliegenden Beschwerde gibt das Gesuch der (mittlerweile) 57-jährigen Beschwerdeführerin, welche den durch die
Adoption erworbenen Namen "Z." in ihren früheren Namen "H."
ändern will, welchen sie zeitlebens getragen hat. Sie macht geltend,
die Verweigerung der Bewilligung zur Führung ihres früheren Namens verletze die massgebenden Bestimmungen des ZGB sowie ihre u.a. durch die EMRK geschützte Persönlichkeit, zumal aus der
Beibehaltung ihres früheren Namens trotz Adoption die Rechtssicherheit bzw. das öffentliche Interesse nicht beeinträchtigt werde.
3.1 Die Beschwerdeführerin wurde von A.Z. im Alter von 56 Jahren
nach Art. 266 ZGB adoptiert. Nach Art. 267 Abs. 1 ZGB erhält das
Adoptivkind die Rechtsstellung eines Kindes der Adoptiveltern bzw.
des Einzeladoptierenden. Die Adoption hatte demnach von Gesetzes wegen zur Folge, dass die Beschwerdeführerin den Namen ihrer Adoptivmutter erwarb (Art. 270 Abs. 2 ZGB). Der gesetzliche
Namenswechsel kann nur durch eine Namensänderung nach Art. 30
Abs. 1 ZGB rückgängig gemacht werden. Nach dieser Bestimmung
195
Personenrecht – 137 III 97
99
kann die Regierung des Wohnsitzkantons einer Person die Änderung
des Namens bewilligen, wenn wichtige Gründe vorliegen. Ob im
einzelnen Fall ein Grund für eine Namensänderung vorliegt, ist eine
Ermessensfrage, die von der zuständigen Behörde nach Recht und
Billigkeit zu beantworten ist (Art. 4 ZGB; BGE 136 III 161 E. 3.1
S. 162).
3.2 Die Namensänderung bei einem adoptierten Erwachsenen hat
nach der Rechtsprechung den Zweck, ernstliche Nachteile zu beseitigen, die mit dem durch die Adoption erworbenen Namen verbunden sind, wobei vor allem moralische, geistige und seelische,
aber auch wirtschaftliche oder administrative Interessen im Spiel
stehen können (BGE 108 II 1 E. 5a S. 4; allgemein betreffend Art. 30
Abs. 1 ZGB: BGE 136 III 161 E. 3.1.1 S. 163). Dies ist nach der
Rechtsprechung z.B. der Fall, wenn der bisherige Name für seinen
Träger eine religiöse Bedeutung hat (BGE 108 II 1 E. 5b S. 5: Beibehaltung des Namens "Lévy" bei Adoption durch eine nichtjüdische Person), nicht aber im Falle blosser Unannehmlichkeiten, welche durch die Erwachsenenadoption entstehen (BGE 105 II 65 E. 3
S. 67).
3.3 Die Beschwerdeführerin beruft sich auf die zeitlebens bzw. 57
Jahre dauernde Namensführung und die Beeinträchtigung, welche
durch den Namenswechsel in der sozialen und psychischen Sphäre
ihrer Persönlichkeit verursacht werde.
3.3.1 Der Name gehört zur Persönlichkeit (BGE 126 III 1 E. 3c S. 2),
und der Namenswechsel durch eine Statusänderung berührt das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen um so mehr, je länger dieser den
bisherigen Namen getragen hat (vgl. HEGNAUER, Berner Kommentar, 1997, N. 43 zu Art. 270 ZGB). Die Beschwerdeführerin hält an
sich richtig (unter Hinweis auf einen kantonalen Entscheid aus dem
Jahre 2007; vgl. FamPra.ch 2008 S. 364 ff.) fest, dass mit Blick auf
die Dauer der Namensführung auch eine 33-jährige Person sich nach
einer Erwachsenenadoption wünschen könnte, den bisherigen Namen weiterführen zu wollen. In der Tat kann eine Abgrenzung nach
der Anzahl Jahre der Namensführung sachlich nicht begründet werden. Das Argument der Dauer für den Wunsch, den bisherigen Namen weiterzuführen, läuft vielmehr auf die allgemeine Forderung
hinaus, den durch die Erwachsenenadoption erworbenen Namen ablehnen zu dürfen.
3.3.2 Zu dieser Frage hat das Bundesgericht in BGE 105 II 65 ff.
Stellung bezogen. Der Gesetzgeber habe mit der Revision des Adop-
196
100
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
tionsrechts das Adoptivverhältnis dem ehelichen Kindesverhältnis
gleichstellen wollen. Mit diesem Zweck sei es nicht vereinbar, wenn
das Adoptivkind seinen bisherigen Namen beibehielte. Dabei sei
dem Gesetzgeber die Problematik der Adoption Erwachsener durchaus bewusst gewesen. Dennoch sei bezüglich der Übernahme des
Namens der Adoptiveltern keine Wahlfreiheit oder sonstwie Erleichterung vorgesehen worden. Die Rechtsprechung schloss daraus, dass
eine Person, welche sich adoptieren lassen will, auch die gesetzlichen Folgen der Adoption auf sich nehmen müsse (BGE 105 II 65
E. 3 S. 67; bestätigt in BGE 108 II 1 E. 3 S. 3).
3.3.3 Die geltende Rechtslage wird in der Lehre als unbefriedigend
bezeichnet (HEGNAUER, a.a.O., N. 45 zu Art. 270 ZGB, mit Hinweis
de lege ferenda). In ihren Vorbringen übernimmt die Beschwerdeführerin die Kritik, dass ein hinreichendes öffentliches Interesse an
der Namenseinheit von Eltern und mündigen Kindern fehle (vgl.
HEGNAUER, a.a.O., N. 65 zu Art. 270 ZGB). Die Beschwerdeführerin
stützt sich einzig auf das Argument der Zeitspanne der Namensführung und den persönlichen Wunsch, den bisherigen Familiennamen
nach der Adoption führen zu wollen. Sie beruft sich nicht auf weitere insbesondere moralische, geistige oder seelische Interessen, welche von der Vorinstanz übergangen worden seien. Anhaltspunkte,
welche den Schluss zulassen würden, dass die Beschwerdeführerin
durch den Namenswechsel besonders belastet wäre, gehen aus dem
angefochtenen Urteil nicht hervor. Sie ist nach dem angefochtenen
Urteil nicht etwa Künstlerin, Politikerin, Schriftstellerin, Inhaberin eines unter ihrem Namen geführten Geschäfts oder dergleichen.
Nach der erwähnten Rechtsprechung gilt sie daher – anders als diese Personen – nicht in besonderem Masse an der Beibehaltung des
Namens, unter dem sie bekannt ist, interessiert (BGE 105 II 65 E. 4
S. 69).
3.4 Zu prüfen ist, ob an der dargelegten und vom Verwaltungsgericht als massgeblich erachteten Praxis zu Art. 30 Abs. 1 ZGB festgehalten werden kann.
3.4.1 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit Urteil Nr. 664/06 Losonci Rose und Rose gegen Schweiz vom 9. November 2010, nach welchem die gesetzliche Verpflichtung der Ehegatten zu einem gemeinsamen Familiennamen diskriminierend ist,
mit Bezug auf Art. 8 EMRK die Bedeutung des eigenen Namens als
zentrales Element der Individualisierung und Identität der Person
betont (§ 51; Urteil Nr. 44378/05 Daróczy gegen Ungarn vom 1. Juli
197
Personenrecht – 137 III 97
101
2008 § 32). Ob der angefochtene Entscheid (wie die Beschwerdeführerin meint) gegen Art. 8 EMRK verstösst, braucht – wie sich
aus dem Folgenden ergibt – nicht näher erörtert zu werden.
3.4.2 Die beiden angerufenen Bundesgerichtsentscheide sind in den
Jahren 1979 und 1982 ergangen und stützen sich auf die Revision
des Adoptionsrechts durch das Bundesgesetz vom 30. Juni 1972
(AS 1972 II 2819). Das Bundesgericht hat dabei der Entstehungsgeschichte entscheidendes Gewicht zukommen lassen (vgl. E. 3.3.2),
weil es sich damals um nicht vor langer Zeit erlassene Vorschriften
handelte. Seither hat die Funktion des Familiennamens zur Kennzeichnung der Familienzugehörigkeit (BGE 126 III 1 E. 3a S. 3;
119 II 307 E. 2 S. 308) an Bedeutung eingebüsst. Durch die spätere
Revision von Bestimmungen des ZGB sind die gesetzlichen Wirkungen von Statusänderungen auf den Namen von Erwachsenen begrenzt worden, indem der individuellen Namenswahl mehr Gewicht
eingeräumt wird (vgl. Art. 30 Abs. 2 ZGB: Wahl des Familiennamens der Ehefrau als Familiennamen; Art. 119 Abs. 1 ZGB: Wie derannahme des früheren Namens durch den geschiedenen Ehegatten; Art. 160 Abs. 2 ZGB: Voranstellung des bisherigen Namens
eines der Brautleute vor den ehelichen Familiennamen). Diese
Wandlung der gesetzlichen Namensregeln sind heute bei der Beurteilung der wichtigen Gründe nach Art. 30 Abs. 1 ZGB zu berücksichtigen. Im Weiteren hat das Bundesgericht in der neueren Rechtsprechung zur kindesrechtlichen Namensänderung den Grundsatz
der Namenseinheit relativiert. So stellt der allgemeine Hinweis des
Kindes, es diene seinem Wohl, in Namenseinheit mit Mutter und
Stiefvater zu leben, mit Blick auf die veränderten gesellschaftlichen
Verhältnisse keinen wichtigen Grund für die Änderung des Familiennamens dar (BGE 121 III 401 E. 2b/bb S. 403; 121 III 145 E. 2c
S. 148).
3.4.3 Vorliegend hat die Beschwerdeführerin in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang (bzw. gleichzeitig) mit der Erwachsenenadoption die Beibehaltung des Familiennamens verlangt. Im Licht
der dargelegten Entwicklung in Gesetzgebung und Rechtsprechung
kann an der bisherigen Praxis (BGE 105 II 65 ff.) nicht länger festgehalten werden, soweit damit weitere Gründe zur Ablehnung des
mit der Adoption erworbenen Namens verlangt werden. Es ist kein
hinreichendes öffentliches Interesse ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin den Namen der Adoptivmutter erhält; sie weist zu Recht
auf die lange Zeitspanne der bisherigen Namensführung hin. Allein
198
102
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
der Wunsch, den bisherigen Familiennamen nach der Adoption weiterführen zu wollen, bringt die enge Verbindung zwischen dem Namen und der Persönlichkeit der Beschwerdeführerin zum Ausdruck.
Dies genügt als wichtiger Grund im Sinne von Art. 30 Abs. 1 ZGB,
um die Namensänderung zu bewilligen.
3.5 Die Rüge der Beschwerdeführerin, der Entscheid des Verwaltungsgerichts sei mit Bundesrecht nicht vereinbar, ist demnach begründet und die Beschwerde in Zivilsachen ist gutzuheissen.
199
154
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
VI. KONVENTIONSGARANTIEN
GARANTIES CONVENTIONNELLES
GARANZIE CONVENZIONALI
16. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung
i.S. X. gegen Z. (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_640/2010 vom 14. April 2011
Art. 8 EMRK, Art. 264 ff., 269 ff. ZGB; Anfechtung der Adoption.
Die Adoption kann nur durch Anfechtung oder neue Adoption aufgehoben werden. Voraussetzungen und Gründe zur Anfechtung der Adoption
(E. 3).
Art. 8 CEDH, art. 264 ss, 269 ss CC; annulation de l'adoption.
L'adoption ne peut être supprimée que par une annulation ou une nouvelle adoption. Conditions et motifs de l'annulation de l'adoption (consid. 3).
Art. 8 CEDU, art. 264 segg., 269 segg. CC; contestazione dell'adozione.
L'adozione può unicamente essere annullata mediante una contestazione
o una nuova adozione. Condizioni e motivi della contestazione dell'adozione (consid. 3).
A.
A.a Am 14. März 1983 gebar Y. in Muri b. Bern die Tochter X. Ein
Kindesverhältnis zum leiblichen Vater wurde nicht hergestellt; die
Mutter gab dessen Identität nicht bekannt. Y. heiratete 1985 Z. Mit
Adoptionsentscheid der Justizdirektion des Kantons Bern vom 7. November 1988 wurde X. zur Adoptivtochter von Z. erklärt und ihr
Vorname in "..." geändert.
A.b Im Jahre 1996 wurde die Ehe zwischen Y. und Z. geschieden.
X. wurde unter die elterliche Sorge der Mutter gestellt. Mit der
Scheidung brach der Kontakt des Kindes mit dem Adoptivvater ab.
Im November 2007 gelang es X., Kontakt zu ihrem leiblichen Vater,
V., libyscher Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Libyen, herzustellen. Seither stehen die beiden in regelmässigem Kontakt und besucht
der leibliche Vater die Tochter alle zwei bis drei Monate.
A.c Am 14. August 2008 leitete X. beim Gerichtskreis VIII BernLaupen eine Klage gegen ihre Mutter und Z. auf Anfechtung ihrer
200
Konventionsgarantien – 137 I 154
155
Adoption ein und verlangte die Aufhebung des Adoptionsentscheides. Am 19. Januar 2009 genehmigte die Gerichtspräsidentin einen
Vergleich, wonach "im Einverständnis aller Parteien das Kindesverhältnis zwischen X. und Z. rückwirkend aufgehoben wird", und
schrieb das Verfahren als erledigt ab. Diesen Genehmigungs- und
Abschreibungsbeschluss hob das Obergericht des Kantons Bern,
Appellationshof, 1. Zivilkammer, von Amtes wegen auf. Das Verfahren wurde zur weiteren Behandlung an das Gerichtspräsidium
zurückgewiesen. Die Parteien verzichteten in der Folge auf eine erneute Aussöhnung, worauf das Verfahren abgeschrieben wurde.
A.d Mit Anfechtungsklage gemäss Art. 269a ZGB vom 10. November 2009 gelangte X. an das Obergericht und beantragte, der Adoptionsentscheid vom 7. November 1988 und das Kindesverhältnis
zwischen ihr und Z. seien rückwirkend aufzuheben.
B. Mit Urteil vom 8. Juli 2010 wies das Obergericht die Klage ab
mit der Begründung, dass die Mutter nicht passivlegitimiert sei und
im Weiteren keine Anfechtungsgründe vorlägen.
C. Mit Eingabe vom 13. September 2010 führt X. Beschwerde in
Zivilsachen. Die Beschwerdeführerin beantragt dem Bundesgericht,
das Urteil des Obergerichts vom 8. Juli 2010 sowie den Adoptionsentscheid vom 7. November 1988 und das Kindesverhältnis zwischen ihr und Z. seien rückwirkend aufzuheben. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde in Zivilsachen ab.
(Auszug)
Aus den Erwägungen:
3. Anlass zur vorliegenden Beschwerde gibt die Anfechtung einer
Stiefkindadoption. Die Beschwerdeführerin beruft sich auf ihr Interesse an der Herbeiführung eines Kindesverhältnisses zu ihrem leiblichen Vater und wirft dem Obergericht im Wesentlichen vor, es
habe Bundesrecht bzw. die EMRK verletzt, wenn es die Anfechtungsklage abgewiesen und die rückwirkende Aufhebung der Adoption verweigert habe.
3.1 Die Beschwerdeführerin wurde mit Entscheid der Justizdirektion des Kantons Bern vom 7. November 1988 vom Beschwerdegegner nach Art. 264 ff. ZGB adoptiert. Diese Adoption ist – wie
jede Adoption – unauflöslich. Sie kann nicht von den Adoptiveltern
oder dem Adoptierten widerrufen, sondern nur durch Anfechtung
oder neue (bzw. Anerkennung einer ausländischen) Adoption auf-
201
156
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
gehoben werden (HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts [nachfolgend: Grundriss], 5. Aufl. 1999, Rz. 12.05; MEIER/STETTLER, Droit de
la filiation, 4. Aufl. 2009, Rz. 259, 339 und Fn. 680; SCHOENENBERGER, in: Commentaire romand, Code civil, Bd. I, 2010, N. 2 zu
Art. 269 ZGB; BREITSCHMID, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch,
Bd. I, 4. Aufl. 2010, N. 1 und 2 zu Art. 269 ZGB). Umstritten ist
vorliegend die Anfechtung der Adoption.
3.2 Die Anfechtung einer in der Schweiz ausgesprochenen Adoption untersteht schweizerischem Recht (Art. 77 Abs. 3 IPRG). Die
Vorinstanz hat dem Auslandbezug (ausländische Staatsangehörigkeit des Adoptivvaters im Zeitpunkt der Adoption) zu Recht keine
Bedeutung zugemessen und die Anfechtung der Adoption nach
Art. 269 ff. ZGB beurteilt. Die Beschwerdeführerin stellt nicht in
Frage, dass die Vorinstanz (mit Hinw. auf BREITSCHMID, a.a.O., N. 5
zu Art. 269 ZGB) in Analogie zu Art. 260a Abs. 3 ZGB geschlossen
hat, die Klage des Kindes auf Anfechtung der vorliegenden Stiefkindadoption richte sich einzig gegen den Adoptivvater, und der
Mutter komme keine Passivlegimation zu. Unstrittig ist die Auffassung des Obergerichts, dass die Klage trotz Ablauf der Frist nach
Art. 269b ZGB zugelassen werden kann, wenn die Verspätung mit
wichtigen Gründen entschuldigt wird (vgl. BGE 112 II 296 E. 4
S. 298 f.), und dass hier die Voraussetzungen für die Wiederherstellung erfüllt sind. Weiter hält die Beschwerdeführerin zu Recht
fest, dass die Erklärung des leiblichen Vaters vom 9. Juni 2009, mit
welcher er gegenüber dem Zivilstandsamt Kreis Bern die Beschwerdeführerin als Kind "anerkannt" hat, keine Wirksamkeit entfalten
kann, da ein Kindesverhältnis zum Beschwerdegegner besteht (HEGNAUER, Grundriss, a.a.O., Rz. 7.02, 12.05).
3.3 Die rechtskräftige Adoption kann angefochten werden, wenn sie
gesetzwidrig zustande gekommen ist, wobei für die Anfechtung einzig die Gründe nach Art. 269 und Art. 269a ZGB in Frage kommen.
Eine Gutheissung der Klage hebt die Adoption rückwirkend (ex
tunc) auf (HEGNAUER, Grundriss, a.a.O., Rz. 13.13, 13.17; MEIER/
STETTLER, a.a.O., Rz. 339, 351).
3.3.1 Nach Art. 269 Abs. 1 ZGB bildet (unter Vorbehalt des Kindeswohls) das Fehlen der gesetzlich erforderlichen Zustimmung zur
Adoption einen Anfechtungsgrund. Das Zustimmungsrecht muss im
Zeitpunkt der Adoption bestanden haben. Kein Zustimmungsrecht
hat ein leiblicher Vater, wenn – wie hier – das Kindesverhältnis zu
ihm damals nicht bestanden hat (HEGNAUER, Berner Kommentar,
202
Konventionsgarantien – 137 I 154
157
1984, N. 23 zu Art. 269 ZGB). Er ist allerdings über die Adoption
zu informieren, damit er durch Anerkennung sein Zustimmungsrecht erwerben kann (BGE 113 Ia 271 E. 6 f. S. 275 ff.; MEIER/
STETTLER, a.a.O., Rz. 288 und Fn. 536). Ob der leibliche Vater der
Beschwerdeführerin diese Möglichkeit hatte, lässt sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen. Die Anfechtung nach Art. 269
ZGB ist nicht weiter zu erörtern, weil der Zustimmungsberechtigte
aktivlegitimiert ist, währenddem hier die Klage des Adoptivkindes
zur Beurteilung steht. Dass ein Zustimmungsrecht (sei es des leiblichen Vaters oder der Beschwerdeführerin; vgl. Art. 265a Abs. 1,
Art. 265 Abs. 2 ZGB) übergangen worden sei, wird im Übrigen nicht
behauptet.
3.3.2 Abgesehen vom Fehlen der Zustimmung (Art. 269 ZGB) kann
die Adoption nur angefochten werden, wenn sie an einem schwerwiegenden Mangel leidet (Art. 269a Abs. 1 ZGB). Die Beschwerdeführerin (als Adoptivkind) verfügt ohne weiteres über das Interesse,
welches zur Erhebung der Anfechtungsklage nach Art. 269a ZGB
notwendig ist. "Schwerwiegende Mängel" sind beispielsweise wesentliche Unterschreitung des Mindestaltersunterschiedes, Fehlen
eines echten Pflegeverhältnisses, erbrechtliche Zurücksetzung anderer Personen oder Bürgerrechtserwerb als Hauptzweck, überdies
Grundlagenirrtum (HEGNAUER, Grundriss, a.a.O., Rz. 13.15; MEIER/
STETTLER, a.a.O., Rz. 345). Die Beschwerdeführerin ficht die Adoption mit der Begründung an, dass sie volljährig sei und der leibliche
Vater sie als Tochter anerkennen wolle, so dass kein Grund bestehe,
um die Aufhebung der Adoption zu verweigern, zumal auch der
Adoptivvater damit einverstanden sei. Mit diesen Vorbringen behauptet die Beschwerdeführerin nicht, dass die Adoption gesetzwidrig zustande gekommen ist. Andere Gründe, auch erst nach der Adoption eingetretene, sind jedoch ausgeschlossen (HEGNAUER, Grundriss,
a.a.O., Rz. 13.13). Wie das Obergericht richtig festgehalten hat,
legt die Beschwerdeführerin mit ihrem Anliegen nicht dar, dass die
Adoption an einem schwerwiegenden Mangel im Sinne des Gesetzes leidet. Die Abweisung der Anfechtungsklage nach Art. 269a ZGB
ist nicht zu beanstanden.
3.3.3 An diesem Ergebnis vermag der Hinweis der Beschwerdeführerin auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes nichts zu ändern. Es trifft zu, dass eine Minderheit in der parlamentarischen
Kommission nach der Mündigkeit des Kindes die gerichtliche Aufhebung der Adoption gestatten wollte, wenn die Weiterführung der
203
158
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
Adoption den Parteien nicht mehr zugemutet werden könne (Botschaft des Bundesrates vom 12. Mai 1971 an die Bundesversammlung über die Änderung des Zivilgesetzbuches [Adoption und Art.
321 ZGB], BBl 1971 I 1200, 1241 Ziff. 3.5.4). Mit der Ausgestaltung der Adoption als Volladoption wurde der Eingang dieser
Möglichkeit in das Gesetz jedoch als unvereinbar betrachtet. Die
Unaufhebbarkeit der Adoption entspricht dem Sinn und Zweck der
Volladoption: Sie bringt im Verhältnis zu den Adoptiveltern die vorbehaltlose, endgültige Bejahung des Kindes sowie die Gleichstellung zum natürlichen Kindesverhältnis zum Ausdruck (HEGNAUER,
Berner Kommentar, a.a.O., N. 3 zu Art. 269 ZGB; MEIER/STETTLER,
a.a.O., Rz. 259, 339). Das Obergericht hat im Bundesrecht zu Recht
keine Möglichkeit erblickt, um die Aufhebung der Adoption durch
die nachträgliche Veränderung der Lebensumstände zu gestatten.
3.4 Die Beschwerdeführerin macht schliesslich geltend, die Verweigerung der Aufhebung der Stiefkindadoption stelle eine Verletzung ihrer persönlichen Freiheit gemäss Art. 13 BV bzw. Art. 8
EMRK dar. Aus ihrem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung
fliesse der Anspruch, zu ihrem leiblichen Vater in eine rechtliche
Beziehung zu treten.
3.4.1 Das Recht auf Achtung des Privatlebens gemäss Art. 8 EMRK
umfasst wichtige Aspekte der persönlichen Identität; zu diesen gehört – unabhängig des Alters – die Kenntnis der eigenen Abstammung. Es ist anerkannt, dass der Anspruch auf Erforschung der eigenen Herkunft zum von Art. 28 ZGB gewährleisteten Schutz der
Identität gehört (BGE 134 III 241 E. 5.2.1 S. 243, E. 5.3.1 S. 245
mit Hinweisen). Dass ein volljähriges eheliches Kind Anspruch auf
Kenntnis der eigenen Abstammung hat und mit einer Klage eigener
Art durchsetzen kann (BGE 134 III 241 E. 5.3.2 S. 245), ändert jedoch nichts daran, dass die Vaterschaftsanfechtungsklage an Fristen
gebunden ist (Art. 256c Abs. 3 ZGB). Diese Begrenzung der Statusklage ist grundsätzlich EMRK-konform (Urteil 5A_506/2007 vom
28. Februar 2008 E. 4.4 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 134 III
241). Auch ein volljähriges Adoptivkind hat das Recht, Auskunft
über die Personalien der leiblichen Eltern zu verlangen (Art. 268c
ZGB), ohne die Herstellung einer Statusbeziehung beanspruchen zu
können. Das Gleiche gilt für das durch eine Samenspende gezeugte
Kind (Art. 23 Abs. 1, Art. 27 des Bundesgesetzes vom 18. Dezember 1998 über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung [FMedG;
SR 810.11]). Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ent-
204
Konventionsgarantien – 137 I 154
159
hält das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung nicht zwingend das Recht, die biologische Verbindung in ein Rechtsverhältnis
umzuwandeln (LEUBA/MEIER/SANDOZ, Quelle famille pour le XXIème
siècle?, in: Rapports suisses présentés au XVI ème Congrès international de droit comparé, Bd. I, 2002, S. 168; vgl. LEUKERT, Die praktischen Konsequenzen des Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung [...], AJP 2009 S. 592).
3.4.2 Weiter macht die Beschwerdeführerin sinngemäss geltend, die
Verweigerung der Aufhebung der – unbestrittenermassen gesetzmässig, im Kindeswohl erfolgten – Adoption nach Erreichen der
Volljährigkeit sei mit ihrem Anspruch auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK nicht vereinbar. Die Beschwerdeführerin
übergeht, dass die Adoption eines Kindes grundsätzlich zu einem
Ende des Familienlebens mit den leiblichen Eltern führt (GRABENWARTER, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, § 22
Rz. 17 mit Hinweisen). Sodann geniessen die Beziehungen zwischen
erwachsenen Kindern und ihren Eltern nach der Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) nicht
den Schutz von Art. 8 EMRK, sofern nicht ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis besteht, welches über die normalen affektiven Bindungen hinausgeht (EGMR-Urteil 39051/03 Emonet gegen Schweiz
vom 13. Dezember 2007 § 35). Vorliegend bestehen keine Anhaltspunkte, dass die Beziehungen zwischen der erwachsenen Beschwerdeführerin und ihrem leiblichen Vater vom Begriff der "Familie" im
Sinne von Art. 8 EMRK erfasst werden.
3.4.3 Selbst wenn die Beziehung der Beschwerdeführerin zu ihrem
leiblichen Vater als "Familie" von Art. 8 EMRK erfasst wäre, könnte
die Verweigerung der rückwirkenden Aufhebung der Adoption nicht
als unzulässige Einschränkung betrachtet werden. In den meisten
Rechtsordnungen der westeuropäischen Staaten ist die Unauflöslichkeit der Volladoption vorgesehen; sie wird im Grundsatz mit den
gleichen Überlegungen (vgl. E. 3.3.3) wie in der Schweiz gerechtfertigt (LAMMERANT, L'adoption et les droits de l'homme en droit
comparé, Brüssel 2001, Rz. 709, 727 ff.). Auch das Europarat-Übereinkommen vom 24. April 1967 über die Adoption von Kindern
(SR 0.211.221.310) verpflichtet die Mitgliedstaaten in keiner Weise,
die Aufhebung der Adoption zu ermöglichen (Rapport explicatif,
Convention européenne en matière d'adoption, STE Nr. 58 <http://
www.conventions.coe.int>, Ziff. 50), ebenso wenig das revidierte
Übereinkommen vom 27. November 2008 (Rapport explicatif, Con-
205
160
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
vention européenne en matière d'adoption [révisée], STCE Nr. 202
<http://www.conventions.coe.int>, Ziff. 73). In der Lehre wird unter
EMRK-Aspekten jedoch mit guten Gründen gefordert, dass die Unauflöslichkeit der Volladoption die Möglichkeit einer neuen Adoption nicht ausschliessen darf (LAMMERANT, a.a.O., Rz. 742 und 743).
Dies trifft für das ZGB zu, welches die Aufhebung der Adoption
durch eine neue Adoption erlaubt (E. 3.1). Dieses Recht auf Adoption ist nach der Rechtsprechung des EGMR diskriminierungsfrei
bzw. ohne unsachliche Unterscheidungen zu gewähren (EGMR-Urteil 43546/02 E.B. gegen Frankreich vom 22. Januar 2008 §§ 41 ff.,
49). Ein Adoptionsverfahren ist jedoch nicht Gegenstand der Beurteilung, so dass sich Erörterungen über das Recht der Beschwerdeführerin, durch Adoption mit ihrem leiblichen Vater ein Kindesverhältnis herzustellen, erübrigen.
3.5 Nach dem Dargelegten ist nicht zu beanstanden, wenn das Obergericht zum Ergebnis gelangt ist, dass der Adoptionsentscheid vom
7. November 1988 an keinem Grund zur Anfechtung nach Art. 269 f.
ZGB leidet. Die Vorinstanz hat zutreffend festgehalten, dass die
Beschwerdeführerin kein Recht zur Aufhebung der Adoption hat.
Die Rügen der Beschwerdeführerin sind unbegründet.
206
Grössere Schrift
Urteilskopf
133 III 556
72. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Y. (Berufung)
5C.41/2007 vom 14. Juni 2007
Regeste
Haftung des Familienhauptes (Art. 333 ZGB).
Voraussetzungen der Haftung (E. 4). Schlittelnde Kinder als Anwendungsfall
(E. 5).
Sachverhalt ab Seite 556
Der Beklagte ging mit seinen beiden Kindern an einem flachen Hang von rund
hundert Metern Länge und Breite schlitteln. Die Schlittelpiste wird jeweils
bei Neuschnee durch einen Motorschlitten mit Rolle präpariert. Am fraglichen
Tag war der Schnee hart gedrückt, die Schlittelpiste aber nicht vereist. Es
schlittelten rund zwanzig Kinder im durchschnittlichen Alter von drei bis
sechs Jahren.
Nachdem die Kinder ungefähr eine Viertelstunde geschlittelt hatten, fuhren
sie, gemeinsam auf einem Plastikbob sitzend, in die Klägerin, die sich zu
Fuss auf ungefähr der halben Höhe der Piste befand und hangabwärts ihren
Enkelkindern zuwinkte, weshalb sie den Bob nicht kommen sah. Infolge des
Zusammenstosses stürzte die Klägerin und erlitt Frakturen im
Schulterbereich.
Das Zivilgericht des Sensebezirks wie auch das Kantonsgericht Freiburg
verneinten die Haftung des Vaters als Familienhaupt im Sinn von Art. 333
ZGB. Das Bundesgericht weist die dagegen erhobene Berufung der Klägerin ab.
Auszug aus den Erwägungen:
Aus den Erwägungen:
Erwägung 4
4. Verursacht ein unmündiger oder entmündigter, ein geistesschwacher oder
geisteskranker Hausgenosse einen Schaden, so ist das Familienhaupt dafür
haftbar, insofern es nicht darzutun vermag, dass es das übliche und durch
die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt in der Beaufsichtigung beobachtet
hat (Art. 333 Abs. 1 ZGB).
Damit wird eine Kausalhaftung statuiert (BGE 103 II 24 E. 3 S. 26 f.),
freilich eine milde, d.h. eine solche mit Entlastungsbeweis. Während die
Rechtsprechung an diesen bei der Geschäftsherrenhaftung
BGE 133 III 556 S. 557
(Art. 55 OR) und bei der Tierhalterhaftung (Art. 56 OR) einen strengen
Massstab anlegt - das Gesetz verlangt die Anwendung aller nach den Umständen
gebotenen Sorgfalt -, wird vom Familienhaupt gefordert, dass es das übliche
und durch die Umstände gebotene Mass an Sorgfalt walten lässt. In der
Literatur wird sodann zu Recht darauf hingewiesen, dass keine übertriebenen
Anforderungen an den Entlastungsbeweis gestellt werden dürfen, soweit es
sich um Kinder und nicht um Geisteskranke oder Geistesschwache handelt
(OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Besonderer Teil, Bd.
II/1, 4. Aufl., Zürich 1987, S. 450 m.w.H.). Diese Differenzierung
widerspiegelt sich denn auch im Wortlaut und in der Systematik des Gesetzes.
So enthält Art. 333 Abs. 2 ZGB spezielle und strengere Vorschriften
betreffend Geisteskranke und Geistesschwache, während mit Bezug auf Kinder
nur die allgemeine Haftungsnorm von Art. 333 Abs. 1 ZGB gilt.
207
Mit dem Begriff des "Üblichen" wird auf Ortsüblichkeiten (z.B. städtische,
ländliche oder alpine Verhältnisse) verwiesen, wobei allgemeine
Gepflogenheiten auch als Landesüblichkeiten anzuerkennen sind (EGGER,
Zürcher Kommentar, N. 16 zu Art. 333 ZGB). Das "Übliche" kann dann nicht als
Massstab gelten, wenn es eine Unsitte oder eigentlichen Missbrauch darstellt
(vgl. BGE 57 II 127 E. 2 S. 130; PETITJEAN, Die Haftung des Familienhauptes
gemäss Art. 333 ZGB im Wandel der Zeit, Diss. Basel 1979, S. 37 m.w.H.).
Doch bilden die Gepflogenheiten des täglichen Lebens (BGE 43 II 205 E. 4 S.
212; 52 II 325 E. 1 S. 328; 57 II 127 E. 3 S. 133) Richtschnur bei der
Objektivierung der verlangten Sorgfalt. Der Begriff der "Umstände" verweist
sodann auf die Umstände des Einzelfalls. Zu berücksichtigen sind nebst den
örtlichen, sozialen und persönlichen Verhältnissen namentlich das Alter, der
Charakter und die geistige Reife sowie besondere Neigungen, Gewohnheiten und
Veranlagungen des aufsichtsbedürftigen Hausgenossen (vgl. BGE 100 II 298 E.
3a S. 301; REY, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 3. Aufl., Zürich 2003,
N. 1155).
Für Kinder im Speziellen gilt, dass die Beaufsichtigung umso intensiver
sein muss, je jünger und unerfahrener das Kind ist (OFTINGER/STARK, a.a.O.,
S. 456). Selbst bei kleineren Kindern ist aber eine permanente Überwachung
naturgemäss nicht möglich, gerade wenn es mehrere sind. Ferner gilt es zu
berücksichtigen, dass Kinder in ihrer Bewegungsfreiheit nicht allzu sehr
gehemmt werden dürfen (BGE 95 II 255 E. 4 S. 259 unten). Sie können etwa
alleine auf den Schulweg
BGE 133 III 556 S. 558
gelassen werden (BGE 89 II 56 E. 2b S. 61) und je nach Alter dürfen sie
beispielsweise alleine spielen, Besorgungen machen oder normalen sportlichen
Betätigungen nachgehen (vgl. OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 453).
Die Beaufsichtigungspflicht erschöpft sich nicht in der eigentlichen
Überwachung; vielmehr sind auch alle geeigneten Massnahmen zu ergreifen, um
Minderjährige an vorhersehbarer Schadenszufügung zu hindern. So hat das
Familienhaupt mit Bezug auf gefährliche Handlungen Ermahnungs-,
Instruktions- und gegebenenfalls Verbotspflichten; dies betrifft
insbesondere den Umgang mit Waffen, die je nachdem auch einzuschliessen sind
(vgl. BGE 100 II 298 E. 3a S. 301; OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 457).
Erwägung 5
5. Zum Unfallzeitpunkt waren die beiden Kinder 2 3/4- und 4 1/2-jährig.
In diesem Alter unter Aufsicht zu schlitteln, kann aufgrund der allgemeinen
Lebenserfahrung als üblich betrachtet werden; nach der Zeugenaussage T.
waren denn auch die meisten Kinder am Schlittelhang in einem ähnlichen
Alter. Es ist aber auch objektiv eine altersgerechte Betätigung.
Vergleichsweise beginnen Kinder ab ungefähr drei Jahren, mit dem Dreirad
bzw. dem Velo mit Stützrädern zu fahren, und lernt ein Teil der Kinder auch
bereits mit drei Jahren Ski fahren. War aber die zur Diskussion stehende
Betätigung der Kinder unter dem Aspekt von Art. 333 ZGB grundsätzlich
zulässig, haftet der Beklagte nur dann, wenn er bei der Beaufsichtigung
nicht das übliche und durch die Umstände gebotene Mass an Sorgfalt
beobachtet hat. Dies ist im Folgenden zu prüfen.
5.1 Kein Vorwurf lässt sich dem Beklagten aufgrund des Umstandes machen,
dass er die Kinder auf dem gleichen Gefährt schlitteln liess. Nach den
Feststellungen im angefochtenen Urteil sass der ältere Knabe vorne und war
für das Lenken des Bobs verantwortlich, während das kleinere Mädchen hinter
ihm sass und sich an seinem Rücken festhielt. Mit 4 1/2 Jahren stand R. vor
der Kindergartenreife und dürfte beispielsweise - jedenfalls in ländlichen
Gegenden - alleine auf den Weg zum Kindergarten geschickt werden. Vor diesem
Hintergrund ist nicht zu sehen, inwiefern sich die knapp dreijährige
Schwester nicht hinter ihm auf den gleichen Bob hätte setzen dürfen. Es ist
durchaus "üblich" im wohlverstandenen Sinn des Wortes, d.h. ohne dass dies
einen Missbrauch darstellen würde, wenn ein kleineres Geschwister zu einem
grösseren auf den Bob oder Schlitten gesetzt wird.
BGE 133 III 556 S. 559
Im Übrigen ist nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen
Lebenserfahrung davon auszugehen, dass die Doppelbesetzung des Bobs nicht
208
unfallkausal war und somit für die Haftungsfrage irrelevant ist
(OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 456). Möglicherweise hat das infolge der
Doppelbesetzung grössere Gewicht zu einer leicht erhöhten Geschwindigkeit
des Bobs geführt; eine solche hätte sich aber auch ergeben, wenn ein etwas
älteres oder schwereres Kind alleine darauf gesessen hätte. Im Übrigen hätte
sich der Unfall ebenso gut ereignen können, wenn nur ein Kind auf dem Bob
gesessen hätte. Schlitten und Bobs können selbst für Erwachsene, die darin
nicht geübt sind, relativ schwierig zu lenken sein. Kleine Kinder dürften
über solche Gefährte fast überhaupt keine Herrschaft haben und ihre Fahrt
ist deshalb von vornherein mit grossen Ungewissheiten verbunden, wie das
Kantonsgericht treffend bemerkt hat. Daraus folgt aber nicht, dass man
kleine Kinder nicht schlitteln lassen darf. Im Bewusstsein dieser
Besonderheiten werden jedoch die Verantwortlichen nicht nur im Interesse
Dritter, sondern vor allem auch in demjenigen der Kinder selber darauf
achten, dass diese beispielsweise weder in steilem oder mit Hindernissen
durchsetztem Gelände noch auf belebten Strassen oder Skipisten schlitteln.
Wesentlich zum Unfall mit beigetragen haben dürfte der
Überraschungseffekt: Die Klägerin blickte im kritischen Zeitpunkt
hangabwärts, so dass sie den unvermittelt herannahenden Bob gemäss ihren
eigenen Aussagen erst in letzter Sekunde wahrnahm, als sie sich wieder
umdrehte und es zu spät war, um zu reagieren. Bei einer dergestalt
unerwarteten Kollision in einem Schneehang braucht es weder viel Masse noch
eine besonders grosse Auffahrgeschwindigkeit, um bei einem Aufprall das
Gleichgewicht zu verlieren und unglücklich hinzufallen. Die Verletzungen der
Klägerin befinden sich denn auch nicht im Bereich des Unterschenkels,
sondern an den Schultern, wo sie nicht als direkte Folge des Aufpralls des
Schlittens haben erfolgen können, sondern aufgrund des Sturzes auf den
Boden. Sollte die Haftung des Familienhauptes grundsätzlich bejaht werden,
würde sich deshalb die Frage eines Mitverschuldens der Klägerin stellen.
Inmitten eines Schlittelhangs, auf dem sich ungefähr zwanzig Kinder tummeln
in einem Alter, wo von ihnen naturgemäss nicht erwartet werden kann, dass
sie ihr Gefährt umfassend beherrschen, muss jederzeit mit einem unvermittelt
herannahenden Schlitten gerechnet werden. Selbst für eine am Rand der
Schlittelpiste stehende Person war es mit Blick auf die Unbedarftheit der
zahlreichen
BGE 133 III 556 S. 560
jungen Lenker unvorsichtig, diese auch nur vorübergehend aus den Augen zu
lassen und sich so der Möglichkeit zu begeben, rechtzeitig reagieren bzw.
ausweichen zu können. Es liesse sich daher mit Fug fragen, ob in einer
solchen Situation nicht auf eigene Gefahr handelt (sog. acceptation du
risque, vgl. OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 78 m.w.H.), wer sich in diesem
Wissen in einen Schlittelhang begibt.
5.2 Weiter ist zu prüfen, ob der Beklagte damit, dass er unten an der
Schlittelpiste wartete und die Kinder jeweils dort in Empfang nahm, alles
gemacht hat, was in der betreffenden Situation bei Kindern im fraglichen
Alter üblich und durch die Umstände geboten ist. Die Frage ist dann zu
bejahen, wenn vom Beklagten vernünftigerweise keine weitergehenden
Sicherheitsvorkehrungen erwartet werden konnten.
Die Klägerin macht in diesem Zusammenhang geltend, der Beklagte hätte
nicht einfach unten am Hang warten dürfen, sondern er hätte die Kinder
begleiten müssen. Ihre Ausführungen laufen darauf hinaus, dass der Beklagte
neben dem Schlitten hätte herlaufen müssen, um augenblicklich eingreifen zu
können, sollte dieser von der Bahn abzukommen drohen. Eine solche Forderung
ist schon deshalb unrealistisch, weil sie voraussetzen würde, dass die
Gefährte nicht schneller gleiten könnten, als die Begleitperson zu laufen
vermöchte. Hinzu kommt, dass am betreffenden Tag auf der fraglichen Piste
nach den Feststellungen im angefochtenen Entscheid ungefähr zwanzig Kinder
schlittelten, darunter solche in ähnlichem Alter wie die Kinder des
Beklagten. Der von der Klägerin geforderte Sorgfaltsstandard würde bedeuten,
dass nicht nur der Beklagte, sondern eine ganze Anzahl von Aufsichtspersonen
jeweils neben den schlittelnden Kindern hätten herlaufen müssen. Wäre die
Beaufsichtigung auf diese Weise vorzunehmen, schlösse dies insbesondere aus,
dass ein Elternteil mit mehreren Kindern schlitteln gehen könnte, wäre er
doch nicht in der Lage, gleichzeitig neben mehreren Schlitten herzulaufen.
Solche Anforderungen an die Beaufsichtigung zu stellen, ist lebensfremd. Es
kann dem Beklagten nicht zum Vorwurf gereichen, am unteren Ende der
Schlittelpiste seine Kinder beobachtet zu haben.
209
Kinder sollen im Übrigen grundsätzlich Kind sein dürfen; sie müssen ihren
natürlichen Bewegungs- und Spieldrang ausleben und sich motorisch entwickeln
können. Zu einer erfolgreichen physischen
BGE 133 III 556 S. 561
und psychischen Entwicklung des Kindes gehört, dass es aus Missgeschicken
lernt, indem es beispielsweise hinfällt, zuerst bei Steh- und Gehversuchen,
später beim Rad fahren, oder indem es eben beim Schlitteln hin und wieder
umkippt oder mit anderen Kindern zusammenstösst. Solche Ereignisse sind nach
der allgemeinen Erfahrung unvermeidbar, ja gehören geradezu zum Lernprozess
und sind hinzunehmen. Die erfolgreiche sensorische und motorische
Entwicklung der Kinder darf nicht dadurch vereitelt werden, dass an den
Sorgfaltsmassstab des Familienhauptes Anforderungen gestellt werden, die mit
dem "Üblichen" und dem "nach den Umständen Gebotenen" nichts mehr zu tun
haben; die Anforderungen, welche an die Überwachung zu stellen sind, müssen
mit der Wirklichkeit vereinbar sein.
5.3 Unter Hinweis auf die Zeugenaussagen stellte das Kantonsgericht fest,
dass der in Frage stehende Schlittelhang lediglich ein schwaches Gefälle
aufweise und es sich nicht um einen steilen Hang handle. Das Kantonsgericht
spricht von einem "Tummelplatz und Schlittelhang" mit genügendem Auslauf. Es
stellte im Weiteren fest, dass der Hang zum fraglichen Zeitpunkt zwar hart
gedrückt, aber nicht vereist war. Bei dieser Sachlage ist die Würdigung des
Kantonsgerichts, dass es sich um eine für das Schlitteln geeignete
Örtlichkeit handle, ohne weiteres nachvollziehbar. Der Beklagte hat sich zu
keinem Zeitpunkt von den Kindern entfernt, sondern unten am Hang gewartet
und sie dort in Empfang genommen. Er hat damit zwar in Kauf genommen, dass
seine Kinder beispielsweise ab und zu vom Schlitten kippen oder auch einmal
mit anderen schlittelnden Kindern zusammenstossen. Mit solchen Ereignissen
ist aber, wie bereits gesagt, an sich jederzeit zu rechnen und sie sind im
Interesse einer erfolgreichen kindlichen Entwicklung hinzunehmen, ja
geradezu erforderlich, und sie laufen in aller Regel auch harmlos ab. Der
Beklagte musste nicht damit rechnen, dass sich die Klägerin durch ihr
Verhalten in die heikle Lage versetzen würde, auf schlecht manövrierte
Schlitten nicht reagieren zu können.
Vor diesem Hintergrund hat sich der Beklagte nicht nur so verhalten, wie
sich alle Eltern in einer vergleichbaren Situation verhalten würden, sondern
er hat auch alles getan, was im wohlverstandenen (d.h. nicht abusiven) Sinn
üblich und nach den konkreten Umständen geboten war.
nach oben
210
Urteilskopf
120 II 177
33. Extrait de l'arrêt de la IIe Cour civile du 25 mai 1994 dans la cause P.
contre P. (recours en réforme)
Inhaltsverzeichnis
Regeste
- Deutsch
- Français
Erwägungen
Erwägung 3
Erwägung 4
Seiten
177 179 180 181
182
- Italiano
Seite 177 (BGE_120_II_177)
Regeste
Abänderung eines Scheidungsurteils (Art. 157 ZGB). Verbot des
Rechtsmissbrauchs (Art. 2 ZGB).
Da zwischen dem Recht der Eltern auf persönlichen Verkehr und deren
Unterstützungspflicht kein Zusammenhang besteht, stellt eine neue, den
persönlichen Verkehr betreffende Tatsache - hier die Unmöglichkeit der Ausübung
des Besuchsrechts - grunds ätzlich keinen triftigen Grund für eine Abänderung
des Unterhaltsbeitrages dar (E. 3).
Dieser Grundsatz findet seine Schranke am Verbot des Rechtsmissbrauchs. In
wirklichen Ausnahmefällen kann ein missbräuchliches Verhalten der Mutter oder
des Kindes eine Herabsetzung des Unterhaltsbeitrages rechtfertigen. Verneinung
eines solchen Verhaltens im konkreten Fall (E. 4).
Auszug aus den Erwägungen:
Extrait des consid érants:
Erw ägung 3
3.- Le recourant invoque une violation de l'art. 157 CC. Le
refus de son fils d'entretenir le moindre contact avec lui constituerait,
contrairement à ce qu'a retenu la Cour cantonale, un fait nouveau justifiant
une réduction du montant de la pension d'entretien mise à sa charge.
a) La contribution à l'entretien de l'enfant que doit fournir, en cas de
divorce, celui des parents qui n'a ni l'autorité parentale, ni la garde (art.
156 al. 2, 276 al. 2 et 277 CC) peut être réduite en vertu de l'art. 157 CC. La
modification du jugement de divorce sur ce point n'est toutefois possible que
si des faits nouveaux importants commandent une réglementation différente, et
le changement de situation doit être durable. Cette procédure n'a pas pour but
de corriger le premier jugement, mais de l'adapter aux circonstances nouvelles
survenant chez les parents ou chez l'enfant (ATF 100 II 76 consid. 1 p. 78, 95
II 385 consid. 4 p. 389; BÜHLER/SPÜHLER, Berner Kommentar, n. 82 et 144 ss ad
art. 157 CC; SPÜHLER, Ergänzungsband, n. 145 ad art. 157 CC; HINDERLING, Das
schweizerische Ehescheidungsrecht, 3e éd., p. 146 ss; DESCHENAUX/TERCIER, Le
mariage et le divorce, 3e éd., no 759 s.). Seules cependant entrent en ligne de
compte les circonstances nouvelles - par rapport à la situation existant au
moment du divorce - qui sont déterminantes pour fixer les droits et devoirs des
parents selon les art. 156, 285 et 286 CC (BÜHLER/SPÜHLER, n. 73 et 102 ad art.
157 CC).
211
Seite 179 (BGE_120_II_177)
b) Le devoir d'entretien des parents résulte du lien de filiation (art. 276
al. 1 CC) et subsiste jusqu'à la majorité de l'enfant (art. 277 al. 1 CC ; ATF
111 II 413 consid. 2 p. 416). La prétention d'entretien de l'enfant contre ses
parents est inaliénable. Ceux-ci ne sont d éli és de leur obligation que dans la
mesure où l'on peut attendre de l'enfant bénéficiaire qu'il subvienne lui -même
à son entretien par le produit de son travail ou par d'autres ressources (art.
276 al. 2 CC ; HEGNAUER, Droit suisse de la filiation, 3e éd., nos 20.02 ss).
Selon la jurisprudence et la doctrine, le devoir d'entretien est indépendant
du droit aux relations personnelles et n'est soumis à aucune condition (ATF 95
II 385 consid. 3 p. 388; BÜHLER/SPÜHLER, n. 317 ad art. 156 CC, n. 121, 159 et
166 ad art. 157 CC; SPÜHLER, Ergänzungsband, n. 166 ad art. 157 CC; HEGNAUER,
Berner Kommentar, n. 59 ad art. 273 et n. 133 ad art. 275 CC; id. in Revue du
droit de tutelle [ci-après: RDT] 1993, p. 12; M. MARTHALER, Essai sur le droit
aux relations personnelles ..., th èse Neuchâtel 1963, p. 105).
L'absence de tout lien entre le droit aux relations personnelles et le devoir
d'entretien des parents a pour cons équence qu'un fait nouveau relatif aux
relations personnelles ne saurait en principe constituer un motif valable de
modification de la contribution d'entretien, ce "fait nouveau" n'étant pas de
nature à exercer la moindre influence sur la question de l'obligation
d'entretien (cf. dans ce sens ATF 95 II 385 consid. 5 p. 389 à propos de
l'influence du remariage de la d étentrice de l'autorité parentale sur
l'exercice du droit de visite du père).
Ainsi, le moyen du recourant tiré de l'impossibilité d'exercer son droit de
visite pour justifier une modification du jugement de divorce dans le sens
d'une diminution de la contribution d'entretien due à son fils n'est pas fondé.
c) La pr ésente situation doit être distinguée de celle qui est visée par
l'art. 277 al. 2 CC , disposition de caractère exceptionnel qui traite de
l'obligation d'entretien des père et mère à l'égard de leur enfant majeur
poursuivant sa formation. Dans ce cas, l'obligation d'entretien d épend
expressément de l'ensemble des circonstances, et notamment des relations
personnelles entre parents et enfant (ATF 111 II 413 consid. 2 p. 416, 117 II
127 consid. 3b p. 130, 113 II 374 consid. 2 p. 376); il y a donc l à un lien
entre le devoir d'entretien et les relations personnelles, l'inexistence de
celles -ci, attribuée au seul comportement de l'enfant, pouvant ainsi justifier
un refus de la part des parents de toute contribution d'entretien. La
jurisprudence exige toutefois
Seite 180 (BGE_120_II_177)
que l'attitude de l'enfant lui soit imputable à faute (ATF 117 II 127 consid.
3b p. 130). Cette jurisprudence est critiqu ée par STETTLER et HEGNAUER (RJB
1992, p. 138 ss, RDT 1988, p. 76/77).
Erw ägung 4
4.- Les principes rappel és ci-dessus trouvent leur limite
dans l'interdiction de l'abus de droit prescrite par l'art. 2 CC et dont le
recourant se pr évaut également en l'espèce.
a) Dans une jurisprudence d éjà ancienne (ATF 83 II 89), le Tribunal fédéral a
réduit aux normes usuelles les engagements alimentaires plus étendus qu'un père
avait accepté d'assumer en raison des relations personnelles étroites qu'il
devait conserver avec ses enfants selon la convention sur les effets
accessoires du divorce. Le Tribunal fédéral avait justifié cette réduction par
le comportement abusif de la mère, qui n'avait pas respecté les termes de
ladite convention en partant avec ses enfants dans un pays lointain
(Australie), en ne prenant aucune mesure pour permettre aux enfants de garder
des rapports personnels avec leur père et en ne respectant pas ses obligations
de renseigner son ex-mari sur l'éducation et le développement des enfants. Cet
arrêt précisait toutefois que l'art. 157 CC ayant pour but la sauvegarde des
intérêts des mineurs, la pension ne pourrait, même dans lesdites circonstances,
être supprimée ou diminuée dans une mesure qui ne permettrait plus de couvrir
normalement les frais d'entretien et d'éducation des enfants (arrêt précité
consid. 2 p. 92, rappelé dans ATF 95 II 385 consid. 3 p. 388). Cette
212
jurisprudence, critiquée par MERZ in RJB 1959, p. 7/8, semble être approuv ée
par HEGNAUER (RDT 1993, p. 12 et Berner Kommentar n. 133 ad art. 275 CC).
Dans la mesure où elle touche aussi les intérêts des enfants, cette solution
ne saurait toutefois être retenue que dans des cas très exceptionnels: par
exemple, lorsque les engagements financiers du d ébiteur de la pension dépassent
largement les normes usuelles, au point de constituer un complément
significatif dont b énéficie directement le détenteur de l'autorité parentale
(pension déguisée), et que ce dernier viole gravement ses devoirs. Cette
réserve s'impose d'autant plus lorsqu'il s'agit de sanctionner le comportement
abusif d'un enfant mineur, même proche de la majorité, qui refuserait sans
motif, consciemment et contrairement à ses devoirs filiaux, toute relation
personnelle avec l'autre parent. Cette attitude est souvent l'une des
conséquences de la procédure de divorce qui a opposé les parents et qui peut
avoir des effets encore après l'adolescence. Il convient d ès lors de tenir
compte des émotions que la séparation des parents peut faire naître chez
l'enfant et des tensions qui en résultent souvent,
Seite 181 (BGE_120_II_177)
sans qu'on puisse en faire grief à celui-ci (ATF 113 II 374 consid. 2 p.
376/377). Les relations entre parents divorcés et enfants sont en général
complexes et il est particuli èrement difficile de dégager à cet égard les
responsabilités des uns et des autres (STETTLER, RDT 1982, p. 10).
b) En l'occurrence, la Cour cantonale constate, de manière à lier le Tribunal
fédéral (art. 63 al. 2 OJ ), que l'enfant (prénommé ci-après A.) se trouve dans
un conflit de loyaut é à l'égard de ses parents, qui n'ont pas réussi depuis
leur divorce à apaiser leurs dissensions, et qu'il en est résulté un climat
tendu, peu propice au d éroulement serein d'un droit de visite; dans ces
conditions, on ne saurait reprocher à l'enfant de n'avoir pas encore résolu le
conflit qui l'oppose à son p ère; par ailleurs, rien au dossier ne permettrait
de conclure que la mère est responsable du comportement d'A.
Le recourant qualifie d'insoutenable cette appréciation des juges cantonaux.
Il estime qu'à 17 ans, son fils devrait comprendre qu'il n'est pas admissible
de refuser tout contact avec lui et de le réduire au seul rôle de "p ère payeur"
("Zahlvater"); à cet âge, on ne pourrait plus excuser un tel comportement en
arguant de l'existence d'un conflit de loyauté; on ne saurait en outre nier la
responsabilité de la mère qui, en laissant rapidement à son fils le libre choix
au sujet de ses relations avec son père, ne l'aurait pas encouragé à maintenir
des contacts avec celui-ci; de plus, en cachant au recourant l'adresse du
collège fréquenté par A., la mère aurait démontré sa volonté d'empêcher le
rétablissement des relations du fils avec son père; tant l'attitude d'A. que
celle de l'intim ée seraient donc constitutives d'abus de droit.
Ces reproches ne sont pas fondés. Sur la base de ses constatations,
l'autorit é cantonale ne pouvait que conclure à l'absence de tout comportement
abusif d'A. et de sa mère. En effet, la situation conflictuelle qui a subsisté
entre les parties après leur divorce a très probablement compliqué les
relations personnelles entre parents et enfant, ce qui a inévitablement
rejailli sur l'exercice du droit de visite du recourant. Ce résultat a son
origine dans le climat de tension persistant entre les parties; il ne saurait
être imputé au seul comportement du fils. Certes, à 17 ans, ce dernier devrait
en principe être capable de comprendre la situation dans laquelle il se trouve;
il paraît n éanmoins très perturbé encore par la mésentente de ses parents. Dans
ces circonstances difficiles, l'autorité cantonale pouvait donc admettre que
l'impossibilité pour le recourant d'exercer normalement son droit de visite ne
pouvait être imputée à faute à l'enfant.
Seite 182 (BGE_120_II_177)
Quant à une éventuelle responsabilité de l'intim ée, aucun fait retenu par
l'autorit é cantonale ne permet de la fonder. Les critiques du recourant sur ce
point ne sont pas recevables, comme on l'a vu plus haut, dès lors qu'elles
s'écartent des constatations du Tribunal cantonal.
213
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
5A_505/2013
Urteil vom 20. August 2013
II. zivilrechtliche Abteilung
Besetzung
Verfahrensbeteiligte
Bundesrichter von Werdt, Präsident,
Bundesrichterinnen Escher, Hohl,
Gerichtsschreiber Bettler.
X.________,
c/o Rechtsanwalt Beat Wieduwilt,
vertreten durch Rechtsanwalt Beat Wieduwilt,
Beschwerdeführerin,
gegen
Z.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Anne-Françoise Zuber,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Ergänzung des Scheidungsurteils (persönlicher Verkehr),
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des
Kantons Zürich, II. Zivilkammer, vom 3. Juni 2013.
214
Sachverhalt:
A.
X.________ und Z.________ (beide geb. 1983) heirateten im Januar
2005. Sie wurden Eltern eines Sohnes (Y.________, geb. im De zember 2006). Nach der Trennung der Ehegatten mussten die Folgen
des Getrenntlebens gerichtlich geregelt werden (Verfügung des Eheschutzgerichts vom 5. Oktober 2007).
B.
Am 17. Januar 2008 leiteten die Ehegatten beim Bezirksgericht
Andelfingen das Scheidungsverfahren ein.
Mit Urteil vom 3. Juni 2008 schied das Bezirksgericht die Parteien. Es
stellte den gemeinsamen Sohn unter die elterliche Sorge der Mutter
und ordnete an, die durch das Eheschutzgericht errichtete Beistandschaft zur Regelung und Überwachung des persönlichen Verkehrs sei
von der zuständigen Vormundschaftsbehörde so lange weiterzuführen,
als es diese für nötig erachte. Das Bezirksgericht betraute den Bei stand sodann damit, das Besuchsrecht festzulegen, dessen Modalitäten zu regeln, dieses zu überwachen und über die Notwendigkeit
und gegebenenfalls Dauer eines begleiteten Besuchsrechts zu entscheiden. Es nahm Vormerk davon, dass die Parteien allfällige Kosten
für ein begleitetes Besuchsrecht je zur Hälfte tragen. Sodann urteilte
es über die weiteren Nebenfolgen der Scheidung.
C.
Am 28. September 2009 reichte Z.________ beim Bezirksgericht
Andelfingen eine Klage auf Abänderung des Scheidungsurteils vom
3. Juni 2008 ein (bezüglich persönlichem Verkehr, Kinderunterhalt und
nachehelichem Unterhalt). Strittig blieb der persönliche Verkehr. Auf
Berufung von X.________ und Anschlussberufung von Z.________
gegen das bezirksgerichtliche Urteil vom 18. September 2012 hin
urteilte das Obergericht des Kantons Zürich am 3. Juni 2013.
Es räumte Z.________ das Recht wie folgt ein, seinen Sohn zu sich
oder mit sich auf Besuch zu nehmen (Ziff. 1 des Dispositivs):
- Begleitetes Besuchsrecht am ersten Sonntag jedes Monats von
zwei Stunden (September 2013 – November 2013), vier Stunden
(Dezember 2013 – Februar 2014) und sechs Stunden (März 2014 –
Mai 2014);
Seite 2
215
- (Unbegleitetes) Besuchsrecht von acht Stunden jeweils am ersten
Sonntag jedes Monats (Juni 2014 – November 2014);
- (Unbegleitetes) Besuchsrecht jeweils am ersten Wochenende jedes
Monats (ab Dezember 2014);
- Ferienrecht während der Schulferien von zwei Wochen (ab dem
Jahr 2015) und von drei Wochen (ab dem Jahr 2019).
Weiter bestätigte es den bezirksgerichtlichen Entscheid, wonach die
Mehrkosten für das in einer ersten Phase in begleiteter Form auszuübende Besuchsrecht zu 2/3 vom Vater und zu 1/3 von der Mutter
zu tragen sind (Ziff. 2 des Dispositivs). Sodann ernannte es dem Kind
einen Beistand gemäss Art. 308 Abs. 2 ZGB zur Überwachung des
persönlichen Verkehrs und forderte die zuständige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde auf, einen solchen Beistand zu ernennen
(Ziff. 3 – 5 des Dispositivs). Schliesslich bestätigte es den bezirks gerichtlichen Kostenspruch (Ziff. 6 des Dispositivs), auferlegte die
Gerichtskosten des Berufungsverfahrens den Parteien je zur Hälfte
und sprach insoweit keine Parteientschädigungen zu (Ziff. 7 – 9 des
Dispositivs).
D.
Dem Bundesgericht beantragt X.________ (nachfolgend Beschwerdeführerin) in ihrer Beschwerde vom 5. Juli 2013, die Ziff. 1 – 9 des
obergerichtlichen Urteils vom 3. Juni 2013 seien aufzuheben und es
sei festzustellen, dass derzeit kein Besuchsrecht festgelegt werden
könne. Eventualiter sei die Angelegenheit an das Obergericht zurück zuweisen, damit gutachterlich abgeklärt werden könne, ob
Y.________ zum heutigen Zeitpunkt stabil genug sei, in Kontakt zu
Z.________ (nachfolgend Beschwerdegegner) zu treten und wie das
Besuchsrecht gegebenenfalls auszugestalten wäre.
Zudem ersucht die Beschwerdeführerin um aufschiebende Wirkung
und um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das bun desgerichtliche Verfahren. Das Obergericht hat auf eine Vernehmlassung zum Gesuch um aufschiebende Wirkung verzichtet (Schreiben
vom 9. Juli 2013). Der Beschwerdegegner hat beantragt, das Gesuch
abzuweisen; zudem ersucht auch er um unentgeltliche Rechtspflege
und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren (Vernehm lassung vom 12. Juli 2013). Mit Verfügung vom 15. Juli 2013 hat das
Bundesgericht der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Das Bundesgericht hat die Vorakten, in der Sache hingegen keine
Vernehmlassungen eingeholt.
Seite 3
216
Erwägungen:
1.
Angefochten ist ein auf Rechtsmittel hin ergangener kantonal letzt instanzlicher Endentscheid eines oberen Gerichts über die Abän derung beziehungsweise (mit Blick auf den persönlichen Verkehr)
Ergänzung eines Scheidungsurteils und damit ein Entscheid in Zivil sachen in einer nicht vermögensrechtlichen Angelegenheit (Art. 72 ff.
BGG). Die Beschwerde in Zivilsachen ist damit grundsätzlich zulässig.
Auf formelle Einzelfragen ist im Sachzusammenhang einzugehen.
2.
2.1 Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die obergerichtliche
Anordnung und Ausgestaltung des Besuchsrechts und beantragt, dieses sei zurzeit zu verweigern.
2.2 Eltern, denen die elterliche Sorge oder Obhut nicht zusteht, und
das minderjährige Kind haben gegenseitig Anspruch auf angemessenen persönlichen Verkehr (Art. 273 Abs. 1 ZGB).
2.3 Wird das Wohl des Kindes durch den persönlichen Verkehr gefährdet, üben die Eltern ihn pflichtwidrig aus, haben sie sich nicht
ernsthaft um das Kind gekümmert oder liegen andere wichtige Gründe
vor, so kann ihnen das Recht auf persönlichen Verkehr verweigert
oder entzogen werden (Art. 274 Abs. 2 ZGB).
Gefährdet ist das Wohl des Kindes, wenn seine ungestörte körper liche, seelische oder sittliche Entfaltung durch ein auch nur begrenztes
Zusammensein mit dem nicht obhutsberechtigten Elternteil bedroht ist.
Als wichtige Gründe fallen Vernachlässigung, physische und psychische Misshandlung, insbesondere sexueller Missbrauch des Kindes, in
Betracht. Erforderlich ist sodann, dass dieser Bedrohung nicht durch
geeignete andere Massnahmen begegnet werden kann. Dies folgt aus
dem Gebot der Verhältnismässigkeit, dem Verweigerung oder Entziehung des persönlichen Verkehrs als Kindesschutzmassnahme unterliegen. Der vollständige Entzug des Rechts auf persönlichen Verkehr
bildet daher die „ultima ratio“ und darf im Interesse des Kindes nur
angeordnet werden, wenn die nachteiligen Auswirkungen des per sönlichen Verkehrs sich nicht in für das Kind vertretbaren Grenzen halten
lassen.
Können die befürchteten nachteiligen Auswirkungen des persönlichen
Verkehrs für das Kind durch die persönliche Anwesenheit einer Dritt -
Seite 4
217
person (sog. begleitetes Besuchsrecht) in Grenzen gehalten werden,
so verbietet sich die Verweigerung des persönlichen Verkehrs (vgl.
BGE 122 III 404 E. 3b und 3c S. 407 f.; Urteil 5A_377/2009 vom
3. September 2009 E. 5.2, in: FamPra.ch 2010 S. 209 und SJ 2010 I
S. 314).
2.4 Das Besuchsrecht wird nach richterlichem Ermessen festgesetzt
(Art. 4 ZGB; BGE 131 III 209 E. 3 S. 210). Das Bundesgericht übt bei
der Überprüfung solcher Entscheide eine gewisse Zurückhaltung aus:
Es greift nur ein, wenn die kantonale Instanz von dem ihr zustehenden
Ermessen falschen Gebrauch gemacht hat, das heisst, wenn sie
grundlos von in Lehre und Rechtsprechung anerkannten Grundsätzen
abgewichen ist, wenn sie Gesichtspunkte berücksichtigt hat, die keine
Rolle hätten spielen dürfen, oder wenn sie umgekehrt rechtserhebliche
Umstände ausser Acht gelassen hat. Aufzuheben und zu korrigieren
sind ausserdem Ermessensentscheide, die sich als im Ergebnis offensichtlich unbillig, als in stossender Weise ungerecht erweisen
(BGE 138 III 669 E. 3.1 S. 671).
3.
3.1 Gemäss den unbestrittenen obergerichtlichen Sachverhaltsfeststellungen kam es zwischen dem Beschwerdegegner und seinem
Sohn zum ersten Kontakt, als dieser sechs Monate alt war. Anschliessend fanden meist begleitete Besuche statt, letztmals im Jahr
2009. Da – gemäss den Ausführungen der Beschwerdeführerin – die
Situation (Kontakt zum Beschwerdegegner) Y.________ damals überforderte und ihn an seine psychischen Grenzen brachte (Rz. 16 der
Beschwerde), wurde das Besuchsrecht vom damaligen Beistand
sistiert und konnte seither nicht wieder aufgenommen werden. Die
Wiederaufnahme scheiterte im Übrigen auch daran, dass damals – wie
das Obergericht in einem Beschwerdeverfahren gegen eine Verfügung
der zuständigen Vormundschaftsbehörde feststellte – noch gar kein
Besuchsrecht festgelegt worden war und sich damit auch die angeordnete Besuchsrechtsbeistandschaft erübrigte; aus diesem Grund hat
der Beschwerdegegner am 28. September 2009 das vorliegende
Verfahren auf Abänderung beziehungsweise (mit Blick auf den persönlichen Verkehr) Ergänzung des lückenhaften Scheidungsurteils einlei ten müssen (Urteil des Obergerichts vom 20. August 2012, act. 174/9
der obergerichtlichen Akten; Art. 105 Abs. 2 BGG).
Der Beschwerdegegner hat demnach seinen Sohn seit dem Jahr 2009
nicht mehr gesehen. Y.________ war im obergerichtlichen Urteilszeitpunkt sechseinhalb Jahre alt und besuchte den Kindergarten im
Seite 5
218
zweiten Jahr. Er lebt bei seiner nicht erwerbstätigen Mutter und deren
Lebenspartner, die zusammen einen Sohn haben (zwei Jahre alt) und
(im Zeitpunkt des kantonalen Verfahrens) ein weiteres Kind erwar teten.
3.2 Das Obergericht hat in einem ersten Schritt geprüft, ob Gründe für
eine – wie von der Beschwerdeführerin beantragte – Verweigerung
des persönlichen Verkehrs vorliegen.
Es ist gestützt auf das Gutachten von Dr. phil. W.________ vom
22. Juli 2010 und dessen mündlichen Erläuterungen vom 2. Dezember
2010 sowie der Aussagen der Beschwerdeführerin und mehrerer Zeugen (Lebenspartner der Beschwerdeführerin, Pate des Kindes, Beistand, Erziehungsberaterin) zum Schluss gelangt, aufgrund der aktuellen Verhältnisse bestehe kein wichtiger Grund, um den persönlichen Verkehr zwischen dem Beschwerdegegner und seinem Sohn
gänzlich zu unterbinden und damit die völlige Entfremdung des Kindes
von seinem Vater in Kauf zu nehmen. Angesichts des Alters des Kindes, seines baldigen Eintritts in die Primarschule und seiner normalen
persönlichen Entwicklung könne in Übereinstimmung mit dem Gutachten von Dr. phil. W.________ davon ausgegangen werden, dass
der Sohn heute trotz allfälliger weiter bestehenden Spannungen zwischen seinen Eltern in der Lage sei, seinem Vater im Rahmen von
Besuchen persönlich zu begegnen und zu diesem eine Beziehung
aufzubauen. Entgegen der Empfehlung von Dr. phil. W.________ sei
es nicht gerechtfertigt, nunmehr (zu den heutigen Verhältnissen) ein
neues Gutachten einzuholen: Einerseits würde dies zu einer wei teren
Verzögerung des Verfahrens und damit des Unterbruchs des per sönlichen Verkehrs führen, andererseits sei fraglich, ob sich angesichts
der seit dem letzten Gutachten unveränderten Verhältnisse (langer
Unterbruch der Besuche und damit verbundene Problematik für das
Kind und die Eltern) überhaupt neue Erkenntnisse gewinnen lassen
würden.
An diesem Ergebnis ändere der von der Beschwerdeführerin im Berufungsverfahren neu vorgebrachte Bericht von Dr. med. V.________
vom 27. März 2013 nichts, wonach eine Wiederaufnahme der Kontakte in den nächsten ein, zwei Jahren wegen einer sehr ernsthaften,
tief gehenden Verunsicherung des Kindes verfrüht wäre: Dieser Be richt beruhe einzig auf der Behandlung des Kindes und den Angaben
der Beschwerdeführerin und sei damit als Parteibericht zu qualifizieren. Sodann indizierten einige Aussagen des Gutachters eine gewisse Befangenheit. Die Einschätzung, es liege beim Kind eine sehr
Seite 6
219
ernste und tief gehende Verunsicherung vor, stehe im Widerspruch zur
Aussage der Beschwerdeführerin vom 12. Juni 2012, wonach das Kind
körperlich und psychisch gesund sei. Schliesslich sei die Schlussfol gerung des Berichts, die Wiederherstellung des Kontakts zum Vater
führe beim Kind zu einer Gesundheitsgefährdung, nicht überzeugend,
bestünden doch keine Angaben über die Ursachen der diagnostizierten Verunsicherung und Traumatisierung.
4.
4.1 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde,
den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Wird eine
Sachverhaltsfeststellung beanstandet, muss in der Beschwerdeschrift
dargelegt werden, inwiefern diese Feststellung offensichtlich unrichtig
und damit willkürlich (BGE 137 III 226 E. 4.2 S. 234) oder durch eine
andere Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG zustande gekommen ist und inwiefern die Behebung des Mangels für den Ausgang
des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105
Abs. 2 BGG).
Die Sachverhaltsfeststellung beziehungsweise Beweiswürdigung erweist sich als willkürlich, wenn das Gericht Sinn und Tragweite eines
Beweismittels offensichtlich verkannt hat, wenn es ohne sachlichen
Grund ein wichtiges und entscheidwesentliches Beweismittel unberücksichtigt gelassen oder wenn es auf der Grundlage der festgestellten Tatsachen unhaltbare Schlussfolgerungen gezogen hat
(BGE 137 III 226 E. 4.2 S. 234).
4.2 In einem ersten Teil ihrer Beschwerde legt die Beschwerdeführerin ausführlich und ohne jeglichen Bezug zu den Sachverhaltsfeststellungen des Obergerichts den Sachverhalt dar. Soweit ihre Darstellung vom Sachverhalt, den das Obergericht festgestellt hat, abweicht
oder diesen ergänzt, unterlässt es die Beschwerdeführerin, die obergerichtlichen Feststellungen im beschriebenen Sinn zu rügen. Darauf
ist nicht einzutreten (vgl. E. 4.1 oben; BGE 136 II 508 E. 1.2 S. 512).
Soweit die Beschwerdeführerin zudem neue Tatsachen und Beweis mittel vorbringt, sind diese unzulässig und unbeachtlich (Art. 99 Abs. 1
BGG).
5.
5.1 Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des Willkürverbots in
der Beweiswürdigung (Art. 9 BV), weil das Obergericht den aktuellen
Gesundheitszustand von Y.________ und die Frage seiner genügenden Stabilität für Kontakte zu seinem Vater nicht gutachterlich habe
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220
abklären lassen. Dies sei aber nötig, um beurteilen zu können, ob ein
Besuchsrecht aufgenommen werden könne und gegebenenfalls wie
dieses auszugestalten sei. Dr. phil. W.________ habe dies im Gut achten vom 22. Juli 2010 und an der Verhandlung vom 2. Dezember
2010 denn auch gefordert. Das Obergericht habe folglich geurteilt,
obwohl es den aktuellen gesundheitlichen Zustand von Y.________
gar nicht gekannt habe (Rz. 38 – 43, 51 und 53 – 54 der Beschwerde).
5.2
5.2.1 Nach Art. 296 Abs. 1 ZPO erforscht das Gericht bei Kin derbelangen in familienrechtlichen Angelegenheiten den Sachverhalt von
Amtes wegen. Die Untersuchungsmaxime verpflichtet das Gericht, von
sich aus alle Elemente in Betracht zu ziehen, die entscheidwesentlich
sind, und unabhängig von den Anträgen der Parteien Beweise zu
erheben. Art. 296 Abs. 1 ZPO schreibt dem Gericht indessen nicht vor,
mit welchen Mitteln der Sachverhalt abzuklären ist. Ebenso wenig
erfasst diese Bestimmung die Art der Erhebung von Beweismitteln.
Wenn der massgebliche Sachverhalt sich auf andere Weise abklären
lässt, verstösst demzufolge auch der Verzicht auf ein bestimmtes Gut achten nicht gegen Bundesrecht. Die Untersuchungsmaxime schliesst
sodann eine vorweggenommene Beweiswürdigung nicht aus: Verfügt
das Gericht über genügende Grundlagen für eine sachgerechte
Entscheidung, kann es auf weitere Beweiserhebungen verzichten
(BGE 130 III 734 E. 2.2.3 S. 735; Urteil 5A_911/2012 vom 14. Februar
2013 E. 6.3.1).
5.2.2 Sind Fragen rund um den persönlichen Verkehr zwischen einem
Elternteil und seinem Kind zu beantworten, so liegt es im pflicht gemässen Ermessen des Gerichts, ob ein kinderpsychiatrisches oder
kinderpsychologisches Gutachten einzuholen ist. Kann der massgebliche Sachverhalt auf andere Weise abgeklärt werden, so erweist
sich der Verzicht auf die Anordnung eines Gutachtens nicht als bundesrechtswidrig (Urteil 5A_92/2009 vom 22. April 2009 E. 4.2.2).
Die massgebende Frage des Kindeswohls (vgl. E. 2.3 oben) entzieht
sich einer starren Beurteilung und ist stets im Hinblick auf die aktuel len Verhältnisse zu beantworten. Dies kann dazu führen, dass das
befasste Sachgericht gegebenenfalls weitere Beweise zu erheben,
namentlich ein weiteres Gutachten einzuholen hat. Massgeblich ist
dabei, ob neue Erkenntnisse zu erwarten oder ob die Ergebnisse der
früheren Untersuchungen nach wie vor aktuell sind (Urteile
5A_911/2012 vom 14. Februar 2013 E. 6.4.3; 5A_138/2012 vom
Seite 8
221
26. Juni 2012 E. 4, in: FamPra.ch 2012 S. 1171; jeweils im Zusam menhang mit der Zuteilung der elterlichen Sorge).
5.2.3 Die antizipierte Beweiswürdigung ist Teil der Beweiswürdigung,
die vom Bundesgericht nur auf Willkür (Art. 9 BV) hin überprüft werden
kann (BGE 138 III 374 E. 4.3.2 S. 376; vgl. E. 4.1 oben).
5.3 Die vom Obergericht vorgenommene antizipierte Beweiswürdigung erweist sich nicht als willkürlich. Das Obergericht hat sich einer seits auf die Aussagen von Dr. phil. W.________ abgestützt, der in
seinem Gutachten vom 22. Juli 2010 und seinen mündlichen Ergänzungen vom 2. Dezember 2010 zum Schluss gekommen war, nach
einem Jahr Kindergarten oder nach der ersten Primarschulklasse
könnte ein Kontakt zwischen Y.________ und seinem Vater in kleinen
Abstufungen etabliert werden. Das Obergericht hat sodann fest gestellt, Y.________ sei normal entwickelt und körperlich und psychisch gesund. Es hat sich dabei auf diverse Aussagen von Zeugen,
aber insbesondere auch der Beschwerdeführerin selbst, abgestützt (S.
13 des obergerichtlichen Urteils). Es ist deshalb in tatsächlicher
Hinsicht zum Ergebnis gelangt, Y.________ sei nunmehr (nach zwei
Kindergartenjahren und vor dem baldigen Eintritt in die Primarschule)
in der Lage, seinem Vater im Rahmen von Besuchen zu begegnen
und eine Beziehung zu diesem aufzubauen.
Gestützt auf dieses Sachverhaltsfeststellungen durfte das Obergericht
vorliegend in antizipierter Beweiswürdigung auf eine (erneute) Begutachtung von Y.________ verzichten, zumal es darauf hingewiesen
hat, dass von einer neuen Begutachtung keine neuen Erkenntnisse zu
erwarten seien, hätten sich doch die Verhältnisse seit der Begutachtung im Jahr 2010 nicht verändert. Dies bestreitet die Beschwer deführerin denn auch nicht rechtsgenüglich, sondern verweist einzig
darauf, das Obergericht hätte prüfen müssen, ob Y.________ aktuell
stabil genug sei. Dieser allgemeine Einwand rechtfertigt jedoch keine
erneute Begutachtung und damit eine weitere Verzögerung des Besuchsrechts (vgl. dazu Urteil 5C.269/2006 vom 6. März 2007 E. 2.2.3).
5.4 Sodann wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die obergerichtliche Beweiswürdigung zum aktuellen Gesundheitszustand von
Y.________. Es sei nicht nachvollziehbar, gestützt auf welche Grund lage das Obergericht zum Schluss komme, dass es dem Kind aktuell
gut gehe.
Seite 9
222
So habe das Obergericht ihre (der Beschwerdeführerin) Aussagen nur
unvollständig wiedergegeben und nicht vermerkt, dass sie ebenfalls
darauf hingewiesen habe, Y.________ sei psychologisch nicht einzu schätzen und es gebe oft Situationen, die nicht normal seien. Die Aus sagen ihres Lebenspartners habe das Obergericht „aus dem Zusammenhang gerissen“ und es sei nicht ersichtlich, inwiefern sein Hinweis
auf die positive Entwicklung von Y.________ für die Beurteilung des
Besuchsrechts massgebend sein könne. Was die Würdigung der Aus sagen des Paten von Y.________ betreffe, sei es nachvollziehbar,
dass dieser Y.________ als aufgewecktes Kind bezeichne, halte er
sich doch einerseits aus der Besuchsrechtsproblematik heraus und
bekomme andererseits die alltäglichen Probleme von Y.________ gar
nicht mit. Was die Aussagen des früheren Beistands (S.________)
und der Erziehungsberaterin (T.________) betrifft, hätten diese
Y.________ seit rund zwei Jahren nicht mehr gesehen und könnten
deshalb den aktuellen Zustand von Y.________ gar nicht beurteilen.
Inwiefern schliesslich das Obergericht gestützt auf das Gutachten vom
2. Juli 2010 darauf schliesse, dass Y.________ ein lebendiger Bub
sei, recht intelligent wirke und schnell auf Beziehungen eingehe, sei
nicht nachvollziehbar. Der Gutachter habe diese Aussagen selbst
relativiert und wie sich aus dem Bericht von Dr. med. V.________ vom
2. Juli 2013 (Beschwerdebeilage 16) ergebe, habe der Besuch des
Kindergartens und die damit verbundene Trennung von Y.________
von seiner Bezugsperson zu grossen Unsicherheiten und Ängsten
geführt.
Die vom Obergericht berücksichtigten Aussagen seien demnach erstens veraltet, zweitens aus dem Zusammenhang gerissen und drittens
könnten die meisten der befragten Personen mangels Fachkenntnis
gar keine Auskünfte zum Gesundheitszustand von Y.________ geben.
Schliesslich sei es auch völlig unzumutbar, wenn das Obergericht den
Bericht von Dr. med. V.________ vom 27. März 2013 als Parteibericht
qualifiziere.
Zusammenfassend könne deshalb festgehalten werden, dass die Be weiswürdigung des Obergerichts als willkürlich bezeichnet werden
müsse.
5.5
5.5.1 Beim (zweiten) Bericht von Dr. med. V.________ vom 2. Juli
2013 handelt es sich um ein neues Beweismittel (Art. 99 Abs. 1 BGG),
weshalb dieses unberücksichtigt zu bleiben hat.
Seite 10
223
5.5.2 Soweit sich die Beschwerdeführerin gegen die obergerichtliche
Würdigung des (ersten) Berichts von Dr. med. V.________ wendet,
vermag sie den Anforderungen an eine Willkürrüge von vornherein
nicht zu genügen (vgl. E. 4.1 oben). Das Obergericht hat ausführlich
dargelegt, weshalb es nicht auf diesen Bericht abgestellt hat. Mit dieser Begründung setzt sich die Beschwerdeführerin nicht auseinander,
sondern begnügt sich mit dem Hinweis, die Folgerung des Obergerichts sei unzumutbar.
Im Übrigen hat das Obergericht aufgrund eines Gesamtbilds und in
Würdigung mehrerer Beweismittel auf den heutigen Gesundheitszu stand von Y.________ geschlossen. Dabei hat es sich massgeblich
auf die Prognose des Gutachters Dr. phil. W.________ abgestützt,
aber auch Aussagen von aktuellen und früheren Bezugspersonen berücksichtigt. Insoweit (frühere Bezugspersonen) zeigt die Beschwerde führerin nicht auf, inwiefern sich der Gesundheitszustand von
Y.________ in den letzten rund zwei Jahren verändert (nämlich verschlechtert) haben soll. Im Gegenteil verweist das Obergericht zurecht
auf die Aussage der Beschwerdeführerin vom 12. Juni 2012, wonach
Y.________ zwar eher ängstlich und vorsichtig, aber körperlich wie
auch psychisch gesund sei. Daran ändert nichts, dass die Beschwerdeführerin damals ebenfalls ausgesagt hat, es gebe Situationen, die
nicht normal seien (z.B. wenn ein Polizeifahrzeug mit Blaulicht vor beifahre, renne Y.________ auf sie zu und wolle im Internet sofort
nachschauen, was geschehen sei; Y.________ könne teilweise nicht
in seinem Bett schlafen, weil er Angst habe; act. 142 S. 6 der bezirksgerichtlichen Akten; Art. 105 Abs. 2 BGG).
5.5.3 Inwiefern deshalb das Obergericht in seiner Beweiswürdigung in
Willkür verfallen sein soll, ist nicht ersichtlich.
5.6 Besteht demnach aufgrund der obergerichtlichen Sachverhaltsfeststellung durch die Wiederaufnahme des Kontakts keine Gefährdung des Kindeswohls, besteht kein Grund, den persönlichen Verkehr
zu verweigern. Das Obergericht hat zu Recht einen Anspruch auf per sönlichen Verkehr bejaht.
6.
6.1 Das Obergericht hat in einem zweiten Schritt zur konkreten Aus gestaltung des Besuchsrechts erwogen, die besonderen Umstände
des vorliegenden Falles (nämlich der lange Unterbruch des Kontakts
zwischen Vater und Sohn, die Konfliktsituation der Eltern und die
Seite 11
224
Ängste der Beschwerdeführerin) seien bei der Ausgestaltung des
Besuchsrechts zu berücksichtigen. Mit regelmässigen und zeitlich
abgestuften (immer längeren) Kontakten könne die Grundlage für eine
intensivierte und positive Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung geschaffen werden. Aufgrund des langen Kontaktabbruchs dränge sich
ein begleitetes Besuchsrecht auf, was von beiden Elternteilen grund sätzlich nicht bestritten werde. Da das begleitete Besuchsrecht grund sätzlich nur eine vorübergehende Massnahme sei und um einen freien
und unbefangenen Kontakt zwischen dem Beschwerdegegner und
Y.________ nicht auf unbegrenzte Zeit zu verhindern, sei das Besuchsrecht nur in der Zeit ab September 2013 bis und mit Mai 2014 in
begleiteter Form auszuüben.
6.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, es sei völlig unangemessen, das Besuchsrecht einzig für neun Monate in begleiteter Form
auszugestalten. Werde ein Besuchsrecht festgelegt, sei dies unbe fristet in begleiteter Form festzulegen.
Auch die vom Obergericht vorgenommene zeitliche Abstufung des Be suchsrechts ab September 2013 erscheine nicht als sachgerecht.
Y.________ brauche länger, um sich auf eine ihm fremde Person ein zulassen. Da nicht vorausgesehen werden könne, wie sich die Be ziehung zwischen Y.________ und dem Beschwerdegegner entwickle,
könne auch nicht bereits zum jetzigen Zeitpunkt eine schrittweise Ausweitung des Besuchsrechts vorgesehen werden.
6.3 Eine rechtsfehlerhafte Ermessensausübung (vgl. dazu E. 2.4
oben) durch das Obergericht liegt nicht vor. Vielmehr kann die An ordnung eines anfänglichen (und damit vorübergehenden) begleiteten
Besuchsrechts gerade dort angezeigt sein, wo – wie vorliegend – eine
behutsame Wiederannäherung zwischen dem Vater und seinem Kind
sichergestellt werden soll, bevor es dann zu einer Lockerung (Aufhebung der Begleitung) und Ausdehnung (in zeitlicher Hinsicht) hin zu
einem gerichtsüblichen Besuchsrecht kommen kann (vgl. BGE 130 III
585 E. 2.2.2 S. 590 f.; Urteile 5A_92/2009 vom 22. April 2009 E. 5.3.2,
in: FamPra.ch 2009 S. 786; 5A_647/2008 vom 14. November 2008
E. 4.4; 5C.211/2004 vom 9. März 2005 E. 4.3; 5C.247/2004 vom
10. Februar 2005 E. 7.2; zum Grundsatz, wonach das begleitete
Besuchsrecht nur vorübergehend, das heisst für eine begrenzte
Dauer, festzulegen ist vgl. Urteile 5C.197/2002 vom 18. November
2002 E. 2, in: Pra 2003 S. 232; 5P.33/2001 vom 5. Juli 2001 E. 3a, in:
FamPra.ch 2002 S. 172). Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin bestehen vorliegend keine Gründe, weshalb ein sol ches zeit-
Seite 12
225
lich abgestuftes und in einer ersten Phase begleitet auszuübendes
Besuchsrecht nicht dem Kindeswohl dienen soll.
Die Beschwerdeführerin ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass den
obhutsberechtigten Elternteil die Pflicht trifft, die Beziehung zwischen
dem Kind und dem anderen Elternteil zu fördern und das Kind für die
Kontaktpflege positiv vorzubereiten (vgl. auch Art. 274 Abs. 1 ZGB).
Es ist im sodann allgemein anerkannt, dass aufgrund des schicksalhaften Eltern-Kind-Verhältnisses die Beziehung des Kindes zu beiden
Elternteilen sehr wichtig ist und bei dessen Identitätsfindung eine ent scheidende Rolle spielen kann (BGE 130 III 585 E. 2.2.1 und E. 2.2.2
S. 589 f.).
7.
7.1 Schliesslich hat das Obergericht die Kosten, die durch das in einer
ersten Phase begleitet auszuübende Besuchsrecht entstehen werden,
dem Beschwerdegegner zu 2/3 und der Beschwerdeführerin zu 1/3
auferlegt.
Unter Verweis auf den bezirksgerichtlichen Entscheid, der insoweit
nicht zu beanstanden sei, begründete es dies damit, dass die Begleitung aufgrund einer Konfliktlage, die beide Elternteile zu vertreten
hätten, notwendig sei. Die Aufteilung im Verhältnis 2/3 zu 1/3 (statt
einer hälftigen Aufteilung) rechtfertige sich damit, dass die Beschwer deführerin im Gegensatz zum Beschwerdegegner aufgrund der Kinderbetreuung nicht erwerbstätig sei.
7.2 Die Beschwerdeführerin legt dar, vorliegend verunmögliche nicht
in erster Linie die Konfliktlage zwischen den Eltern ein unbegleitetes
Besuchsrecht, sondern die massive Verunsicherung und Traumatisierung von Y.________. Da sie zudem über kein Erwerbseinkommen
verfüge, seien die Kosten des begleiteten Besuchsrechts vollumfänglich vom Beschwerdegegner zu tragen.
7.3 Die Beschwerdeführerin legt ihrer Begründung einen Sachverhalt
zugrunde (wonach sich das begleitete Besuchsrecht aufgrund einer
massiven Verunsicherung und Traumatisierung von Y.________ aufdränge), der nicht nur im angefochtenen Entscheid keine Stütze findet,
sondern von diesem abweicht. Eine Sachverhaltsrüge (mit einer entsprechenden Begründung) erhebt die Beschwerdeführerin jedoch
nicht. Darauf ist demnach von vornherein nicht einzutreten (vgl. E. 4.1
oben).
Seite 13
226
8.
Die Beschwerdeführerin ficht die obergerichtliche Kosten- und Entschädigungsregelung für das kantonale Verfahren nicht selbstständig
an, sondern nur im Zusammenhang mit dem Ausgang des bundes gerichtlichen Verfahrens. Da sich die Beschwerde als unbegründet
beziehungsweise unzulässig erweist, hat auch der Kostenspruch des
Obergerichts Bestand und braucht darauf nicht eingegangen zu wer den.
9.
9.1 Aus den dargelegten Gründen muss die Beschwerde abgewiesen
werden, soweit darauf einzutreten ist. Die Beschwerdeführerin wird
damit kosten-, nicht hingegen entschädigungspflichtig, da sich die Vernehmlassung des Beschwerdegegners nur auf die aufschiebende Wirkung bezogen hat und er in diesem Punkt unterlegen ist (Art. 66 und
Art. 68 BGG).
9.2 Dem Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren kann
nicht entsprochen werden, verdeutlichen doch die vorstehenden Erwägungen, dass die gestellten Begehren von Beginn an keinen Erfolg ha ben konnten (Art. 64 Abs. 1 BGG).
9.3 Auch das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren muss abgewiesen werden, soweit es nicht gegenstandslos ge worden ist (Art. 64 Abs. 1 BGG). In der Sache hat das Bundesgericht
keine Vernehmlassungen eingeholt, und in Bezug auf das Gesuch um
aufschiebende Wirkung hat sich der Antrag des Beschwerdegegners
in seiner Vernehmlassung vom 12. Juli 2013 als aussichtslos erwie sen. Im Übrigen begnügt sich der anwaltlich vertretene Beschwerdegegner für die materielle Voraussetzung der Bedürftigkeit mit dem
blossen Hinweis, seine finanzielle Situation habe sich seit der Ge währung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung durch
die kantonalen Instanzen nicht verändert, er verfüge über kein Vermögen und sein unregelmässiges Einkommen decke nur knapp den
Lebensunterhalt (zur Obliegenheit des Gesuchstellers, seine aktuellen
Einkommens- und Vermögensverhältnisse umfassend aufzuzeigen
und soweit möglich zu belegen vgl. BGE 125 IV 161 E. 4a S. 164 f.
und Urteil 5A_57/2010 vom 2. Juli 2010 E. 7, nicht publ. in: BGE 136
III 140; sodann bestimmt das Bundesgericht die Bedürftigkeit autonom
und ist durch die im kantonalen Verfahren bejahte Bedürftigkeit nicht
gebunden, vgl. BGE 122 III 392 E. 3a S. 393).
Seite 14
227
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden der Beschwerdeführerin
auferlegt.
3.
Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege
und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren wird abgewiesen.
4.
Das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege
und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren wird abgewiesen, soweit es nicht gegenstandslos geworden ist.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons
Zürich, II. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 20. August 2013
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident:
Der Gerichtsschreiber:
von Werdt
Bettler
Seite 15
228
Urteilskopf
122 III 404
75. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 1. November 1996 i.S. I.
O. gegen R. O. (Berufung)
Inhaltsverzeichnis
Erwägungen
Erwägung 1
Sachverhalt Erwägung 2
Erwägung 3
Français
Erwägung 4
Regeste
- Deutsch
-
Seiten
404 406 407 408
409 410 411 412 413
- Italiano
Seite 404 (BGE_122_III_404)
Regeste
Begleitetes Besuchsrecht, Ferienrecht (Art. 274 Abs. 2 ZGB).
Wie Verweigerung oder Entzug des persönlichen Verkehrs nach Art. 274 Abs. 2
ZGB bedarf auch die Anordnung eines begleiteten Besuchsrechts konkreter
Anhaltspunkte für die Gefährdung des Kindeswohls. Eine bloss abstrakte Gefahr
einer möglichen ung ünstigen Beeinflussung des Kindes reicht nicht aus, um den
persönlichen Verkehr nur in begleiteter Form zuzulassen. Das gleiche gilt für
den Entzug des Ferienrechtes. Anwendung dieser Grunds ätze auf den konkreten
Fall.
Wird behauptet, dass Besuche überhaupt bzw. unbegleitete Besuche beim
besuchsberechtigten Elternteil dem Kind schaden, erweist sich ein
Sachverständigengutachten zur Frage des Besuchsrechts des nicht
obhutsberechtigten Elternteils in der Regel als unumgänglich. Dabei kommt es im
kantonalen Verfahren angesichts der Offizial- bzw. Untersuchungsmaxime nicht
darauf an, ob die Parteien einen entsprechenden Antrag gestellt haben (E. 1 -4).
Sachverhalt
A.- R. O., Schweizerbürgerin, und I. O., ursprünglich
türkischer Staatsangehöriger und seit 1991 eingebürgert, heirateten am 25.
Oktober 1985 in Rhäzüns. Aus der Ehe gingen die beiden Töchter S., geboren am
15. Januar 1986, und F., geboren am 22. Oktober 1993, hervor. Am 10. April 1995
reichte R. O. beim Vermittleramt des Kreises Rhäzüns Klage auf Scheidung der
Ehe und Regelung der Nebenfolgen ein.
Mit Urteil vom 15. November 1995 schied das Bezirksgericht Imboden die Ehe,
stellte die beiden Töchter unter die elterliche Gewalt der Klägerin und
verpflichtete den Beklagten zu monatlichen Unterhaltsbeiträgen von Fr. 500.-pro Kind zuz üglich Kinderzulagen. Ferner räumte es ihm das Recht ein, seine
Töchter jeweils am ersten Sonntag jedes Monats f ür drei Stunden zu sich auf
Besuch zu nehmen. Im weiteren wurde die zust ändige Vormundschaftsbeh örde
angewiesen, eine Begleitung der Besuche w ährend der ersten zwölf Monate nach
der Scheidung zu organisieren, sich hierauf über den jeweiligen Verlauf der
Besuche Bericht erstatten zu lassen und aufgrund dieser Berichte in jenem
Zeitpunkt über eine allfällige Verlängerung dieser Massnahme oder über andere
Kindschutzmassnahmen zu beschliessen, respektive beim Gericht Antrag zu
stellen.
B.- Mit kantonaler Berufung beantragte der Beklagte, ihm das Recht
einzur äumen, die Kinder S. und F. jedes erste Wochenende im Monat von
Samstagmittag bis Sonntagabend und zusätzlich während
229
Seite 406 (BGE_122_III_404)
drei Wochen Ferien im Jahr zu sich zu nehmen. Das Kantonsgericht von Graub ünden
wies indes die Berufung mit Urteil vom 26. März 1996 ab und bestätigte das
angefochtene Urteil.
C.- Dagegen hat der Beklagte beim Bundesgericht eidgenössische Berufung
eingereicht, mit der er die gleichen Anträge wie vor zweiter Instanz stellt.
Das Bundesgericht heisst die Berufung teilweise gut, soweit es darauf
eintritt, und weist die Angelegenheit zur Ergänzung des Sachverhalts und zu
neuer Entscheidung an die Vorinstanz zur ück.
Auszug aus den Erwägungen:
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Erw ägung 1
1.- Die Vorinstanz hat den persönlichen Verkehr des Beklagten
mit seinen beiden Kindern sehr stark eingeschränkt, indem sie ihm lediglich ein
auf drei Stunden pro Monat beschr änktes und erst noch begleitetes Besuchsrecht
einräumte und abgesehen davon auch jegliches Ferienbesuchsrecht verweigerte.
Der Beklagte rügt dies als Verletzung von Art. 156 i.V.m. Art. 273 ZGB und
erblickt darin ausserdem einen Verstoss gegen Art. 8 EMRK. Er beantragt dem
Bundesgericht, ihm ein jeweils ein Wochenende (Samstagmittag bis Sonntagabend)
pro Monat umfassendes und unbegleitetes Besuchsrecht sowie ein j ährliches
Ferienbesuchsrecht von drei Wochen zu gewähren.
Erw ägung 2
2.- Soweit der Beklagte Art. 8 EMRK als verletzt rügt, ist
auf die Berufung nicht einzutreten. Zwar kann mit Berufung grundsätzlich auch
eine Verletzung von Staatsverträgen geltend gemacht werden. Doch stellt die
Praxis die Beschwerde wegen Verletzung von Konventionsgarantien jener wegen
Verletzung verfassungsmässiger Rechte gleich (BGE 105 Ia 127 E. 3a; KÄLIN, Das
Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl. Bern 1994, S. 48 mit
Hinweisen), womit ein Verstoss gegen Art. 8 EMRK mit staatsrechtlicher
Beschwerde vorzutragen ist.
Erw ägung 3
3.- a) Art. 156 Abs. 2 i.V.m. Art. 273 ZGB räumt dem
Elternteil, welcher durch die Scheidung die elterliche Gewalt verliert, ein
Recht auf angemessenen persönlichen Verkehr mit seinen Kindern ein. Dieses
Recht steht dem Betroffenen um seiner Persönlichkeit willen zu. Als sogenanntes
"Pflichtrecht" dient es freilich in erster Linie dem Interesse des Kindes. Bei
der Festsetzung des Besuchsrechts geht es nicht darum, einen gerechten
Interessenausgleich zwischen den Eltern zu finden, sondern den elterlichen
Kontakt mit dem Kind in dessen Interesse zu regeln, wobei die Bedürfnisse des
Kleinkindes
Seite 407 (BGE_122_III_404)
nicht denjenigen eines Jugendlichen entsprechen (BGE 120 II 229 E. 3b/aa S. 232
f.; 120 Ia 369 E. 4a S. 375, je mit Hinweisen auf die Literatur). Es ist
allgemein anerkannt, dass aufgrund des schicksalhaften
Kind-Eltern-Verhältnisses die Beziehung des Kindes zu beiden Elternteilen sehr
wichtig und von hohem Wert ist und bei der Identit ätsfindung des Kindes eine
entscheidende Rolle spielen kann (FRIEDRICH ARNTZEN, Elterliche Sorge und
persönlicher Umgang WASSILOS E. FTHENAKIS, Väter, Band II: Zur
Vater -Kind-Beziehung in verschiedenen Familienstrukturen, München usw. 1985, S.
230
60 ff.; derselbe, Der Vater als sorge - und umgangsberechtigter Elternteil, in:
Kinderpsychiatrie und Familienrecht [Hrsg. H. REMSCHMIDT], Stuttgart 1984, S.
65 und 78 ff.; derselbe, Kindliche Reaktionen auf Trennung und Scheidung, in:
Handbuch der Kindheitsforschung [M. MARKEFKA], Neuwied 1993, S. 605 f.; MICHAEL
COESTER, Kindeswohl als Rechtsbegriff, Frankfurt a.M. 1983, S. 181 f.;
FELDER/HAUSHEER, Drittüberwachtes Besuchsrecht, in: ZBJV 129/1993, S. 698 ff.,
insbesondere S. 705).
b) Wird das Wohl des Kindes durch den persönlichen Verkehr gefährdet, üben
die Eltern ihn pflichtwidrig aus, haben sie sich nicht ernsthaft um das Kind
gekümmert oder liegen andere wichtige Gründe vor, so kann ihnen das Recht auf
persönlichen Verkehr verweigert oder entzogen werden (Art. 274 Abs. 2 ZGB).
Gefährdet ist das Wohl des Kindes, wenn seine ungestörte körperliche, seelische
oder sittliche Entfaltung durch ein auch nur begrenztes Zusammensein mit dem
nicht obhutsberechtigten Elternteil bedroht ist. Als wichtige Gründe fallen
Vernachl ässigung, physische und psychische Misshandlung, insbesondere sexueller
Missbrauch des Kindes in Betracht. Erforderlich ist sodann, dass dieser
Bedrohung nicht durch geeignete andere Massnahmen begegnet werden kann. Dies
folgt aus dem Gebot der Verhältnismässigkeit, dem Verweigerung oder Entziehung
des persönlichen Verkehrs als Kindesschutzmassnahme unterliegen
(BÜHLER/SPÜHLER, Berner Kommentar, N. 328 zu Art. 156 ZGB; HEGNAUER,
Persönlicher Verkehr-Grundlagen, in: ZVW 48/1993, S. 6). Der vollständige
Entzug des Rechts auf persönlichen Verkehr bildet daher die "ultima ratio" und
darf im Interesse des Kindes nur angeordnet werden, wenn die nachteiligen
Auswirkungen des persönlichen Verkehrs sich nicht in für das Kind vertretbaren
Grenzen halten lassen (BGE 120 II 229 E. 3b/aa S. 233; BÜHLER/SPÜHLER,
Ergänzungsband, N. 302 zu Art. 156 ZGB).
c) Können indessen die befürchteten nachteiligen Auswirkungen des
persönlichen Verkehrs f ür das Kind durch die persönliche
Seite 408 (BGE_122_III_404)
Anwesenheit einer Drittperson (sog. begleitetes Besuchsrecht) in Grenzen
gehalten werden, so verbieten das Persönlichkeitsrecht des nicht
obhutsberechtigten Elternteils, der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, aber
auch Sinn und Zweck des persönlichen Verkehrs dessen g änzliche Unterbindung.
Wie Verweigerung oder Entzug nach Art. 274 Abs. 2 ZGB bedarf auch die Anordnung
eines begleiteten Besuchsrechts konkreter Anhaltspunkte f ür die Gefährdung des
Kindeswohls. Eine bloss abstrakte Gefahr einer möglichen ungünstigen
Beeinflussung des Kindes reicht nicht aus, um den persönlichen Verkehr nur in
begleiteter Form ausüben zu lassen. Denn ein Besuch unter Aufsicht einer
Begleitperson hat nicht denselben Wert wie ein unbegleiteter, der in der Regel
ungezwungener erfolgt. Sodann führt namentlich die gegen den Willen des
berechtigten Elternteils angeordnete Begleitung nicht selten zur Verbitterung
des Berechtigten, wodurch wiederum die reibungslose Abwicklung des
Besuchsrechts und damit dieses selbst in Frage gestellt wird. Daher ist eine
gewisse Zur ückhaltung bei der Anordnung dieser Massnahme am Platz. Auf jeden
Fall darf die Eingriffsschwelle beim begleiteten Besuchsrecht nicht tiefer
angesetzt werden, als wenn es um die Verweigerung oder den Entzug des Rechts
auf persönlichen Verkehr überhaupt ginge. Der Unterschied besteht lediglich
darin, dass im letzteren Fall der Grund, der eine Gefahr für das Kindeswohl
befürchten lässt, derart ist, dass die Gefährdung weder durch die Anordnung
einer Begleitung noch durch andere Massnahmen ausgeschlossen werden kann.
d) Beim Entscheid über die persönlichen Beziehungen der Eltern zu den Kinder
berücksichtigt der Scheidungsrichter die gesamten Umst ände, w ürdigt sie in
ihrem Zusammenspiel und w ägt sie gegeneinander ab (BGE 119 II 201 E. 3 S. 204
f.). Dabei gilt für die Kinderzuteilung und die damit unmittelbar
zusammenh ängenden Fragen, namentlich auch für die Regelung des Besuchsrechts,
uneingeschränkt die Offizial- bzw. Untersuchungsmaxime (BGE 120 II 229 E. 1c S.
231). Der Scheidungsrichter hat demnach den f ür den Entscheid wesentlichen
Sachverhalt durch Erhebung aller erforderlichen Beweismittel von Amtes wegen zu
ermitteln (BÜHLER/SPÜHLER, Berner Kommentar bzw. BÜHLER/SPÜHLER,
Ergänzungsband, je N. 33 zu Art. 156 ZGB). Lebt er dieser Pflicht nicht nach,
so führt dies in der Regel dazu, dass die Sache zur Ergänzung des
Beweisverfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen werden muss (Art. 64 Abs. 1
OG; MESSMER/IMBODEN, Die eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen, Zürich
1992, Rz. 102, S. 141). In umstrittenen
231
Seite 409 (BGE_122_III_404)
Fällen wie dem vorliegenden und insbesondere, wenn ein Elternteil behauptet,
dass Besuche überhaupt bzw. unbegleitete Besuche beim grundsätzlich
besuchsberechtigten Elternteil dem Kind schaden w ürden, erweist sich die
Einholung eines Sachverst ändigenberichtes in der Regel als unumgänglich
(HINDERLING/STECK, Das schweizerische Ehescheidungsrecht, Z ürich 1995, S. 486
f.; ARNTZEN, a.a.O., S. 70). Dabei kommt es im kantonalen Verfahren angesichts
der Offizial - bzw. Untersuchungsmaxime nicht darauf an, ob die Parteien einen
entsprechenden Antrag gestellt haben.
Erw ägung 4
4.- Die Vorinstanz begründet die gerügten Einschränkungen des
persönlichen Verkehrs damit, dass der Beklagte sich in einer "instabilen
psychischen Situation" befinde; sie verweist dabei auf das erstinstanzliche
Urteil und erachtet im weiteren als wesentlich, dass der Beklagte sich an der
Berufungsverhandlung als "undurchsichtige, nicht leicht zu durchschauende
Person" gezeigt habe und ausserdem als arbeitsscheu gelte. Diese Feststellungen
gründet das Kantonsgericht einerseits auf widerspr üchliche Aussagen des
Beklagten vor Gericht über den Zweck einer Reise nach Polen, bei welcher ihm
eine gr össere Menge Bargeld abhanden gekommen sein soll; anderseits basieren
sie aber auch auf den sich widersprechenden Angaben des Beklagten über eine
grössere Anzahl Uhren, die anlässlich seines Aufenthaltes in der
psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur bei seinen persönlichen Effekten
vorgefunden worden waren. Widersprüchlich seien ferner auch seine Erklärungen
vor erster Instanz über die Aus übung des Besuchsrechtes, wonach er - angeblich
unter Einfluss von Medikamenten - nicht in vollem Bewusstsein auf ein übliches,
der Praxis entsprechendes Besuchsrecht verzichtet habe. Schliesslich gehe der
Beklagte keiner Arbeit nach, obwohl er laut einem bei den Akten liegenden
ärztlichen Befund nur zu 50 Prozent arbeitsunfähig sei. Zusammenfassend hält
das Kantonsgericht fest, die Persönlichkeitsstruktur des Beklagten schliesse
aus, dass er - sich selbst überlassen - in der Lage sei, auf die Interessen und
Bed ürfnisse eines zehnj ährigen und eines knapp dreijährigen Kindes einzugehen.
Sein Charakter und seine persönliche Verfassung stünden dem entgegen.
a) Der Beklagte erblickt zunächst in der Anordnung des begleiteten
Besuchsrechts eine Verletzung von Bundesrecht.
aa) Den Ausführungen des Bezirksgerichts, auf welche die Vorinstanz verweist,
ist zu entnehmen, dass sich der Beklagte in einer "instabilen psychischen
Situation" befinde; dies wird vom Beklagten unter Hinweis auf Depressionen und
Schlaflosigkeit,
Seite 410 (BGE_122_III_404)
derentwegen er in ärztlicher Behandlung stehe, an sich nicht bestritten. Dass
es sich sodann bei ihm um eine "undurchsichtige, nicht leicht zu
durchschauende Person" handle, welcher Eindruck anscheinend durch
unglaubw ürdige persönliche Aussagen vor Gericht bestärkt wurde, ist eine für
das Bundesgericht verbindliche Feststellung über tatsächliche Verhältnisse
(Art. 63 Abs. 2 OG). Soweit sich der Beklagte dagegen wendet, kann daher auf
die Berufung nicht eingetreten werden.
bb) Dar über hinaus wird aber auch geltend gemacht, die Vorinstanz habe zu
Unrecht von diesen Umständen auf die Gefährdung des Kindeswohls geschlossen und
gestützt darauf die beanstandeten Einschränkungen des persönlichen Verkehrs
angeordnet. Die Vorinstanz hat ihren Schluss nicht etwa aufgrund eines
Fachurteils der Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. -psychologie gezogen,
sondern offenbar aus der allgemeinen Lebenserfahrung; er bildet somit Rechts-,
nicht Tatfrage und kann daher im Rahmen der Berufung frei überprüft werden (BGE
117 II 256 E. 2b S. 258 mit Hinweisen; MESSMER/IMBODEN, a.a.O., S. 129 Rz. 95
und S. 130 Fn 12, mit Hinweisen auf die Praxis).
Ein Elternteil, der "undurchsichtig" wirkt und der - aufgrund
widersprüchlicher Erklärungen bei Anlass der persönlichen Befragung vor Gericht
- einen unglaubwürdigen Eindruck hinterlässt und als arbeitsscheu gilt, mag
zwar nach der allgemeinen Erfahrung kein idealer Erzieher sein; darauf kommt es
allerdings vorliegend gar nicht an, zumal diese Aufgabe aufgrund der
232
Unterstellung der Kinder unter die elterliche Gewalt der Klägerin ohnehin
dieser allein und nicht (auch) dem Beklagten zukommt (BÜHLER/SPÜHLER, a.a.O.,
N. 116 zu Art. 156 ZGB). Nicht als Schluss aus allgemeiner Lebenserfahrung
gelten kann nun aber, dass von Charaktereigenschaften der beschriebenen Art im
Rahmen eines von vornherein zeitlich beschränkten persönlichen Verkehrs in Form
periodischer Besuche und jährlich einmaliger Ferien eine das Kindeswohl
gefährdende Wirkung ausgeht, der nicht anders begegnet werden könnte als durch
eine rigorose Einschr änkung des persönlichen Verkehrs und dessen Überwachung
durch eine Drittperson. Die Vorinstanz begründet insbesondere nicht, inwiefern
die psychische Verfassung des Beklagten bzw. die ihm zugeschriebenen
Eigenschaften durch die unbegleitete Ausübung des Besuchsrechts für die
physische oder psychische Gesundheit der Kinder eine konkrete Gefährdung
bedeuteten. Aufgrund der verbindlichen tatsächlichen Feststellungen lässt sich
nicht abschliessend beurteilen, ob Gründe im Sinne von Art. 274 Abs. 2
Seite 411 (BGE_122_III_404)
ZGB vorliegen, die bei einem in zeitlicher Hinsicht üblichen und unbegleiteten
persönlichen Verkehr eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls befürchten lassen
und infolgedessen die vom Beklagten gerügten Einschr änkungen erheischen.
Insoweit bedarf der Tatbestand der Ergänzung (Art. 64 Abs. 1 OG).
Allerdings könnte sich für den persönlichen Verkehr mit dem Kleinkind F.
schon mit R ücksicht auf dessen mögliche Entfremdung vom Beklagten ein
drittbegleitetes Besuchsrecht zumindest für die erste Zeit als erforderlich
erweisen, wenn auch nicht unbedingt im Sinne einer Überwachung, so doch zur
Förderung der bis anhin noch nicht in Gang gekommenen Beziehung. Eine
abschliessende Beurteilung setzt indessen entsprechende Erhebungen voraus.
b) Beanstandet wird ferner aber auch die zeitliche Bemessung des
Besuchsrechts. Dabei gilt es zu überlegen, was der persönliche Kontakt zwischen
dem besuchsberechtigten Elternteil und dem Kind bezweckt und was diesem
zumutbar ist. Lebt ein Kind bis ungef ähr zum neunten Lebensjahr mit beiden
Eltern, wie dies bei S. der Fall war, ist in der Regel ein umfangreicheres
Besuchsrecht vorzusehen als bei einem Kind im Vorschulalter (BGE 120 II 229 E.
4a S. 235; FELDER/HAUSHEER, a.a.O., S. 701).
aa) Dem angefochtenen Urteil ist zu entnehmen, dass der Beklagte für die
jüngere, Ende 1993 geborene Tochter F., die im Zeitpunkt der Trennung der
Parteien noch nicht zwei Jahre alt war, eine "fremde Person" sei und eine
innere Bindung nicht entstanden sein könne. Der Beklagte habe das Kind im Juni
1995 - also fast ein Jahr vor der Verhandlung vor Kantonsgericht - zum letzten
Mal besucht. Dem Urteil ist aber nicht zu entnehmen, weshalb es bei diesem
minimalen Kontakt zwischen dem Beklagten und seiner j üngsten Tochter geblieben
ist, ob dies auf Interesselosigkeit oder auf andere, nicht in der Person des
Beklagten liegende Gründe zurückgeführt werden muss. Die Vorinstanz begr ündet
sodann auch nicht, weshalb die zeitliche Einschränkung des persönlichen
Verkehrs mit der älteren Tochter S. auf nur drei Stunden pro Monat erforderlich
sei; es ist schwer vorstellbar, dass im Rahmen von Besuchen von so kurzer Dauer
eine Beziehung zwischen den Beteiligten sich überhaupt zu entwickeln vermag,
die ein Besuchsrecht erst sinnvoll macht (FTHENAKIS, Väter, S. 70 f.). Allein
mit der vagen Formulierung, der Beklagte sei nicht in der Lage, auf die
Interessen und Bedürfnisse der Kinder einzugehen, wird weder das Erfordernis
einer begleiteten Besuchsausübung noch die Notwendigkeit einer rigorosen
zeitlichen Beschr änkung des Besuchsrechts dargetan.
Seite 412 (BGE_122_III_404)
bb) Aus dem angefochtenen Urteil ergibt sich auch nicht, was für ein
Verhältnis der Beklagte zur älteren Tochter S. hat. Der Beklagte macht geltend,
mit ihr bis zu deren neuntem Lebensjahr zusammengelebt und eine enge
geistig-seeliche Beziehung aufgebaut zu haben. Die Qualität der Beziehung
zwischen dem nicht obhutsberechtigten Elternteil und dem Kind bildet eines der
bei der Regelung des persönlichen Verkehrs entscheidenden Elemente. Dazu hat
die Vorinstanz allerdings keine Abklärungen getroffen. Der Tatbestand bedarf
daher auch in dieser Hinsicht mehrfacher Ergänzung (Art. 64 Abs. 1 OG). In
bezug auf diese zus ätzlichen Abklärungen gilt es darauf hinzuweisen, dass das
233
Bundesgericht sowohl hinsichtlich der Kinderzuteilung als auch der Regelung des
Besuchsrechts bereits bei früheren Gelegenheiten angetönt hat, je nach Alter
der Kinder könne deren Befragung angezeigt sein (BGE 115 II 206 E. 4a S. 299;
100 II 76 E. 4b S. 82). Auch in der Literatur hat sich mehr und mehr die
Auffassung durchgesetzt, dass Kinder als direkt betroffene Personen um ihrer
Persönlichkeit willen angehört werden dürfen und unter Umständen auch angehört
werden sollen (siehe statt vieler HINDERLING/STECK, a.a.O., S. 415, 419 und 440
ff., mit weiteren Hinweisen). Vorliegend d ürfte es zumindest zweckmässig sein,
das elfjährige Mädchen anzuhören.
cc) Bez üglich des Verkehrs mit der Tochter F. scheint mit Rücksicht auf die
Wohnsituation des Beklagten und die Unzumutbarkeit einer langen Reisezeit f ür
ein Kleinkind eine Regelung darüber nötig zu sein, wo die Besuche stattfinden
sollen. Was schliesslich die Befürchtung eines Missbrauchs des Besuchsrechts
zum Zweck der Entführung der Kinder betrifft, wird auf die folgende, das
Ferienbesuchsrecht betreffende Erwägung verwiesen.
c) Als bundesrechtswidrig rügt der Beklagte ferner auch die Verweigerung des
Ferienbesuchsrechts. Diesbezüglich führte das Kantonsgericht aus, die Gefahr,
dass der Beklagte mit den Kindern nicht in die Schweiz zurückkehre, sei
konkret; es begründete dies damit, dass weder einwandfreie väterliche
Eigenschaften noch geordnete Verhältnisse gegeben seien und der Beklagte zudem
noch über intensiven Kontakt zu seiner Familie in der Türkei und über
undurchsichtige Beziehungen nach Polen verf üge.
aa) Ein Missbrauch des Besuchsrechts und namentlich des Ferienbesuchsrechts
liegt dann vor, wenn der besuchsberechtigte Elternteil die Anwesenheit des
Kindes dazu nutzt, es zu entf ühren. Die Gefahr der Entführung mag zwar bei
einem Eltern, der einem andern Rechts- und Kulturkreis angehört und sich als
Folge der Trennung besonders
Seite 413 (BGE_122_III_404)
isoliert fühlen kann, eher bestehen als bei einer Person, bei der solche
Umstände nicht gegeben sind. Dies ist gemischtnationalen Ehen bis zu einem
gewissen Grade immanent. Dabei handelt es sich überdies zunächst bloss um eine
abstrakte Gefahr. Gerade aus Gründen des Kindeswohls ginge es nicht an, den
nicht obhutsberechtigten Elternteil auf die Dauer in seinem persönlichen
Verkehr mit den Kindern einzuschränken oder ihn davon sogar gänzlich
auszuschliessen, nur weil er aus einem andern Rechts- und Kulturkreis stammt
und eine bloss abstrakte Gefahr gebannt werden soll.
bb) Die Leerformel, dass "einwandfreie väterliche Eigenschaften und geordnete
Verhältnisse ...nicht gegeben" seien, vermag keine konkrete Gefahr des
Missbrauchs des Ferienbesuchsrechts zu begründen. Ebensowenig liegt sie darin,
dass jemand intensive Kontakte zu seiner Familie im Ausland pflegt. Auch mit
dem in diesem Zusammenhang nichtssagenden Hinweis auf "undurchsichtige
Beziehungen nach Polen" wird sie nicht dargetan; der Beklagte erklärt dazu,
dass sein Cousin dort gewohnt habe, mittlerweile aber in die Türkei
zur ückgekehrt sei. Auch diesbezüglich ist aufgrund des mangelhaft
festgestellten Tatbestandes (Art. 64 Abs. 1 OG) eine abschliessende Beurteilung
nicht möglich.
d) Zu Recht rügt der Beklagte schliesslich, dass die vom Kantonsgericht
vorgenommene Ausgestaltung des persönlichen Verkehrs deshalb bundesrechtswidrig
sei, weil der Scheidungsrichter die persönlichen Beziehungen der Eltern zu den
Kindern nicht bloss temporär, sondern nach Massgabe der zur Zeit der
Urteilsfällung gegebenen und der für die Zukunft voraussehbaren tatsächlichen
Verhältnisse grundsätzlich endg ültig und dauerhaft zu ordnen hat (BGE 120 II
229 E. 3b/bb S. 234; 119 II 201 E. 3 S. 205).
Mit diesem Grundsatz ist in der Tat nicht vereinbar, eine für die ersten
zwölf Monate nach der Scheidung angeordnete Begleitung der Besuche bei Ablauf
der Frist durch die Vormundschaftsbehörde überprüfen und gegebenenfalls
verlängern bzw. beim Gericht einen solchen Antrag stellen zu lassen. Sollte das
Gericht aufgrund einer nochmaligen Überprüfung des persönlichen Verkehrs des
Beklagten mit seinen Kindern zum Schluss gelangen, dass sich ein solcher nur
sehr eingeschr änkt und namentlich nur in Form eines begleiteten Besuchsrechts
rechtfertige, so hat es sich dar über auszusprechen, ob diese Auflage auf
unbestimmte oder auf bestimmte Zeit anzulegen sei. Freilich ist nicht
auszuschliessen, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse so entwickeln können,
dass sie nach einer Änderung rufen. Eine solche ist aber nur über Art. 157 ZGB
möglich.
234
289
I. FAMILIENRECHT
DROIT DE LA FAMILLE
DIRITTO DI FAMIGLIA
44. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung
i.S. X. gegen Vormundschaftsrat des Kantons
Basel-Stadt (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_335/2011 vom 7. Juni 2011
Fürsorgerische Freiheitsentziehung; Gutachten eines Sachverständigen.
Suchtkranke gelten als psychisch Kranke im Sinne von Art. 397e Ziff. 5
ZGB. Es kann somit nicht ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens über ein Gesuch der betroffenen Person um Entlassung aus der
Anstalt entschieden werden (E. 4.1-4.3). Anforderungen an die begutachtende Person und an das Gutachten (E. 4.4 und 4.5).
Privation de liberté à des fins d'assistance; expertise.
Les personnes souffrant de dépendance sont des malades psychiques au sens
de l'art. 397e ch. 5 CC. Il ne peut ainsi être statué qu’avec le concours
d’experts sur une demande de libération de la personne placée dans un
établissement (consid. 4.1-4.3). Exigences requises quant à la personne de
l'expert et au rapport d'expertise (consid. 4.4 et 4.5).
Privazione della libertà a scopo d'assistenza; perizia.
Le persone affette da dipendenza sono dei malati psichici ai sensi dell'art. 397e
n. 5 CC. Non si può pertanto decidere su una domanda della persona interessata di rilascio dallo stabilimento senza l'allestimento di una perizia
(consid. 4.1-4.3). Requisiti circa il perito e la perizia (consid. 4.4 e 4.5).
A.
A.a Der Vormundschaftsrat des Kantons Basel-Stadt ordnete mit
Entscheid vom 15. November 2006 über X. (geb. 6. Dezember 1948)
eine fürsorgerische Freiheitsentziehung an. Diese Massnahme wurde mit Entscheid vom 6. Dezember 2007 unter Auferlegung bestimmter Auflagen "sistiert". Insbesondere wurde X. dazu verhalten,
19
AS 137 III - 2011
235
290
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
auf den Gebrauch von Kerzen in der Wohnung zu verzichten, beim
Rauchen Vorsicht walten zu lassen und keinen Alkohol zu konsumieren.
A.b Im Juni 2010 erstattete die Liegenschaftsverwaltung Meldung,
dass die Wohnung von X. verwahrlost sei. Am Sylvester 2010 kam
es zu dem nach Angaben der Polizei dritten Wohnungsbrand, wobei sich X. eine Rauchvergiftung zuzog und deswegen hospitalisiert
werden musste. Anschliessend wurde sie in die UPK verlegt. Am
3. Januar 2011 meldete die Beiständin, dass X. von einem Ausgang
nicht in die UPK zurückgekehrt sei. Sie wurde in der Folge von der
Polizei in stark verwirrtem Zustand vorgefunden, wobei sie Schürfwunden im Gesicht aufwies und ihr Atem stark nach Alkohol roch.
B. Mit Entscheid des Vormundschaftsrates des Kantons BaselStadt vom 9. Februar 2011 wurde die am 6. Dezember 2007 erfolgte "Sistierung" der fürsorgerischen Freiheitsentziehung aufgehoben
und angeordnet, X. verbleibe in den UPK, bis eine geeignete Institution gefunden werde. X. gelangte gegen diesen Entscheid an das
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt als Verwaltungsgericht, das ihren Rekurs mit Urteil vom 21. März 2011 ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens abwies.
C. Die anwaltlich verbeiständete X. (Beschwerdeführerin) gelangt
mit Beschwerde vom 12. Mai 2011 an das Bundesgericht und beantragt, es sei das Urteil des Appellationsgerichts vom 21. März
2011 aufzuheben und sie sei sofort aus den UPK zu entlassen.
Der Vormundschaftsrat und das Appellationsgericht schliessen auf
Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut, soweit es
darauf eintritt; es hebt das angefochtene Urteil auf und weist das
Appellationsgericht an, die Beschwerdeführerin spätestens nach
30 Tagen seit Zustellung des begründeten bundesgerichtlichen Urteils aus den UPK zu entlassen, wobei innert dieser Frist ein neuer
Entscheid im Sinne der Erwägungen vorbehalten bleibt.
(Zusammenfassung)
Aus den Erwägungen:
4.
4.1 Die Beschwerdeführerin macht geltend, aus der behaupteten
Verwahrlosung, dem Wohnungsbrand und dem Vorfall vom 2. Februar 2011 ziehe das Appellationsgericht den Schluss, sie leide un-
236
Familienrecht – 137 III 289
291
ter einer Geisteskrankheit im Sinn von Art. 397a Abs. 1 ZGB. Mit
der Erwägung, sie sei nicht mehr in der Lage, vernünftig zu denken, spreche ihr das Appellationsgericht überdies die Urteilsfähigkeit ab. Das Appellationsgericht hätte daher gestützt auf Art. 397e
Ziff. 5 ZGB ein Gutachten einholen müssen, zumal schon die erste
Instanz (die fürsorgerisch die Freiheit entziehende Behörde im Sinn
von Art. 397b Abs. 1 ZGB) kein Gutachten eingeholt habe.
Das Appellationsgericht weist in seiner Vernehmlassung darauf hin,
die Beschwerdeführerin sei nicht wegen Geisteskrankheit eingewiesen worden, womit sich die Einholung eines Gutachtens erübrigt
habe.
4.2 Nach Art. 397e Ziff. 5 ZGB darf bei psychisch Kranken nur unter Beizug eines Sachverständigen entschieden werden. Psychisch
Kranke im Sinne dieser Bestimmung können nicht nur Geisteskranke, sondern auch Geistesschwache, Suchtkranke oder völlig
Verwahrloste im Sinne von Art. 397a Abs. 1 ZGB sein (Art. 397b
Abs. 2 i.V.m. Art. 397e Ziff. 5 ZGB; siehe zum Ganzen: Botschaft
vom 17. August 1977 über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Fürsorgerische Freiheitsentziehung] und den Rückzug des Vorbehaltes zu Artikel 5 der Konvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten, BBl 1977 III 31 Ziff. 222;
EUGEN SPIRIG, Zürcher Kommentar, 1995, N. 167 zu Art. 397e ZGB
i.V.m. N. 68 zu Art. 397b ZGB; THOMAS GEISER, in: Basler Kommentar, Bd. I, 4. Aufl. 2010, N. 12 zu Art. 397 b ZGB; ALEXANDER IMHOF,
Der formelle Rechtsschutz, insbesondere die gerichtliche Beurteilung, bei der fürsorgerischen Freiheitsentziehung, 1999, S. 105 f.).
Es handelt sich also um all jene Personen, die einerseits einen der
fürsorgerischen Gründe gemäss Art. 397a Abs. 1 ZGB erfüllen und
anderseits sinnvollerweise durch die Anstaltspsychiatrie betreut werden müssen. Eine derartige Betreuung drängt sich häufig auch bei
Suchtkranken, insbesondere bei Alkoholikern oder Rauschgiftsüchtigen auf (Botschaft, a.a.O., 31 Ziff. 222). Aber auch die Bestim mungen über die fürsorgerische Unterbringung, welche jene über
die fürsorgerische Freiheitsentziehung ersetzen werden, sehen in
Art. 450e Abs. 3 ausdrücklich vor, dass bei psychischen Störungen
gestützt auf das Gutachten einer sachverständigen Person entschieden werden muss. Dabei wird unter den Begriff der psychischen Störung auch die Alkohol-, Drogen- und Medikamentensucht subsumiert, da auch diese Suchterkrankungen von den Fachleuten als
psychische Störungen verstanden werden (Botschaft vom 28. Juni
237
292
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
2006 zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht], BBl 2006 7001,
7043 Ziff. 2.2.2). Im vorliegenden Fall lässt sich dem angefochtenen Urteil entnehmen, dass die Beschwerdeführerin an einem bedeutenden Alkoholproblem leidet, das sich zunehmend negativ auf
ihren Lebensverlauf auswirkt.
4.3 Entgegen der Ansicht des Appellationsgerichts kann somit die
Einholung eines Gutachtens nicht mit dem Hinweis umgangen werden, die Anordnung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung sei
nicht wegen Geisteskrankheit erfolgt. Das Appellationsgericht hat
als Gericht im Sinn von Art. 397d ZGB als einzige Instanz und ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens entschieden, weshalb der angefochtene Entscheid Art. 397e Ziff. 5 ZGB verletzt
(vgl. BGE 128 III 12 E. 3 und 4). Das kann aber nicht bedeuten,
dass die Beschwerdeführerin ihrem Antrag entsprechend unverzüglich zu entlassen wäre. Die Beschwerde ist somit teilweise gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann. Der angefochtene
Entscheid ist aufzuheben und es ist anzuordnen, dass die Beschwerdeführerin spätestens nach einer bestimmten Frist ab Zustellung
des begründeten bundesgerichtlichen Urteils zu entlassen ist, wenn
nicht innert dieser Frist ein den Anforderungen dieses Urteils entsprechender Entscheid gefällt wird. Da die Vorinstanz die Verhältnisse der Beschwerdeführerin von früheren Verfahren her kennt und
nicht eine Zwangsmedikation infrage steht, rechtfertigt es sich, eine
kurze Frist von 30 Tagen ab Zustellung des begründeten bundesgerichtlichen Urteils festzusetzen.
4.4 Der Gutachter gemäss Art. 397e Ziff. 5 ZGB muss ein ausgewiesener Fachmann, aber auch unabhängig sein (BGE 118 II 249;
119 II 319 E. 2b S. 321 f.) und er darf sich nicht bereits im gleichen
Verfahren über die Krankheit der betroffenen Person geäussert haben (BGE 128 III 12 E. 4a S. 15). Nach der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist überdies mit der
geforderten Unabhängigkeit des Sachverständigen nicht zu vereinbaren, dass ein Mitglied der entscheidenden Instanz (Fachrichter)
gleichzeitig als Sachverständiger amtet (Urteil N.D. gegen Schweiz
vom 29. März 2001, Recueil CourEDH 2001-III S. 21 § 53).
4.5 Das gestützt auf Art. 397e Ziff. 5 ZGB anzuordnende Gutachten hat sich insbesondere über den Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin zu äussern, ferner darüber, wie sich allfällige gesundheitliche Störungen hinsichtlich der Gefahr einer Selbst- oder
238
293
Drittgefährdung, aber auch der Verwahrlosung auswirken können
und ob sich daraus ein Handlungsbedarf ergibt. Ferner ist durch den
Gutachter zu prüfen, ob aufgrund des festgestellten Handlungsbedarfs eine stationäre Behandlung unerlässlich ist, schliesslich, ob
eine Anstalt zur Verfügung steht und wenn ja, (nötigenfalls) warum
die vorgeschlagene Anstalt für die Behandlung der Beschwerdeführerin infrage kommt (zum Inhalt des Gutachtens vgl. Urteil 5A_137/
2008 vom 28. März 2008 E. 3). Aufgrund des Gutachtens muss das
Appellationsgericht in der Lage sein, die sich aus Art. 397a Abs. 1
ZGB ergebenden Rechtsfragen zu beantworten, nämlich ob ein
Schwächezustand im Sinn von Art. 397a Abs. 1 ZGB vorliegt, ferner, ob sich daraus ein Fürsorgebedarf für die Beschwerdeführerin
ergibt, sodann, ob die erforderliche persönliche Fürsorge der Beschwerdeführerin nur stationär oder aber ambulant gewährt werden
kann, schliesslich, ob im Fall einer erforderlichen stationären Behandlung die vorgeschlagene Anstalt als geeignet erscheint. Das
Appellationsgericht wird die Beschwerdeführerin zum Gutachten
anzuhören und danach neu zu entscheiden haben.
239
497
I. FAMILIENRECHT
DROIT DE LA FAMILLE
DIRITTO DI FAMIGLIA
71. Auszug aus der Verfügung der II. zivilrechtlichen Abteilung
i.S. X. gegen Vormundschaftsrat des Kantons Basel-Stadt
(Beschwerde in Zivilsachen)
5A_432/2010 vom 26. Juli 2010
Art. 397a und 397d ZGB; Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG; fürsorgerische Freiheitsentziehung; Entlassung der Beschwerde führenden Person aus der psychiatrischen Anstalt während des vor Bundesgericht hängigen Beschwerdeverfahrens; aktuelles rechtlich geschütztes Interesse an der Behandlung
der Beschwerde in Zivilsachen.
Mit der Entlassung der von einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung betroffenen Person aus der Anstalt fällt das aktuelle rechtlich geschützte Interesse an der Behandlung ihrer Beschwerde dahin. Ist auch kein virtuelles Interesse erstellt, so wird das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren
als gegenstandslos abgeschrieben. Es erfolgt keine Prüfung der Frage, ob
mit der Anordnung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung bzw. mit der
Verweigerung der Entlassung des oder der Betroffenen aus der Anstalt Bestimmungen der EMRK verletzt worden sind (E. 1 und 2).
Art. 397a et 397d CC; art. 76 al. 1 let. b LTF; privation de liberté à des
fins d'assistance; libération d'une personne placée dans un établissement
psychiatrique alors que son recours au Tribunal fédéral est pendant; intérêt juridique actuel à l'examen du recours en matière civile.
Lorsqu'une personne privée de liberté à des fins d'assistance a été autorisée à
quitter l'établissement où elle se trouvait, elle n'a plus d'intérêt juridique
actuel à l'examen de son recours. Si un intérêt virtuel n'est pas non plus
établi, la procédure de recours fédérale devient sans objet. Il n'y a donc pas
lieu d'examiner si le prononcé de la mesure de privation de liberté à des
fins d'assistance, respectivement le refus de libérer la personne concernée
de l'établissement ont enfreint des dispositions de la CEDH (consid. 1 et 2).
32
AS 136 III - 2010
240
498
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
Art. 397a e 397d CC; art. 76 cpv. 1 lett. b LTF; privazione della libertà a
scopo di assistenza; rilascio della persona ricorrente da un istituto psichiatrico mentre il ricorso al Tribunale federale è pendente; interesse attuale giuridicamente protetto all'esame del ricorso in materia civile.
L'interesse attuale giuridicamente protetto all'esame del ricorso decade con
il rilascio dallo stabilimento della persona toccata dalla privazione della libertà a scopo di assistenza. Se non è neppure accertato un interesse virtuale, la procedura innanzi al Tribunale federale viene stralciata dai ruoli perché priva d'oggetto. Non viene nemmeno esaminato se siano state violate
disposizioni della CEDU, pronunciando la privazione della libertà a scopo
di assistenza rispettivamente rifiutando di rilasciare la persona interessata dallo stabilimento (consid. 1 e 2).
A. X., geboren 1966, leidet seit vielen Jahren an Zwangsvorstellungen. Sie hat Angst vor elektromagnetischen Übergriffen auf ihren
Körper und begegnet ihrer Furcht vor Erkrankungen mit andauernden Hygienemassnahmen. (...)
B. In der Annahme, sie leide an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis, verfügte der Vormundschaftsrat des Kantons
Basel-Stadt am 12. März 2010 gestützt auf Art. 397a Abs. 1 ZGB
die Einweisung von X. in die Universitären Psychiatrischen Kliniken
Basel (UPK). In den Erwägungen dieses Entscheids wurden die UPK
und die Vormundschaftsbehörde beauftragt, bis zum 30. September
2010 ein Gutachten darüber zu erstellen, wo X. untergebracht werden könne und wie weiter vorzugehen sei. X. gelangte gegen die Einweisung am 18. März 2010 an das Appellationsgericht Basel-Stadt
mit dem Begehren, den Entscheid des Vormundschaftsrates aufzuheben. (...) Mit Urteil vom 20. April 2010 gab das Appellationsgericht
dem Rekurs von X. nicht statt.
C. Dagegen hat X. beim Bundesgericht mit einem am 7. Juni 2010
der Post übergebenen Schriftsatz Beschwerde in Zivilsachen erhoben mit den Anträgen, das Urteil des Appellationsgerichts aufzuheben (...) und die UPK superprovisorisch anzuweisen, sie sofort zu entlassen. (...)
In seiner Stellungnahme vom 9. Juni 2010 weist der Vormundschaftsrat darauf hin, dass die Explorationen der Beschwerdeführerin abgeschlossen sind und diese am Vormittag des 9. Juni 2010 aus den UPK
entlassen worden ist. (...)
(...)
E. Mit Schreiben vom 16. Juni 2010 wurde die Beschwerdeführerin darum ersucht, zur beabsichtigten Abschreibung des bundesge-
241
Familienrecht – 136 III 497
499
richtlichen Beschwerdeverfahrens zufolge Gegenstandslosigkeit und
zur Kostenverlegung Stellung zu nehmen. Dieser Aufforderung kam
sie am 25. Juni 2010 nach. Das Bundesgericht schreibt das Verfahren als gegenstandslos ab.
(Auszug)
Aus den Erwägungen:
1.
1.1 Nach der Praxis der II. zivilrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts setzt die Beschwerde in Zivilsachen gegen den letztinstanzlichen Entscheid betreffend fürsorgerische Freiheitsentziehung ein
aktuelles rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheides voraus, welches nicht mehr
gegeben ist, wenn die betroffene Person aus der fürsorgerischen
Freiheitsentziehung entlassen worden ist (Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG;
Urteile 5C.3/1997 vom 20. Januar 1997 E. 2 und 5C.11/2003 vom
22. Januar 2003 E. 1.2). Die Rechtsprechung verzichtet aber auf das
Erfordernis des aktuellen und fortdauernden praktischen Interesses,
wenn sich die gerügte Rechtsverletzung jederzeit wiederholen könnte und eine rechtzeitige gerichtliche Überprüfung im Einzelfall kaum
je möglich wäre (sog. virtuelles Interesse; Urteile 5C.11/2003 vom
22. Januar 2003 E. 1.2 und 5C.3/1997 vom 20. Januar 1997 E. 2b
mit Hinweis auf BGE 111 Ib 56 E. 2b S. 59; 107 Ib 391 E. 1 S. 392;
106 Ib 109 E. 1b S. 112).
1.2 Die Beschwerdeführerin ist am 9. Juni 2010 nach Abschluss der
Explorationen aus den UPK entlassen worden, womit kein aktuelles
Interesse an der Überprüfung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung besteht. Die Beschwerdeführerin macht nicht geltend, in ihrem
Fall seien bereits mehrmals kurzfristige Freiheitsentziehungen angeordnet worden, die nie rechtzeitig auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 397a
Abs. 1 ZGB, Art. 5 Ziff. 1 lit. e bzw. Art. 5 Ziff. 4 EMRK hätten
überprüft werden können. Auch beruft sie sich nicht darauf, dass
eine entsprechende Gefahr in ihrem Fall konkret besteht. Unter Hinweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Camenzind gegen Schweiz vom 16. Dezember 1997 (Recueil
CourEDH 1997-VIII S. 2880) lässt sie ausführen, die Aktualität des
Rechtsschutzinteresses solle nicht verneint werden, soweit EMRKGarantien infrage stehen, deren Verletzung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geltend gemacht werden können.
242
500
BGE – Schweizerisches Bundesgericht
2.
2.1 Fehlt es am aktuellen praktischen Interesse und ist auch kein virtuelles Interesse auszumachen, wird die Beschwerde in Anwendung
von Art. 32 Abs. 2 BGG im Verfahren nach Art. 108 BGG durch die
Präsidentin bzw. den Präsidenten der Abteilung als gegenstandslos
abgeschrieben, soweit der rechtliche Nachteil des angefochtenen Entscheides nach Einreichung der Beschwerde weggefallen ist (Verfügung 5A_20/2007 vom 1. März 2007). Ist der Nachteil hingegen bereits bei Einreichung der Beschwerde nicht gegeben, wird auf die
Beschwerde nicht eingetreten (z.B. Urteil 5A_470/2009 vom 14. Juli
2009; zur Unterscheidung zwischen Nichteintreten und Gegenstandslosigkeit: BGE 118 Ia 488 E. 1a). In diesen Fällen wird der Betroffene für eine Feststellung der Widerrechtlichkeit der angeordneten
Freiheitsentziehung auf die Verantwortlichkeitsklage nach Art. 429a
ZGB verwiesen.
2.2 Eine der II. zivilrechtlichen Abteilung entsprechende Praxis verfolgt grundsätzlich auch die I. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts bei der Beurteilung öffentlich-rechtlicher Beschwerden
gegen Entscheide betreffend Untersuchungshaft. So wird ein aktuelles rechtlich geschütztes Interesse nach Beendigung der Haft verneint.
Trotzdem werden aber bestimmte Rügen unter besonderen Umständen behandelt (statt vieler BGE 125 I 384 E. 5 S. 404). In BGE 136 I
274 E. 1.3 hat die I. öffentlich-rechtliche Abteilung solche Umstände bejaht, wenn eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention offensichtlich ist und dem Beschwerdeführer durch eine
entsprechende Feststellung im Dispositiv des Urteils und eine für ihn
vorteilhafte Kostenregelung sogleich die verlangte Wiedergutmachung verschafft werden kann. Bevor abgeklärt wird, ob entsprechende Umstände (offensichtliche Verletzung der EMRK) im vorliegenden Fall gegeben sind, ist zu prüfen, ob diese neue Praxis für den
Bereich der fürsorgerischen Freiheitsentziehung im Grundsatz übernommen werden soll. Wird nämlich dieser Praxis gefolgt, dürften
nach Entlassung der betroffenen Person kaum mehr Verfahren nach
Art. 108 BGG möglich sein.
2.3 Die I. öffentlich-rechtliche Abteilung hat im besagten Entscheid
die Befürchtung geäussert, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte könnte im Fall einer Beschwerde erkennen, der Beschwerdeführer habe im nationalen Verfahren über keine wirksame Beschwerde im Sinn von Art. 13 EMRK zur Geltendmachung einer Verletzung
von Art. 5 Ziff. 3 EMRK verfügt. Zur Begründung dieser Befürch-
243
Familienrecht – 136 III 497
501
tung hat sie auf das Urteil Camenzind verwiesen. Im besagten Fall war
das Bundesgericht auf die vom Betroffenen bei ihm gegen eine Hausdurchsuchung eingereichte Beschwerde mangels aktuellen praktischen
Interesses nicht eingetreten, da die Hausdurchsuchung abgeschlossen war. Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs stand dem
Beschwerdeführer damit keine wirksame Beschwerde nach Art. 13
EMRK zur Geltendmachung der gerügten EMRK-Verletzungen zur
Verfügung. Dabei erachtete er den Einwand der Schweiz als nicht
massgeblich, der Beschwerdeführer hätte seine Rügen der Verletzung
der EMRK insbesondere in einem Entschädigungsverfahren nach
Art. 99 VStrR (SR 313.0) geltend machen können (siehe dazu insb.
die §§ 51 ff. des zitierten Urteils).
2.4 Im Bereich der fürsorgerischen Freiheitsentziehung erweisen sich
solche Befürchtungen als unbegründet: Nach Art. 429a ZGB hat derjenige, der durch eine widerrechtliche Freiheitsentziehung verletzt
wird, Anspruch auf Schadenersatz und, wo die Schwere der Verletzung es rechtfertigt, auf Genugtuung. Auch in diesem Verantwortlichkeitsprozess ist die Feststellung der Widerrechtlichkeit als "eine
andere Art der Genugtuung" möglich und zulässig (BGE 118 II 254
Nr. 52). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte stellt die Klage nach Art. 429a ZGB eine wirksame
Beschwerde im Sinn von Art. 13 EMRK zur Überprüfung der Einhaltung von Art. 5 Ziff. 4 EMRK dar. Überdies genügt sie den Anforderungen von Art. 5 Ziff. 5 EMRK (Anspruch auf Schadenersatz)
(Urteil A.B. gegen Schweiz vom 6. April 2000, Zusammenfassung in:
VPB 64/2000 Nr. 134 S. 1323). Stellt aber die Klage nach Art. 429a
ZGB eine wirksame Beschwerde zur Geltendmachung von EMRKVerletzungen und zur Durchsetzung daraus resultierender Schadenersatzansprüche dar, besteht für die II. zivilrechtliche Abteilung keine
Veranlassung, ihre bisherige Praxis bei Entlassung der betroffenen
Person aus der fürsorgerischen Freiheitsentziehung aufzugeben und
sich der Rechtsprechung der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung anzuschliessen. Damit kann offenbleiben, ob BGE 136 I 274 überhaupt
auf den vorliegenden Fall anwendbar wäre (Offensichtlichkeit der
EMRK-Verletzung) und ob mangels ausdrücklichen Antrages seitens der anwaltlich verbeiständeten Beschwerdeführerin überhaupt
auf Feststellung einer EMRK-Verletzung erkannt werden könnte.
244
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
5A_540/2013
Arrêt du 3 décembre 2013
IIe Cour de droit civil
Composition
Participants à la procédure
MM. et Mme les Juges fédéraux von Werdt, Président,
Hohl, Marazzi, Herrmann et Schöbi.
Greffière: Mme Bonvin.
A.________,
représenté par Me Corinne Arpin, avocate,
recourant,
contre
Tribunal de protection de l'adulte et de l'enfant
de Genève,
rue des Chaudronniers 3, 1204 Genève.
Objet
curatelle,
recours contre la décision de la Chambre de
surveillance de la Cour de justice du canton
de Genève du 14 juin 2013.
245
Faits:
A.
A.a Le 28 février 2013, la situation des époux A.________ (1929) et
B.________ (1933) a été signalée au Tribunal de protection de l'adulte
et de l'enfant du canton de Genève par une assistante sociale de
l'Unité de gériatrie des Hôpitaux universitaires de Genève. Celle-ci
demandait qu'une mesure de curatelle de portée générale soit insti tuée. Elle expliquait que l'époux n'était plus en mesure de trier et de
régler spontanément ses factures, et qu'il reconnaissait ne plus pouvoir assumer la gestion de ses affaires administratives et financières
compte tenu de sa santé fragile. Or, le couple dispose d'une grande
fortune, dont une partie ne serait pas déclarée. Il ressort du signalement que l'intéressé souhaite intégrer un établissement médico-social
(EMS) avec son épouse et qu'il n'a pas proposé de personne de son
entourage susceptible d'être désignée comme curateur.
Selon un certificat médical établi le 13 février 2013 par le
Dr C.________, A.________ est incapable de gérer ses affaires
administratives et financières. Il peut valablement être entendu et
choisir un mandataire, mais ne semble pas en mesure d'en contrôler
l'activité, en raison d'un trouble cognitif débutant.
A.b Par décision du 7 mars 2013, le Tribunal de protection de l'adulte
et de l'enfant de Genève (ci-après: le Tribunal) a désigné
Me D.________ en qualité de curatrice de A.________, en application
de l'art. 449a CC, afin qu'elle le représente dans le cadre de cette
procédure.
Lors de l'audience du 25 mars 2013, A.________ a déclaré qu'il
souhaitait pouvoir bénéficier de l'aide d'un curateur dans la gestion de
ses affaires, notamment pour ses factures médicales. Il a ajouté qu'il
souhaitait intégrer un EMS avec son épouse et qu'il était titulaire d'un
compte bancaire non déclaré sur lequel se trouvait une somme de
1'300'000 fr.
Interrogé lors de cette audience, le Dr C.________ a confirmé la
teneur de son certificat médical, précisant que A.________ avait gardé
une " bonne curiosité du monde qui l'entourait ", mais qu'il était très
fatigué par les soins quotidiens qu'il devait apporter à son épouse. Il a
ajouté que, " s'il est capable de se déterminer quant à son propre état de
santé (…), il n'est pas capable de se déterminer pour autrui, par exemple pour
Page 2
246
son épouse ". En outre, il n'était pas exclu qu'il puisse être influencé par
des tiers.
B.
B.a Par ordonnance du 11 avril 2013, le Tribunal a instauré une
" curatelle de représentation avec gestion " en faveur de A.________ (1),
désigné Me E.________, avocat, en qualité de curateur (2), dit que le
curateur aura pour tâches de le représenter dans ses rapports
juridiques envers les tiers en matière administrative, notamment dans
les procédures fiscales et pour son admission dans un EMS, et de
veiller à la gestion de ses revenus et de sa fortune, d'administrer ses
biens avec diligence et d'accomplir les actes juridiques liés à la
gestion (3), privé A.________ de la faculté d'accéder aux comptes
bancaires ou postaux ouverts à son nom, ou dont il est l'ayant droit
économique (4), et autorisé le curateur à prendre connaissance de sa
correspondance et à pénétrer, en cas de nécessité, dans son appar tement (5).
B.b Par acte déposé le 15 mai 2013, A._______ a recouru contre
cette décision, concluant à l'annulation des chiffres 2, 4 et 5 de son
dispositif; il a également conclu à la désignation de Me D.________ en
qualité de curatrice, celle-ci étant autorisée à prendre connaissance
de sa correspondance et à pénétrer, en cas de nécessité, dans son
appartement.
Par courrier du 24 mai 2013, Me D.________ a demandé à
Me E.________ de cesser toute activité dans l'attente de la décision
sur recours, A.________ ne souhaitant pas qu'il continue à gérer ses
affaires.
Dans ses déterminations du 3 juin 2013, le Tribunal s'est référé à son
ordonnance du 11 avril 2013, estimant qu'il n'y avait pas lieu de désigner un autre curateur, et précisant que Me E.________ avait
également été désigné en qualité de curateur de l'épouse de l'inté ressé, celle-ci n'ayant par ailleurs pas recouru contre cette désignation.
Par courrier du 10 juin 2013 adressé à la Chambre de surveillance,
Me D.________ a indiqué que A.________ sollicitait son audition.
C.
Statuant le 14 juin 2013, la Chambre de surveillance de la Cour de
justice du canton de Genève (ci-après: la Chambre de surveillance) a
rejeté le recours ainsi que la requête d'audition.
Page 3
247
D.
Par acte du 17 juillet 2013, A.________ exerce un recours en matière
civile au Tribunal fédéral contre cette décision. Il conclut principalement
à son annulation et au renvoi de la cause à l'autorité précédente pour
qu'elle procède à son audition et rende une nouvelle décision.
Subsidiairement, il conclut à la réforme de l'arrêt entrepris, en ce sens
qu'une " curatelle de représentation avec gestion " est instaurée en sa
faveur (1), que Me D.________ lui est désignée comme curatrice (2),
que le curateur est autorisé à prendre connaissance de sa corres pondance et à pénétrer, en cas de nécessité, dans son appartement (3),
et qu'il a pour tâches de le représenter dans ses rapports juridiques
avec les tiers " en matière administrative, notamment dans les procédures
fiscales ", et de veiller à la gestion de ses revenus et de sa fortune (4).
Il conclut enfin à ce qu'il conserve la libre disposition de ses comptes
bancaires ou postaux, qu'il en soit le titulaire ou l'ayant droit économique
(5). Plus subsidiairement, il reprend ses conclusions 1 et 3 à 5 et
demande qu'un curateur " autre que Me E.________ " soit désigné (2).
Invités à se déterminer, le Tribunal de protection de l'adulte et de
l'enfant a conclu au rejet du recours, sans formuler de plus amples
observations, alors que la Chambre de surveillance s'est référée aux
considérants de son arrêt.
E.
Par ordonnance présidentielle du 14 août 2013, la requête d'effet
suspensif a été rejetée.
Considérant en droit:
1.
Déposé dans le délai légal (art. 100 al. 1 LTF), par l'intéressé dont le
recours a été rejeté par l'autorité précédente (art. 76 al. 1 LTF), contre
une décision finale (art. 90 LTF) rendue par un tribunal supérieur
statuant sur recours en dernière instance cantonale (art. 75 al. 1 et 2
LTF) dans le domaine de la protection de l'adulte (art. 72 al. 2 let. b
ch. 6 LTF), le présent recours en matière civile est en principe
recevable.
2.
Devant l'autorité précédente, le recourant s'est opposé à ce que
Me E.________ soit désigné comme curateur et a proposé la nomi -
Page 4
248
nation de Me D.________ en cette qualité. Il a également critiqué le
fait d'avoir été privé de la faculté d'accéder à ses comptes bancaires.
La Chambre de surveillance, rappelant au préalable que l'art. 401 CC
reprend le principe posé par l'art. 381 aCC, a constaté que, à teneur
du signalement de l'assistante sociale du 28 février 2013, A.________
n'avait proposé aucune personne de son entourage susceptible d'être
désignée comme curatrice, pas plus qu'il ne l'a fait lors de son audition
par le Tribunal le 25 mars 2013, alors qu'il était déjà assisté de
Me D.________. Dans ces conditions, on ne saurait faire grief au
Tribunal d'avoir nommé Me E._______ en qualité de curateur, celui-ci
ayant par ailleurs également été désigné comme curateur de l'épouse
de l'intéressé. La cour cantonale a relevé que le recourant n'avait fait
valoir aucun grief sérieux à l'encontre de Me E.________, se conten tant d'affirmer qu'un lien de confiance ne s'était pas créé entre eux et
d'exposer son souhait de voir Me D.________ désignée à sa place.
Examinant ensuite le vœu du recourant quant à la personne de
Me D.________, les juges précédents ont retenu qu'il convenait
d'éviter que le curateur désigné d'office pour la procédure de
protection, en application de l'art. 449a CC, soit par la suite désigné
en qualité de curateur dans le cadre de la mesure de protection
(art. 400 ss CC). Dès lors que le curateur de représentation doit
représenter la personne concernée durant la procédure de protection
lorsqu'elle n'est pas en mesure de défendre elle-même ses intérêts et
de désigner un représentant, sa mission est limitée, et il ne peut pas
être désigné en qualité de curateur dans le cadre de la mesure de
protection, car il se trouverait alors dans une situation de conflit
d'intérêts avec sa mission première. Or, en l'espèce, une curatelle de
représentation a été instaurée parce que l'intéressé n'était " pas capable
de désigner valablement un représentant ". Enfin, si un conflit survenait
entre les intérêts de A.________ et ceux de son épouse, dont il est
également curateur, Me E.________ devrait en informer le Tribunal.
En ce qui concerne la privation de la faculté d'accéder aux comptes
bancaires, la cour cantonale a constaté, sur la base du certificat
médical du 13 février 2013, que l'intéressé est incapable de gérer ses
affaires administratives et financières, qu'il souffre d'un trouble cognitif
débutant et qu'il n'est pas exclu qu'il puisse être influencé par des
tiers. Pour ces motifs, la mesure ordonnée a été considérée comme
proportionnée et nécessaire pour le protéger, même s'il est admis qu'il
n'a pas dilapidé ses biens à ce jour. Les juges cantonaux ont précisé
Page 5
249
qu'il incombait au curateur de veiller à ce qu'un montant mensuel soit
laissé à la libre disposition de A.________.
Enfin, la Chambre de surveillance a rejeté la requête d'audition du
recourant; celui-ci a déjà été entendu par le Tribunal en présence de
sa curatrice de représentation et a donc pu, lors de cette audition, " se
déterminer sur les points essentiels du litige ".
3.
Le recourant fait grief au Tribunal d'avoir violé son droit d'être entendu
(art. 29 al. 2 Cst.) et de s'être rendu coupable de déni de justice
formel, dès lors qu'il n'aurait pas été interrogé quant à la personne à
nommer comme curateur et que son attention n'aurait pas été formellement attirée sur la possibilité de formuler une proposition à ce
sujet. Ce manquement n'aurait pas été réparé par la cour cantonale,
celle-ci ayant refusé sa demande d'audition. On comprend de son
argumentation que le recourant entend soulever la violation de
l'art. 447 CC en relation avec l'art. 401 CC.
3.1
3.1.1 Le droit d'être entendu est une garantie de nature formelle, dont
la violation entraîne l'annulation de la décision attaquée sans égard
aux chances de succès du recours sur le fond (ATF 137 I 195 consid. 2.2
p. 197; 135 I 279 consid. 2.6.1 p. 285). Ce moyen doit par conséquent
être examiné en premier lieu (ATF 124 I 49 consid. 1 p. 50; 121 I 230
consid. 2a p. 232) et avec un plein pouvoir d'examen (ATF 127 III 193
consid. 3 p. 194 et la jurisprudence citée).
Tel qu'il est garanti par l'art. 29 al. 2 Cst., le droit d'être entendu
comprend notamment pour le justiciable le droit de s'exprimer sur les
éléments pertinents avant qu'une décision ne soit prise touchant sa
situation juridique (ATF 133 I 270 consid. 3.1 p. 277; 126 I 15
consid. 2a/aa p. 16 s.; 124 I 49 consid. 3a p. 51), mais il ne garantit
pas le droit de s'exprimer oralement (ATF 125 I 209 consid. 9b p. 219;
arrêt 5A_916/2012 du 12 février 2013 consid 3.1). Par exception, une
violation du droit d'être entendu, pour autant qu'elle ne soit pas
particulièrement grave, peut être réparée lorsque l'intéressé a la
possibilité de s'exprimer devant une autorité de recours disposant du
même pouvoir d'examen que l'autorité inférieure (ATF 137 I 195
consid. 2.3.2 p. 197 s.; 133 I 201 consid. 2.2 p. 204; 129 I 129
consid. 2.2.3 p. 135).
Page 6
250
En matière de protection de l'adulte, le droit d'être entendu de la
personne concernée va au-delà des prérogatives qui découlent de
cette disposition. L'art. 447 al. 1 CC garantit à la personne concernée
par la mesure de curatelle – non pas au curateur, ni aux autres
intéressés (AUER/MARTI, in Basler Kommentar, Erwachsenenschutz, 2012,
n° 13 ss ad art. 447 CC) – le droit d'être entendue personnellement et
oralement par l'autorité de protection de l'adulte qui prononce la
mesure. Des exceptions à ce principe sont toutefois admissibles si
l'audition paraît disproportionnée au vu de l'ensemble des circonstances
(Message du 28 juin 2006 concernant la révision du code civil suisse
[Protection de l'adulte, droit des personnes et droit de la filiation],
FF 2006 6711 ad art. 447 CC). L'audition n'est pas seulement un droit
inhérent à la défense de l'intéressé, mais constitue également un
moyen pour l'autorité d'élucider les faits et de se forger une opinion
personnelle tant sur la disposition mentale de la personne concernée
que sur la nécessité d'ordonner ou de maintenir une mesure de
protection de l'adulte (FF 2006 6711 ad art. 447 CC; AUER/MARTI, op.
cit., 2012, n° 4 ss ad art. 447 CC; pour l'ancien droit: ATF 117 II 379
consid. 2 p. 380 s.; arrêt 5A_916/2012 du 12 février 2013 consid. 3.1).
Lors de son audition, l'intéressé doit pouvoir se déterminer sur tous les
faits essentiels qui pourraient conduire à l'instauration d'une mesure
de protection (ATF 96 II 15 consid. 3 p. 16; arrêt 5A_457/2010 du
11 octobre 2010 consid. 2.1). Pour le surplus, notamment quant à la
personne du curateur, l'étendue de l'art. 447 al. 1 CC dépend des
circonstances de l'espèce.
Le droit à l'audition n'existe que devant l'autorité de protection de
l'adulte; contrairement à ce qui prévaut en matière de placement à des
fins d'assistance (art. 426 ss CC; ATF 139 III 257 consid. 4.3 p 260 ss),
la personne concernée par une mesure de curatelle n'a pas de droit à
être de nouveau entendue oralement devant l'autorité de recours (art.
450e al. 4 CC a contrario; d'un autre avis: AUER/MARTI, op. cit., n° 2 et
39 ad art. 447 CC).
3.1.2 L'art. 401 CC, en vigueur depuis le 1 er janvier 2013, prévoit la
possibilité, pour l'intéressé, de proposer à l'autorité de protection de
l'adulte qu'une personne déterminée soit désignée comme curatrice
(al. 1). L'intéressé peut également faire valoir ses objections quant à
la personne que l'autorité entend nommer comme telle (al. 3).
D'après le Message du Conseil fédéral, l'art. 401 CC correspond à
l'art. 381 aCC (FF 2006 6684 ad art. 401 CC). Rien n'indique, ni dans
les travaux parlementaires, ni dans le Message précité, que le
Page 7
251
législateur entendait se distancer de cette disposition et de la
jurisprudence y relative dans le cadre du nouveau droit de la
protection de l'adulte. Dès lors, il y a lieu de reprendre le principe
selon lequel l'autorité a le devoir de s'enquérir de la proposition de
l'intéressé quant à la personne du curateur (sous l'empire de l'art. 381
aCC: ATF 107 Ia 343 consid. 3 p. 345; arrêt 5P.394/2002 du 17 janvier
2003 consid. 2.2; à propos de l'art. 401 CC: RUTH E. REUSSER, in Basler
Kommentar, Erwachsenenschutz, 2012, n° 23 ad art. 401 CC;
CHRISTOPH HÄFELI, in Commentaire du droit de la famille, Protection de
l'adulte, 2013, n° 1 ad art. 401 CC). Si l'attention de la personne
concernée n'a pas été attirée sur sa possibilité de formuler une
proposition, son droit d'être entendu est violé. Le point de savoir s'il y
a lieu de l'interroger oralement sur cette question ou si une prise de
position écrite suffit doit être examiné à la lumière de l'ensemble des
circonstances (cf. supra consid. 3.1.1).
Une violation de l'art. 401 CC peut être réparée en instance de recours
(sous l'empire de l'art. 381 aCC: arrêt 5P.394/2002 du 17 janvier 2003
consid. 2.2). Dans le cadre du recours contre la désignation du curateur,
l'autorité de recours dispose d'une pleine cognition, qui s'étend au
contrôle de l'opportunité (art. 450a al. 1 ch. 3 CC).
3.2 Dans le cas présent, le recourant a été entendu oralement par
l'autorité de protection de l'adulte. Il a pu s'exprimer sur l'ensemble
des éléments déterminants pour sa mise sous curatelle, indiquant
d'ailleurs lui-même qu'il souhaitait bénéficier de l'aide d'un curateur
pour la gestion de ses affaires, notamment ses factures médicales. En
revanche, il n'est pas établi que le Tribunal ait attiré son attention sur
la possibilité de proposer une personne comme curateur.
Le procès-verbal d'audience du 25 mars 2013 ne contient aucune
indication à ce propos. Par ailleurs, rien ne démontre que le recourant
aurait eu connaissance de l'intention du Tribunal de nommer
Me E.________ en qualité de curateur; il n'a donc pas été en mesure
de faire valoir les objections qu'il avait à l'encontre du prénommé
avant que la décision ne soit prise. Cela étant, il ressort des faits de la
cause que l'intéressé a fait usage, dans son recours, de sa possibilité
de proposer un curateur. A cette occasion, il a également soulevé les
objections qu'il avait à l'encontre de la nomination de Me E.________.
Les juges précédents ont d'ailleurs tenu compte de ses arguments,
puisqu'ils les ont examinés dans l'arrêt entrepris.
S'il n'est certes pas exclu que certaines situations imposent une
audition orale de la personne concernée quant à la désignation du
Page 8
252
curateur (cf. supra consid. 3.1.1), on ne voit pas, en l’occurrence,
quelle circonstance particulière aurait justifié un tel procédé. Pour ces
motifs, il y a lieu de considérer que les manquements du Tribunal ont
été réparés par la prise de position écrite de l'intéressé, nonobstant le
rejet de la requête d'audition par la Chambre de surveillance (cf. supra
consid. 3.1.1 in fine), qui dispose du même pouvoir d'examen que
l'autorité inférieure (cf. supra consid. 3.1.2 in fine). Au demeurant, la
cause doit être de toute manière renvoyée à l'autorité précédente pour
nouvelle décision sur ce point (cf. infra consid. 4.3.1).
4.
Le recourant reproche à la Chambre de surveillance, d'une part de ne
pas avoir désigné Me D.________ comme curatrice de gestion,
contrairement à ce qu'il souhaitait, et, d'autre part, de ne pas avoir
tenu compte des objections qu'il avait soulevées à l'encontre de
Me E.________, alors même qu'il s'opposait pour la première fois à la
nomination de ce curateur. Ce faisant, il soutient que l'art. 401 CC n'a
pas été respecté.
Le recourant affirme encore qu'il n'existe aucun conflit d'intérêts entre
les fonctions de curateur de représentation en procédure et de curateur
de gestion, de sorte que Me D.________ pouvait parfaitement être
nommée comme sa curatrice, d'autant qu'il ne s'est pas opposé à ce
qu'une curatelle de gestion soit ordonnée en sa faveur . Au surplus,
contrairement à ce qu'affirme la cour cantonale, ce ne serait pas parce
qu'il n'était pas capable de désigner valablement un représentant
qu'un curateur de représentation lui a été désigné pour la durée de la
procédure; il ressortirait en effet du certificat médical du Dr C.________
qu'il est en mesure de choisir un mandataire. Enfin, le fait d'avoir
nommé le même curateur pour lui et son épouse apparaîtrait
inopportun, leurs intérêts respectifs étant susceptibles de diverger,
notamment en matière successorale.
4.1 Sous l'empire du droit antérieur, en vigueur jusqu'au 31 décembre
2012, l'art. 381 aCC prévoyait qu'en principe l'autorité tutélaire nomme
comme tuteur la personne proposée par l'intéressé (selon le texte
allemand: " soll " Folge leisten). Elle pouvait toutefois s'écarter du vœu
de l'incapable, pour autant que de " justes motifs " s'opposent à la
désignation de cette personne; elle devait alors exposer les motifs
ayant fondé le rejet de la proposition (ATF 107 II 504 consid. 3 p. 506;
arrêts 5A_559/2012 du 17 janvier 2013 consid. 5.2; 5A_17/2011 du
20 juillet 2011 consid. 4.1; 5P.332/2000 du 5 octobre 2000 consid. 3a).
Cette disposition a été introduite exclusivement dans l'intérêt public,
Page 9
253
non pas dans l'intérêt privé du bénéficiaire de la mesure (arrêt
5A_443/2008 du 14 octobre 2008 consid. 2.2).
La possibilité pour l'intéressé de proposer une personne en qualité de
curateur a été reprise dans le nouveau droit à l'art. 401 al. 1 CC.
Lorsque la personne concernée propose une personne comme curateur,
l'autorité de protection de l'adulte accède à son souhait (entspricht;
acconsente) à condition que la personne proposée remplisse les
conditions requises et accepte la curatelle (art. 401 al. 1 CC). La prise
en considération des vœux de la personne qui a besoin d'aide permet
de tenir compte du fait que, si celle-ci choisit une personne en qui elle
a confiance, les chances de succès de la curatelle augmentent. Le
principe de l'autonomie de la personne (Selbstbestimmungsrecht;
autodeterminazione) est au centre de cette disposition (FF 2006 6684
ad art. 401 CC), plus encore qu'il ne l'était sous l'empire de l'art. 381 aCC
(REUSSER, op. cit., n° 26 ad art. 401 CC).
4.2 Le curateur doit être une personne physique qui possède les
aptitudes et les connaissances nécessaires à l'accomplissement des
tâches qui lui seront confiées (art. 400 al. 1 CC). Parmi les éléments
déterminants pour juger de l'aptitude figurent notamment le fait de
posséder les qualités professionnelles et relationnelles, ainsi que les
compétences professionnelles requises pour les accomplir (FF 2006
6683 ad art. 400 CC), de disposer du temps nécessaire et d'exécuter
les tâches en personne (art. 400 al. 1 CC), mais aussi de ne pas se
trouver en situation de conflit d'intérêts. Ce dernier critère doit
permettre au curateur de se dédier à sa tâche sans que l'exécution de
celle-ci ne soit rendue impossible ou difficile à l'excès par une autre
activité qui lui serait contraire, ou par tout autre intérêt dont il aurait la
charge, et de respecter son devoir de diligence ainsi que le secret
professionnel auquel il est tenu en vertu de l'art. 413 al. 1 et 2 CC.
La loi envisage expressément les cas dans lesquels les intérêts du
curateur et ceux de l'intéressé entreraient en conflit (art. 403 al. 1 CC).
La notion de " conflit d'intérêts " peut aussi englober les cas dans
lesquels le mandataire est en charge, successivement, de deux mandats
contradictoires. En l’occurrence, se pose la question de l'existence
d'un conflit d'intérêts, pour la curatrice, entre sa mission de repré sentation durant la procédure (art. 449a CC) et la mission subséquente
de curatrice de représentation avec gestion (art. 394 s. CC). Cette
question ne peut être résolue de façon uniforme, mais doit être
analysée dans chaque cas d'espèce en tenant compte de l'ensemble
des circonstances. En principe, dans le cas où l'intéressé s'oppose au
Page 10
254
principe même de la curatelle, il n'est pas opportun de confier le
mandat de curatelle à celui qui avait été nommé pour l'assister au
cours de la procédure. En effet, l'intéressé ne peut en général pas
avoir une relation de confiance avec cette personne, si celle-ci
assume par la suite le mandat (arrêt 5A_221/2007 du 28 août 2007
consid. 3), ce qui compromet les chances de succès de la mesure. En
revanche, lorsque l'intéressé a consenti à la curatelle, il n'est pas
forcément inopportun de confier les deux mandats successifs à la
même personne.
4.3
4.3.1 En l’occurrence, le recourant souhaitait bénéficier d'une mesure
de curatelle. Au cours de la procédure, il a pu nouer un lien de
confiance avec Me D.________, celle-ci ayant été nommée comme
curatrice pour l'aider dans ses démarches, qui ont d'ailleurs abouti
puisque l'autorité a ordonné la mesure sollicitée. Dès lors, on ne voit
pas pourquoi la curatrice se trouverait en conflit d'intérêts si elle devait
assumer successivement les deux missions. Peu importe, à cet égard,
de savoir si elle a été nommée pour assister l'intéressé en procédure
parce qu'il n'était pas en mesure de défendre lui-même ses intérêts et
de désigner un représentant, ou pour d'autres motifs.
Par conséquent, pour autant qu'aucun autre motif ne s'oppose à la
désignation de Me D.________ (cf. supra consid. 4.2), et que celle-ci
accepte sa mission, elle doit en principe être désignée comme
curatrice. La Cour de céans ne disposant pas de tous les éléments
nécessaires pour déterminer si elle remplit toutes les autres conditions
requises, la cause doit être renvoyée à l'autorité précédente pour
instruction complémentaire et nouvelle décision sur ce point (art. 107
al. 2 LTF).
4.3.2 A toutes fins utiles, il convient d'examiner le grief de violation de
l'art. 401 al. 3 CC, pour le cas où l'autorité cantonale retiendrait que
Me D.________ ne possède pas les qualités requises pour être
désignée, et déciderait de confirmer Me E.________ dans ses
fonctions.
En vertu de cette disposition, l'autorité de protection de l'adulte doit
tenir compte autant que possible des objections que la personne
concernée soulève à la nomination d'une personne déterminée. Le
droit de l'intéressé de refuser la nomination d'une personne n'est
cependant pas absolu, car il y a lieu d'éviter que des refus répétés
n'empêchent d'instituer la curatelle (FF 2006 6684 ad art. 401 CC).
Page 11
255
Lorsque l'intéressé formule des objections, l'autorité de protection de
l'adulte doit examiner si celles-ci sont objectivement plausibles. Il y a
lieu de se montrer moins strict dans l'appréciation des objections
lorsque la personne s'oppose, pour la première fois, à ce qu'une
personne soit désignée comme curatrice et qu'elle ne conteste pas la
mesure en tant que telle.
En l'espèce, l'autorité précédente ne pouvait donc pas se contenter de
rejeter les objections du recourant à l'encontre de la désignation de
Me E.________ pour le seul motif qu'il n'avait allégué " aucun grief
sérieux " à l'encontre de celui-ci; elle devait tout au moins expliquer en
quoi ces critiques, qui ne sont pas explicitées dans la décision attaquée, ne seraient pas objectivement plausibles. Elle devait également
tenir compte, d'une part, du fait que le recourant ne semble pas vouloir
empêcher la mise en place de la curatelle, puisqu'il a lui-même
proposé un curateur, et, d'autre part, du fait qu'il n'avait encore jamais
formulé d'objections. Quant à l'éventuel conflit d'intérêts qui résulterait
du double mandat de Me E.________, curateur de l'intéressé et de
son épouse, la question n'est plus d'actualité, l'épouse étant désormais
décédée.
5.
Dans un dernier grief, le recourant soutient que le fait d'avoir été privé
d'accéder à ses comptes bancaires violerait l'art. 395 CC. Il prétend
n'avoir jamais dilapidé sa fortune, ni avoir eu l'intention de le faire. Il
posséderait par ailleurs d'importantes économies. Résidant actuellement
dans un EMS, il serait protégé de l'influence de tiers. Enfin, il expose
qu'il ne s'agit pas de déterminer s'il y a un risque qu'il soit influencé
par des tiers, mais plutôt " s'il existe des éléments concrets qui permettent
de penser qu'[il] pourrait être amené à dépenser son argent de manière
inconsidérée, sous l'influence de tiers ", ce qui ne serait pas le cas en
l'espèce. Dès lors, la mesure de blocage des comptes ne respecterait
pas le principe de la proportionnalité.
5.1
5.1.1 L'art. 395 CC dispose que, lorsque l'autorité de protection de
l'adulte institue une curatelle de représentation ayant pour objet la
gestion du patrimoine, elle détermine les biens sur lesquels portent les
pouvoirs du curateur. Elle peut soumettre à la gestion tout ou partie
des revenus ou de la fortune, ou l'ensemble des biens (al. 1). A moins
que l'autorité n'en décide autrement, les pouvoirs de gestion du
curateur s'étendent à l'épargne constituée sur la base des revenus et
du produit de la fortune gérée (al. 2). Même si elle décide de ne pas
Page 12
256
limiter l'exercice des droits civils de la personne concernée, l'autorité
de protection de l'adulte peut la priver de la faculté d'accéder à
certains éléments de son patrimoine (al. 3), afin de la protéger. La
mesure de curatelle de représentation en relation avec la gestion du
patrimoine a pour but de protéger les personnes qui ne sont pas
capable de gérer seules leurs biens sans porter atteinte à leurs propres
intérêts (HELMUT HENKEL, in Basler Kommentar, Erwachsenenschutz,
2012, n° 5 ad art. 395 CC; PHILIPPE MEIER, in Commentaire du droit de
la famille, Protection de l'adulte, 2013, n° 6 ad art. 395 CC). Les biens
bloqués sont accessibles au curateur, qui peut les utiliser dans l'intérêt
de son pupille. Ils ne constituent pas un patrimoine séparé, dès lors
qu'ils continuent de répondre des obligations contractées par la
personne mise sous curatelle (FF 2006 6680 ad art. 395 CC).
Lorsqu'elle détermine les biens sur lesquels portent les pouvoirs du
curateur, l'autorité de protection de l'adulte doit tenir compte des
besoins de la personne concernée, en application du principe général
de l'art. 391 al. 1 CC. Elle jouit d'un large pouvoir d'appréciation. Le
Tribunal fédéral ne revoit qu'avec retenue l'exercice du pouvoir
d'appréciation par l'autorité cantonale. Il n'intervient que si la décision
s'écarte sans raison des règles établies par la doctrine et la juris prudence en matière de libre appréciation, ou repose sur des faits qui,
dans le cas particulier, ne devaient jouer aucun rôle, ou encore si elle
n'a pas tenu compte d'éléments qui auraient dû être pris en
considération; en outre, il sanctionnera les décisions rendues en vertu
du pouvoir d'appréciation lorsqu'elles aboutissent à un résultat
manifestement injuste ou à une iniquité choquante (ATF 138 III 252
consid. 2.1 p. 253 s.; 136 III 278 consid. 2.2.1 p. 279).
5.1.2 En considération des principes de la proportionnalité et de
l'autonomie de la personne concernée, le curateur est tenu de mettre
des montants appropriés à la libre disposition de cette personne
(art. 409 CC). Pour déterminer, concrètement, quels montants sont
appropriés, il faut notamment tenir compte des revenus et de la
fortune de l'intéressé, ainsi que des éléments patrimoniaux qu'il
continue d'administrer lui-même ou auxquels il continue d'avoir accès
(FF 2006 6686 ad art. 409 CC). Ses besoins et son niveau de vie
doivent également être pris en compte. Tous ces éléments sont
susceptibles d'évoluer; partant, il en va de même du montant consi déré comme " approprié ". Dès lors que la curatelle de représentation
avec gestion poursuit un but de protection de l'intéressé (cf. supra
consid. 5.1.1) et ne vise pas les intérêts publics ou privés au maintien,
voire à l'accroissement, du patrimoine, la fortune pourra, selon les
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circonstances, être entamée. Le principe de la proportionnalité exige,
en outre, que l'on revienne sur les mesures prises dans l'hypothèse où
elles ne se révéleraient plus nécessaires. L'intéressé peut en appeler
à l'autorité de protection de l'adulte contre les actes ou les omissions
du curateur (art. 419 CC).
5.2 En l’occurrence, la Chambre de surveillance n'a pas abusé de son
pouvoir d'appréciation. Elle a tenu compte du risque existant, pour le
recourant, d'être influencé par des tiers, et du fait qu'il souffre d'un
trouble cognitif débutant, ces deux éléments ressortant du certificat
médical ainsi que de l'audition du Dr C.________. La mesure de
curatelle ayant pour but de protéger l'intéressé (cf. supra consid.
5.1.1), il se justifiait précisément, à ce stade, de prévenir tout acte de
sa part tendant à mettre en péril sa fortune, de sorte que l'argument
selon lequel il n'a pas encore procédé à de tels actes est sans
pertinence. Au demeurant, le seul fait de résider dans un EMS n'écarte
pas le risque d'être influencé par des tiers.
L'autorité cantonale a précisé à juste titre (cf. supra consid. 5.1.2) qu'il
incombait au curateur de " laisser au recourant un montant mensuel librement disponible ". La mesure de blocage ordonnée ne concerne que les
comptes dont le recourant était titulaire ou ayant droit économique au
moment où l'autorité de protection de l'adulte a rendu sa décision, à
savoir le 11 avril 2013. Ainsi, dans la mesure et aussi longtemps qu'il
l'estime adéquat en fonction de l'ensemble des circonstances, le
curateur peut par exemple ouvrir un nouveau compte et le laisser à la
libre disposition du pupille; le cas échéant, il veillera à l'alimenter
régulièrement du montant approprié, qui sera déterminé en tenant
compte, notamment, des revenus et de la fortune de l'intéressé, ainsi
que de son niveau de vie (cf. supra consid. 5.1.2).
6.
En conclusion, le recours doit être admis, et l'arrêt attaqué annulé en
tant qu'il concerne la personne désignée en qualité de curateur et
rejeté pour le surplus. Dans ces circonstances, il convient en équité de
réduire les frais de justice à la charge du recourant (art. 66 al. 1,
2e phr. LTF). Le canton de Genève n'a pas à supporter de frais (art. 66
al. 4 LTF), mais doit verser au recourant une indemnité de dépens
réduite (art. 68 al. 1 et 2 LTF).
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Par ces motifs, le Tribunal fédéral prononce:
1.
Le recours est partiellement admis, l'arrêt attaqué est annulé en ce qui
concerne la désignation de Me E.________ en qualité de curateur et
la cause est renvoyée à l'autorité cantonale pour nouvelle décision.
2.
Les frais judiciaires, arrêtés à 1'000 fr., sont mis à la charge du
recourant.
3.
Une indemnité de 1'500 fr., à verser au recourant à titre de dépens,
est mise à la charge du canton de Genève.
4.
Le présent arrêt est communiqué au recourant, au Tribunal de protection
de l'adulte et de l'enfant de Genève, à la Chambre de surveillance de
la Cour de justice du canton de Genève et à Me E.________.
Lausanne, le 3 décembre 2013
Au nom de la IIe Cour de droit civil
du Tribunal fédéral suisse
Le Président:
La Greffière:
von Werdt
Bonvin
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Neue Zuercher Zeitung
16. Januar 2014
BUNDESGERICHT
Autonomie ernst nehmen
Präzisierungen zum Erwachsenenschutzrecht
fon. Lausanne · Das neue Erwachsenenschutzrecht soll
hilfsbedürftigen Personen Unterstützung garantieren, gleichzeitig
aber auch ihr Selbstbestimmungsrecht so weit als möglich wahren.
Dass die Behörden diesem Grundsatz in der Praxis tatsächlich
nachleben und den Willen der betreffenden Person ernst nehmen
müssen, hat das Bundesgericht in einem Fall eines 84-jährigen
Mannes aus dem Kanton Genf verdeutlicht. Der vermögende
Mann bekundete zunehmend Mühe, seine Angelegenheiten zu
besorgen. Die Erwachsenenschutzbehörde leitete darauf ein
Verfahren für die Errichtung einer Beistandschaft ein und stellte
dem Mann einen Anwalt zur Seite, der mit den rechtlichen
Angelegenheiten und der Vermögensverwaltung betraut wurde.
Der 84-Jährige war zwar mit der Beistandschaft, nicht aber mit der
Person des Beistands einverstanden; er wollte von einer ihm
vertrauten Frau vertreten werden. Sein Anliegen fand bei den
zuständigen Genfer Behörden indes kein Gehör - zu Unrecht, wie
das Bundesgericht findet. Es weist darauf hin, dass eine
hilfsbedürftige Person gemäss dem Erwachsenenschutzrecht eine
Vertrauensperson als Beistand vorschlagen kann und dass die
Behörde diesem Wunsch zu entsprechen hat, sofern die
vorgeschlagene Person für die Aufgabe geeignet ist. Im
Mittelpunkt stehe dabei das Selbstbestimmungsrecht. Lehne die
betreffende Person den Beistand ab, so müsse die Behörde
abklären, ob die vorgebrachten Einwände objektiv plausibel seien.
Laut Bundesgericht soll sie sich dabei nicht allzu strikt zeigen,
zumal wenn sich der Verbeiständete zum ersten Mal widersetzt
und den von der Behörde vorgeschlagenen Beistand nicht zum
wiederholten Mal ablehnt.
Die Kritik des Mannes, dass man ihm zu Unrecht den Zugriff auf
seine Bankkonten verwehre, teilt das Bundesgericht indes nicht.
Die Vermögensverwaltung sei von der Genfer Vorinstanz korrekt
angeordnet worden. Um zu verhindern, dass der gesundheitlich
angeschlagene Mann, der mittlerweile in einem Pflegewohnheim
lebt, von Dritten beeinflusst werde und sein Vermögen gefährde,
seien die Bankkonten zu Recht blockiert worden. Wichtig sei, dass
der Mann angemessene Beträge aus seinem Vermögen erhalte,
über die er frei verfügen könne.
Urteil 5A_540/2013 vom 3. 12. 13 - BGE-Publikation.
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