sinnlose Schmerzen - Gesundheitsforschung

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sinnlose Schmerzen - Gesundheitsforschung
JUNI 2006
Newsletter
Thema Schmerzforschung
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
INHALT
Dem Schmerz den Schrecken nehmen
2
Zu spät zum Spezialisten
3
Neuropathien: sinnlose Schmerzen
4
Mit Fingerspitzengefühl das Schmerzgedächtnis umprogrammieren
5
Fehlsteuerung des Nervensystems –
Kopfschmerzen und Migräne
7
Migränetherapie: Integrierte
Versorgung als Chance
Interview mit Professor Dr. Hans Christoph Diener
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Spannungskopfschmerzen
verändern das Gehirn
11
Rückenschmerzen: Wenn die Psyche
auf den Rücken schlägt
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Aktiv gegen Rückenschmerzen
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NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Dem Schmerz den Schrecken nehmen
„Es ist göttlich, den Schmerz zu lindern“ – das
erkannte schon der wohl bedeutendste Arzt des alten
Roms, Galenus von Pergamon (129–199 n. Chr.). Mit einer
Skala, in der er die Wirkstärke verschiedener schmerzlindernder Substanzen, wie Efeu, Senf und Myrrhe, vermerkte, legte der kaiserliche Hofarzt den Grundstein für
Behandlungsrichtlinien bei verschiedenen Schmerzen.
Heutzutage stehen weitaus wirksamere Möglichkeiten
zur Verfügung. Von den modernen Diagnose- und
Therapieverfahren profitieren Millionen Betroffene mit
chronischen Schmerzen. In Deutschland leiden fünf bis
acht Millionen Erwachsene an behandlungsbedürftigen Dauerschmerzen. Bei schätzungsweise einem
Zehntel davon hat sich das Leiden zur eigenständigen
Schmerzkrankheit verselbstständigt, bei der die Schmerzen unabhängig von den sie ursprünglich auslösenden
Faktoren weiter bestehen und bei der oft nur spezielle
Schmerztherapeuten weiterhelfen können.
Expertenwissen besser nutzen
Dauerschmerzen sind jedoch kein unabwendbares
Schicksal. Denn vielen Patienten lässt sich wirkungsvoll
helfen – mit einer Überweisung in eine der rund 800
schmerztherapeutischen Einrichtungen. Doch bis dahin
ist es meist ein jahrelanger und oft sehr qualvoller Weg.
„Viele Schmerzpatienten kommen zu spät in spezialisierte Kliniken, Praxen oder Ambulanzen. Sie haben
daher bereits eine Reihe nicht selten unnötiger Untersuchungen und erfolgloser Therapieversuche hinter
sich“, erläutert Dr. Erika Schulte von der Arbeitsgruppe
„Versorgungsforschung chronische Schmerzen“ der
Berliner Charité. Die meisten Patienten mit chronischen
Schmerzen sind bei Allgemeinmedizinern, Internisten,
Neurologen oder Orthopäden in Behandlung und dort
auch in guten Händen. Bei komplizierten Fällen sollte
aber ein ausgewiesener Schmerzexperte in die Therapie
einbezogen werden.
Keine Chance dem Schmerzgedächtnis
Kopf-, Rücken- und Nervenschmerzen gehören zusammen mit Tumorschmerzen zu den häufigsten chronischen Schmerzformen. Darunter verstehen Experten
Schmerzzustände, die mindestens drei bis sechs Monate
bestehen und die Patienten physisch, psychisch und
sozial einschränken. Damit beginnt ein wahrer Teufelskreis. Die durch Schmerzen oftmals eingeschränkte
Beweglichkeit verhindert unter anderem Berufstätigkeit und Freizeitaktivitäten. Die somit immer seltener
werdenden Außenkontakte drücken auf die ohnehin
schon angespannte Stimmung, münden schlimmstenfalls in psychischen Problemen – die Betroffenen igeln
sich daraufhin noch mehr ein.
Wer immer wieder Schmerzen hat, läuft Gefahr, dass
das Nervensystem diesen Zustand quasi abspeichert
und erlernt. Starke, wiederholte Schmerzreize können
die verarbeitenden Nervenzellen im Rückenmark und
Gehirn so überempfindlich machen, dass sie schließlich
auch aufgrund harmloser Auslöser, zum Beispiel Berührungen, Schmerzen signalisieren – der Beginn oft
jahrelanger chronischer Schmerzen. Schmerzen sollte
daher möglichst frühzeitig ein Riegel vorgeschoben
werden.
Den Schmerzen auf der Spur
– mit Hilfe des BMBF
Chronische Schmerzzustände gehören zu den
belastendsten Krankheiten. Kenntnisse der
zugrunde liegenden Mechanismen sind eine
Voraussetzung, um durch frühzeitiges Eingreifen eine Chronifizierung zu verhindern,
und um Behandlungsstrategien zu optimieren.
Doch noch immer wissen Wissenschaftler zu
wenig über die Entstehung chronischer
Schmerzen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert daher seit
2002 bis 2008 Forschungsverbünde zu chronischen Schmerzen mit insgesamt 13,7 Millionen
Euro. In der ersten Förderphase bis Ende 2005
ging mehr als die Hälfte der Summe an drei
Forschungsverbünde: Deutscher Forschungsverbund Neuropathischer Schmerz (Nervenschmerzen), Deutsches Kopfschmerz-Konsortium und Deutscher Rückenschmerz-Forschungsverbund. Darüber hinaus beschäftigen
sich der Kognitionsforschungsverbund
„Schmerzwahrnehmung“ sowie weitere
Einzelprojekte anderer Förderschwerpunkte
mit dem Thema Schmerz.
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NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Zu spät zum Spezialisten
Wer unter chronischen Schmerzen leidet, nutzt häufig zu spät die
Hilfe von speziellen schmerztherapeutischen Einrichtungen. Zu diesem
Schluss kommt eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung
(BMBF) geförderte Untersuchung
unter der Federführung von Dr. Erika
Schulte von der Charité in Berlin.
Durchschnittlich dauert es bei Kopfschmerzpatienten 18 Jahre, bei Patienten mit Rückenschmerzen zehn
Jahre und bei Patienten mit neuropathischen Schmerzen – also Nervenschmerzen wie Neuralgien – rund ein
Jahr, bis sie sich Rat in einer Spezialpraxis holen oder dorthin überwiesen werden. Viel zu lange, denn je
früher eine Schmerztherapie ansetzt,
desto besser ist in der Regel das Behandlungsergebnis, das die Teams aus speziell ausgebildeten Fachärzten und Psychologen erzielen. Nach
sechsmonatiger Behandlung geht es vielen Patienten
besser. Knapp zwei Drittel der in einer solchen Einrichtung Behandelten äußern sich zufrieden – so ein weiteres Ergebnis der Studie, die sich intensiv mit den Versorgungswegen chronischer Schmerzpatienten befasst.
Wissen hilft heilen
Doch den Weg in eine der über 800 speziellen Schmerzeinrichtungen zu finden, ist offensichtlich nicht so einfach. „Nur gut die Hälfte der Schmerzgeplagten kommt
Stimmt es, dass ...
Frauen schmerzempfindlicher
sind als Männer?
?
„Dafür spricht viel. Männer haben eine höhere
Schmerzgrenze und äußern Schmerz später.
Allerdings scheint die Art des Schmerzreizes
dabei eine Rolle zu spielen. Übrigens: Bei den
Tests zur Schmerzempfindlichkeit gab sich das
„starke Geschlecht“ in Gegenwart von weiblichem Untersuchungspersonal deutlich tapferer als gegenüber männlichen Betreuern ...“
Dr. Erika Schulte, Anästhesistin und
Schmerztherapeutin aus Berlin
auf ärztlichen Rat in solch eine Einrichtung, die anderen überwiegend durch Tipps von Freunden oder
Bekannten“, bedauert Schulte. Herkömmliche Auskunftssysteme spielen kaum eine Rolle dabei, ebenso
wie Selbsthilfegruppen oder die Deutsche Schmerzliga.
Der Austausch mit Leidensgenossen kann die klassische
schmerztherapeutische Behandlung erfahrungsgemäß
wirkungsvoll unterstützen. Kranke, die sich aktiv mit
ihrem Problem auseinandersetzen statt sich zu verkriechen, sind psychisch meist stabiler. Und das wiederum ist eine gute Voraussetzung, um bei der Behandlung am Ball zu bleiben. Schließlich stellt sich der Erfolg
einer professionell gesteuerten Schmerztherapie nicht
von heute auf morgen ein und erfordert auch ein wenig
Disziplin, zum Beispiel beim Führen eines „Schmerztagebuches“, in dem die Patienten regelmäßig ihre
Schmerzen notieren und bewerten. Anhand dieser
Daten kann der Schmerztherapeut dann die Behandlung ausrichten.
Informationen und Hilfe für Schmerzpatienten
!
Kontakt zu Selbsthilfegruppen, Adressliste von
Schmerztherapeuten, telefonische Arztberatung
und vieles mehr.
Deutsche Schmerzliga e.V., Adenauerallee 18,
61440 Oberursel
Tel.: 0700 375 375 375, E-Mail: [email protected],
www.schmerzliga.de
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NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Neuropathien: sinnlose Schmerzen
Das ist er wieder – dieser brennende, reißende
Schmerz, der ihren gesamten rechten Brustkorb
erfasst. Seit einer Gürtelrose vor drei Monaten gehören
Schmerzattacken zum Alltag von Frau Anika S. Auch
leichteste Berührungen der rechten Seite ihres Oberkörpers sind äußerst schmerzhaft, an manchen Tagen
erträgt sie kaum die Kleidung auf ihrer Haut. Die
gesteigerte Berührungsempfindlichkeit zählt neben
plötzlich auftretendem Taubheitsgefühl, anhaltenden
Ruheschmerzen und der schmerzhaften Reaktion auf
harmlose Temperaturreize zu den typischen Symptomen neuropathischer Schmerzen. Sie entstehen, wenn
Nerven geschädigt wurden, zum Beispiel als Folge eines Diabetes, durch einen Unfall oder eine Amputation.
60 Prozent aller Menschen, denen ein Körperteil ampu-
tiert wurde, leiden unter Phantomschmerzen. Aber
auch nach einem Schlaganfall oder einer Gürtelrose,
bei der die Erreger der Windpocken, die VaricellaZoster-Viren, bestimmte Bereiche von Nervenzellen
im Rückenmark befallen, können die peinigenden
Nervenschmerzen entstehen.
Häufig nicht erkannt
Eine Untersuchung aus den USA ergab, dass sich nur
30 Prozent der Neurologen zutrauen, neuropathische
Schmerzen überhaupt sicher zu diagnostizieren. Viele
Patienten durchlaufen daher eine Odyssee, bevor sie in
die richtigen Hände gelangen. In Deutschland leiden
ca. 20 Prozent aller Schmerzpatienten, die eine Spezialeinrichtung für Schmerztherapie aufsuchen, an nicht
ausreichend behandelten neuropathischen Schmerzen.
Die Mechanismen, die die Betroffenen hitze-, kälteoder berührungsempfindlich werden lassen, sind entweder gar nicht oder nur ansatzweise verstanden.
„Dabei ist es sehr wichtig zu wissen, welche Mechanismen bei den Patienten Schmerzen hervorrufen“, so
Professor Thomas R. Tölle von der Technischen Universität München. „Denn trotz gleicher Symptome können
im Körper ganz unterschiedliche Vorgänge stattfinden,
die auch mit unterschiedlichen Medikamenten behandelt werden müssen. Diese neue Idee wird in der Fachwelt als Mechanismen-orientierte Therapie bezeichnet.“ Tölle ist zusammen mit Professor Ralf Baron von
der Neurologischen Klinik der Universität Kiel Sprecher
des Deutschen Forschungsverbundes Neuropathischer
Schmerz (DFNS). Der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierte Forschungsverbund ist 2002 mit dem Ziel angetreten, die grundlegenden Mechanismen neuropathischer Schmerzen zu
erforschen und entsprechend dem Leitgedanken der
Mechanismen-orientierten Therapie zügig in Ergebnisse umzusetzen, die den Patienten zugute kommen.
Heiße Chilischoten und kühles Menthol
Der Schmerz, den wir empfinden, wenn wir auf eine
heiße Herdplatte fassen oder etwas Eiskaltes berühren,
wird über dünne Nervenfasern, die C-Fasern vermittelt.
Außerdem wissen Wissenschaftler bereits, dass beim
Kälteempfinden auch dicke, so genannte A-Fasern aktiv
sind. Aus tierexperimentellen Untersuchungen ist
bekannt, dass A- und C-Fasern Messfühler haben (Rezeptoren), die nicht nur durch Hitze und Kälte erregt werden, sondern auch durch einen Extrakt aus der Chilischote (Capsaicin) und durch Menthol. Das kühle, erfri-
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NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung
schende Gefühl, wenn man ein Mentholbonbon lutscht
und das scharfe Brennen nach dem Biss auf ein Stück
Chili lassen sich so erklären. Professor Ralf Baron und
seine Kieler Arbeitsgruppe nutzen diese Phänomene,
um die Mechanismen aufzuklären, die sich hinter der
gesteigerten Temperatur- und Berührungsempfindlichkeit bei Personen mit neuropathischen Schmerzen verbergen. „Das Besondere an unserem Projekt ist, dass wir
die Erkenntnisse aus tierexperimentellen Studien unmittelbar in die klinische Schmerzforschung beim Menschen übertragen“, sagt Baron. Hierzu haben die Forscher ein Testmodell mit gesunden Probanden entwickelt.
Die Ergebnisse sind beeindruckend: Spontan brennende
Schmerzen, Kälte- oder Hitzegefühle und eine gesteigerte Berührungsempfindlichkeit – Menthol und Capsaicin riefen genau die Symptome hervor, unter denen
Patienten mit neuropathischen Schmerzen leiden. „Als
nächstes möchten wir diese Untersuchung bei Schmerzpatienten durchführen, um herauszufinden, welche
Mechanismen bei ihnen aktiviert sind“, erklärt Baron.
Kleine Stiche, große Schmerzen
Auch Professor Christoph Maier von der Ruhr-Universität Bochum arbeitet an den Mechanismen neuropathischer Schmerzen. Er ist Leiter einer klinischen Studie, die von allen
Teilnehmern im
Netzwerk durchgeführt wird und
widmet sich dabei
einem seltenen
Symptom: der
mechanischen
Hyperalgesie.
Schon einfache
Berührungsreize,
zum Beispiel das
Pieksen mit einer
Nadel, lösen bei
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Stimmt es, dass …
Pusten den Schmerz vertreibt?
?
„Ja, und zwar mit Hilfe eines Tricks, den man gern bei
Kindern nutzt, wenn sie sich wehgetan haben. Denn
durch das Pusten erfährt das Kind eine Zuwendung und
die Aufmerksamkeit wird vom Schmerz weggenommen. Durch diese Aufmerksamkeitsverschiebung kann
es zu einer Schmerzlinderung kommen, die jedoch nur
über die subjektive Wahrnehmung entsteht. Das Pusten
kann man aber auch als Gegenirritation betrachten, die
ebenfalls vom Schmerz ablenkt. Ganz anders bei Nervenschmerzen (neuropathischen Schmerzen): Hier liegt
eine Störung des Nervensystems vor, die dazu führen
kann, dass Pusten genau die gegenteilige
Wirkung zeigt.“
Anja Schwarz, Psychologin an der Universität Tübingen
!
Patienten mit diesem Symptom äußerst starke Schmerzen aus. In getrennten Studien untersuchen alle Arbeitsgruppen aus dem Forschungsverbund in einem weltweit einmaligen Multicenter-Projekt die Wirkung verschiedener Medikamente, etwa ob sie die Berührungsempfindlichkeit der Patienten senken oder den Ruheschmerz lindern. Die Studienteilnehmer erhalten entweder ein Placebo oder das jeweilige Medikament.
Dabei können sie jederzeit, zum Beispiel sobald ihre
Schmerzen zunehmen, aus der Studie aussteigen.
„Wenn die Abbruchrate in der Placebo-Gruppe am
größten wäre, hätte man einen weiteren Beleg dafür,
dass das getestete Medikament wirksamer ist als das
Placebo“, erklärt Maier. Da die Medikamente alle an
unterschiedlichen Stellen im schmerzverarbeitendem
System angreifen, hofft Maier aus den Ergebnissen
ableiten zu können, welche Mechanismen bei den
Patienten mit mechanischer Hyperalgesie aktiv sind
und ob diese sich eventuell je nach der im Einzelfall
vorliegenden Grunderkrankung unterscheiden.
Mit Fingerspitzengefühl das Schmerzgedächtnis umprogrammieren
Neue Hoffnung für Patienten mit Nervenschmerzen
(Neuropathien): Die normalerweise nur schwer zu
behandelnden Schmerzen lassen sich offensichtlich
durch ein spezielles Training deutlich mindern – und
zwar mit viel Gefühl! Denn hinter dem vom Deutschen
Forschungsverbund Neuropathischer Schmerz (DFNS)
entwickelten sensorischen Diskriminationstraining
(SDT) verbergen sich tägliche Übungen mit einem
„Fühlbrett“, das aussieht wie ein mit kleinen Kügelchen
bestücktes Schachbrett. Ähnlich wie bei der Blindenschrift lassen sich diese zu bestimmten Mustern, zum
Beispiel Pfeilen, Dreiecken oder Punkten, angeordneten,
rund ein Millimeter großen Kügelchen blind ertasten.
In enger Kooperation zwischen den Universitäten
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NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung
Tübingen und Heidelberg gelangen mit Hilfe eines
solchen Fühltrainings erstaunliche Fortschritte bei
Patienten mit einem so genannten komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS) an der Hand. Dank des
täglichen, zwei Wochen dauernden Tastprogramms
gewöhnten sie sich daran, die Hand in Verbindung mit
einem nicht schmerzhaften Reiz zu benutzen und
dadurch auch die Beweglichkeit zu erhöhen. „Diese
spielerische Auseinandersetzung mit den Figuren
stärkt wiederum das sensorische Wahrnehmungssystem, führt zu Veränderungen im Schmerzgedächtnis und reduziert dadurch die Schmerzen“, erläutert
Professor Niels Birbaumer, der Projektleiter des
Tübinger Teams.
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
sern, etwa einer Gürtelrose, zusammenhängen, sondern vielmehr mit Lernprozessen. Diese Prozesse führen
zu Veränderungen im zentralen Nervensystem, insbesondere im Gehirn – hinterlassen also Spuren im Schmerzgedächtnis, die sich mit speziellen bildgebenden Untersuchungsmethoden sogar sichtbar machen lassen. „Solche
Spuren wieder zu löschen, ist schwierig, denn mit dem
Bewusstsein kommt man nicht an sie heran“, so Professor Herta Flor von der Universität Heidelberg und
dem Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, die bereits ein ähnliches Training erfolgreich bei
amputierten Patienten mit Phantomschmerzen eingesetzt hat. Die Arbeitsgruppe von Birbaumer hat mit
dem Tasttraining einen Weg gefunden, bei CRPS-Patienten das Gehirn quasi umzuprogrammieren und die
alten Schmerzspuren dadurch auszuradieren. Erste
Befunde der vom Bundesministerium für Bildung und
Forschung (BMBF) unterstützten Therapiestudie zeigen,
dass sich die Schmerzen und auch die Beweglichkeit
von Daumen und Zeigefinger deutlich verbessern lassen.
Das Gehirn verändert sich
Beweise für damit im Zusammenhang stehende Gehirnveränderungen liefern Kernspintomographie und eine
spezielle Aktivitätsmessung, die so genannte Magnetoenzephalographie (kurz MEG). Beide Verfahren eignen
sich zur Erfolgskontrolle der Studie, die derzeit auf
deutlich mehr Patienten ausgeweitet wird. Aber auch
jenseits des Schmerzes sehen die beiden Forscher erfolgreiche Einsatzmöglichkeiten des sensorischen Diskriminationstrainings, zum Beispiel beim Tinnitus.
Alte Reize gegen neue austauschen
Neuere Untersuchungen zeigen, dass chronische Nervenschmerzen oft kaum mehr mit den eigentlichen Auslö-
Was sind eigentlich Phantomschmerzen?
Phantomschmerzen treten nach der Durchtrennung von Nerven auf, zum Beispiel durch eine Amputation. Hier
schmerzt ein Glied, das nicht mehr vorhanden oder gelähmt ist: ein amputierter Arm, eine abgenommene Brust
oder der gelähmte Körperteil nach einer Querschnittlähmung. Nervenimpulse aus dem amputierten Körperteil
kommen jetzt nicht mehr im Gehirn an. Die Folge: Die von diesem Nerv versorgte Gehirnregion hat ihren ursprünglichen „Lieferanten“ verloren. Neben eventuell verbleibenden Impulsen aus dem Rest des durchtrennten Nervs,
nimmt sie nun vermehrt Nervenimpulse aus benachbarten Arealen auf. Da bestimmten Regionen im Gehirn aber
ganz bestimmte Körperpartien zugeordnet sind, kann Nervenaktivität in dem Teil des Gehirns, der früher mit dem
amputierten Körperteil verbunden war, zu Schmerzen im nicht mehr vorhandenen Glied und somit zu Phantomschmerzen führen.
Quelle: Professor Herta Flor, Neurowissenschaftlerin an der Universität Heidelberg, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
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NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Fehlsteuerung des Nervensystems –
Kopfschmerzen und Migräne
Jeder dritten Frau und jedem
fünften Mann in Deutschland
brummt mindestens einmal
wöchentlich der Kopf. Laut der
Deutschen Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft (DMKG)
plagen die Betroffenen überwiegend so genannte Spannungskopfschmerzen, in der Häufigkeit gefolgt von Migräne und
Kopfweh durch übermäßigen
Schmerzmittelgebrauch
(vgl. Kasten).
Den klaren Daten stehen jedoch
noch viele Fragen gegenüber.
Denn noch immer suchen Wissenschaftler weltweit nach den
Ursachen der quälenden Pein.
Unter anderem auch in Deutschland, wo sich gleich mehrere
Projekte des Deutschen Kopfschmerz-Konsortiums mit der Entstehung primärer
Kopfschmerzen befassen – also Schmerzen, denen keine
andere Erkrankung zugrunde liegt. „Wir gehen mittlerweile davon aus, dass Migräne und Spannungskopf-
schmerzen auf einer Fehlsteuerung des schmerzerzeugenden Nervensystems im Kopf beruhen“, erklärt Professor Karl Messlinger von der Universität ErlangenNürnberg.
Kopfschmerz ist nicht gleich Kopfschmerz
Spannungskopfschmerz
Drückender, ziehender, beidseitiger Schmerz von leichter bis mittlerer Intensität, der sich durch körperliche
Aktivitäten nicht verstärkt. Gelegentlich Übelkeit, Geräusch- und Lichtempfindlichkeit, meist schwächer
ausgeprägt als bei Migräne.
Migräne
Pochender, pulsierender, überwiegend einseitiger Schmerz von mittlerer bis hoher Intensität, der sich bei
körperlicher Aktivität verstärkt. Häufig Übelkeit und Erbrechen, starke Geräusch- und Lichtempfindlichkeit.
Bei rund 15 Prozent der Migränepatienten geht den Anfällen eine so genannte Aura voraus – neurologische
Ausfallerscheinungen wie Seh- und Sprachstörungen oder Schwindel.
Medikamentenkopfschmerz
Diffuser, dumpf drückender oder pulsierender Dauerkopfschmerz, zum Teil mit attackenartigen Verstärkungen
aufgrund (fast) täglicher Einnahme von Schmerz- und Migränemitteln. Entsteht nur bei Patienten, die bereits
unter Migräne oder Spannungskopfschmerz leiden. Übermäßiger Schmerzmittelgebrauch aufgrund anderer
Beschwerden löst keinen Medikamentenkopfschmerz aus!
Quelle: Deutsche Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft (DMKG), Pressemitteilung 2006 / Deutsches Kopfschmerz-Konsortium
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NEWSLETTER THEMA Schmerzforschung
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Chemisches Chaos im Kopf
Dabei spielen offenbar chemische
Botenstoffe (Mediatoren) eine wichtige Rolle, und zwar ein Eiweißstoff
mit der Abkürzung CGRP, Stickstoffmonoxid (NO) und vielleicht auch
Histamin, das in anderen Geweben
bei allergischen und entzündlichen
Prozessen freigesetzt wird. Diese
Mediatoren erweitern allesamt die
Blutgefäße und verstärken den Blutfluss in den Hirnhäuten. CGRP und
NO scheinen bei der Übertragung
der schmerzerzeugenden Information im Hirnstamm ebenfalls mitzuwirken. Denn die Botenstoffe lassen
sich manchmal auch während einer
Migräneattacke besonders reichlich
im Blut der Betroffenen nachweisen,
weil sie offensichtlich während des
Anfalls vermehrt ausgeschüttet werden. Im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützten tierexperimentellen Projektes ging Messlinger daher unter anderem diesem chemischen Trio einmal genauer nach. Er
kam dabei einem hochkomplizierten, kaskadenartigen
Kopfschmerzen:
Zahlen & Fakten
• Rund drei bis fünf Prozent der deutschen
Bevölkerung leiden an täglichen chronischen
Kopfschmerzen, 30 bis 50 Prozent davon
aufgrund eines unsachgemäßen Schmerzmittelgebrauchs.
• 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung hat episodische (phasenweise auftretende) Spannungskopfschmerzen.
• Etwa zwölf bis 14 Prozent aller Frauen und
sechs bis acht Prozent aller Männer haben
hierzulande Migräne.
• Jedes zweite Kind zwischen sieben und
14 Jahren klagt über Spannungskopfschmerzen.
• Zirka 7,5 Prozent der Kinder sind von Migräne
betroffen.
Zusammenspiel auf die Spur, das die schmerzerzeugenden Nervenfasern in der harten Hirnhaut so reizen
kann, dass daraus Kopfschmerzen entstehen könnten.
Den Boten das Ziel rauben
Was läge daher näher, als im Kampf gegen Kopfschmerzen genau diese Kaskade zu unterbrechen?
„Hierfür könnte man Rezeptorhemmstoffe einsetzen,
also Substanzen, die verhindern, dass die Botenstoffe ihr
Ziel erreichen“, erläutert Messlinger den Bezug zur
Praxis. Ganz so einfach ist das allerdings nicht, denn die
Mediatoren erfüllen im Körper meist mehrere Aufgaben gleichzeitig. Würde man zum Beispiel zur Kopfschmerzbehandlung die Wirkung von Stickstoffmonoxid hemmen, hätte dies einen heftigen Blutdruckanstieg zur Folge. Vielversprechender scheint zu sein, die
Wirkungen des Eiweißstoffes CGRP zu hemmen. Hierzu
wurden bereits erste experimentelle und klinische
Studien durchgeführt.
Quellen: Deutsche Migräne- und KopfschmerzGesellschaft (DMKG), Universität Göttingen
(Professor Birgit Kröner-Herwig), Universität Essen
(Professor Hans Christoph Diener/Dr. Zaza Katsarava)
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Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Kopfschmerzrisiken erkennen
In den Hausarztpraxen spielen Kopfschmerzen – nach Erkältungen und Rückenschmerzen – die
drittwichtigste Rolle. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt gleich
mehrere Studien des Deutschen Kopfschmerz-Konsortiums zu chronischen Kopfschmerzen.
Risikoprofil erkennen –
Chronifizierung vermeiden
Interessante Ergebnisse dazu gibt es bereits:
Datenerhebungen der Universität Essen unter der
Leitung von Dr. Zaza Katsarava beschäftigten sich
mit typischen Risikoprofilen, um so künftig
gefährdete Personen rechtzeitig in einer entsprechenden Schmerzeinrichtung behandeln
zu können. Der Neurologe fand unter anderem
heraus, dass vor allem ein übermäßiger Einsatz
von Schmerzmitteln häufige Kopfschmerzen bei
Erwachsenen chronisch werden lässt – mit einem
20fach erhöhten Risiko! Es zeigte sich, dass Patienten, die pro Monat an rund zehn bis 15 Tagen
Kopfschmerzen haben und dann immer Schmerzmittel einnehmen, sehr große Gefahr laufen, in
der nahen Zukunft täglich Kopfschmerzen zu
entwickeln. Gerade diese Patienten sollten daher
rechtzeitig einen Neurologen aufsuchen, um eine
vorbeugende Therapie einleiten zu können und
dadurch die Kopfschmerzfrequenz zu senken.
Psychosoziale Risikofaktoren
bei Kindern
Über chronische Kopfschmerzen klagen nicht nur
Erwachsene, sondern auch Kinder. Am schlimmsten
trifft es 13- bis 14-jährige Mädchen, bei denen ein
besonders hoher Prozentsatz (13 Prozent) an
wöchentlichem Kopfweh leidet. Die Gefahr, dass
sich daraus chronische Kopfschmerzen entwickeln,
ist laut Professor Birgit Kröner-Herwig von der Universität Göttingen sehr hoch. Die Psychologin und
ihr Team liefern aber weit mehr als aktuelle Zahlen
zum Kinderkopfschmerz. Denn die Forscher schauten auch auf mögliche psychosoziale Risikofaktoren.
Ergebnis: Zu den begünstigenden Schmerzfaktoren
gehören Schulstress, häufiger Streit in der Familie,
häufiges Fernsehen und kritische Lebensereignisse.
Die finanzielle Lage spielt keine Rolle, wohl aber
der Familienstatus. Kinder, die mit einem allein
erziehenden Elternteil zusammenleben, bekommen laut Kröner-Herwig häufiger Kopfschmerzen
als die Sprösslinge klassischer Familienkonstellationen. Aufgrund der Ergebnisse entwickelten die Göttinger ein psychologisches Behandlungsprogramm
für Kinder mit immer wiederkehrenden belastenden
Kopfschmerzen als wirksame Alternative zur medikamentösen Therapie.
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Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Migränetherapie: Integrierte
Versorgung als Chance
Interview mit Professor Dr. Hans Christoph Diener, Verbundssprecher Deutsches Kopfschmerz-Konsortium
Wie sieht die moderne
Migränetherapie aus und
wie gut wirkt sie?
Gleich vorweg: Die meisten Migränepatienten lassen sich gut behandeln. Die Behandlung selbst steht
auf zwei Säulen. Zum einen geht es
um die Therapie akuter Migräneattacken, zum anderen um
Maßnahmen und Medikamente
zur Vorbeugung. Im akuten Fall
bringen bei Patienten mit leichten bis mittelschweren
Migränekopfschmerzen meist die klassischen schmerzlindernden Substanzen, wie ASS, Paracetamol und Ibuprofen, Besserung. Zuvor empfiehlt sich die Einnahme
eines Präparates gegen Übelkeit, das die Aufnahme der
Schmerzmittel verbessert. In schwereren Fällen kommen überwiegend die so genannten Triptane zum Einsatz, sehr moderne und wirksame Substanzen, die aber
einen großen Nachteil haben: Sie sind recht teuer und
werden daher nicht so oft verordnet, wie es den Patienten gut täte.
Was bringt die so genannte Migräneprophylaxe?
Die Migräneprophylaxe besteht aus drei Bereichen:
Medikamenten, Verhaltenstherapie und Sport. So gibt
es verschiedene gut wirksame Medikamente, zum Beispiel einige Betablocker, die bei Patienten mit häufigeren oder besonders schwer behandelbaren Migräneanfällen in Frage
kommen. Gute
„Die Migräneprophylaxe
Erfolge bringt
besteht aus drei Bereichen: auch die VerhalMedikamenten, Verhaltens- tenstherapie mit
einer Kombinatitherapie und Sport.“
on aus Entspannungstechniken
(Progressive Muskelentspannung nach Jacobsen), Stressabbautraining und Schmerzbewältigungstechniken.
Sport, speziell Ausdauersportarten, wie Joggen oder
Walking, zeigt ebenfalls günstige Effekte. Ob Medikamente, Verhaltenstraining oder Ausdauersport – jeder
dieser vorbeugenden Behandlungsansätze lindert bei
rund 50 Prozent der Migräniker das Leiden um die Hälfte. Bei einer Kombination dieser Verfahren liegt die
Erfolgsrate höher.
Welchen Stellenwert hat die
Akupunktur bei Migräne?
Im akuten Migräneanfall hat die Akupunktur keine
Bedeutung, in der Prophylaxe hilft sie jedoch genauso
gut wie Medikamente. Allerdings ist Akupunktur zur
Migränevorbeugung keine gesetzliche Kassenleistung,
muss also von den meisten Patienten selbst bezahlt werden.
Welche anderen Möglichkeiten
gibt es für Migränepatienten?
Einige Krankenkassen bieten für Patienten mit Migräne
und chronischen Kopfschmerzen die so genannte
„Integrierte Versorgung“ an. Dahinter steckt eine
Vernetzung der einzelnen medizinischen Versorgungsbereiche. Niedergelassene Haus- und Fachärzte bieten
zusammen mit stationären
Einrichtungen und ande„Speziell schwierig
ren Therapeuten eine Verbehandelbare Migränesorgung „aus einer Hand“
und mit einem gemeinsapatienten profitieren
men Ziel. Von den dem
davon.“
Modell zugrunde liegenden hohen Qualitätsstandards profitieren speziell schwierig behandelbare
Migränepatienten. Gerade für sie bringt die „Integrierte Versorgung“ einen echten Fortschritt, der früher
aus Kostengründen nicht möglich war. Wer sich für
dieses Modell interessiert, sollte einfach mal bei seiner
Krankenkasse nachfragen.
Liefert die Grundlagenforschung
neue Ansatzpunkte für Therapien?
Die Grundlagenforschung erarbeitet in Tierexperimenten die Mechanismen der chronischen Kopfschmerzentstehung. Diese Erkenntnisse helfen bei der Entwicklung
neuer Behandlungsmethoden. Ein anderer Teil der
Grundlagenforschung beschäftigt sich mit der Frage,
auf welche Weise Kopfschmerzen vererbt werden. Wir
hoffen, dass es dadurch in Zukunft möglich wird, mithilfe von Gentests herauszufinden, welche Behandlung
bei den jeweiligen Patienten den größten Erfolg verspricht.
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Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Spannungskopfschmerzen
verändern das Gehirn
Einen gelegentlichen Brummschädel bei Wetterwechsel oder nach ein paar Gläsern zu viel kennt
wohl fast jeder. Nach ein paar Stunden gibt der Kopf
dann meist wieder Ruhe. Anders geht es Menschen, die
an chronischen Spannungskopfschmerzen leiden.
Laut Definition der Deutschen Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft (DMKG) quälen sie sich an mindestens 15 Tagen pro Monat mit leichten bis mäßigen,
drückend-ziehenden Kopfschmerzen – schlimmstenfalls sogar täglich. Schätzungsweise drei Prozent der
Bevölkerung sind davon betroffen. „Im Gegensatz zum
Katerkopfschmerz nach Alkoholgenuss oder selbst
einer Migräne lässt sich diese Kopfschmerzform nur
sehr schwer behandeln“, erklärt Dr. Arne May vom Institut für Neurowissenschaften der Universitätsklinik
Hamburg-Eppendorf die eingeschränkte Lebensqualität und das Leid der Betroffenen.
Verspannungen machen keinen
Spannungskopfschmerz
Auf der Suche nach wirksamen Therapien beschäftigt
das Phänomen Spannungskopfschmerz die Wissenschaftler daher intensiv. Unter anderem auch den Neurologen May, der – unterstützt vom Bundesministerium
für Bildung und Forschung (BMBF) – der Frage nach-
Knubbel im Kopf
Nicht nur bestimmte Schmerzarten gehen mit veränderten Gehirnstrukturen einher, sondern auch
bestimmte Fähigkeiten. Am Beispiel junger Jongleure
konnte der Neurologe Dr. Arne May von der Hamburger Uniklinik kürzlich erstmals nachweisen, dass
besonderes Training spezielle Hirngebiete wachsen
lässt. Bei den Ballakrobaten bildeten sich nach dreimonatigen Übungen mit drei Bällen kleine Knubbel
in jenen Bereichen, die für das Wiedererkennen von
Bewegungen im Raum und von Raumpositionen
verantwortlich sind. Die talentiertesten Kandidaten
wiesen dabei die deutlichsten Veränderungen auf.
Ohne Training verfliegt der „Jongliereffekt“, der uns
übrigens auch beim Auffangen herunterfallender
Gegenstände hilft, leider schnell wieder – die Knubbel
schrumpfen.
Bildgebende Verfahren wie die Kernspintomographie
(MRT) können den Verlust grauer Hirnsubstanz bei
betroffenen Patienten in verschiedenen Hirnregionen
deutlich machen (gelb dargestellt).
ging, ob chronischer Kopfschmerz das Gehirn verändert. Dazu analysierte er mit einem speziellen Verfahren die Kernspintomographie-Aufnahmen von Patienten mit chronischen Spannungskopfschmerzen, von
Patienten mit Schmerzmittelkopfschmerzen oder
Migräne und von Gesunden. May entdeckte Gehirnveränderungen bei Patienten mit chronischen Spannungskopfschmerzen, und zwar nur in für die Schmerzverarbeitung zuständigen Gebieten, der so genannten
Schmerzmatrix. Dort fand er bei den Spannungskopfschmerzlern weniger „graue Substanz“, also letztlich
weniger Nervenzellen, als bei Migränepatienten und
Gesunden. Ein eindeutiger Beweis, dass das Gehirn
selbst diese Kopfschmerzform verursacht, und nicht
etwa Muskelverspannungen, wie bisher immer angenommen,“ erklärt der Spezialist für bildgebende Verfahren.
Was aber war zuerst, der Kopfschmerz oder die Hirnveränderungen? Eine Antwort kennen die Wissenschaftler
noch nicht. Aber zumindest einen Hinweis gibt es, dass
die Schmerzen die Abweichungen hervorrufen und
nicht umgekehrt. Denn je länger der Schmerz bestand,
um so weniger graue Substanz befand sich in den entsprechenden Arealen. Noch lassen sich daraus keine
Therapieempfehlungen ableiten, aber diese Ergebnisse
aus dem Deutschen Kopfschmerz-Konsortium sind ein
wichtiger Schritt, um Kopfschmerzen auf die Spur zu
kommen. „Denn so lange wir nicht verstehen, wie diese
Schmerzen entstehen und warum Schmerzen chronisch
werden, können wir sie auch nicht behandeln,“ so May.
Quelle: Priv.-Doz. Dr. Arne May, Neurologe am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Rückenschmerzen: Wenn die
Psyche auf den Rücken schlägt
Bildung und Forschung (BMBF) führte ein Expertenteam der Universität Greifswald unter der Leitung von
Professor Thomas Kohlmann die bislang größte Befragung zu Rückenschmerzen in Deutschland durch.
Nur jeder Zweite mit Rückenschmerzen
geht zum Arzt
Knapp 10.000 per Zufall ausgewählte Personen machten bei der umfangreichen, mehrphasigen Fragebogenerhebung mit. Sie nahm die Risikofaktoren für Rückenschmerzen sehr genau unter die Lupe – und zwar auch
bei jenen, die trotz Schmerzen bisher keinen Arzt aufgesucht hatten. Und das war immerhin die Hälfte! „Drei
Viertel aller Befragten litten während des vergangenen
Jahres an Rückenschmerzen, rund 10 Prozent davon so
stark, dass Alltag und Beruf dadurch beeinträchtigt
wurden“, erläutert Kohlmann, gleichzeitig auch Sprecher des Forschungsverbundes Rückenschmerz, die
ganz aktuellen Auswertungen. Tröstlich dabei: Ein
Dauerschicksal ist damit nicht zwangsläufig verbunden. „Selbst schwere Rückenschmerzen sind keine Einbahnstraße, bei vielen bessert sich der Zustand innerhalb eines Jahres“, so Kohlmann.
Ein dauernder dumpfer Schmerz, ein heftiges
Reißen oder Ziehen – Rückenschmerzen plagen
Millionen Menschen und führen oft zu starken körperlichen und sozialen Beeinträchtigungen. Verschiedene
Studien zeigen, dass täglich zwischen 30 und 40 Prozent
der erwachsenen Bevölkerung darunter leiden. Nach
Angaben des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) waren Rückenschmerzen im Jahr
2003 mit einem Anteil von rund 30 Prozent der häufigste Grund für Rehabilitationsmaßnahmen und lagen
damit vor bösartigen Tumorerkrankungen, psychischen
Störungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit Anteilen von jeweils weniger als 20 Prozent. Hochgerechnet
auf alle pflichtversicherten Krankenkassenmitglieder
fehlt wegen Rückenschmerzen jeder jährlich im statistischen Durchschnitt zwischen zwei und 3,5 Tagen an
seinem Arbeitsplatz.
Weit weniger klar als diese volkswirtschaftlichen
Aspekte war bisher jedoch der Verlauf dieses von vielen
Medizinern mittlerweile als Volkskrankheit bezeichneten Beschwerdebildes. Inzwischen liegen aber auch
hierzu erstmals umfassende Daten aus Deutschland vor.
Denn mit Unterstützung des Bundesministeriums für
Die negative Kraft der Gedanken
Dabei spielt ganz offensichtlich die Psyche eine
wichtige Rolle, fanden die Greifswalder heraus.
Denn zu den klassischen Dauer-Rückenschmerzkandidaten gehören nicht unbedingt Sportmuffel oder Menschen mit körperlich anstrengenden Jobs. Rücken-
Stimmt es, dass …
harte Matratzen bei Rückenschmerzen besser sind als weiche
?
„Nein! Bisher gibt es keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse dafür, dass ein bestimmter Matratzentyp generell Vorteile bringt. Wie bei
so vielen Dingen, liegt die Wahrheit vermutlich
irgendwo in der Mitte: Eine Matratze sollte
weder zu hart noch zu weich sein. Wichtig ist,
dass man sich beim Liegen wohl fühlt.“
Dr. Carsten-Oliver Schmidt, Universität Greifswald
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probleme verschlimmern sich vor allem bei jenen mit
negativen, furchtsamen Gedanken. „Wer der Meinung
ist, er sei ein hoffnungsloser Fall und es würde gar
nichts mehr helfen, der wird seine Rückenschmerzen
nicht so einfach los werden oder lindern können, wie
jemand, der positiv gestimmt und aktiv bleibt“, wissen Kohlmann und sein Kollege Dr. Carsten-Oliver
Schmidt. Auch andere Einflussfaktoren, wie Belastungen am Arbeitsplatz, soziales Umfeld, Lebensgewohnheiten und familiäre Situation schloss das Forscherteam
in die Rückenschmerz-Erhebung ein. Selbst wenn noch
nicht alle Daten ausgewertet sind, so steht schon jetzt
fest: Die Ergebnisse liefern wichtige Erkenntnisse, um
die Versorgung von Rückenschmerzpatienten weiter zu
verbessern – in der Vorbeugung und Behandlung gleichermaßen. Anhand der ermittelten Profile lassen sich
leichter jene Patienten herausfiltern, die ein besonders
hohes Risiko tragen, schwere Rückenschmerzen zu
bekommen. Dies wiederum ermöglicht ein frühzeitiges
Gegensteuern – ganz im Sinne von „Vorbeugen ist
besser als heilen“.
Verteilung von Rückenschmerzen
in der Gesamtbevölkerung
Rückenschmerzen
mit Beeinträchtigungen*
Grad III – IV
starke Rückenschmerzen
ohne Beeinträchtigungen
Grad II
10%
7%
keine Rückenschmerzen
36%
47 %
leichte Rückenschmerzen
Grad I
*Anmerkung zu den Graden III –IV:
Grad III, mittlere Beeinträchtigungen: 6%
Grad IV, starke Beeinträchtigungen: 4%
Quelle: Professor Thomas Kohlmann/Dr. Carsten-Oliver Schmidt, Universität Greifswald
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Aktiv gegen Rückenschmerzen
„Herr Doktor, ich hab’s im Kreuz.“ Rückenprobleme
gehören zu den häufigsten Gründen für einen
Besuch beim Hausarzt. Bei unkomplizierten Beschwerden wird er zu mehr körperlicher Aktivität raten, getreu
der von der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und
Familienmedizin (DEGAM) herausgegebenen Leitlinie
„Kreuzschmerzen“. Ziel ist es vor allem, unnötige Diagnostik zu vermeiden und den Einsatz unwirksamer
oder sogar schadender Therapieformen zu reduzieren.
Denn viele dieser Patienten können allein durch Bewegung ihre Probleme so weit lindern, dass die Beschwerden schneller verschwinden und sie auf viele Schmerzmittel oder andere Therapieverfahren, etwa Krankengymnastik, verzichten können.
Schwitzen statt schlucken
Allerdings ist es erfahrungsgemäß relativ schwierig,
Schmerzpatienten zu mehr Bewegung zu motivieren.
Denn sie schonen sich häufig lieber, quasi als „natürliche Antwort“ auf die Schmerzen. Mögliche Folge: Ihr
Zustand verschlechtert sich weiter. Doch die leitliniengerechte Betreuung von Rückenschmerzpatienten in
Hausarztpraxen trägt Früchte. Dieses Ergebnis liefert
ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung
(BMBF) gefördertes Projekt vom Forschungsverbund
Rückenschmerz. Ein Team aus Göttinger und Marburger Wissenschaftlern fand heraus, dass nach der Leitlinie geschulte und arbeitende Ärzte weniger unnötige
Massagen, Physiotherapien und Injektionsbehandlungen verordnen. Auch zeigte sich ein Trend, dass eine
motivierende Patientenberatung durch entsprechend
geschulte Arzthelferinnen dazu beiträgt, eher
bewegungsscheuen Betroffenen ein Sportprogramm
schmackhaft zu machen.
Ausreichende körperliche
Bewegung – was heißt das
überhaupt?
Es gibt zwei Möglichkeiten, körperlich aktiv zu
sein – am allerbesten ist eine Kombination aus
beiden. Davon profitiert nicht nur der Rücken,
sondern auch das Herz-Kreislauf-System.
1. Mehr Bewegung im Alltag
Körperliche Aktivitäten mittlerer Intensität
beinhalten vor allem Alltagsbewegungen, zum
Beispiel bewegungsintensive, anstrengende
Tätigkeiten im Haushalt und im Garten, den Weg
zur Arbeit zu Fuß oder mit dem Fahrrad sowie
körperliche Betätigung am Arbeitsplatz.
Empfehlung: mindestens 5x in der
Woche insgesamt mindestens 30
Minuten pro Tag*
*Es zählen nur Tätigkeiten, die mindestens zehn
Minuten am Stück ausgeübt werden.
2. Mehr Bewegung durch Sport
Regelmäßige körperliche Aktivität bringt den
höchsten gesundheitlichen Nutzen. Dazu
gehören Sportarten wie zügiges Radfahren,
Jogging, Inline-Skating, Walking, Schwimmen
und viele Ballsportarten.
Empfehlung: mindestens 3x in der
Woche 20 Minuten oder länger
Quelle: Patientenbroschüre „Körperliche Aktivität
bei Kreuzschmerzen“, entwickelt vom Institut für
Medizinische Psychologie, Philipps-Universität Marburg
„Welche Sportart das ist, spielt meist eigentlich
keine Rolle – Hauptsache, die Patienten werden
aktiv“, nimmt Professor Annette Becker von der Uni
Marburg gleich all jenen Sportmuffeln den Wind
aus den Segeln, die sich mit falschen Ausreden aus
der Affäre ziehen wollen. Rückengerechte Bewegung umfasst nämlich weit mehr als nur Wassergymnastik und Walking – und Spaß macht’s
obendrein!
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zu den Ansprechpartnern für die vorgestellten Projekte vermittelt ebenfalls die Redaktion.
Impressum
Herausgeber
Redaktion
Bundesministerium für Bildung und
Forschung (BMBF)
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11055 Berlin
www.bmbf.de
www.gesundheitsforschung-bmbf.de
Projektträger im DLR
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Dr. Brigitte Hirner
Dr. Rolf Geserick
Dr. Martin Goller
Heinrich-Konen-Straße 1
53227 Bonn
Tel.: 0228 3821-205
Fax: 0228 3821-257
E-Mail: [email protected]
Gestaltung
MasterMedia, Hamburg
Druck
Dürmeyer – Digitale Medien und Druck,
Hamburg
Bildnachweis
Titel: DAK/Wigger
S. 6: Arbeitsgruppe Prof. Niels Birbaumer,
Universität Tübingen
S. 11: Priv.-Doz. Dr. Arne May
alle anderen Bilder: BMBF
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