sinnlose Schmerzen - Gesundheitsforschung
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sinnlose Schmerzen - Gesundheitsforschung
JUNI 2006 Newsletter Thema Schmerzforschung Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen INHALT Dem Schmerz den Schrecken nehmen 2 Zu spät zum Spezialisten 3 Neuropathien: sinnlose Schmerzen 4 Mit Fingerspitzengefühl das Schmerzgedächtnis umprogrammieren 5 Fehlsteuerung des Nervensystems – Kopfschmerzen und Migräne 7 Migränetherapie: Integrierte Versorgung als Chance Interview mit Professor Dr. Hans Christoph Diener 10 Spannungskopfschmerzen verändern das Gehirn 11 Rückenschmerzen: Wenn die Psyche auf den Rücken schlägt 12 Aktiv gegen Rückenschmerzen 14 NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen Dem Schmerz den Schrecken nehmen „Es ist göttlich, den Schmerz zu lindern“ – das erkannte schon der wohl bedeutendste Arzt des alten Roms, Galenus von Pergamon (129–199 n. Chr.). Mit einer Skala, in der er die Wirkstärke verschiedener schmerzlindernder Substanzen, wie Efeu, Senf und Myrrhe, vermerkte, legte der kaiserliche Hofarzt den Grundstein für Behandlungsrichtlinien bei verschiedenen Schmerzen. Heutzutage stehen weitaus wirksamere Möglichkeiten zur Verfügung. Von den modernen Diagnose- und Therapieverfahren profitieren Millionen Betroffene mit chronischen Schmerzen. In Deutschland leiden fünf bis acht Millionen Erwachsene an behandlungsbedürftigen Dauerschmerzen. Bei schätzungsweise einem Zehntel davon hat sich das Leiden zur eigenständigen Schmerzkrankheit verselbstständigt, bei der die Schmerzen unabhängig von den sie ursprünglich auslösenden Faktoren weiter bestehen und bei der oft nur spezielle Schmerztherapeuten weiterhelfen können. Expertenwissen besser nutzen Dauerschmerzen sind jedoch kein unabwendbares Schicksal. Denn vielen Patienten lässt sich wirkungsvoll helfen – mit einer Überweisung in eine der rund 800 schmerztherapeutischen Einrichtungen. Doch bis dahin ist es meist ein jahrelanger und oft sehr qualvoller Weg. „Viele Schmerzpatienten kommen zu spät in spezialisierte Kliniken, Praxen oder Ambulanzen. Sie haben daher bereits eine Reihe nicht selten unnötiger Untersuchungen und erfolgloser Therapieversuche hinter sich“, erläutert Dr. Erika Schulte von der Arbeitsgruppe „Versorgungsforschung chronische Schmerzen“ der Berliner Charité. Die meisten Patienten mit chronischen Schmerzen sind bei Allgemeinmedizinern, Internisten, Neurologen oder Orthopäden in Behandlung und dort auch in guten Händen. Bei komplizierten Fällen sollte aber ein ausgewiesener Schmerzexperte in die Therapie einbezogen werden. Keine Chance dem Schmerzgedächtnis Kopf-, Rücken- und Nervenschmerzen gehören zusammen mit Tumorschmerzen zu den häufigsten chronischen Schmerzformen. Darunter verstehen Experten Schmerzzustände, die mindestens drei bis sechs Monate bestehen und die Patienten physisch, psychisch und sozial einschränken. Damit beginnt ein wahrer Teufelskreis. Die durch Schmerzen oftmals eingeschränkte Beweglichkeit verhindert unter anderem Berufstätigkeit und Freizeitaktivitäten. Die somit immer seltener werdenden Außenkontakte drücken auf die ohnehin schon angespannte Stimmung, münden schlimmstenfalls in psychischen Problemen – die Betroffenen igeln sich daraufhin noch mehr ein. Wer immer wieder Schmerzen hat, läuft Gefahr, dass das Nervensystem diesen Zustand quasi abspeichert und erlernt. Starke, wiederholte Schmerzreize können die verarbeitenden Nervenzellen im Rückenmark und Gehirn so überempfindlich machen, dass sie schließlich auch aufgrund harmloser Auslöser, zum Beispiel Berührungen, Schmerzen signalisieren – der Beginn oft jahrelanger chronischer Schmerzen. Schmerzen sollte daher möglichst frühzeitig ein Riegel vorgeschoben werden. Den Schmerzen auf der Spur – mit Hilfe des BMBF Chronische Schmerzzustände gehören zu den belastendsten Krankheiten. Kenntnisse der zugrunde liegenden Mechanismen sind eine Voraussetzung, um durch frühzeitiges Eingreifen eine Chronifizierung zu verhindern, und um Behandlungsstrategien zu optimieren. Doch noch immer wissen Wissenschaftler zu wenig über die Entstehung chronischer Schmerzen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert daher seit 2002 bis 2008 Forschungsverbünde zu chronischen Schmerzen mit insgesamt 13,7 Millionen Euro. In der ersten Förderphase bis Ende 2005 ging mehr als die Hälfte der Summe an drei Forschungsverbünde: Deutscher Forschungsverbund Neuropathischer Schmerz (Nervenschmerzen), Deutsches Kopfschmerz-Konsortium und Deutscher Rückenschmerz-Forschungsverbund. Darüber hinaus beschäftigen sich der Kognitionsforschungsverbund „Schmerzwahrnehmung“ sowie weitere Einzelprojekte anderer Förderschwerpunkte mit dem Thema Schmerz. 2 NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen Zu spät zum Spezialisten Wer unter chronischen Schmerzen leidet, nutzt häufig zu spät die Hilfe von speziellen schmerztherapeutischen Einrichtungen. Zu diesem Schluss kommt eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Untersuchung unter der Federführung von Dr. Erika Schulte von der Charité in Berlin. Durchschnittlich dauert es bei Kopfschmerzpatienten 18 Jahre, bei Patienten mit Rückenschmerzen zehn Jahre und bei Patienten mit neuropathischen Schmerzen – also Nervenschmerzen wie Neuralgien – rund ein Jahr, bis sie sich Rat in einer Spezialpraxis holen oder dorthin überwiesen werden. Viel zu lange, denn je früher eine Schmerztherapie ansetzt, desto besser ist in der Regel das Behandlungsergebnis, das die Teams aus speziell ausgebildeten Fachärzten und Psychologen erzielen. Nach sechsmonatiger Behandlung geht es vielen Patienten besser. Knapp zwei Drittel der in einer solchen Einrichtung Behandelten äußern sich zufrieden – so ein weiteres Ergebnis der Studie, die sich intensiv mit den Versorgungswegen chronischer Schmerzpatienten befasst. Wissen hilft heilen Doch den Weg in eine der über 800 speziellen Schmerzeinrichtungen zu finden, ist offensichtlich nicht so einfach. „Nur gut die Hälfte der Schmerzgeplagten kommt Stimmt es, dass ... Frauen schmerzempfindlicher sind als Männer? ? „Dafür spricht viel. Männer haben eine höhere Schmerzgrenze und äußern Schmerz später. Allerdings scheint die Art des Schmerzreizes dabei eine Rolle zu spielen. Übrigens: Bei den Tests zur Schmerzempfindlichkeit gab sich das „starke Geschlecht“ in Gegenwart von weiblichem Untersuchungspersonal deutlich tapferer als gegenüber männlichen Betreuern ...“ Dr. Erika Schulte, Anästhesistin und Schmerztherapeutin aus Berlin auf ärztlichen Rat in solch eine Einrichtung, die anderen überwiegend durch Tipps von Freunden oder Bekannten“, bedauert Schulte. Herkömmliche Auskunftssysteme spielen kaum eine Rolle dabei, ebenso wie Selbsthilfegruppen oder die Deutsche Schmerzliga. Der Austausch mit Leidensgenossen kann die klassische schmerztherapeutische Behandlung erfahrungsgemäß wirkungsvoll unterstützen. Kranke, die sich aktiv mit ihrem Problem auseinandersetzen statt sich zu verkriechen, sind psychisch meist stabiler. Und das wiederum ist eine gute Voraussetzung, um bei der Behandlung am Ball zu bleiben. Schließlich stellt sich der Erfolg einer professionell gesteuerten Schmerztherapie nicht von heute auf morgen ein und erfordert auch ein wenig Disziplin, zum Beispiel beim Führen eines „Schmerztagebuches“, in dem die Patienten regelmäßig ihre Schmerzen notieren und bewerten. Anhand dieser Daten kann der Schmerztherapeut dann die Behandlung ausrichten. Informationen und Hilfe für Schmerzpatienten ! Kontakt zu Selbsthilfegruppen, Adressliste von Schmerztherapeuten, telefonische Arztberatung und vieles mehr. Deutsche Schmerzliga e.V., Adenauerallee 18, 61440 Oberursel Tel.: 0700 375 375 375, E-Mail: [email protected], www.schmerzliga.de 3 NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen Neuropathien: sinnlose Schmerzen Das ist er wieder – dieser brennende, reißende Schmerz, der ihren gesamten rechten Brustkorb erfasst. Seit einer Gürtelrose vor drei Monaten gehören Schmerzattacken zum Alltag von Frau Anika S. Auch leichteste Berührungen der rechten Seite ihres Oberkörpers sind äußerst schmerzhaft, an manchen Tagen erträgt sie kaum die Kleidung auf ihrer Haut. Die gesteigerte Berührungsempfindlichkeit zählt neben plötzlich auftretendem Taubheitsgefühl, anhaltenden Ruheschmerzen und der schmerzhaften Reaktion auf harmlose Temperaturreize zu den typischen Symptomen neuropathischer Schmerzen. Sie entstehen, wenn Nerven geschädigt wurden, zum Beispiel als Folge eines Diabetes, durch einen Unfall oder eine Amputation. 60 Prozent aller Menschen, denen ein Körperteil ampu- tiert wurde, leiden unter Phantomschmerzen. Aber auch nach einem Schlaganfall oder einer Gürtelrose, bei der die Erreger der Windpocken, die VaricellaZoster-Viren, bestimmte Bereiche von Nervenzellen im Rückenmark befallen, können die peinigenden Nervenschmerzen entstehen. Häufig nicht erkannt Eine Untersuchung aus den USA ergab, dass sich nur 30 Prozent der Neurologen zutrauen, neuropathische Schmerzen überhaupt sicher zu diagnostizieren. Viele Patienten durchlaufen daher eine Odyssee, bevor sie in die richtigen Hände gelangen. In Deutschland leiden ca. 20 Prozent aller Schmerzpatienten, die eine Spezialeinrichtung für Schmerztherapie aufsuchen, an nicht ausreichend behandelten neuropathischen Schmerzen. Die Mechanismen, die die Betroffenen hitze-, kälteoder berührungsempfindlich werden lassen, sind entweder gar nicht oder nur ansatzweise verstanden. „Dabei ist es sehr wichtig zu wissen, welche Mechanismen bei den Patienten Schmerzen hervorrufen“, so Professor Thomas R. Tölle von der Technischen Universität München. „Denn trotz gleicher Symptome können im Körper ganz unterschiedliche Vorgänge stattfinden, die auch mit unterschiedlichen Medikamenten behandelt werden müssen. Diese neue Idee wird in der Fachwelt als Mechanismen-orientierte Therapie bezeichnet.“ Tölle ist zusammen mit Professor Ralf Baron von der Neurologischen Klinik der Universität Kiel Sprecher des Deutschen Forschungsverbundes Neuropathischer Schmerz (DFNS). Der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierte Forschungsverbund ist 2002 mit dem Ziel angetreten, die grundlegenden Mechanismen neuropathischer Schmerzen zu erforschen und entsprechend dem Leitgedanken der Mechanismen-orientierten Therapie zügig in Ergebnisse umzusetzen, die den Patienten zugute kommen. Heiße Chilischoten und kühles Menthol Der Schmerz, den wir empfinden, wenn wir auf eine heiße Herdplatte fassen oder etwas Eiskaltes berühren, wird über dünne Nervenfasern, die C-Fasern vermittelt. Außerdem wissen Wissenschaftler bereits, dass beim Kälteempfinden auch dicke, so genannte A-Fasern aktiv sind. Aus tierexperimentellen Untersuchungen ist bekannt, dass A- und C-Fasern Messfühler haben (Rezeptoren), die nicht nur durch Hitze und Kälte erregt werden, sondern auch durch einen Extrakt aus der Chilischote (Capsaicin) und durch Menthol. Das kühle, erfri- 4 NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung schende Gefühl, wenn man ein Mentholbonbon lutscht und das scharfe Brennen nach dem Biss auf ein Stück Chili lassen sich so erklären. Professor Ralf Baron und seine Kieler Arbeitsgruppe nutzen diese Phänomene, um die Mechanismen aufzuklären, die sich hinter der gesteigerten Temperatur- und Berührungsempfindlichkeit bei Personen mit neuropathischen Schmerzen verbergen. „Das Besondere an unserem Projekt ist, dass wir die Erkenntnisse aus tierexperimentellen Studien unmittelbar in die klinische Schmerzforschung beim Menschen übertragen“, sagt Baron. Hierzu haben die Forscher ein Testmodell mit gesunden Probanden entwickelt. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Spontan brennende Schmerzen, Kälte- oder Hitzegefühle und eine gesteigerte Berührungsempfindlichkeit – Menthol und Capsaicin riefen genau die Symptome hervor, unter denen Patienten mit neuropathischen Schmerzen leiden. „Als nächstes möchten wir diese Untersuchung bei Schmerzpatienten durchführen, um herauszufinden, welche Mechanismen bei ihnen aktiviert sind“, erklärt Baron. Kleine Stiche, große Schmerzen Auch Professor Christoph Maier von der Ruhr-Universität Bochum arbeitet an den Mechanismen neuropathischer Schmerzen. Er ist Leiter einer klinischen Studie, die von allen Teilnehmern im Netzwerk durchgeführt wird und widmet sich dabei einem seltenen Symptom: der mechanischen Hyperalgesie. Schon einfache Berührungsreize, zum Beispiel das Pieksen mit einer Nadel, lösen bei Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen Stimmt es, dass … Pusten den Schmerz vertreibt? ? „Ja, und zwar mit Hilfe eines Tricks, den man gern bei Kindern nutzt, wenn sie sich wehgetan haben. Denn durch das Pusten erfährt das Kind eine Zuwendung und die Aufmerksamkeit wird vom Schmerz weggenommen. Durch diese Aufmerksamkeitsverschiebung kann es zu einer Schmerzlinderung kommen, die jedoch nur über die subjektive Wahrnehmung entsteht. Das Pusten kann man aber auch als Gegenirritation betrachten, die ebenfalls vom Schmerz ablenkt. Ganz anders bei Nervenschmerzen (neuropathischen Schmerzen): Hier liegt eine Störung des Nervensystems vor, die dazu führen kann, dass Pusten genau die gegenteilige Wirkung zeigt.“ Anja Schwarz, Psychologin an der Universität Tübingen ! Patienten mit diesem Symptom äußerst starke Schmerzen aus. In getrennten Studien untersuchen alle Arbeitsgruppen aus dem Forschungsverbund in einem weltweit einmaligen Multicenter-Projekt die Wirkung verschiedener Medikamente, etwa ob sie die Berührungsempfindlichkeit der Patienten senken oder den Ruheschmerz lindern. Die Studienteilnehmer erhalten entweder ein Placebo oder das jeweilige Medikament. Dabei können sie jederzeit, zum Beispiel sobald ihre Schmerzen zunehmen, aus der Studie aussteigen. „Wenn die Abbruchrate in der Placebo-Gruppe am größten wäre, hätte man einen weiteren Beleg dafür, dass das getestete Medikament wirksamer ist als das Placebo“, erklärt Maier. Da die Medikamente alle an unterschiedlichen Stellen im schmerzverarbeitendem System angreifen, hofft Maier aus den Ergebnissen ableiten zu können, welche Mechanismen bei den Patienten mit mechanischer Hyperalgesie aktiv sind und ob diese sich eventuell je nach der im Einzelfall vorliegenden Grunderkrankung unterscheiden. Mit Fingerspitzengefühl das Schmerzgedächtnis umprogrammieren Neue Hoffnung für Patienten mit Nervenschmerzen (Neuropathien): Die normalerweise nur schwer zu behandelnden Schmerzen lassen sich offensichtlich durch ein spezielles Training deutlich mindern – und zwar mit viel Gefühl! Denn hinter dem vom Deutschen Forschungsverbund Neuropathischer Schmerz (DFNS) entwickelten sensorischen Diskriminationstraining (SDT) verbergen sich tägliche Übungen mit einem „Fühlbrett“, das aussieht wie ein mit kleinen Kügelchen bestücktes Schachbrett. Ähnlich wie bei der Blindenschrift lassen sich diese zu bestimmten Mustern, zum Beispiel Pfeilen, Dreiecken oder Punkten, angeordneten, rund ein Millimeter großen Kügelchen blind ertasten. In enger Kooperation zwischen den Universitäten 5 NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung Tübingen und Heidelberg gelangen mit Hilfe eines solchen Fühltrainings erstaunliche Fortschritte bei Patienten mit einem so genannten komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS) an der Hand. Dank des täglichen, zwei Wochen dauernden Tastprogramms gewöhnten sie sich daran, die Hand in Verbindung mit einem nicht schmerzhaften Reiz zu benutzen und dadurch auch die Beweglichkeit zu erhöhen. „Diese spielerische Auseinandersetzung mit den Figuren stärkt wiederum das sensorische Wahrnehmungssystem, führt zu Veränderungen im Schmerzgedächtnis und reduziert dadurch die Schmerzen“, erläutert Professor Niels Birbaumer, der Projektleiter des Tübinger Teams. Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen sern, etwa einer Gürtelrose, zusammenhängen, sondern vielmehr mit Lernprozessen. Diese Prozesse führen zu Veränderungen im zentralen Nervensystem, insbesondere im Gehirn – hinterlassen also Spuren im Schmerzgedächtnis, die sich mit speziellen bildgebenden Untersuchungsmethoden sogar sichtbar machen lassen. „Solche Spuren wieder zu löschen, ist schwierig, denn mit dem Bewusstsein kommt man nicht an sie heran“, so Professor Herta Flor von der Universität Heidelberg und dem Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, die bereits ein ähnliches Training erfolgreich bei amputierten Patienten mit Phantomschmerzen eingesetzt hat. Die Arbeitsgruppe von Birbaumer hat mit dem Tasttraining einen Weg gefunden, bei CRPS-Patienten das Gehirn quasi umzuprogrammieren und die alten Schmerzspuren dadurch auszuradieren. Erste Befunde der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützten Therapiestudie zeigen, dass sich die Schmerzen und auch die Beweglichkeit von Daumen und Zeigefinger deutlich verbessern lassen. Das Gehirn verändert sich Beweise für damit im Zusammenhang stehende Gehirnveränderungen liefern Kernspintomographie und eine spezielle Aktivitätsmessung, die so genannte Magnetoenzephalographie (kurz MEG). Beide Verfahren eignen sich zur Erfolgskontrolle der Studie, die derzeit auf deutlich mehr Patienten ausgeweitet wird. Aber auch jenseits des Schmerzes sehen die beiden Forscher erfolgreiche Einsatzmöglichkeiten des sensorischen Diskriminationstrainings, zum Beispiel beim Tinnitus. Alte Reize gegen neue austauschen Neuere Untersuchungen zeigen, dass chronische Nervenschmerzen oft kaum mehr mit den eigentlichen Auslö- Was sind eigentlich Phantomschmerzen? Phantomschmerzen treten nach der Durchtrennung von Nerven auf, zum Beispiel durch eine Amputation. Hier schmerzt ein Glied, das nicht mehr vorhanden oder gelähmt ist: ein amputierter Arm, eine abgenommene Brust oder der gelähmte Körperteil nach einer Querschnittlähmung. Nervenimpulse aus dem amputierten Körperteil kommen jetzt nicht mehr im Gehirn an. Die Folge: Die von diesem Nerv versorgte Gehirnregion hat ihren ursprünglichen „Lieferanten“ verloren. Neben eventuell verbleibenden Impulsen aus dem Rest des durchtrennten Nervs, nimmt sie nun vermehrt Nervenimpulse aus benachbarten Arealen auf. Da bestimmten Regionen im Gehirn aber ganz bestimmte Körperpartien zugeordnet sind, kann Nervenaktivität in dem Teil des Gehirns, der früher mit dem amputierten Körperteil verbunden war, zu Schmerzen im nicht mehr vorhandenen Glied und somit zu Phantomschmerzen führen. Quelle: Professor Herta Flor, Neurowissenschaftlerin an der Universität Heidelberg, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit 6 NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen Fehlsteuerung des Nervensystems – Kopfschmerzen und Migräne Jeder dritten Frau und jedem fünften Mann in Deutschland brummt mindestens einmal wöchentlich der Kopf. Laut der Deutschen Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft (DMKG) plagen die Betroffenen überwiegend so genannte Spannungskopfschmerzen, in der Häufigkeit gefolgt von Migräne und Kopfweh durch übermäßigen Schmerzmittelgebrauch (vgl. Kasten). Den klaren Daten stehen jedoch noch viele Fragen gegenüber. Denn noch immer suchen Wissenschaftler weltweit nach den Ursachen der quälenden Pein. Unter anderem auch in Deutschland, wo sich gleich mehrere Projekte des Deutschen Kopfschmerz-Konsortiums mit der Entstehung primärer Kopfschmerzen befassen – also Schmerzen, denen keine andere Erkrankung zugrunde liegt. „Wir gehen mittlerweile davon aus, dass Migräne und Spannungskopf- schmerzen auf einer Fehlsteuerung des schmerzerzeugenden Nervensystems im Kopf beruhen“, erklärt Professor Karl Messlinger von der Universität ErlangenNürnberg. Kopfschmerz ist nicht gleich Kopfschmerz Spannungskopfschmerz Drückender, ziehender, beidseitiger Schmerz von leichter bis mittlerer Intensität, der sich durch körperliche Aktivitäten nicht verstärkt. Gelegentlich Übelkeit, Geräusch- und Lichtempfindlichkeit, meist schwächer ausgeprägt als bei Migräne. Migräne Pochender, pulsierender, überwiegend einseitiger Schmerz von mittlerer bis hoher Intensität, der sich bei körperlicher Aktivität verstärkt. Häufig Übelkeit und Erbrechen, starke Geräusch- und Lichtempfindlichkeit. Bei rund 15 Prozent der Migränepatienten geht den Anfällen eine so genannte Aura voraus – neurologische Ausfallerscheinungen wie Seh- und Sprachstörungen oder Schwindel. Medikamentenkopfschmerz Diffuser, dumpf drückender oder pulsierender Dauerkopfschmerz, zum Teil mit attackenartigen Verstärkungen aufgrund (fast) täglicher Einnahme von Schmerz- und Migränemitteln. Entsteht nur bei Patienten, die bereits unter Migräne oder Spannungskopfschmerz leiden. Übermäßiger Schmerzmittelgebrauch aufgrund anderer Beschwerden löst keinen Medikamentenkopfschmerz aus! Quelle: Deutsche Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft (DMKG), Pressemitteilung 2006 / Deutsches Kopfschmerz-Konsortium 7 NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen Chemisches Chaos im Kopf Dabei spielen offenbar chemische Botenstoffe (Mediatoren) eine wichtige Rolle, und zwar ein Eiweißstoff mit der Abkürzung CGRP, Stickstoffmonoxid (NO) und vielleicht auch Histamin, das in anderen Geweben bei allergischen und entzündlichen Prozessen freigesetzt wird. Diese Mediatoren erweitern allesamt die Blutgefäße und verstärken den Blutfluss in den Hirnhäuten. CGRP und NO scheinen bei der Übertragung der schmerzerzeugenden Information im Hirnstamm ebenfalls mitzuwirken. Denn die Botenstoffe lassen sich manchmal auch während einer Migräneattacke besonders reichlich im Blut der Betroffenen nachweisen, weil sie offensichtlich während des Anfalls vermehrt ausgeschüttet werden. Im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützten tierexperimentellen Projektes ging Messlinger daher unter anderem diesem chemischen Trio einmal genauer nach. Er kam dabei einem hochkomplizierten, kaskadenartigen Kopfschmerzen: Zahlen & Fakten • Rund drei bis fünf Prozent der deutschen Bevölkerung leiden an täglichen chronischen Kopfschmerzen, 30 bis 50 Prozent davon aufgrund eines unsachgemäßen Schmerzmittelgebrauchs. • 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung hat episodische (phasenweise auftretende) Spannungskopfschmerzen. • Etwa zwölf bis 14 Prozent aller Frauen und sechs bis acht Prozent aller Männer haben hierzulande Migräne. • Jedes zweite Kind zwischen sieben und 14 Jahren klagt über Spannungskopfschmerzen. • Zirka 7,5 Prozent der Kinder sind von Migräne betroffen. Zusammenspiel auf die Spur, das die schmerzerzeugenden Nervenfasern in der harten Hirnhaut so reizen kann, dass daraus Kopfschmerzen entstehen könnten. Den Boten das Ziel rauben Was läge daher näher, als im Kampf gegen Kopfschmerzen genau diese Kaskade zu unterbrechen? „Hierfür könnte man Rezeptorhemmstoffe einsetzen, also Substanzen, die verhindern, dass die Botenstoffe ihr Ziel erreichen“, erläutert Messlinger den Bezug zur Praxis. Ganz so einfach ist das allerdings nicht, denn die Mediatoren erfüllen im Körper meist mehrere Aufgaben gleichzeitig. Würde man zum Beispiel zur Kopfschmerzbehandlung die Wirkung von Stickstoffmonoxid hemmen, hätte dies einen heftigen Blutdruckanstieg zur Folge. Vielversprechender scheint zu sein, die Wirkungen des Eiweißstoffes CGRP zu hemmen. Hierzu wurden bereits erste experimentelle und klinische Studien durchgeführt. Quellen: Deutsche Migräne- und KopfschmerzGesellschaft (DMKG), Universität Göttingen (Professor Birgit Kröner-Herwig), Universität Essen (Professor Hans Christoph Diener/Dr. Zaza Katsarava) 8 NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen Kopfschmerzrisiken erkennen In den Hausarztpraxen spielen Kopfschmerzen – nach Erkältungen und Rückenschmerzen – die drittwichtigste Rolle. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt gleich mehrere Studien des Deutschen Kopfschmerz-Konsortiums zu chronischen Kopfschmerzen. Risikoprofil erkennen – Chronifizierung vermeiden Interessante Ergebnisse dazu gibt es bereits: Datenerhebungen der Universität Essen unter der Leitung von Dr. Zaza Katsarava beschäftigten sich mit typischen Risikoprofilen, um so künftig gefährdete Personen rechtzeitig in einer entsprechenden Schmerzeinrichtung behandeln zu können. Der Neurologe fand unter anderem heraus, dass vor allem ein übermäßiger Einsatz von Schmerzmitteln häufige Kopfschmerzen bei Erwachsenen chronisch werden lässt – mit einem 20fach erhöhten Risiko! Es zeigte sich, dass Patienten, die pro Monat an rund zehn bis 15 Tagen Kopfschmerzen haben und dann immer Schmerzmittel einnehmen, sehr große Gefahr laufen, in der nahen Zukunft täglich Kopfschmerzen zu entwickeln. Gerade diese Patienten sollten daher rechtzeitig einen Neurologen aufsuchen, um eine vorbeugende Therapie einleiten zu können und dadurch die Kopfschmerzfrequenz zu senken. Psychosoziale Risikofaktoren bei Kindern Über chronische Kopfschmerzen klagen nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder. Am schlimmsten trifft es 13- bis 14-jährige Mädchen, bei denen ein besonders hoher Prozentsatz (13 Prozent) an wöchentlichem Kopfweh leidet. Die Gefahr, dass sich daraus chronische Kopfschmerzen entwickeln, ist laut Professor Birgit Kröner-Herwig von der Universität Göttingen sehr hoch. Die Psychologin und ihr Team liefern aber weit mehr als aktuelle Zahlen zum Kinderkopfschmerz. Denn die Forscher schauten auch auf mögliche psychosoziale Risikofaktoren. Ergebnis: Zu den begünstigenden Schmerzfaktoren gehören Schulstress, häufiger Streit in der Familie, häufiges Fernsehen und kritische Lebensereignisse. Die finanzielle Lage spielt keine Rolle, wohl aber der Familienstatus. Kinder, die mit einem allein erziehenden Elternteil zusammenleben, bekommen laut Kröner-Herwig häufiger Kopfschmerzen als die Sprösslinge klassischer Familienkonstellationen. Aufgrund der Ergebnisse entwickelten die Göttinger ein psychologisches Behandlungsprogramm für Kinder mit immer wiederkehrenden belastenden Kopfschmerzen als wirksame Alternative zur medikamentösen Therapie. 9 NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen Migränetherapie: Integrierte Versorgung als Chance Interview mit Professor Dr. Hans Christoph Diener, Verbundssprecher Deutsches Kopfschmerz-Konsortium Wie sieht die moderne Migränetherapie aus und wie gut wirkt sie? Gleich vorweg: Die meisten Migränepatienten lassen sich gut behandeln. Die Behandlung selbst steht auf zwei Säulen. Zum einen geht es um die Therapie akuter Migräneattacken, zum anderen um Maßnahmen und Medikamente zur Vorbeugung. Im akuten Fall bringen bei Patienten mit leichten bis mittelschweren Migränekopfschmerzen meist die klassischen schmerzlindernden Substanzen, wie ASS, Paracetamol und Ibuprofen, Besserung. Zuvor empfiehlt sich die Einnahme eines Präparates gegen Übelkeit, das die Aufnahme der Schmerzmittel verbessert. In schwereren Fällen kommen überwiegend die so genannten Triptane zum Einsatz, sehr moderne und wirksame Substanzen, die aber einen großen Nachteil haben: Sie sind recht teuer und werden daher nicht so oft verordnet, wie es den Patienten gut täte. Was bringt die so genannte Migräneprophylaxe? Die Migräneprophylaxe besteht aus drei Bereichen: Medikamenten, Verhaltenstherapie und Sport. So gibt es verschiedene gut wirksame Medikamente, zum Beispiel einige Betablocker, die bei Patienten mit häufigeren oder besonders schwer behandelbaren Migräneanfällen in Frage kommen. Gute „Die Migräneprophylaxe Erfolge bringt besteht aus drei Bereichen: auch die VerhalMedikamenten, Verhaltens- tenstherapie mit einer Kombinatitherapie und Sport.“ on aus Entspannungstechniken (Progressive Muskelentspannung nach Jacobsen), Stressabbautraining und Schmerzbewältigungstechniken. Sport, speziell Ausdauersportarten, wie Joggen oder Walking, zeigt ebenfalls günstige Effekte. Ob Medikamente, Verhaltenstraining oder Ausdauersport – jeder dieser vorbeugenden Behandlungsansätze lindert bei rund 50 Prozent der Migräniker das Leiden um die Hälfte. Bei einer Kombination dieser Verfahren liegt die Erfolgsrate höher. Welchen Stellenwert hat die Akupunktur bei Migräne? Im akuten Migräneanfall hat die Akupunktur keine Bedeutung, in der Prophylaxe hilft sie jedoch genauso gut wie Medikamente. Allerdings ist Akupunktur zur Migränevorbeugung keine gesetzliche Kassenleistung, muss also von den meisten Patienten selbst bezahlt werden. Welche anderen Möglichkeiten gibt es für Migränepatienten? Einige Krankenkassen bieten für Patienten mit Migräne und chronischen Kopfschmerzen die so genannte „Integrierte Versorgung“ an. Dahinter steckt eine Vernetzung der einzelnen medizinischen Versorgungsbereiche. Niedergelassene Haus- und Fachärzte bieten zusammen mit stationären Einrichtungen und ande„Speziell schwierig ren Therapeuten eine Verbehandelbare Migränesorgung „aus einer Hand“ und mit einem gemeinsapatienten profitieren men Ziel. Von den dem davon.“ Modell zugrunde liegenden hohen Qualitätsstandards profitieren speziell schwierig behandelbare Migränepatienten. Gerade für sie bringt die „Integrierte Versorgung“ einen echten Fortschritt, der früher aus Kostengründen nicht möglich war. Wer sich für dieses Modell interessiert, sollte einfach mal bei seiner Krankenkasse nachfragen. Liefert die Grundlagenforschung neue Ansatzpunkte für Therapien? Die Grundlagenforschung erarbeitet in Tierexperimenten die Mechanismen der chronischen Kopfschmerzentstehung. Diese Erkenntnisse helfen bei der Entwicklung neuer Behandlungsmethoden. Ein anderer Teil der Grundlagenforschung beschäftigt sich mit der Frage, auf welche Weise Kopfschmerzen vererbt werden. Wir hoffen, dass es dadurch in Zukunft möglich wird, mithilfe von Gentests herauszufinden, welche Behandlung bei den jeweiligen Patienten den größten Erfolg verspricht. 10 NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen Spannungskopfschmerzen verändern das Gehirn Einen gelegentlichen Brummschädel bei Wetterwechsel oder nach ein paar Gläsern zu viel kennt wohl fast jeder. Nach ein paar Stunden gibt der Kopf dann meist wieder Ruhe. Anders geht es Menschen, die an chronischen Spannungskopfschmerzen leiden. Laut Definition der Deutschen Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft (DMKG) quälen sie sich an mindestens 15 Tagen pro Monat mit leichten bis mäßigen, drückend-ziehenden Kopfschmerzen – schlimmstenfalls sogar täglich. Schätzungsweise drei Prozent der Bevölkerung sind davon betroffen. „Im Gegensatz zum Katerkopfschmerz nach Alkoholgenuss oder selbst einer Migräne lässt sich diese Kopfschmerzform nur sehr schwer behandeln“, erklärt Dr. Arne May vom Institut für Neurowissenschaften der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf die eingeschränkte Lebensqualität und das Leid der Betroffenen. Verspannungen machen keinen Spannungskopfschmerz Auf der Suche nach wirksamen Therapien beschäftigt das Phänomen Spannungskopfschmerz die Wissenschaftler daher intensiv. Unter anderem auch den Neurologen May, der – unterstützt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) – der Frage nach- Knubbel im Kopf Nicht nur bestimmte Schmerzarten gehen mit veränderten Gehirnstrukturen einher, sondern auch bestimmte Fähigkeiten. Am Beispiel junger Jongleure konnte der Neurologe Dr. Arne May von der Hamburger Uniklinik kürzlich erstmals nachweisen, dass besonderes Training spezielle Hirngebiete wachsen lässt. Bei den Ballakrobaten bildeten sich nach dreimonatigen Übungen mit drei Bällen kleine Knubbel in jenen Bereichen, die für das Wiedererkennen von Bewegungen im Raum und von Raumpositionen verantwortlich sind. Die talentiertesten Kandidaten wiesen dabei die deutlichsten Veränderungen auf. Ohne Training verfliegt der „Jongliereffekt“, der uns übrigens auch beim Auffangen herunterfallender Gegenstände hilft, leider schnell wieder – die Knubbel schrumpfen. Bildgebende Verfahren wie die Kernspintomographie (MRT) können den Verlust grauer Hirnsubstanz bei betroffenen Patienten in verschiedenen Hirnregionen deutlich machen (gelb dargestellt). ging, ob chronischer Kopfschmerz das Gehirn verändert. Dazu analysierte er mit einem speziellen Verfahren die Kernspintomographie-Aufnahmen von Patienten mit chronischen Spannungskopfschmerzen, von Patienten mit Schmerzmittelkopfschmerzen oder Migräne und von Gesunden. May entdeckte Gehirnveränderungen bei Patienten mit chronischen Spannungskopfschmerzen, und zwar nur in für die Schmerzverarbeitung zuständigen Gebieten, der so genannten Schmerzmatrix. Dort fand er bei den Spannungskopfschmerzlern weniger „graue Substanz“, also letztlich weniger Nervenzellen, als bei Migränepatienten und Gesunden. Ein eindeutiger Beweis, dass das Gehirn selbst diese Kopfschmerzform verursacht, und nicht etwa Muskelverspannungen, wie bisher immer angenommen,“ erklärt der Spezialist für bildgebende Verfahren. Was aber war zuerst, der Kopfschmerz oder die Hirnveränderungen? Eine Antwort kennen die Wissenschaftler noch nicht. Aber zumindest einen Hinweis gibt es, dass die Schmerzen die Abweichungen hervorrufen und nicht umgekehrt. Denn je länger der Schmerz bestand, um so weniger graue Substanz befand sich in den entsprechenden Arealen. Noch lassen sich daraus keine Therapieempfehlungen ableiten, aber diese Ergebnisse aus dem Deutschen Kopfschmerz-Konsortium sind ein wichtiger Schritt, um Kopfschmerzen auf die Spur zu kommen. „Denn so lange wir nicht verstehen, wie diese Schmerzen entstehen und warum Schmerzen chronisch werden, können wir sie auch nicht behandeln,“ so May. Quelle: Priv.-Doz. Dr. Arne May, Neurologe am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf 11 NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen Rückenschmerzen: Wenn die Psyche auf den Rücken schlägt Bildung und Forschung (BMBF) führte ein Expertenteam der Universität Greifswald unter der Leitung von Professor Thomas Kohlmann die bislang größte Befragung zu Rückenschmerzen in Deutschland durch. Nur jeder Zweite mit Rückenschmerzen geht zum Arzt Knapp 10.000 per Zufall ausgewählte Personen machten bei der umfangreichen, mehrphasigen Fragebogenerhebung mit. Sie nahm die Risikofaktoren für Rückenschmerzen sehr genau unter die Lupe – und zwar auch bei jenen, die trotz Schmerzen bisher keinen Arzt aufgesucht hatten. Und das war immerhin die Hälfte! „Drei Viertel aller Befragten litten während des vergangenen Jahres an Rückenschmerzen, rund 10 Prozent davon so stark, dass Alltag und Beruf dadurch beeinträchtigt wurden“, erläutert Kohlmann, gleichzeitig auch Sprecher des Forschungsverbundes Rückenschmerz, die ganz aktuellen Auswertungen. Tröstlich dabei: Ein Dauerschicksal ist damit nicht zwangsläufig verbunden. „Selbst schwere Rückenschmerzen sind keine Einbahnstraße, bei vielen bessert sich der Zustand innerhalb eines Jahres“, so Kohlmann. Ein dauernder dumpfer Schmerz, ein heftiges Reißen oder Ziehen – Rückenschmerzen plagen Millionen Menschen und führen oft zu starken körperlichen und sozialen Beeinträchtigungen. Verschiedene Studien zeigen, dass täglich zwischen 30 und 40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung darunter leiden. Nach Angaben des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) waren Rückenschmerzen im Jahr 2003 mit einem Anteil von rund 30 Prozent der häufigste Grund für Rehabilitationsmaßnahmen und lagen damit vor bösartigen Tumorerkrankungen, psychischen Störungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit Anteilen von jeweils weniger als 20 Prozent. Hochgerechnet auf alle pflichtversicherten Krankenkassenmitglieder fehlt wegen Rückenschmerzen jeder jährlich im statistischen Durchschnitt zwischen zwei und 3,5 Tagen an seinem Arbeitsplatz. Weit weniger klar als diese volkswirtschaftlichen Aspekte war bisher jedoch der Verlauf dieses von vielen Medizinern mittlerweile als Volkskrankheit bezeichneten Beschwerdebildes. Inzwischen liegen aber auch hierzu erstmals umfassende Daten aus Deutschland vor. Denn mit Unterstützung des Bundesministeriums für Die negative Kraft der Gedanken Dabei spielt ganz offensichtlich die Psyche eine wichtige Rolle, fanden die Greifswalder heraus. Denn zu den klassischen Dauer-Rückenschmerzkandidaten gehören nicht unbedingt Sportmuffel oder Menschen mit körperlich anstrengenden Jobs. Rücken- Stimmt es, dass … harte Matratzen bei Rückenschmerzen besser sind als weiche ? „Nein! Bisher gibt es keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse dafür, dass ein bestimmter Matratzentyp generell Vorteile bringt. Wie bei so vielen Dingen, liegt die Wahrheit vermutlich irgendwo in der Mitte: Eine Matratze sollte weder zu hart noch zu weich sein. Wichtig ist, dass man sich beim Liegen wohl fühlt.“ Dr. Carsten-Oliver Schmidt, Universität Greifswald ! 12 NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen probleme verschlimmern sich vor allem bei jenen mit negativen, furchtsamen Gedanken. „Wer der Meinung ist, er sei ein hoffnungsloser Fall und es würde gar nichts mehr helfen, der wird seine Rückenschmerzen nicht so einfach los werden oder lindern können, wie jemand, der positiv gestimmt und aktiv bleibt“, wissen Kohlmann und sein Kollege Dr. Carsten-Oliver Schmidt. Auch andere Einflussfaktoren, wie Belastungen am Arbeitsplatz, soziales Umfeld, Lebensgewohnheiten und familiäre Situation schloss das Forscherteam in die Rückenschmerz-Erhebung ein. Selbst wenn noch nicht alle Daten ausgewertet sind, so steht schon jetzt fest: Die Ergebnisse liefern wichtige Erkenntnisse, um die Versorgung von Rückenschmerzpatienten weiter zu verbessern – in der Vorbeugung und Behandlung gleichermaßen. Anhand der ermittelten Profile lassen sich leichter jene Patienten herausfiltern, die ein besonders hohes Risiko tragen, schwere Rückenschmerzen zu bekommen. Dies wiederum ermöglicht ein frühzeitiges Gegensteuern – ganz im Sinne von „Vorbeugen ist besser als heilen“. Verteilung von Rückenschmerzen in der Gesamtbevölkerung Rückenschmerzen mit Beeinträchtigungen* Grad III – IV starke Rückenschmerzen ohne Beeinträchtigungen Grad II 10% 7% keine Rückenschmerzen 36% 47 % leichte Rückenschmerzen Grad I *Anmerkung zu den Graden III –IV: Grad III, mittlere Beeinträchtigungen: 6% Grad IV, starke Beeinträchtigungen: 4% Quelle: Professor Thomas Kohlmann/Dr. Carsten-Oliver Schmidt, Universität Greifswald 13 NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen Aktiv gegen Rückenschmerzen „Herr Doktor, ich hab’s im Kreuz.“ Rückenprobleme gehören zu den häufigsten Gründen für einen Besuch beim Hausarzt. Bei unkomplizierten Beschwerden wird er zu mehr körperlicher Aktivität raten, getreu der von der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM) herausgegebenen Leitlinie „Kreuzschmerzen“. Ziel ist es vor allem, unnötige Diagnostik zu vermeiden und den Einsatz unwirksamer oder sogar schadender Therapieformen zu reduzieren. Denn viele dieser Patienten können allein durch Bewegung ihre Probleme so weit lindern, dass die Beschwerden schneller verschwinden und sie auf viele Schmerzmittel oder andere Therapieverfahren, etwa Krankengymnastik, verzichten können. Schwitzen statt schlucken Allerdings ist es erfahrungsgemäß relativ schwierig, Schmerzpatienten zu mehr Bewegung zu motivieren. Denn sie schonen sich häufig lieber, quasi als „natürliche Antwort“ auf die Schmerzen. Mögliche Folge: Ihr Zustand verschlechtert sich weiter. Doch die leitliniengerechte Betreuung von Rückenschmerzpatienten in Hausarztpraxen trägt Früchte. Dieses Ergebnis liefert ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Projekt vom Forschungsverbund Rückenschmerz. Ein Team aus Göttinger und Marburger Wissenschaftlern fand heraus, dass nach der Leitlinie geschulte und arbeitende Ärzte weniger unnötige Massagen, Physiotherapien und Injektionsbehandlungen verordnen. Auch zeigte sich ein Trend, dass eine motivierende Patientenberatung durch entsprechend geschulte Arzthelferinnen dazu beiträgt, eher bewegungsscheuen Betroffenen ein Sportprogramm schmackhaft zu machen. Ausreichende körperliche Bewegung – was heißt das überhaupt? Es gibt zwei Möglichkeiten, körperlich aktiv zu sein – am allerbesten ist eine Kombination aus beiden. Davon profitiert nicht nur der Rücken, sondern auch das Herz-Kreislauf-System. 1. Mehr Bewegung im Alltag Körperliche Aktivitäten mittlerer Intensität beinhalten vor allem Alltagsbewegungen, zum Beispiel bewegungsintensive, anstrengende Tätigkeiten im Haushalt und im Garten, den Weg zur Arbeit zu Fuß oder mit dem Fahrrad sowie körperliche Betätigung am Arbeitsplatz. Empfehlung: mindestens 5x in der Woche insgesamt mindestens 30 Minuten pro Tag* *Es zählen nur Tätigkeiten, die mindestens zehn Minuten am Stück ausgeübt werden. 2. Mehr Bewegung durch Sport Regelmäßige körperliche Aktivität bringt den höchsten gesundheitlichen Nutzen. Dazu gehören Sportarten wie zügiges Radfahren, Jogging, Inline-Skating, Walking, Schwimmen und viele Ballsportarten. Empfehlung: mindestens 3x in der Woche 20 Minuten oder länger Quelle: Patientenbroschüre „Körperliche Aktivität bei Kreuzschmerzen“, entwickelt vom Institut für Medizinische Psychologie, Philipps-Universität Marburg „Welche Sportart das ist, spielt meist eigentlich keine Rolle – Hauptsache, die Patienten werden aktiv“, nimmt Professor Annette Becker von der Uni Marburg gleich all jenen Sportmuffeln den Wind aus den Segeln, die sich mit falschen Ausreden aus der Affäre ziehen wollen. Rückengerechte Bewegung umfasst nämlich weit mehr als nur Wassergymnastik und Walking – und Spaß macht’s obendrein! 14 NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen Bilder und Grafiken können bei der Redaktion MasterMedia als Datei bestellt werden. Kontakt zu den Ansprechpartnern für die vorgestellten Projekte vermittelt ebenfalls die Redaktion. Impressum Herausgeber Redaktion Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Referat Gesundheitsforschung 11055 Berlin www.bmbf.de www.gesundheitsforschung-bmbf.de Projektträger im DLR Gesundheitsforschung Dr. Brigitte Hirner Dr. Rolf Geserick Dr. Martin Goller Heinrich-Konen-Straße 1 53227 Bonn Tel.: 0228 3821-205 Fax: 0228 3821-257 E-Mail: [email protected] Gestaltung MasterMedia, Hamburg Druck Dürmeyer – Digitale Medien und Druck, Hamburg Bildnachweis Titel: DAK/Wigger S. 6: Arbeitsgruppe Prof. Niels Birbaumer, Universität Tübingen S. 11: Priv.-Doz. Dr. Arne May alle anderen Bilder: BMBF MasterMedia Jutta Heinze Bodelschwinghstraße 17 22337 Hamburg Tel.: 040 507113-55 Fax: 040 591845 E-Mail: [email protected] 15