reportagen, interviews und analysen

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reportagen, interviews und analysen
REPORTAGEN, INTERVIEWS UND ANALYSEN AUS ALLER WELT
November 2016 bis Januar 2017
«Vergeben ist menschlich»
Künstler und Autor: Der 90-jährige Shlomo Graber in seiner Wohnung in Basel. Foto: Doris Fanconi
Im KZ wurde Shlomo Grabers Familie ausgelöscht - er jedoch hat den Horror überlebt. In
seinem neuen Buch schreibt er vor allem gegen eines an: den grassierenden Hass, der jeden
unglücklich macht.
Mit Shlomo Graber sprach Hans-Jürgen Maurus, TA vom SA 7. Januar 2017
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Sie steigen in Ihrem Buch «Der Junge, der nicht hassen wollte» mit einer
Kindheitserinnerung an Ihren Grossvater ein. Er massregelte Sie, weil Sie einen
Riss in der Hauswand aufkratzten . . .
. . . um mir dann zu erklären: Risse sind wie Hass, man vergrössert sie nicht, man repariert sie.
War diese Anekdote eine Art Schlüsselerlebnis für Sie?
Ja, unbedingt. Obschon ich damals den Sinn dieser Worte nicht verstanden hatte - wer könnte
das auch als Dreijähriger? Aber mir ist diese Lektion, die Worte meines Grossvaters, geblieben.
Dieser Satz hat fortan mein Leben bestimmt.
Sie haben den Wahnsinn der Nationalsozialisten am eigenen Leib erlebt und als
einer der wenigen die Todesmärsche überlebt. Welche Erinnerungen haben Sie
daran noch?
Ich habe einen Todesmarsch mitgemacht. Wir waren zusammen 1500 Häftlinge. Nur 500
kamen an. Uns haben nicht deutsche Soldaten begleitet, sondern Ukrainer. Die waren
unbeschreiblich brutal, richtige Sadisten. Schlimmer fast als die Deutschen. Wer stürzte und
nicht mehr weiterkonnte, wurde sofort erschossen oder zu Tode geprügelt. Ich habe Dinge
gesehen und erlebt, die man sich als normaler Mensch überhaupt nicht vorstellen kann. Ich
möchte jedoch an dieser Stelle betonen, dass ich die wirklich schlimmen Dinge in meinem
neuen Buch bewusst weggelassen habe, denn einerseits wurde in den vergangenen Jahrzehnten
genügend darüber berichtet, und anderseits - und für mich viel wichtiger - will ich, dass mein
Buch einer breiten Leserschaft und ganz besonders für die Jugend zugänglich und lesbar ist.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Ihre Seele während des Todesmarschs vom
Hass übermannt wurde.
Sehr sogar, natürlich. Die ganze Zeit nur Tote. Mein Vater war stets bei mir. Wenn mein Vater
aufgegeben hätte, hätten die Ukrainer kein Pardon gekannt. Man hätte ihn sofort erschossen.
Als er einmal hinfiel, habe ich ihn sofort hochgehoben und ihm zwei Ohrfeigen gegeben. Und
machte mit ihm dann einen Schritt und noch einen. Und wir gingen weiter - wie Roboter. So
haben wir überlebt.
Auf diesen Todesmärschen sind sehr viele Häftlinge umgekommen, darunter
waren viele Juden. Was war das Schlimmste, das Sie erlebt haben?
Hunger ist die schlimmste Erfahrung, die ein Mensch erleben kann. Ich habe meinem Vater
gesagt: Lass uns das Wort Hunger aus dem Vokabular streichen, denn sonst hat man noch mehr
Hunger.
Kann man Massenmördern wie den Nazis vergeben oder verzeihen?
Lassen Sie es mich so sagen: Man kann und sollte verzeihen. Wenn man sich vom Hass, aus
welchem Grund auch immer, übermannen lässt, dann tut man sich nichts Gutes. Hass ist wie
ein Krebsgeschwür - er frisst einen Menschen von innen her auf. Man schadet sich am meisten
selbst, wenn man hasst. Ein Mensch, der hasst oder auch dauernd mit seinem Schicksal hadert,
wird nie glücklich sein im Leben und am Ende auch nie wirklich gelebt haben. Wenn ich ganz
ehrlich bin, kann man gewisse Dinge natürlich nicht wirklich verzeihen. Einem Hitler oder
Himmler zum Beispiel habe ich nie verziehen für das, was sie uns angetan haben. Ich habe auch
nie verstanden, warum die Nazis den Holocaust derart systematisch organisiert haben. Wozu?
Bis heute habe ich keine Antwort auf diese Frage gefunden. Aber man sollte nicht pauschal
hassen. Ich habe die Deutschen nie als Volk verurteilt oder gehasst. Was mir jedoch ganz
wichtig ist: Wir sollten nie aus den Augen verlieren, was damals geschehen ist. Das wäre sehr
gefährlich.
Warum?
Weil man vor dem Holocaust dachte, so etwas sei nicht möglich! Dass Menschen anderen
Menschen so etwas antun. Aber ich glaube, dass Menschen zu allem fähig sind - auch
heutzutage noch. Deshalb dürfen wir nie vergessen, den latenten Hass in uns zu bekämpfen.
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Gegen das Vergessen halten Sie auch Vorträge an verschiedenen Schulen. Was
erleben Sie da? Wie sind die Reaktionen der Schüler?
Das sind für mich mit die schönsten Erlebnisse in diesen Zeiten. Neulich war ich an einer
Berufsschule in Zürich, und eine Schülerin fragte mich, wie ich all das überleben konnte? Und
ich habe ihr geantwortet, dass viele Christen und auch Juden sagen würden, dass Gott ihnen
geholfen hat. Ich habe aber erlebt, dass all jene, die Gott angefleht haben, nicht mehr am Leben
sind, weil Gott ihnen nicht geholfen hat. Ich habe mich damals dafür entschieden, mir selbst zu
helfen, und so habe ich überlebt. Das bedeutet aber nicht, dass ich Atheist bin.
Sondern?
Religion ist etwas Sinnvolles, wenn man diese friedlich lebt. Ob es einen Gott gibt, weiss ich, wie
alle anderen Menschen auch, nicht. Sicher ist auch, dass ich das nie wissen werde. Ich glaube
jedoch, dass - falls es ihn geben sollte - Gott will, dass wir uns selbst helfen und keine Hilfe von
ihm erwarten.
Sie sind dreimal nur haarscharf dem Tod entronnen. Glauben Sie an Kismet?
Sie meinen mit Kismet so etwas wie Schicksal oder Vorsehung, ja? Ehrlich gesagt, ich weiss es
nicht. Gibt es so etwas wie Karma, Vorsehung, göttliche Fügung? Vielleicht bin ich nur deshalb
noch am Leben, um meine Geschichte weiterzugeben.
Begreift die Jugend von heute denn noch die Dimension des Holocausts?
Bei einem meiner ersten Vorträge an einer Schule hat mir meine Frau - sie ist übrigens Christin
- vorher geraten, mich zurückzuhalten und nicht melancholisch zu wirken. Da fragte mich ein
14-jähriger Junge als Erstes: Haben Sie viele Leichen gesehen? Und jemand fragte: Haben Sie
Hitler gesehen? Und einmal fragte mich sogar ein Schüler: Hatten Sie Sex im
Konzentrationslager? Die Jugendlichen sind sehr weit weg vom Thema, und ich muss alles ganz
langsam erklären. Viele haben den Holocaust über das Fernsehen oder in der Literatur
entdeckt, aber es ist für die meisten die erste Begegnung mit einem Menschen, der die Tragödie
überlebt hat.
Zurück zu Ihren Erzählungen. Am 8. Mai 1945 haben Sie als Erster im KZ Görlitz
erfahren, dass die Befreiung durch die Russen bevorsteht. Wie kam es dazu?
Ich musste jeden Morgen dem Lagerkommandanten, einem SS-Obersturmbannführer, sein
Frühstück auf einem Tablett bringen. So auch an jenem Mai-Tag. Ich stand im Büro, als ein
Soldat, ein Meldefahrer, ganz ausser Atem durch die Tür stürmte und eine Zeitung auf den
Schreibtisch warf. Auf dem Titelblatt war ein Bild Hitlers zu sehen, mit einem dicken schwarzen
Balken umrahmt. Da stand: «Der Führer ist tot!» Ich liess das Tablett fallen und rannte nach
draussen und schrie: «Wir sind frei, wir sind frei!»
Sie beschreiben eine sehr menschliche Geste direkt nach der Befreiung aus dem
KZ, als Sie einer deutschen Frau mit ihrem Kind ein Stück Brot gaben. Bringt
Vergebung Freiheit? Freiheit von der Vergangenheit?
Nein. Wie ich schon sagte, sollte man vergeben, um nicht von Hass und Zorn innerlich
zerfressen zu werden. Man sollte jedoch nicht vergeben, um seine Vergangenheit abzuschütteln.
Denn die Vergangenheit ist ein Teil von uns. Jeder hat seine eigene und sollte diese nicht
vergessen.
Kann man Vergebung lernen?
Nein, dann wäre es nicht mehr ehrlich. Aber Vergebung kann man üben. Man sollte es aus
tiefster Überzeugung im Kleinen wie im Grossen immer wieder üben. Viel zu oft im Leben sind
wir erzürnt über andere Menschen und Dinge, die wir dann im Rückblick als Bagatellen
betrachten. Mein Ratschlag ist es, mit diesen Bagatellen zu beginnen. Da kann man gut üben.
Denn wer im Kleinen nicht vergeben lernt, wird es im Grossen nie schaffen. Insofern ist
Vergeben also in einem gewissen Sinne doch erlernbar.
Was braucht es, um vergeben zu können?
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Es ist eine menschliche Eigenschaft. Diese Eigenschaft wohnt jedem Menschen inne. Daran
glaube ich sehr stark. Aber trotzdem kann ich nie vergessen, was mit meiner Mutter und
meinen Geschwistern in Auschwitz passiert ist und wie sie umgebracht wurden. Wenn
Himmler, der Architekt der Massenvernichtung mit den Gaskammern, jetzt hier stehen würde,
könnte ich nie zu ihm sagen: Ich verzeihe dir. Hundert Prozent nein.
Im Buch schreiben Sie: «Was ich bis heute nicht verstehen kann: Wir alle, die
Opferlämmer, schwiegen und gehorchten, keiner wehrte sich, keiner muckste
auf.» Stellen Sie sich diese Frage auch heute noch?
Im Rückblick frage ich mich dies tatsächlich heute noch. Man muss jedoch wissen, dass die
Nazis alles perfekt organisiert und inszeniert hatten. Ich hatte keine Ahnung, dass wir auf der
Rampe von Auschwitz-Birkenau selektiert wurden, dass ich meine Mutter, meine vier kleineren
Geschwister, meine Grossmutter, meine Tanten und Onkel nie wieder sehen würde, dass sie alle
kaum eine Stunde später tot sein würden. Später im Lager verteilte man sogar Postkarten. Wir
sollten unseren Angehörigen schreiben. Die Nazis wollten uns im Glauben lassen, dass unsere
Angehörigen noch lebten und bloss in einem anderen Lager seien. Das wahre Ausmass dessen,
was geschehen war, erfuhr ich erst am 8. Mai 1945. Am Tag meiner Befreiung erzählte mir ein
russischer Offizier, was mit meiner Mutter und meinen Geschwistern passiert war.
Wie war Ihre Reaktion? Was sagt man in einem solchen Moment, wenn man so
etwas erfährt?
Ich habe in jenem Moment gar nichts gesagt. Diese Nachricht war für mich bis zum heutigen
Tag das Schrecklichste und Unfassbarste, das mir je widerfahren ist.
Hatten Sie je Albträume?
Nein, ich bin kein Mensch, der sich die ganze Zeit nur dem Holocaust widmet. Ich bin sehr
pragmatisch. Ich beschäftige mich mit Literatur, lese gerne und male. Als ich zu malen anfing,
haben diverse Besucher in meiner Galerie Bilder mit schwarzen Farben entdeckt und sofort
gesagt: Das hat mit dem Holocaust zu tun. Doch ich mag es nicht, einen Stempel aufgedrückt zu
bekommen. Schwarz ist eine moderne, schöne Farbe und hat nichts mit dem Holocaust zu tun.
Was macht das Menschsein aus?
Wenn ich etwas in meinem langen Leben gelernt habe, dann dies: Die meisten Menschen tragen
die Fähigkeit in sich, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Fast allen Menschen wohnt ein
moralischer Kompass inne, der dafür sorgt, dass wir uns für das Gute und gegen das Böse
einsetzen - wenn nötig, gar mit unserem Leben. Das ist es, was für mich den Menschen
ausmacht.
Wie werden Menschen zu Bestien?
Das ist eine schwierige Frage. Ich selbst glaube, dass in jedem Menschen das Gute wie auch das
Böse innewohnt. Am Ende muss aber jeder Mensch für sich selbst entscheiden, wofür er
eintreten will. Es liegt an ihm selbst, zu bestimmen, was er sein möchte.
Ihr Buch handelt vom Vergeben. Welche Botschaft ist Ihnen ansonsten noch
wichtig?
Erstens: Sei nicht abergläubisch, das ist Blödsinn. Wenn du glauben willst, dann tu das, aber sei
tolerant gegenüber Andersgläubigen. Und woran du auch immer glaubst, glaube zuallererst an
dich selbst! Zweitens: Sei zufrieden mit dem, was du hast. Fordere nicht unablässig mehr. Wenn
du zufrieden bist, wirst du dich automatisch und mühelos verbessern. Aber hüte dich vor
krankhaftem Ehrgeiz und Gier. Drittens: Freiheit und Demokratie sind Geschenke, die uns
gegeben wurden. Für Freiheit und Demokratie muss sich jeder einsetzen. Die Demokratie ist
meiner Meinung nach die beste aller Formen. Denn ich kann allen versichern: Kein Mensch auf
dieser Welt will gefangen sein. Keiner!
«Ich widme mich nicht die ganze Zeit nur dem Holocaust.»
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Den Ferdy kannte jeder
Der Held der Arbeiter und Fleissigen: Ferdy Kübler im Alter von 27 Jahren an der Tour de Suisse. Fotos:
foto-net
Die erste Ikone des Schweizer Sports ist tot. Ferdy Kübler ist im Alter von 97 Jahren in einem
Zürcher Spital friedlich eingeschlafen.
Ein Nachruf von Martin Born, TA vom SA 31. Dezember 2016
Die letzten Jahre waren für Ferdy Kübler die schwierigsten. Die meiste Zeit verbrachte er im
Bett, umsorgt von seiner zweiten Frau Christina, die bei ihm war, als er am Donnerstag «mit
einem Lächeln auf dem Gesicht friedlich einschlief».
Den Ferdy kannte jeder, selbst in den letzten Jahren noch, als er kaum mehr Golf spielte, es ihm
gesundheitlich immer schlechter ging und er die Öffentlichkeit mied, die ihm während eines
langen Lebens (fast) alles bedeutet hatte. Ferdy Kübler war die erste Ikone des Schweizer
Sports, lange vor Bernhard Russi und Roger Federer. Ein Dauerbrenner, der sich dank der Tour
de Suisse von Generation zu Generation vererbte. Vom Urgrossvater, der damals mittendrin
war, der als Bub Kübler vorbeirasen sah, zum Grossvater, der beeindruckt war, obwohl es ihm
als Bub ja nur um all die «Bhaltis» ging, die von der Reklamekarawane verteilt wurden. Dann
zum Vater, der an Kübler nicht vorbeikam, wenn dieser winkend, als unverzichtbarer Teil der
Tour-de-Suisse-Karawane, in seinem Mercedes vorbeifuhr und mit Hupen auf sich aufmerksam
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machte. Und schliesslich zum Sohn, der irgendeinmal wissen wollte, wie es damals war, als die
Radrennfahrer noch Helden waren und unsere beiden «K» den Radsport beherrschten.
Die Rivalität mit Koblet
Kübler und Koblet waren ein Glücksfall. Ihre Rivalität machte den Radsport zum Kulturgut,
dem sich niemand entziehen konnte. Kübler war der Held der Arbeiter und Fleissigen, Koblet
jener der Intellektuellen. Ohne den andern wäre der eine kaum zum Superstar geworden. Die
beiden trieben sich zu Höchstleistungen an. «Hugo war mein Doping», pflegte Kübler zu sagen.
Als Koblet 1950 als erster Ausländer den Giro gewann, konterte Kübler mit dem ersten Sieg
eines Schweizers bei der Tour de France. Nachdem Koblet ein Jahr später die Tour de France
beherrscht hatte, antwortete Kübler mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft im italienischen
Varese. Das Duell machte die Tour de Suisse zum wichtigsten Ereignis im Schweizer Sport. Als
die KK-Epoche 1955 zu Ende ging, war es unentschieden: In beider Palmarès stehen drei
Gesamtsiege, ein zweiter Platz, elf Etappensiege und vierzehn Tage im Goldtrikot.
Kübler war der unermüdliche Krampfer, der sich alles erarbeitete. Koblet der Frauenheld, dem
das Talent in die Wiege gelegt wurde. Kübler war der Sparsame, der jeden Rappen umdrehte,
den er verdiente, Koblet der Generöse, der sich allen erkenntlich zeigte. Kübler war der
Gewissenhafte, der erst nach Abschluss seiner Karriere zum Millionär wurde, Koblet der
Sorglose, der sich nach geschäftlicher Pleite mit 39 das Leben nahm. Koblet lebt als Mythos
weiter, Kübler blieb nach Koblets Tod noch während 52 Jahren unter uns. Als Ferdy national.
«Für die mit der guten Nase»
So hiess er schon, als er noch Rennen fuhr. Und er wurde es erst recht, als ihn eine
Versicherungsgesellschaft als Werbeträger entdeckte. 23 Jahre waren seit dem Abschied
vergangen, als Direktor Gerhard Frey auf der Toilette der National-Assekuranz-Versicherung
eine Idee hatte, wie die beiden Nationalen mit einander verbunden werden könnten. Sein
Problem war, dass seine Firma in den besseren Gesellschaftsschichten zwar gut bekannt war,
beim Volk aber keinen Rückhalt hatte. Mit Kübler könnte das ändern. Und plötzlich war er da,
der Slogan, ohne Werbefirma, ohne Kreativmenschen und ohne Berater: «Für die mit der guten
Nase». Und so hingen bald in der ganzen Schweiz Plakate, die Küblers Profil mit der markanten
Nase zeigten. Der Name konnte diskret verschwiegen werden. Jeder wusste, um wen es sich
handelte.
Es war der Beginn seiner zweiten Karriere als PR- und Geschäftsmann, in der er zum
Aushängeschild und besten Verkäufer der Tour de Suisse wurde. Die Kreditanstalt (später
Crédit Suisse) und Bio-Strath wurden zu dauerhaften Partnern, für die er bei seinen
Werbeauftritten und Autogrammstunden genauso immer alles gab wie als Rennfahrer. Auch
Mercedes und Kübler wurden zum «Paar» - nie hätte der «Adler von Adliswil» ein anderes Auto
gefahren.
Seine grössten Erfolge
Tour de France Sieger 1950 Grünes Trikot und Zweiter 1954
Tour de Suisse Sieger 1942, 1948, 1951
WM Strassenweltmeister 1951
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«Das ist ausgesprochen elitär»
Im Duell zwischen SP-Ständerat Daniel Jositsch und SVP-Nationalrat Roger Köppel werfen sich
die beiden Politiker gegenseitig vor, die Interessen des Volkes nicht im Blick zu haben. Und
nicht nur das.
Mit Daniel Jositsch und Roger Köppel sprachen Hannes Nussbaumer und Iwan Städler,
TA vom SA 31. Dezember 2016
2016 war das Jahr Trumps und des Brexit - aber auch des Neins zur
Durchsetzungsinitiative. Lange sah es nach einem Sieg der SVP aus, doch am Ende
jubelte die Operation Libero mit Flavia Kleiner. Auch Sie, Herr Jositsch, gehörten
zu den Siegern. Zu Ihrer eigenen Überraschung?
Daniel Jositsch: Nein, das hat mich nicht überrascht. Es ging ja um die Umsetzung der
Ausschaffungsinitiative, die 2010 angenommen worden war. Den Vorschlag, den FDP und CVP
eingebracht hatten, war sehr nahe am Text der Initiative. Eigentlich war die Härtefallklausel die
einzige Abweichung. Trotzdem lancierte die SVP die Durchsetzungsinitiative. Ich glaube, dass
es viele Leute nicht goutieren, wenn man wegen einer minimen Abweichung gleich eine
Initiative lanciert. Eine Mehrheit sagte daher Nein.
Wenn Sie dieses Bild sehen, Herr Köppel: Tut das noch weh?
Roger Köppel: Nein. Es ist ja oft so, dass sich die Bedeutung eines Ereignisses erst im
Nachhinein zeigt. Ich mag Frau Kleiner den Ruhm gönnen. Tatsache ist aber: Die Abstimmung
über die Durchsetzungsinitiative war eigentlich ein Riesentriumph der SVP. Alle, von
Bundesrätin Sommaruga über Daniel Jositsch bis zu Flavia Kleiner, stimmten der SVP zu und
sagten: Ausländische Verbrecher gehören ausgeschafft. Die einzige Differenz betraf die
Umsetzung des Ziels. Das Ziel an sich war unbestritten.
Wurde das Nein zu Unrecht als einschneidendes Ereignis gefeiert?
Jositsch: Sie mögen erstaunt sein, aber ich teile die Analyse von Roger Köppel. Im Prinzip war
der Triumph des Nein-Lagers, dass man die Ausschaffungsinitiative nicht zu 100, sondern
«nur» zu 98Prozent umsetzt. Man war mit sehr wenig zufrieden. Die ganze Euphorie war nur
ausgebrochen, weil die Sorge bestanden hatte, die SVP bringe in der Ausländerpolitik einfach
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alles durch. Hätten wir diese Abstimmung auch noch verloren, wäre ein Damm gebrochen. Das
konnten wir verhindern.
In der Tat zeigt der Trend sowohl national als auch international nach rechts. Was
macht die Linke falsch, Herr Jositsch?
Jositsch: Man sollte in der Politik nicht Trends hinterherrennen, sondern versuchen, Trends zu
setzen. Politiker, die auf fahrende Züge aufspringen, kommen immer zu spät. Besser hält man
an einer Position fest - und ist dann der Erste, wenn der Trend kehrt. Es gibt aktuell etwa
45Prozent, die in Migrationsfragen unsere Position teilen. Diese fühlen sich verraten, wenn wir
unsere Meinung nach dem Wind richten. Wenn wir jedoch konsequent bleiben, fühlen sie sich
aufgehoben. Und wenn dann die Stimmung kippt, haben wir eine starke Ausgangslage.
Wie sehen Sie es, Herr Köppel: Was macht die Linke falsch?
Köppel: Wir sind an einem Punkt in der Geschichte angelangt, wo man die Sozialdemokratie vor
den Sozialdemokraten retten muss. Diese machen einen Denkfehler. Sie glauben, der
Sozialstaat vertrage sich mit offenen Grenzen. Das ist nicht so. Entweder man hat offene
Grenzen, wie etwa im 19.Jahrhundert. Dann gibt es aber keinen Sozialstaat. Wenn man einen
solchen will, braucht es Grenzen. Der Sozialstaat kann nur eine Solidargemeinschaft der hier
Lebenden sein. Ich stelle allerdings fest, dass die intelligenteren Linken das Problem erkannt
haben. Ich beobachte erste Realismusschübe, zum Beispiel beim brillanten Rudolf Strahm oder
beim Doyen Helmut Hubacher. Das sozialdemokratische Establishment allerdings ist geistig
zurückgeblieben.
Seit den Wahlen vom Herbst 2015 haben FDP und SVP im Bundesrat sowie auch
im Nationalrat die Mehrheit. Nutzen sie diese?
Köppel: Vor den Kameras und in Interviews ist die Musik in Bern konservativer geworden. Es
reden alle ein bisschen wie die SVP. Man hat gemerkt: Mit SVP-Rhetorik kommt man gut an. In
der Substanz aber ist es nach wie vor so, dass wir in den entscheidenden Fragen allein sind.
Staatsausgaben: keine Basis mit der FDP. Asylwesen: dito. Entwicklungshilfe: dito. Und beim
Thema Unabhängigkeit und Selbstbestimmung - dem wichtigsten Thema überhaupt - stehen
wir sowieso völlig allein da.
Wie erleben Sie den Rechtsrutsch, Herr Jositsch?
Jositsch: Natürlich ist dieser eine Realität. Gleichzeitig ist es aber so, dass sich die SVP den
Luxus leistet, ihre Radikalpolitik derart auf die Spitze zu treiben, dass sie die anderen
bürgerlichen Parteien dauernd vor den Kopf stösst. Und dann tut sie überrascht, dass keine
bürgerliche Allianz entsteht. Tatsache ist, dass sich die SVP nach wie vor mit grosser Freude in
Situationen begibt, wo sie alleine gegen alle andern steht.
Köppel: Die SVP ist eine konsequente Grundsatzpartei. Von daher stimme ich Daniel Jositsch
zu: Es ist wichtig, dass es Parteien gibt, die an ihren Positionen festhalten. Es ist ein Segen für
das Land, dass die SVP beharrlich ihre Prinzipien vertritt. Gerade in der EU-Frage kann man
nicht halb schwanger sein. Es braucht das kompromisslose Festhalten an der Unabhängigkeit.
Jositsch: Klare Positionen sind gut. So weit sind wir uns einig. Der Unterschied zwischen uns
ist: Du hast das Gefühl, du hättest die Wahrheit gepachtet. Ihr glaubt: Wir sind im Recht und
alle anderen im Unrecht. Ich aber sage: Ich habe meine Meinung, und ich halte daran fest. Aber
ich behaupte doch nicht, dass diese Meinung sozusagen die heilige Wahrheit darstellt. Vielmehr
ist mir bewusst, dass in der Politik immer irgendwann der Moment kommt, in dem man sagen
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muss: Entweder wir finden einen Kompromiss, und dann komme ich halt nicht zu 100Prozent
durch. Oder wir finden keinen Kompromiss, und dann gibt es selten eine gute Lösung.
Köppel: Das ist eben der Unterschied zwischen Daniel Jositsch und mir. Wir sind zwar gleich
alt, aber er ist ein postmoderner Anything-goes-Politiker, was gleichzeitig seine Stärke und
seine Tragik ist. Für mich dagegen gibt es Fragen, bei denen ich mit unerbittlicher Überzeugung
sage: So ist es. Die Schweiz darf sich nicht von der EU einrahmen, also einsargen lassen. Das
wäre die Zerstörung unseres Erfolgsmodells.
Als Folge des Neins zur Durchsetzungsinitiative wurde die Ausschaffungsinitiative
nicht ganz nach dem Gusto der SVP umgesetzt. Dies ist nun auch bei der
Masseneinwanderungsinitiative der Fall. Ist das schlimm?
Köppel: Für mich zeigt sich in der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative eine neue
Dimension der Unehrlichkeit und der Verhöhnung unserer Demokratie. Die Unehrlichkeit
äussert sich darin, dass die Parlamentsmehrheit jetzt behauptet, die Initiative sei aufgrund
bestimmter internationaler Verträge nicht umsetzbar. Redlich wäre gewesen, wenn die
Vertreter dieser Mehrheit dies schon im Abstimmungskampf gesagt hätten. Haben sie aber
nicht. Sie haben zuerst die Initiative bekämpft und dann - nach dem Ja - scheinheilig eine
wortgetreue Umsetzung gefordert. Gleichzeitig haben sie systematisch darauf hingearbeitet, den
Volksentscheid zu hintertreiben. Das ist ein Verrat der Elite an der Bevölkerung.
Jositsch: Es stimmt: Die Zuwanderungsinitiative ist nicht umgesetzt worden. Das ist auch
deshalb nicht gelungen, weil die SVP im Abstimmungskampf falsche Versprechen gemacht hat:
Sie hat erstens behauptet, ihre Initiative gefährde die Personenfreizügigkeit nicht. Und
zweitens, man könne mit der EU verhandeln. Inzwischen wissen wir: Beide Behauptungen sind
falsch. Damit stehen wir vor dem Problem, dass in der Verfassung ein neuer Artikel steht, der
Verhandlungen mit der EU über die Personenfreizügigkeit verlangt, sich aber darüber
ausschweigt, was zu tun ist, wenn diese scheitern.
Was nun?
Jositsch: Ich finde es richtig, dass man einerseits eine Umsetzung light anstrebt, die keine
exakte Umsetzung ist - da gebe ich Roger Köppel recht. Andererseits ist eine präzisierende
Volksabstimmung nötig. Ich habe deshalb immer darauf gepocht, dass es einen Gegenvorschlag
zur sogenannten Rasa-Initiative braucht. Wenn dieser durchkommt, entsteht ein korrekter
Verfassungsmantel für die Umsetzung light, die mit der Personenfreizügigkeit kompatibel ist.
Wenn er abgelehnt wird, muss man die Umsetzung light in eine Umsetzung hard umwandeln.
Diese wäre dann wohl das Ende des bilateralen Wegs. Das ist in der direkten Demokratie der
richtige Weg.
Der richtige Weg, Roger Köppel?
Köppel: Es ist mitnichten so, dass man die Zuwanderungsinitiative nicht umsetzen kann. Man
will sie nicht umsetzen. Darum konstruiert man nun nachträglich einen Grund, weshalb man
einen Volksentscheid, den man nie wollte, nicht umsetzen kann.
Jositsch: Wir haben im Abstimmungskampf wiederholt gesagt, die Initiative sei nicht
kompatibel mit der Personenfreizügigkeit. Und wir haben auch wiederholt gesagt: Es ist nicht
so einfach, in Brüssel etwas auszuhandeln. Es ist rein gar nichts eingetroffen, das man nicht
vorausgesehen hat.
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Köppel: Das stimmt nicht. Am 9.Februar 2014 und in den Tagen danach haben Bundesrätin
Sommaruga und andere gesagt: Es braucht eine wortgetreue Umsetzung. Die gleichen Leute
haben zweieinhalb Jahre später herausgefunden: Eine wortgetreue Umsetzung ist gar nicht
möglich. Unsere Elite ist unredlich und lügt die Bevölkerung an.
Jositsch: Natürlich braucht es eine wortgetreue Umsetzung. Die damaligen Aussagen zeigen
doch bloss, dass man gewillt war, Verhandlungen zu führen. Aber es braucht immer zwei für
eine Verhandlung. Und nun hat es nicht geklappt. Doch eigentlich spielt das gar keine Rolle: Es
gibt nochmals eine Volksabstimmung. Und ich weiss gar nicht, wovor ihr Angst habt. Wir
müssen diese Abstimmung gewinnen, nicht ihr. Wenn ich euch wäre, wäre ich sehr gelassen.
Viele wundern sich ja, dass ihr kein Referendum ergreift, wie man das normalerweise tut, wenn
man mit einem Gesetz nicht einverstanden ist. Taktisch ist das allerdings schlau: Bei einem
Referendum würde uns ein einfaches Volksmehr reichen. Bei einem Gegenvorschlag brauchen
wir Volks- und Ständemehr, und das ist viel schwieriger.
Verzichtet die SVP aus taktischen Gründen auf das Referendum? Oder haben Sie
Angst vor dem Volk?
Köppel: Ich habe keine Angst vor dem Volk. Ich habe Angst vor Politikern, die nach der Macht
greifen und die angeblich besser wissen, was für die Bevölkerung gut ist als diese selber.
Warum denn kein Referendum?
Köppel: Man ergreift kein Referendum gegen einen Etikettenschwindel. Ihr behauptet, mit dem
neuen Gesetz gebe es einen Inländervorrang, und die Zuwanderung werde begrenzt. Tatsache
ist aber: Dieses Umsetzungsgesetz bringt nichts, rein gar nichts.
Jositsch: Soweit ich weiss, akzeptiert ihr die Schweizerische Bundesverfassung, oder? Dort
steht: Das Parlament setzt die Bundesverfassung um, wobei die Möglichkeit besteht, das
Referendum zu ergreifen, wenn einem die Umsetzung missfällt. Und noch etwas: Hätte die
Schweiz ein Verfassungsgericht, könntet ihr nun dieses Gericht anrufen und euch beschweren,
dass eure Initiative nicht umgesetzt wird. Doch als seinerzeit ein solches Gericht vorgeschlagen
wurde, kam von euch der Einwand: Nein, brauchen wir nicht, es gibt schliesslich das
Referendum. Es wäre schon gut, ihr wärt ein bisschen konsequenter. Nähme man eure
Argumentation ernst, gäbe es gar nie ein Referendum. Es hat ja noch nie einer das Referendum
gegen ein Gesetz ergriffen, von dem er fand, es bringe etwas.
Köppel: Ich stelle mit Interesse fest, dass Jusprofessor Daniel Jositsch sich für ein
Verfassungsgericht ausspricht. Vermutlich mit dem Hintergedanken, dass er dann selber
einmal Mitglied dieses hohen Gremiums werden könnte.
Jositsch: Ich gebe dir schriftlich, dass ich das nicht will.
Köppel: Zum Referendum: Ein solches ergreift man, wenn ein neues Gesetz den Status quo
verschlechtert. Wenn also zum Beispiel das Umsetzungsgesetz mit gewaltigen flankierenden
Massnahmen aufgerüstet worden wäre - wenn also die gewerkschaftlichen Forderungen, die
sich die FDP neuerdings auf die Fahnen schreibt, verwirklicht worden wären. Das
verabschiedete Gesetz ist aber einfach der Status quo. Und gegen den Status quo ergreife ich
kein Referendum. Auch das wäre eine Verhöhnung der Bevölkerung. Und noch zum
Gegenvorschlag - da geht die Unehrlichkeit grad weiter. Anstatt dass man ein Gesetz macht, das
den Volkswillen umsetzt, versucht man die Verfassung nachträglich so zu verrenken, dass sie
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wieder zum Gesetz passt. Da wedelt der Schwanz mit dem Hund. Oder auf Deutsch: Das ist eine
Sauerei.
Jositsch: Roger Köppel, bei aller Freundschaft: Jetzt vergaloppierst du dich. Einfach zur
Erinnerung: Indem ihr euch weigert, das zu tun, was die Verfassung in solchen Fällen vorsieht,
nämlich das Referendum zu ergreifen, hätten wir es uns rein theoretisch sehr leicht machen
können. Wir hätten sagen können: Gut, offenbar akzeptiert die SVP die Umsetzung ihrer
Initiative. Dann braucht es keine weitere Abstimmung. Rein verfassungsmässig wäre das
absolut legitim gewesen. Jetzt gibt es aber Leute wie mich - und man bezeichnet mich deswegen
schon als «Verfassungspuristen» -, die sagen: Nein, dieses Gesetz kann nicht die Umsetzung
sein. Und wir gehen deswegen die Hochrisikoübung ein, dass wir das Volk noch einmal
befragen. Es ist überhaupt nicht so, dass wir uns da rauszuschmuddeln versuchen. Im
Gegenteil: Wir gehen aufs offene Feld.
Köppel: Verlassen wir doch den Elfenbeinturm solcher Winkelzüge und kehren zurück zum
eigentlichen, wesentlichen Punkt. Eine Mehrheit von Volk und Ständen hat entschieden, dass
die Zuwanderung wieder eigenständig gesteuert wird. Damit stehen die Politiker vor der
einfachen Frage: Nehmen wir diesen Volksentscheid ernst? Oder ignorieren wir ihn? Das
Bedürfnis, die Zuwanderung national zu regeln, besteht überall. In Amerika wird Trump
gewählt, in Grossbritannien der Brexit beschlossen, weil die Leute insbesondere mit der
Zuwanderungspolitik unzufrieden sind. Allerdings wird in den USA dann Trump auch wirklich
Präsident und in England der Brexit vollzogen. Dort werden Volksentscheide umgesetzt, bei uns
nicht. Gebt doch zu, dass ihr nicht mehr zur Demokratie steht.
Erlebten wir 2016 den Siegeszug der Populisten?
Jositsch: In den USA war erstmals eine Frau Präsidentschaftskandidatin. Gegen sie trat ein
Mann an, der an Frauenverachtung nicht zu überbieten ist. Trotzdem sagten Millionen von
Frauen: Wir wählen lieber diesen Mann - weil die Frau zum Establishment gehört. Das muss
einem sehr zu denken geben. Das Problem ist nicht Trump. Das Problem ist das alarmierende
Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem politischen Personal und dem Establishment. Bei
uns ist dieses Problem allerdings sehr viel kleiner. Die SVP kann noch lange so tun, als gehöre
sie nicht zum Establishment. Sie ist die wählerstärkste Partei und gehört genauso zum
Establishment wie wir anderen Bundesratsparteien. Insofern sind die Verhältnisse bei uns
grundlegend anders als in den USA.
Ist das so, Roger Köppel?
Köppel: Es sind hochinteressante Dinge geschehen. Wir haben eine sogenannte Elite: Dazu
gehören die Medien, die Intellektuellen, die Politiker - so ziemlich alle. Ausser ich.
Warum Sie nicht?
Köppel: Ich habe nichts gegen Leistungseliten. Wenn jemand etwas geleistet hat, erhält er
Zuspruch. Ich habe aber etwas gegen Scheineliten: gegen Leute, die sich nur um ihre eigenen
Interessen kümmern. Leider gehören heute auch die Medien zu diesem Kartell. Ich selber bin
aber nicht Teil dieser EU-süchtigen, Volksentscheids-feindlichen Scheinelite. Ich war Teil der
Medienelite, kenne diese Szene und kritisiere sie aus eigener Anschauung. Heute bin ich das
Sprachrohr des Unbehagens, das viele Leute gegenüber dieser Scheinelite empfinden.
Jositsch: Roger Köppel, du nimmst für dich in Anspruch, definieren zu können, wer zur Elite
gehört und wer nicht. Das ist ausgesprochen elitär.
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Köppel: Ich lasse mich nicht von dieser Scheinelite vereinnahmen. Ich bemühe mich aber, dass
ich wenigstens im überschaubaren Bereich, in dem ich tätig bin, zur Leistungselite gehöre. Wir
können auch sagen: Ihr gehört zur falschen Elite, die sich über Volksentscheide hinwegsetzt. Ich
hingegen nehme unsere Demokratie ernst.
Jositsch: Vielleicht könnten wir uns ja darauf einigen: Rund 180 000Zürcherinnen und Zürcher
fanden, du sollst nach Bern. Ebenfalls rund 180 000 fanden, ich soll nach Bern. Insofern könnte
man ja sagen: Deine 180 000Wähler gehören genauso zum Volk wie meine 180 000. Und
offenbar finden unsere jeweiligen Wähler, dass wir nicht zur falschen und schlechten Elite
gehören.
Das ganz pralle Leben
Auf jedem roten Teppich und in jeder Klatschspalte: Zsa Zsa Gabor, auf einem Porträtbild von 1954. Foto:
Getty Images
Zsa
Zsa Gabor ist mit 99 Jahren gestorben. Sie war die Hollywoodkönigin der B-Movies. Ihre
eigentliche Kunst aber war das Brechen von Männerherzen.
Von Simone Meier, TA vom MO 20. Dezember 2016
Als sie jung war und jede Hollywoodpremiere übertünchte mit ihren schimmernden Roben,
ihren goldenen Haaren, den bodenlangen Nerzmänteln und ihrer immerfort strahlenden Laune,
da habe sie ausgesehen «wie ganz aus Schlagsahne geformt, jeden Mann dazu verleitend, sofort
in sie hineinzutauchen». So schwärmte die amerikanische «Vanity Fair» 2007 zum 90.
Geburtstag von Zsa Zsa Gabor, die damals nach einem schweren Autounfall und einem
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Schlaganfall nur noch vom Rollstuhl aus in ihrer Villa in Bel Air, Los Angeles, regierte. Dort ist
sie nun am 18. Dezember im Alter von 99 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts verstorben.
Die Villa gehörte einst dem Filmproduzenten und tollkühnen Flieger Howard Hughes, wem
sonst? Denn Zsa Zsa, die sich nie entscheiden konnte, ob sie schon 1917 oder doch erst acht
Jahre später geboren worden sei, reckte sich stets nach dem gleichen Stern: dem der Übergrösse
und der Masslosigkeit. Sie teilte dies zuletzt seit einem guten Vierteljahrhundert mit ihrem
achten, neunten oder auch zehnten Mann - Zahlen waren in der Familie Gabor eine ebenso
dehnbare Grösse wie etwa Erinnerungen oder die Religionszugehörigkeit: Eigentlich war sie
Jüdin, doch wenn es ihr gerade zugutekam, bezeichneten sich sie und ihre Schwestern auch als
katholisch.
Verbürgt ist jedoch, dass Zsa Zsa Gabor in Budapest zur Welt kam und 1936 zur Miss Ungarn
gekürt wurde. Und damit begann ihre eigene Legendenschreibung: Als ersten Mann heiratete
sie den Pressechef des türkischen Aussenministers, gab jedoch vor, nicht von ihm, sondern von
Kemal Atatürk entjungfert worden zu sein. 1941 folgte sie ihrer Schwester Eva nach Hollywood,
angelte sich Conrad Nicholson Hilton, den Begründer der Hilton-Hotels, und heiratete ihn, was
sie aber nicht davon abhielt, mit dessen Sohn eine Affäre zu haben. Heute gilt sie als StiefUrgrossmutter von Paris Hilton.
«Schiess ihn ins Bein»
Sie liebte Lebemänner wie den berüchtigten Gigolo Porfirio Rubirosa, sie heiratete einen
Schauspieler, den nach ihr ihre Schwester übernahm, einen Industriellen, einen Ölmagnaten,
den Designer der Barbiepuppe und einen Anwalt. Sie war für einen einzigen Tag sogar
Bigamistin, und sie ehelichte schliesslich mit Frédéric von Anhalt einen falschen Prinzen.
Einen, der seinen Titel durch Adoption bekommen hatte. Einen, der ihr, der grossen
Lügenbaronin und Herzensbrecherin von Hollywood, ebenbürtig war, was das Ausnehmen
anderer betraf.
Denn die Kunst der Zsa Zsa Gabor, die hatte nie in ihrer Schauspielkunst bestanden. Im
dramatischen Fach schaffte sie es nur zu Nebenrollen, dafür wurde sie in den 50er- und 60erJahren zur tief dekolletierten Königin der B-Movies und brillierte als Tänzerin in «Moulin
Rouge», als Maklerin in «Queen of Outer Space» oder als Stripclubbesitzerin in «Touch of
Evil». Ihre Kunst bestand im Ausweiden reicher Männer. «Ich bin eine gute Haushälterin:
Immer, wenn mich ein Mann verlässt, behalte ich sein Haus», sagte sie - oder «Für ein kluges
Mädchen sind Männer kein Problem - sie sind die Antwort» oder «Ich glaube an grosse
Familien: Jede Frau sollte mindestens drei Ehemänner haben» oder «Wie man einen Ehemann
behält? Schiess ihn ins Bein.» Sie hielt sich strikt daran und fasste ihre Erkenntnisse 1970 im
Buch «How to Catch a Man - How to Keep a Man - How to Get Rid of a Man» zusammen.
Ein halbes Jahrhundert vor Paris Hilton war sie die Frau, die fürs Berühmtsein berühmt war,
die Celebrity schlechthin, die Frau auf jedem roten Teppich und in jeder Klatschkolumne. Sie
wurde zur Werbeikone (etwa für Studebaker) und zum schlagfertigen Lieblingsgast der
Talkshow-Moderatoren. Und dann fand sie Frédéric, den Deutschen, der sein Geld damit
verdient hatte, 68 Ritter- und 4 Prinzentitel zu verkaufen, und sich auch nie entscheiden
konnte, wann er nun eigentlich geboren war. «Für uns Deutsche haben die Ungarn Paprika im
Blut», beschrieb Frédéric handfest seine Faszination für Zsa Zsa, gemeinsam gingen sie im
Gesellschaftsleben auf: «An ihrer Seite habe ich vier amerikanische Präsidenten kennen
gelernt», erzählt er gerne.
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Fitnessvideo mit fast 90
Dass das gemeinsam erworbene Trompetengold zum Ende hin nicht mehr so glänzte, das wird
Zsa Zsas alten Ruhm nicht überschatten. Etwa dass Frédéric von Anhalt bei den seltenen
Fotoshootings, die sie überhaupt noch zuliess in ihrer Villa, immer aufpassen musste, dass nicht
die Wasserschäden an den Wänden mit aufs Foto kamen. Oder dass er selbst einmal nackt, zum
grossen Amüsement der Polizei, ausgeraubt und gefesselt in seinem Rolls-Royce gefunden
wurde. Auch nicht, dass er von Februar bis Anfang August 2010 einen unendlich peinlichen
Wahlkampf machte, mit dem er sich als Arnold Schwarzeneggers republikanischer Nachfolger
für das Gouverneursamt von Kalifornien bewarb. Nach ihrer Beinamputation im Januar begann
er dann, zu verscherbeln, was von ihren alten Besitztümern noch irgendwas hermachte. Das
Letzte, womit er Schlagzeilen machte, war seine Kandidatur für das Amt des Bürgermeisters
von Los Angeles. Es schadete Zsa Zsa der Grossen auch nicht weiter, dass sie mit beinah 90
Jahren ein Fitnessvideo mit dem Titel «Its Simple, Darling» veröffentlichte, in dem ein riesiger
Muskelprotz ihre Beine hob und senkte oder ihr sanft in den Schneidersitz half.
Denn es entfuhr ihr auch da wieder eines ihrer unsterblichen Bonmots: «Ich kam nicht als
Athletin zur Welt, sondern als Liebhaberin.» Und jetzt soll die Welt gefälligst auf sie anstossen!
Die sehen was, was du nicht siehst
Gewaltvideos und Hasskommentare werden auf Facebook mal gelöscht, mal nicht. Nach welchen Kriterien?
Und von wem?
Eine Reportage von Hannes Grassegger und Till Krause
Das Magazin N°50 – 17. Dezember 2016
Im Sommer 2015 erscheint im Internet eine Stellenanzeige:
«Service Center Mitarbeiter. Möchten Sie Teil eines internationalen Teams mit guten
Karrieremöglichkeiten werden?» Verlangt wurden Fremdsprachenkenntnisse, Flexibilität und
Zuverlässigkeit. Arbeitsort: Berlin.
Als ich die Anzeige gesehen habe, dachte ich: totaler Glücksfall. Ich hatte monatelang nach einer
Stelle in Berlin gesucht, für die ich kein Deutsch können muss.
Die Person, die das sagt, will unerkannt bleiben. Den Job, auf den sie sich bewarb, gibt es seit so
kurzer Zeit, dass er nicht einmal einen richtigen Namen hat. Die Stellenanzeige deutet eher auf ein
Callcenter hin als auf das, was die Bewerber wirklich erwartet: Manche sagen «Content-Moderation»
dazu, andere nennen es «digitale Müllabfuhr». Die Aufgabe dieser Menschen: die Internetseiten ihrer
Auftraggeber sauber zu halten. Sie klicken sich durch all den Hass und all den Horror, den Nutzer im
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Netz verbreiten. Und müssen entscheiden: löschen oder nicht? Es ist ein Job, von dem kaum etwas
bekannt ist. Viele wissen nicht einmal, dass es ihn überhaupt gibt.
Lange ging man davon aus, dass solche Tätigkeiten vor allem von Dienstleisterfirmen in
Schwellenländern erledigt werden, etwa in Indien oder auf den Philippinen. Einer der grössten
Auftraggeber dieser Firmen: Facebook. Das soziale Netzwerk mit 28 Millionen Nutzern in
Deutschland und 1,8 Milliarden Nutzern weltweit gibt so gut wie nichts darüber bekannt, wie es
gefährliche Inhalte löscht, die dort jeden Tag massenhaft hochgeladen werden.
Erst im Januar dieses Jahres wurde öffentlich, dass über den Dienstleister Arvato, eine BertelsmannTochter, auch in Berlin mehr als hundert Menschen als Content-Moderatoren für Facebook arbeiten.
Wie viel Facebook Arvato für diese Arbeit bezahlt oder nach welchen Kriterien die Mitarbeiter
ausgewählt werden – dazu macht das Unternehmen grundsätzlich keine Angaben.
Über mehrere Monate hinweg haben unsere Reporter mit zahlreichen ehemaligen und derzeitigen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Arvato gesprochen. Mit Journalisten zu reden wurde ihnen
von ihren Vorgesetzten verboten, aber sie wollen ihre Geschichte erzählen. Viele fühlen sich von
ihrem Arbeitgeber schlecht behandelt, sie leiden unter den Bildern, die sie täglich sehen, klagen über
Stress und Erschöpfung und finden, dass ihre Arbeitsbedingungen öffentlich gemacht werden sollten.
Einige stehen in der Hierarchie unten, andere weiter oben, sie kommen aus verschiedenen Ländern
und sprechen verschiedene Sprachen. Manche wollten sogar mit ihrem Namen auftreten, weil sie
schon gekündigt haben oder kurz davor stehen. Wir haben uns entschieden, alle Quellen zu
anonymisieren. Denn alle Mitarbeiter haben Verträge unterschrieben, die Geheimhaltung verlangen.
Wir geben ihre Aussagen in Kursivschrift wieder. Die Gespräche fanden persönlich in Berlin statt,
via Skype oder über verschlüsselte Internetkommunikation.
Die meisten Bewerber sind junge Menschen, die irgendwie in Berlin gestrandet sind: Aus Liebe. Aus
Abenteuerlust. Wegen des Studiums. Manche Bewerber sind Flüchtlinge aus Syrien. Für alle wirkt
diese Aussicht sehr verlockend: ein Job bei einer grossen deutschen Firma, in Festanstellung, meist
nur befristet, aber immerhin. Das Vorstellungsgespräch ist oft schnell erledigt, gefragt wird nach
Fremdsprachenkenntnissen und Erfahrung mit Computern. Nur eine Frage wundert die Bewerber:
«Können Sie verstörende Bilder ertragen?»
An unserem ersten Tag bekamen wir ein Einführungstraining. Wir waren etwa dreissig Leute in
einem Seminarraum, Leute aus allen möglichen Ländern: Türkei, Schweden, Italien, Puerto Rico,
auch viele Syrer.
Der Trainer kam mit strahlendem Lächeln in den Raum und sagte: Ihr habt das grosse Los gezogen.
Ihr werdet für Facebook arbeiten! Alle haben gejubelt.
In der Einführung bekommen die Mitarbeiter die Regeln ihres Jobs bei Arvato erklärt. Zuerst:
Niemand darf erfahren, für welchen Auftraggeber hier gearbeitet wird. Den Namen Facebook dürfen
sie nicht in ihre Lebensläufe oder LinkedIn-Profile schreiben. Nicht einmal ihren Familien sollen sie
sagen, was sie tun.
Ihre Aufgabe erklärt der Trainer den Arvato- Neulingen so: «Ihr reinigt Facebook von den Inhalten,
die sonst auch Kinder sehen würden. Und indem ihr sie entfernt, entzieht ihr Terror und Hass die
Plattform.»
Ein ehemaliger Mitarbeiter der Firma nennt die Einführung den Reportern gegenüber eine
«Indoktrination»: Die Leute sollten das Gefühl bekommen, dass diese, wie er es nennt, «stupide und
stumpfe Arbeit» vor allem dem Schutz der Gesellschaft diene – und nicht hauptsächlich den
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Interessen des Milliardenkonzerns Facebook, der Menschen möglichst lange auf seiner Seite halten
will und deshalb darauf angewiesen ist, dass man dort nicht allzu viel Verstörendes sieht.
Im Training kamen Bilder, die nicht so schlimm waren: Penisse in allen Grössen und Formen. Wir
haben gekichert. Schon komisch, sich so was bei der Arbeit anzuschauen. Na ja, das sollten wir ja
auch löschen. Und entblösste Nippel.
Einmal waren wir abends etwas trinken mit Leuten, die diesen Job schon länger machen. Nach ein
paar Bieren sagte einer: Wenn ich euch einen Tipp geben darf, schmeisst den Job hin, so schnell ihr
könnt, er wird euch fertigmachen.
Die Mitarbeiter erhalten zum Einstieg Unterlagen, die neben den Geheimhaltungsklauseln auch mögliche Gesundheitsrisiken auflisten: Rückenschmerzen, Beeinträchtigung der Augen durch zu langes
Starren auf Monitore. Psychische Gefahren, die etwa durch dauerhaftes Betrachten brutaler Inhalte
entstehen können, werden darin mit keinem Wort erwähnt. Ausserdem bekommen die neuen ArvatoMitarbeiter einen S-Bahn-Plan von Berlin, samt der Anmerkung: «Have a good time in Berlin!»
Die Arbeitsräume am Wohlrabedamm in der Berliner Siemensstadt sind nüchtern gehalten.
Ehemalige Werksgebäude, Backstein, innen schmale, weisse Einpersonenschreibtische in Reihen
hintereinander, darauf schwarze Computer mit weissen Tastaturen. Ergonomische Bürostühle, grauer
Büroteppich. Platz für einige Dutzend Leute. Handys sind laut Arbeitsvertrag bei der Arbeit streng
verboten. Im Erdgeschoss stehen ein Snackautomat und einer für Kaffee und heisse Schokolade. Es
gibt einen grossen Innenhof für die Raucher. Auch andere Firmen sind im Gebäude untergebracht.
Man loggt sich ein, steuert eine Warteschlange an, wo sich Tausende gemeldete Beiträge stapeln,
man klickt sich ein, und los gehts.
Es gebe maschinelle Filter, die Inhalte automatisch aussortieren, sagt ein Ex-Mitarbeiter. Doch
gerade bei Bildern oder Videos tun sich Computer schwer, etwa die Darstellung einer medizinischen
Operation von der einer Hinrichtung zu unterscheiden. Deshalb kommt der Grossteil der Beiträge,
die das Team in Berlin durchsehen muss, von Facebook-Nutzern, die diese Beiträge als anstössig
gemeldet haben, und zwar über die Funktion: «Diesen Beitrag melden – er sollte meiner Meinung
nach nicht auf Facebook sein.»
Ich habe Sachen gesehen, die mich ernsthaft am Guten im Menschen zweifeln lassen. Folter und Sex
mit Tieren.
Die gemeldeten Beiträge landen bei den Mitarbeitern auf der untersten Stufe der Hierarchie. Ihr
Team heisst FNRP, das steht für «Fake Not Real Person». Sie sollen filtern: Welche der
Textbeiträge, Bilder oder Videos, die Nutzer als problematisch gemeldet haben, verstossen wirklich
gegen die sogenannten Gemeinschaftsstandards von Facebook? Erster Schritt: Untersuchen, ob der
Inhalt von einem authentischen Echtnamen-Profil kommt. Falls nicht – daher die Bezeichnung «Fake
Not Real Person» –, wird an das erfundene Profil eine Löschungsdrohung geschickt. Wenn sich der
Nutzer daraufhin nicht glaubhaft identifiziert, wird das ganze Konto entfernt. So wird gegen Profile
vorgegangen, die angelegt wurden, um verbotene Inhalte zu verbreiten.
Die Wochenarbeitszeit im FNRP-Team liegt bei vierzig Stunden, gearbeitet wird in zwei Schichten
von 8.30 Uhr bis 22 Uhr. Das Monatsgehalt beträgt rund 1500 Euro brutto, wenig höher als der
Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde.
Die Content-Moderatoren, eine Hierarchiestufe höher, prüfen auch Videos. Besonders schwer zu
entscheidende Fälle klären die «Subject Matter Experts». Darüber wiederum stehen die
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Gruppenleiter, deren Job als weniger belastend gilt: Sie sind kaum noch mit der Sichtung
verstörender Beiträge beschäftigt.
Arvato ist ein Riese. Eine Firma, die Aufgaben übernimmt, die andere Firmen auslagern: Das
Unternehmen betreut so unterschiedliche Dinge wie Callcenter, Vielfliegerprogramme und
Versandzentren. In mehr als vierzig Ländern beschäftigt der Outsourcing- Dienstleister rund 70 000
Menschen. Arvato ist eine der tragenden Säulen des Mediengiganten Bertelsmann. Mehr als die
Hälfte aller Bertelsmann-Mitarbeiter ist bei Arvato angestellt. Auf der Firmenwebsite steht das
Motto: «Wie können wir Ihnen helfen?»
Einer der Gründe dafür, dass es jenes Facebook-Löschzentrum in Berlin gibt, ist wohl auch der
zunehmende Druck der deutschen Behörden. Bundesjustizminister Heiko Maas forderte deutsche
Ansprechpartner bei Facebook, die sich um Inhalte in deutscher Sprache kümmern und zweifelhafte
Postings rasch entfernen. Momentan ermittelt die Staatsanwaltschaft München gegen Facebook
wegen des Verdachts auf Beihilfe zur Volksverhetzung. Der Vorwurf: Die Firma lösche illegale
Inhalte oft nicht zügig.
Im Frühsommer 2015 wurde eine kleine Gesandtschaft von Arvato in die Europa-Zentrale von
Facebook eingeladen. Die beiden Unternehmen hatten sich auf eine Zusammenarbeit geeinigt: Das
grösste soziale Netzwerk der Welt benötigte Hilfe beim Saubermachen seiner Seite; die ArvatoManager sollten lernen, wie man dafür ein Team aufbaut. Im Herbst 2015 begann die Arbeit,
zunächst blieb der Betrieb geheim.
Wie lange ist die Vertragsdauer zwischen Facebook und Arvato angelegt? Wie werden die
Mitarbeiter auf ihre Tätigkeit vorbereitet? Hat Arvato vor Beginn eine Gefährdungsbeurteilung in
Bezug auf die psychische Belastung für Content-Moderation erstellt? Unsere Reporter haben Arvato
einen schriftlichen Katalog mit 19 Fragen vorgelegt. Arvato erklärt dazu nur: «Unser Auftraggeber
Facebook hat sich vorbehalten, alle Presseanfragen zu der Zusammenarbeit mit Arvato selbst zu
bearbeiten.»
Auch Facebook Deutschland antwortet auf mehrere schriftliche Anfragen der Reporter meist
unkonkret oder mit dem Satz: «Dazu machen wir keine Angaben.» In manchen Punkten
unterscheidet sich die Darstellung von Facebook von den Aussagen der derzeitigen und ehemaligen
Arvato-Mitarbeiter, mit denen wir gesprochen haben. So schreibt Facebook, jeder Mitarbeiter im
Facebook-Team von Arvato sei vor Beginn seiner Tätigkeit zu einem «sechswöchigen Training
sowie einem vierwöchigen Mentoring-Programm» verpflichtet. Die von den Reportern befragten
Angestellten berichteten zumeist jedoch von einer deutlich kürzeren Vorbereitung: zwei Wochen.
Bei Arvato sind die Löschteams nach Sprachen aufgeteilt. Auf dem Gang unterhält man sich auf
Englisch, ansonsten in der Sprache der Teams: Arabisch. Spanisch. Französisch. Türkisch.
Italienisch. Schwedisch. Und natürlich Deutsch. Die Teams sichten Inhalte, die aus ihrem jeweiligen
Sprachraum kommen. Doch im Kern sind die Inhalte meist ähnlich.
Es ist eine zufällige Bildauswahl, was so aus der Warteschlange kommt. Tierquälerei, Hakenkreuz,
Penisse.
In den Teams haben sich verschiedene Methoden etabliert, mit den schwer zu ertragenden Bildern
umzugehen: Die Spanier tauschen sich laut untereinander aus, die Araber ziehen sich eher zurück.
Die Franzosen sitzen oft nur still vor ihren Rechnern.
Am Anfang haben wir in den Mittagspausen noch Witze gemacht über die vielen Pornos. Aber
irgendwann wurden wir alle bedrückter.
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Löschen oder nicht löschen? Ist die Entscheidung getroffen, erscheint die nächste Aufgabe auf dem
Bildschirm. Die Zahl der Fälle – Tickets genannt – kann man auf einer Anzeige auf dem Bildschirm
verfolgen.
Die Bilder wurden immer schlimmer, viel krasser als im Training. Aber oft auch nichts anderes als
das, was du in meinem Heimatland in der Zeitung sehen könntest. Gewalt, teils entstellte Leichen.
Immer wieder kommt es vor, dass Menschen im Raum aufspringen. Rausrennen. Heulen.
Die Mitarbeiter haben den Reportern Details erzählt, die zu grausam sind, um sie zu drucken. Schon
die folgenden Darstellungen sind kaum zu ertragen.
Ein Hund war angebunden. Eine nackte Asiatin quälte das Tier mit einem heissen Eisen. Dann
überschüttete sie es mit kochendem Wasser. Das war als Fetisch gemeint für Leute, die sich daran
aufgeilen.
Kinderpornografie war das Schlimmste. Dieses kleine Mädchen, maximal sechs Jahre, das in einem
Bett liegt, Oberkörper frei, und darauf sitzt ein fetter Mann und missbraucht sie. Es war eine
Nahaufnahme.
Wer diese Inhalte zugeteilt bekommt, ist eine Mischung aus Türsteher und Fliessbandarbeiter: Das
darf auf Facebook bleiben. Klick. Das nicht. Klick. Anfangs sollte jeder der FNRPs pro Tag etwa
tausend Tickets erledigen: tausend Entscheidungen, ob etwas gegen das komplizierte Regelwerk von
Facebook verstösst, die sogenannten Gemeinschaftsstandards, die festlegen, was auf der Seite
veröffentlicht werden darf und was gelöscht werden muss.
Irgendwann kamen Enthauptungen, Terror, ganz viel Nacktheit. Ein Schwanz nach dem anderen.
Unendlich viele Schwänze. Und immer wieder besonders Grauenhaftes. Schwer zu sagen, wie viel,
das hängt davon ab. Ein bis zwei Fälle pro Stunde mit Sicherheit. Aber jeden Tag passiert dir etwas
Schreckliches.
Nach ein paar Tagen sah ich meine erste Leiche, viel Blut, ich bin erschrocken. Ich habe das Bild
sofort gelöscht. Mein Vorgesetzter kam dann zu mir und sagte: Das war falsch, dieses Bild verstösst
nicht gegen die Gemeinschaftsstandards von Facebook. Ich solle beim nächsten Mal genauer
arbeiten.
Das Wort «Gemeinschaftsstandards» mag harmlos klingen wie der Putzplan einer Studenten-WG.
Doch hinter diesem Regelwerk steckt ein wohlgehütetes Geheimnis von Social-Media-Firmen. Darin
wird detailliert bestimmt, welche Inhalte hochgeladen und geteilt werden dürfen, was gelöscht
werden muss. Es ist eine Art Parallelgesetz der Meinungsfreiheit, festgelegt von Konzernen mit
grossem Einfluss darauf, was Milliarden von Menschen jeden Tag sehen – und was nicht. Dabei geht
es um mehr als um die Frage, ob eine entblösste Brustwarze anstössig ist oder nicht. Facebook ist ein
wichtiges Mittel der politischen Bildung und Einflussnahme. Welche Inhalte dort geteilt werden,
prägt das Bild der Gesellschaft entscheidend mit. Wie Katastrophen, Revolutionen oder
Demonstrationen wahrgenommen werden, hängt auch davon ab, welche Bilder davon in den
Facebook-Timelines landen. Trotzdem sind die allermeisten Details dieser Regeln weder öffentlich,
noch haben Gesetzgeber Einblick in die genauen Kriterien, nach denen Inhalte zensiert werden oder
zirkulieren dürfen.
Social-Media-Unternehmen veröffentlichen zumeist nur einen kleinen Teil dieses Regelwerks, der
oft vage formuliert ist. Bei Facebook stehen dort Sätze wie: «Wir dulden in keiner Weise
Verhaltensmuster, die Personen einer Gefahr aussetzen.» Wie genau dieses nicht geduldete Verhalten
aussieht, wird nicht genauer erklärt. Ein Ex-Mitarbeiter begründet die Geheimhaltung dieser Regeln
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damit, dass man Menschen keine Hinweise liefern möchte, wie sie durch geschickt formulierte
Inhalte an den Löschregeln vorbeikommen könnten. Eine absurde Logik: Wie ein Staat, der sein
Gesetzbuch unter Verschluss hält, aus Angst, Leute könnten dadurch ihre verbrecherischen
Methoden verfeinern.
Obwohl Facebook sich als offenes Unternehmen präsentiert, das Menschen nur eine Plattform zum
Teilen von Informationen zur Verfügung stellt, gibt sich die Firma verschlossen, wenn es um die
eigene Geschäftspraxis geht. Gerd Billen, Staatssekretär im Bundesjustizministerium und Leiter der
Taskforce zum «Umgang mit rechtswidrigen Hassbotschaften im Internet», sagt: «Leider sehe ich
aktuell keine ausreichende Bereitschaft bei Facebook, transparent und nachvollziehbar darzulegen,
wie mit strafbaren Inhalten verfahren wird.» Selbst er als Vertreter des Bundesjustizministeriums
durfte bis heute nicht bei Arvato vorbeischauen. «Ich habe mehrfach Transparenz über den Umgang
mit verstörenden Inhalten eingefordert, etwa zu den genauen Regeln der Löschung oder zur Zahl und
Qualifikation der Mitarbeiter in diesem Bereich. Doch blieb es bisher bei Lippenbekenntnissen», sagt
Billen. Momentan prüft sein Ministerium Gesetzesvorhaben, die Facebook zu mehr Transparenz
verpflichten würden.
Den Reportern liegen grosse Teile der geheimen Regeln von Facebook vor. Zum ersten Mal werden
sie in diesem Umfang öffentlich. Zuletzt war Anfang 2012 auf der US-Website Gawker ein 17seitiger Leitfaden mit Löschkriterien einer Firma aufgetaucht, die auch im Auftrag von Facebook
tätig war.
Die internen Dokumente bestehen aus Hunderten von kleinen Regeln, sämtlich festgelegt von
Facebook. Besonders interessant: die vielen Beispiele dafür, welche Inhalte gelöscht werden müssen
und welche nicht.
Gelöscht werden muss unter anderem:
• Ein Bild einer Frau, die sich in der Öffentlichkeit übergibt – dazu der Kommentar: «Oh Gott. Du
bist erwachsen. Das ist ekelhaft.» (Grund: Kommentar wird als Mobbing gewertet, und zwar durch
die Äusserung von Ekel vor Körperfunktionen.)
• Ein unkommentiertes Foto eines Mädchens neben dem Foto eines Schimpansen mit ähnlichem
Gesichtsausdruck. (Grund: Herabwürdigende Bildbearbeitung: eindeutiger Vergleich eines
Menschen mit einem Tier.)
• Ein Video, in dem ein Mensch gequält wird, aber nur wenn darunter ein Kommentar steht wie:
«Mir gefällt es zu sehen, wie viel Schmerz er da erleidet.»
Nicht gelöscht werden soll etwa:
• Das Video einer Abtreibung (es sei denn, es enthält Nacktaufnahmen).
• Das Bild eines Erhängten mit dem Kommentar «Hängt diesen Hurensohn.» (Gilt als erlaubte
Befürwortung der Todesstrafe; verboten wäre es nur, wenn spezifisch auf eine «Geschützte
Personengruppe» eingegangen würde, also dort etwa stünde: «Hängt diesen Schwulen auf!»)
• Bilder einer extrem magersüchtigen Frau ohne Kommentar. (Das Zeigen von selbstverletzendem
Verhalten ohne Kontext ist gestattet.)
Der Umgang mit extremer Gewalt ist beispielsweise in Kapitel 15.2 geregelt, Bejubeln von Gewalt:
«Wir erlauben nicht, wenn Menschen Bilder oder Videos teilen, in denen Menschen oder Tiere
sterben oder schwer verletzt werden, wenn diese Form der Gewalt dabei zusätzlich bejubelt wird.»
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Was auf dem Bild zu sehen ist, spielt demzufolge keine Rolle, sondern nur die Kombination von Bild
und Text. Als Beispiel werden Kommentare aufgezählt, die als das Bejubeln von Gewalt angesehen
werden. Wenn jemand unter ein Foto eines Sterbenden schreibt: «Seht euch das an – so cool» oder
«Fuck yeah» – nur dann müssen solche Bilder nach dieser Bestimmung gelöscht werden.
Die Regeln waren kaum zu verstehen. Ich habe meinem Teamleiter gesagt: Das gibts doch nicht, das
Bild ist total blutig und brutal, das sollte kein Mensch sehen müssen. Aber er meinte nur: Das ist
deine Meinung. Aber du musst versuchen, so zu denken, wie Facebook es will. Wir sollten denken
wie Maschinen.
Aus der Facebook-Zentrale kommen ständig Neuerungen der Gemeinschaftsstandards. Bei Arvato
gibt es jemanden, der die Änderungen im Blick behalten soll. Für Facebook ist das sehr wichtig.
Schliesslich geht es darum, was Nutzer von der Plattform vertreiben könnte – und das oberste Ziel
von Facebook ist das Gegenteil: möglichst viele Menschen möglichst lange auf der Plattform zu
halten, damit sie möglichst viel Werbung sehen und Facebook möglichst viel Geld verdient.
Es ist keine leichte Aufgabe, die Facebook zu lösen hat: den Hass und den Wahnsinn der Menschen
im Zaum zu halten und gleichzeitig sicherzustellen, dass wichtige Ereignisse nicht einfach unsichtbar
bleiben. Die Lösch-Entscheidungen können ähnlich weitreichende Konsequenzen haben wie
Entscheidungen über journalistische Berichterstattung.
Für Hunderte Millionen Menschen auf der Welt ist Facebook die wichtigste Nachrichtenquelle.
Trotzdem gilt die Firma nicht als Medienkonzern, da sie keine eigenen Inhalte produziert, muss sich
aber mit medienethischen Fragen befassen: Wann ist die Darstellung von Gewalt gerechtfertigt, etwa
in der Kriegsberichterstattung, da sie dann einem höheren Ziel dient? Darüber denken
Wissenschaftler seit Jahrzehnten nach, in sozialen Medien müssen diese Fragen schnell entschieden
werden. Vor mehr als sieben Jahren wurde das Video der sterbenden Neda Agha-Soltan, einer jungen
Frau aus Teheran, die bei Protesten erschossen wurde, zu einer ersten Bewährungsprobe für
Facebooks Konkurrenten Youtube. Löschen oder nicht? Ein Youtube-Team entschied: Der Film ist
ein politisches Dokument, er bleibt online, trotz seiner Brutalität. Längst versuchen Firmen, für
solche komplexen Entscheidungen einfache Regeln aufzustellen. In den geheimen FacebookDokumenten steht: «Videos, die den Tod von Menschen zeigen, sind verstörend, können aber
Bewusstsein schaffen für selbstverletzendes Verhalten, psychische Erkrankungen, Kriegsverbrechen
oder andere wichtige Themen.» Im Zweifel sollen die Mitarbeiter bei Arvato solche Videos an ihre
Vorgesetzten abgeben, besonders komplexe Fälle werden angeblich in der Europa-Zentrale von
Facebook in Dublin bearbeitet.
Besonders krass war es bei den Terroranschlägen in Paris letztes Jahr. Da wurden Sondersitzungen
einberufen, was mit den Livebildern passieren soll. Da sind ja brutalste Sachen bei uns gelandet,
quasi in Echtzeit. Am Ende wurde uns gesagt, wir sollten die meisten Inhalte einfach ans arabische
oder französische Team weiterleiten. Was damit passiert ist, weiss ich nicht.
Als die Anschläge in Paris losgingen, holten die Team-Leader uns Content-Moderatoren aus dem
Wochen-ende. Ich bekam Anrufe und SMS von ihnen. Ich habe das ganze Wochenende
durchgearbeitet.
Gesicherte Zahlen, wie viele Menschen weltweit beruflich damit beschäftigt sind, Facebook-Inhalte
zu löschen, gibt es kaum. Die Leiterin der internationalen Facebook-Abteilung «Policy», Monika
Bickert, verriet im März auf einer Konferenz, weltweit würden pro Tag mehr als eine Million
Facebook-Beiträge von Nutzern als unzulässig gemeldet. Wie viele Menschen für das Löschen dieser
Beiträge zuständig sind, sagte sie nicht. Die Medienwissenschaftlerin Sarah Roberts von der
University of California in Los Angeles erforscht seit Jahren diesen neuen Beruf. Sie schätzt, dass bis
zu 100 000 Menschen weltweit in solchen Jobs arbeiten, fast alle bei Dienstleistern, und nicht nur für
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Facebook. Roberts hat viele Löscharbeiter in verschiedenen Ländern interviewt und beschreibt
etliche als traumatisiert. Die psychische Gesundheit dieser Menschen habe einen grossen Einfluss auf
die Inhalte, die es in die Timelines schaffen. Denn viele seien nach monatelangem Sichten von Hass,
Sex und Gewalt so zermürbt, dass sie fast jeden Inhalt durchgehen lassen. Dazu kommt: Um
gründlich zu arbeiten, fehlt oftmals die Zeit.
Manche Videos muss man komplett durchschauen. Sie lassen uns das nicht durchskippen, auch wenn
man allein die Screenshots anschauen könnte. Das Schlimme ist der Ton. Den muss man sich auch
anhören, weil es eben sein kann, dass genau in der Tonspur etwas liegt, was nicht erlaubt ist.
Hassreden beispielsweise oder Sadismus. Manche Videos sind ganze Filme, es kann über eine
Stunde gehen.
Vielen Content-Moderatoren gehen die Bilder auch zu Hause nicht aus dem Kopf. Und dann
kommen häufig auch noch Textnachrichten der Teamleiter. Dass man hinterherhinke. Ob man nicht
eine Zusatzschicht einlegen könne. Das Arbeitspensum sei für die Mitarbeiter nicht zu bewältigen,
sagt einer, der mittlerweile gekündigt hat.
Flexibel sein zu müssen ist man in Berlin gewohnt, vor allem wenn man aus dem Ausland kommt
und kein Deutsch spricht. Denn längst ziehen nicht nur Bayern und Schwaben dorthin, sondern auch
viele Menschen aus der globalen Mittelschicht: Inder, Mexikaner, Südafrikaner, junge, oft gut
ausgebildete Leute – die in Berlin erleben müssen, dass sie trotz ihrer Bildung kaum jemand
einstellen will. Rund dreissig Prozent der in Berlin lebenden Ausländer gelten als armutsgefährdet.
Ein ehemaliger Mitarbeiter sagt:
Man kann Arvato nur für den Geschäftssinn gratulieren, sich Berlin für diese Arbeit ausgesucht zu
haben. Hier gibt es einen Schmelztiegel an Sprachen und Kulturen, wo sonst findet man Schweden,
Norweger, Syrer, Türken, Franzosen, Spanier, die dringend Arbeit suchen?
Die meisten dieser Zugezogenen sind verzweifelt, sie wollen unbedingt in der Stadt leben und
nehmen dafür einen Job in Kauf, für den sie weit überqualifiziert sind, der ihre Seelen verletzt und
viele von ihnen immer weiter abstumpfen lässt.
So kommt es, dass unter den Arvato-Löscharbeitern auch Quantenphysiker sind oder waren, Leute
mit Doktortitel, ein Professor, oft Flüchtlinge, deren berufliche Qualifikationen in Deutschland nicht
anerkannt werden. Ein ehemaliger Mitarbeiter erzählt, es sei schwierig gewesen, Menschen zu so
einer zermürbenden Arbeit zu motivieren. Oder sie zu befördern. Denn wer zum Content-Moderator
aufsteigt, muss auch Videos prüfen.
Ein Video könnte reichen, um mein Leben zu zerstören. Das wusste ich. Ich wollte auf keinen Fall
zum Content-Moderator befördert werden. Ich hatte Angst davor, was es meiner Psyche antun
könnte. Content-Moderatoren sehen die schlimmsten Sachen, die man sich überhaupt vorstellen
kann. In Bildern und in Videos.
Content-Moderatoren müssen noch schneller arbeiten als die FNRPs der untersten Hierarchiestufe.
Pro Fall haben sie durchschnittlich acht Sekunden Zeit – obwohl sie immer wieder Filme komplett
durchsehen sollen, die viel länger dauern. Sein Tagesziel seien mehr als dreitausend Fälle gewesen,
erzählt ein Content-Moderator. Das deckt sich in etwa mit den Zahlen, die die US-Hörfunkgruppe
NPR im November von Content-Moderatoren aus anderen Ländern zitiert hat – und die Facebook
dem Sender gegenüber abstritt. Laut einem ehemaligen Mitarbeiter finden alle Arbeiten der
Löschteams auf einer internen Facebook-Plattform statt, sodass die Firma seiner Meinung nach
laufend über alle Zahlen unterrichtet sein müsste.
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Gleichzeitig wäre es unmöglich, alle Videos wirklich durchzuschauen und zu prüfen. Sie sind so
brutal, dass man einfach wegschalten will, obwohl man das nicht darf. Ausserdem muss man ja auf
viele Dinge achten – oft ist nicht eindeutig, gegen welche Regel da gerade verstossen wird.
Du musst dein Tagesziel erreichen, sonst gibt es Ärger mit den Vorgesetzten. Der Druck war
immens.
Im Frühjahr 2016 schreibt das spanischsprachige Löschteam einen Brief an den Vorstand von
Arvato, in dem es um Überlastung, hohen Druck und schlechte Arbeitsbedingungen geht. Das
Schreiben macht schnell die Runde bei allen Mitarbeitern: «Aufgrund von Überarbeitung haben wir
um fünfminütige Pausen gebeten (…) Diesem Wunsch ist man leider bisher nicht nachgekommen.
Zusätzlich muss erwähnt werden, dass zu all den oben genannten Schwierigkeiten noch die
psychische Anstrengung hinzukommt, die bei der Bearbeitung von Tickets mit teilweise
schockierenden Inhalten hervorgerufen wird.»
Geändert hat sich seitdem nichts, erzählen die Mitarbeiter. Viele berichten, mittlerweile würden statt
tausend fast zweitausend Tickets pro Tag von den FNRP-Mitarbeitern erwartet. Facebook macht auf
Nachfrage unserer Reporter dazu keine Angaben.
Meine Teamleiterin meinte: Wenn dir der Job nicht passt, kannst du ja kündigen.
Heute sind bei Arvato in Berlin mehr als sechshundert Menschen mit dem Löschen von FacebookInhalten beschäftigt, berichtet ein Mitarbeiter. Ständig werden es mehr. Im März 2016 wurde ein
zweites Gebäude bezogen, wenige Fussminuten entfernt. Mitarbeiter hängten im Büro ein riesiges
Facebook-Banner auf.
Es ist so ein Gegensatz: Natürlich fanden wir es cool, für Facebook zu arbeiten, die Firma, die jeder
kennt und liebt. Man versucht halt, das Schlimme auszublenden.
Obwohl die Arbeit furchtbar sei, würden erstaunlich wenige kündigen, sagt eine unserer Quellen.
Vielleicht weil sie den Job bräuchten, vielleicht weil sie abgestumpft seien. Ein Mitarbeiter des
arabischen Teams sagt:
Es ist schlimm, aber so kann ich wenigstens verhindern, dass schreckliche Gewaltvideos aus Syrien
weiterverbreitet werden.
Doch immer wieder kommen Videos, die Mitarbeiter zum Aufgeben zwingen.
Da war ein Mann mit einem Kind. Ein etwa dreijähriges Kind. Der Typ stellt die Kamera ein. Er
nimmt das Kind. Und ein Schlachtermesser. Ich habe selbst ein Kind. Genau so eins. Es könnte
dieses sein. Ich muss nicht mein Gehirn zerstören wegen dieses Scheissjobs. Ich habe alles
ausgeschaltet und bin einfach rausgelaufen. Ich habe meine Tasche genommen und bin heulend bis
zur Strassenbahn gelaufen.
Wissenschaftler verstehen unter einem seelischen Trauma ein belastendes Ereignis, das nicht ohne
Weiteres bewältigt werden kann. Es ist oftmals das Resultat von körperlicher oder seelischer Gewalt
und führt nicht selten zu posttraumatischen Belastungsstörungen. Harald Gündel, Professor für
Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Ulm und Präsidiumsmitglied der Deutschen
Traumastiftung, hat einige der Abschriften gelesen, die unsere Reporter von Interviews mit ArvatoMitarbeitern angefertigt haben. Für Gündel zeigen deren Schilderungen möglicherweise klassische
Merkmale posttraumatischer Belastungsstörungen: belastende Bilder und Sequenzen aus den Videos,
die auch ausserhalb der Arbeit immer wieder vor dem inneren Auge auftauchen; wiederkehrende
Albträume; übertrieben schreckhafte Reaktionen in Situationen, die entfernt etwas mit dem Inhalt der
22
Videos zu tun haben; Schmerzen, die sich nicht durch körperlichen Befund erklären lassen; sozialer
Rückzug; Erschöpfung und abgestumpfte Verhaltensweisen; Verlust des sexuellen Interesses.
Seit ich die Kinderpornovideos gesehen habe, könnte ich eigentlich Nonne werden – an Sex ist nicht
mehr zu denken. Seit über einem Jahr kann ich mit meinem Partner nicht mehr intim werden. Sobald
er mich berührt, fange ich an zu zittern.
Mir sind plötzlich büschelweise Haare ausgefallen, nach dem Duschen oder selbst bei der Arbeit.
Mein Arzt sagte: Du musst raus aus diesem Job.
Immer wieder sind Leute vom Schreibtisch aufgesprungen, in die Küche gerannt und haben das
Fenster aufgerissen, um nach einem Enthauptungsvideo ein bisschen frische Luft zu atmen. Viele
haben gesoffen oder exzessiv gekifft, um damit klarzukommen.
Facebook erklärt auf Anfrage der Reporter: «Es wird jedem Mitarbeiter angeboten, psychologische
Betreuung in Anspruch zu nehmen. Dies geschieht auf Wunsch der Mitarbeiter und kann zu jedem
Zeitpunkt in Anspruch genommen werden.» Die Mitarbeiter berichten jedoch übereinstimmend, sich
mit ihren psychischen Problemen von Arvato alleingelassen zu fühlen. Ausreichende Betreuung habe
es nicht gegeben, auch keine gezielte Vorbereitung auf die seelischen Belastungen der Arbeit mit
schrecklichen Bildern und Videos.
Wir sollten unterschreiben, dass bei Arvato psychologische Hilfe angeboten wird, aber in Wahrheit
war es unmöglich, Unterstützung zu bekommen. Sie haben nichts für uns getan.
Dass Arbeitnehmer auch vor Belastungen der Psyche geschützt werden müssen, ist seit 2013 im
deutschen Arbeitsschutzgesetz, Paragraf 4 und 5, geregelt. «Es geht darum, nicht abzuwarten, bis
gesundheitliche Schäden eintreten, sondern schon im Vorfeld die Risiken so weit es geht zu
minimieren», sagt Raphaël Callsen, Anwalt für Arbeitsrecht bei der Kanzlei dka Berlin. Er vermutet
Verstösse gegen das Arbeitsrecht bei Content-Moderatoren, die nicht professionell medizinisch
betreut werden: «Der Arbeitgeber muss wirksame Schutzmassnahmen ergreifen. Beschäftigte sollten
bei einem Video oder Bild, das sie verstört, die Arbeit unterbrechen dürfen und mit einem ständig
zur Verfügung stehenden Ansprechpartner die Situation reflektieren können. Möglichst mit einem
Arzt, der seiner ärztlichen Schweigepflicht unterliegt.» Keiner der Arvato-Mitarbeiter wusste von
einem solchen Arzt zu berichten. Die Quellen berichten von offenen Gruppenterminen, bei denen
man ohne Voranmeldung über Probleme sprechen konnte. Gehalten von einer Sozialpädagogin,
keiner Psychologin, das sagen alle übereinstimmend. Keiner der Angestellten, mit denen wir
sprachen, hat diese Sitzung je besucht. Sie scheuten sich, vor fremden Arbeitskollegen über ihre
intimsten Probleme zu sprechen.
Eine Mitarbeiterin hatte immer wieder versucht, einen Einzeltermin bei der Sozialpädagogin zu
bekommen. Sie musste lange warten. Irgendwann gab sie schliesslich auf. Auf Nachfrage macht
Facebook keine genaueren Angaben über die Qualifikation der psychologischen Betreuer – oder
darüber, ob diese der Schweigepflicht unterliegen.
Da, wo ich herkomme, würde so eine Sozialarbeiterin alles, was ich dort erzähle, sofort an meinen
Chef melden. Und der würde mich dann entlassen. Keiner in meinem Team hat irgendein Vertrauen
in diese Firma – warum sollten wir dann denen unsere Sorgen anvertrauen?
Dabei gibt es durchaus Beispiele, wie man mit Menschen umgehen kann, die beruflich mit
grausamen Medieninhalten konfrontiert sind. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien,
bei der ebenfalls brutale Videos begutachtet werden, bietet neuen Mitarbeitern regelmässig
Schulungen zum Umgang mit belastenden Inhalten an. «Niemand muss sich solche Filme am Stück
ansehen», sagt Martina Hannak-Meinke, die Vorsitzende der Bundesprüfstelle, «man kann jederzeit
23
unterbrechen, etwas anderes tun und später weitermachen.» Es gibt Einzeltermine bei
Sozialarbeitern. Psychologen und Traumaexperten stehen jederzeit bereit. Auch andere Behörden,
deren Mitarbeiter sehr belastendes Material untersuchen, haben strenge Regeln: Mal dürfen solche
Filme maximal acht Stunden pro Woche beurteilt werden, mal nur in Zweierteams, damit die
Wirkung direkt diskutiert werden kann. Manche stellen für solche Tätigkeiten ausschliesslich
speziell geschulte Juristen ein.
Ich war in meinem Heimatland beim Militär, Bilder von Krieg und Tod schockieren mich nicht. Was
mich fertigmacht, ist die Unvorhersehbarkeit. Ein Video kriege ich nicht aus dem Kopf: Darin
zertritt eine Frau mit hochhackigen Schuhen ein Katzenbaby als Teil eines Sex-Fetischvideos. Ich
dachte nicht, dass Menschen zu so etwas fähig sind.
Das Katzenvideo musste gelöscht werden, es ist ein klarer Verstoss gegen Paragraf 15.1 der
vorliegenden internen Dokumente: Sadismus. «Sexueller Sadismus ist der erotische Genuss von
Schmerz eines Lebewesens» – also nicht erlaubt bei Facebook.
Die Umsetzung dieser Regeln überfordert viele Mitarbeiter. Manche berichten, dass sie in
Schulungen nicht mitschreiben dürften, als Sicherheitsmassnahme, dass die geheimen Vorschriften
nicht an die Öffentlichkeit kommen.
Die Gemeinschaftsstandards haben sich auch ständig geändert. Früher war das Bild eines
abgetrennten Kopfes in Ordnung, solange der Schnitt gerade verlief. Was ist das für eine sinnlose
Regel? Und wer legt sie fest?
In den Gemeinschaftsstandards gibt es ein Kapitel über Hassbotschaften, in dem genau geregelt ist,
welche Beleidigungen zulässig sind. Darin steht: «Ursprünglich hat Facebook keine Inhalte gelöscht,
in denen Migranten angegriffen wurden, da sie nicht zu einer geschützten Kategorie gehören, was
eine negative Berichterstattung über die Facebook-Richtlinien zur Folge hatte und dazu führte, dass
Deutschland damit drohte, den Betrieb von Facebook in Deutschland zu stoppen. Dies führte zu einer
Aktualisierung der Gemeinschaftsstandards, laut der Migranten nun ebenfalls einen gewissen Schutz
geniessen.» Einerseits verdeutlicht das: Politik und öffentlicher Druck haben durchaus Einfluss auf
die Regeln, nach denen Facebook Inhalte verbietet und löscht. Andererseits zeigt sich darin
exemplarisch ein Grundproblem von Unternehmen wie Facebook: Was oder wer in der Gesellschaft
besonderen Schutz geniesst, das hat in Deutschland in erster Linie das Grundgesetz zu bestimmen –
und nicht das Regelwerk einer Firma, das rasch angepasst werden kann, wenn ihr ein Imageschaden
droht. Rein theoretisch: Was würde passieren, wenn der gesellschaftliche Konsens in den USA
kippen und der Islam bei Facebook plötzlich weniger Schutz geniessen würde? Wenn die Hetze
gegen Muslime weniger streng verfolgt würde als gegen die laut geheimen Facebook-Dokumenten
unter anderem geschützten Christen, Juden oder Mormonen? Die Öffentlichkeit würde es womöglich
nie erfahren. Selbst die kleinste Änderung der Gemeinschaftsstandards hat eine grosse Wirkung
darauf, was Milliarden Menschen auf der Welt jeden Tag zu sehen bekommen.
Wir sehen so viel Leid – erfahren aber nie, was mit den Leuten passiert, die da abgebildet sind. Wie
geht es den Kindern heute? Und werden die Täter verhaftet?
Die Inhalte, die von den Arvato-Mitarbeitern geprüft werden, verstossen nicht nur gegen moralische
Vorstellungen, sondern oft auch gegen deutsches Recht. Wie Facebook mit illegalen Einträgen
umgehen müsste, ist kompliziert. Nach deutschem Recht muss ein Plattformbetreiber, sobald er
Kenntnis von einer konkreten rechtswidrigen Handlung oder Information hat, diese unverzüglich
löschen oder den Zugang zu ihr sperren, erklärt der Fachanwalt für Medien- und IT-Recht Bernhard
Buchner. Ansonsten laufen Firmen wie Facebook Gefahr, selbst in die Haftung zu geraten. Und
damit nicht genug: Aus Paragraf 138 Strafgesetzbuch geht eine Liste von Straftaten hervor, die
jeden, der von ihrer ernsthaften Planung erfährt, in die Pflicht nimmt, das Vorhaben anzuzeigen. Ein
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Beitrag auf Facebook, in dem jemand glaubhaft ankündigt, seine Klassenkameraden zu erschiessen,
muss also nicht nur gelöscht, sondern auch gemeldet werden – entweder den Behörden oder den
Bedrohten.
Bisher ist bekannt, dass Facebook Kinderpornos an das amerikanische National Center For Missing
and Exploited Children (NCMEC) weiterleitet. Alle beim NCMEC eingehenden Hinweise werden
dort gesichtet und an die für die weiteren Ermittlungen zuständigen Strafverfolgungsbehörden in den
USA oder im Ausland weitergeleitet, erklärt das deutsche Bundeskriminalamt auf Anfrage. «Soweit
die strafbare Handlung offensichtlich aus dem Bundesgebiet heraus erfolgt ist, werden die
verfügbaren Fallinformationen dem Bundeskriminalamt übersandt.» Ob nicht nur Kinderpornografie,
sondern auch andere Straftaten via Facebook bei deutschen Behörden landen? Details gibt Facebook
nicht bekannt.
Es gibt bei Arvato durchaus Menschen, denen der Umgang mit den Content-Moderatoren Sorgen
macht. Doch Facebook vertröstet sie mit einer Vision: Eines Tages würden Computer durch
künstliche Intelligenz in der Lage sein, Inhalte zu erkennen, die gegen die Nutzungsbedingungen
verstossen. Facebook, Twitter, Google und Microsoft gaben erst vor wenigen Tagen bekannt, dass
sie Terrorpropaganda von ihren Seiten künftig in einer gemeinsamen Datenbank speichern und mit
einem digitalen Fingerabdruck versehen wollen – so kann ein Bild, das bei Twitter gelöscht wurde,
auch automatisch von Facebook entfernt werden. Einerseits ist das ein Gedanke, der Hoffnung
macht: Dann müssten sich Menschen nicht mehr diesem Horror aussetzen. Doch es ist auch eine
erschreckende Vorstellung: Algorithmen entscheiden, welche Inhalte Milliarden Menschen bei
Facebook zu sehen bekommen, ein Computer beurteilt, was brutal ist und was nicht, wo Satire endet
und wo Terrorismus beginnt.
Ich weiss, dass jemand diesen Job machen muss. Aber es sollten Leute sein, die dafür trainiert
werden, denen geholfen wird und die man nicht einfach vor die Hunde gehen lässt wie uns.
Immer wieder habe ich diesen Traum: Menschen stürzen aus einem brennenden Haus. Sie
zerschellen am Boden. Einer nach dem anderen landet in einer Lache aus Blut. Ich stehe unten und
versuche, die Menschen zu fangen, aber es sind zu viele, und sie sind zu schwer, ich muss
ausweichen, damit sie mich nicht erschlagen. Um mich herum stehen Leute, sehr viele, die nicht
helfen. Sondern einfach mit ihren Handys filmen.
Im Zuge der Recherchen haben die Reporter ihre Quellen immer wieder gefragt, wie es ihnen geht.
Einer hat seine Albträume überwunden, nur tagsüber kommen manchmal die Bilder wieder hoch. Als
er kürzlich auf einer Leiter stand, um eine Glühbirne zu wechseln, blickte er nach unten – und sah
plötzlich vor seinem inneren Auge den Boden, auf dem die angeblichen Homosexuellen aufschlagen,
die IS-Schergen von einem Hausdach gestossen haben.
Eine hat das Land verlassen und lebt weit weg von Deutschland. Eine andere kämpft mit der
Vorstellung, überall im Park Tierschänder zu sehen, am Strand Kinderschänder. Sie hat Arvato
verlassen und nimmt nun psychologische Hilfe in einer Trauma-therapie in Anspruch. Einer besucht
einen Deutschkurs und will es mit seinem ursprünglich erlernten Beruf in Deutschland zu etwas
bringen. Keiner von denen, mit denen wir sprachen und die noch bei Arvato arbeiten, hat vor, im
Unternehmen zu bleiben. 25
«Es gibt eine Schweiz der Abschottung, die
autoritäre Tendenzen hat»
SP-Parteipräsident Christian Levrat ist der heimliche Gewinner im Streit um die
Zuwanderungsinitiative. Sein wichtigster Helfer: die FDP.
Mit
TA
Christian
Levrat
vom
sprachen
SA
Philipp
Loser
17.
und
Alan Cassidy
Dezember
in
Bern,
2016
«Unsere Antwort ist Vielfalt, Freiheit und Gerechtigkeit»: Christian Levrats Rezept gegen die rechte
Hetze. Foto: Reto Oeschger
Sind Sie ein Volksverräter?
Nein. Ich habe gemacht, wofür ich gewählt wurde: Lösungen finden, die das Land
voranbringen. Das Gestürm der SVP sagt mehr über ihr Demokratieverständnis als über
meines.
Können Sie denn mit gutem Gewissen sagen, mit dieser Lösung sei der
Volkswillen bei der Zuwanderungsinitiative umgesetzt?
Das Volk hat fünfmal Ja zu den Bilateralen gesagt und einmal Ja zur selbstständigen Steuerung
der Zuwanderung. Wir haben versucht, diese unterschiedlichen Volksentscheide unter einen
Hut zu bringen, und das Maximum herausgeholt, was im Rahmen der Bilateralen möglich war.
Wenn die SVP damit nicht einverstanden ist, soll sie das Referendum ergreifen - und nicht
Schilder in die Luft halten wie gestern im Parlament. Das ist hilflos und lächerlich.
Die Auns will nun Unterschriften für eine Kündigung der Personenfreizügigkeit
sammeln.
Eine gute Nachricht! Das ist die Anerkennung, dass die Masseneinwanderungsinitiative keine
Grundlage war, um das Personenfreizügigkeitsabkommen (PKZ) zu kündigen. Und zudem wird
eine Abstimmung über den «Brexit à la Schweiz» die Ausgangslage klären. Ich bin überzeugt:
Diese Abstimmung werden wir gewinnen.
Was macht Sie da so sicher?
26
Die Risiken einer Kündigung der Bilateralen für die Schweiz sind eindeutig zu gross. Schauen
Sie die Schwierigkeiten von Grossbritannien an - wo die Ausgangslage mit dem grösseren
Heimmarkt und dem Commonwealth um einiges besser ist.
Muss nun die Rasa-Initiative zurückgezogen werden?
An der Stelle der Initianten würde ich das tun. Rasa war das Sicherheitsnetz, falls wir keine
Lösung gefunden hätten. Mit der Umsetzung, die die Bilateralen nicht gefährdet, ist das
Kernanliegen von Rasa erfüllt.
Ohne die FDP hätten Sie die Umsetzung nicht hinbekommen. Wie haben Sie dem
Freisinn diese Allianz aufgezwungen?
Es war die FDP, die ein historisches Gedächtnis für die alte aussenpolitische Koalition zwischen
SP und Freisinn bewies. Für mich war seit längerem klar, dass eine Lösung nur über diese
Achse führen kann. Entscheidend war, dass unsere Ständeräte bereits Mitte Jahr die
Umsetzung der Initiative mit dem Kroatien-Protokoll verknüpften. Damit setzen wir ein
Stichdatum und alle unter Zugzwang.
Sie haben für diese Koalition einen Preis bezahlt: den Verzicht auf den Ausbau der
Flankierenden.
Wir haben uns vier Ziele gesetzt: keine Kündigung der Bilateralen, keine Kontingente, keine
Rückkehr zum Saisonnierstatut und ein Ausbau der flankierenden Massnahmen. Drei Punkte
sind klar. Und bei den Flankierenden unterschätzen Sie die Kreativität dieses Parlaments. Was
wir mit dem Arbeitslosenvorrang beschlossen haben, sind keine flankierenden Massnahmen im
klassischen Sinne, weil sie die Menschen nicht am Arbeitsplatz, sondern bei der Arbeitssuche
schützen. Damit kann der Freisinn das Gesicht wahren und sagen, er habe die flankierenden
Massnahmen nicht verschärft. Dass er neue geschaffen hat, muss die Partei ja nicht sagen.
Ihr Lob ist für die FDP tödlich.
So schlimm ist es nicht.
Historisch gesehen hat von dieser Allianz immer nur die SP profitiert.
Das würde ich nicht sagen. Der FDP ist es mit den Bilateralen gelungen, sich vom EWR-Nein zu
befreien und der Wirtschaft 15 Jahre Wachstum zu ermöglichen. Wirklich geschadet hat ihr das
nicht.
Dass die FDP als Umsetzungsarchitektin der Initiative dasteht, gefällt Ihnen?
Ja, das ist gut! Ich habe immer gefunden, die FDP müsse in diesem Bereich Verantwortung
übernehmen. Was mich überrascht und enttäuscht, ist die Haltung der CVP. Es war immer klar,
dass die CVP in der Aussenpolitik nicht die erste Geige spielt. Aber sich bei der
Schlussabstimmung zu enthalten, ist eine Bankrotterklärung. Und eine wertkonservative
Strategie von Parteipräsident Gerhard Pfister, die auf einen harten Migrationskurs setzt. Dafür
gibt er parteipolitisch das Mittelland preis. Die CVP ist heute weitgehend unwählbar für Leute,
die progressiv und realistisch unterwegs sind. Pfister wettet darauf, dass er mit seiner Strategie
die Erosion in den Stammländern bremsen kann.
Ist das in Ihrem Sinne?
Nein. Der Sache wäre gedient, wenn sich Pfister daran erinnern würde, dass die CVP einmal zu
den Kräften gehört hat, die Lösungen für das Land suchen wollten. Wenn sich die Partei nun
wie ein frustriertes Kind verhält, schwächt sie ihr historisches Erbe: Die Partei vertritt die
Hälfte der konservativen Schweiz. Jetzt spielt sie noch eine Randrolle und gibt sich mit ihrer
Enthaltung der Lächerlichkeit preis.
Vor einem Jahr klagten Sie über den Rechtsrutsch bei den Wahlen. Heute hat man
das Gefühl, es laufe alles in Ihrem Sinne.
Nein. Wir haben immer gesagt, dass der bürgerliche Schulterschluss mit Ausnahme der
Europapolitik und vielleicht der AHV-Revision greifen wird. Und wie er das tut! Schauen Sie
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sich nur die Budgetdiskussion während dieser Session an. Was mich besorgt, ist die Härte, mit
der politische Konflikte heute ausgetragen werden. Sogar im Ständerat, wo wir bei den
Abstimmungen zur AHV und zur MEI plötzlich geschlossene Blöcke haben. Kollegen, die früher
noch eigenständig entschieden haben, scheinen heute einfach die Parteilinie entlang zu
stimmen. Das alles entspricht der Logik des Rechtsrutsches. Alles ist härter und enger
geworden.
Auch in Ihrer Partei wird der Ton schärfer: Wie ernst nehmen Sie den rechten
Flügel, der diese Woche öffentlich aufbegehrt hat?
Wir haben in der SP eine lange Tradition von Gruppierungen, die sich innerhalb der Partei
organisieren. Wenn das nun auch die Rechte tut, freut mich das. Dieser Flügel gehört zur SP, er
ist willkommen. Bis jetzt gibt es aber bloss die Ankündigung, dass Inhalte folgen werden - ich
warte gespannt darauf.
Sie vermissen die Substanz?
Gehen Sie mal auf die Internetplattform dieser neuen Gruppe: Derzeit ist das vor allem
Marketing. Der rechte Flügel sollte aber etwas ambitionierter sein. Es kann ja wohl nicht bloss
darum gehen, wahrgenommen zu werden. Politik macht man mit Inhalten und Überzeugungen.
Die «Pragmatiker» sind eine Reaktion auf Klassenkampf-Rhetorik, die gemässigte
SP-Wähler seit langem stört.
Es braucht eine breite SP, aber keine weitere bürgerliche Partei, die Mitte ist schon voll genug.
Und so viele Leute schrecken wir kaum ab, wenn ich mir unsere jüngsten Ergebnisse anschaue.
Wir haben in den letzten nationalen Wahlen unsere Position gehalten - als eine der wenigen
sozialdemokratischen Parteien in Europa. Und wir haben in fünf der letzten acht Wahlen in den
Kantonen zugelegt und in verschiedenen Städten gewonnen. Der SP geht es gut. Und wenn sich
die Parteirechte jetzt etabliert und etwas liefert, ist das für uns ein Glücksfall, weil wir so die
gesamte Breite unserer Partei zeigen können.
Wo macht es die Sozialdemokratie in Europa noch gut?
Wir müssen alle den Spagat schaffen zwischen unserer klassischen Wählerschaft, den Arbeitern,
und der neuen Mittelschicht - in der Schweiz schon seit den 70er-Jahren. Das gelang uns allen
recht gut, solange es nur um sozial- und wirtschaftspolitische Fragen ging. Aber seit auch in
Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien vermehrt um Fragen der Identität gekämpft
wird, ist es schwierig geworden. Da unterscheiden sich die Ansprüche beider Wählergruppen
deutlich. Zurzeit könnte ich Ihnen keine Partei nennen, wo alles rund läuft. Die SPD in
Deutschland ist vielleicht noch am besten unterwegs . . .
. . . aber auf einem historischen Tiefpunkt.
Das Problem der SPD ist Angela Merkel: Solange sie da ist, kommt die SPD gegen die CDU nicht
an. In Frankreich sind die Sozialisten in einem desolaten Zustand. Und auch der Partito
Democratico in Italien ist in einer schwierigen Lage - obwohl Matteo Renzi eine viel bessere
Arbeit gemacht hat, als nun viele sagen, auch auf der Parteilinken. In anderen südeuropäischen
Ländern kommt hinzu, dass die Sozialdemokratie enorm von links bedrängt wird.
Zumindest das droht Ihnen in der Schweiz nicht.
Ich habe immer den Anspruch gehabt, dass es links der SP keine starke glaubwürdige Kraft
geben darf, damit wir nicht dort landen, wo die Sozialdemokraten in Spanien oder Griechenland
jetzt sind: mit einer grossen Opposition zur Linken.
Sie loben Renzi. Steht er Ihnen näher als Labour-Chef Jeremy Corbyn in
Grossbritannien, den viele in der SP bewundern?
Nein, so würde ich das nicht sagen. Renzi ist es gelungen, innerhalb seiner Partei eine Grosse
Koalition zu bilden, die von Christdemokraten bis zu Kommunisten reicht. Von Corbyn können
wir dagegen die Fähigkeit lernen, die Mitglieder wieder zu begeistern. Aber man muss auch
sagen: Wie Corbyn mit seinem Kurs wieder Wahlen gewinnen will, sehe ich derzeit nicht.
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Sie sagen, die grossen Kämpfe sind Identitätsfragen. Sind Arbeitnehmerräte und
Genossenschaften, wie Sie sie im Wirtschaftspapier fordern, die richtige Antwort
darauf?
Ja, aber natürlich genügt das nicht.
Viel mehr schlagen Sie aber gar nicht vor.
Das wurde uns von den faulen Medien so ausgelegt. Nach den Wahlen in den USA hat man
unser Wirtschaftspapier genommen und gesagt: Das ist die Reaktion der SP auf Trump! Dabei
arbeiteten wir schon seit Jahren an diesem Papier.
Also: Was antworten Sie einer Rechten, die gegen Ausländer und «Eliten» hetzt?
Das wird eine der Kernfragen der nächsten Wahlen. Es gibt eine Schweiz der Abschottung, die
autoritäre Tendenzen aufweist. Unsere Antwort darauf ist Vielfalt, Freiheit und Gerechtigkeit.
Wir haben in unserem Land seit je eine Vielfalt der Sprachen, der Kulturen, der Religionen und
der Lebensformen. Das ist die Identität der Schweiz!
Auch die CVP führt neuerdings eine Wertedebatte.
Ich stelle mich dem Streit mit Pfister, der jetzt von einer christlichen Leitkultur spricht. Die
Schweizer Identität gründet auf den Werten der Aufklärung und der Menschenrechte - auch
wenn die Schweizer Konservativen das relativieren. SVP und CVP sind wahrscheinlich schon
eifrig daran, die Kulturkampf-Papiere der CSU abzuschreiben. Ich freue mich auf diese Debatte.
Die Erfolge der Rechtsnationalen zeigen: Das wird schwierig für Sie.
Ja. Aber es ist ein Kampf, den wir führen müssen. Die Menschenrechte, der Rechtsstaat und die
internationalen Organisationen, die uns Frieden gebracht haben, werden zunehmend
relativiert. Wer mit der «christlichen Leitkultur» argumentiert, liefert den Islamisten ein
Argument, mit dem sie begründen können, dass bei ihnen die Menschenrechte eben nicht
gelten. Die Islamisten stellen die religiösen Werte über die republikanischen Werte des Staats wie Gerhard Pfister auch.
«Die Schweizer Identität gründet auf der Aufklärung. Auch wenn das die Konservativen
relativieren.»
Krieg in Syrien
Unerträgliche Ohnmacht
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Schauplatz des Endkampfs: Ein von Regierungstruppen am Montag beschossenes Quartier von Aleppo.
Foto: Karam al-Masri (AFP)
Eine humanitäre Intervention in Aleppo wäre am Veto im Sicherheitsrat gescheitert. Die Lehren
von Srebrenica wirken nicht mehr.
Eine Analyse von Paul-Anton Krüger, Kairo, TA vom DO 15. Dezember 2016
Mit Entsetzen blicken grosse Teile der Welt auf Aleppo. Vielerorts sind nur Ruinen geblieben
von einer Stadt mit 7000 Jahren Geschichte. In den Strassen liegen Leichen, die Körper
zerschmettert von Luftangriffen und der Artillerie des syrischen Regimes sowie Russlands und
des Iran, die beide das Regime unterstützen. Die meisten Opfer sind Zivilisten - ebenso wie in
den Regierungsgebieten, die von den Rebellen beschossen werden. Viele Menschen fragen sich,
warum niemand dieses Schlachten beendet. Die UNO nicht. Der Westen nicht, weder Amerika
noch Europa - noch die Araber. Die als unerträglich empfundene Ohnmacht hat eine Reihe von
Gründen; an manchen trägt der Westen Mitschuld.
Die Gräuel in Syrien rufen schmerzlich das grundlegende völkerrechtliche Dilemma in
Erinnerung: Humanitäre Interventionen sind zwar möglich, aber nicht unbedingt mit dem
Segen der Weltgemeinschaft ausgestattet. Ein Veto im Sicherheitsrat kann jeden Helfereifer
schnell blockieren. Die UNO hat zwar das Prinzip der Schutz-verantwortung entwickelt, das bei
gravierenden Menschenrechtsverletzungen die Einmischung in innere Angelegenheiten eines
Staates erlaubt. Aber ohne Mandat kann die Weltgemeinschaft nicht aktiv werden. Die Lehre
aus dem Genozid in Ruanda und dem Massaker von Srebrenica - heute wirkt sie nicht mehr.
Russland argumentiert stets mit Libyen und beschuldigt die Nato, unter Führung Frankreichs
und Grossbritanniens mithilfe eines humanitären Mandats Diktator Muammar al-Ghadhafi
gestürzt zu haben. Moskau warnt vor Staatszerfall und liefert auch den Irak als Beispiel: Die
Zerschlagung staatlicher Institutionen habe nur Chaos und Extremismus ausgelöst.
Der Sündenfall des Irak
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Das ist kaum von der Hand zu weisen, auch wenn Realität und Ursachen komplexer sind. Im
Irak hätte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) sich nicht festgesetzt, wenn nicht die Politiker
der schiitischen Mehrheit systematisch die Sunniten unterdrückt hätten. Und ob die Situation
in Libyen heute ohne die Intervention des Westens besser wäre, ist mindestens eine offene
Frage. Ein Aleppo hat es dort wegen der Intervention nicht gegeben. Die Ohnmacht des
Westens und die hilflosen Appelle «an die Weltgemeinschaft» zeigen zumindest, dass es diese
Weltgemeinschaft nicht gibt. Die Vereinten Nationen sind eine Plattform für Nationalstaaten,
gegründet als Vehikel für mehr Rechtsstaatlichkeit und als Motor des Völkerrechts. Die USA als
Gründerpate wollten durch die UNO das westliche System befördern. Im Kalten Krieg
scheiterten sie an der Blockbildung, in den wenigen Hoffnungsjahren nach dem Fall der
Berliner Mauer an ihrem eigenen Idealismus und eigener Nachlässigkeit - siehe Libyen.
Wer nun auf Syrien schaut und nach den UNO ruft, der erhält als Echo eine Lektion in
Realpolitik. Im Kosovo-Krieg hatte Russland nicht die Mittel, eine Intervention zu verhindern.
In Libyen hatte Moskau keine vitalen Interessen. Syrien dagegen ist ein langjähriger
Verbündeter, und Präsident Wladimir Putin zeigt der Welt, dass Russland militärisch auch fern
der Heimat wieder ernst zu nehmen ist. Mehr noch: In Syrien schält sich ein neues, regionales
Ordnungssystem heraus, vielleicht gar mit globaler Wirkung. Der von US-Präsident Barack
Obama favorisierte Rückzug Amerikas aus dem Nahen Osten lässt anderen Akteuren Raum,
auch Grossbritannien und Frankreich sind aktiv.
Putin überrumpelt Westen
So geht es um Einfluss, Garantien, militärische Macht. Gutes Zureden oder Appelle an die
Vernunft und die Menschlichkeit verhallen. Nach den Giftgasangriffen 2013 war Machthaber
Assad und seinem Schutzherrn im Kreml klar, dass die USA nicht direkt in den Krieg eingreifen
würden - auch weil sie nie sicher sein konnten, dass ein Sieg der Rebellen nicht noch mehr
Chaos bringen würde. So überrumpelte Putin den Westen nach der Krim-Invasion erneut mit
einer Mischung aus hyperrealistischer Aussenpolitik, hybrider Kriegsführung und
Skrupellosigkeit. Da die Vereinigten Staaten nicht willens und die Europäer zusätzlich nicht in
der Lage sind, Russland militärisch etwas entgegenzusetzen, versuchte man es mit Diplomatie,
in der Hoffnung, der Kreml mache mit, wenn sein Weltmachtstatus anerkannt werde. Das war
vielleicht naiv, aber doch die letzte Hoffnung. Die Hoffnung trog, Putin pfeift darauf, in eine
Verantwortungsgemeinschaft eingebunden zu sein.
Der syrische Diktator Bashar al-Assad hat nicht die Hälfte seines Landes zerstören und
Zigtausende Syrer töten lassen, um am Ende die Macht abzugeben oder zu teilen. Mehr denn je
glaubt er nach Aleppo, dass er unbehelligt einen militärisch Sieg erringen kann, zumal er den
Iran und Russland gegeneinander ausspielen wird, wie sich in Aleppo zeigt. In Syrien wird
Geschichte mit Blut geschrieben. Die Charta der UNO steht auf einem anderen Blatt.
Der Revolutionär, der die Atombombe liebte
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Kalte Krieger: Nikita Chruschtschow und Fidel Castro auf der Jagd, 1964. Foto: AKG-Images
Die Trauer um Fidel Castro ist gross, nicht nur in Kuba. Dabei geht vergessen, dass der
kommunistische Diktator einst vorgeschlagen hatte, die USA mit Nuklearwaffen anzugreifen.
Christof Münger, TA vom MI 7. Dezember 2016
Zehntausende säumten am Sonntag die Strassen, als seine Urne zum Friedhof Santa Ifigenia in
Santiago de Cuba gebracht wurde. Nun ist Fidel Castro beigesetzt. Neun Tage lang herrschte
Trauer, staatlich verordnet. Aber nicht nur. Zwar wurden die Errungenschaften seiner
Revolution gepriesen, vor allem das Bildungswesen und die Gesundheitsversorgung - es war ein
letztes Hochamt der Mythenbildung. Verdrängt wurde dabei, dass Kubas Erster Revolutionär
einst bereit war, seine Revolution - und vor allem sein Regime - mit allen Mitteln zu verteidigen.
Was heisst: auch mit Atomwaffen. Das zeigte sich während der Kubakrise 1962.
Nie war der Kalte Krieg gefährlicher als damals. Mitte Oktober entdecken die USA, dass die
Sowjets auf Kuba atomare Mittelstreckenraketen stationiert haben; fast alle amerikanischen
Städte liegen in Reichweite. John F. Kennedy fordert seinen Widersacher im Kreml, Nikita
Chruschtschow, ultimativ auf, die Raketen abzuziehen. Der US-Präsident verhängt eine
Seeblockade, um weitere Waffenlieferungen nach Kuba abzufangen. Bevor die Sowjets
einlenken und ihre Raketen wieder verpacken und verschiffen, gerät die Welt in nur 13 Tagen
an den nuklearen Abgrund - aber nicht nur wegen Kennedy und Chruschtschow. Sondern auch
wegen Fidel Castro.
Eigentlich ist für den Revolutionsführer im Kräftemessen zwischen Washington und Moskau
nur eine Nebenrolle vorgesehen. Kuba ist für die Sowjets eine weit entfernte, aber geeignete
Raketenabschussrampe, weil sie nur 150 Kilometer vor der amerikanischen Küste liegt;
entsprechend bedroht fühlen sich die USA. Castro hingegen betrachtet die russischen Raketen
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als Lebensversicherung für seine Revolution von 1959. Mit guten Gründen befürchtet er, dass
die USA sein Regime stürzen wollen, sie haben es ja bereits versucht, in der Schweinebucht, mit
Aufwiegeleien, mit ausgeklügelten Attentatsplänen. Fidel Castro hat sich deshalb zum
Marxismus-Leninismus bekannt und sich dann an die andere Supermacht gewandt: Aus dem
Nationalisten ist ein Kommunist geworden. Und Nikita Chruschtschow steht als Führer der
kommunistischen Sowjetunion nun in der Pflicht, dem Genossen auf der anderen Seite des
Globus beizustehen.
Am 27. Oktober 1962, dem «Black Saturday», wie Historiker Arthur Schlesinger geschrieben
hat, erreicht die Kubakrise ihren Höhepunkt, ein Krieg scheint imminent. Kennedy und seine
Berater erwägen Luftangriffe oder eine Invasion Kubas oder beides, um die Raketen
auszuschalten. Das kommt auch Fidel Castro zu Ohren, seine Agenten haben die CIA
unterwandert. Doch er befürchtet, dass die Sowjets nicht entschieden genug reagieren.
Um zwei Uhr nachts Lokalzeit bittet er deshalb Aleksander Alexejew, den sowjetischen
Botschafter in Havanna, um ein Gespräch. Es findet im atombombensicheren Keller unter der
Botschaft statt, Castro besteht darauf, er rechnet mit einer US-Invasion innert Stunden. Im
engen Schutzraum geht er pausenlos auf und ab und verwirft die Hände. Er vergleicht die Lage
Kubas mit jener der Sowjetunion 1941 am Vorabend des deutschen Überfalls. Stalin hatte
damals zahlreiche Warnungen ignoriert. Der Führer von Kuba befürchtet nun, dass sich die
Geschichte wiederholt.
Zunächst versichert Castro «Don Alejandro», wie er den sowjetischen Botschafter nennt, dass
er dem Einsatz taktischer Atomwaffen, also kleiner Bomben, auf dem kubanischen Schlachtfeld
zustimme, obwohl dabei die Insel für Generationen atomar verseucht würde. Dann aber schlägt
der aufgebrachte Revolutionsführer vor, den «Schlag der Imperialisten» nicht abzuwarten und
die grossen strategischen Atomraketen auf die USA abzufeuern: «Wir sollten ihnen
zuvorkommen und sie ausradieren, falls sie Kuba angreifen.» Castro weiss, dass er und sein
Volk untergehen würden, allerdings «con suprema dignidad», mit «grosser Würde», wie er
sagt. Michael Dobbs hat das Gespräch in seinem Buch zur Kubakrise wiedergegeben. Der
britisch-amerikanische Autor hatte in den USA, in Russland, der Ukraine und in Kuba über
hundert Veteranen der Krise interviewt.
Chruschtschows grosser Schrecken
In den frühen Morgenstunden macht sich Castro daran, einen Brief für Chruschtschow zu
entwerfen. Don Alejandro, der nicht gut Spanisch spricht, hat Mühe, die verworrenen Sätze zu
verstehen und auf Russisch zu übersetzen. Castro bleibt im Unklaren. Irgendwann bricht das
Offensichtliche aus dem Diplomaten heraus: «Möchten Sie schreiben, dass wir den nuklearen
Erstschlag führen sollen?» Castro: «Nein, ich möchte es nicht so direkt sagen, aber unter
gewissen Umständen schon.»
Um sechs Uhr wird seine Atomwaffenpolitik offiziell, er diktiert das Telegramm an
Chruschtschow. Der übernächtigte Castro gibt verklausuliert wieder, was er vor ein paar
Stunden im Keller gesagt hat: Im Falle einer US-Invasion sei der Moment gekommen, «die
Gefahr für immer zu eliminieren in einem Akt höchst legitimer Selbstverteidigung. So
schrecklich die Lösung auch wäre, es gibt keine andere», schreibt Castro und grüsst
«brüderlich».
33
Nun ist der Kreml doppelt alarmiert. Zuerst Kennedy und sein Ultimatum und nun auch das
noch. Und was, wenn Castro und seine Hitzköpfe die Kontrolle über die Atomwaffen auf der
Insel an sich reissen? Chruschtschow will keinen Krieg, schon gar nicht einen nuklearen
Erstschlag, geschweige denn wegen einer Karibikinsel. Er weiss, dass die USA nicht nur Kuba
im Meer versenken, sondern auch die Sowjetunion mit Atomwaffen direkt angreifen würden, so
sieht es die amerikanische Eventualplanung vor. Und spätestens dann wären auch das geteilte
Deutschland und Europa überhaupt Kriegsschauplätze.
Deshalb telegrafiert Chruschtschow eilig zurück und gibt Castro einen «freundlichen Rat»:
«Haben Sie Geduld, beherrschen Sie sich.» Vor allem bittet er Castro eindringlich, sich nicht
provozieren zu lassen und weitere amerikanische U2-Spionageflugzeuge über Kuba
abzuschiessen. Damit würde er nur die Kriegstreiber im Pentagon anstacheln. «Solche Aktionen
werden von Aggressoren für ihre eigenen Zwecke ausgenutzt.» Er werde mit Kennedy schon
eine Lösung finden und gleichzeitig Kuba schützen.
Das gelingt noch am selben Tag. Kennedy und Chruschtschow einigen sich in letzter Minute auf
einen Kompromiss: Die Sowjets ziehen ihre Raketen ab, dafür versprechen die Amerikaner,
dass sie keine Invasion auf Kuba durchführen, woran sich zehn US-Präsidenten halten werden.
Ausserdem bauen die USA ihre Raketen in der Türkei ab, was allerdings geheim bleibt. Zwei
Tage später wendet sich Chruschtschow nochmals an Castro, diesmal ausführlicher: «In Ihrem
Telegramm haben Sie vorgeschlagen, dass wir als Erste einen Nuklearschlag gegen das
feindliche Territorium ausführen sollen. Natürlich verstehen Sie, wohin das führen würde. Es
wäre nicht ein einfacher Angriff, sondern der Beginn eines nuklearen Weltkriegs. Lieber
Genosse Castro, ich finde Ihren Vorschlag falsch.» Das unabhängige National Security Archive
in Washington hat den Brief wie auch weitere Dokumente aus sowjetischen Archiven nach dem
Ende des Kalten Kriegs auf Englisch übersetzt und veröffentlicht.
Eine neue Brieffreundschaft
Fidel Castro traut weder Kennedys Versprechen noch der Bündnistreue des grossen Bruders.
Für Castro ist Chruschtschow eingeknickt, er trauert den sowjetischen Atomwaffen nach. Zur
Versöhnung lädt ihn Chruschtschow nach Moskau ein und versichert ihm die «sowjetische
Liebe und Solidarität gegenüber Kuba». Vor allem aber zeigt er ihm die streng geheimen Briefe
von John F. Kennedy. Die beiden mächtigsten Männer haben einen Briefwechsel begonnen, von
dem auf beiden Seiten nur wenige Berater wissen. Darin vereinbaren sie eine friedliche
Koexistenz und versichern sich gegenseitig, dass nun eine Détente, eine Entspannung, nötig sei
- der Schock der Kubakrise sitzt tief.
Fidel Castro sei von den Kennedy-Briefen beeindruckt gewesen, berichtet Robert F. Kennedy Jr.
dem «Tages-Anzeiger» bei einem Treffen in Zürich Anfang dieses Jahres. «Es war das erste
Mal, dass er meinem Onkel vertraute.» Robert F. Kennedy Jr. ist der Neffe von John F.
Kennedy. Sein Vater, Justizminister Robert F. Kennedy, war der Pöstler des Präsidenten. Er
übergab die geheimen Briefe für Chruschtschow eingewickelt in eine «New York Times» dem
KGB-Agenten Georgi Bolschakow, einem Chruschtschow-Intimus, der zur sowjetischen
Botschaft in Washington gehörte und oft im Haus Robert F. Kennedys verkehrte. «Er war ein
lustiger russischer Spion», erinnert sich Bobby Junior. «Wir Kinder nannten ihn Georgi
Bolschoi und liebten ihn, weil er mit uns den Kosakentanz machte.»
Als erwachsener Mann lernte Robert Kennedy Jr. auch Fidel Castro persönlich kennen. Er
besuchte ihn in Kuba und sprach mit ihm über die turbulenten 1960er-Jahre. «Als Castro aus
Moskau heimkehrte, streckte er die Fühler nach Amerika aus.» Mit Erfolg: Im Sommer 1963
empfing Fidel Castro mehrmals Repräsentanten der US-Regierung, natürlich nur im Geheimen.
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Sie berichteten nach Washington, dass Fidel Castro in Kuba populär und ein Machtwechsel
deshalb unrealistisch sei. Aber sie meldeten auch, dass man mit Castro reden könne.
Der Besuch in Moskau und Chruschtschows mahnende Worte hatten offenbar gewirkt. Eine
Entspannung oder zumindest eine Annäherung schien möglich, so Robert Kennedy Jr. Auch am
22. November 1963 habe in Havanna ein Treffen stattgefunden. Dann fielen die Schüsse von
Dallas. Als Fidel Castro während des Gesprächs davon erfuhr, sagte er: «Es ist vorbei.» Nach
dem Tod John F. Kennedys erkaltete der Kontakt nach Havanna. Bis Barack Obama im März
2016 nach Havanna reist und beginnt, die Beziehungen zwischen den Erzfeinden zu
normalisieren - ein Prozess, den der kommende amerikanische Präsident allerdings rückgängig
machen könnte.
Fidel Castros Begeisterung für Atomwaffen liess in den Jahren nach der Kubakrise nach. Bei
einem seiner letzten Auftritte als Staatschef beschwor er 2010 die Gefahr eines nuklearen
Holocaust. Mit Blick auf den Atomstreit mit dem Iran warnte er, dass Regierungschefs «den
sofortigen Tod von Millionen von Menschen anordnen» könnten. Dabei würden sie hinnehmen,
dass eine «nicht schätzbare Zahl der eigenen Leute» ums Leben komme. Fidel Castro wusste,
wovon er sprach.
Fleissiger Sportler sucht Hauptsponsor
Für Yannick Martens ist Kunstradfahren ein Balanceakt – nicht nur auf dem Velo. Foto: Christoph Kaminski
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Yannick Martens ist der beste Schweizer seines Fachs. An der WM in Stuttgart ist eine Medaille
sein Ziel. Sein Weg war hart, auch weil es Querelen mit dem Verband gab - diese gipfelten in
einem Prozess.
Von René Hauri, TA vom FR 2. Dezember 2016
Das Vorderrad ist rot von Blut, die Hände sind aufgerissen, die Beine mit blauen Flecken
übersät. Acht Stunden hat er trainiert in dieser Halle in Tschechien, in der es auch einmal
Temperaturen um den Gefrierpunkt gibt, weil die Heizung fehlt und die Scheiben eingeschlagen
sind. Doch Yannick Martens gibt nicht auf, er will der Trainerin nicht die Genugtuung
schenken, aufgegeben zu haben, so sagt er es. «Du kannst erst dann nicht mehr, wenn du
umfällst», das hatte ihm als Kind ein Kunstturntrainer gesagt - es wird zum Motto für den
Zürcher. Stunde um Stunde quält er sich in den maroden Gebäuden im Osten Europas, schuftet
in den heimischen Hallen weiter unter der Aufsicht von Privattrainerin Petra AckermannBrinkova. Zehn Jahre lang geht das nun schon so, verfolgt Martens nur dieses Ziel: an die Spitze
zu kommen. Sein Sport? Kunstradfahren.
Es ist eine brotlose Kunst, der sich der 23-Jährige verschrieben hat. Für die Teilnahme an
Wettkämpfen muss er bezahlen, manchmal kommen dann zwei Dutzend Zuschauer, die Suche
nach einem grossen Sponsor hat er längst aufgegeben. Wieso tut er sich das an? «Das habe ich
mich auch schon gefragt», sagt Martens. «Mir macht es einfach Spass, etwas zu machen, was
nicht jeder kann. Was Kunstradfahren von einem fordert, an Koordination, Kondition,
technisch und mental, das findet man nicht in vielen Sportarten.»
Dass er von seinem Vater Hermann Martens, in den 80er- und frühen 90er-Jahren mit zwei
Silber- und fünf Bronzemedaillen an Weltmeisterschaften einer der erfolgreichsten
Kunstradfahrer, dazu getrieben wurde, verneint er. «Ich konnte machen, was ich wollte», sagt
er. Er war ein talentierter Fussballer, mittlerweile hat er keine Zeit mehr dafür. Weil er jetzt
ganz Kunstradfahrer ist.
7 Jahre Training für Handstand
Und als solcher gibt es auch Tage wie die jetzigen, an denen er sich darauf freuen kann, seine
hart erarbeiteten Kunststücke nicht einem doppelten Dutzend zu zeigen, sondern Tausenden.
Wenn heute die Hallenradsport-WM in Stuttgart eröffnet wird, kommen schnell einmal 8000
Leute, die Martens zuschauen und hoffen werden, dass er nach 2004 und dem Tschechen
Arnost Pokorny nicht der erste Nichtdeutsche sein wird, der die Goldmedaille holt. Denn ja:
Martens ist in der Weltspitze angekommen.
Nur Weltmeister Michael Niedermeier und dessen deutscher Landsmann Lukas Kohl haben
höhere Ausgangswerte als der Schweizer mit seinen 200,8 Punkten. Auch die schwierigsten
Elemente, den Sprung vom Sattel auf den Lenker und den Drehsprung auf dem Lenker hat er in
seinem Repertoire. Und vor allem das: zwei Handstände.
Sechs bis sieben Jahre Arbeit stecken allein in diesem letzten Puzzleteil, sagt er. Das Einzige,
was Martens noch fehlt, ist, dieses auch in einer Acht fahrend zu zeigen. Er fährt den
Handstand im Kreis, weil ihm sonst in den fünf Minuten, in denen er 30 Elemente zeigen muss,
die Zeit ausgeht. Kaum einer zweifelt, dass er auch das noch hinkriegen, dass er seine Karriere
irgendwann krönen wird.
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Es wäre ein persönlicher Sieg - und einer über seine Kritiker. Diese gibt es in dieser
Randsportart. Sie kommen aus der eigenen Reihe. «Beim Verband würden sich viele Leute
freuen, wenn ich aufhören würde», sagt der Zürcher. Es gibt Grabenkämpfe, seit Jahren. Wie
tief der Graben ist, zeigt diese Reaktion: Wenn es um Yannick Martens gehe, lässt Esther
Frischknecht, die Präsidentin der Subkommission Kunstrad, ausrichten, wolle sie nichts sagen.
Vor allem Hermann Martens eckt an. «Ich trage mein Herz auf der Zunge, sage, was ich denke,
damit kommen nicht alle zurecht», sagt er.
2-jährige Hallensperre für Vater
Zum grossen Eklat kam es im August 2015, beim EMS-Cup im österreichischen Hohenems. «Es
war nicht einmal ein wichtiger Wettkampf», sagt Yannick Martens. Dennoch enervierte er sich
derart, als ein Kampfrichter eines seiner Elemente nicht zählte, dass er sich zu einer verbalen
Entgleisung hinreissen liess. Auch sein Vater beschimpfte den Kampfrichter. Und das äusserst
heftig. Die Fachkommission Hallenradsport sprach daraufhin eine 2-jährige Hallensperre gegen
Hermann Martens aus und sperrte den Sohn für drei Monate. Damit hätte er die WM in
Malaysia verpasst.
Die Martens klagten vor dem Verbandsschiedsgericht. «Dort wurde die Geschichte immer
blumiger. Es hiess dann plötzlich, ich hätte meinen Body zerrissen», erzählt Martens, «dabei ist
es ein elastischer Kunstturnbody.» Die Sperre wurde auf einen Monat reduziert und Martens
konnte an die WM reisen. Die Fachkommission Hallenradsport nahm das «mit Bedauern zur
Kenntnis», der Prozess kam sie teuer zu stehen.
Die Fronten sind verhärtet. «Es ist ein Kampf zwischen Innovation und Tradition», sagt
Nationaltrainerin Daniela Keller. Seit Jahren versucht Hermann Martens, im Kunstradsport
etwas zu bewegen. Bis zum letzten Jahr wollte er das als Vorstandsmitglied des Verbandes tun ohne Erfolg. «Man wollte ihm nicht Funktionen geben, in denen er etwas hätte ändern
können», sagt Keller. «Martens schaut halt auch nur für sich, alles, was er macht, hat einen
Selbstzweck. Das Ziel ist nur, dass Yannick profitiert.»
Martens erarbeitete etwa eine Prüfung für Kampfrichter - sie verschwand in der Schublade.
«Die Richter müssten eine bessere Ausbildung haben», findet auch Keller. «Den Sport
betreiben manche recht professionell, die Kampfrichter aber haben einmal im Jahr ein Kürsli.
Das passt nicht zusammen», sagt sie. Yannick Martens trainiert drei bis vier Stunden pro Tag,
sieben Tage die Woche. Vor den Augen seiner Privattrainerin dreht er dann einsam seine
Runden.
Die Martens gingen schon immer ihren eigenen Weg, vom Verband hätten sie nie
Unterstützung bekommen, sagt Yannick Martens und liefert ein Beispiel: «Für die WM 2012
gab es neue Leibchen. Für die sechs Tage wollte ich fünf Stück - vier davon musste ich
bezahlen.»
Bezahlen musste nun der Verband, auch eine Entschädigung für die juristischen Auslagen von
Hermann Martens. Der Prozess kostete ihn Zehntausende Franken. Sie hätten im
Kunstradsport sinnvoller ausgegeben werden können.
Ganz Europa für 300 000 Euro
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In diesem prunkvollen Bau wurde das umstrittene Programm 2012 beschlossen: Sitz des ungarischen
Parlaments in Budapest. Foto: Petra Orosz (Keystone)
Ungarn bietet Nicht-EU-Bürgern Aufenthaltsbewilligungen im Schengen-Raum an, wenn sie
Staatsanleihen kaufen. Profiteure dieses Geschäfts sind nebst Offshorefirmen auch Treuhänder
in der Schweiz.
Von Bernhard Odenahl, Wien, TA vom FR 2. Dezember 2016
Davon träumen Flüchtlinge in den Lagern der Türkei und an den Küsten Nordafrikas: Visa für
alle Schengen-Staaten, Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen in der Schweiz,
Staatsbürgerschaften in Malta oder Österreich. Dass solche Träume wahr werden, dafür will die
Firma Immigrant Invest sorgen. Auf ihrer Internetseite zeigt die in Wien ansässige Firma Fotos
von idyllischen Küsten- oder Berglandschaften und preist die eigenen Leistungen: keine
Bürokratie, kurze Bearbeitungszeiten.
Das Zielpublikum ist freilich begrenzt. Immigrant Invest wirbt ausschliesslich auf Russisch und
nur um reiche Kunden: Für eine Niederlassungsbewilligung in der Schweiz müsse man eine
Million Euro in ein Unternehmen investieren, für die maltesische Staatsbürgerschaft 650 000
Euro in einen staatlichen Entwicklungsfonds einzahlen. Deutlich billiger ist die ungarische
Variante. Immigrant-Invest preist sie als zuverlässigsten und billigsten Weg in den SchengenRaum. Wer ungarische Staatsanleihen im Wert von 300 000 Euro kauft sowie 60 000 Euro
Bearbeitungsgebühren bezahlt, bekommt innert weniger Wochen die Aufenthaltsbewilligung
für sich und seine Familie, Reisefreiheit im Schengen-Raum inklusive, ein Wohnsitz in Ungarn
ist nicht erforderlich. Nach fünf Jahren kauft der ungarische Staat die Anleihen zurück. De facto
kostet ein Dauervisum für die EU-Länder und die Schweiz also lediglich 60 000 Euro.
Die zwei Gesichter Orbans
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban will sein Land hermetisch abriegeln, mit Zäunen und
militärischer Bewachung der Grenzen. Migration sei «Gift», erklärte Orban in Brüssel: Ungarns
Wirtschaft brauche «keinen einzigen Migranten». Gleichzeitig lässt Ungarn Tausende
finanzkräftige Migranten durch die Hintertür in den Schengen-Raum.
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Erfinder des «Residency-bond-program» - Staatsanleihen gegen Aufenthaltstitel - ist Antal
Rogan, Kanzleramtsminister und enger Vertrauter Orbans. Beschlossen wurde das ResidencyProgramm im ungarischen Parlament 2012, in Kraft trat es im Januar 2013. Laut offizieller
Statistik nahmen seither 7600 Menschen aus China, aus Russland und arabischen Staaten das
verlockende Angebot an. Nicht alle haben eine weisse Weste. Besonders umstritten ist in
Ungarn der Aufenthaltstitel für den saudi-arabischen Geschäftsmann Ghaith Pharaon, der auf
den Fahndungslisten von FBI und Interpol steht.
Aufenthaltstitel und Staatsbürgerschaften in der EU bieten auch Zypern und Malta an. Das
ungarische Programm ist aber nicht nur günstiger. Es ist ganz anders organisiert. Bearbeitet
werden die Anträge von privaten Firmen mit Sitz in Zypern, auf den Cayman-Inseln oder in
Liechtenstein. Acht Firmen haben vom ungarischen Parlament eine Lizenz für das ResidencyProgramm erhalten. Alle werden von Treuhändern verwaltet, die wahren Eigentümer bleiben
geheim. Ausserdem können sie das Geschäft an nicht lizensierte Partnerfirmen auslagern, deren
Eigentümer ebenfalls unklar sind.
Sicher ist nur, dass sich diese Eigentümer eine goldene Nase verdienen. Seit Beginn des
Programms sollen die Firmen zwischen 350 und 400 Millionen Euro kassiert haben. Sie
nehmen nicht nur die hohen Bearbeitungsgebühren, sie können die Staatsanleihen auch
günstiger als ihre Kunden kaufen, für 265 000 statt 300 000 Euro. Die Differenz bleibt ihnen
als Gewinn.
Ungarische investigative Medien und Oppositionsparteien vermuten, dass dieser Gewinn
grossteils über Offshorekonstruktionen zurück in die Taschen ungarischer Regierungspolitiker
und regierungsnaher Oligarchen fliesst. Beweise dafür gibt es nicht. Am Programm verdienen
aber nicht nur Ungarn, sondern Strohmänner und Treuhänder in Liechtenstein und der
Schweiz.
Zwei vom ungarischen Parlament beauftragte Firmen sind in Liechtenstein bei Treuhändern
registriert. S & Z Programm wird vom Treuhänder Walter Wachter in Schaan verwaltet, der das
Telefongespräch mit den Worten «Ich gebe keine Auskunft» sofort wieder beendet. Die zweite
Firma VolDan Investment schloss einen Vertrag mit einer Briefkastenfirma namens Moranville
in Belize ab, wie das Rechercheteam von Atlatszo.hu anhand eines Dokuments nachweisen
konnte. Von Moranville führt die Spur wieder zurück nach Budapest und zu ungarischen
Unternehmern. Es sind verwinkelte Konstruktionen, deren Zweck kaum erklärbar ist. Ausser
durch den Wunsch, die Spur des Geldes zu verwischen.
VolDan ist bei der Treuhandfirma TM Trust in Schaan registriert. Deren Geschäftsführer Josef
Hermann lässt Fragen des TA unbeantwortet. Weder das Büro von VolDan in Budapest noch
das Kommunikationsbüro der ungarischen Regierung reagieren auf Anfragen. Ungarische
Aufenthaltsgenehmigungen für den Schengen-Raum sind offenbar streng geheim.
Wohin die Millionen aus den Gebühreneinnahmen fliessen, deckten in einem Fall Journalisten
der Rechercheplattform Direkt36 auf: Die auf den Cayman-Inseln registrierte Firma Hungarian
State Special Debt Fund wickelt von Hongkong aus über Subunternehmen chinesische
Residenzanträge ab. Gleichzeitig kauften diese Unternehmen einen ganzen Häuserblock an der
Budapester Nobelstrasse Andrassy ut. In den Appartements von Avenue Gardens wohnen heute
Diplomaten und ausländische Banker. Direkt36 schätzt den Wert aller Wohnungen auf 10
Millionen Franken.
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Verbindungen in die Schweiz
An Immobilien interessiert ist auch der Budapester Anwalt Balazs Kertesz, ein Parteifreund des
Residency-Programm-Erfinders
Antal
Rogan.
Seine
Anwaltskanzlei
bearbeitet
Programmanträge in Ungarn. Kertesz kaufte in Zug ein Appartement mit Seeblick im Wert von
über zwei Millionen Franken (der TA berichtete). Die Plattform Atlatszo bringt Kertesz in
Verbindung mit einer in Pfäffikon bei der Treuhandfirma Mattig-Suter registrierten Firma
namens Bergavest. Sie ist Miteigentümerin einer Budapester Villa in bester Lage, die Anwalt
Kertesz sanieren lässt. Vertreterin der Firma ist Andrea O., eine im Kanton Zug lebende
Ungarin. O. vertritt auch die Schweizer Niederlassung der ungarischen Firma Crystal, die auf
die Gründung von Offshorefirmen spezialisiert ist. Die Anfrage des TA per Mail beantwortet sie
nicht, das Gespräch am Telefon erklärt sie schnell für beendet: «I dont want to comment.» Auch
Kertesz und Mattig-Suter beantworten Fragen des TA nicht.
Für die Abwicklung des Residency-Programms hat die Liechtensteiner VolDan kleinere Firmen
beauftragt. Unter anderem die Immigrant Invest in Wien. Die Rechtsberaterin der Firma,
Antonina Makarova, bestätigt das Vertragsverhältnis. Die Eigentümer von VolDan kenne sie
jedoch nicht, sagt Makarova. Das Geschäft dürfte auch für Subunternehmen nicht schlecht
laufen. Immigrant Invest wurde im Juni 2015 ins Handelsregister eingetragen und verzeichnete
zu Jahresende 2015 bereits einen sechsstelligen Gewinn. Das ungarische Programm sei sehr
gefragt, bestätigt Makarova. «Wir erhalten pro Tag drei bis fünf Anrufe von Interessenten.»
Auch das Interesse an Niederlassungsbewilligungen in der Schweiz sei gross, tatsächlich dafür
entscheiden würden sich aber nur zwei bis drei Kunden pro Jahr. Ein Leben in der Schweiz
wirke aus der Ferne attraktiv und prestigeträchtig, aber «wenn unsere Kunden erst einmal die
wahren Lebenskosten erfahren, sinkt die Begeisterung schnell».
Schweizer Pass ist nicht käuflich
Eine Schweizer Staatsbürgerschaft «kann man sich nicht kaufen», sagt Léa Wertheimer,
Sprecherin des Staatssekretariats für Migration. Auch die Behauptung, man könne eine
Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung für eine Investition von einer Million Franken
bekommen, sei nicht realistisch: «Wenn Gesuche behandelt werden, tun wir dies mit dem
Gesuchsteller direkt und nicht mit einer Firma. Und wir schauen sehr genau, wer zu uns
kommt.»
Im europäischen Parlament wurde das ungarische Residency-Programm kritisiert. Eine
Handhabe dagegen hat die EU nicht. Die grüne EU-Abgeordnete Ulrike Lunacek hält es für
«Zynismus und eine Form der Staatsprostitution», wenn Menschen allein aufgrund ihrer
Vermögensverhältnisse willkommen geheissen oder abgelehnt werden. Das Thema sei keine
interne Angelegenheit eines Staates, sondern habe «höchste Relevanz für die ganze EU», sagt
Lunacek.
Auch im ungarischen Parlament gab es heftige Auseinandersetzungen. Mitte November wollte
Viktor Orban die Ablehnung von Flüchtlingen in der Verfassung verankern, hätte dazu im
Parlament aber die Unterstützung der rechtsextremen Opposition gebraucht. Die Partei Jobbik
forderte im Gegenzug für ihre Zustimmung das sofortige Ende des Residency-Programms. Das
lehnte Orban ab, die Verfassungsänderung scheiterte. Gerüchte, dass die Regierung das
Residency-Programm mit Jahresende einstellen will, wurden gestern von Antal Rogan
dementiert. Ein linker Oppositionspolitiker fand unlängst bei einem Besuch in der
nordirakischen Stadt Erbil Flugblätter mit Werbung für das ungarische Residency-Programm
als «goldene Chance» für die ganze Familie: «Der schnellste, billigste und garantierte Weg zur
lebenslangen Aufenthaltsbewilligung im Schengen-Raum.»
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Als wäre Gott gestorben
Ein Land in Trauer geeint: Auf dem Platz der Revolution in Havanna versammelten sich am Dienstag
Hunderttausende. Foto: Ricardo Mazalan (AP, Keystone)
Seit fünf Tagen existiert die Welt in Kuba nicht mehr. Es gibt nur noch Fidel, Fidel, Fidel. Zu
seinen letzten Ehren mobilisiert der Staat Millionen von Menschen.
Eine Reportage von Oscar Alba, Havanna, TA vom DO 1. Dezember 2016
Wäre in den letzten Tagen die Welt untergegangen, Kuba hätte es wahrscheinlich nicht
mitbekommen. Seit Fidel Castro tot ist, lebt das Land nur noch von und mit Fidel Castro. Steht
morgen früh mit ihm auf, verbringt den ganzen Tag mit dem Verstorbenen und geht spätabends
wieder mit ihm zu Bett. Seit letzten Samstagmorgen sind alle Zeitungen, Fernseh- und
Radiokanäle gleichgeschaltet, hat es keine einzige Nachricht oder Meldung mehr aus der Welt
gegeben.
Während der neun Tage Staatstrauer ist das «informative, patriotische und historische
Programm» einzig und allein einem Mann gewidmet: «unserem Führer, Vater, Messias,
Prophet, Retter, Erlöser, Giganten, Titanen» und wie er sonst noch genannt wird. Unsterblich
war er schon vor seinem Tod. Seither wird er noch öfter mit Jesus Christus verglichen. Kein
Zweifel: In Kuba ist der Allmächtige gestorben.
Generalmobilmachung
Gestern war Tag fünf auf der vom Weltenlauf abgekoppelten Insel. Morgens um sechs Uhr
standen in Havanna bereits wieder Zehntausende kilometerweit am Strassenrand, die meisten
in Braun oder Olivgrün, den Uniformen des Militärs und des Innenministeriums, zu dem die
Polizei, die Geheimdienste und die Staatssicherheit gehören. Sie sind die grössten Arbeitgeber
in Kuba, hier herrscht absoluter Gehorsam. Die Uniformierten stehen und marschieren stets
zuvorderst, wenn der Staat für eine Sache die Volksmassen mobilisiert.
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Kurz vor Sonnenaufgang um sieben Uhr setzte sich beim Ministerium der Revolutionären
Streitkräfte der olivgrüne Konvoi aus alten Armeefahrzeugen in Fahrt, auf einem Anhänger
eines Jeeps Fidels Asche in einer Holzkiste unter einer Glasvitrine. Die Uniformierten nahmen
Achtungsstellung ein und salutierten, die Landsleute in zivil schwenkten Fähnchen. Auf zum
letzten Geleit, vier Tage lang im Schleichtempo quer über die ganze Insel, tausend Kilometer
weit bis nach Santiago de Cuba, wo am Sonntag Fidels Überreste neben dem zweiten
Nationalhelden, José Mart, beerdigt werden.
Die Mobilmachung ist gigantisch, die Disziplin des Volkes beeindruckend wie zu Fidels besten
Zeiten. Am Dienstagabend versammelten sich über eine Million auf dem symbolträchtigen
Revolutionsplatz, wo der Máximo Lder früher die Massen mit seinen Marathonreden ins
Delirium beförderte. Schülerinnen, Studenten und Staatsangestellte wurden mit jedem
verfügbaren Bus zur offiziellen Trauerfeier gekarrt. Fidel tot oder lebendig, diese orchestrierten
Massenveranstaltungen beherrscht Kuba virtuos. Das Volk steht stundenlang auf den Beinen,
oben auf einer Anhöhe, in sicherer Distanz, sitzen die Führer und ihre Riege in bequemen
Sesseln.
Am Dienstag war die Galerie der Mächtigen so lang wie noch nie. Staatsmänner, Premiers und
Gäste aus mehreren Dutzend Ländern kamen, um Fidel die letzte Ehre zu erweisen, darunter
auch Gestalten wie Robert Mugabe aus Zimbabwe. 17 Präsidenten und Regierungsvertreter
redeten vier Stunden lang nur von ihm: Fidel. Lobeshymnen in Spanisch, Russisch, Chinesisch,
Vietnamesisch, Arabisch, Persisch, die Afrikaner sprachen Englisch. Die Rednerliste war ein
Abbild, wie geteilt die globalisierte Welt auch nach dem Kalten Krieg immer noch ist. Ein
einziger Europäer redete, der Grieche Alexis Tsipras, die USA schickten keine Delegation. In
Afrika ist Fidel in vielen Ländern ein Held, weil Hunderttausende kubanische Soldaten, Ärzte
und Lehrer «uns unterstützt und nicht wie andere ausgeplündert haben», wie der
südafrikanische Präsident Jacob Zuma sagte. «Die Kubaner haben keine Diamanten, kein Gold
und Öl mit nach Hause genommen, sondern nur ihre toten Soldaten, die für uns und gegen die
Apartheid gekämpft haben.»
Alle Redner versicherten in dieser Stunde der Trauer, dass Kuba auch nach Fidel auf sie zählen
könne. Marlen, eine 72-jährige Lehrerin, die sich nach der Revolution freiwillig für die
landesweite Alphabetisierungskampagne gemeldet hatte, Fidel bis heute verehrt und sich mit
ihrem Ehemann die Reden auf dem Platz anhörte, sagte: «Die Welt hat sich nicht verändert, die
USA und das reiche Europa wollten Afrika, Lateinamerika und uns nie verstehen. Sie haben uns
kolonialisiert und immer nur ihre eigenen Interessen verfolgt.» Jeder Redner stellte Fidel als
die Lichtgestalt des Antiimperialismus und Antikolonialismus dar. Das Volk klatschte und rief
«Viva Fidel!» Ral Castro, ein Häufchen Elend in Olivgrün, trat als letzter ans Rednerpult und
versprach, er werde sich kurz halten. Er redete von der Vergangenheit, als hätte er keine Kraft
mehr für die Zukunft.
Keinen guten Tag mehr
Rals grosser Bruder ist bereits wenige Tage nach dem Tod eine weit entfernte Erscheinung, ein
Erleuchteter, der schon seit langem nichts mehr zu tun hat mit der kubanischen Realität. Für
die Menschen, die ihn verehren, sind andere Schuld an der Not und Misere im Land:
dilettantische Bürokraten, liederliche Bürokraten, korrupte Kader und Landsleute «ohne
revolutionäres Bewusstsein», und ja, natürlich die USA mit ihrer Wirtschaftsblockade.
Die Fernseh-, Radio- und Zeitungsreporter befragen landauf, landab Menschen. Tausende
Stimmen, eine einzige Meinung: Fidel war der Grösste. Kein einziges kritisches Wort ist zu lesen
oder zu hören. Die Journalisten im Staatsdienst reden auf allen Kanälen wie devote Anhänger
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eines Gurus. Offensichtlich stehen sie aber unter gewaltigem Druck, nichts Falsches zu sagen.
Als vor der «Tagesschau» am Montagmittag dummerweise Bild und Ton etwas zu früh
ausgestrahlt wurden, sah man die zwei Moderatoren streiten, weil sie den Befehl erhalten
hatten, während der Staatstrauer dürften sie das Fernsehpublikum nicht mit «Guten Tag»
begrüssen - weil es nach Fidels Tod keine guten Tage mehr geben darf. Ein Moderator meinte
genervt, was da ablaufe, sei krank.
Schon vor der Trauerzeremonie auf dem Revolutionsplatz wurden zwei Tage lang
Hunderttausende Menschen im ganzen Land mobilisiert. An 300 Orten richtete die
Kommunistische Partei Gedenkstätten ein, alle mit Blumen und demselben grossformatigen
Foto geschmückt: Fidel als junger Rebell mit Gewehr und Tornister am Rücken. Auch an diese
Huldigungsstätten wurden die Menschen von den Schulen und Staatsbetrieben in Massen mit
Bussen hingefahren.
Emotionale Abhängigkeit
Das Fernsehen zeigt pausenlos weinende Genossen und Genossinnen. Viele reden «vom Vater»,
den sie verloren haben. Fidel mischte nicht nur in der Weltpolitik mit und diktierte von A bis Z
alles im Staate Kuba, er bestimmte auch, wann die Kubaner Glühbirnen durch
Stromsparlampen ersetzen mussten, er schaffte die Weihnachten für Jahre ab und chinesische
Velos fürs Volk an, erklärte, welcher Typ Dampfkochtopf in die Küche gehört und welches die
beste Kakaomischung für die Kinder ist. Fidel weckte Träume und nahm sie einem wieder. Fidel
bestimmte alles und hatte stets für jedes Problem die beste Lösung, auch wenn die dann nicht
funktionierte. Aus den Tausenden Tränen und Worten im Fernsehen sprach oft der Verlust
dieser seit Jahrzehnten gewachsenen Abhängigkeit von einem einzigen Mann.
Das Erbe dieses Mannes soll auch Kubas Zukunft bestimmen. Ral und seine Regierung nutzen
Fidels Tod dazu, dem Volk ein schriftliches Bekenntnis zur Revolution und zum Sozialismus
abzuringen. Die Blockwarte der Komitees zur Verteidigung der Revolution klopfen an jede
Haustür und fordern jeden Bürger und jede Bürgerin dazu auf, sich mit einer Unterschrift zu
Fidels Ideologie und Prinzipien zu bekennen. Eine Art Volksabstimmung im Angesicht des
Toten. An über 11 000 Orten liegen die Unterschriftenbögen auf. Jeder Name wird gezählt und
registriert. Allein am ersten Tag haben laut der Parteizeitung «Granma» 3 445 776 Landsleute
den Pakt unterschrieben. Wenn Fidels Asche in der Erde ist, wird die Regierung verkünden: Wir
werden Volkes Wille umsetzen. Weiter wie mit Fidel.
«Und dann: Knall, Blitz, Rauch!»
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Lobbyiert in Brüssel für die Konsumenten: Sepp Eisenriegler in Wien. Foto: Philipp Horak (Anzenberger)
Reparaturtechniker Sepp Eisenriegler ist überzeugt, dass die Industrie
Haushaltsgeräte baut, die nicht lange halten. Eine Lösung sieht er im Teilen.
absichtlich
Mit Sepp Eisenriegler sprach Bernhard Odehnal, Wien, TA vom SA 19. November 2016
Sie prangern in Ihrem Buch «Konsumtrottel» die Industrie an, dass sie die
Lebensdauer ihrer Produkte absichtlich verkürzt. Haben Sie bei der Reparatur
von Haushaltsgeräten denn jemals Beweise für diese sogenannte geplante
Obsoleszenz gefunden?
Natürlich, häufig sogar. Zum Beispiel bei Waschmaschinen. Da gibt es billige ReibungsStossdämpfer, die die Unwucht beim Anschleudern abfedern sollen. Deren stossdämpfende
Wirkung beruht auf zwei eingefetteten Schaumstoffstreifen. Nach zwei Jahren ist das Fett weg
und der Schaumstoff zerbröselt. Nach drei Jahren ist das Lager zerstört, das es nicht als
Ersatzteil gibt. Also müsste man die gesamte Wascheinheit, bestehend aus Bottich, Trommel
und Lager, neu kaufen - zu einem höheren Preis als eine neue Waschmaschine. Eigentlich
müsste man nur bessere Stossdämpfer einbauen, und die Maschine würde wesentlich länger
halten.
In einer grossen Studie im vergangenen Jahr fand das deutsche
Umweltbundesamt allerdings keine Beweise für geplante Obsoleszenz.
Wir setzten grosse Hoffnungen in diese Studie, wurden aber masslos enttäuscht. In meinem
Buch erkläre ich, warum das Umweltbundesamt nichts fand: weil es der Elektrobranche nicht
wehtun wollte und deshalb gar nicht nach Beweisen suchte. Auch ich wurde für die Studie
befragt, aber nach einem vorgefertigten Fragebogen. Ich konnte meine Erfahrungen gar nicht
einbringen.
Welche Erfahrungen meinen Sie?
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Wir führten selbst Tests durch und befragten Hersteller zur geplanten Nutzungsdauer ihrer
Produkte. Von den meisten Firmen erhielten wir keine oder unbefriedigende Antworten. Nur
ein Hersteller zweier Marken schickte uns eine Liste, die vom Branchenvertreter des
Elektrohandels erstellt worden war: Da wird verlangt, dass Waschmaschinen pro 100 Euro
Verkaufspreis nur ein Jahr halten sollten. Eine Maschine um 400 Euro darf also nur vier Jahre
halten. Die maximale Lebensdauer war acht Jahre, auch bei sehr teuren Maschinen. Für mich
ist das der beste Beweis, dass Geräte nur für eine bestimmte Zeitspanne gebaut werden und
dann nicht mehr wirtschaftlich zu reparieren sind. Wie lange diese Zeitspanne ist, bestimmt
offenbar der Handel.
Alle drei, vier Jahre bringt die Elektro- und Elektronikbranche neue Geräte auf
den Markt, die energieeffizienter arbeiten. Was ist schlecht daran, dass wir uns in
regelmässigen Abständen neue, bessere Geräte kaufen?
Heute können wir uns das noch leisten, in zehn bis zwanzig Jahren aber nicht mehr. Weil dann
die gestiegenen Rohstoffpreise ohnehin keine Produkte wie Wegwerf-Waschmaschinen mehr
erlauben. Und wenn die Hersteller heute mit der guten Energiebilanz ihrer Produkte werben,
dann täuschen sie uns.
Sie nennen das in Ihrem Buch die «Energieeffizienzlüge».
Genau. Denn Umweltschäden entstehen nicht so sehr während des Betriebs eines Gerätes,
sondern hauptsächlich während der Produktion und Distribution. 60 Prozent des gesamten
CO2-Ausstosses, die ein Laptop erzeugt, entstehen schon bei dessen Herstellung. Da kann ich
als Konsument durch energiesparenden Betrieb kaum noch einen positiven ökologischen
Beitrag leisten. Die Argumentation der Industrie und des Handels, dass es ökologisch sinnvoll
sei, neue Geräte zu kaufen, ist entweder dumm oder gelogen. Wenn die Herstellung der Geräte
schon so grosse ökologische Schäden verursacht, müssten wir sie extrem lange nutzen, um das
zu kompensieren.
Manche Hersteller lassen eine lange Nutzung ihrer Geräte gar nicht mehr zu.
Apple, zum Beispiel, hat Laptops . . .
. . . bei denen nicht einmal mehr die Akkus ausgebaut werden können. Was die
Batterieverordnung der EU eigentlich verbietet. Wenn ein Verschleissteil nicht getauscht
werden kann, ist das ein typisches Beispiel einer geplanten Obsoleszenz. Das gilt für AppleComputer genauso wie für elektrische Zahnbürsten. Besonders schlimm sind elektrische Mixer.
Auf vielen Gehäusen steht eine Formel, deren Bedeutung kaum jemand kennt. KB 4 oder KB 5
steht für «Kurzzeitbetrieb». Solche Geräte dürfen nur 4 oder 5 Minuten benutzt werden, danach
müssen sie 15 bis 20 Minuten auskühlen.
Und wenn sie länger benutzt werden?
Das habe ich probiert: Für einen Wiener Gugelhupf musste ich einen leichten Hefeteig rühren.
Länger als fünf Minuten. Die Folge: Knall, Blitz, Rauch, Gestank - der Motor brannte ab. Ich
vermutete, dass noch mehr passiert war, konnte aber das Gehäuse des Geräts nur mit Gewalt
öffnen, weil es verschweisst war. Danach verstand ich, dass dieser Mixer gar nicht zum
Teigrühren gebaut war: Er hatte eine Metallschnecke, die ein Zahnrad aus schlechtem
Kunststoff antreibt. Das Zahnrad war schon nach den ersten Betriebsminuten abgefräst. So
etwas ist für mich geplante Obsoleszenz.
Aber der Mixer war billig?
Sehr billig sogar, um die 30 Euro.
Für mehr Geld hätten Sie vermutlich ein besseres Gerät bekommen.
Ja, noch geht das. Das deutsche Umweltbundesamt stellt jedoch fest, dass sich der Anteil der
Haushaltsgeräte, die wegen eines Defekts innert fünf Jahren nach Kauf ausgetauscht wurden,
fast verdreifacht hat. Das deckt sich mit unseren Erfahrungen. Der Trend geht in die Richtung,
dass man alle drei Jahre die Grossgeräte im Haushalt erneuern muss. Übrigens gibt es auch im
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Hochpreissegment Produkte, die schlecht designt sind, das nenne ich dann eine nicht geplante
Obsoleszenz.
Diese Schäden kann man dafür auch reparieren lassen?
Im Prinzip ja, aber: Da kommen angebliche Techniker, werfen einen Blick auf das Gerät und
sagen: «Gnädige Frau, das zahlt sich nicht aus. Kaufen Sie sich etwas Neues.» Solche Techniker
arbeiten nicht für die Service-, sondern für die Verkaufsabteilung.
Was halten Sie von Schweizer Produkten?
Da gibt es ja nicht viele, in der Unterhaltungselektronik ist mir nichts bekannt. Aber die
Waschmaschinen von Schweizer Firmen sind für mich das Mass aller Dinge. So etwas würde ich
mir gerne leisten können, um es hier anzubieten.
Deutlich billiger sind Haushaltsgeräte, die in asiatischen Staaten produziert
werden. Was sagt der Reparaturtechniker zu diesen Geräten?
Der blanke Horror! Bei chinesischen Produkten brauchen wir gar nicht einmal zu versuchen,
etwas zu reparieren. Es würde sich auch gar nicht lohnen. Neue Geräte aus Asien sind extrem
billig, weil sie doppelt subventioniert werden: einerseits durch Rohstoffe, die nur so billig sein
können, weil die Schäden, die bei Abbau und Transport entstehen, von der Allgemeinheit
getragen werden. Anderseits durch die Ausbeutung der Menschen bei der Verarbeitung. Wenn
Menschen 18 Stunden am Tag arbeiten, dafür 50 Cent bekommen, aber keine Pensions- und
keine Krankenversicherung haben, dann ist das für mich Ausbeutung pur. Deshalb entsprechen
die Preise für asiatische Haushaltsgeräte weder der ökologischen noch der sozialen Wahrheit.
Ihre Reparaturen muss man sich auch leisten können. Billig sind sie nicht
wirklich.
2014 waren wir von der Insolvenz bedroht, weil eine Bank plötzlich 30 000 Euro
Kreditforderung stellte. Ich musste eine Fortbestehensprognose erstellen, und eine Konsequenz
daraus war eine drastische Preiserhöhung. Wir verlangen jetzt etwa so viel wie die
Serviceabteilungen von Bosch und Siemens - allerdings bei höherer Erfolgsquote. Das Problem
ist, dass die Arbeitskosten viel zu hoch sind. Ich überweise meinen AussendienstServicetechnikern pro Monat 1800 Euro, aber sie kosten mich das Doppelte. Wir sollten
kritische, nicht regenerative Rohstoffe besteuern und nicht Menschen, die in der
arbeitsintensiven Dienstleistungsbranche arbeiten.
Eine umfassende Änderung des Steuersystems wird wohl nur auf europäischer
Ebene möglich sein?
Das glaube ich nicht. Schweden wird nächstes Jahr die Mehrwertsteuer für
Reparaturdienstleistungen von 25 auf 12 Prozent senken und gleichzeitig neue Geräte
verteuern.
Die EU sieht den Auswüchsen der Wegwerfgesellschaft tatenlos zu?
Ganz und gar nicht. Die EU-Kommission hat im vergangenen Dezember als Gegenmodell zur
linearen Wirtschaft ihr Modell einer «Circular Economy» veröffentlicht. Im Zentrum dieses
Modells stehen langlebige, reparaturfreundlich konstruierte und wiederverwendbare Produkte.
Ideen hatte die Kommission schon viele . . .
Das ist mehr als eine Idee. Die EU-Kommission, die ja konservativ agiert und die Wirtschaft in
keiner Weise negativ beeinflussen will, hat das als Vorschlag veröffentlicht. Der Wirtschaftsund Sozialausschuss des EU-Parlaments hat allem zugestimmt. Sogar vom Rat kommen
positive Zeichen. Es gibt einen Zeitplan, und es ist höchste Zeit dafür: Die Kommission macht
sich zu Recht ernste Sorgen um den Wirtschaftsstandort Europa.
Warum?
Wir sind abhängig von Rohstoffimporten, und die kommen aus politisch sehr instabilen
Ländern. Daher will die EU einen sparsamen Umgang mit Rohstoffen forcieren. Ich glaube,
46
dass der Trend zu Wegwerfgeräten bis 2020 gestoppt werden kann. Nach einer Übergangsphase
von fünf bis zehn Jahren wird es am europäischen Markt keine Produkte mehr geben, die nicht
den Kriterien der Ressourceneffizienz entsprechen.
Wer bestimmt diese Kriterien?
Die EU-Kommission hat das europäische Normungsinstitut beauftragt, bis 2019 Standards für
Langlebigkeit und reparaturfreundliches Design zu entwickeln.
Wenn die EU diese Standards wirklich einführt, werden die Geräte deutlich
teurer?
Sie werden nur vermeintlich teurer. Wenn sie dann für eine Waschmaschine 1000 Euro zahlen,
hält die zwanzig Jahre und ist damit billiger, als wenn sie alle drei Jahre ihre Waschmaschine
für 300 Euro wegwerfen müssen. In ein paar Jahren werden wir uns ohnehin keine
Wegwerfgeräte mehr leisten können, weil die steigenden Rohstoffpreise das nicht erlauben. Wir
probieren in unserem Reparaturzentrum ausserdem gerade ein neues Konsummodell aus und
vermieten Waschmaschinen. Das werden die grossen Hersteller auch bald machen. Und wenn
diese Hersteller dann selbst für die Instandhaltung verantwortlich sind, wird sich die Lebenszeit
ihrer Geräte sehr schnell drastisch erhöhen.
Mit diesem Modell steht Ihr Unternehmen heute auf wirtschaftlich soliden
Beinen?
Ja, es läuft gut, weshalb wir unsere erste Aussenstelle in Graz planen. Ausserdem habe ich viele
Anfragen aus Deutschland und aus der Schweiz. Die kommen von Leuten, die mein Modell
übernehmen wollen. Wir arbeiten deshalb an einem Handbuch für Social Franchising.
Wie soll ich mich als Konsument verhalten?
Solange wir die Früchte der Circular Economy noch nicht ernten können, ist mein Rat:
Verwenden Sie Ihre Elektrogeräte, solange es möglich ist. Eine Reparatur mag teuer erscheinen,
aber ein Neukauf ist nicht immer von Vorteil. Betrachten Sie eine Waschmaschine aus den
90er-Jahren als Wertanlage. Es kommt nichts Besseres nach. Überlegen Sie, ob Sie Geräte
teilen können: Brauchen Sie wirklich eine eigene Bohrmaschine, die Sie nur ein- oder zweimal
im Jahr benutzen? Teilen Sie Geräte mit Ihren Nachbarn, so kommen Sie auch ins Gespräch.
Sie gewinnen neue Freunde und sparen Geld.
«Eine Waschmaschine für 400 Euro darf nur vier Jahre halten.»
Hailes neue Welt
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Schon früh war Haile Gebrselassie laufender Geschäftsmann – nun ist er eine immer wichtigere Stimme in
Äthiopien. Foto: Tiksa Negeri (Reuters)
Haile Gebrselassie ist eine Ikone des Laufsports. Im letzten Jahr trat der Äthiopier mit 42
zurück. Er hat sich ein kleines Imperium mit 2000 Angestellten erschaffen - und prägt seinen
Sport weiter.
Von Christian Brüngger, TA vom SA 19. November 2016
Der Schweizer Laufpionier Markus Ryffel staunt, als er Anfang Jahr in Addis Abeba landet.
Haile Gebrselassie hat ihn eingeladen. Der wohl bekannteste Äthiopier, dem nach seinem
10 000-m-Olympiasieg von 1996 eine Million Landsleute bei der Rückkehr huldigten, holt
seinen Gast selber ab. Mittlerweile beschäftigt er 2000 Angestellte. Sofort bildet sich um die
beiden eine Menschenmenge, weil jeder mit Haile national reden oder zumindest ein Foto
knipsen will.
Auch in den folgenden Tagen begleitet Gebrselassie seinen Gast wie ein Touristenführer durchs
Land, fährt ihn ins Museum oder spielt abends beim Dinner gar den Kellner. Er wirkt
bodenständig und unkompliziert, so wie ihn die Leichtathletikfreunde als Star der Bahnrunden
kennen lernten. Trotz 27 Weltrekorden, zwei Olympia- und vier WM-Titeln vermittelte er
damals bereits das Gefühl, ein sympathischer Bursche von nebenan zu sein. Für alle ist er
schlicht: Haile.
Der Eindruck täuscht ein bisschen. Aufgewachsen in einfachsten Verhältnissen in der
Laufhochburg Assela, investierte schon der Athlet Gebrselassie in seine Zukunft, war also früh
mehr als eine Sportgrösse. Er kaufte sich Lastwagen und baute zusammen mit seiner Frau eine
Transportfirma auf. Dazu später mehr.
Ryffel will sich für diese Gastfreundschaft bedanken und lädt Gebrselassie in die Schweiz ein.
Vor einer Woche weilt dieser darum ein paar Tage im Land. Und weil Ryffel wie Gebrselassie
ein cleverer Geschäftsmann ist, verbinden sie das Private mit dem Beruflichen. Gebrselassie
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hält an jenem Samstag einen Vortrag im Gebäude von Tamedia in Zürich. Ryffel hat
umdisponieren müssen: Der gebuchte Saal im Hauptbahnhof für 100 Personen erwies sich als
zu klein - innert Stunden hatten sich rund 200 Personen angemeldet. Die Episode zeigt:
Gebrselassie mag seit 2015 ein Ex-Läufer sein, sein Name aber zieht weiterhin.
Zumal er, der inzwischen gut Englisch spricht, ein begnadeter Conférencier ist. In Zürich
erzählt er den Zuhörern aus seinem (Lauf-)Leben, über seine Stiftung für 3500 Kinder, denen er
Schulunterricht oder Essen bezahlt, aber auch von einem seiner neuen Sportresorts. Denn
Gebrselassie wie Ryffel finden: Neben ausländischen Topathleten, die sich vermehrt in
Äthiopien statt Kenia auf wichtige Rennen vorbereiten, sollen doch auch einmal Hobbyläufer
ins Land kommen. Ryffel plant darum, im Januar 2018 eine Rundreise samt einem Besuch
beim Vorläufer der Nation anzubieten. Klar wird in Zürich also auch: Da harmonieren zwei
Brüder im Geist.
Seine Frau ist seine CEO
Einen Tag nach dem Vortrag, auch Schloss Rapperswil hat Geschichtsliebhaber Gebrselassie
inzwischen hinter sich, kurz vor dem Heimflug nimmt er sich Zeit für ein Gespräch. Mit Ryffel
im Schlepptau reist er ohne weitere Entourage an und bleibt erst unerkannt: Dann stellt sich ein
Mann als früherer Gegner aus Kenia vor - was er wohl in Zürich tut? - und will seine
Handynummer. Gebrselassie gibt sie ihm. Im Gespräch ist er dann, wie ihn Ryffel im Januar
erlebte und er auch am Vortrag zu sehen war: authentisch, unaufgeregt, lustig und interessiert.
Gebrselassie erzählt dabei gerne von seiner Heimat. Er ist ein patriotischer Mann, weshalb er
sein Geld primär im Land anlegt. Zum erwähnten Transportunternehmen sind
hinzugekommen: Hotels (samt Fitnesscenter und Kino), Sportresorts, eine Baufirma, die
alleinige Lizenz, die Autos einer südkoreanischen Marke einzuführen - und zuletzt eine
Kaffeeplantage.
Denn weil Gebrselassie ausschliesslich in seiner Heimat wirtschaftet, fehlen ihm Devisen. Da er
bei seinen Investitionen aber auch auf ausländische Firmen zurückgreift und die keineswegs in
äthiopischen Birr budgetieren, benötigt er Fremdwährung. Mit dem Export von Kaffee, der bald
ansteht, gedenkt er dieses Problem zu lösen.
Zu seiner Art passt, dass er fast alle Angestellten selber ausgesucht hat. Sie sollen sich
schliesslich in seine grosse Arbeiterschar einfügen. Sein Bauchgefühl sage ihm dabei rasch, ob
einer passe oder nicht. Die operative Führung seiner Firmen überlässt er allerdings engen
Vertrauten, primär seiner Frau. Er beschreibt sich eher als Ideenlieferanten, Anschieber und
Galionsfigur. Das Klein-Klein behage ihm weniger.
Dass seine Frau Alem, mit der er vier Kinder zeugte, quasi die CEO verkörpert, ist speziell im
Land, ja über Äthiopien hinaus: Frauen werden in Afrika kaum für fähig gehalten, solche
Führungsjobs zu übernehmen. Gebrselassie denkt moderner, ihn interessiere das Geschlecht
nicht. Er tickt auch in einem anderen Bereich anders, der viele afrikanische Nationen plagt:
Korruption und Vetternwirtschaft. Er lehnt sie ab. Gerne wäre er, der politisch unabhängig ist,
darum in die Politik gegangen. Nach Gesprächen mit seinem engsten Umfeld hat er zurzeit
Abstand davon genommen - und doch eine wichtige Funktion im Land übernommen.
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Als Kandidat der äthiopischen Leichtathleten bewarb er sich um das Präsidium des Verbandes.
Es ist im Land der Läufer der wichtigste Job im Sport. Auch ohne Support von offizieller Seite
setzte er sich vorletzte Woche durch - und brachte mit Topläuferin Meseret Defar auch gleich
eine Athletin ins neu gegründete Exekutivkomitee.
Dopingschlagzeilen und ein nahezu inexistenter Antidopingkampf tangieren den lange
unbefleckten Ruf der Laufnation. Gebrselassie will das möglichst rasch korrigieren und auch
gleich die Denkweise der alten Leichtathletikelite beseitigen. Einzelne Funktionäre konnten
selbst über die unbedeutendsten Auslandstarts ihrer Läufer entscheiden (bloss Gebrselassie
hielt sich, kraft seines Status zu seiner Aktivzeit, nie an diese Anweisungen).
Zugleich könnte er für Sebastian Coe, den Präsidenten des Weltverbandes, zu einem wichtigen
Verbündeten werden. Der frühere britische Langstreckenstar versucht das Image der
angeschlagenen Sportart auf globaler Ebene zu verbessern. Ein Mann von Gebrselassies Format
und Strahlkraft ist dafür ideal.
Seine Kinder sind lauffaul
Bei allem Wirbeln ist Gebrselassie, der nur selten schwer verletzt war, ein Läufer geblieben.
Täglich, oft in der Früh, geht er laufen. 15 bis 20 km spult er ab, in einem «gemächlichen
Tempo», wie er sagt. Für Insider: rund 4:30 Minuten pro Kilometer. Hatte er sein Haus extra an
der Peripherie von Addis gebaut, damit er rasch im Gelände trainieren konnte, absolviert er so
manchen Kilometer mittlerweile auch auf einem seiner Laufbänder. So ist er rasch in seinem
Büro und bei der Arbeit.
Seine Kinder hingegen sind für die Leidenschaft ihres Vaters weniger empfänglich, er sieht es
ihnen nach. Sie werden es auch ohne den Vorzug schneller Beine einmal gut haben, hat er ihnen
doch einen immensen Startvorteil verschafft. Zu viel verwöhnen aber will er sie trotzdem nicht.
Er hat seinen Weg aus eigener Kraft gehen müssen. Dass er auf leise Art stolz auf diesen
Werdegang ist, kann man verstehen.
Das Spiel der Strategen
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Für einmal gewann ein Amerikaner: Bobby Fischer (rechts) besiegt den Russen Boris Spassky 1972 in
Reykjavik. Foto: J. Walter Green (AP, Keystone)
Zurzeit wird in New York der nächste Schachweltmeister gekürt. Dieses Spiel ist so faszinierend
wie Fussball -und genauso bedroht von Machenschaften. Zehn Fakten zum Kampf um die
Könige.
Von André Behr, TA vom DI 15. November 2016
Schon im alten Indien wurde Schach gespielt. Warum fasziniert der Sport bis
heute?
Die Regeln des Schachspiels kann man in einer Stunde lernen. Auch das simpel anmutende
Hauptziel, den gegnerischen König mattzusetzen, ist für Jung und Alt bestechend reizvoll.
Zudem stehen in der Startformation 32 Figuren auf nur 64 Feldern, was rasch zu schwer
entwirrbaren Figurenkonstellationen führt. Allein nach dem ersten Zug von Weiss und Schwarz
ergeben sich bereits 400 verschiedene Stellungsbilder. Die Zahl aller denkbaren Schachpartien
ist derart astronomisch hoch, dass ein ganzes Leben bei weitem nicht ausreicht, um alle
Möglichkeiten auszuschöpfen. Auch heutige Computer scheitern noch klar an dieser
Komplexität. Diese Variantenvielfalt kreativ immer tiefer ausleuchten zu wollen, ist die
Hauptmotivation für jeden Schachenthusiasten - für Laien und Clubspieler genauso wie für
Weltmeister.
Wie läuft eine Schachpartie ab?
Unterschieden werden drei Phasen, in denen jeweils spezielle Kenntnisse und Strategien gefragt
sind. In der Eröffnung wird der Wirkungsgrad der eigenen Figuren erhöht, eine Rochade bringt
den König in Sicherheit. Diese Phase verlangt sehr viel Theoriewissen, denn manche Varianten
sind mittlerweile bis weit über den zehnten Zug hinaus analysiert. Im Mittelspiel wird versucht,
Schwächen im gegnerischen Lager zu provozieren oder allenfalls direkt anzugreifen, was
Fantasie und kombinatorische Rechenkraft erfordert. Im Endspiel geht es oft darum, den
entscheidenden Materialvorteil zu erringen, der zum Matt führt, wobei auch hier wieder viel
Wissen und genaues Rechnen vonnöten sind. Die hohe Kunst ist, immer im richtigen Moment
von Angriff auf Verteidigung umschalten zu können, wenn etwas schiefgelaufen ist. Nur dann
bringt man es weit über das Niveau eines Clubspielers hinaus.
51
Wodurch wird man zu einem guten Spieler?
Damit die eigene Motivation nicht abflaut, ist es zentral, annähernd gleich starke Spielpartner
auszuwählen. Ist der Gegner zu schwach, neigt man selber zur Schlampigkeit. Ist er zu gut,
kommt man gar nicht zum Spielen. Wer nach Höherem strebt, vermeidet Überheblichkeit,
indem er sich zwischendurch geduldig immer wieder an klar stärkeren Spielern misst. Um im
Ranking weit nach oben steigen zu können, muss wie in vielen anderen Disziplinen früh
begonnen werden. Ein Grund dafür dürfte sein, dass im Schach ein spezifisches Denkvermögen
verlangt wird, damit Brett und Figurenzüge innerlich verlässlich visualisiert werden. Da die
Regel «berührt, geführt» gilt, muss man die Konsequenzen eines Zuges sehr genau
vorausberechnen. Weitaus die meisten Topspieler hatten schon vor der Pubertät ein
Spielniveau, das nur die wenigsten als Erwachsene erreichen.
Wie wird man Weltmeister?
Garri Kasparow begründete seine Überlegenheit in den Neunzigerjahren mit dem Hinweis, dass
er Tausende von Stellungen sehr gründlich analysiert habe, jedenfalls mehr als seine Gegner.
Magnus Carlsen sagte dazu, er überprüfe im Kopf unentwegt Spielzüge, selbst während er
Interviews gebe. Das mag ein launisches Statement des selbstbewussten aktuellen Weltmeisters
gewesen sein, aber es trifft den Kern der Frage. Gemeint ist: Die Titelträger sind immer tiefer in
die Verästelungen des Variantenbaums vorgedrungen als die meisten ihrer Zeitgenossen. Dabei
entdeckten sie neue Stellungsmotive und Strategien. Um ganz an die Spitze zu kommen,
braucht es neben stupenden Theoriekenntnissen und etwas Glück freilich noch Intuition sowie
Mut zu Neuem, Entscheidungskraft und eine psychologische Disposition, die hilft, einen
Zweikampf «Mensch gegen Mensch» am Brett durchzustehen.
Gehört Schach in die Schule?
Alle intellektuellen Fähigkeiten, die für den Erfolg im Schach zwingend sind, erweisen sich in
anderen Disziplinen als ebenso nützlich. Das disziplinierte Durchrechnen von Varianten
trainiert das logische Denkvermögen, das Memorieren von Zugfolgen und Stellungsbildern das
Gedächtnis. Das Aushecken einer Spielstrategie schult das Vorausplanen und das Umschalten
von Verteidigung auf Angriff. Weil im Turnierschach nur eine beschränkte Bedenkzeit besteht,
wird auch die Flexibilität beim Fällen von Entscheidungen geübt. Aus all diesen Gründen wird
inzwischen weltweit in vielen Ländern Schach als Freifach in den Schulen oder in Kursen
privater Fördervereine angeboten, vermehrt auch in der Schweiz. Als Einwand kann man
gewisse tragische Einzelschicksale grosser Spieler anführen. Wilhelm Steinitz endete verarmt
im Irrenhaus, Bobby Fischer driftete ins Reich der Verschwörungstheorien ab. Der berühmte
russische Stummfilm «Schachfieber», in dem ein besessener Spieler seine Hochzeit sausen
lässt, weil er ins Studium einer Partie vertieft ist, erzählt derartige Fälle noch mit Witz.
Modernere Spielfilme bauen aus solchen Lebensgeschichten gerne herzergreifende Dramen. In
Wahrheit ist in Bezug auf die angeblich schrecklichen Auswirkungen von Schach auf die Psyche
Entwarnung angesagt.
Computer spielen besser als Menschen. Haben Turniere da noch einen Sinn?
Mit dem Aufkommen leistungsstarker Rechner wurde Ende des 20. Jahrhunderts immer wieder
der baldige Tod des Schachs prognostiziert. Heute schlagen selbst PC-Programme für ein paar
Franken den Weltmeister, ohne dass deshalb Turniere abgesagt worden wären. Man hat sich
arrangiert und die Regeln angepasst, damit niemand während einer Partie ungestraft auf
rechnergestützte Aussenhilfe zugreifen kann. Profis verwenden Schachprogramme gerne als
Dienstleister. Sie verwalten damit inzwischen Millionen von Partien, trainieren online oder
testen Analysen. Auch Weltmeister Magnus Carlsen. «Computer sind dumm», sagte er jüngst in
einem Interview mit der «Süddeutschen Zeitung», «ich nutze sie, aber ich würde nicht sagen,
dass ich sie mag.» Ein ernsthafteres Problem stellt die Mathematik. Denn Schach ist ein
sogenanntes 2-Personen-Nullsummenspiel mit vollständiger Information ohne Zufallseinfluss.
Das bedeutet: Bei perfektem Spiel gewinnt immer Weiss oder immer Schwarz, oder es wird
immer Remis. Welches dieser drei Resultate man stets erzwingen kann, ist ein ungelöstes
mathematisches Problem.
Welche Rolle spielt die Psychologie?
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Zwischen Menschen ist jede Partie ein Zweikampf, der von Gefühlen begleitet wird. Garri
Kasparow zieht aus der Analyse der über 100-jährigen Geschichte der offiziellen WM sogar den
Schluss, dass letztlich oft psychologische Faktoren die entscheidende Rolle gespielt hätten, auch
bei seinen Siegen gegen Anatoli Karpow und Viswanathan Anand. Diese These stützt ein Vorfall
im jüngsten Revanchekampf Carlsens gegen Viswanathan Anand 2014 in Sotschi. Als Carlsen in
einer Partie zwei seiner Bauern in Gefahr brachte, griff der für seine phänomenal rasche
Auffassungsgabe berühmte Inder nicht zu, weil er dem norwegischen Genie einen derart groben
Fehler gar nicht zutraute. Jeder Amateur kennt solche Blackouts. Weil die Psychologie ein
wesentlicher Faktor ist, eignen sich Schachprogramme nur beschränkt zum Training. Sie ahmen
zwar bereits menschliches Verhalten nach, können aber keine emotionale Atmosphäre
simulieren. Maschinen lassen sich nicht von Bluffs beeindrucken, und Menschen machen keine
Computerzüge.
Warum dominieren die Männer?
In den Anfängen des Schachs wurde in Epen oft die Überlegenheit von Frauen besungen.
Namen von Spielerinnen sind aber selbst im 19. Jahrhundert kaum überliefert. Das erste
internationale Frauenturnier fand 1897 in London statt, die erste reine Frauen-WM 1927 an
gleicher Stelle. Die Siegerin Vera Menchik belegte zwei Jahre später an einem bedeutenden
Turnier mit einem halben Punkt Rückstand auf den legendären Kubaner Ral Capablanca Rang
zwei. Ihre Leistung reichte für Platz 52 der Weltrangliste. Mit Rang 13 am weitesten schaffte es
bisher die mittlerweile 40-jährige Ungarin Judit Polgar, die jüngste dreier Schwestern, die in
einer Art Erziehungsexperiment ihrer Eltern alle sehr früh trainiert wurden. Die 22-jährige
Chinesin Hou Yifan, aktuell mit Abstand die beste Spielerin der Welt, ist von einem solchen
Ranking noch weit entfernt. Woher diese Diskrepanz zwischen Männern und Frauen trotz
vergleichbarer Frühförderung und Unterstützung der Verbände rührt, bleibt im Unterschied zu
anderen, körperlicheren Sportarten eine offene Frage.
Ist Schach überhaupt ein Sport?
Judit Polgar sagt dazu: Sport beanspruche zu 70 Prozent den Körper, zu 30 Prozent den Kopf,
im Schach sei es gerade umgekehrt. Früher sassen sich die Koryphäen Zigarre paffend
gegenüber und genehmigten sich während des Spiels ein Glas Bier oder stärkere alkoholische
Getränke. Heute raucht fast keiner der Topspieler mehr, und neben dem Brett sind höchstens
eine Flasche Orangensaft, ein Espresso oder ein Glas Tee auszumachen. Viele treiben
Ausgleichssport, allen voran Carlsen, dessen unbändiger Siegeswillen selbst in einem
Freundschaftsspiel auf dem Fussballplatz spürbar wird. Untersuchungen haben nachgewiesen,
dass ein Schachspieler während einer umkämpften Partie fast so viel Energie verbraucht wie ein
Fussballer in einem harten Match. Hinzu kommen Testosteronschübe in kritischen
Partiephasen, die so stark sein können wie bei einem Fallschirmspringer oder einem
Bergsteiger. Insofern ist vertretbar, dass Schach heute offiziell als Sport gilt und somit in den
Genuss von Fördergeldern kommt.
Wie politisch ist Schach?
In der UdSSR hatte Schach seit Lenins Zeiten einen hohen Stellwert und war Teil einer damals
einzigartigen staatlichen Eliteförderung, mit der in vielen Bereichen die Besten unter den
Talentierten ausgesiebt wurden. Legendär ist die nach dem Weltmeister und Elektrotechniker
Michail Botwinnik benannte Schule. Das erste bedeutende Schachereignis nach dem Zweiten
Weltkrieg war 1945 ein Radiomatch UdSSR - USA, den die Sowjets gewannen. Nur Bobby
Fischer konnte 1972 diese Übermacht kurzfristig brechen. Damit löste er einen Boom aus, der
dazu führte, dass heute weltweit geschätzte 600 Millionen Menschen ambitioniert Schach
spielen. Der aktuelle Weltmeister stammt aus Norwegen, sein Vorgänger Anand aus Indien.
Immerhin stellt Russland gerade den WM-Herausforderer und mit Kirsan Iljumschinow den
Präsidenten des Weltschachverbands Fide. Es ist vor allem Iljumschinow, der an die Zeiten der
Sowjetunion erinnert. Aufgrund seiner Nähe zum syrischen Präsidenten Assad droht ihm in den
USA die Verhaftung, weshalb er nicht nach New York an die WM gereist ist. Gegen ihn und
seine Machenschaften wehrte sich bisher allerdings nur Garri Kasparow. Analog zum Fussball
scheuen Spieler und Funktionäre eine offene Auseinandersetzung.
Analyse
53
Die US-Grossstädte stimmten für Hillary Clinton. Trotz der Niederlage gehört die Zukunft ihnen.
Von Beat Metzler, TA vom SA 12. November 2016
Champion der Provinz
Die Hoffnung kommt vom gleichen Ort wie das Problem: aus der Grossstadt.
Donald Trump ist ein New Yorker. Aufgewachsen in Queens, wo der Vater ein Vermögen mit
Sozialwohnungen machte, überquerte er als junger Mann den East River, handelte mit Häusern
und verewigte sich mit einem Glasturm an der teuersten Strasse Manhattans.
Im Wahlkampf lobte Trump seine «New Yorker Werte»: unverblümtes Auftreten, Mut, die
unbändige Energie, Dinge anzupacken.
Aber der New Yorker kommt bei den New Yorkern so schlecht an wie verstopfte U-Bahnen. In
Manhattan stimmten 87 Prozent der Wähler für Clinton, in der Bronx waren es 88 Prozent. In
den restlichen Stadtteilen fiel die Ablehnung nur wenig schwächer aus.
Trumps Abfuhr in seiner Heimat bildet keine Ausnahme. Der Grossstädter Trump ist ein
Champion der Provinz. Die ländlichen Regionen haben ihn zum Präsidenten gemacht.
Trump verlor in fast allen Metropolen, selbst in jenen, die mitten in republikanisch geprägten
Bundesstaaten liegen. Deutlich fiel der Unterschied zwischen Stadt und Umland etwa in Texas
aus. In den vier grossen texanischen Städten scharten sich 54 bis 66 Prozent hinter Hillary
Clinton. Auf dem texanischen Land erreichte Donald Trump bis zu 80 Prozent Zustimmung.
54
Die Tendenz, dass Städte linksliberal stimmen, hat sich im Vergleich zu vor vier Jahren noch
verstärkt. Sie ist eine Folge der urbanen Renaissance, des Wiederaufblühens der Städte, von
denen viele in den 70er- und 80er-Jahren dem Kollaps entlangschrammten.
Diese Renaissance hat die meisten amerikanischen Grossstädte zu Laboren der Zukunft
umfunktioniert, deren gutausgebildete Bewohner in der Kreativwirtschaft, im Hightech-Bereich
oder in der Finanzbranche arbeiten. Ihnen gegenüber stehen Gegenden, die stark von den
schrumpfenden, traditionellen Industrien abhängen. Der Stadt-Land-Graben läuft also teilweise
entlang der Unterscheidung von Globalisierungsgewinnern und -verlierern. Die digitale
Wirtschaft gedeiht dort, wo sich Wissen ballt und Ideen entstehen: in den Städten. Sie
erwirtschaften schon 85 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes. Der amerikanische Traum
verengt sich zu einem urbanen Traum.
Doch die wirtschaftlichen Unterschiede erklären nicht alles. In vielen Stadtvierteln herrscht
auch heute Armut, in der Bronx zum Beispiel, wo Hillary Clinton trotzdem fast alle Stimmen
holte. Reichere Menschen vom Land dagegen bevorzugten Donald Trump. Entscheidend
scheint nicht der wirkliche Wohlstand zu sein. Entscheidend ist das Gefühl, dank den
Möglichkeiten in nächster Nähe aufsteigen zu können (Bronx), oder aber der Eindruck,
abgehängt zu werden (Iowa).
Gleichzeitig trifft das alte urbane Zivilisierungs-Versprechen weiter zu: Wer eng mit Menschen
verschiedenster Herkunft zusammenlebt, lernt Toleranz. Städter suchen lieber nach
gemeinsamen Lösungen, anstatt Mauern zu bauen.
Das 21. Jahrhundert gilt als Jahrhundert der Städte. Zum ersten Mal in der Geschichte der
Menschheit lebt über die Hälfte der Weltbevölkerung dort. Der Anteil soll laut Prognosen auf
drei Viertel steigen. Während die Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern
schrumpfen, wächst die Ungleichheit innerhalb der Staaten, zwischen Grossstädten und
Hinterland.
Auch kulturell geht die Kluft auseinander. Soziale Medien und Billigflüge haben Grossstädter
weltweit zu Nachbarn gemacht. Eine Künstlerin aus Zürich hat mit einer Künstlerin aus Los
Angeles mehr gemeinsam als mit einem Bauern aus Bäretswil. Dieser Abstand auf engstem
Raum schafft politische Brüche - nicht nur in den USA.
In allen westlichen Ländern wählen Städte weltoffen. Die Einfamilienhaus-Regionen dagegen
neigen zum Fremdeln. In der Schweiz zeigte sich das bei der Masseneinwanderungsinitiative.
Muskulöse Schwächlinge
Städte sind wirtschaftliche Riesen mit der politischen Macht von Zwergen - muskulöse
Schwächlinge. Niederlagen der Städter wie die gegen Trump verstärken ihr Bedürfnis nach
einem politischen System, das ihre Wünsche besser berücksichtigt.
Ein solches ist am Entstehen. Um stärker zu werden, verbinden sich Städte untereinander.
Bereits bestehen mehrere diplomatische Netzwerke (zum Beispiel die C40 oder die Eurocitys),
in denen sich Städte über Klimaschutz, neue Wirtschaftsformen oder Siedlungsentwicklung
austauschen.
55
Die Prognosen von Urbanisten gehen weiter: Metropolen würden sich künftig eher als
Weltstädte begreifen denn als Teil eines Staates, mit dem sie nur wenig verbindet. Dies führe zu
einer «postnationalen Ideologie des Civicismus», sagt der Philosoph Daniel Bell. Nicht mehr
das Land, in das man geboren wird, zählt als Heimat. Man sieht sich als Bürger einer global
ausgerichteten Stadt, die man selber als Wohnort ausgesucht hat. Die Macht der
Nationalstaaten bröckelt.
Die Ablehnung des Fremden verhilft Politikern derzeit fast überall zu Erfolgen. Vor diesem
Hintergrund erscheint das Erstarken der Städte erfreulich. Die Verschiedenartigkeit ihrer
Bevölkerungen macht sie immun gegen den Nationalismus.
Gleichzeitig vergrössert die Beschleunigung der Städte die Frustration der Abgehängten.
Dagegen hilft nur eins: Die städtische Verheissung muss allen offenstehen.
Teile von «Obamacare» gefallen Trump
Der gewählte Präsident will offenbar Barack Obamas Gesundheitsreform doch nicht vollständig
rückgängig machen.
Donald Trump will anscheinend zumindest Teile der von US-Präsident Barack Obama
durchgesetzten Gesundheitsreform aufrechterhalten. Im ersten Interview seit seinem Wahlsieg
äusserte sich Trump gegenüber dem «Wall Street Journal» zu Obamacare.
Die Regelung, dass Versicherer Patienten nicht wegen Vorerkrankungen ablehnen können,
halte er für richtig, sagte Trump in dem Interview. Ausserdem will er die Regelung
aufrechterhalten, dass Kinder für bestimmte Zeit bei ihren Eltern mitversichert bleiben können.
«Diese beiden gefallen mir sehr gut», sagte Trump mit Blick auf die erwähnten Regelungen.
Aus Respekt für Obama wolle er darüber nachdenken, die Reform nicht vollends rückgängig zu
machen. Die Reform werde entweder «verbessert oder widerrufen oder ersetzt». Der
Meinungsumschwung des Republikaners kam nach Einschätzung der Zeitung wohl durch den
Einfluss Obamas bei einem Gespräch mit Trump im Weissen Haus am Donnerstag zustande.
Trump hätte es ohnehin schwer, die Gesundheitsreform in Gänze zu kippen. Denn die
Republikaner haben im Senat nicht die notwendige Zahl von 60 Sitzen, um eine Blockade durch
die Demokraten zu verhindern. Diese können durch Dauerreden - sogenannte Filibuster erreichen, dass wichtige Gesetzesvorhaben nicht zur Abstimmung kommen.
«Es ist jetzt anders»
Das System war zuletzt nochmals verstärkt in die Kritik geraten, weil ein hoher Anstieg der
Beiträge für einen Teil der darüber Versicherten vorhergesagt wird. Die Reform, die Obama
gegen den heftigen Widerstand der Republikaner durchgesetzt hatte, hat rund 20 Millionen
Menschen eine Krankenversicherung verschafft.
Er wolle sehr schnell die Themen Einwanderung, Grenzsicherheit und Deregulierung im
Finanzwesen angehen, sagte Trump weiter. Seine Wirtschaftsberater sind vorwiegend
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Investmentbanker und Hedgefonds-Manager. Ausserdem werde er einen versöhnlicheren Ton
als im Wahlkampf anschlagen, versprach er. «Es ist jetzt anders.» (SDA)
«Die Natur ist alles andere als gut»
Ingo Potrykus ist der Erfinder eines Gentechreises, dem 120 Nobelpreisträger nach 20 Jahren
zum Durchbruch verhelfen wollen. Leider werde die Gentechnik verteufelt, sagt der emeritierte
ETH-Professor, Bio aber verklärt.
Mit Ingo Potrykus sprach Matthias Meili, TA vom SA 6. November 2016
Sie haben an der ETH Zürich den Goldenen Gentechreis entwickelt. Und Sie sind
Mitglied der päpstlichen Akademie der Wissenschaften. Hatten Sie nie Bedenken,
in Gottes Handwerk zu pfuschen?
Ich bin zwar katholisch erzogen, aber nicht allzu gläubig. Die Bibel fordert doch den Menschen
dazu auf, auch seine geistigen Fähigkeiten zu nutzen, die Welt bewohnbarer und ertragreicher
zu machen - und sie zu schützen.
Papst Franziskus hat den Goldenen Reis gesegnet. Wie kam es dazu?
Der Papst ist ja im Grunde Gentechnik-skeptisch. Aber der Goldene Reis hat ihm gefallen, und
deshalb habe ich ihn gebeten, den Reis zu segnen. Für mich war es ein politischer Wunsch, weil
mein Reis als Erstes in den Philippinen herauskommen soll, und das ist ein katholisches Land.
Ob es etwas bewirkt, weiss ich nicht.
Aber überschreitet der Mensch mit der Gentechnik nicht eine Grenze?
Wenn der Mensch nicht ständig Gott ins Handwerk pfuschen würde, wären wohl die meisten
von uns nicht mehr am Leben. Ich denke da nicht nur an die Medizin, sondern auch an die
Ernährung. Alles, was wir essen, ist das Ergebnis dieser Pfuscherei einschliesslich dramatischer
Veränderung des Erbguts, auch bei den Produkten des Biolandbaus.
Kürzlich haben über 120 Nobelpreisträger ihre Unterstützung für den Goldenen
Reis in einem öffentlichen Brief ausgedrückt. Wussten Sie davon?
Ich hatte keine Ahnung. Das ist eine beachtliche Unterstützung einer sehr exquisiten Gruppe
von Wissenschaftlern. Das zeigt, dass mein Reis auch nach 20 Jahren noch attraktiv ist.
Gibt der Brief der Nobelpreisträger dem Projekt einen neuen Schub?
Sehen Sie einen Schub?
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Nein, eigentlich nicht.
Ich auch nicht. Die Reaktion der Öffentlichkeit vor allem in Europa ist enttäuschend.
Die Nobelpreisträger sprachen in dem Brief von einem Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, wenn man den Goldenen Reis verhindere. Vielleicht war das zu
krass formuliert, zu emotional, zu wenig sachlich für Wissenschaftler.
Ist es zu krass formuliert, wenn man darauf hinweist, dass täglich 6000 Kinder an Vitamin-AMangel sterben, obwohl mit dem Goldenen Reis eine kostenlose, nachhaltige Lösung existiert,
die ohne Gentechnikhysterie seit 2003 hätte angewandt werden können? Was ist das
Verhindern von Hilfe zur Vermeidung von mittlerweile Millionen von Toten und Blinden
anderes als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit?
Erhoffen Sie sich auch, dass die Unterstützung von Religion und Wissenschaft die
Front gegen die Gentechnologie aufweicht?
Das Klima ist leider nicht besser geworden. Die Technologie wird immer noch verteufelt, vor
allem in Europa und der Schweiz. Ich kenne die Gentechgegnerschaft um Greenpeace seit 1984,
also seit 32 Jahren, und ich sehe keinen Anlass für Optimismus.
Der Bundesrat hat vorgeschlagen, das Anbaumoratorium nach 2017 um vier Jahre
zu verlängern. Und alle sind einverstanden. Können Sie das nicht akzeptieren?
Ich gebe zu, dass die Vorteile der Gentechnologie in der Schweizer Landwirtschaft relativ klein
sind. Daher ist es verständlich, wenn die Politiker opportunistisch entscheiden und nicht in den
Ruf kommen wollen, die Gentechnik zu unterstützen. Nicht akzeptieren kann ich, dass diese
Haltung enorme Auswirkungen auf die Behandlung der Gentechnik in Entwicklungsländern
hat.
Welche Auswirkungen?
Aufgrund dieser intensiven europäischen Ablehnung der Technologie wagen auch die
Regierungen der Entwicklungsländer nicht, sie einzusetzen, aus Angst vor
Exportschwierigkeiten. Unsere Partner in Indien hatten den Goldenen Reis seit dem Jahr 2000.
Die erste Genehmigung für Feldversuche folgte aber erst 2016, das hat die Entwicklung
blockiert. Unsere einflussreichsten Gegner dabei waren die Basmati-Reis-Exporteure, die
Schwierigkeiten für den Export nach Europa befürchteten. Dabei geht es um ein Geschäft von
600 Millionen Dollar jährlich. Nun überlegen Sie mal weiter. Weil die Basmati-Reis-Exporteure
Angst um ihren Profit hatten, nahmen sie billigend in Kauf, dass in Indien zigtausend Kinder
erblinden. Für mich ist das ziemlich unmoralisch.
Das waren handfeste wirtschaftliche Interessen. Die Umweltschützer haben aber
das Wohl der Welt im Auge.
(lacht) Das meinen Sie. Bei Greenpeace trifft dies vielleicht auf die ersten zehn Jahre zu. Ich
kenne einen der Gründer von Greenpeace, Patrick Moore, persönlich. Er war ein kanadischer
Ökologe und hat mit gleichgesinnten Kollegen vor 45 Jahren die Bewegung in einem
Kellerraum in der Nähe von Vancouver ins Leben gerufen. Damals haben sie fantastische Dinge
gemacht. Sie haben sich mit ihren kleinen Schlauchbooten den Robben- und Walfängern in den
Weg gestellt, und sie haben die Atomversuche im Südpazifik verhindert. Mit ihrem Schiff
Rainbow Warrior haben sie eine überwältigende Bekanntheit erlangt. Das waren echte
Umweltschützer. Sprechen Sie jetzt mal mit Patrick Moore. Er hat seine Meinung über
Greenpeace geändert. Er hat sogar eine Internetseite aufgebaut mit dem Ziel, den Goldenen
Reis zu erlauben und die Gentechnik anzuerkennen.
Ist denn die Angst vor Umwelt- und Gesundheitsrisiken, vor denen uns die strenge
Regulierung ja schützen soll, nicht berechtigt?
Das war einmal. Aber inzwischen ist das Wissen so solide, dass diese Regulierungen für mich
einfach keinen Sinn mehr machen. Traditionelle Gentechnik mit Pflanzen ist eine sichere
Technologie. Die Wissenschaft ist heute so überzeugend, dass sogar Greenpeace die alten
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Risikoargumente über Bord geworfen hat. Sie sagen ja jetzt nur noch, dass die Bevölkerung das
nicht will und nicht braucht.
Nicht nur Greenpeace, auch die Bevölkerung will vor allem Biolandwirtschaft.
Ich weiss nicht, ob die Öffentlichkeit Bio wünscht; man versucht es ihr einzureden. Es ist
erstaunlich, wie klein ihr Anteil trotz massivster Propaganda und Förderung ist. Man starrt mit
Scheuklappen auf die Gentechnik und übersieht viele reale Gefahren - zum Beispiel im
Biolandbau.
Der Biolandbau gilt als schonendund umweltfreundlich.
Erinnern Sie sich an den Fall mit den Salatsprossen in Norddeutschland? Wahrscheinlich nicht,
denn die Medien haben kaum darüber berichtet, weil es politisch nicht opportun war. Die
Biosprossen waren mit Bakterien infiziert, die im Biolandbau ganz normal sind, sich dort aber
aussergewöhnlich vermehrt hatten. Mehr als 60 Menschen sind daran gestorben, und heute
noch müssen Tausende deswegen zur Dialyse. Jetzt vergleichen Sie mal: 60 Tote, Tausende
schwerstnierengeschädigte Menschen - wo war der mediale Aufschrei? Wenn als Folge der
Gentechnik auch nur ein Mensch zu Schaden gekommen wäre, hätte es ein
Riesenmedienspektakel gegeben.
Die Gefahr liegt ja auch eher in der Struktur der industriellen Landwirtschaft,
welche die teure Gentechnik noch akzentuiert. Eine Konzentration der
Saatgutkonzerne ist unleugbar.
Die ist auch mir sehr unsympathisch. Aber kein Bauer ist gezwungen, sein Saatgut von einem
Saatgutkonzern zu kaufen. Sie kaufen es, weil sie damit einen höheren Ertrag haben. Das
machen unsere Bauern hier und auch die indischen Bauern. Das ist ganz normal in unserem
liberalen Wirtschaftssystem. Die Konzerne verschenken ihre Produkte natürlich nicht, genauso
wenig wie Ihr Diktiergerätehersteller oder Ihr Softwarekonzern. Apple hat ja auch eine enorme
Machtstellung.
Bezeichnend ist doch, dass alle Gentechpflanzen, die grossflächig angebaut
werden, aus der Küche von Agrokonzernen stammen. Ihr Goldener Reis ist das
einzige bekannte nicht kommerzielle Projekt.
Das stimmt, es gibt kaum vergleichbare Projekte im Bereich der Pflanzen. Und das werfe ich
meinen Kollegen an den Hochschulen auch vor. Viele schielen nach finanziellen Erfolgen und
arbeiten an Projekten, die einen Nutzen für die Industrie haben. Das gefällt mir nicht. Meiner
Meinung nach sollte sich die öffentliche Forschung um Dinge kümmern, welche die Industrie
nicht macht. Aber das ist nicht die Hauptursache. Wegen der Regulation sind die Kosten für die
öffentliche Hand unerschwinglich.
Laut Weltagrarbericht von 2012 . . .
. . . dieser Bericht ist interessant zu lesen, aber das heisst nicht, dass Sie das glauben müssen. Er
ist alles andere als objektiv und wird auch nur selektiv anerkannt.
Dieser Agrarbericht unterstreicht, dass nur eine Kleinbauern-Landwirtschaft die
Welternährung sichern kann.
Ich unterstützte das ja, der Goldene Reis ist genau für die kleinen Bauern gedacht. Es ist ein
humanitäres Projekt, das den Goldenen Reis eben nicht kommerzialisiert, sondern den
Kleinbauern zukommen lässt. Syngenta hat uns zwar bei der Entwicklung unterstützt, aber sie
haben keinen Rappen daran verdient, sondern nur investiert, wie übrigens alle anderen
Beteiligten auch. Ich habe auch nichts gegen den Biolandbau. Es ist jedoch völlig falsch, zu
behaupten, wir könnten die Welt ohne industrielle Landwirtschaft ernähren. Es stimmt nicht,
dass Biolandbau die umweltschonendste Form der Landwirtschaft ist.
Das müssen Sie erklären.
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Der Biolandbau kommt ja nicht ohne Schädlingsbekämpfung aus, denn auch die Biobauern
wollen etwas ernten. Sie verwenden Spritzmittel wie Kupfer, die alles andere als
umweltfreundlich sind. Im Gegenteil, das ist ökologisch sehr bedenklich.
Was ist die Alternative?
Die beste Form der Landwirtschaft ist die der integrierten Produktion, an deren Entwicklung
die ETH entscheidend mitgewirkt hat. Diese Form setzt alle wirksamen Mittel ohne Ansehen
der Technologie ein - dies aber nicht von vornherein, sondern erst, wenn es nötig wird. Man
arbeitet mit Schadenschwellen, das heisst, man misst aktuelle Schäden, die zum Beispiel ein
Insekt anrichtet, und greift erst ein, wenn eine bestimmte Schwelle überschritten wird. Die
Gegenmittel sind dann möglichst umweltschonend. Die integrierte Produktion nutzt die
Erkenntnisse der Wissenschaft, indem sie einen Mix von allen möglichen Dingen einsetzt, die
wirksam, umweltschonend, aber auch produktionssichernd sind. Der Biolandbau dagegen ist
eine Ideologie, und Ideologien sind selten eine gute Idee für die Praxis.
Der Biolandbau nutzt auch immer mehr Züchtungsmethoden aus dem Labor.
Das ist Augenwischerei. Abgesehen davon, dass transgene Pflanzen tabu sind, ist der grösste
Mangel des Biolandbaus eine mystische Vorstellung der Natur. Der Biolandbau verteufelt alles,
was nicht natürlich ist. Aber wissen Sie, warum wir zwei jetzt hier sitzen? Weil Justus Liebig
den Kunstdünger erfunden hat. Ohne Kunstdünger würden heutzutage keine 7,5 Milliarden
Menschen auf der Erde leben, sondern vielleicht 2 Milliarden.
Die industrielle Landwirtschaft mit ihren Supersorten zehrt den Boden aus.
Nein, das stimmt nicht. Die industrielle Landwirtschaft ergänzt die Mineralien, die das Erntegut
dem Boden entzogen hat, mit mineralischem Dünger. Für die Pflanzen ist das mindestens so gut
wie organischer Dünger. Wissen Sie, ich habe auch Bodenkunde studiert und weiss, dass der
Boden nicht nur Mineraldünger, sondern auch organische Stoffe braucht, und genau das liefert
auch die integrierte Landwirtschaft. Dafür hat diese auch das Marienkäfer-Label erhalten.
Wenn Sie sich also umweltschonend ernähren wollen, kaufen Sie besser «Marienkäfer» als
«Knospe».
Laut Studien des Forschungsinstituts für biologischen Landbau ist der Biolandbau
bezüglich Ertrag der konventionellen Landwirtschaft ebenbürtig.
Das wird gern so dargestellt, stimmt aber nur unter speziellen Bedingungen. Stellen Sie sich
doch einmal den Boden vor, von dem Sie ernten. Nun stellen Sie sich die Frage, wie all diese
Biomasse, die Sie verkaufen, wieder in den Boden kommt. Sammeln Sie die Fäkalien? Nein. Wo
gehen denn die menschlichen Abfälle der 400 000 Zürcher hin? Sie gehen in die Kläranlage und
werden verbrannt, weil der Klärschlamm nicht verwendet werden darf. Das muss wieder ersetzt
werden. Der geschlossene Stoffkreislauf ist in einer modernen Gesellschaft eine Illusion, auch
im Biolandbau.
Ist denn die Idee der Biolandwirtschaft, die Natur als Leitplanke zu nehmen,
falsch?
Ist die Natur gut?
Sie hat keinen moralischen Wert.
Im Gegenteil: In der Natur wirkt das Gesetz der Evolution. Die Natur ist alles andere als gut. Es
geht um den Kampf ums Überleben. Die natürlichen Lebensmittel waren nicht nur
unproduktiv, sondern auch voller Gift, weil sich die Pflanzen gegen Fressfeinde wehren mussten
und dafür Abwehrstoffe produzierten. Der Mensch hat in mühsamer Kleinarbeit all diese Gifte
mithilfe der Pflanzenzüchtung aus diesen natürlichen Lebensmitteln rausgezüchtet. Dieses
schwärmerische «Verständnis» der Biologie, wie es in der Grünenbewegung verbreitet ist, ist
eine Träumerei.
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Vormarsch durch die schwarze Wand
Der IS hinterlässt Zerstörung – schwadenweise Gefechtsrauch, brennende Ölquellen und der Qualm einer
Chemiefabrik erschweren die Aufgabe der irakischen Soldaten. Foto: Reuters
«Yalla!», rufen die Soldaten, los gehts: Der Konvoi der irakischen Truppen
rollt Richtung
Mosul. Die Stimmung an der Front schwankt zwischen Siegestaumel und Weltuntergang. Die
IS-Jihadisten wehren sich mit allen Mitteln.
Eine Reportage von Paul-Anton Krüger, Qayyara, TA vom MI 2. November 2016
Es ist noch kühl, aber die Sonne über der Halbwüste wärmt schon jetzt, kurz nach sechs. Der
Soldat Ali Hussein Kazam hat schlecht geschlafen, die ganze Nacht über ratterten
Hubschrauber am Himmel, wurden Artilleriegranaten in Richtung Front abgefeuert, 30
Kilometer entfernt. Erst ein Schuss, dann meist eine Salve. Und jedes Mal zitterte das Feldbett
des Soldaten. Der 24-jährige Kazam sitzt im Kampfanzug samt Sturmgewehr auf der
Motorhaube seines sandfarbenen Humvee-Jeeps. Er trinkt süssen Tee aus einem Plastikbecher
und hat noch ganz andere Sorgen. Am Horizont türmt sich eine grauschwarze Wolkenwand, sie
sieht aus wie eine gigantische Gewitterfront, aber das wäre ja kein Problem.
Die schwarze Wand sind die brennenden Ölquellen von Qayyara. Die Kämpfer des sogenannten
Islamischen Staats haben sie angezündet, bevor sie sich in Richtung Mosul zurückgezogen
haben. Dort muss Kazam mit der 15. Infanteriedivision an diesem Morgen hin. Er zieht seine
Mütze auf und seine Skibrille, dann steigt er in den Geschützturm des Humvee. Auch all die
anderen gepanzerten Fahrzeuge nehmen jetzt im Militärstützpunkt Qayyara Aufstellung auf
dem grauen Schotter, dazwischen Pick-ups, Maschinenkanonen auf der Ladefläche
aufgepflanzt. Es ist halb sieben. Was ihn heute erwarte, sagt Kazam, wisse er nicht genau. Nur,
dass sie ein paar Dörfer freikämpfen sollen. Andere Einheiten sind dort tags zuvor von
Scharfschützen und Selbstmordattentätern des IS attackiert worden. Er vertraue auf seine
Kommandeure, sagt der Soldat - und natürlich auf Allah. Kurz danach erfolgt der Befehl zum
Loslegen, schon rast der Militärkonvoi mit 120 Stundenkilometern und wehenden irakischen
Flaggen der Front entgegen.
61
Die grösste Schlacht
Seit gut zwei Wochen läuft die Offensive zur Befreiung von Mosul, der letzten irakischen
Hochburg des IS. Es ist die grösste Schlacht, die im Land geschlagen wird, seit die Amerikaner
2003 einmarschiert sind. 22 000 Soldaten bietet die Regierung in Bagdad auf, um dem Kalifat
und der Schreckensherrschaft des IS ein Ende zu bereiten. Offiziell heisst es, die Offensive, die
von US-Spezialkräften, kurdischen Peshmerga und verschiedenen Milizen unterstützt wird,
laufe nach Plan, doch hier im Süden von Mosul treffen die Truppen auf erbitterten Widerstand.
In manchen Orten hat der IS bis heute Unterstützer. Und die Jihadisten kämpfen mit allen
Mitteln. Sie hinterlassen überall Sprengfallen, in Schränken, Teddybären, Uhren, Türen,
Fensterläden, verminen Häuser, sprengen Strassen. Der Vormarsch der Armee durch die Dörfer
lässt ahnen, was bevorsteht, wenn die Soldaten in Mosul ankommen. Nach gut einer halben
Stunde erreicht die 15. Infanteriedivision die brennenden Ölquellen. Süsslich stinkender Rauch
verdunkelt und vernebelt die Sicht, Augen und Kehlen brennen, es wird kühler und nach kurzer
Zeit beginnen Kopfschmerzen. Die Sonne sieht aus wie der aufgehende Vollmond.
Der Preis der Befreiung ist verbrannte Erde. Noch immer lodern Flammen um die
Pumpanlagen und Tanks, 30, 40 Meter hoch schlagen sie in den Himmel. Wo der IS ein Stück
seines Kalifats aufgibt, hinterlässt er nichts als Zerstörung. Die schwarzen Schwaden sind giftig,
aber an der Strasse spielen überall Kinder. Sie winken, spreizen ihre Finger zum VictoryZeichen, und die Soldaten winken zurück. Surreale Szenen, unentschieden zwischen
Siegestaumel und Weltuntergang. Die Bewohner kehren in ihre Heimatorte zurück, auch wenn
diese noch so vergiftet und vermint sind, wo sollten sie auch sonst hin. Die ersten Läden in
Qayyara haben wieder geöffnet, sie verkaufen trotz ölverpesteter Luft Tomaten, Gurken,
Zwiebeln und Auberginen, Fleischspiesse drehen sich im Gestank. Auf dem Mittelstreifen der
vierspurigen Hauptstrasse suchen Kühe und Schafe nach Futter, sie sind grau wie Esel, der ölige
Russ klebt im Fell. Ihre Besitzer, allesamt Flüchtlinge, stehen vor einem Lastwagen und warten
auf Lebensmittel.
Der Soldat Kazam, akkurater schwarzer Schnurrbart, drahtig und durchtrainiert, erzählt, dass
er zur Armee ging, als die Terrormiliz IS sein Land überrollte. «Ich habe mich im Sommer 2014
gemeldet.» Die Bewohner von Qayyara laufen auf die irakischen Soldaten zu, jubeln, feiern sie
als Befreier. Zwei Jahre hatten sich die Menschen kaum aus dem Haus getraut, erzählen sie.
Männer reichen den Soldaten Zigaretten. Rauchen war beim IS verboten, wen sie erwischt
haben, wurde ausgepeitscht. Heute raucht hier offenbar jeder, schon aus Prinzip.
Die Dieselmotoren der Humvee brüllen auf, weiter nach Mishraq, noch einmal 20 Kilometer.
Hier wird es noch übler. Der Rauch wechselt die Farbe. Erst grau, dann weiss. Der IS hat auch
die Schwefelfabrik nahe dem Ort in Brand gesteckt, zu erkennen sind davon nur Bahngleise und
weisse Schüttgutwagen. Das Werk schmurgelt noch immer vor sich hin. Dabei entweicht
farbloses Schwefeldioxid. Das Gas verätzt die Atemwege. Der undurchdringliche weisse Qualm
ist Schwefeltrioxid. Würde es jetzt regnen, käme Schwefelsäure vom Himmel.
«Wir sind alle Iraker»
Der Konvoi stoppt. Ein schwarzer Landrover mit abgeklebten Scheiben rauscht heran und hält
vor einem zweistöckigen Haus aus grauen Betonziegeln, kaum einen Kilometer von der
brennenden Chemiefabrik entfernt. Najim al-Jabouri steigt aus dem Fond, die Uniform
knitterfrei. Der Generalmajor befehligt die Offensive im Süden von Mosul. Ein paar Dörfer,
noch einmal 20 Kilometer nördlich, sollen die Soldaten an diesem Tag einnehmen. Von dort
sind es dann nur noch 30 Kilometer bis zum Flughafen der Millionenstadt. Er soll die Basis für
den Sturm auf Mosul werden, wo sich IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi im Juni 2014 zum Kalifen
62
ausgerufen hat. Generalmajor al-Jabouri trifft Offiziere zur Lagebesprechung. Als gäbe es
keinen besseren Ort dafür. Immerhin hält der Wind die weisse Giftwolke auf Abstand.
Ali Hussein Kazam ist wieder auf die Motorhaube gestiegen. Manche Soldaten haben schwarze
Gasmasken um den Hals baumeln, keiner setzt sie auf. Die Amerikaner sind zeitweise im 40
Kilometer entfernten Stützpunkt Qayyara mit Atemschutz herumgelaufen, als der Wind
ungünstig stand. Kazam steckt sich lieber eine Zigarette an. Er kommt aus al-Hilla, 100
Kilometer südlich von Bagdad. Und 400 Kilometer südlich von Mishraq. «Wir kämpfen hier für
unser Land», sagt er. «Wir sind alle Iraker.» In Mosul, der einst so vielfältigen Stadt mit all
ihren religiösen und ethnischen Minderheiten, entscheidet sich das Schicksal der Nation. Die
Soldaten können Helden werden. Aber Patriotismus und Abenteuertum liegen nah beieinander
in einem Land, das jungen Männern nichts zu bieten hat. Und der Sold ist nicht schlecht.
«Unser Premierminister hat gesagt, dass der Irak 2017 von Daesch befreit sein wird», antwortet
Kazam auf die Frage, wie lange der Krieg noch dauern werde. Er benutzt die arabische
Abkürzung für den IS. Und was meint er? «Wir wissen es nicht, wir sind doch nur einfache
Soldaten.» Zuerst müssten sie Mosul umstellen, erklärt er. Erste Einheiten der irakischen
Armee haben zwar an diesem Dienstag schon Mosul erreicht, aber die Eroberung wird erst
beginnen können, wenn die restlichen Einheiten nachgezogen sind.
Wie verheerend die Schlacht werden könnte, zeigt sich schon daran, dass der IS gerade
versucht, Zehntausende Zivilisten als menschliche Schutzschilde in die Stadt zu bringen. In
Mosul leben noch bis zu 1,5 Millionen Menschen, sie sind fast alle Geiseln von ein paar Tausend
IS-Kämpfern, die sich in einem Tunnelsystem verbergen können. Es gibt nicht viele gesicherte
Informationen aus der Stadt, aber es gibt Radio Ghad, was so viel wie Zukunft heisst. Die
Station sendet aus den kurdischen Autonomiegebieten auf vier Frequenzen nach Mosul hinein.
Und Menschen von dort rufen an, obwohl der IS inzwischen jeden umbringt, der mit einer SIMKarte für ein Handy erwischt wird.
Ein Hörer berichtet, die Eingänge der Tunnelsysteme seien in Krankenhäusern gelegen. Das
solle sie gegen Luftangriffe schützen. Ein anderer sagt, der IS habe ein ganzes Industriegebiet zu
einer Bombenfabrik umfunktioniert. Die Brücken über den Tigris seien alle mit Sprengsätzen
präpariert, die Jihadisten würden Regierungsgebäude sprengen. Ausserdem würden öffentlich
Menschen hingerichtet werden, die versucht hätten zu fliehen. Die Bewohner sehen, wie ISKämpfer von ausserhalb wieder in die Stadt kommen - und Dutzende Familien mit ihnen. Die
meisten sind nicht freiwillig mitgegangen. Wenn der IS nicht kämpfen wollte, warum sollte er
dann Menschen verschleppen, um sie als Schutzschilde zu missbrauchen? Die engen Strassen
am Westufer des Tigris sind das perfekte Terrain, um die Armee in einen zähen Häuserkampf
zu verwickeln.
Die Flucht ist geglückt
In Mishraq kommen jetzt Pritschenwagen an, voll beladen mit Menschen, denen die Flucht vor
der Terrormiliz geglückt ist, die meisten Frauen in zerschlissenen schwarzen Gewändern. Sie
halten Kinder in den Armen. An Holzlatten haben sie weisse Tücher geknotet, damit die
Soldaten nicht schiessen. Aber längst nicht alle kommen davon. Vor allem die Männer
verschleppt der IS weiter Richtung Mosul, oft aber auch ganze Familien. Auch sie müssen
fürchten, als menschliche Schutzschilde in Mosul missbraucht zu werden. Wer sich weigert
mitzugehen, wird getötet.
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«Vor vier Tagen haben sie meinen Bruder erschossen», erzählt ein Mann vor dem
provisorischen Hauptquartier. Er stellt sich als Mahmud Ali Khalaf vor, 41 Jahre ist er alt. Er
fürchtet sich nicht, seinen Namen zu nennen. «Sie werden nicht zurückkommen.» Aber die ISKämpfer hätten das halbe Dorf mitgenommen. Vier Pick-ups voll Menschen. Wie er hatte auch
sein Bruder versucht, sich in Richtung der irakischen Truppen zu retten. Sie schnappten und
töteten ihn. Einen anderen Bruder hatten die Jihadisten schon 2014 ermordet, als sie in das
Dorf eingefallen waren. Im Hof watscheln Hausgänse im graubraunen Staub umher,
dazwischen elf Kinder. Acht sind seine eigenen, drei sind von seinem Bruder. Die Jungen und
Mädchen schauen verstört, kein Lachen, nicht einmal ein Lächeln, nur apathisches Stieren.
«Yalla!», rufen die Soldaten, los gehts. Noch einmal zehn Kilometer Richtung Mosul, dann biegt
der Konvoi rechts auf eine Schotterpiste in den Weiler Nana ab. Geschützt in einer Mulde sind
acht Rohre aufgestellt. Aus ihnen lassen sich Mörsergranaten abfeuern, sie liegen in Holzkisten
bereit. Hinter einem Hügel liegt das Dorf Saf al-Tuth. Von dort hatte ein IS-Scharfschütze am
Tag zuvor auf sie gefeuert, erzählen die hier stationierten Polizisten, die zusammen mit den
Soldaten an der Offensive teilnehmen. Ein Lieferwagen mit Tarnanstrich fährt vor, am Heck
eine Antenne, im Innenraum drei Flachbildschirme. Aus dem Laderaum holt ein Soldat eine
kleine Drohne mit Kamera, wie man sie in Europa für ein paar Hundert Euro im Internet
bestellen kann. Surrend fliegt sie dem vermuteten IS-Versteck entgegen.
Der General und seine Drohne
Generalmajor Jabouri sieht auf den Bildschirmen im Lieferwagen die Bilder der Drohne, ein
Polizist zeigt ihm das Gehöft, von dem die Schüsse gekommen seien. Ein Motorrad fährt
langsam durch die Strassen, so fliehen meist IS-Kämpfer, sonst ist niemand zu sehen. Zeit also
für eine Lagebesprechung und für die Verpflegung. Die übernehmen hier schiitische
Milizionäre. Mit einem Pritschenwagen und einem Mercedes haben sie Essen gebracht. Aus
einem Blechbottich schöpfen sie Fleisch, es gibt Fladenbrot, Frühlingszwiebeln und
stangenweise Zigaretten für die Soldaten und Polizisten. Auf den Türen des Mercedes ist ein
Bild von Grossayatollah Ali al-Sistani zu sehen, dem wichtigsten schiitischen Kleriker im Irak.
Er hatte seine Anhänger 2014 zu den Waffen gerufen gegen den IS. Was als Selbstverteidigung
begann, schlug mancherorts in brutale Racheaktionen an Sunniten um. Jetzt beteiligen sich
Dutzende schiitische Milizen an der Offensive.
Die Lagebesprechung ist vorüber, die Polizisten machen die Granatwerfer klar. Der Soldat
Kazam steht wieder auf dem Humvee. «Allahu akbar!», schreien zwei Polizisten, als sie den
ersten Mörser in den Werfer sausen lassen. Dann sind dumpf Einschläge zu hören. Langsam
rollt der Konvoi die Anhöhe hinauf, hinter der das Dorf Saf al-Tuth verborgen liegt, eine
gelbgraue Wüste ohne Büsche und Bäume. Die Humvee fahren nebeneinander. Der
Generalmajor lässt die Pick-ups vorfahren. «Feuer», befiehlt er. Die Soldaten schiessen auf zwei
Ziegelhäuser. Metallisch klimpern die Patronenhülsen. Ein Soldat kickt sie von der Ladefläche.
Seitlich des Weilers erscheint eine zweite Kolonne der irakischen Armee, Staubfahnen sind zu
sehen, das Rasseln von Panzerketten ist zu hören. Die Soldaten wollen das Dorf umschliessen,
so wie es die Armeeführung auch mit Mosul plant. Nur: Dieses Dorf ist - bis auf einen
vermuteten IS-Scharfschützen - menschenleer und hat kaum mehr als 50 Häuser. Wie aber soll
man dann eine Millionenstadt mit Hunderten Scharfschützen und Zehntausenden Sprengfallen
erobern? Der Soldat Kazam zuckt mit den Schultern, er weiss es nicht. Und wie stellt sich
Generalmajor Jabouri die Eroberung von Mosul vor? Er sitzt schon im Landrover, beugt sich
kurz aus der Tür und zieht die Augenbrauen hoch: «Das werden Sie schon sehen!»
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