Reisebericht 1 zum New York Marathon 2011

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Reisebericht 1 zum New York Marathon 2011
Die Ausgangslage
Zwei Jahre ist es nun her, seit ich den Entschluss gefasst habe, das Abenteuer New York City Marathon
zu wagen. Und dieses Jahr sollte es nun endlich so weit sein! Eine ereignisreiche Vorbereitungsphase
liegt hinter mir mit einigen Höhen und Tiefen. Der negative Höhepunkt war sicherlich meine Adduktorenverletzung ausgerechnet in der heißen Phase der Vorbereitung. Vier Wochen musste ich pausieren
und lange sah es danach aus, dass ich den New York Marathon absagen müsste. Doch quasi in letzter
Minute habe ich doch noch die Kurve gekriegt, dank der unschätzbaren Hilfe meines Freundes Andreas, seines Zeichens Heilpraktiker. Trotzdem! Einen Aufreger gab es trotzdem noch: einen Tag vor der
Abreise ziehe ich mir noch einen Hexenschuss zu. Den Hinflug überstehe ich nur unter Einsatz von
Drogen. Zum Glück hat sich die Hexe nach drei Tagen wieder verzogen und ich konnte das Training
wieder aufnehmen.
Das Abenteuer New York haben wir – meine Frau, meine Tochter und ich – genutzt, um einen zweiwöchigen Urlaub in Kanada und in den USA zu verbringen. Die Umsetzung unserer Urlaubsplanung haben
wir in die bewährten Hände von Interair gegeben. Um es gleich von vornherein zu sagen: das InterairTeam ist einfach SPITZE!!! Ohne der nachfolgenden Story vorgreifen zu wollen, es hat alles bestens
geklappt und es war wunderbar!
Die Reise führte uns zunächst nach Saint Catharines in Ontario, Kanada. Dort leben Verwandte von uns
und wir haben dort zehn Tage bei meinem Cousin und seiner Familie verbracht. Von dort aus sind wir
per Auto nach New York gefahren. Und genau da beginnt nun die Geschichte…
Mittwoch, 2. November 2011 | 4 Tage bis zum Marathon | Ankunft
Heute ist es soweit! Am frühen Morgen verlassen wir Saint Catharines und fahren zusammen mit meinem Cousin und seiner
Frau per Auto nach New York City. Die rund siebenstündige Autofahrt führt uns durch stellenweise sehr malerische Landschaften der US-Bundesstaaten New York, Pennsylvania und New
Jersey. Dort wo der Schneesturm vom vergangenen Wochenende nicht ganz so sehr gewütet hat, bekommen wir noch einen
kleinen Eindruck vom Indian Summer. In den höheren Lagen von
New Jersey liegt sogar noch eine recht erkleckliche Menge
Schnee. Das Wetter ist traumhaft schön und wird sich bis zum
Marathontag auch nicht mehr ändern.
Nach einer völlig problemlosen Autofahrt erreichen wir New York.
Ich kann es kaum glauben, wir sind endlich da. Das ganze Jahr
habe ich mich auf diesen Moment gefreut und von nun an brauche ich nicht mehr die Tage zu zählen sondern die Stunden bis
zum Marathonstart.
Unser Hotel befindet sich in Midtown Manhattan und wir können
uns daher über einen Aufenthalt in einem Hotel in exponierter
Lage freuen. Das ist vor allem für den Marathontag von entscheidendem Vorteil, liegt unsere Bleibe
doch gerade einmal anderthalb Kilometer von der Ziellinie im Central Park entfernt. Mit dem Hotel sind
wir ausgesprochen zufrieden, denn wir haben ein sehr großes und schönes Zimmer im 16. Stock.
Am Abend schmeißen wir uns dann auch direkt mal in das New Yorker Nachtleben und begeben uns
zum Times Square. Das Gewusel ist unbeschreiblich. Die Hektik, der Andrang und die Geräuschkulisse
dieser Stadt überfordern mich ganz schön. Es wird eine Weile dauern, bis ich mich daran gewöhne.
Insbesondere in den nächsten Tagen werde ich feststellen, dass New York keineswegs einer gewissen
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Faszination entbehrt, es aber grundsätzlich nicht in meine Vorstellung von Entspannung passt. Aber
das blende ich jetzt erst mal aus. Ich bin einfach nur froh, endlich hier zu sein.
Mein Cousin und seine Frau werden übrigens nicht bis zum Marathon in New York bleiben können und
uns am Freitag schon wieder verlassen. Schade!
Freitag, 4. November 2011 | 07:30 Uhr | 52 Stunden bis zum Start | Columbus Circle
Heute Morgen findet ein von Interair organisiertes Abschlusstraining im Central Park statt. Die InterairReisegruppe besteht aus einer Menge Läufern, die auf insgesamt fünf Hotels in Manhattan aufgeteilt
sind. Treffpunkt für den gemeinsamen Trainingslauf, der aufgrund der Personenzahl schon wie ein kleiner Volkslauf anmutet, ist der Columbus Circle am Südwest-Ende des Central Parks. Begleitet wird das
Training von den ehemaligen deutschen Spitzenläufern Wolfgang Münzel und Herbert Steffny, der es
als bisher einziger Deutscher beim New York Marathon mit einem dritten Platz aufs Treppchen geschafft hat.
Bevor es losgeht werden wir erst einmal zu einem Gruppenfoto zusammengerottet und dabei testen wir direkt mal aus, ob wir lauter
jubeln können als die italienische Gruppe, die sich schräg hinter uns
ebenfalls zum Foto aufgestellt hat. Einige der Interair-Reisebegleiter
halten am Columbus Cirlce die Stellung, sodass wir dort unsere Jacken und Taschen zurücklassen können.
Der Lauf führt uns zunächst mal in den Zielbereich des Marathons,
wo bereits alles für das große Ereignis aufgebaut ist. Dadurch können
wir schon mal als Trockenübung den Zieleinlauf proben. Selbst vor
leeren Zuschauerrängen kommt ein ziemliches Gänsehautgefühl bei
mir auf. Wir bleiben kurz im Zielbereich auf geheiligtem Boden stehen und Herbert gibt uns hier ein paar
Informationen zur Strecke. Danach laufen wir den letzten Teil der Marathonstrecke ab, damit wir schon
mal einen Eindruck bekommen, was uns am Sonntag erwartet, denn die letzten fünf Kilometer gelten
aufgrund des welligen Streckenprofils als die härtesten des Kurses.
Wir sind bei weitem nicht die einzige ausländische Läufergruppe, die sich heute durch den Central Park
bewegt. Die Italiener, mit denen wir eben schon einen inoffiziellen Jubel-Contest hatten, kommen uns
nun in einer Kurve entgegen und wir feuern uns gegenseitig an und klatschen uns ab. Zwischendurch
treffen wir auch noch auf eine Gruppe aus Österreich und aus Spanien sowie noch viele vereinzelte
Läufer unterschiedlicher Nationalität.
10:00 Uhr | 50 Stunden bis zum Start | Marathon Expo
Wie bei jedem Marathon auch, so steht auch hier in New
York der Gang zur Marathon Expo an, um die Startnummer abzuholen. Beim weltgrößten Marathon ist natürlich
auch so eine Expo eine ziemlich große Angelegenheit.
Umso erstaunlicher ist, dass ich in der Riesenmasse von
Läufern und Begleitpersonen ein bekanntes Gesicht
sehe: Holger, der früher einmal unsere Laufgruppe trainiert hat und der für uns im vergangenen Mai die Leistungsdiagnose durchgeführt hat. Begleitet wird er von
seiner Frau und noch zwei weiteren Bekannten. Wir
wussten zwar davon, dass wir beide jeweils in New York
teilnehmen, hatten aber nicht wirklich damit gerechnet, dass wir uns hier treffen. Gemeinsam schlurfen
wir nun durch den Athletenbereich der Expo und sammeln unsere Startnummer ein. Da wir ungefähr die
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gleiche Zielzeit ins Auge fassen, verabreden wir uns am Sonntagmorgen im Startbereich unterhalb der
Verrazano-Brücke und tauschen unsere Handynummern aus.
Beim Verlassen des Athletenbereichs gelangt man automatisch in die Halle, in der die einschlägig bekannten Sportartikelausrüster dieser Welt ihre Waren feilbieten. Als erstes trifft man auf einen immens
großen Stand der Firma Asics, einem der Hauptsponsoren des NYC Marathons, der alleine die Ausmaße eines großen Sportgeschäfts hat. Da Asics meine bevorzugte Marke ist, schaue ich mich natürlich
hier mal gerne um und decke mich mit neuem Laufshirt, Kappe und Schweißbändern ein. Etwas verwundert nehme ich den Teppich zur Kenntnis der hier auf dem Boden ausgelegt ist und bei dem man
den Eindruck hat, man tritt in einen Sumpf. Später erfahre ich, dass das eine ganz geschickte Strategie
von Asics ist, um den Gang der potenziellen Kunden abzubremsen und zum Verweilen an den Warenträgern zu veranlassen. Diese Halunken!
15:00 Uhr | 45 Stunden bis zum Start | Manhattan Cruise
Interair hat zu einer Bootsfahrt den Hudson und den East
River entlang, rund um die Südspitze Manhattans und zur
Freiheitsstatue geladen, der sogenannten Manhattan
Cruise. Dafür wurde eigens ein Boot gechartert, in dem
sich jetzt ein paar Hundert erwartungshungrige InterairKunden tummeln. Es ist zwar kühl, aber das Wetter ist
allererste Sahne und für eine Sightseeing-Bootstour perfekt geeignet.
Diese Tour nimmt Interair auch zum Anlass, uns noch ein
paar organisatorische Informationen in Bezug auf den Marathon und die Fantour für die Angehörigen
mitzugeben. Herbert Steffny weist noch einmal auf das schwierige Streckenprofil mit den 400 Höhenmetern hin und darauf, dass er immer wieder auf Läufer trifft, die sich
nicht ausreichend über den New York Marathon im Vorfeld informiert
und sich nicht angemessen darauf vorbereitet haben. Mir wollte gerade der Gedanke in den Kopf schießen, dass der gute Herbert vielleicht etwas übertreiben könnte – denn wer in New York den ultimativen Marathon läuft, der wird sich doch wohl akribisch darauf vorbereiten – da fallen mir einige Mitläufer auf, die sich mit verdutzten Gesichtern anschauen und überrascht die Frage stellen: „Ehrlich? Hier gibt
es Steigungen?“. Ich lach mich hier gleich scheckig! Da gibt es doch
tatsächlich welche, die verbrennen einen Haufen Kohle um einmal in
New York zu laufen und haben keine Ahnung, worauf sie sich da
einlassen! Das kann ich als durchstrukturierter, zielorientierter Krümelkacker natürlich überhaupt nicht nachvollziehen. Ich habe die
Strecke vorher mehr als einmal inhaliert. Mich könnt Ihr nachts um
zwei wecken und ich erkläre Euch den genauen Streckenverlauf
nebst Steigungen und Gefälle und das ohne jemals vorher in New
York gewesen zu sein. Später auf der Strecke werde ich noch feststellen, dass viele den Marathon hier
in der Tat unterschätzt haben – oder sich selbst überschätzt, je nach Blickwinkel.
Nichtsdestotrotz ist es eine sehr schöne Bootstour mit einem herrlichen Blick auf Manhattan, die Freiheitsstatue und die Brooklyn Bridge.
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18:00 Uhr | 42 Stunden bis zum Start | Eröffnungsfeier
Für dieses Jahr haben sich die Organisatoren vom New York Road Runners Club, dem Veranstalter
des Marathons, etwas neues einfallen lassen. Es findet im Central Park im Zielbereich eine offizielle
Eröffnungsfeier statt, bei der, nach dem Vorbild der Olympischen Spiele, die teilnehmenden Nationen
einmarschieren. Dazu hat man unter den Läufern per Losverfahren die Fahnenträger der jeweiligen
Nation benannt. Und es sind immerhin um die 100 Nationen dieses Jahr am Start! Als ich an dem Bereich vorbeilaufe, in dem sich die Fahnenträger aufgestellt haben, spähe ich mal neugierig rüber, wo die
denn alle so herkommen. Die exotischsten, die mir aufgefallen sind: Ost-Timor, Nepal, Seychellen.
Ich mische mich unter die anderen Interair-Läufer auf die Tribüne und harre dem Beginn der Eröffnungsfeier. Meine Frau und meine Tochter sind schon mal zurück zum Hotel gegangen, die sind von
dem heutigen Tag ziemlich geschafft. Der Einmarsch der Nationen erfolgt in der Tat wie bei der Olympiade. Erst die Pleitegeier aus Griechenland, dem Mutterland des Marathons und der Finanzkrise, dann
die anderen Nationen in alphabetischer Reihenfolge und zum Schluss die gastgebenden Amis. Ich
schaue mir das Spektakel allerdings nur bis „G“ wie „Germany“ an, denn es ist verdammt kalt auf der
Tribüne und sich zwei Tage vor dem Lauf noch einen Schnupfen einzufangen, darauf habe ich nicht
wirklich Lust.
Samstag, 5. November 2011 | 11:30 Uhr | 23 Stunden bis zum Start | Stadtrundfahrt
Am Vortag eines Marathons sollte man möglichst ruhen.
Da ein Tag Faulenzen und im Hotel abhängen natürlich
nicht infrage kommt, wenn man ein Vermögen für den
Aufenthalt am Big Apple investiert hat, gilt es einen gesunden Mittelweg zwischen Schonung und touristischer
Aktivität zu finden. Auch hierfür hat Interair eine Lösung
und eine vierstündige Stadtrundfahrt mitsamt deutscher
Reisebegleitung organisiert. An zwei, drei Punkten verlassen wir auch mal den Bus, vertreten uns die Beine
und schauen uns was an. Also genau das richtige für
einen Marathoni, der nur wenige Stunden bis zu seinem
großen Auftritt hat.
Wir befahren mit dem Bus stellenweise auch den geheiligten Boden: die Marathonstrecke. Diese erkennen wir
an der „Blue Line“, die im Laufe der letzen Nacht auf den
Asphalt gemalt wurde und nun die Laufstrecke markiert.
Dabei bekommen wir einmal mehr einen Eindruck, dass
dieser Kurs alles andere als flach ist und wir erfahren
auch, dass der Name „Manhattan“ aus dem Indianischen
stammt und „hügeliges Land“ bedeutet. Wohl dem, der
vorher mal ein paar Crossläufe mehr gemacht hat.
18:00 Uhr | 17 Stunden bis zum Start | Pastaparty
Auch in Bezug auf die bei Marathonläufen obligatorische Pastaparty setzen die hier in New York Maßstäbe. Das Gelage findet in einem Zelt statt, dass sich unweit des Zielbereichs im Central Park befindet
und dass die Ausmaße eines mittleren Oktoberfestzeltes hat. Damit die 47.000 Marathonis auch einigermaßen ohne logistische Friktionen abgefüttert werden können, bekommt jeder Läufer mit seiner
Startnummer eine Eintrittskarte für das Pastaessen und wird dabei auch einer Uhrzeit zugeordnet, an
der man sich zu Tisch einzufinden hat. Als ich das Zelt erreiche, fällt mit direkt eine immens lange
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Schlange vor dem Eingang ins Auge und ich habe mir schon gedacht: „Gut, dann eben doch in die Burgerbude!“. Doch zum Glück läuft das hier in einer Art Blockabfertigung und ich komme bereits mit dem
nächsten Schwung ins Zelt rein.
Der Ablauf in dem Zelt ist perfekt organisiert. Eine Unmenge von Ordnern verteilt uns sofort auf die
Buffettische, wo wir unsere Nudeln nebst Beilagen bekommen. Ich bin erstaunt. Die Pasta haben trotz
Massenabfertigung und Pappteller die Qualität, wie man sie nur in einem guten italienischen Lokal vorfindet. Keine Spur von Kantinenfraß. Und die Portion ist sehr üppig! Nachschlag gibt es zwar nicht,
braucht aber auch keiner. Ich bin nach dem einen Teller pappensatt!
Meine Familie hätte mich sogar begleiten können, dafür hätten wir aber jeweils eine Eintrittskarte zum
Preis von 30 $ kaufen müssen. Willkommen in New York, der Stadt, in der man seinem Geld so richtig
böse sein muss.
20:00 Uhr | 15 Stunden bis zum Start | Mailbox
Routinemäßig greife ich mir mein Blackberry, checke meine Mails und finde einige Nachrichten von
Freunden und Kollegen vor, die mir für den morgigen Lauf Glück wünschen. Wie ich die kenne, werden
die sich morgen bei der Übertragung auf Eurosport die Nase am Fernseher platt drücken und versuchen, mich in der Masse der Läufer zu finden. Ob die wissen, dass die da eh nur die Spitzenläufer zeigen? Jedenfalls freue ich mich sehr über die Mails und bin dankbar, dass da über 6.000 Kilometer weiter östlich ein paar nette Menschen sind, die an mich denken.
Sonntag, 6. November 2011 | 04:30 Uhr | 6 Stunden bis zum Start | Routine
Ich habe verdammt mies geschlafen. Eine Mischung aus unglaublicher Vorfreude und der Angst zu
verpennen hat mich wach gehalten. Erst in dieser Nacht wurden in Amerika die Uhren auf die Winterzeit
umgestellt, sodass wir eine Stunde länger schlafen konnten. Es hat mir nichts gebracht.
Von der verkorksten Nacht lasse ich mich allerdings nicht unterkriegen und schon gar nicht die Laune
vermiesen. Heute findet er endlich statt: der New York City Marathon 2011. Und ich bin dabei!!! Der
Wahnsinn!!! Wer hätte das noch gedacht nach den ganzen Problemen der letzten Wochen?
Trotz der Euphorie ist die übliche Routine im Vorfeld angesagt, um bestens ausgerüstet und vorbereitet
auf die Strecke zu gehen. Daher im nachfolgenden die wichtigsten Punkte, die man als Marathoni zu
beachten hat:
Laufschuhe
Traditionell türmen sich im Schuhschrank des typischen Marathonläufers gleich mehrere Paar Laufschuhe. Für jedes Wetter, jeden Untergrund, jede Distanz ein ganz bestimmtes. Bei mir sind es zurzeit
genau vier Paar. Während viele Läufer sich erst unmittelbar vor dem Marathon für das adäquate
Schuhwerk entscheiden, habe ich mir schon lange im Voraus meine Waffen ausgesucht: Mizuno Wave
Rider 14. Ein extrem leichter Schuh, der bei Läufen auf Asphalt zur Rakete mutiert und quasi von alleine
läuft. Ich bin um jedes Gramm froh, dass ich nicht mit auf die Steigungen nehmen muss. Nur auf Waldboden hat er deutliche Schwächen. Da ich aber heute durch Häuserschluchten und nicht durchs Unterholz rennen werde, ist es der ideale Schuh.
Klamotten
Da bei unserer Abreise vor zwei Wochen natürlich noch keiner sagen konnte, wie das Wetter heute
wird, habe ich mich in Punkto Laufklamotten auf jede Wetterlage eingestellt, was allerdings unsere Kof5
ferkapazität nachhaltig belastete. Wir wollen nicht vergessen, dass das Schneetreiben in New York
gerade mal sieben Tage her ist. Der Wetterbericht prophezeit für heute aber das absolute Hammerwetter: sonnig bei bis zu 14° C. Chaka!!! Das ist genau mein Wetter!!! Und es erlaubt mir, in kurzer Hose
und in kurzärmligem Shirt zu laufen. Da die Tageshöchsttemperatur naturgemäß erst ab Mittag oder gar
erst ab Nachmittag erreicht wird und New York bekannt für seine Winde
ist, werde ich mir noch ein Funktionsunterhemd anziehen. Jedoch bleibt
alles, was in die Kategorie Laufjacke oder lange Klamotten gehört, im
Hotel zurück.
Um bei der elend langen Wartezeit am Start keine Frostbeulen zu erleiden (heute am frühen Morgen sind es gerade mal 4°C), ist es ratsam,
sich ein paar alte Klamotten überzuziehen, die man immer schon mal
wegschmeißen wollte. Damit tut man sogar noch was Gutes, denn der
Veranstalter wird die am Start zurückgelassenen Textilien einsammeln
und den New Yorker Obdachlosen schenken. Daher habe ich mir – ebenfalls unter hoher Ausnutzung der Kofferkapazität – einige Wegwerfklamotten von zu Hause mitgebracht: einen alten Trainingsanzug, der mir
mittlerweile zwei Nummern zu groß ist, eine vergammelte Fleece-Jacke,
eine modisch nicht mehr akzeptable Winterjacke, das extrem hässliche
Halstuch, das wir beim Kölner Nachtlauf im Startbeutel hatten sowie ein
paar ausrangierte Laufhandschuhe.
Uschis
Lange habe ich mich gewehrt, diese Teile anzuziehen: die in der Läuferszene hinlänglich als „Uschis“
bezeichneten Kompressionslaufstrümpfe. Mittlerweile hat sich aber auch mir der Nutzen dieses gewöhnungsbedürftigen Beinkleids erschlossen. Daher werde ich heute erstmals einen Marathon in langen
Strümpfen bestreiten.
Wenn man mal kritisch darüber nachdenkt, warum macht man sich eigentlich lustig über die Dinger und
warum bricht jeder ahnungslose Nichtläufer in schallendes Gelächter aus, wenn er einen Läufer in Uschis sieht? Zugestanden, die Dinger sehen schwul aus! Aber schaut Euch doch mal die Fußballer an!
Die laufen auch in Kniestrümpfen umher die in Verbindung mit den lächerlichen Pluderhosen, die die
Fußballer so tragen, mindestens genauso dämlich aussehen, wenn nicht sogar noch mehr. Damit wäre
meine These der Zweiklassengesellschaft im Sport mal wieder bestätigt: Fußball und alles andere!
Kinesio-Tapes
Dem Rat meines Kumpels Andy (dem besten Heilpraktikers des Universums)
folgend, werde ich heute – obwohl mittlerweile völlig schmerzfrei – meinen rechten Oberschenkel mit Kinesio-Tapes abkleben, um meinem Adduktor gleich von
vornherein das Maul zu stopfen. Wenn ich schon mein Geläuf zusammenkleben
muss damit es nicht auseinanderfällt, dann aber bitte mit Stil: als hoffentlich
würdiger Vertreter der unserer emsigen Nation klebe ich mir den Schinken mit
schwarz-rot-goldenem Tape ab. Da soll mir noch mal einer mangelnden Patriotismus vorwerfen, bloß weil ich Fußball doof finde. Um die letzten Zweifel auszuräumen, werde ich heute zudem mein deutschlandfarbenes Schweißband am
rechten Handgelenk tragen.
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Scheuerstellen
Ich habe mich schon immer gefragt ob es nicht eine bessere Lösung zur Vermeidung von aufgescheuerten Brustwarzen gibt, als sich selbige mit Klebeband abzutapen. Jedes mal muss ich mir dafür vorher
den Brustpelz rasieren, damit das blöde Tape auch hält. Das sieht einfach zu dämlich aus und bietet in
öffentlichen Schwimmbädern oder Saunaanlagen immer wieder einen Anlass für erstaunte Hingucker.
Die Frauen haben es da mit ihrem Sport-BH wesentlich einfacher. Warum hat noch keiner den BH für
den Mann erfunden? Da ich mittlerweile die Hemmschwelle für das Tragen von Uschis überwunden
habe, würde ich glatt auch noch so ein Ding anziehen. In Ermangelung einer besseren Alternative greife
ich einmal mehr routinemäßig zum Tape.
Aber auch andere Körperstellen wollen vorbeugend behandelt sein, will man sie nicht zu einem Reibeisen mutieren lassen. Das beste Hausmittel dafür: Vaseline. Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen
nehme ich mir nun ausreichend Zeit, die betroffenen, exponierten Bereiche meines Heldenleibs entsprechend zu bearbeiten.
Marschtabelle
Bekanntermaßen haben die Amerikaner erst 500 Jahre nach uns den aufrechten Gang erlernt. Die
Rückständigkeit dieses Volkes ist in vielen Lebenslagen spürbar. Insbesondere manifestiert sich dies in
der Tatsache, dass die hier immer noch ihre Entfernungen in Meilen, Yards, Fuß und Inches messen,
während die übrige Welt sich dem metrischen System verpflichtet hat (außer den Engländern, aber
diese Hinterwäldler leben ja auch noch in einer Monarchie). Aus diesem Grunde muss man sich als
Teilnehmer des NYC Marathons darauf einstellen, dass man hier 26,2 Meilen und nicht 42,2 Kilometer
zu laufen hat. Das macht zwar von der absoluten Länge der Strecke her keinen Unterschied, kann aber
für den kilometergewohnten Kontinentaleuropäer zur Herausforderung werden. Denn die Markierungen
auf der Strecke sind natürlich auf Meilen ausgelegt, nicht auf Kilometer.
Zwar ist dem Veranstalter hier durchaus bewusst, dass auch eine nicht zu vernachlässigende Anzahl an
nichtamerikanischen Staatsbürgern am Start ist (im letzten Jahr waren es 51%), die allesamt mit Meilen
nichts anfangen können und haben daher auf der Strecke auch Kilometermarkierungen aufgestellt.
Allerdings ist da nur jeder fünfte Kilometer ausgeschildert, was die notwendige Granularität für die Steuerung meines Wettkampftempos vermissen lässt. Daher habe ich mich entschieden, meine Marschtabelle auf Meilen auszurichten.
Zu Beginn der Laufsaison habe ich mich zu dem Gedanken hinreißen lassen, in New York 4 Stunden
und 30 Minuten zu laufen, was ich allerdings nach der Verletzungspause und dem Trainingsrückstand
wieder verworfen habe. Es heute mit 4:45 zu versuchen, erscheint meiner Form deutlich angemessener. Erstmals wird meine Marschtabelle nicht nur auf Meilen ausgelegt sein sondern auch dynamische,
dem Streckenprofil angepasste Durchgangszeiten beinhalten. Anders ausgedrückt: kommt ein Berg,
laufe ich langsam Geht’s abwärts, laufe ich was schneller. Ist es flach (und in NY ist fast nichts flach),
laufe ich wie immer.
Aufgrund der mit der fortgeschrittenen Jugend einhergehenden Weitsichtigkeit, schreibe ich mir die
Marschtabelle mit einem fetten schwarzen Edding auf den linken Unterarm. Denn mit Lesebrille laufen,
das will ich nun doch nicht.
Betankung
In Bezug auf Flüssigkeitsaufnahme und der biologischen Erfordernis, selbige irgendwann wieder ausscheiden zu müssen, hat der gemeine Marathonläufer stets eine ambivalente Gefühlslage. Natürlich
sollte man vor einem Marathon seinem Körper schon mal ein gewisses Maß an Flüssigkeit zuführen.
Auf der anderen Seite keimt die quälende Frage auf: wann fliegt mir die Blase um die Ohren? Verzichtet
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man auf Flüssigkeit im Vorfeld, bleibt einem vielleicht das Pinkeln erspart, es droht dann aber auch ein
frühzeitiger Knockout.
Besonders die Damen der Schöpfung kämpfen hier traditionell einen inneren Konflikt. Die Sorge, sich
nach 30 km zum Pinkeln irgendwo hinhocken und dabei mit der Gefahr leben zu müssen, dass bei diesem Prozess die Knie einrasten, ist verständlicherweise bei den Frauen allgegenwärtig. Hierbei weiß ich
einmal mehr den biologischen Vorteil zu schätzen, der uns Männern zuteil geworden ist.
Im Grunde genommen ist es gar nicht mal so schlimm, wenn man während des Laufs mal rechts ran
muss, um sich zu erleichtern. Beim Autorennen sind Boxenstopps ja schließlich auch nicht unüblich. In
meinen bisher sechs gelaufenen Marathons war nicht einer dabei, bei dem ich ohne Pinkelpause
durchgekommen bin. Jeder Läufer mit Hang zum Harndrang sollte das ausreichend in seiner Marschtabelle und seiner Renntaktik berücksichtigen. Auf der anderen Seite: ich bin hier gerade in den USA,
dem Land, das seine eigenen Vorstellungen von Moral und Etikette hat. Was werden die wohl sagen,
wenn ich mich auf der Fifth Avenue an einen Laternenmast stelle und Jürgen würge. Werde ich dann
disqualifiziert? Werde ich des Landes verwiesen? Oder schicken die mich gleich nach Guantanamo?
Knifflige Sache! Aber was ist die Alternative? Eine Inkontinenzwindel unter der Laufhose zu tragen ist
bestimmt nicht sehr kleidsam und stört sicherlich beim Laufen. Ich glaube, ich werde das pragmatisch
lösen und mir im Fall der Fälle einfach in die Laufhose schiffen.
Verpflegung
In New York ist irgendwie alles anders. Auch was die Streckenverpflegung betrifft. Hier stehen an jeder
Meile zu beiden Seiten der Strecke Verpflegungsstationen und nicht, wie bei anderen Marathons, nur
alle vier bis fünf Kilometer. Es wird Wasser und Gatorade gereicht. Da ich auf die Elektrolytenbrause
schon mal etwas empfindlich reagiere (von Magengrummeln bis Flitzkacke ist schon alles dabei gewesen), habe ich vorab in Deutschland versucht, mir Gatorade zu besorgen, um mich schon mal daran zu
gewöhnen. Nirgendwo zu finden. Nur Powerade und anderes Gesöff, das in diese Richtung geht. Erst
seit unserer Ankunft in New York habe ich das erste Mal Gatorade getrunken (ich hoffe, das war auch
wirklich Gatorade und nicht das, wonach es aussieht), zum Glück keine Probleme und je nach Geschmacksrichtung hat das Zeug vor lauter Schreck sogar ganz gut geschmeckt.
Irgendwo in der zweiten Streckenhälfte werden auch Power-Bar-Gels gereicht, die ich bis vor kurzem
auch bei langen Läufen regelmäßig zu mir zu nehmen pflegte. Allerdings hat sich nach und nach herausgestellt, dass ich diese Gels immer weniger vertrage und mir auch hier mein Magen zuweilen den
Vogel zeigt. Daher bin ich auf Dextro-Gels umgestiegen, die ich wesentlich besser vertrage, eine
deutlich flüssigere Konsistenz haben und somit während des Laufens leichter zu konsumieren sind. Der
Nachteil: ich muss mich selbst verpflegen und die Dextros an den Mann nehmen. Daher werde ich heute erstmals einen Marathon mit Trinkflaschengurt laufen.
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Strecke
Ich weiß nicht wie oft ich die Strecke im Kopf
durchgegangen bin oder mir auf Google Earth
angeschaut habe. Verdammt oft! Ich habe das
Gefühl, als würde ich sie jetzt schon in- und auswendig kennen und bin gespannt, ob sie dem
entspricht, wie ich mir sie vorgestellt habe. Ich
habe mir genau eingeprägt, wo die „Schweinestellen“, sprich: die bösen Steigungen sind.
Im Gegensatz zu den anderen Marathons, bei
denen ich bisher gestartet bin, hat New York keinen Rundkurs sondern eine Ort-zu-Ort-Strecke.
Gestartet wird auf Staten Island. Dann kommt
schon gleich zu Beginn die erste Herausforderung:
die Verrazano-Narrows-Bridge mit ca. 50 Höhenmetern. Nach 2 Meilen erreicht man Brooklyn.
Dort läuft man in nördlicher Richtung die Fourth
Avenue entlang und hat dabei gelegentlich auch
mal die eine oder andere Welle drin. Bei der Halbmarathondistanz geht es über die Pulaski Bridge
rüber nach Queens. Dort geht es um ein paar
Straßenblocks herum, bis man den ersten Kracher
der zweiten Streckenhälfte erreicht: die Queensboro Bridge, die auch noch mal gut 45 Höhenmeter zu bieten hat. Über den East River geht es
dann rüber nach Manhattan auf die First Avenue.
Diese läuft man weiter nordwärts bis zur Willis
Avenue Bridge und gelangt über die Brücke in die
Bronx. In die Bronx wird es nur einen kurzen Abstecher geben und der Kurs führt über die Madison Avenue Bridge wieder zurück nach Manhattan. Es geht kurz durch Harlem und von da an
beginnt die wirkliche Herausforderung: Fifth Avenue und Central Park. Es gibt dann nicht einen
flachen Meter mehr und es geht ständig im Wechsel rauf und runter. Auf Höhe des GuggenheimMuseums geht es dann rein in den Central Park und weiter in südliche Richtung bis zur Grand Army
Plaza an der Ecke Fifth Avenue / 59th Street. Es geht ein Stück östlich bis zum Columbus Circle und
von dort aus wieder rein in den Central Park auf die letzte kurze Etappe bis zum Ziel an der Tavern of
the Green.
Ich war vorher noch nie in New York aber trotzdem scheinen mir diese Streckenpunkte schon völlig
vertraut zu sein.
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Fantour
Wenn es jemanden gibt, der über einen unermesslichen Erfahrungsschatz als MarathonSchlachtenbummler verfügt, dann ist es meine Frau, die beste Ehefrau der Welt. Schon unzählige Stunden hat sie mit unserem kleinen blonden Schatz an den Laufstrecken dieser Welt gestanden, um ihren
kilometerfressenden Ehemann anzufeuern und zu fotografieren. Auch für sie ist der New York Marathon
eine besondere Herausforderung, denn durch die stellenweise schnurgerade Streckenführung stellt sich
der Transfer der Angehörigen entlang der Strecke als recht schwierig dar. Zudem ist die Subway (die
New Yorker U-Bahn) hochgradig gewöhnungsbedürftig.
Interair bietet allen mitgereisten Angehörigen eine Fantour an, die einen gemeinsamen Gang vom Hotel
aus zur Meile 17 (First Avenue) und Meile 24 (Central Park) vorsieht. Nur zwei Streckenpunkte ist uns
natürlich zu wenig, denn meine Familie ist es durchaus gewöhnt, mich bei einem Marathon bis zu sechs
oder sieben Mal vorbeilaufen zu sehen. Also haben wir eine eigene Fantour ausgearbeitet, die die beiden erst mal im Alleingang zur ersten Streckenhälfte in Brooklyn führt. Durch die Natur dieser Strecke
kommen wir aber maximal auf nur fünf Treffpunkte: Meile 4 (Fourth Avenue / 59th Street), Meile 7
(Fourth Avenue / 9th Street) und Meile 12 (Bedford Avenue / Manhattan Avenue). Später wollen sich die
beiden dann der Interair-Gruppe anschließen und an Meile 17 und 24 zu ihr stoßen.
5:45 Uhr | 5 Stunden bis zum Start | Bustransfer
In der Hotellobby versammelt sich die komplette Interair-Meute zur kollektiven Verbringung in den Startbereich nach Ford Wadsworth auf Staten Island. Der Bus, der uns dort hinbringen wird, steht bereits vor
der Tür. Auch das ist eine Eigenart, auf die man sich beim New York Marathon einlassen muss: die
frühen Transfers und die langen Wartezeiten im Startbereich. Wenn man der 3. Startwelle zugeordnet
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ist, so wie ich, dann hat man natürlich erst recht die Arschkarte gezogen, denn von jetzt an sind es noch
gut gelaunte fünf Stunden bis zum Start.
Die Fahrt mit dem Bus nimmt eine gute Dreiviertelstunde in Anspruch und führt uns über das noch für
den Verkehr frei gegebene Unterdeck der Verrazano-Narrows-Bridge. Beim Überfahren der Brücke
bekommen wir schon mal einen Eindruck, wie lang das Ding ist und wie stramm das hier hoch geht.
6:30 Uhr | 4 Stunden bis zum Start | Fort Wadsworth, Staten Island
Dutzende, wenn nicht hunderte von Bussen bilden eine lange Schlange direkt hinter der Mautstation an
der Verrazano-Brücke und speien tausende erwartungshungriger Läufer aus. Ich habe Glück, denn
mein Bus wird nicht all zu weit nach hinten durchgelotst, sodass es für mich nur ein kurzer Weg bis zum
Eingang des Startbereichs ist. Als Location dient die ehemalige Militärbasis Fort Wadsworth. Wenn man
bedenkt, dass das sogenannte „Starters Village“ heute rund 47.000 Läufer und eine nicht unerhebliche
Anzahl an Helfern und Ordnungskräften beherbergt, dann kann man wohl kaum noch von einem „Village“ (Dorf) sprechen und es müsste
eigentlich „Starters City“ genannt
werden.
Nur die Inhaber einer Startnummer
kommen in den hermetisch abgeriegelten Bereich rein. Peinlich genau
wird kontrolliert, ob auch jeder nur
den vorgeschriebenen, durchsichtigen Garderobenbeutel mit sich führt
und nicht etwa jemand seine frischen Klamotten in irgendwelche
potenziell terrorverdächtigen Behältnisse gepackt hat.
Das Startdorf ist in insgesamt vier
Bereiche unterteilt. Der zentrale
Bereich wird als „Open Zone“ bezeichnet. Hier befindet sich u. a.
eine große Bühne, auf der bereits
um diese frühe Uhrzeit eine Jazzband ihr Repertoire zum Besten gibt
und den Läufern die Langeweile
austreibt. Darüber hinaus befinden
sich hier mehrere Stände von Dunkin Donuts, eine auf Backwaren
spezialisierte Fast-Food-Kette, die
als einer der Hauptsponsoren hier auftritt. Dort werden die Läufer mit heißen Getränken und einem
kleinen Frühstück (Bagels) versorgt. Zudem werden hier an die Läufer warme Fleecemützen verteilt, die
dummerweise in den Farben der Corporate Identity von Dunkin Donuts getaucht sind: pink und orange.
Wenn man bedenkt, dass fast ausnahmslos alle Läufer irgendwelche alten Wegwerfklamotten tragen,
die in den meisten Fällen die Modesünden vergangener Jahrzehnte repräsentieren oder schlichtweg
nicht zusammenpassen, dann bekommt das in Verbindung mit den farblich gewagten Donuts-Mützen
eine ganz besondere Note. Man gewinnt hier schnell den Eindruck, dass sei hier die größte Bad-TasteParty der Welt. In Sachen Wegwerfklamotten mache ich da keine Ausnahme aber ich friere mir eher die
Löffel ab, bevor ich mir eine von diesen lächerlichen Donuts-Mützen über das Hirn ziehe.
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Die weiteren drei Bereiche des Startdorfs sind den jeweiligen Startblöcken vorbehalten und beherbergen Umkleidezelte und eine ganze Flotte von UPS-Lastwagen, an denen man seinen Garderobenbeutel
abgeben kann. Diese LKW werden später in den Central Park in den Nachzielbereich fahren und dort
die abgegebenen Garderobenbeutel bereit halten. Jede Startnummer ist einem bestimmten LKW zugeordnet, sodass man seine Klamotten auf jeden Fall wieder findet.
Die Aufteilung der Startblöcke folgt in New York einem bestimmten System, dass, wie so vieles bei diesem Marathon, ebenfalls recht einzigartig ist. Da es natürlich völliger Blödsinn wäre, alle 47.000 Läufer
gleichzeitig auf die Strecke zu schicken, wird hier in homöopathischen Dosen gestartet. Die erste Welle
startet um 9:40 Uhr, nachdem bereits die Top-Athleten von der Leine gelassen wurden. Die zweite Welle startet um 10:10, die dritte um 10:40 Uhr. Die Startwellen sind jeweils noch mal in drei Startblöcke
unterteilt die farblich markiert sind (blau, grün und orange). Die Startblöcke wiederum sind noch mal in
kleinere Einheiten, sogenannte „Corrals“ aufgeteilt. Jedem Corral sind 1.000 Läufer zugeordnet.
Das klingt alles hoch kompliziert, ist es aber
eigentlich gar nicht, denn jeder Läufer hat eine
„sprechende“ Startnummer aus der man eindeutig ablesen kann, zu welcher Welle, welchem Startblock und welchem Corral man
gehört. Nehmen wir als Beispiel mal meine
Startnummer: Neben der Nummer ist der Hinweis „Wave 3“ gedruckt, damit weiß ich, dass
ich in der 3. Welle um 10:40 Uhr starte. Meine
Startnummer ist blau, also muss ich in den
blauen Startblock. Die ersten beiden Ziffern
der Startnummer bezeichnen den Corral. Meine Startnummer lautet 43-105, also muss ich
mich in den Corral 43 begeben. Die Beschilderung, wo welcher Startblock und welcher Corral sich befindet und in welchem Zeitfenster das Checkin zu erfolgen hat, ist klar und deutlich und wenn man nicht völlig einen an der Klatsche hat, kann man
überhaupt nichts falsch machen.
Eine weitere Besonderheit ist, dass die farbigen Startbereiche zu Beginn leicht unterschiedliche Laufstrecken haben, bevor sie nach ein paar Meilen in Brooklyn, sobald sich das Feld dann etwas entzerrt
hat, zusammengeführt werden. Der blaue Block läuft auf der rechten Seite des Oberdecks der zweigeschossigen Verrazano-Brücke, der orange Blocke auf der linken Seite. Der grüne Block läuft auf dem
unteren Deck der Brücke. Damit sichergestellt ist, dass jeder auch exakt die gleiche Distanz von 42,195
km läuft und um die unterschiedlichen Streckenführungen bis zum Zusammenfluss des Läuferstroms
auszugleichen, sind die Startlinien der jeweiligen Blöcke etwas versetzt.
Die Zuordnung der Läufer zu den Startwellen erfolgt auf Basis der bisherigen persönlichen Bestzeiten,
bzw. der für heute angepeilten Zielzeiten. Ambitionierte, schnelle Läufer kommen demnach in die erste
Startwelle. Flügellahme Flitzpiepen – so wie ich – und Ersttäter kommen in die dritte Welle. Alle anderen
sind dazwischen in der zweiten Welle. Die Zuordnung zum blauen, grünen oder orangen Block ist dagegen reine Glückssache.
So, jetzt wissen wir also, wie das hier funktioniert. Ich habe noch ziemlich lange Zeit bis zu meinem
Start. Ich vertreibe sie mir bis dahin, indem ich ein wenig der Jazzband zuhöre, (die komplett aus Herren im Rentenalter besteht aber eine dermaßen geile Musik hier abliefert, die würde Ziegenpisse in
Benzin verwandeln), mein mitgebrachtes Sandwich nebst Dunkin-Bagel verspeise und ein wenig auf
dem Gelände umher wandle, um mich zu orientieren und schon mal auszukundschaften, wo ich denn
nachher hinmuss wenn es gleich losgeht.
Der Wetterbericht scheint sich übrigens zu bewahrheiten. Die Sonne ist soeben aufgegangen und es ist
keine Wolke am Himmel zu finden. Noch ist es zwar empfindlich kühl aber das wird sich im Laufe des
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Morgens noch etwas geben. Wenn die vorhergesagten 14° C tatsächlich erreicht werden, dann ist das
für meinen Geschmack das perfekte Laufwetter von dem auch die Zuschauer etwas haben.
7:30 Uhr | 3 Stunden bis zum Start | Wo steckt eigentlich Holger?
Holger hatte vorgestern auf der Marathon-Expo vorgeschlagen, dass wir uns unterhalb der VerrazanoBrücke treffen. Allerdings haben wir es irgendwie versäumt, eine Uhrzeit auszumachen. Ich begebe
mich einfach mal dorthin und schau mal, ob in dem Gewusel überhaupt eine Chance besteht, sich dort
zu finden. Der Bereich unter der Brücke ist relativ überschaubar, das sollte eigentlich funktionieren.
Vorsichtshalber rufe ich Holger mal an. Mailbox! Nun, gut! Dann schicke ich ihm eine SMS hinterher. Er
wird ja hoffentlich mal auf sein Handy schauen, er weiß ja, dass ich ihn anrufen wollte, sobald ich im
Starters Village bin.
Da ich ohnehin gerade nichts besseres zu tun habe als auf meinen Start zu warten, suche ich mir eine
taktisch günstige Stelle um den Bereich zu überblicken, packe den mitgebrachten Pappkarton aus (ein
Tipp der Interair-Reiseleiter gegen kalte Ärsche), hocke mich drauf und schaue mir das Treiben um
mich herum so an.
Die Zeit vergeht. Mittlerweile ist über eine Stunde verstrichen. Wo ist Holger? Ich gehe ein wenig hin
und her um sicherzugehen, dass ich nicht irgendeinen toten Winkel übersehen habe, in dem ausgerechnet Holger hockt und auf mich wartet. Ich rufe ihn noch mal an. Immer noch die Mailbox und kein
Lebenszeichen. Gut, dann werde ich jetzt erst mal genüsslich pinkeln gehen und gleich noch mal hierher zurückkommen.
8:30 Uhr | 2 Stunden bis zum Start | Inflation der Dixi-Klos
Noch nie habe ich eine derart überwältigende Ansammlung an Dixi-Klos gesehen. Auch wenn im New
Yorker Einzugsgebiet über 20 Millionen Menschen leben, ich kann kaum glauben, dass es überhaupt so
viele von diesen transportablen Scheißhäusern hier in der Region gibt. Die müssen die doch aus aller
Welt eingeflogen haben. Man stelle sich das bitte einmal vor: 47.000 Läufer von denen 99,9% vor dem
Marathon mindestens noch drei Mal den Lokus frequentiert. Bei anderen Marathons habe ich erlebt, wie
sich unendlich lange Schlangen gebildet haben, in denen bis zur Haarspitze angespannte Marathonis
mit zusammengekniffenen Beinen stehen und hoffen, dass ihre Vorderleute keine langen Sitzungen
halten. Dramatische Szenen haben sich da schon abgespielt. Nicht aber hier. Trotz des kollektiven Urinierverlangens wartet hier keiner länger als zwei oder drei Minuten vor dem Klo. Kaum zu fassen! Auf
der anderen Seite muss man aber feststellen, dass die Amis ziemlich zickig werden, wenn die jemanden hier in den Büschen erwischen und es wird auch mehr als einmal darauf hingewiesen, dass die
Erleichterung in der Vegetation mit dem gnadenlos Entzug der Startnummer geahndet wird. Wenn die
natürlich die Erwartungshaltung haben, dass wir alle brav in die Häuschen gehen, dann müssen die
natürlich auch für eine ausreichende Infrastruktur sorgen. Und das haben die!
Meine Pinkelpause ist auch in der Tat nach nur einigen Minuten erledigt und ich begebe mich zurück
auf meine Position unter der Verrazano-Brücke. Kein Holger! Da ich immer noch was Zeit habe, setze
ich mich wieder auf meinen Pappkarton und warte.
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9:30 Uhr | 70 Minuten bis zum Start | Dann eben doch alleine
Ich habe Holger nicht gefunden (oder er mich nicht). Auch eine weitere Kontaktaufnahme per Handy
blieb erfolglos. Ich beschließe, meinen Posten hier aufzugeben und mich nun auf den Start vorzubereiten. Es ist zwar noch über eine Stunde bis dahin, ich möchte aber nicht unnötig in Hektik verfallen und
außerdem sind die Wege hier weit. Mein Corral öffnet um 9:55 Uhr und wird um 10:15 Uhr geschlossen.
Vorher muss ich mich noch meiner Klamotten entledigen und mich für den Lauf fertig machen.
Ich habe lediglich Sachen zum Wegwerfen an und die Klamotten am Leib die ich für den Lauf brauche.
Daher verzichte ich dieses Mal darauf, meinen Garderobenbeutel abzugeben und entsorge ihn zusammen mit den Wegwerfklamotten. Dadurch habe ich später im Nachzielbereich etwas Zeit gewonnen und
muss mich nicht an die UPS-Laster anstellen. Meine Frau und meine Tochter werde ich dann am Central Park treffen, die beiden haben dann trockene, warme Sachen für mich dabei. Zumindest ist das der
Plan.
Ich bin soweit! Von mir aus kann’s losgehen! Ich reihe mich in den Strom der Läufer mit blauer Startnummer ein und begebe mich zu meinem Corral.
10:10 Uhr | 30 Minuten bis zum Start | Corral 43
Ich betrete meinen Corral. Es ist unglaublich aber auch hier legen die Amis Wert darauf, dass sich keiner in den Büschen erleichtert und haben sogar in den Startblocks selbst noch Dixis aufgestellt. Und
dieses Angebot deckt sich offenbar mit der Nachfrage. Viele Läufer, einschließlich mir selbst, nutzen
schnell noch die Gelegenheit für ein letztes Nervositätspinkeln.
Der Corral 43 ist der erste im blauen
Startbereich. Dadurch hat unser
Startblock quasi die Pole-Position.
Ungefähr 15 Minuten vor dem Start
werden wir in Marsch gesetzt und
rüber vor die Verrazano-Brücke zur
Startlinie geführt. Den Gang dorthin
begleiten die meisten Läufer mit
ehrfürchtigem Schweigen. Jeder
wird sich jetzt denken: „Unfassbar!
Es geht los!“
Kaum biegen wir um eine Ecke und
sehen den Startbogen vor uns, entwickelt sich unser Gang zur Startlinie zu einem Triumphzug, denn schon hier im Startbereich haben sich bereits viele Zuschauer eingefunden, die sich auf den offenen Oberdecks der eigens am Rand geparkten Sight-Seeing-Busse gehockt haben. Die jubeln uns zu, als wären wir schon im Ziel, dabei sind wir noch nicht mal einen Meter
gelaufen. Unvorstellbar! Ich vernehme Zurufe wie „You are heroes!“, „God luck runners!“ oder „Go
champions!“.
Vorne angekommen werden wir von einem Moderator begrüßt, der auf einer Bühne direkt neben der
Startlinie thront. Mit ein paar flotten Sprüchen heizt er noch mal Läufer und Zuschauer an bevor eine
Angehörige der New Yorker Feuerwehr sich auf der Bühne aufstellt und voller Inbrunst „God bless America“ schmettert.
Die Euphorie schwappt auf die Läufer über und jeder, der jetzt hier vor dem Startbogen steht, hat
Hummeln in der Hose. Es werden Arme gereckt und Jubelschreie aus den Kehlen gepresst. Nur noch
wenige Augenblicke! Dann geht’s los!
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10:45 Uhr | Start
Mit einer zu vernachlässigenden Verspätung von fünf Minuten ertönt der Startschuss. Wie sich das für
einen Marathon der Superlative gehört, war das nicht nur ein einfacher Schuss, es war ein Starböller,
der uns bis ins Mark erschütterte.
Über zwei Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet und ihm entgegen gefiebert. Jetzt ist er da: ich
drücke meine Uhr ab und überlaufe die Startlinie des 42. ING New York City Marathons!
Aus den Lautsprechern dröhnt Sinatras Klassiker „New York, New York“, so wie es hier beim Start Tradition ist. Das ist eben einer der feinen Unterschiede zwischen New York und Köln. Der KölnMarathon hat beim Start nur die Höhner zu bieten.
Meile 1 | Verrazano-Narrows-Bridge
Laufzeit: 10:28
Mann, oh Mann! Die Brücke ist wirklich knackig!
Hier muss man sich ganz schön disziplinieren,
dass man sich nicht von Euphorie und Adrenalin
leiten lässt und wie ein Berserker mit noch kaltem
Diesel da hoch rennt. Jetzt bloß nicht zu Beginn schon im anaeroben Bereich laufen. Das mag zwar am
Anfang nicht das Problem sein, die Zeche zahlt man aber später.
Da ich dieses Mal mit einer dynamischen Marschtabelle laufe, habe ich mir für die erste Meile mit 11:00
Minuten ein gemütliches Zeitfenster eingeplant. Dem Tempo schenke ich aber gerade nicht die notwendige Aufmerksamkeit, denn der Ehrfurcht gebietende Ausblick von der Brücke nimmt den Großteil meiner Konzentration in Anspruch. Auf der linken Seite tut sich eine traumhafte Aussicht auf die Skyline von
Manhattan auf. Rechts haben wir einen wunderschönen Blick auf Coney Island und den offenen Antlantik. Und das ganze bei diesem kaum zu fassenden Kaiserwetter! Schräg unter uns (ich kann es leider
aus meinem Blickwinkel nur sehr schwer sehen) zieht ein Feuerlöschboot seine Kreise und begrüßt die
Läufer mit seinen Wasser speienden Löschkanonen – ebenfalls eine Tradition beim hiesigen Marathon.
Am Scheitelpunkt der Brücke erreichen wir die erste Meile, das sind rund 1,6 km und daran erkennt
man, wie verdammt lang diese Brücke ist. Die nächste Meile dürfen wir dafür zur Erholung bergab laufen. Ich bin etwas über eine halbe Minute zu schnell. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass ich mich
auf der Steigung zu sehr verausgabt habe. Da ich im Vorfeld die Brücke nur sehr schwer einschätzen
konnte, ist die Sollzeit laut meiner Marschtabelle unter Umständen auch nicht sehr valide.
Auf einmal ein höllischer Lärm! Was ist denn das jetzt? Plötzlich taucht neben uns, quasi auf Augenhöhe und zum Greifen nahe, der Hubschrauber der NBC auf, dem in New York beheimateten Fernsehsender, der den Marathon live überträgt. Kameras sind auf uns gerichtet und wir winken und jubeln, was
das Zeug hält.
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Meile 2 | Übergang Verrazano-Narrows-Bridge nach Brooklyn
Laufzeit: 19:53, Ø 9:56 Min./Meile
Auf der Brücke sind wir sozusagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit gelaufen, denn es sind keine
Zuschauer dort zugelassen. Das hat aber die dort stationierten Ordnungskräfte und Helfer nicht daran
gehindert, uns frenetisch anzufeuern. Nun verlassen wir die Brücke und erreichen Brooklyn. Hier soll
laut den Erzählungen meines Kollegen Thomas, der 2009 hier gelaufen ist, mächtig der Punk abgehen.
In der Tat zeigen sich die ersten wenigen Menschen, die unmittelbar hinter der Brücke stehen, schon
sehr begeisterungsfähig. Die erste Zuschauergruppe begrüßt uns auch mit einem Schild „Welcome to
Brooklyn“. Von da an nimmt die Zuschauerdichte von Meter zu Meter zu.
Meile 3 | Brooklyn – 4th Avenue / 82nd Street
Laufzeit: 29:42, Ø 9:54 Min./Meile
OK! Hier geht der Punk ab! Und nicht zu knapp! Ich habe irgendwo gelesen, dass das Laufen mit iPod
in New York nicht gestattet sei. Allerdings gibt es hier einige Läufer, die sich darüber hinwegsetzen und
es trotzdem machen. Oder die sehen das doch nicht so eng hier. Egal! Jedenfalls nach dem, was ich
jetzt hier erlebe, macht eine musiktechnische Selbstversorgung auch keinen Sinn. Hier steht dicht gedrängt zu beiden Seiten der Strecke eine kaum zu überschauende Menschenmenge und erzeugt eine
Geräuschkulisse, die kein iPod der Welt zu überlagern vermag. Ist das hier gerade ein so genannter Hot
Spot? Oder bleibt das etwa die ganze Zeit so? Meine Informanten mit New-York-Erfahrung behaupten
letzteres.
Ich merke, wie mein Körper mit dem Adrenalin nur so um sich schmeißt und ich stelle bei der Meile-3Markierung fest, dass ich eine ganze Ecke zu schnell bin. Am Anfang zu überpacen kann gerade hier in
New York den Tod auf der zweiten Streckenhälfte bedeuten. Bloß runter mit dem Tempo, auch wenn
mir die Euphorie hier gerade bis in die Beine kriecht.
Meile 4 | Brooklyn – 4th Avenue / 63rd Street
Laufzeit: 39:57, Ø 10:00 Min./Meile
Das hört gar nicht mehr auf! Im Gegenteil! Die Menschenmenge wird immer
dichter und die stehen hier in drei, vier, fünf oder noch mehr Reihen am Straßenrand und machen einen Radau, der seines gleichen sucht. Die Amerikaner
waren ja schon immer als extrovertiertes und leidenschaftliches Volk bekannt
aber hier bekommt man eine Kostprobe davon, die einen Bauklötze staunen
lässt. Nicht nur, dass hier viele jubelnde Menschen stehen, es sind auch eine
Vielzahl an Live-Bands an der Strecke, die uns Läufern musikalisch ganz schön
Beine machen. Es gibt kaum eine Musikrichtung, die nicht vertreten ist: Blues,
Jazz, Gospel, Rap, Reggae, Heavy Metal. Zum Glück ist hier, 6.000 km von
Köln entfernt, keine Karnevalsmusik zu hören, aber die vermisst hier auch keiner.
Über den Publikumsandrang gab es zuvor in den Medien unterschiedliche
Prognosen. Je nach Fernsehstation und Periodikum war von 2 bis 2,5 Millionen
Zuschauern und 120 Live-Bands die Rede. Ich habe erst gedacht: „Ja, ja! Die
Amis! Die übertreiben mal wieder!“. Mittlerweile glaube ich es, denn seit Verlassen der VerrazanoBrücke laufen wir hier durch einen Tunnel von Menschen.
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Hoffentlich gelingt es meiner Familie an die Strecke zu kommen, denn die vierte Meile haben wir als
ersten Treffpunkt ausgemacht. Meine Konzentration richtet sich auf den rechten Straßenrand und ich
versuche die altbewährte Fahne mit der Aufschrift „Lauf Papa Lauf“ und die Deutschlandfahne zu orten.
Tatsächlich entdecke ich die beiden kurz hinter Meile 4 an der Ecke zur 59. Straße. Sie haben es geschafft. Prima!
Mittlerweile habe ich mein Tempo ganz gut im Griff und bin nicht mehr zu schnell. Darüber, ob ich irgendwann vielleicht zu langsam werden könnte, mache ich mir überhaupt keine Gedanken. Für mich
steht die Zeit überhaupt nicht im Vordergrund und ich habe mir fest vorgenommen, heute einen Genusslauf zu absolvieren. Die Marschtabelle habe ich mir nur deswegen erstellt und auf den Arm gepinselt, damit ich nicht zu schnell werde und es mich dann später nicht von den Socken haut. Ich habe
sogar meine Kamera dabei, um ein paar On-Board-Aufnahmen zu machen.
Meile 6 | Brooklyn – 4th Avenue / 23rd Street
Laufzeit: 1:00:51, Ø 10:09 Min./Meile
Verdammt, ich muss schon wieder pinkeln! Das ist bei den Menschenmassen am Straßenrand natürlich
nicht so einfach. Außerdem stehen überall Ordner und Polizisten und wir erinnern uns: Pinkeln in der
Öffentlichkeit ist in Amil-Land gelinde gesagt verpönt und wird hier mit Disqualifikation geahndet. Was
mache ich nur? Es bleibt mir wohl nichts übrig, als mir eine Toilette zu suchen. Aber auch darauf sind
die hier vorbereitet und haben an jeder Meile eine Batterie an Dixiklos stehen. Also rechts ran und rein
in so ein Ding. Scheiße! Da ist eine Schlange. Ist das zu fassen? Jetzt muss ich hier auch noch anstehen. Über drei Minuten hat mich der Stunt gekostet. Zum Glück schiele ich heute nicht auf die Zeit sonst
wäre ich jetzt angefressen.
Das Streckenprofil ist hier schon ziemlich wellig. Es geht mal etwas rauf,
mal etwas runter. Hält sich aber alles noch in Grenzen. Die richtigen
„Bergetappen“ kommen in der zweiten Hälfte.
Meile 7 | Brooklyn – 4th Avenue / 3rd Street
Laufzeit: 1:14:24, Ø 10:38 Min./Meile
Der nächste Treffpunkt mit Frau und Kind liegt vor mir. Ich kann die Fahne erneut sehr schnell entdecken. Auch hier steht das Publikum nach wie
vor dicht gedrängt am Straßenrand und ich bin froh, dass die beiden es
geschafft haben, an die Strecke zu kommen.
Mittlerweile tun mir schon beinahe die Flossen weh, denn ich habe noch
nie zuvor so viele wildfremde Menschen abgeklatscht. Besonders die
Kids haben dabei ihren Spaß.
Meile 10 | Brooklyn, Williamsburg – Bedford Avenue / Wallabout Street
Laufzeit: 1:46:07, Ø 10:37 Min./Meile
Was geht denn jetzt hier ab? Die letzten anderthalb Stunden habe ich nichts anderes getan, als an hunderttausenden von inbrünstig jubelnden Zuschauern vorbeizulaufen sowie an dutzenden von Bands, die
sich die Finger wund spielen und nun ist hier auf einmal eine Stimmung wie beim Köln-Marathon auf der
Amsterdamer Straße. Absolut tote Hose! Der Grund: wir durchlaufen gerade Williamsburg, der Enklave
von Brooklyn, in dem die streng orthodoxen Juden zu Hause sind. Offenbar hält sich deren Begeisterung für den Marathon sehr in Grenzen und ich nehme mehrere Passanten wahr, die offensichtlich
ziemlich darüber verstört sind, dass sie heute nicht wie gewohnt über die Straße laufen können. Aus
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dem Augenwinkel bemerke ich wie ein Mann heftig mit einem Polizisten diskutiert, weil er doch bitteschön auf die andere Straßenseite wolle.
Die aufgekommene Ruhe gibt mir Gelegenheit, einmal kurz Zwischenbilanz zu ziehen. Ich liege gut ein
Minute hinter meiner Marschtabelle, was in erster Linie dem Pinkelstopp geschuldet ist und – wie schon
gesagt – mir völlig egal ist. Ich bekomme langsam Gefallen daran, nach Meilen zu laufen, denn ich finde
da steckt ein psychologischer Vorteil drin: es sind auf der Marathonstrecke nur 26 Referenzpunkte und
keine 42. Beim Überlaufen der 10-Meilen-Marke hatte ich das Gefühl, als wären es erst 10 km und nicht
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und der Publikumsandrang kehrt auf das Niveau der letzten acht Meilen zurück, dann behaupte ich
schon jetzt, dass das der beste Marathon sein wird, denn ich je gelaufen bin. Ich kann jedem Marathoni,
der bisher noch nicht in New York war nur den Rat geben: plündert Eure Sparbücher und kommt hier
her. Es macht so tierisch Spaß!
Meile 11 | Brooklyn – Bedford Avenue / 4th Street
Laufzeit: 1:57:52, Ø 10:43 Min./Meile
Die Ruhephase von Williamsburg einigermaßen gut verkraftet stelle ich zu meiner Freude fest, dass
sich das übrige Brooklyn von der gleichen stimmungsvollen Seite zeigt wie zuvor. Leider habe ich gerade etwas Stress mit meinem Equipment. Mein Trinkflaschengurt hat sich etwas gelockert, ist in Unwucht
geraten und hängt mir jetzt quer über den Arschbacken. Ich reduziere mein Tempo und versuche der
Havarie Herr zu werden. Bekomme das aber leider während des Laufens nicht hin und muss schon
wieder einen außerplanmäßigen Zwangsstopp einlegen. Nach gut einer Minute habe ich das Ding wieder flott gemacht und ich kehre zum Lauf zurück. Den weiteren Zeitverlust nehme ich einmal mehr mit Gelassenheit hin.
Meile 12 | Brooklyn – Nassau Avenue / Manhattan Avenue
Laufzeit: 2:08:51, Ø 10:45 Min./Meile
Wow! Hier rockt die Luzie! Hier geben sich innerhalb weniger hundert
Meter die Live-Bands die Klinke in die Hand. Saugeile Stimmung! Rummelplatzeffekt inklusive! Kurz hinter der zwölften Meile biegt der Kurs
von der Nassau Avenue in die Manhattan Avenue ein. Und genau in
diesem Knick haben sich meine Frau und meine Tochter aufgestellt, die
Fahne gehisst und die Kameras gezückt. Scheint ja super zu klappen
mit der Fantour.
Meile 13,1 | Halbmarathon | Pulaski Bridge – Übergang von Brooklyn nach Queens
Laufzeit: 2:21:21, Ø 10:48 Min./Meile
Halbzeit! Die Halbmarathonmarke liegt kurz vor dem Scheitelpunkt der Pulaski Bridge, die die Stadtteile
Brooklyn und Queens verbindet. Von hier aus hat man noch mal einen hammermäßigen Blick auf die
Wolkenkratzer in Manhattan, auf das wir uns so langsam zu bewegen. Doch zuvor sind ein paar Meilen
in Queens zu absolvieren.
Meine Durchgangszeit beim Halbmarathon verrät mir, dass ich ungefähr dreieinhalb Minuten hänge.
Kein Wunder, denn mittlerweile bewege ich mich über die Strecke wie ein Tourist und dokumentiere
meine Eindrücke mit meiner Kamera. Im Hinterkopf habe ich schon die Erwartung, dass ich unter 5
Stunden finishe aber wenn es einem gepflegten Genusslauf förderlich ist, werde ich es auch nicht darauf anlegen.
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Die Strecke war bisher im Vergleich zu meinen früheren Marathons, bedingt durch das Höhenprofil, ein
stückweit anspruchsvoller, sie hat aber noch nicht wirklich ihre Zähne gezeigt. Die richtigen Herausforderungen kommen erst noch. Den ersten Schocker der zweiten Hälfte können wir schon vor uns sehen:
die Queensboro Bridge, die auch noch mal 45 Höhenmeter zu bieten hat.
Meile 14 | Queens – Vernon Boulevard / 44th Drive
Laufzeit: 2:31:17, Ø 10:49 Min./Meile
Durch Queens laufen wir nur ein kurzes Stück bevor es rüber nach Manhattan geht. Die Publikumsdichte ist hier etwas geringer als in Brooklyn, dafür sind die aber hier noch lauter. Einen entscheidenden
Anteil daran hat eine ziemlich auf Krawall gebürstete Heavy-Metal-Band. Ich traue mich ehrlich gesagt
nicht, während des Laufens den Headbanger zu machen. Geht wahrscheinlich nur mit etwas Übung und
ich will hier nicht riskieren, durch unkoordinierte Bewegungen einen Laternenpfahl zu küssen.
Meile 15 | Queensboro Bridge – Übergang von Queens nach Manhattan
Laufzeit: 2:42:20, Ø 10:51 Min./Meile
So, jetzt wollen wir mal austesten, ob sich das Crosstraining der letzten Monate bezahlt macht. Es gab
mal eine Zeit, da hätte ich am liebsten gekotzt, wenn ich einen Berg hoch laufen musste und ich habe
jeden Trainer verflucht, der uns über irgendwelche Hügel jagte. Dass ich an Steigungen mittlerweile
sogar Gefallen gefunden habe und die freiwillig wie ein Verrückter trainiere, dass hätte ich mir damals
nicht zu träumen gewagt. Eine Woche vor der Abreise habe ich ja noch die Queensboro Bridge simuliert. Bei meinem letzten 30-KM-Lauf im Vorgebirge bin ich nach 25 km von Merten hoch auf die Heide
gerannt und butterweich durchgekommen.
Und wie läuft es heute hier auf der gefürchteten
Queensboro Bridge? Also ich will ja nicht den
Großkotz raushängen lassen aber mein Hügel
im Vorgebirge ist die deutlich größere Herausforderung. Gazellengleich erklimme ich die Brücke als wäre ich gerade mal erst fünf Minuten
auf der Strecke. Und was dabei besonders
Spaß macht: Den Großteil der Läufer, die gerade in diesem Moment mit mir zusammen auf der
Brücke sind, lasse ich hinter mir. Ich muss an
die Worte von Herbert Steffny denken als er
sagte, ihm begegnen immer wieder Läufer, die
sich auf New York nicht richtig vorbereiten und die Steigungen, insbesondere die Brücken, unterschätzen. Tja, Ihr Lieben! Da hättet Ihr besser alle mal auf den Herbert gehört.
Nach gefühlt nur einem kurzen Augenblick erreiche ich den Scheitelpunkt der Brücke und es geht im
lockeren Trab runter nach Manhattan. Dabei fällt mir die Stelle ins Auge, an der der große Haile Gebreselassie vergangenes Jahr aus dem Marathon ausgestiegen ist. Nicht ohne Genugtuung schießt mir
dabei der Gedanke durch den Kopf, dass ich mit 100% eine bessere Marathon-Finisherquote habe, als
der Weltrekordler aus Äthiopien.
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Meile 17 | Manhattan – 1st Avenue / 77th Street
Laufzeit: 3:05:37, Ø 10:56 Min./Meile
Die First Avenue ist der reinste Hexenkessel. Wenn wirklich zwei Millionen Leute oder noch mehr an der
Strecke stehen (später wird in den Medien sogar noch von drei Millionen die Rede sein), dann sind es
auf dem Stück zwischen Queensboro Bridge und den Norden Manhattans alleine schon gefühlte
500.000 Menschen. Die Anzahl der Zuschauerreihen am Straßenrand lassen sich von der Strecke aus
nicht mehr überblicken.
Unsere Planung sieht vor, dass meine Familie hier auf die Interair-Gruppe trifft, die an der Meile 17 eine
Fanzone eingerichtet hat. Ich kann zwar die Interair-Fahne und unsere Reiseleiter entdecken, nicht aber
beiden Lieben. Verdammt! Dieses Mal haben sie es wohl nicht geschafft an die Strecke zu kommen.
Das wundert mich aber auch nicht wirklich wenn ich sehe was hier los ist. Hoffentlich schaffen Sie es
zum nächsten und letzten Treffpunkt kurz vor dem Ziel.
Auf der First Avenue geht es überwiegend nur abwärts und mir wird zunehmend bewusst, was das bedeutet. Denn was wir jetzt runter laufen, müssen wir später wieder hoch, um in den Central Park zu
gelangen.
KM 30 | Manhattan – 1st Avenue / 109th Street
Laufzeit: 3:24:39, Ø 10:59 Min./Meile
Nein, ich habe mich in der Überschrift nicht verschrieben. Hier gibt
es auch Kilometermarkierungen – jeder fünfte ist hier ausgeflaggt
– und obwohl ich heute nach Meilen laufe, schenke ich dem 30.
Kilometer besondere Beachtung. Denn bekanntlich stellt dieser
eine magische Größe beim Marathonlaufen dar. Wie heißt es so
schön: „Jetzt fängt der Marathon erst richtig an“. Rein vom Zeitgefühl her kann ich gar nicht glauben, dass ich schon fast dreieinhalb Stunden laufe. Wenn mir einer meine Uhr abgenommen hätte und mich gefragt hätte, wie lange ich schon unterwegs sei, ich
hätte auf anderthalb Stunden getippt. Auf der anderen Seite sendet mir mein Körper schon Signale wie: „Mein lieber Mann! Das ist
aber ganz schön anstrengend heute!“. Trotzdem! Ich kann mich
an keinen Marathon erinnern, bei dem ich mich nach 30 km so gut
gefühlt hätte. Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole:
das Publikum ist so was von verrückt hier und es macht einfach
nur tierisch Spaß hier zu laufen!
Über die ganze Euphorie habe ich mittlerweile völlig meinen Adduktor verdrängt. War der nicht vor kurzem noch ziemlich angepisst? Bin ich etwa schon wieder 30 km
gelaufen ohne dass mir das Ding weh tut? Ich muss an Andy denken und daran wie er gerödelt hat, um
mein Geläuf wieder flott zu bekommen. Mensch, mein Lieber! Dass ich hier gerade durch Manhattan an
hysterisch schreienden amerikanischen Hausfrauen vorbei laufe, dass habe ich nur Dir zu verdanken!
Meile 20 | Bronx – Willis Avenue / 135th Street
Laufzeit: 3:40:50, Ø 11:03 Min./Meile
Soeben haben wir die Willis Avenue Bridge überlaufen, die von Manhattan in die Bronx führt. Die Brücke ist nicht sonderlich groß und entspricht vom Kaliber her dem der Deutzer Brücke in Köln. Trotzdem
ist fast jeder Läufer um mich herum hoch gegangen während ich weiter im Laufschritt geblieben bin. Ich
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bin nun wahrlich nicht der Schnellste aber einen gewissen Stolz
kann ich nicht verhehlen, dass ich die da jetzt alle hinter mir lasse.
Was sagt eigentlich meine Zeit? Na, gut! Ich hänge ein bisschen.
Aber ich laufe! Wenn ich unterwegs etwas weniger filmen würde,
dann wäre ich vielleicht auch etwas schneller. Aber wozu? Ich bin
im Urlaub und habe gerade eine Menge Spaß.
Der Bronx sagt man nach, eine ziemlich üble Gegend zu sein.
Demnach wäre es also ein wahrlich dämlicher Zeitpunkt für einen
Muskelkrampf. Da es aber per Definition überhaupt keinen günstigen Zeitpunkt für einen Muskelkrampf gibt, brauche ich auch
nicht weiter drüber nachzudenken.
Jedenfalls ist auch hier die Hölle los, obwohl sich das Publikumsverhalten hier etwas unterscheidet. Die Leute stehen nicht flächendeckend am Straßenrand und es gibt in der Tat ein paar
wenige ruhige Ecken. Dafür gibt es hier aber ein paar Hot Spots,
an denen es die Zuschauer ordentlich krachen lassen. An einer Stelle stehen plötzlich eine Handvoll
schrankhohe und –breite Neger vor uns quer über der Laufstrecke, die nach alter Yo-Baby-Yo-Manier
ganz gewaltig einen abrappen und uns Läufer abklatschen. An einer Stelle laufen wir auf eine große
Videowand zu auf der wir uns selbst sehen können.
Der Abstecher in die Bronx ist nur von kurzer Dauer und der Läuferstrom bewegt sich jetzt langsam
wieder auf Manhattan zu.
Meile 22 | Manhattan, Harlem – Marcus Garvey Park
Laufzeit: 4:05:02, Ø 11:09 Min./Meile
Harlem erweist sich ebenfalls als sehr stimmungsvolle Ecke, wenngleich die Publikumspräsenz hier
nicht ganz so gewaltig ist, wie zuvor in Brooklyn oder auf der First Avenue. Das mag aber vielleicht auch
daran liegen, dass es so langsam auf den Nachmittag zugeht und sich einige Leute möglicherweise
schon zur Heimkehr entschlossen haben. Nichtsdestotrotz ist die Unterstützung, die die Menschen an
der Straße den Läufern zukommen lassen unverändert engagiert und gewaltig.
Das alles kann aber nicht verhindern, dass ich gerade einen kleinen Durchhänger habe. Ich merke, wie
mich zunehmend die Kräfte verlassen und ich rede mir ein, dass es nicht mehr weit bis ins Ziel ist. Nur
noch vier Meilen! Das lauf ich Dich wohl auf einer Arschbacke! Hier schlägt noch mal der psychologische Vorteil zu den man hat, wenn man nach Meilen läuft. Vier Meilen fühlen sich irgendwie kürzer an
als sechseinhalb Kilometer.
Eine üble Stelle liegt jedoch noch vor uns: Fifth Avenue und Central Park, die die letzen schwierigen
fünf Kilometer der Strecke ausmachen. Hier ist mal gerade gar nichts flach, es geht nur rauf oder runter.
Hoffentlich bleibe ich nicht doch noch auf der Strecke hängen.
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Meile 23 | Manhattan – 5th Avenue / 103rd Street
Laufzeit: 4:16:51, Ø 11:11 Min./Meile
Kurz vor Erreichen der 23. Meile tut sich der
Central Park rechts neben uns auf. Das bedeutet, es dauert nicht mehr lange bis zum
Ziel und der Park bekommt eine Bedeutung
wie eine Oase in der Wüste. Der Central
Park hat eine Längsausdehnung von vier
Kilometern. Gut die Hälfte davon laufen wir
jetzt noch parallel zum Park auf der Fifth
Avenue bevor wir dann auf Höhe des Guggenheim Museums in den Park einbiegen,
diesen dann bis zum Südende durchlaufen
und via Columbus Circle das Ziel erreichen.
Ich habe wieder Oberwasser! Es geht bergauf und die überwältigende Mehrzahl der
Läufer um mich herum macht schlapp und schlurft die Fifth Avenue hoch. Auch ich bin langsamer geworden aber ich laufe noch. Von Gehpause keine Spur! Meine Überholmanöver verschaffen mir ein
gewisses psychologisches Doping, sodass ich ein kleines Comeback erfahre und ich meinen Durchhänger vergesse. Die Fifth Avenue ist aber auch knackig, mein lieber Mann! Aber ich habe doch nicht
hunderte von Kilometern im Vorgebirge und im Kottenforst trainiert, um hier jetzt die Flügel hängen zu
lassen. Ich glaube, ich entwickle mich so langsam zu einem Bergläufer!
Mittlerweile ist der Straßenrand auch wieder gerammelt voll und das Publikum fürchterlich gut gelaunt.
Soeben bin ich an einem Mann vorbei gelaufen, der ein Schild mit der Aufschrift: „Stopping now is not a
fucking option“ hoch gehalten hat. Recht hat er! Ich laufe einfach weiter und wenn ich irgendwann in
den sprichwörtlichen Tunnelblick verfallen sollte, dann höre ich einfach zu laufen auf sobald mir einer
eine Medaille um den Hals hängt.
Meile 24 | Manhattan, Central Park – East Drive / 85th Street
Laufzeit: 4:29:20, Ø 11:14 Min./Meile
Ich hätte nie gedacht, dass sich so viele Leute im Central Park einfinden
würden. Besonders die linke Seite des East Drives, der durch den Park
führt und auf dem wir uns jetzt bewegen, ist voll mit Menschen. Hier hat
sich auch der Interair-Fanblock aufgestellt, den ich anhand der Fahne
sofort erkenne. Verabredungsgemäß mache ich mich schon von weitem
bemerkbar, denn hier hat Interair einige Fotografen postiert, die mich
auch sofort aufs Korn nehmen. Meine Familie es auch dieses mal nicht
geschafft, die Interair-Gruppe zu finden, sie werden gleich eine Meile
weiter an der Strecke stehen.
Auf dem East Drive geht es im ständigen Wechsel auf und ab und das
noch extremer als zuvor auf der Fifth Avenue. Mittlerweile habe ich auch
wieder meine Zeit im Blick und ich habe mir ausgerechnet, dass ich nicht
nur unter fünf Stunden bleiben werde sondern auch noch unter meiner
Zeit vom Hamburg Marathon 2010 (4:57:51) bleiben kann. So packt mich
zwei Meilen vor Schluss doch noch der sportliche Ehrgeiz und die Uhr
rückt wieder zunehmen in den Fokus meiner Aufmerksamkeit.
22
Meile 25 | Manhattan, Central Park – East Drive / Center Drive
Laufzeit: 4:51:21, Ø 11:16 Min./Meile
Die letzte Meile! Kurz vor der Markierung stehen meine Frau und meine Tochter, die Fahne schwenkend und die Kameras auf mich gerichtet. Mich erwischt wieder die Euphorie und ich lasse mich schon
jetzt zu einer Siegerpose hinreißen. Der Wahnsinn! Ich bin gerade im Begriff, den New York City Marathon zu finishen und das mit Blick auf die krude Ausgangslage in einer noch nicht mal ganz so üblen
Zeit.
Auf dem Weg zur letzten Meile führt die Strecke noch mal kurz aus dem Central Park heraus und über
die 59. Straße zum Columbus Circle. Hier ist der reinste Hexenkessel. Das Publikum zeigt sich kurz vor
Schluss noch einmal von seiner allerbesten Seite.
Ich laufe wie in Trance. In Sekundenbruchteilen läuft in meinem Gehirn
noch mal die ganze Laufsaison ab: der Bonner Halbmarathon im April,
die Leistungsdiagnose im Mai, der Trainingsstart mit der Laufgruppe,
die vielen Trainingskilometer, meine Verletzung. Und nun sehe ich mich
selber auf der großen Videowand am Columbus Circle.
Meile 26 | Manhattan, Central Park – West Drive
Laufzeit: 4:53:27, Ø 11:18 Min./Meile
Ich bin auf der Zielgeraden und laufe bereits an den Zuschauertribünen vorbei. Diese sind zu dieser späten Tageszeit noch
immer voll. Das muss man sich mal vorstellen! Da gibt es Menschen, die bezahlen sogar Geld für einen Tribünenplatz, nur um
uns Knapp-unter-fünf-Stunden-Läufer beim Zieleinlauf zuzuschauen und uns anzufeuern. Die New Yorker sind schon ein
verrücktes Volk! Überflüssig zu erwähnen dass die Anfeuerungen und der Jubel hier wieder einmal überwältigend sind.
Kaum sehe ich das Ziel vor mir, recke ich in Siegermanier die
Arme in die Luft und nehme sie bis zum Überlaufen der Ziellinie
auch nicht mehr runter. Alle Anstrengungen und Schmerzen sind
vergessen. Ich spüre nur noch Adrenalin und Gänsehaut.
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Meile 26,2 | Ziel | Manhattan, Central Park – Tavern of the Green
Laufzeit: 4:56:03, Ø 11:18 Min./Meile
Um genau 15:40 Uhr überquere ich die Ziellinie in einer Zeit von 4:56:03 und schreie die ganze Freude
aus mir heraus. Ich habe es geschafft, bin in meinem siebten Marathon die drittbeste Zeit gelaufen und
habe zudem meine Finisherquote mit 100% sauber gehalten. Habe ich mich nicht vor gut sechs Wochen noch mit den Unterlagen der Reiserücktrittsversicherung beschäftigt? Mit einem Grinsen über
beide Backen taumle ich in Richtung Nachzielbereich, werde von einigen Ordnern und Mitläufern abgeklatscht und zeige gedanklich meinem Sorgenkind Adduktor den Stinkefinger. Die wohlverdiente Medaille in Empfang nehmend, will ich jetzt nur noch so schnell wie möglich hier raus und zu meiner Familie.
16:00 Uhr | Nachzielbereich
Bei meinen letzten beiden Marathons in Köln und Hamburg bin ich gut eine Viertelstunde nach meinem
Zieleinlauf umgekippt. Dazu muss man erwähnen, dass bei beiden Läufen für die jeweilige Jahreszeit
ungewöhnlich warmes Wetter herrschte und ich grundsätzlich jedwede Temperatur jenseits der 20Grad-Grenze als Körperverletzung erachte. Da hatte mein Kreislauf schlichtweg keinen Bock drauf.
Heute war das Wetter mehr als optimal für mich, trotzdem bleibt natürlich irgendwo eine Restsorge, ob
mein Kreislauf nicht doch noch was zu meckern hat. Ich kann alle beruhigen: ich bin nicht umgekippt
und hatte auch nicht einmal nur ansatzweise Kreislaufprobleme. Damit wäre ja hoffentlich bewiesen,
dass ich ein Problem mit Hitze habe (wollte mir ja keiner glauben und ich hatte das Gefühl, es wurden
schon Wetten darauf abgeschlossen, ob ich in New York nicht doch wieder in die Horizontale gehe).
Mittlerweile haben wir eine Warmhaltefolie und unseren Beutel mit der Nachzielverpflegung in die Hand
gedrückt bekommen: Wasser, Gatorade, Salzbrezeln, Studentenfutter und einen Apfel. Man sagt, dass
in New York nach dem Zieleinlauf ein weiterer Marathon beginnt, nämlich dass Durchwandern des
Central Parks bis zu den Trucks mit den Gardarobenbeuteln. Da ich keinen Beutel abgegeben habe,
versuche ich so schnell wie möglich das Gelände zu verlassen. Es dauert jedoch eine gefühlte Ewigkeit,
bis mir das gelingt.
Mit meiner Frau habe ich per Handy einen Treffpunkt ausgemacht. Allerdings gelingt es uns nicht, uns
dort zu treffen, da die Polizei ausgerechnet den Columbus Circle auch für die Fußgänger dicht gemacht
hat und die beiden somit nicht zu mir durch können. Verdammt! Die haben meine warmen Sachen im
Rucksack und ich friere wie ein Schneider. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns im Hotel zu treffen. Nachdem ich noch kurz auf die Interair-Gruppe getroffen bin, versuche ich schnellstmöglich die
nächste U-Bahn-Station zu finden. Nach über einer Stunde erreiche ich durchgefroren das Hotel und
begebe mich unverzüglich unter die heiße Dusche.
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18:30 Uhr | Abschied
Leider sind mit dem heutigen Tag auch die Herbstferien beendet, sodass meine Familie noch am selben
Abend abreist, da meine Tochter wieder in die Schule muss. Nachdem ich der Dusche wieder entstiegen bin und ich mich in saubere, warme Klamotten geworfen habe, bringe ich die beiden noch bis zum
Air Train, dem Shuttle-Zug, der zum Kennedy-Airport führt. Schade, ich hätte mich darüber gefreut, den
Abend mit den beiden noch zu verbringen und meinen Triumph angemessen zu feiern.
20:30 Uhr | Irish Pub
Interair hat für den Abend zu einer kleinen Siegesfeier in einen Irish Pub geladen. So sehr ich mich
darüber freue, ich bin ziemlich kaputt und würde mich am liebsten in die Kiste legen. Andererseits, man
lebt nur einmal also nehme ich die Einladung dankend an und begebe mich zum Pub. Dort angekommen unterhalte ich mich eine Weile mit Karsten, einem der Interair-Reiseleiter der heute seinen 15. New
York Marathon in Folge gelaufen ist. Wahnsinn! Karsten weiß natürlich viele Geschichten und Anekdoten zu erzählen und ich höre ihm gespannt zu. Irgendwann zwingen mich Müdigkeit und Muskelkater
dann doch in die Knie und ich kehre ins Hotel zurück und hefte mich ab.
22:15 Uhr | Hotelzimmer
Müde oder nicht. Ich bin einfach zu sehr aufgekratzt und kann nicht pennen. Ich mache den Fernseher
an und zappe durch die Kanäle. Nahezu jeder Nachrichten- und Sportsender zeigt umfangreiche Berichte vom New York Marathon mit dem Ergebnis, dass ich jetzt erst recht nicht schlafen kann. Irgendwann finde ich einen Kanal mit einem Footballspiel (Philadelphia Eagles gegen Baltimore Ravens) über
das ich so langsam eindussele.
Montag, 7. November 2011 | Der Tag danach
Ich habe fest aber nur kurz geschlafen und werde früh wach. Heute Abend werde ich abreisen und packe jetzt schon mal meinen Koffer. Bevor ich mir was zum Frühstücken besorge, checke ich kurz meine
Mails und finde eine Nachricht der besten Ehefrau der Welt, dass die beiden gut zu Hause angekommen sind. Wunderbar!
Zu meiner großen Freude finde ich auch eine Mail von Andy:
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH !!!!!!
Mein Lieber,
was für eine Leistung !
Ich habe Deinen Lauf im Internet „live“ verfolgt und pro Meile einen Screenshot gemacht. Vielleicht kannst Du später damit etwas anfangen.
Lt. Internet bist Du eine Zeit von 4:56:03 gelaufen. R E S P E K T !!!!
Herzliche Grüße von Isabella und Steffi.
Eine gute Rückreise und ich freue mich riesig Dich endlich wieder zu sehen !
Dein
+++Hexer+++
Der Verrückte! Hat der doch tatsächlich knapp fünf Stunden vor dem Internet gehockt und gelauert,
wann ich mich wo auf der Strecke befinde. Ich bin gerührt!
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Kurz darauf trifft auch eine Mail von Christine, meiner Lieblings-Laufkumpanin ein:
Lieber Stefan!
Ich bin erleichtert! Ich bin happy!! Ich bin unendlich stolz auf Dich!!!
Chaaaakkkkkaaaaaa!
Du hast es geschafft bei all den Unwegbarkeiten deinen Traum zu verwirklichen. Du bist gnadenlos zielorientiert, un-, un- unglaublich!
Es wird mir eine Ehre sein wieder mit dir laufen zu dürfen :-)
Ganz liebe Grüße,
Christine
Wenn ich solche Mails lese, dann tut der Abschied aus New York nicht mehr so weh und ich freue mich,
wieder nach Hause zu kommen und die ganze Meute wieder zu sehen.
Doch bevor es soweit ist, habe ich noch einen Tag in New York zur Verfügung, denn ich fliege erst um
22:20 Uhr ab. Dem Tipp von Interair folgend, hänge ich mir meine Medaille um als ich mich durch die
Stadt bewege. Nach gut einer Stunde nehme ich sie wieder ab, denn was dann passierte, ging mir irgendwann auf die Nerven. Wildfremde Menschen standen auf einmal um mich herum, die sich mit mir
fotografieren lassen wollten. Alle paar Meter wurde mir ein euphorisches „Congratulations“, „Well done“
oder „Good job, man!“ entgegengeschleudert. Das ist zwar alles unheimlich lieb gemeint und ich weiß
es zu schätzen, aber nach der gestrigen Anstrengung und Aufregung habe ich irgendwie das Bedürfnis,
heute meine Ruhe zu haben.
Nachdem ich mir noch im Zielbereich, der gerade abgebaut wird, mein Finisher-T-Shirt abgeholt habe,
lasse ich im herrlich sonnigen und mit Herbstfarben durchfluteten Central Park ein wenig die Seele
baumeln.
22:20 Uhr | Flug LH 405 nach Frankfurt
Au, backe! Ich habe einen infernalischen Muskelkater. Der hat sich natürlich durch die Tatsache, dass
ich heute den ganzen Tag noch in New York auf den Beinen war erheblich potenziert. Ich weiß nicht,
wie ich in dem verdammten Flieger hier sitzen soll. Ich blöder Hammel habe mir bei der Sitzplatzreservierung einen Fensterplatz besorgt, anstatt mich an den Gang setzen zu lassen, wo ich meine Haxen
hätte ausstrecken können. Hexenschuss beim Hinflug, Muskelkater beim Rückflug. Ich weiß nicht, was
schlimmer ist. Dann kommt auch noch hinzu, dass sich die Bordtoiletten hier in diesem Flieger im Unterdeck befinden und man dafür eine Treppe runter gehen muss. Super Idee! Der halbe Flieger ist voll
mit Marathonis. Auf der Treppe zum Klo spielen sich herzzerreißende Szenen ab.
Irgendwann gelingt es mir, eine halbwegs schmerzfreie Sitzposition zu finden und etwas zu schlafen.
Drei Stunden Schlaf, das ist mir zuvor noch nie bei einem Flug gelungen. Als ich aufwache, sind es nur
noch zwei Stunden bis Frankfurt und mittlerweile haben sich die Schmerzen in den Beinen etwas gelegt.
Dienstag, 8. November 2011 | Bahnhof Siegburg/Bonn
Pünktlich um kurz vor 14:00 Uhr trifft mein ICE in Siegburg ein und die beste Familie der Welt steht auf
dem Bahnsteig, um mich abzuholen. Damit ist unser Urlaub nun beendet und das Kapitel New York
Marathon 2011 endgültig geschlossen.
Ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde!
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