- Aufbruch
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Bernd Rojahn Schuldenkrise überwinden: Grenzen akzeptieren und neue Chancen entwickeln Soziale Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts 1 2 für alle Menschen, die bereit sind umzudenken Bernd Rojahn (Auto und Herausgeber) 3 Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdruckes sowie der fotomechanischen Widergabe, bleiben vorbehalten. Das Downloaden aus dem Internet ist für private Zwecke ausdrücklich erwünscht. Eine Haftung für die Richtigkeit der Angaben und Ausführungen kann trotz sorgfältiger Recherchen nicht übernommen werden. Ohne die indirekte Mitwirkung vieler engagierter Bürger wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Dafür herzlichen Dank! Ersteinstellung ins Internet im Dezember 2013 www.aufbruch-zukunftsbausteine.de 4 Vorwort Wir brauchen mehr als ein „Alles wird gut“-Versprechen! Staatsverschuldung? Schuldenbremse? Krise? Es ist als, als wäre nie etwas gewesen – die Krisenrhetorik hat Pause. 100 Tage vor der Bundestagswahl haben die Parteien ‚geliefert‘: ihre Wahlprogramme. Zuletzt die beiden Unionsparteien. In einem gemeinsamen Programm haben sie ihren Kurs für den 22. September 2013 festgelegt. Richtiger gesagt ihr ‚Regierungsprogramm‘ für die nächste Legislaturperiode 2013 bis 2017. CDU/CSU versuchen darin einen Spagat zwischen milliardenschweren Wahlversprechen und Haushaltskonsolidierung. Die Union will die Wähler mit Verbesserung für Familien und Programmen gegen Altersarmut, für Bildung und Forschung sowie Mehrausgaben beim Straßenbau überzeugen. Ähnlich wie die SPD plant sie eine Mietpreisbremse und einiges mehr an ‚Wohltaten‘. Ent-scheidend anders als SPD und Grüne soll es mit der Union keine Steuererhöhungen geben. Bundesfinanzminister Schäuble hält trotz der teuren Wahlversprechen und Milliardenkosten zur Beseitigung der Flutschäden an seinem Plan fest, von 2015 an Schulden zu tilgen. Bundeskanzlerin Merkel ver-sichert: Bürger und Unternehmen werden bei einer Wiederwahl der Union nicht belastet. Statt auf Steuererhöhungen setze die Union auf zusätzliche Steuereinnahmen. Also: Alles wird gut! Und die Wähler? Was halten sie von dem neuen Überbietungskampf? Sie scheinen einen gemeinsamen Nenner ge-funden zu haben: Die Kanzlerin hat die Deutschen durch die Unbillen der Vergangenheit gesteuert und sie wird es auch zukünftig tun! 5 Wie immer im Wahlkampf gibt es zumindest eine große Gemein-samkeit zwischen allen Parteien: Die Wähler werden mit Versprechen gelockt. Statt Lösungsansätze zu entwickeln, werden Beruhigungs-pillen verteilt. Meine Prognose: Damit ist Schluss, sobald der neue Bundestag zusammen getreten ist. Es spielt gar keine Rolle, ob ‚schwarz‘ oder ‚rot‘ oder eine andere politische Farbe das Sagen hat – Steuererhöhungen kommen auf jeden Fall. Angela Merkel und Wolfgang Schäuble werden alles tun, um den Euro in seiner bisherigen Form zu retten. Sitzt die SPD dann mit im Boot, kann die Union den Steuerzahler sogar noch leichter für dumm verkaufen. „Wir kamen leider nicht umhin, Zugeständnisse zu machen“, wird die Botschaft lauten. Und: Laut EZB-Direktoriumsmitglied Asmussen wird die Euro-Krise noch mindestens zehn Jahre nachwirken. Eine Vermögensabgabe als letzte Rettung ist folglich unter keiner Regierungskonstellation ganz auszuschließen. Bei (m)einer Momentbetrachtung – 2012/2013 - stehen die Deutschen im Vergleich zu vielen westlichen Industriestaaten ganz passabel dar. Die Bundesländer fühlen sich Mitte 2013 gar im ‚Steuerparadies‘. Ist das aber bereits angesichts der immensen Schuldenberge eine Garantie für die Zukunft? Was kennzeichnet die Zeit, in der wir leben? Jedermann spricht heute von einer Krise. Von welcher Krise? Die Grenzen der ungehemmten Ausbeutung der Ressourcen der Natur und die globale Ausweitung der Finanzmärkte hat die Makroökonomie westlicher Industrienationen unberechenbar gemacht; der wirtschaftliche Auf- und Abschwung hat die Lebensläufe der Menschen zerrissen; wohlfahrtsstaatliche Hand-lungsspielräume schwinden in Zeiten wachsender nationaler Schulden-lasten; es droht die Entdemokratisierung des europäischen Staaten-systems. Befinden wir uns in einer Zeit der Ungewissheiten? Zukunft braucht Vergangenheit. 6 Der westliche Industrie-Kapitalismus der letzten 200 Jahre ist eine Geschichte der Höhen und Tiefen – unter dem Strich aber eine Erfolgs-geschichte gewesen. Das Welteinkommen ist im 20. Jahrhundert um 3.000 Prozent gestiegen. Der Ausstoß an Gütern hat sich vervielfacht, die durchschnittliche Lebenserwartung verdoppelt. Die Gründe für dieses Erfolgsmodell liegen in dem Zusammenwirken von Natur-wissenschaft, Technik, kapitalistischer Wirtschaftsorganisation und ordnungsrechtlicher Absicherung. Dieses Modell zeichnet sich durch eine gewaltige Produktivität aus. Die Schattenseiten dieser Produktivität liegen allerdings in einem einmaligen Raubbau an Natur-ressourcen, die zu einer Destabilisierung der Ökosysteme und auch wirtschaftlichen Krisen führten. Gründe für die wirtschaftlichen Krisen werden vor allem in der Instabilität des Finanzsystems gesehen, das zu Spekulationen einlädt, in der Aufblähung des virtuellen Geldvolumens sowie in der zunehmenden Konzentration des Vermögens bei gleich-zeitiger Anhäufung der Schulden bei den Kreditnehmern. Wir leben in einer Phase der Geschichte, die es so noch nicht gab. Zum einen haben wir es mit einer Rekordverschuldung der Staaten zu tun, zum anderen mit der Situation, dass erstmals in der Geschichte die demographische Lage in den großen Industrieländern kippt. Wenn die Bevölkerung nicht wächst, kann die Wirtschaft schwerlich wachsen. Wächst die Wirtschaft nicht, so können sich die Staaten kaum von ihren Schulden befreien. Als Resultat drohen uns die Schulden und die immer neu hinzukommenden Zinsen und Zinseszinsen über den Kopf zu wachsen. Viele große Volkswirtschaften steuern wie einst die Titanic auf einen Eisberg zu – und selbst wenn einige inzwischen die Bedrohung erkennen, macht es die Dynamik der Bewegung fast unmöglich, das Ruder herumzureißen. Die Finanz-/Schuldenkrise und die lodernde Eurokrise beschleunigen eine Entwicklung, die ansonsten langsamer vor sich gegangen wäre. Die Zeit, um sinnvolle Maßnahmen zur Abwendung der Krise zu treffen, ist nahezu abgelaufen. 7 Während im Frühsommer des Jahres 2013 Menschen in etlichen Ländern rund um den Globus aufbegehren, wird der heraufziehende Wahlkampf in Deutschland wohl ‚verschlafen‘. Die Mehrheit der Deutschen wünschen sich Sicherheit – also: es möge so weitergehen. So gelassen wie derzeit ging es bei uns selten vor einer Wahl zu. Die Union hat ihre Weltpolitikerin, die FDP wieder ein Fünkchen Hoffnung, und die Grünen loben sich selbst jeden Tag für ihren Mut, mit der Ankündigung von Steuererhöhungen in die heiße Phase des Wahlkampfes ziehen zu wollen. Nur die Sozialdemokraten quälen sich über Gebühr mit ihrem Kanzlerkandidaten. Wenn die Schwarz-Gelben noch einmal vier Jahre mit ihrem Wahl-programm nach dem Mainzer Fassnachts-Motto „Allen wohl und niemand weh“ regieren dürfen, dann kommt doch eines Tages der politische Aschermittwoch. Viele Bürger werden die sogenannten Versprechen als das ansehen, was sie tatsächlich sind, nämlich Wahlkampfgetöse. Die europäische Schuldenkrise befindet sich inzwischen im vierten Jahr, und sie hält noch immer große Herausforderungen bereit. Das gilt für Regierungen und für Parlamente, das gilt für Zentralbanken und für den Bankensektor. Und damit stellt die Krise ohne jede Frage eine Herausforderung für die Unternehmen der Realwirtschaft, seine Arbeitnehmer, für alle Bürger dar. Meine Grundthese lautet: Ausgehend von der derzeitigen Finanz-/Schulden- und Eurokrise können wir feststellen, dass das Wirtschafts- und Sozialsystem der letzten 40 Jahre ein Auslaufmodell ist. Es basiert auf der Grundannahme des ständigen Wachstums. Sowohl die finanziellen Belastungen der Eurosolidarität und die steigenden Zins-belastungen als auch die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen setzen dem Wachstum des Wohlstandes derzeitiger Ausformung Grenzen. Wie aber können wir aus der Begrenztheit des alten Modells heraus-treten und in ein neues Modell mit größeren Freiheitsgraden eintreten – in Deutschland, in Europa, und darüber hinaus? Die 8 Ausgestaltung des neuen Modells wird sich dabei an den drei Grundkriterien „Leistungsbereitschaft, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ orientieren müssen. Holzminden, Spätsommer 2013 9 Inhaltsverzeichnis 10 Vorwort: Wir brauchen mehr als ein „Alles wird gut“ – Versprechen 5 Inhaltsverzeichnis: 11 Buch A I. Grenzen des Erfolgsmodells – Betrachtungen im Herbst 2012 I.1. Deutschlands Kasse klingelt – wie lange noch? 26 I.2. Euro-Finanzchefs geht Geduld mit den Griechen aus 27 I.3. Der Kampf um den Haushalt der EU beginnt 32 I.4. Merkel und Lagarde zeigen sich besorgt 34 I.5 Der Bundestagswahlkampf wirft seine Schatten voraus 35 I.6 Europäischer Streik- und Aktionstag am 14.11.12 36 I.7 Die EU-Partner dachten, sie seien ihn los 37 I.8 Schäuble spart für Griechenland 37 I.9 Ist das Schlimmste vorbei oder kommt es noch? 38 I.10 Fazit – Kapitel I 40 II. Grenzen der natürlichen Ressourcen 42 II.1 Grenzen der ökologische Ressourcen 43 II.1.1 Funktionstüchtigkeit von Ökosystemen 44 II.1.2 Der Klimawandel 45 II.1.3 Globaler Klima-Risiko-Index veröffentlicht 47 11 II.1.4 Kohlestrom hat keine Zukunft – Klimaschutz jetzt! 48 II.1.5 Energieausblick 2030 50 II.1.6 Agrar-Ausblick 52 II.1.7 Fazit: Wenn die Erde eine Bank wäre 54 II.2 Der demographische Wandel in Deutschland 54 II.2.1 Wir leben länger 58 II.2.2 Wir werden weniger 58 II.2.3 Wir werden immer vielfältiger 60 II.2.4 Demographie und Erwerbsarbeit 62 III.3 Fazit – Kapitel II 63 III. Wandel der Arbeit 63 III.1 So viel Arbeitslose wie noch nie 64 III.1.1 Dynamik der Arbeitslosigkeit 65 III.1.2 Ältere Arbeitslose am Scheideweg zwischen Erwerbsleben und Ruhestand 66 III.2 Zehn Jahre Hartz IV 67 III.2.1 Die Wirkungen der Agenda 2010 72 III.2.2 Lohndummping mit Werksverträgen müssen ein Ende haben 74 III.2.3 Junge Beschäftigte fürchten Jobverlust 75 III.3 Verdichtung der Arbeit 76 12 III.4 Arbeit in Deutschland teurer 77 III.5 Trotz Arbeit arm im Alter 78 III.6 Fehlen den Unternehmen hochqualifizierte Mitarbeiter? 79 III.7 Kalte Progression als Leistungshemmer? 79 III.8 Generation ‚Vollbeschäftigung‘? 80 III.9 Vollbeschäftigung? – Unglaublich aber wahr 84 III.10 Fazit – Kapitel III 89 IV. Versinken die Staaten Europas, die USA und Japan in ihren Schulden (Stand 2012) 90 IV.1 Schuldenentwicklung in Deutschland in drei Wellen 92 IV.1.1 gesamt 94 IV.1.2 Bund 95 IV.1.3 Bundesländer 96 IV.1.4 Viele Kommunen stehen vor dem Bankrott 98 IV.2 Schuldenentwicklung in den USA – Obama erhält eine zweite Chance 100 IV.2.1 Schuldenentwicklung in Japan 105 IV.3 So frisst sich die Schuldenentwicklung durch Europa 108 IV.3.1 Griechenland 109 IV.3.2 Spanische Schuldenquote nimmt Kurs auf … 111 IV.3.3 Schuldenexplosion in Italien 114 13 IV.3.4 Auch Frankreich rückt in den Focus 115 IV.3.5 Großbritannien am Ende? (Inflate or Die) 117 IV.3.6 Deutschland – ein Land der Seligen? 119 IV.3.7 Bundeshaushalt 120 IV.4 Anteil der Finanzkrise an der Schuldensituation 122 IV.5. Schulden der Banken 124 IV.5.1 Bankbilanzen bieten noch viel Sprengstoff 125 IV.6 Schulden der Bürger 128 IV.7 Zeugnistag für die Pleitekandidaten 131 IV.8 Fazit – Kapitel IV: Wird alles noch viel schlimmer? 143 V. Ursachen der Schulden 144 V.1 Wirtschafts- und Sozialsystem auf der Grundlage von Wachstum 145 V.1.1 Staatsquote gibt einen Hinweis 145 V.1.2 Geldmengenwachstum außer Kontrolle? 146 V.1.3 Deutschlands Sozialsystem vor dem Kollaps 147 V.2 Ursachen der Finanzkrise 2007/8 150 V.3 Ursachen der Eurokrise 155 V.3.1 Maastrich-Vertrag (Gründungsfehler) 156 V.4 Verschiedene Ursachen in den Ländern 160 14 V.5 Die Ungleichgewichte in der EU und Deutschland 161 V.5.1 Können die anderen Euro-Länder sich dem deutschen Wettbewerbsniveau nähern? 167 V.5.2 Die deutschen Erfolgsfaktoren 168 V.5.3 Deutsches Exportwunder – Fluch oder Segen? 169 V.5.4 Ungleichgewichte – Steuern 172 V.6. Den Schulden stehen Vermögen gegenüber – das Geld ist nicht weg, es hat nur ein anderer 173 V.6.1 Wie verteilt sich das globale Geldvermögen? 174 V.6.2 Streit um Vermögen in der Eurozone 177 V.6.3 Dax-Konzerne schütten so viel aus wie noch nie 179 V.6.4 So viel Steuern haben Sie 2012 bezahlt 179 V.6.5 Was hat die Einkommensverteilung mit der Finanzkrise zu tun 182 V.6.6 Banken als Risikofaktor 186 V.6.7 Steuerparadiese mitten in Europa und der Welt 193 V.6.8 Verschwendung von Steuergeldern 197 V.6.9 Die Schlinge zieht sich immer mehr zu – Beispiel Schulen…202 V.7 Das Spiel der Notenbanken 205 V.7.1 Fördern die QE-Programme das Wachstum? 210 V.8 Der Fall Japan: Inflation oder Deflation? 212 V.8.1 Segen und Fluch des Geldes 216 15 V.8.2 Inflation ist nicht die Lösung aller Schuldenprobleme 217 V.9 Steht die Welt vor einem Währungskrieg? 221 V.10 Fazit – Kapitel V 222 VI Ausblick der Schuldensituation Deutschlands und Europas 223 VI.0.1 Wunsch und Wirklichkeit 226 VI.0.2 Wollten Sie Grieche sein? 227 VI.0.3 Sündenfall Zypern 230 VI.0.4 Ist die Zeit reif für Umverteilung? 231 VI.1 Forderungen an Deutschland Schuldenstaaten 232 VI.1.1 Bricht Europa zusammen? 233 VI.1.2 Griechenland wieder einmal „gerettet“ 234 VI.1.3 Ein Spiel mit vielen Unbekannten - Der äußere Druck auf Deutschland 235 VI.1.4 Der Druck der Amerikaner 238 VI.1.5 Die Euro-Kritiker – der innere Druck auf Euro-Befürworter: Die 10 größten Euro-Lügen 238 VI.1.6 Der Steuerzahler, der tragische Held 248 VI.1.7 In der Zinsfalle – Die Sparer verlieren 250 VI.2 Die Euro-Rettungsschirme 251 VI.2.1 EFSF 252 16 – die Tyrannei der die VI.2.2 ESM 254 VI.3 Die EZB als Retter oder betrügt sich die EZB selbst und die Steuerzahler 255 VI.4 Wird Irland die erste Erfolgsgeschichte? 257 VI.5 Die Schuldenbremse 260 VI.6 Auswirkungen auf die Haushaltspläne 261 VI.6.1 Bundeshaushalt – 2015 soll die große Wende kommen 262 VI.6.2 Streit um den EU-Haushalt 2014 bis 2020 264 VI.7 Inflation an der Ladentheke – ist das die Lösung? 265 VI.8 Lösung der Schuldenkrise - Gibt es Auswege? 266 VI.8.1 Lösung der Schuldenkrise - durch Bilanztrickserei? 267 VI.8.2 US-Budgetproblematik durch Trick umgehen? 269 VI.8.3 Zypern – Wird die Kontenpfändung zur Europäischen ‚Abwicklungspolitik‘? 270 VI.8.4 Andere Form der Enteignung: Financial Repression 273 VI.8.5 Ausweg Goldstandard? 274 VI.8.6 Schulden einfach streichen? 277 VI.8.7 Ein Geldsystem ohne Zins 279 VI.8.8 US-Banken haben Krise angeblich überwunden 281 VI.9 Fazit – Kapitel VI: Die Krise ist noch nicht vorbei – der deutsche Steuerzahler als Schuldensklave? 282 17 Buch B Deutschland braucht eine neue Agenda – einen Gesellschaftsvertrag 292 I. Grundthese 295 I.1 Einführung – Auswirkungen der Verschuldung 296 I.2 Grundthesen 301 I.2.1 Grundthese Faber 304 I.2.2 Die „Gerechtigkeitsdebatte“ der SPD 305 I.2.3 Grüne Zielsetzung 307 I.2.4 Wahlgeschenke im CDU-Wahlprogramm 308 I.3 Veränderung setzt Ehrlichkeit und Vertrauen voraus – Die unmögliche Griechenlandrettung 310 I.4 Grundthese Bernd Rojahn 311 II Schulden-Eindämmungs-Maßnahmen 312 II.1 Wofür gibt der Staat sein (unser) Geld aus? 314 II.1.1 Investitions- und Zinsausgaben des Staates 1965/2010 316 II.2 Sparen – aber … 317 II.3 Sparen und Wachsen funktioniert nicht (?!) 319 II.4 So will der Staat dem Bürger sein Geldvermögen ab-schöpfen 325 18 II.5 Verschwendung 327 Beispiel: Lebensmittel – Zwischen Wertschätzung und Verschwendung 329 Beispiel: Gesundheitswesen Missbrauch 331 - Verschwendung und Beispiel: Rüstungsbeschaffungsmaßnahmen 334 Beispiel: Subventionen 336 Beispiel: Brüsseler Bürokratie 339 Beispiel: Industrie und Fertigung 340 II.6 Mehrwert: Mit weniger mehr erreichen 341 II.6.1 Kommunale Selbstverwaltung 345 II.6.2 Wertschöpfung vs. MehrWert – Beispiel: Campe 348 II.7 Ein neuer Ansatz – Basis: Leistungswille, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit – Eine ganzheitliche Vorgehensweise 353 III Ansätze der Veränderung 356 III.1 … ein Blick zurück auf Deutschland 357 III.2 Ansätze der Veränderung 358 III.3 Wettbewerbsfähigkeit und Effizienz – Wertschöpfen ohne Verschwendung 362 III.3.1 Wir müssen wettbewerbsfähiger werden 365 III.3.2 Wir müssen unsere Ressourcen besser nutzen 365 19 III.3.3 Wir brauchen mehr kluge Köpfe und Anreize im Berufsund Wirtschaftsleben 366 III.4 Beispiele der Veränderung 366 IV. Ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell – MehrWert entdecken und gestalten 369 IV.1 Ein anderes Gesellschaftsmodell 373 IV.1.1 So viel du brauchst 375 IV.1.2 Die moralischen Grenzen der Marktwirtschaft 377 IV.1.3 Was man für Geld nicht kaufen kann 378 IV.1.4 Zukunftsbilder einer gerechten (Wirtschafts-)Welt aus Sicht von Schülerinnen und Schülern 379 IV.1.5 Ein anderes Demokratieverständnis – Ich bin Teil der Veränderung 382 IV.1.6 Die Schweizer stimmen Management-gehältern 385 IV.1.7 Vom Elend der Großprojekte 386 IV.1.8 Ideen braucht das Land – ein Beispiel 390 IV.2 Ein anderes Wirtschaftsmodell 391 IV.2.1 Wohlstand ohne Wachstum oder/und Wohlstand durch Fortschritt? 396 IV.2.2 Was aber ist Wohlstand – wie messen wir Wohlstand? 398 IV.2.3 Der Wert eines Produktes oder einer Dienstleistung 400 20 für Deckel bei IV.2.4 Bürger wollen kein Wachstum um jeden Preis 402 IV.2.5 Marktmacht der Verbraucher – Abstimmung mit dem Geldbeutel 407 IV.2.6 Eine andere Art des Wirtschaftens 409 IV.2.7 Das Wachstum der Schwellenländer 411 IV.2.8 Ein differenziertes Vorgehen – Auf dem Weg zu einer Gemeinwohl-Ökonomie 413 IV.3 Ein anderes Finanzsystem – Die Perversion des Finanzsystems 415 IV.3.1 Weg zur Entmachtung der Rating-Agenturen? 421 IV.3.2 Basel III lässt auf sich warten 422 IV.3.3 Pläne zur Bankenregulierung – Rolle der Banken 424 IV.3.4 Zerlegt die Banken! Oder gelingt ein Kulturwandel? 426 IV.3.5 Steuerflucht ausschließen! 433 IV.3.6 Steuergerechtigkeit, Steuerehrlichkeit, Gemeinsinn 436 IV.3.7 Banken- und Finanzregulierung: Zwischenbilanz 437 IV.3.8 Schon meldet sich Widerspruch: Finanzierungslücke 440 IV.3.9 Fair Finance – Das Kapital der Zukunft? 441 IV.3.10 Ein anderes Finanzsystem – Stabilität und nachhaltiges Wachstum 442 IV.4 Ein anderes Sozialsystem 443 21 IV.4.1 Was ist ein Sozialstaat? 444 IV.4.2 Krise des Sozialstaates 445 IV.4.3 Reiches Deutschland – Armes Deutschland 447 IV.4.4 Zwischenruf: Ist die Armutsdefinition richtig? 451 IV.4.5 Problembereich: Unterschicht 457 IV.4.6 Die Mittelschicht schrumpft 458 IV.4.7 Selektion statt Inklusion – die deutsche Hilfsindustrie 464 IV.4.8 Vollzeitbeschäftigte mit Berufsausbildung im Niedriglohn-sektor – der differenzierte Mindestlohn muss kommen 467 IV.4.9 Arbeit, Arbeit, – … ist die beste soziale Medizin 471 IV.4.10 Ökonomen streiten über die Einkommensverteilung 477 IV.4.11 Warum ein anderes Steuersystem 478 V. Ein anderes Europa-Modell 485 V.1 Zerbricht Europa trotz Friedensnobelpreis? 488 V.1.1 Drohen soziale Unruhen? 490 V.2 Solide Staatsfinanzen für eine stabile Währungsunion 491 V.3 EU-Haushalt auf neue Füße stellen 500 V.4 Reformen der EU-Institutionen 501 V.4.1 Die Brüsseler Bürokratie-Krake stutzen 503 V.5 Ein demokratisches Europa 504 22 V.6 Ein arbeitendes Europa 506 V.6.1 Hoffnung für Europas Jugend? 509 V.6.2 Europas Weg zu mehr Wettbewerbsfähigkeit 513 V.6.3 Europa sucht die Supertechnik 516 V.6.4 Neue Potenziale schaffen – Beispiel Griechenland 518 V.7 Ein europäischer Vertrag 519 VI Ideen konkret machen – Ideen konkret machen 521 VI.1 Die Natur hat ihren Preis 522 VI.2 Wachstumsmärkte von morgen 524 VI.3 Mehr Menschen in die Selbstständigkeit 528 VI.4 Innovationen (Neugier, Gemeinsinn, …) 529 VI.5 Bürgerschaftliches Engagement 532 VI.5.1 Die Energiewende in Bürgerhand 533 VI.5.2 Klimaschutz durch Kooperation 534 VI.5.3 Kann Deutschland die Pflegekrise meistern? 536 VI.6 Mehr Sicherheit 538 VI.6.1 Mehr Sicherheit bei Lebensmitteln 538 VI.6.2 Mehr Sicherheit vor Naturkatastrophen 540 VII Schluss: Den Wandel gestalten 542 23 VIII Nachtrag: Was nun Frau Merkel? 543 Literaturhinweise 544 24 Buch A 25 I. Grenzen des Erfolgsmodells – Betrachtungen im Herbst 2012 Die globale Ausweitung der Finanzmärkte hat die Makroökonomie westlicher Industrienationen unberechenbar gemacht; der wirt-schaftliche Auf- und Abschwung hat die Lebensläufe der Menschen zerrissen; wohlfahrtsstaatliche Handlungsspielräume schwinden in Zeiten wachsender nationaler Schuldenlasten; es droht die Entdemokratisierung des europäischen Staatensystems. Welche Antworten geben die von Jahrzehnten des Neoliberalismus geprägten westlichen Marktgesellschaften auf diese Veränderungen und Instabilitäten? Steht Europa auf absehbare Zeit die Spaltung in Retter und zu Rettende bevor? Für die meisten Ökonomen gilt nach wie vor der Satz „Wer den Wohlstand mehren wolle, der solle für Wachstum sorgen!“ Folgt man dieser Feststellung, müsste im Umkehrschluss die Frage lauten: „Schwindet ohne Wachstum der Wohlstand?“ Betrachtet man im Herbst 2012 die griechische Situation, sind wir spontan geneigt, obiger These zu folgen. Doch so einfach ist die Antwort leider nicht. Selbst in der ökonomischen Zunft setzt in Teilen ein Umdenken ein. Es drängen sich viele Fragen auf, wie zum Beispiel: 26 • • • • • Ist die Einkommensungleichheit in den USA einer der Haupt-gründe für den Zusammenbruch 2007? Hat die Liberalisierung der Finanzmärkte die Spirale der Ver-schuldung weiter angefacht? Haben sich die Finanzmärkte völlig von der Realwelt ent-koppelt? Steigt die Wahrscheinlichkeit für große Krisen? Welche Grenzen des Machbaren gibt es? Eine gängige Antwort auf die finanziellen Herausforderungen lautet: „Die dauerhafte Wiederherstellung von Beschäftigung, Wachstum und Finanzstabilität erfordert Strukturreformen, die Rückführung staat-licher Schuldenstände, die Restrukturierung und Rekapitalisierung des Bankensystems sowie die Schaffung einer echten Wirtschafts- und Währungsunion.“ Doch eine Politik, die sich ausschließlich auf die Finanzen kon-zentriert, springt zu kurz. Welche Antworten finden die poltischen Parteien in Deutschland – welche Aussagen treffen sie in ihren Wahlprogrammen? Eine Betrachtung politischer Aktualitäten der letzten 12 Monaten bis zur Bundestagswahl am 22. September 2013. I.1. Deutschlands Kasse klingelt – wie lange noch? Die deutsche Welt ist doch noch in Ordnung - oder? Meldung vom 31. Oktober 2012: Die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden erreichen in diesem Jahr einen neuen Rekord: Sie sollen nach Angaben des Steuerschätzerkreises auf 602 Milliarden Euro klettern - bei einer Wirtschaftsleistung von ca. 2,5 Billionen Euro. Für das Jahr 2017 werden 700 Milliarden prognostiziert. Doch Bundesfinanzminister Schäuble dämpfte trotz guter Zahlen die Euphorie. Die gute Konjunktur ermöglichen Mehreinnahmen, die der 27 „normalen Entwicklung“ entsprächen. Deutschland werde den „Kurs des moderaten Wachstums fortsetzen“ und in Europa „Stabilitätsanker und Wachstumslokomotive“ zugleich bleiben. Das klang fast so, als wolle einer die gute Nachricht nicht überhöhen. Zu recht, schließlich rechnet Schäuble noch mit 28 Milliarden Euro neuen Schulden für 2012. Im Haushaltsjahr 2013 könnte dann sogar bereits die Messlatte der Schuldenbremse eingehalten werden, die ein Strukturdefizit von 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung erlaubt. Das entspricht aber immer noch einer Neuverschuldung von ca. 10 Milliarden Euro. Meldung vom 19. November 2012: Die Deutsche Bundesbank hat wenig Hoffnung auf eine rasche Konjunkturerholung in Deutschland. „Die Zuversicht, dass sich die Konjunktur kurzfristig beleben könnte, geht in immer mehr Bereichen der Wirtschaft verloren“, schreibt die Notenbank in ihrem Monatsbericht. Bisher habe vor allem die exportorientierte Industrie unter dem langsameren globalen Wachs-tumstempo und den Krisen in Teilen des Euroraums gelitten: „Inzwischen ist aber unverkennbar, dass die Wirtschaft davon in der Breite in Mitleidenschaft gezogen werden könnte.“ Ein ähnliches Bild von der Stimmung in der deutschen Wirtschaft zeichnet auch eine Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Demnach planen 28 Prozent der Unternehmen im kommenden Jahr einen Stellenabbau. Lediglich 20 Prozent wollen neue Arbeitsplätze schaffen, die übrigen erwarten eine stabile Personalzahl, wie das Institut berichtete. IW-Direktor Michael Hüther sprach von einer „sehr großen Verun-sicherung“ angesichts der Staatsschuldenkrise in Europa. Dies verringere die Investitionsbereitschaft. Im dritten Quartal 2012 war das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) preis-, saison- und kalender-bereinigt nur noch um 0,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal gestiegen. Im ersten Vierteljahr war die Wirtschaftsleistung noch um 0,5 Prozent gewachsen, im zweiten Quartal um 0,3 Prozent. Auch die Bundesbank spricht von einer „tiefsitzende Verunsicherung“, die dazu geführt habe, dass die Konjunktur bei den Investitionen bereits vor einem Jahr jeden Schwung verloren habe und mittlerweile eben auch der Aufwärtstrend am Arbeitsmarkt zum Stillstand gekommen sei. Nach den Industrieunternehmen hätten nun auch die weitgehend 28 binnenwirtschaftlich ausgerichteten Dienstleister ihre Geschäfts-erwartungen beträchtlich heruntergestuft. Derzeit trotzen nur der Wohnungsbau und der private Konsum den spürbar dämpfenden Einflüssen. Allerdings gäbe es auch eine gute Nachricht: Derzeit erwarten zwar viele Ökonomen, dass die deutsche Wirtschaft im Schlussquartal 2012 stagnieren oder sogar schrumpfen könnte. Schon Anfang 2013 soll es aber wieder aufwärtsgehen. Anders als im Euroraum insgesamt droht in Deutschland derzeit keine Rezession. Meldung vom 3. Dezember 2012: Mister DAX Dirk Müller: „Ich glaube, dass die Unternehmen einen ganz guten Job machen. Gerade in Deutschland haben sich die Konzerne gut positioniert, haben sich fit gemacht für schwere Zeiten. Sie haben aus den Krisen 2008 und 2009 gelernt, sich schlanker aufzustellen. Dazu kommt, dass unsere deutschen Unternehmen durch die niedrigen Zinsen eine Sonder-konjunktur erleben.“ Langfristig werde dieses Modell aber nicht funktionieren: „Das Problem ist, dass das irgendwann aufgebraucht ist – und dass das Massaker, das wir jetzt in Ländern wie Griechenland, Portugal, Spanien und Italien anrichten, mit etwas Zeitverzögerung bei uns voll durchschlagen wird.“ Meldung vom 13. Dezember 2012: 2013 steht die Euro-Zone vor einer Rezession: Das ist ein Ergebnis der aktuellen Konjunkturprognose des Münchner ifo-Instituts. So ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass „die Wirtschaftsleistung in der Euro-Zone weiter sinkt“. Die Gründe dafür sind laut ifo-Institut „die kontraktive Finanzpolitik, die schlechte Arbeitsmarktsituation, die restriktiven Finanzierungsbedingungen und die Unsicherheit über den Fortgang der Eurokrise“. Doch der schwache Ausblick ist nicht auf die Euro-Zone begrenzt. Auch für die Weltwirtschaft sind die Experten skeptisch: „Nahezu alle wichtigen fortgeschrittenen Volkswirtschaften und Schwellenländer 29 werden voraussichtlich im Winterhalbjahr 2012/13 eine konjunkturelle Schwächephase erleiden“. Für die USA erkennen die ifo-Experten Verbesserungstendenzen für den weiteren Jahresverlauf 2013. Doch bei der Euro-Zone sieht es anders aus: „Eine durchgreifende Erholung ist hier nicht in Sicht“. So wird wohl die Wirtschaftsleistung nach einer Schrumpfung um 0,5% im laufenden Jahr im nächsten Jahr um weitere 0,2% zurückgehen. Das sind keine dramatischen Abstürze. Doch es bleibt bei einem Rückgang. Und bei schrumpfenden Volkswirtschaften ist es kaum möglich, die ambitionierten Sparprogramme auch tatsächlich durch-zusetzen. Mit Ausnahme von Irland rechnen die Experten zudem damit, dass die „aggregierte Produktion in den Krisenländern weiter schrumpfen wird“. Das wird auch weitere Belastungen für den Arbeitsmarkt bringen. Schon jetzt notiert die Arbeitslosenquote in der Euro-Zone auf Rekordniveau. Doch 2013 wird es wohl weitere Zuwächse geben. Nach eben 11,4% in diesem Jahr erwarten die ifo-Experten einen weiteren Anstieg der Arbeitslosenquote auf 12,2%. Und alle Prog-nosen gelten auf Basis der Annahme, dass sich die Eurokrise nicht weiter verschlimmert. Die deutschen Aussichten hat das ifo-Institut auch deutlich gesenkt: Für 2013 liegt die Prognose nur noch bei einem Wirtschaftswachstum von 0,7%. Vor einigen Monaten im Sommer hatte diese Zahl noch 1,3% betragen. Daran ist zu erkennen, wie jetzt auch die ifo-Experten die Prognosen der veränderten Realität anpassen. Und grundsätzlich gehört das ifo-Institut mit diesem Miniwachstum sogar noch zu den optimistischen Experten. Die Bundesbank liegt für 2013 mit 0,4% schon deutlich darunter. Und wenn schon die größte und wichtigste Volkswirtschaft der Euro-Zone kaum vom Fleck kommt, heißt das nichts Gutes für die Entwicklung der gesamten Euro-Zone. 30 I.2. Euro-Finanzchefs geht die Geduld mit den Griechen aus Meldung vom 31. Oktober 2012: Die Zitterpartie um die Zukunft Griechenlands geht weiter. Die Euro-Gruppe rief die Regierung in Athen auf, die Verhandlungen mit der Gläubiger-Troika „schleunigst“ abzuschließen, wie Europagruppen-Chef Jean-Claude Junker erklärte. Mit einer Entscheidung über weitere Hilfen ist Schäuble zufolge nun erst Mitte November zu rechnen. Die Euro-Finanzminister berieten in einer zweistündigen Telefonkonferenz über das weitere Vorgehen. Junker veröffentlichte im Anschluss eine Erklärung, aus der hervorgeht, dass der Zeitplan für eine Entscheidung über weitere Hilfsgelder ungewiss ist. „Wir haben die griechische Regierung aufgefordert, verbleibende Fragen zu klären“, unterstrich Junker. „es ist noch eine Menge Arbeit zu leisten“, mahnte Schäuble. Meldung vom 19. November 2012: Der Griechenland-Poker steht morgen vor der nächsten Entscheidung. Wie bei dem populären Kartenspiel liegen die Einsätze vor der letzten Karte (‚River‘) schon turmhoch auf dem Tisch. Im Pott sind 308 Milliarden Euro. So viel Geld würde nach Berechnungen des ifo-Instituts bei den europäischen Geberländern und dem Internationale Währungsfonds (IWF) an Verlusten anfallen, sollte Griechenland pleitegehen. Alleine Angela Merkel hat als Vertreterin Deutschlands bislang 82 Milliarden Euro in den Pott geworfen. Geld, das sofort weg wäre, würde sie nun den Pokertisch verlassen. Doch die Finanzminister können sich nach in der Nachtsitzung nicht einigen und vertagen sich auf den 26. November 2012. Meldung vom 3. Dezember 2012: Eine neue Woche und schon wieder prasseln jede Menge Krisenmeldungen auf uns herein: Am Wochen-ende wurde bekannt, dass Moody`s nun dem europäischen Rettungsschirm EFSF das höchste Rating entzogen hat. Damit wird es nun teurer auf diesem Weg frisches Kapital zu besorgen. Das ist auf jeden Fall das falsche Signal in der ohnehin schon angespannten Lage. 31 Zudem tauchten am Wochenende auch Meldungen über massive Probleme in Zypern auf. Das ist nichts Neues – aber die Summen werden immer größer. Jetzt ist schon von 10 Mrd. Euro Hilfe nur für die angeschlagenen Banken in Zypern die Rede. Zypern hat eben im Frühjahr massiv unter dem Schuldenschnitt für Griechenland gelitten. Das lag an der engen Verbindung der beiden Finanzsektoren. Nun ist 10 Mrd. Euro keine große Summe – im Gegensatz zu den hunderten von Milliarden, die mittlerweile für Griechenland fällig werden. Meldung vom 18. Dezember 2012: Es ist immer wieder erstaunlich, oder eigentlich erschreckend, welchen enormen Einfluss Rating-Agenturen auf das Kursgeschehen haben. Das leidgeprüfte Griechenland wurde erneut unter die Lupe genommen und siehe da – es wurde für gut befunden. Gleich um mehrere Stufen ging die Einstufung des Mittelmeerstaates durch die marktführende Agentur S&P von „Selective Default“ (teilweiser Zahlungsausfall) auf B- nach oben. Sogar der Ausblick ist stabil. Damit wurde vor allem das praktisch bedingungslose Festhalten der EU an der griechischen Euro-Mitgliedschaft honoriert. Ohnehin scheint die Schlacht um Griechenland mit der Heraufstufung derzeit mehr oder weniger geschlagen zu sein. Knapp drei Jahre hielt die kleine Volkswirtschaft Politik und Finanzwelt in Atem. Wer allerdings glaubt, dass die Eurokrise damit insgesamt ausgestanden sei, der dürfte schon 2013 negativ überrascht werden. I.3. Der Kampf um den Haushalt der EU beginnt Meldung vom 30. Oktober 2012: Die heiße Schlacht um den EU-Etat ist eröffnet. Weniger Geld für Bauern, weniger auch für neue Autobahnen, für Forschung, für EU-Beamte – in den kommenden drei Wochen ringen die 27 Mitgliedsstaaten um den Haushalt der Finanzperiode 2014 bis 2020. 32 Fast 1,1 Billionen Euro (1,11 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung) fordert die Kommission. Die sieben Nettozahler – darunter Deutsch-land – wollen den Haushaltsansatz um 100 bis 200 Milliarden Euro kürzen. Sie drängen auf eine Begrenzung des Sieben-Jahre-Etats auf ein Prozent der Wirtschaftsleistung, was etwa 960 Milliarden Euro entsprechen würde. Doch die Fronten sind verhärtet. Polen sowie die übrigen neuen Länder im Osten haben eine Siebzehner-Gruppe mit den überschuldeten Mitgliedern im Süden gebildet. Sie wollen vor allem eine Kürzung der Infrastrukturmittel verhindern. Außerdem drängt man noch auf eine Angleichung der Fördersätze für Landwirte auf EU-Niveau. Das entspräche einer Steigerung der bisherigen Mittel um rund fünf Prozent. Dänen und Briten haben sogar bereits mit einem Veto gedroht, wenn am Ende mehr als 860 Milliarden Euro herauskommen würden. Daraufhin war Merkel so erbost, dass sie drohte den Sondergipfel in drei Wochen platzen zu lassen. Ein hoher EU-Diplomat: „Die Gegensätze sind de facto nicht überbrückbar. Es ist also alles wie immer, wenn es um den Haushalt geht.“ Die Mitgliedstaaten stehen unter Druck. Sie haben sich selbst eine Schuldenbremse verordnet und müssen zu Hause drastische Ein-sparungen durchsetzen. Hinzu kommen milliardenschwere Zusagen für Rettungsschirme und Hilfspakete. Da ist für zusätzliche Über-weisungen nach Brüssel kein Spielraum. Meldung vom 22. November 2012: Die EU will auf dem für heute und morgen angesetzten Sondergipfel einen neuen Finanzplan für die Jahre 2014 bis 2020 beschließen. Seit Monaten wird darum erbittert gestritten. In Brüssel wollen sich die Staats- und Regierungschefs nun um eine Einigung bemühen, doch es ist unsicher, ob ihnen das gelingt. In dem seit Monaten andauernden Streit um die Ausgabenhöhe zeichnet sich bislang keine Lösung ab. Bei der Finanzplanung ist Einstimmigkeit erforderlich, jede EU-Regierung hat somit ein Vetorecht. Ein Scheitern ist möglich. 33 Kämpferisch startet Großbritanniens Premierminister David Cameron in die Verhandlungen zum EU-Haushaltsplan. Cameron hat rund 200 Milliarden Einsparungen gefordert und mit seinem Veto gedroht. Lettlands Ministerpräsident Valdis Dombrovskis war gestern einer der letzten Regierenden, die mit einem Veto drohten, falls die Interessen seines Landes nicht ausreichend berücksichtigt würden. Auf dem Tisch liegt ein Kompromissvorschlag Van Rompuys, der insgesamt einen Umfang von 1,01 Billionen Euro hat. Van Rompuy führt gemeinsam mit Barroso vorab mit den Staats- und Regierungs-chefs sogenannte Beichtstuhlgespräche. Dabei sollen unter sechs Augen ‚rote Linien‘ und Kompromissbereitschaft der einzelnen Regierungen ausgelostet werden. Anschließend will Van Rompuy dann eine neue Version seines Vorschlags für die Finanzplanung vorlegen. Er warnte vor einem Scheitern und forderte Kompromiss-bereitschaft. Der Gipfel werde „nötigenfalls verlängert“. I.4 Merkel und Lagarde zeigen sich besorgt Meldung vom 30. Oktober 2012: Bundeskanzlerin Angela Merkel und die IWF-Chefin Christine Lagarde haben sich besorgt über die Weltkonjunktur gezeigt. „Die Erholung der Weltwirtschaft verläuft weiter in unsicheren Bahnen, die weiteren Aussichten sind ungewiss“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung von Merkel. Lagarde, OECD-Generalsekretär Angel Gurria, WTO-Generaldirektor Pascal Lamy und anderen Spitzenvertretern internationaler Organisationen. Laut Prognose des IWF bestünden erhebliche Abwärtsrisiken. Meldung vom 15. November 2012: Der deutschen Konjunktur scheint zum Jahresende die Kraft auszugehen, einige Experten fürchten schon ein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung. Das Wirtschaftswachstum hierzulande war im Sommer kaum noch wahrnehmbar, das belegen die neusten Zahlen der Statistiker. In diesen Wochen geht der Konjunktur ihre letzte Kraft aus und die Wirtschaft dürfte zum Jahresende 34 stagnieren oder sogar leicht schrumpfen. Das sind keine guten Nachrichten. I.5 Bundestagswahlkampf 2013 wirft seine Schatten voraus Meldung vom 5. November 2012: Um zwei Uhr morgens traten Ver-treter von CDU, CSU und FDP vor die Kameras. Über Wochen hinweg hatten sich CSU und FDP die Themen Betreuungsgeld und Praxisgebühren um die Ohren gehauen. In ihrem Hauruck-Verfahren setzten Union und FDP dann das Gesamtkunstwerk in die Landschaft: ein politisch in sich verknotetes Kompromissungetüm. Hat bei Schwarz-Gelb ein Kuhhandel stattgefunden? Na klar! Diese Fest-stellung ist so banal wie zutreffend. Schweren Herzens hat die FDP nun doch einem Betreuungsgeld zugestimmt – dabei halten die meisten Liberalen es für einen einzigen Unfug. Schweren Herzens stimmt die CSU der Abschaffung der Praxisgebühr zu. Es ist die jüngste Kapriole eines eifrigen Sozialstaates, der mittlerweile auch jenen Geld gibt, die eine staatliche Leistung gerade nicht in Anspruch hatten nehmen wollen. Nun haben alle Vorgänger-regierungen der letzten Jahrzehnte – egal welchen Farbenspiels – ähnlich gehandelt. Heute gibt es aber einen feinen Unterschied: überbordende Schulden. Im Ausland wird das niemand verstehen, schon gar nicht Staaten wie Griechenland oder Spanien, denen Berlin derzeit rät, Sozialleistungen auf den Prüfstand zu stellen. In der Nacht zum Montag aber geriet im Kanzleramt der Rest der Welt aus dem Blick. Es ging allein um einen Deal für Deutschland im Wahljahr 2013. Ach ja, da gab es ja noch einen Beschluss: Der Haushalt 2014 soll strukturell ohne Neuverschuldung auskommen. Das heißt, Konjunktur-schwankungen oder Einzelzahlungen – Beispiel ESM – werden heraus gerechnet. Um dieses Ziel zu erreichen, soll unter anderem der Bundeszuschuss für den prall gefüllten Gesundheitsfonds 35 gekürzt werden. Eine schwarz-gelbe Bundesregierung wird wohl kaum den Bundeshaushalt 2014 verantworten müssen. I.6 Europäischer Streik- und Aktionstag – „Für Beschäftigung und Solidarität – gegen Sparmaßnahmen" Meldung vom 14. November 2012: Aus Protest gegen die Sparpolitik ihrer Regierungen haben Millionen Arbeitnehmer in mehreren EU-Krisenländern die Arbeit niedergelegt. In Spanien und Portugal begannen landesweite, 24-stündige Generalstreiks. Einige Protest-märsche eskalierten. In Madrid und Barcelona lieferten sich radikale Gruppen in der Nacht Straßenschlachten mit der Polizei. Randalierer setzten Müllcontainer und Polizeifahrzeuge in Brand. In beiden Städten wurden dabei 30 Menschen verletzt und 28 mutmaßliche Gewalttäter festgenommen. Auch in Lissabon artete eine Protest-kundgebung von Tausenden von Menschen am Rande eines Generalstreiks in Gewalt aus. In Rom sprachen Reporter von Guerilla-ähnlichen Szenen. Ganze Wirtschaftsbereiche kamen zum Erliegen. Zu dem ‚Solidaritätstag‘ hatte der Europäische Gewerkschaftsbund aufgerufen. Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Michael Sommer, prangerte die Sparpolitik als falsches Mittel gegen die Krise an. Die Euro-Krisenländer würden „kaputtgespart“, kritisierte er im Deutschlandradio Kultur. „Wir wollen die richtigen Maßnahmen gegen die Krise. (...) Das heißt, dass man gegen die Krise investiert und nicht in die Krise weiter hinein spart.“ Auch die Reformen, die viele Länder angestoßen haben, bewertete Sommer kritisch: „Diese Krise bekämpfen wir nicht mit dem Abbau von Arbeitnehmerrechten und mit der Verlängerung der Lebensarbeitszeit und der Ver-schlechterung bei den Mindestlöhnen.“ Meldung vom 14. Dezember 2012: Der soziale Aufstieg wird immer schwerer, die Gruppe der Armen in Deutschland wächst, die 36 Mittel-schicht schrumpft. Das sind die Ergebnisse einer Studie, die die Bertelsmann Stiftung gestern veröffentlicht hat. Nach der Unter-suchung ist der Anteil der Mittelschicht an der Gesamtbevölkerung seit 1997 von 65 auf 58 Prozent gesunken. Die Studie verzeichnet wachsende Wohlstandssorgen. Als Ursache nennen die Wissen-schaftler unter anderem Arbeitsmarktreformen, in deren Folge schlecht bezahlte Jobs entstanden seien, und die Steuerpolitik, die in den vergangenen Jahren Reiche begünstigt habe. I.7 Die EU-Partner dachten, sie seien ihn los Meldung vom 9. Dezember 2012: Die EU-Partner dachten, sie seien ihn ein für alle Mal los. Doch Silvio Berlusconi mischt Europa wieder auf. Das geplante Comeback des italienischen Ex-Premiers verun-sichert die Märkte und sorgt für die nächste Vertrauenskrise im Euro-Raum. Vor 13 Monaten erst hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs den italienischen Premier Silvio Berlusconi mit vereinter Kraft in den Ruhestand geschickt. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs damaliger Präsident Nicolas Sarkozy hatten all ihre Überzeugungskraft aufbieten müssen, um den Weg für eine Reformregierung unter dem Technokraten Mario Monti freizumachen. Nun aber ist Italiens unseriösester Politiker wieder da - und Europa stöhnt auf. Berlusconis Wahlkampf-Losung: „Schluss mit der Unterwürfigkeit gegenüber Europa, das seinerseits von Deutschland und Frau Merkel dominiert wird“. I.8 Schäuble spart für Griechenland Meldung vom 10. Dezember 2012: Der Finanzminister hält eine Mütterrente für nicht bezahlbar. Da hat der CDU-Parteitag vor Wochenfrist beschlossen, dass Mütter, die vor 1992 Kinder bekommen haben, bei der Berechnung der Rente besser gestellt werden müssten, 37 indem ihnen Kinderbetreuungszeiten in größerem Umfang anerkannt werden. Aber das kostet natürlich Geld. Schäuble: „Im Haushalt 2013 sehe ich zurzeit überhaupt keinen Spielraum“. Als Grund führte er die neuen Hilfsmaßnahmen für Griechenland an: „Die Mindereinnahme von rund 700 Millionen Euro durch die Senkung der Zinsen beim ersten Griechenland-Paket und die Rückgabe der Gewinne der EZB durch deren fällig werdende Griechenlandanleihen ist nur ein Element, was wir auffangen müssen.“ I.9 Ist das Schlimmste vorbei oder kommt es noch? Meldung vom 19. November 2012: Der Börsenguru Marc Faber warnt: Die Börsen werden einbrechen. Der Weltwirtschaft geht die Puste aus, das globale Finanzsystem werde eines Tages implodieren. Noten-banken und Politik riskierten den Zusammenbruch. Jedes Land habe mit anderen Problemen zu kämpfen. In vielen Ländern Asiens seien es Überkapazitäten, etwa im Immobiliensektor. In der westlichen Welt einschließlich Japan bremsten die hohen Schuldenberge das Wachstum. Faber ist sicher, dass eines Tages das ganze globale Finanzsystem auf null gesetzt wird. Für einen allfälligen Neustart des Systems sorgen werden aber nicht Notenbanken, sondern implodierende Währungs-, Kredit- oder Aktienmärkte. Meldung vom 14. Dezember 2012: Brüssel - Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich nach ihrem Gipfeltreffen in Brüssel optimistisch gezeigt. Europa sei im Kampf gegen die Krise auf einem guten Weg. Die meisten erklärten ihre Erleichterung darüber, mehrere Beschlüsse innerhalb von 48 Stunden geschafft zu haben, die mehr Stabilität in Europa bringen sollen. Nur Kanzlerin Merkel scherte im Tonfall aus der Reihe. Die Euro-Krise bleibt, Merkel sieht keinen Grund zur Entwarnung. Damit widerspricht sie EU-Ratspräsident Van Rompuy, der beim Gipfeltreffen in Brüssel erklärte, das Schlimmste sei vorüber. Die Kanzlerin prognostiziert dagegen eine schwere Zeit. 38 Meldung vom 21. Dezember 2012: Die Opposition hat Bundes-finanzminister Wolfgang Schäuble zu Klarstellungen über ein angeblich geplantes Sparpaket zu Lasten von Rentnern, Familien und Geringverdienern aufgefordert. Was für Einschnitte folgen auf die Bundestagswahl im kommenden Jahr? Nach SPIEGEL-Informationen hat Schäuble die Vorlage mit dem Titel „Mittelfristige Haushaltsziele des Bundes“ bereits gebilligt. Um sich gegen die Folgen der Finanzund Euro-Krise zu wappnen, sollen Steuern erhöht und Sozialleistungen reduziert werden, schlagen die Beamten des Finanzressorts vor. Die Ministeriumsmitarbeiter schlagen vor, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent zu streichen. Dieser wird unter anderem auf Lebensmittel, Bücher oder Tickets im Nahverkehr erhoben. Damit ließen sich 23 Milliarden Euro mehr einnehmen. Um zehn Prozent gekürzt werden soll der Zuschuss zum Gesundheitsfonds. Um die Gesundheitskosten im Griff zu halten, wird ein ‚Gesundheits-Soli‘, ein Aufschlag auf die Einkommensteuer, angeregt. Ferner soll der vorzeitige Ruhestand unattraktiver gemacht werden. Dazu soll der jährliche Abschlag auf die Rente von 3,6 Prozent, der bei einem vorzeitigen Ausstieg auf dem Arbeitsleben hingenommen werden muss, auf 6,7 Prozent erhöht werden. Auch die Witwenrente soll sinken. Weitere Einschnitte im Sozialbereich halten Schäubles Beamte für notwendig, wenn der Staat mehr für Verkehr und Bildung ausgeben will. Anmerkung: Natürlich folgte prompt ein Dementi. Doch wie gehen wir Bürger mit solchen Meldungen um? Sind wir auch so empört wie die Opposition es uns suggeriert? Oder müssen wir uns eingehender mit den Grenzen des Erfolgsmodells beschäftigen? Meldung vom 29. Dezember 2012: Die Bundesbürger horten jede Menge Edelmetall aus Krisenangst. Die Händler sprechen von einem neuen Goldrausch. Gerade die deutschen Sparer, die großen Verlierer der Währungsreformen nach den beiden Weltkriegen, decken sich mit dem Edelmetall ein. Groß ist bei Vielen die Angst vor Inflation und einem Zusammenbruch des Euro. Bereits jetzt besitzt die deutsche 39 Bevölkerung fünf Prozent der weltweiten Goldmenge. Der Wert des Goldes übersteigt den Wert von Aktien oder Renten deutlich. Meldung vom 31.Dezember 2012: Einigung im Haushaltsstreit der USA - ein fauler Kompromiss. Die Fiskalklippe ist umschifft. Vorerst. Der Kompromiss zwischen Republikanern und Demokraten ist ein Spiel auf Zeit. Der Kompromiss zwischen Republikanern und Demokraten sieht eine Verlängerung von Steuererleichterungen für den Mittelstand und von Zuschüssen für Arbeitslose vor. Steuererhöhungen sind für Haushalte mit einem Jahreseinkommen von mehr als 450.000 Dollar vorgesehen. Außerdem sollen die pauschalen Ausgabenkürzungen im Bundeshaushalt um zwei Monate verschoben werden. Meldung vom 31. Dezember 2012: „Die Krise ist längst nicht über-wunden.“ Mit mahnenden Worten richtet sich die Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache an die Deutschen. Sie wirbt für ein menschliches und erfolgreiches Land. Fazit Kapitel I: Es gibt Grund zur Freude: Die Eurokrise ist vorbei. Ja, einfach so. Mit Beginn des neuen Jahres. Peng! Das zumindest verkündete der Präsident der Europäischen Kom-mission (seit kurzem auch Friedensnobelpreisträger) Jos Manuel Barroso. Und er steht damit nicht allein da. Visionäre Gestalten wie der Präsident des Europäischen Rats, Herman Van Rompuy oder auch Finanzminister Wolfgang Schäuble sagten Ähnliches bereits im Dezember. Sie sehen: Es kann nur noch aufwärts gehen. Barroso wörtlich: „Investoren haben verstanden, dass die europäischen Führer es ernst damit meinen, dass sie alles zum Schutz des Euro tun wollen“. Bereits der bloße Wille unserer glorreichen europäischen 40 Führer reicht also aus. Die Investoren „wurden nicht näher benannt. Es muss sich aufgrund der Aussage in der Mehrzahl aber um mindestens zwei handeln. Weiter hieß es in seiner Rede vor portugiesischen Diplomaten: Die Risikowahrnehmung in der Eurozone ist ver-schwunden“. Das stimmt. Nur das Risiko ist geblieben. Wird es gar immer schlimmer? Gleitet Europa jetzt in einen „ewigen Abschwung“? • • • • • • • • Griechenland steht mitten in der Großen Depression Spanien bleibt Sorgenkind. Der US-Nobelpreisträger Krugmann sagt: „Entweder Deutsch-land springt mit allem, was es hat, in die Bresche, oder Ende des Euro“. Dies sei nur noch eine Frage von Monaten, nicht von Jahren! Vor Ihnen als Anleger türmen sich jetzt dringendste Fragen auf. Befindet sich die europäische Wirtschaft bereits auf dem Weg in eine lange kalte Deflation? Stehen die „Schneeballsysteme“ der Staatsfinanzierung in Europa und USA unmittelbar vor dem Zusammenbruch? Kommt der „negative Währungsschock“? „Das ist eine Schulden-Wand, die auf uns zukommt”, sagt Kaushik Basu, Chefökonom der Weltbank, „wir werden eine weitere große Erschütterung der Weltwirtschaft in den Jahren 2014 und 2015 bekommen.” Und José Viñals, Chef der IWF-Kapitalmarktabteilung, sagt: „Es droht eine böse Abwärtsspirale“. Der IWF schließt in seinem aktuellen Ausblick auf die Weltwirtschaft einen Zusammenbruch der Eurozone und der globalen Finanzmärkte nicht aus. Die EU müsse die Stabilisierung der Banken und andere notwendige Maßnahmen schneller umsetzen. 41 Doch welche Maßnahmen haben in den letzten Jahren überhaupt gegriffen? Zwar wurden Banken gerettet. Doch die Rating-Agenturen stufen inzwischen die Banken in Spanien und Italien paketweise herab. Und in der Wirtschaft ist nichts von den Billionen angekommen. Vor allem im Süden Europas nicht. Und es ist keine Änderung in Sicht. Im Süden Europa fiel die Wirtschaftsleistung 2012. Und sie fällt 2013. Wird sie auch in den nächsten Jahren weiter fallen? Das wäre die Annäherung an die japanische Krankheit. Europa taucht ein in die Deflation. Krise ist ein viel zu schwaches Wort für das Fiasko, das ganz Europa inzwischen in den Klauen hält. Schlittert Deutschland in eine ernst zu nehmende Krise – mit neuen Heerscharen von Arbeitslosen, mit Insolvenzen, mit Werks-schließungen und Stellenabbau in Horror-Dimensionen? Die Folge: Die Sozialausgaben steigen ins Unermessliche. Weil immer mehr Menschen Arbeitslosenunterstützung und Hartz IV brauchen. Bei einbrechender Wirtschaftskraft sinken gleichzeitig selbstverständlich die Steuereinnahmen. Folge dann: Eine neue Schuldenkrise, weil die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben weiter auseinandergeht. Ein Teufelskreis kommt in Gang: Der Staat wird gezwungen sein, die Steuern zu erhöhen. Dadurch können sich die Menschen immer weniger leisten und geben immer weniger Geld aus. Das wiederum würgt die Wirtschaft weiter ab. Noch mehr Unternehmen müssen dichtmachen, noch mehr Arbeitslose, noch mehr … Erwartet uns am Ende ein großer Crash und eine Währungsreform? Kommt es so? Müssen wir dem tatenlos zusehen? Oder können wir ganz neue Grundlagen schaffen? 42 II.0 Grenzen der natürlichen Ressourcen Drei Befürchtungen stehen im Raum: • Schleichende Umweltzerstörungen gefährden die Nahrungs-mittelproduktion; • der weltweite Rohstoffhunger führt zur Erschöpfung von Erzlagerstätten • und die begrenzte Aufnahmekapazität der Umwelt für Emissionen führt zu irreversiblen Folgeschäden und einer abnehmenden Wirtschaftsleistung. II.1 Grenzen der ökologischen Ressourcen Viele wissen es vielleicht nicht mehr so genau, aber das aufrichtige, engagierte Handeln der Nationen im Kampf gegen die drohende anthropogene Apokalypse ist bereits seit 1979 im Gang. Damals trafen sich in Genf Wissenschaftler zur ersten Weltklimakonferenz unter dem Dach der Weltmetrologieorganisation. Keine acht Jahre später unter-zeichneten bereits 24 Staaten sowie die Europäische Gemeinschaft das Montreal-Protokoll zum Schutz der Ozonschicht, es trat am 1. Januar 1989 in Kraft. Kurze Zeit später, im Juli 1992, trifft man sich wieder. In Rio de Janeiro findet dort der sogenannte Erdgipfel statt. Entschlossen arbeitet man an Ergebnissen, die schon in ersten Erfolgen fruchten: In Kyoto beschließen die Teilnehmerstaaten das sogenannte Kyoto-Protokoll. Leider sind es nur 37 Industriesaaten, die Konkretes versprechen. Russland wartet mit der Ratifizierung noch bis 2004. Nicht ganz ideal: Die USA und Australien haben als wichtige Industrienationen das Kyoto-Protokoll unterschrieben aber letztlich nicht ratifiziert. Ähnlich sieht es der rote Riese aus dem Osten. Die 43 chinesische Regierung hat das 2012 auslaufende Kyoto-Abkommen nicht unterzeichnet. Das Ergebnis der bisherigen Bemühungen: Der CO2-Ausstoß hat 2010 eine neue Rekordhöhe erreicht: Nachdem die weltweite Finanzkrise 2008 und 2009 zu einem Rückgang der Emissionen führte, stieg der Kohlendioxid-Ausstoß im Jahr 2010 um 5,9 Prozent. Insgesamt wurden demnach 2010 mehr als zehn Milliarden Tonnen Kohlendioxid freigesetzt. Zyniker haben deshalb vorgeschlagen, Klimakonferenzen auszusetzen, da durch die Verhandlungen offenbar genau das Gegenteil erreicht wird. Alles halb so wild? Glaubt man den ‚richtigen Wissenschaftlern‘, dann gibt es ohnehin keinen Grund zur Panik. Im neusten Energy Outlook 2012 der Internationalen Energieagentur (IEA) steht es schwarz auf weiß: Die fossilen Rohstoffe werden im globalen Energiemix vorherrschend bleiben. Das freut auch das ‚progressive‘ Institut für Wärme und Oeltechnik (IWO). Dort tituliert man Peak Oil bereits als ‚Hypothese um ein Fördermaximum‘. Diese Theorie sei durch den neusten Energiebericht der IEA einmal mehr als ad absurdum geführt worden. Die Schlussfolgerung von IWO-Geschäftsführer Prof. Christian Küchen lautet deshalb auch: „Öl bleibt fester Bestandteil unseres Energiemixes, realistisch betrachtet wird die Energiewende nur mit Öl gelingen.“ Gegen so viel Ignoranz helfen auch die Warnungen der Weltbank nichts. Die in einer Studie des Potsdam Institut für Klimaforschung prognostizierten „Risiken außerhalb der Erfahrungen unserer Zivilisation“ sind offensichtlich zu abstrakt. Zudem ist ein nach vorne schauen nebensächlich, wenn man heute noch gut von der Ausbeutung fossiler Rohstoffe, beispielsweise mittels Fracking leben kann. 44 Machen wir uns nichts vor: Es zählt letztlich nur der ökonomische Gewinn. II.1.1 Funktionstüchtigkeit von Ökosystemen Ökosysteme nehmen Sonnenenergie auf und wandeln sie in für den Menschen wichtige Ökodienstleistungen um. Sie stellen zum Beispiel Biomasse bereit, die als Nahrung, Konstruktionsmaterial oder Energieträger genutzt werden kann, aber sie regulieren auch das Klima und speichern Wasser. Eine Studie vom Centre for Econics and Ecosystem Management an der Eberswalder Hochschule für nachhaltige Entwicklung geht der Frage nach, welche Gebiete auf den Kontinenten der Erde die beste ‚Funktionstüchtigkeit’ aufweisen. Für die Bereitstellung von Ökodienstleistungen sind Grundfunktionen wie Photosynthese und die Aufrechterhaltung von Nährkreisläufen von entscheidender Bedeutung. Funktionstüchtige Ökosysteme sind widerstandsfähiger gegenüber Störungen wie starken Temperatur- und Niederschlagsschwankungen. Sie haben auch deshalb eine große Bedeutung für den Menschen, da sie die Anpassungsfähigkeit der Natur an den Klimawandel regulieren. Die identifizierten Gebiete sind für die Bereitstellung von Öko-Systemdienstleistungen äußerst wichtig und verdienen einen beson-deren Schutz. Doch daran mangelt es. II.1.2 Der Klimawandel Die Weltbank hat vor dramatischen Folgen einer weiteren Erderwärmung gewarnt. Im Moment steuere die Welt auf eine Situation zu, in der die globale Durchschnittstemperatur bis zum Ende 45 des Jahrhunderts um vier Grad steigen werde. Der Wert liegt weit über dem offiziellen Ziel von höchstens zwei Grad, auf das die Staaten der Welt sich vor einigen Jahren im Rahmen der Klimakonferenzen der Vereinten Nationen verständigt haben. Eine um vier Grad wärmere Welt berge „Risiken außerhalb der Erfahrungen unserer Zivilisation“, teilte das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) anlässlich der Veröffentlichung der Studie mit. Wissenschaftler des PIK und von Climate Analytics hatten den Bericht für die Weltbank erstellt. Mit ihrer Untersuchung bestätigen sie Prognosen anderer Wissenschaftler. Noch bestehe allerdings die Chance, eine Erderwärmung von mehr als zwei Grad zu verhindern. Wenn die Temperatur weit über zwei Grad steige, „laufen wir Gefahr, Kipp-Punkte im Erdsystem zu überschreiten“, sagte PIK-Direktor Hans-Joachim Schellnhuber. So könne zum Beispiel das kilo-meterdicke Eisschild Grönlands schmelzen, mit entsprechenden Folgen für den Anstieg des Meeresspiegels. Schellnhuber zufolge würde die Schmelze Jahrtausende lang dauern, könnte aber schon bald unwiderruflich beginnen. „Der einzige Weg, dies zu vermeiden, ist ein Bruch mit den vom Zeitalter fossiler Brennstoffe geprägten Mustern von Produktion und Konsum.“ Ein solcher Bruch wird allerdings umso teurer, je später er kommt. Klimawandel ist bereits da Dem PIK zufolge sind bereits heute die Folgen des Klimawandels zu spüren. Die Hitzewelle des Jahres 2010 habe in Russland beispielsweise vorläufigen Schätzungen zufolge Tausende von Opfern gefordert, die Ernten um ein Viertel verringert und 15 Milliarden Dollar Schaden verursacht. In einer um vier Grad wärmeren Welt sei das in Teilen der Erde ‚die neue Normalität‘. Dann sei außerdem mit einem deutlichen Anstieg des Meeresspiegels zu rechnen, mit 46 Hitzewellen, einer Zunahme von Wirbelstürmen und dem Aussterben ganzer Arten. Auch die globale Ernährungssicherheit wäre gefährdet. Dem PIK zufolge reagieren wichtige Getreidesorten „überaus empfindlich“ auf höhere Temperaturen. Das könne zu großflächigen Ernteausfällen führen. Dürren oder Überschwemmungen könnten die Lage noch erschweren. Weltbankpräsident Jim Yong Kim forderte mit Blick auf die Studie ‚aggressive‘ Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels. „Die Zeit ist sehr, sehr knapp“, sagte er bei der Vorstellung des Berichts. „Eine um vier Grad wärmere Welt kann und muss verhindert werden. Wir müssen die Erwärmung auf zwei Grad begrenzen.“ Würden Versprechen zum Kampf gegen den Klimawandel nicht eingehalten, könnte die Erderwärmung schon in den 2060er Jahren vier Grad Celsius betragen. Anfängliche Zweifel am von Menschen verursachten Klimawandel sind schon lange ausgeräumt. Die Folgen wie Verwüstung ganzer Regionen, Anstieg des Meeres- Spiegels mit Millionen Klima-flüchtlingen und zunehmenden Stürmen sind hinreichend bekannt. Der Kohlendioxid-Ausstoß ist seit 1990 nochmal um 50% gestiegen. Und dennoch wird die Kluft zwischen Wissen und Handeln immer größer. Auch die Weltklimakonferenz in Doha ist so gut wie gescheitert. Warum nur? Weil wir noch immer glauben, gegen die Natur anstatt mit der Natur arbeiten und wirtschaften zu können. Menschlicher Größenwahn ist der Grund allen Scheiterns. Wir müssen endlich lernen, dass es die Natur besser weiß. II.1.3 Globaler Klima-Risiko-Index veröffentlicht 47 Die meisten Schäden, die durch Extremwetterereignisse verursacht werden, schaffen es oft nicht in die weltweiten Schlagzeilen. Im Gegensatz zu den Zerstörungen von Hurrikan Sandy an der Ostküste der USA werden sie oft kaum in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Im Jahr 2011 jedoch waren ärmere Entwicklungsländer durch-schnittlich deutlich schwerer als Industrieländer betroffen, wie der neue Globale Klima-Risiko-Index von Germanwatch zeigt. Auf der Rangliste, die auf dem Klimagipfel in Doha vorgestellt wurde, liegen Thailand, Kambodscha, Pakistan und El Salvador 2011 vorn. Diese Länder waren am stärksten von Extremwetterereignissen betroffen. In Thailand verursachten ungewöhnlich starke Regenfälle einen Schaden von mehr als 75 Milliarden US-Dollar und forderten dabei zudem annähernd 900 Menschenleben. Sven Harmeling, Teamleiter für Internationale Klimapolitik bei Germanwatch: „Schäden und Verluste von Extremwetterereignissen sind bereits heute harte Realität in vielen Entwicklungsländern. Dies zeigen die Untersuchungsergebnisse des Globalen Klima-Risiko-Index. Jüngste Forschungsergebnisse zeigen, dass der Klimawandel ein zunehmender Faktor für die Häufigkeit von besonders heftigen Hitzewellen mit schweren Konsequenzen ist. In Doha brauchen wir ernsthafte Fortschritte in den Verhandlungen zur Reduktion von Treibhausgasen, mehr Geld für die Anpassung an den Klimawandel und den Startschuss für den Aufbau eines internationalen Mechanismus als Reaktion auf trotzdem auftretende Schäden und Verlusten.“ Harmeling hofft, dass die Katastrophe auch in Thailand eine neue Nachdenklichkeit auslöst. „Thailand gehört zu den wenigen relevanten Ländern, die beim UN-Klimasekretariat noch keine konkreten Zusagen eingereicht haben, um zumindest ihren Emissionsanstieg zu mindern“, fügt Sven Harmeling hinzu. Auf der Langzeit-Rangliste von 1991 bis 2011 hatten Honduras, Myanmar und Nicaragua besonders viele Schäden und Todesfälle zu beklagen. Zum ersten Mal landet Bangladesch nicht mehr unter den ersten drei Ländern, sondern verbessert sich auf Rang vier. Sven 48 Harmeling: „Die Sturmkatastrophe von 1991 mit mehr als 140.000 Todesfällen ist nun nicht mehr in der Analyse der letzten 20 Jahre berücksichtigt. Zudem ist das Land auch eines der wenigen armen Länder, das zahlreiche Maßnahmen mit und ohne externe Unter-stützung durchgeführt hat, um sich besser auf den Klimawandel vorzubereiten. Bangladesch zeigt, dass aktive Anpassung hilft, um Schäden und Verluste zu reduzieren.“ II.1.4 Kohlestrom hat keine Zukunft - Klimaschutz jetzt! Auch der größere Wettbewerb auf dem Strommarkt gepaart mit den Zuwächsen an erneuerbaren Energien macht Kohlemeiler inzwischen wirtschaftlich unattraktiv. Aber Entwarnung kann trotzdem nicht gegeben werden: Weiterhin werden in Deutschland neue Kohle-kraftwerke gebaut und geplant. Und auch die Kohle-Lobby hat längst noch nicht aufgegeben: Das einträgliche Geschäft mit dem dreckigen Kohlestrom soll für RWE, Vattenfall und Co. noch möglichst lange erhalten bleiben. Doch nicht nur die großen Energiekonzerne halten eisern an Kohleverstromung fest, sondern auch die Bundesregierung und einschlägige Landesregierungen wie Brandenburg und Sachsen, die vor allem die dortige Braunkohlewirtschaft ‚retten‘ wollen. Der Bundeswirtschaftsminister schlug sogar vor, neue Kohlekraftwerke zu subventionieren. Dabei sind Investitionen in neue Kohlekraftwerke ökologisch wie wirtschaftlich eine massive Fehlentscheidung. Denn es gibt keine klimaschädlichere Art der Stromerzeugung als die Verbrennung von Kohle. Zum Vergleich: Kohlekraftwerke sind mehr als doppelt so klimaschädlich wie moderne Gaskraftwerke. Die großen Dampfwolken aus den Kühltürmen der Kraftwerke machen ein anderes Problem deutlich: Mehr als die Hälfte der eingesetzten Energie geht meist als ungenutzte Wärme verloren. 49 Mit ihren hohen Investitionskosten sind Kohlekraftwerke zudem auf eine sehr lange Nutzungsdauer von über vierzig Jahren ausgelegt. Wenn jetzt neue Kohlekraftwerke gebaut werden, legen sie einen hohen Sockel klimaschädlicher Emissionen für Jahrzehnte fest. Außerdem passen sie technisch als träge Grundlastkraftwerke nicht zum schnell wachsenden Anteil an erneuerbaren Energien. Die Erneuerbaren brauchen zur Ergänzung hoch flexible Kraftwerke, die rasch auf die schwankenden Mengen an Wind- oder Solarstrom reagieren können. Um wirtschaftlich zu sein, müssten Kohlekraftwerke außerdem möglichst rund um die Uhr Strom liefern können – auch hier machen ihnen die stetig wachsenden Erneuerbaren einen Strich durch die Rechnung. Das zeigt, Braun- und Steinkohlekraftwerke passen nicht mehr in das Energiesystem, sie sind die Auslaufmodelle der Energieerzeugung. Daraus folgt: Will Deutschland seine Klimaziele und die Energie-wende schaffen, muss die Bundesregierung den Neubau von Kohle-kraftwerken stoppen und für das klimaverträgliche Abschalten der alten Kohlemeiler sorgen. II.1.5 Energieausblick 2030 Im Herbst 2012 erregte der World Energy Outlook der Internationalen Energie Agentur (IEA) mit einer Studie sehr viel Aufsehen: Darin halten es die Experten für möglich, dass die USA bei der Energie-versorgung komplett unabhängig von Importen werden können. Dieses heute noch sehr unwahrscheinliche Szenario soll bis zum Jahr 2030 möglich sein. Ähnliche Überlegungen stellt wenige Monate später auch der Ölkonzern BP in seinem Energy Outlook 2030 an. Doch diese Studie bietet noch sehr viel mehr aufschlussreiche Fakten zur weiteren Entwicklung des Energiemarktes. Sicherlich muss man bei BP als Herausgeber der Studie auch immer eigene Interessen vermuten, die 50 ein Ölmulti nun einmal hat. Doch das der globale Ölmarkt vor einer massiven Verschiebung in den nächsten Jahren und Jahrzehnte steht, ist wohl kaum zu bestreiten. Zunächst einmal erklären die BP-Experten einleuchtend, warum der globale Energiebedarf bis 2030 massiv steigen wird. Das liegt schlicht und einfach an der weiter steigenden Weltbevölkerung: Bis 2030 werden bis zu 8,3 Mrd. Menschen den Erdball bevölkern. Das sind noch einmal knapp 1,3 Mrd. mehr als derzeit. Gleichzeitig wird sich die weltweite Wirtschaftsleistung bezogen auf das Niveau von 2011 bis 2030 nahezu verdoppeln. BP rechnet daher mit einem Anstieg der Energienachfrage um 1,6% pro Jahr. Ausgehend vom aktuellen Niveau würde dafür 36% mehr Energie im Jahr 2030 benötigt. Damit würde sich das Wachstum sogar etwas verlangsamen, denn zwischen 2000 und 2010 wuchs die jährliche Energienachfrage um 2,5%. Entscheidend sind die heute aufstrebenden Länder: Die Nicht-OECD Länder werden laut BP bis 2030 nicht nur für 90% des Bevölkerungswachstum sorgen. Auch beim Energiehunger werden die aufstrebenden Länder mit 90% den Löwenanteil für sich verbuchen. Sehr spannend ist auch der Blick auf die Entwicklung der ver-schiedenen Energieträger: So werden die regenerativen Energieträger bis 2030 mit 7,6% pro Jahr ganz klar am stärksten wachsen. Danach folgt schon die Atomenergie mit einem Zuwachs von 2,6%. Bei den fossilen Brennstoffen wird wohl laut BP die Gasnachfrage mit 2% pro Jahr deutlich stärker wachsen als die Kohlenachfrage (+1,2%) und die Ölnachfrage (+0,8%). Der Blick auf die Entwicklung der Sektoren hält auch einige Überraschungen parat: So erwartet BP beim so wichtigen Trans-portsektor das insgesamt schwächste Wachstum. Für die OECD Länder wird von den Experten sogar eine nachlassende Nachfrage erwartet. Zudem wird es wohl einen Trend weg vom klassischen 51 Benzin hin zu alternativen Treibstoffen wie Erdgas oder sogar anderen Antriebsformen wie Elektrofahrzeugen geben. Doch die entscheidende Frage lautet doch jetzt: Kann denn die steigende Nachfrage auch tatsächlich gedeckt werden? Neuerdings ist ein Wort in aller Munde: Fraking. Schiefergas und-öl, die sogenannten unkonventionellen Erdgas- und Ölvorkommen, die durch Aufbrechen (Fracking) von Tiefengestein erschlossen werden, haben die USA nicht nur zu einer neuen Energienation gemacht und ihre Importabhängigkeit sehr reduziert. Die Flut neuer Vorkommen hat vor allem die Energiepreise kräftig ins Rutschen gebracht. Kostete 2008 Gas in den USA noch fast 14 Dollar je Energieeinheit BTU, fiel der Preis bis Mitte vergangenen Jahres auf unter drei Dollar. Mit aktuell knapp vier Dollar ist Erdgas um 60 Prozent billiger als in Europa und um 80 Prozent als in China. Diese Energie ist in jeder Hinsicht unkonventionell. Denn sie hilft einer ganzen Volkswirtschaft wieder auf die Beine weil Energie plötzlich so billig ist, steht Amerika vor einem neuen Industrieboom. Ganze Branchen werden davon profitieren. Die Industrie jubelt: Billige Energie habe das Potenzial, die Wirtschaft weltweit, vor allem aber in den USA, neu unter Dampf zu setzen, sagt Andrew Liveris, Chef des US-Chemiekonzerns Dow Chemical. Überall im Land entstehen neue Fabriken und Fertigungsanlagen. Selbst abgewirtschaftete Industrie-regionen wie Detroit könnten dank der Energie, die den Stahl für Automobile billiger macht, mittelfristig in neuem Glanz erstrahlen. Deutschland hält sich bei dem Thema ‚Fracking‘ im Frühjahr 2013 noch bedeckt, weltweit ist aber zwischenzeitlich das Frackingfieber ausgebrochen. Und neue Potenziale werden die obigen Feststellungen vom Tisch wischen – wenn auch nur für eine Übergangszeit von ein zwei vielleicht auch drei Jahrzehnten. An der grundsätzlichen Aussage, dass die Öl- und Gasvorkommen endlich sind ändert das nichts. Aber es ist auch eine Chance für die notwendige Energiewende. Wir haben etwas mehr Zeit. 52 II.1.6 Agrar-Ausblick Im Rohstoffsektor lohnt sich auch mal der Blick über den Tellerrand hinaus. Und dieses Bild passt beim Agrarsektor besonders gut. Wie sieht die fundamentale Einschätzung des Agrarmarktes aus? Im Grund lässt es sich auf eine ganz einfache Formel bringen: Immer mehr Menschen benötigen immer mehr Lebensmittel. Gleichzeitig schrumpft aber weltweit die landwirtschaftliche Nutzfläche. Allein schon aus diesem Grund ist mit einer steigenden Nachfrage bei Agrargütern zu rechnen aber gleichzeitig auch mit steigenden Preisen. Doch bei den Agrargütern spielen noch weitere Dinge eine Rolle, die auch für eine steigende Nachfrage sorgen. So steigt der Anteil der tierischen Proteine an der Ernährung. Und genau dafür werden sehr große Mengen Getreide vor allem als Futtermittel benötigt. Zum Beispiel: Für ein Pfund Rindfleisch werden 30 Pfund Getreide als Futtermittel benötigt. Bei Schweinefleisch hingegen werden bis zu 12 Pfund Sojabohnen für ein Pfund Fleisch benötigt. Bei der weiter hin steigenden Weltbevölkerung und dem wachsenden Wohlstand in vielen Ländern wird das auf Jahre hinaus für eine Nachfragesteigerung bei den Getreiden sorgen. Je größer die Nachfrage desto größer sind auch die Ansprüche an die Ernteergebnisse: Und hierfür sind hochwertige Düngemittel nötig. Doch die Quellen dafür nehmen auch ab, was für steigende Preise sorgen wird. Ein weiterer wichtiger Kostenfaktor ist Öl und Treibstoff. Da es auch hier kaum eine Entspannung geben wird, dürfte das schon heute hohe Preisniveau beim Öl auch einen Preiseffekt bei den Getreiden haben. Und auch durch die immer weiter fortschreitende Technisierung der Landwirtschaft ergeben sich weitere Herausforderungen: Schon zuletzt hat sich ein immer größerer Anteil der Krankheitserregern bei Pflanzen resistent gegen Gifte gezeigt. Für die Zukunft heißt das größere 53 Ausfälle bei den Ernten, die wiederum Auswirkungen auf die Preise haben. Trotz der fortschreitenden Technisierung der Landwirtschaft ergibt sich aber nur noch eine begrenzte Steigerung der Produktivität. Der Ertrag pro Hektar wird dabei aber wohl nicht mit der steigenden Nachfrage Schritt halten können. Und hinzukommen auch noch die nicht abzusehenden langfristigen Folgen von extensiver Land-wirtschaft und dem jahrelangen Einsatz von modernen Düngemitteln und Pestiziden. Bei diesen Voraussetzungen ist eins klar: Mittel- bis langfristig wird es weitere Preisentwicklung bei den Agrargütern geben. II.1.7 Fazit: „Wenn die Erde eine Bank wäre … …ihr hättet sie längst gerettet“ schrieb Sir Nicholas Stern bereits im Sommer 2009 in seinem Buch „Der global Deal – wie wir dem Klimawandel begegnen“. Im Zuge der nicht enden wollenden Bankenrettung ist der Begriff der Systemrelevanz immer und immer wiederholt worden. Gehen gewisse Geldhäuser pleite, dann geht das System vor die Hunde. Dies gilt es mit allen Mitteln zu verhindern. Schaut man auf das Klima, muss man ebenfalls von Systemrelevanz sprechen. Bezogen auf die Menschheitsgeschichte ist dies jedoch wesentlich bedeutender als die schöne Bankenkrise. Bricht unser ‚soziales‘ Wirtschaftssystem zusammen, bedeutet das eine ökonomische Katastrophe für so manchen. Wer letztlich am meisten an den Folgen leiden müsste ist jedoch unklar. Auch die Dauer des Ökonomie-Desasters lässt sich schwer vorhersagen. Ganz anders bei der Klimakatstrophe. Ein Weiter-so betrifft letztendlich jeden, die dramatischen Folgen sind vor allem eines: Unumkehrbar. Das Klima ist für die Erde systemrelevant, die Erde für 54 uns ebenso. Der menschliche Organismus kann sich, im Gegensatz zu Wirtschaftssystemen, nicht anpassen. Ein Neustart ist nicht möglich. II.2 Der demographische Wandel in Deutschland Deutschland ist das mit Abstand bevölkerungsreichste Land der Europäischen Union. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges ist die Zahl der Einwohner von damals 68 Millionen auf mittlerweile 82 Millionen angewachsen. Warum also sollte man sich um die deutsche Be-völkerungsentwicklung Sorgen machen? Weil die bevorstehenden demografischen Veränderungen ohne historisches Beispiel sind und deshalb keine Erfahrungen mit den Auswirkungen und keine Konzepte zum Umgang mit diesen Veränderungen existieren. Statt mit Wachstum ist in Zukunft zunächst mit einer starken Zunahme des Anteils älterer Menschen und dann mit einem deutlichen Bevölkerungsrückgang zu rechnen. Beide Phänomene sind für Deutschland unvermeidlich. Denn seit 30 Jahren liegt die Zahl der Kinder je Frau bei nur noch etwa 1,4 – damit ist jede Kindergeneration um ein Drittel kleiner als die ihrer Eltern. Die Bevölkerungszahl in Deutschland geht zurück, gleichzeitig steigt der Altersdurchschnitt. Bereits in den kommenden zwei Jahrzehnten werden die Auswirkungen spürbar sein, sagen Experten voraus. Die Sozialsysteme werden enorme Belastungen tragen müssen. Es wird in vielen Berufszweigen an Nachwuchskräften mangeln. Die regionalen Unterschiede werden sich verstärken - es wird ‚Schwundregionen‘ und ‚Wachstumsinseln‘ geben. Ideen zum Umgang mit der Schrumpfung gibt es, allerdings werden sie bisher nicht konsequent umgesetzt. Unabhängig von der absoluten Bevölkerungszahl wird sich das Verhältnis von jüngeren zu älteren Menschen stark verändern. Die Zahl der Personen im heute üblichen Erwerbsalter zwischen 20 und 60 Jahren wird bis 2050 um mehr als ein Fünftel abnehmen, die der unter 20-Jährigen sogar um 30 Prozent. Gleichzeitig steigt der Anteil der 55 über 60-Jährigen an der Gesamtbevölkerung von heute 25 auf dann 37 Prozent. So erfreulich es für jeden Einzelnen ist, ein längeres Leben bei guter Gesundheit zu verbringen, so wenig ist die Gesellschaft auf die damit verbundenen Kosten vorbereitet. Bereits heute ist das Umlage-finanzierte Rentensystem – die gegenwärtig Erwerbstätigen zahlen mit ihren Beiträgen die Renten der Älteren – auf das Äußerste belastet. Denn es gibt zu wenige Einzahler. 80 Milliarden Euro müssen bereits jährlich aus Steuermitteln zugeschossen werden. Schuld daran ist noch nicht die demografische Entwicklung, sondern der desolate Zustand des deutschen Arbeitsmarktes. Das eigentliche demografische Problem der Rentenkassen steht noch bevor: Wenn die geburtenstarken Jahrgänge etwa von 2015 an in den Ruhestand gehen, wird sich das Verhältnis von potenziellen Einzahlern zu Rentenempfängern, also das Verhältnis der 20- bis 60-Jährigen zu den Älteren, von heute etwa 100 zu 45 bis auf etwa 100 zu 80 im Jahr 2050 verändern. Weniger Erwerbstätige belasten jedoch nicht nur die sozialen Sicherungssysteme, der Schwund kann auch negative Auswirkungen auf Wirtschaftswachstum und die Innovationsfähigkeit der Gesell-schaft haben. Die ökonomische Entwicklung einer Gesellschaft wird im Wesentlichen aus drei Quellen gespeist: Dem Produktionskapital, der Zahl der Arbeitskräfte und dem technischen Fortschritt. Unter dem Motto „Wir leben länger. Wir werden weniger. Wir werden vielfältiger“ umreißt das „Wissenschaftsjahr 2013 – Die demografische Chance“ diese Herausforderungen in drei Handlungsfeldern. Für jeden Bereich sollen konkrete Ansätze und Lösungen präsentiert werden. Wie sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft den Veränderungen stellen und sie für sich nutzen können, steht im Mittelpunkt der Diskussion. • Wir leben länger: Dank des medizinischen Fortschritts und einer bewussteren Lebensweise werden immer mehr Menschen nicht nur älter, sie bleiben auch länger gesund. Dies gibt vielen 56 • • Menschen die Möglichkeit, nach dem Renteneintritt aktiv einen weiteren Lebensabschnitt zu beginnen. Doch welche Be-dürfnisse haben die neuen Alten? Wie kann die Gesellschaft von ihren Fähigkeiten profitieren? Gleichzeitig werden wir immer weniger: Damit Unternehmen auch in Zukunft neue Talente gewinnen und erfahrene Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen halten können, müssen sie Arbeit anders organisieren und Fachkräfte aus dem Ausland besser integrieren. Wie kann es uns gelingen, Beruf und Freizeit besser auszubalancieren? Wie können Frauen Karriere machen – ohne dafür auf Kinder zu verzichten? Schließlich wird unsere Gesellschaft immer vielfältiger, weil Migranten eine immer wichtigere Rolle im Wirtschaftsleben spielen und sich zudem unsere traditionellen Familienkonzepte verändern. Doch wie organisieren wir diese kulturelle und soziale Vielfalt? Wie bringen wir Individualisierung und gesellschaftlichen Zusammenhalt in Einklang? II.2.1 Wir leben länger Mit jedem Jahr steigt die Lebenserwartung der Menschen in Deutsch-land im Durchschnitt um drei Monate. Gegenüber der Generation unserer Großeltern hat sich unsere Lebenszeit bereits um mehr als ein Drittel erhöht. Aber wie gestalten wir diese Zeit? Wie bleiben wir gesund und kreativ? Welche Antworten können Wissenschaft und Forschung auf diese und weitere Fragen bieten, die ein längeres Leben aufwerfen? Vor ein paar Jahren noch exotische Ausnahmen, werden Hundertjährige allmählich Teil der gesellschaftlichen Normalität: Schon heute überschreiten fünfmal mehr Menschen das hundertste Lebensjahr als noch vor 30 Jahren. Von den derzeit 82 Millionen Einwohnern in Deutschland werden voraussichtlich 8 Millionen älter als 100 Jahre. Unsere Lebenserwartung steigt und mit ihr wandelt sich auch unser Verhältnis zum Alter. Denn wir werden nicht nur älter, der 57 Alterungsprozess setzt auch später ein. Wer heute 65 Jahre alt ist, wird im Schnitt noch mindestens weitere 15 Jahre selbstbestimmt leben können. Der Renteneintritt wird somit nicht mehr als Beginn des Lebensabends wahrgenommen, sondern als Chance, sich in einem neuen Lebensabschnitt weiterzuentwickeln. Das stellt Wissenschaft und Forschung vor neue Herausforderungen: Welche Bedürfnisse haben die neuen Alten? Wie kann die Gesellschaft von ihnen profitieren? Und was heißt das heute überhaupt: alt sein? Als Grundlage bauen Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung gemeinsam mit internationalen Partnern eine Datenbank zur Langlebigkeit auf. Die Sammlung enthält umfassende Informationen zu Menschen, die mit mehr als 110 Jahren ein sehr hohes Alter erreicht haben. Die Forscher erhoffen sich dadurch bessere Erkenntnisse über den Schlüssel für ein langes Leben. Wichtigste Treibkraft der steigenden Lebenserwartung ist unbestritten der medizinische Fortschritt. Aber auch eine gesündere Ernährung und viel Bewegung ermöglichen ein längeres gesundes Leben. Wie wir uns möglichst lange fit halten, ist zu einem zentralen Forschungsfeld geworden. So belegte ein deutsches Wissenschaftlerteam unlängst, dass Training im Fitness-Studio auch sehr alten Menschen schon nach wenigen Wochen helfen kann, ihr Knochengerüst zu stabilisieren und damit der Gefahr von Stürzen vorzubeugen. Forscher haben zudem herausgefunden, dass unser Gehirn bis ins hohe Alter noch lernfähig ist. Dazu muss es jedoch regelmäßig trainiert werden. Die Bildungs-politik setzt deshalb verstärkt auf lebenslanges Lernen. Wer dennoch pflegebedürftig wird, möchte meist so lange wie möglich in seiner vertrauten Umgebung bleiben. Wissenschaftler und Wissen-schaftlerinnen des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen IIS untersuchen, wie unser Lebens- und Wohnumfeld aussehen muss, damit wir unser Leben auch im hohen Alter weitestgehend selbst-ständig verbringen können. Eine barrierefreie und seniorengerechte Umwelt sowie bessere technische Vernetzung vereinfachen dabei die ambulante Versorgung. Neue Konzepte, wie die vom Bund geförderten Pflege-Wohngemeinschaften, brechen die 58 klassischen Vorstellungen vom Leben im Alter auf: Wir leben nicht nur länger, sondern gestalten unser Alter auch aktiver. II.2.2 Wir werden weniger Bis zum Jahr 2050 wird die Bevölkerung in Deutschland um rund sieben Millionen Menschen auf insgesamt 75 Millionen schrumpfen, hat das Statistische Bundesamt berechnet. Die demografische Ent-wicklung und der fortschreitende Strukturwandel werden unsere Gesellschaft spürbar verändern. Ob auf Kommunal-, Landes- oder Bundesebene, für ganz Deutschland gilt: Es wird immer weniger zu verteilen geben. Der Druck auf die gewachsenen politischen und sozialen Strukturen steigt. Im Osten Deutschlands lässt sich einiges über den Umgang mit dem Wandel lernen. Bevölkerungsrückgang und wirtschaftliche Umbrüche haben dort im Zeitraffer vorweggenommen, worauf sich in naher Zukunft auch die meisten anderen Regionen einstellen müssen. Die Babyboomer gehen in Rente: Wenn die Generation der heute 50-Jährigen in knapp zwei Jahrzehnten den Ruhestand erreicht, stehen die Unternehmen gleich vor zwei großen Herausforderungen - neue, qualifizierte Nachwuchskräfte zu finden und die älteren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen möglichst lange an sich zu binden. Wie erfolg-reich sie damit sind, wird mit darüber entscheiden, ob wir auch künftig unsere Wirtschaftskraft erhalten. Deutschlands Geburtenrate ist anhaltend niedrig. Wir leben also nicht nur immer länger, wir werden auch immer weniger. Der Rückgang der Bevölkerung verläuft je nach Region sehr unterschiedlich: Während einige Städte deutlich wachsen, dünnen manche Landstriche empfindlich aus. Die demografische Entwicklung stellt unser Land vor große Herausforderungen: Wie können wir Wachstum und Wett-bewerbsfähigkeit sichern, wenn dafür immer weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen? Welche Auswirkungen hat der 59 demografische Wandel auf unseren Wohlstand? Und: Was bedeutet er für die Zukunft unserer Arbeit? Ob Unternehmen, Institute oder Universitäten: Im weltweiten Wettbewerb um die klügsten Köpfe steht Deutschland gut da. Wir sind sehr erfolgreich darin, mit innovativen Technologien, Produkten und Dienstleistungen neue Lösungen zum Wohle des Menschen zu finden sowie mit einer starken industriellen Basis im internationalen Wettstreit zu bestehen. Staat und Wirtschaft investieren einen steigenden Anteil des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung – und tragen so dazu bei, dass neue attraktive Arbeitsplätze für hoch qualifizierte Fachkräfte entstehen. Übung macht den Meister, lautet ein altes Sprichwort. Heute müsste es heißen: Bildung macht den Meister – als Keimzelle jeder Innovation und wichtigste Ressource, unsere Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Je weniger Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen künftig zur Verfügung stehen, desto entscheidender wird die Qualifikation jedes Einzelnen. Die Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft gehört zu einer der Stärken des deutschen Innovationssystems: Wo Universitäten forschen, werden Institute und Firmen ausgegründet, die Ideen zu Anwendungen und Produkten entwickeln. So untersucht zum Beispiel das Forschungsprojekt RegDemo unter Federführung des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, welchen Einfluss Universitäten auf die wirtschaftliche Entwicklung von Regionen haben, in denen der demografische Wandel besonders spürbar ist. Um auch bei abnehmender Bevölkerung in Zukunft genügend leistungsfähige und qualifizierte Mitarbeiter beschäftigen zu können, müssen die Unternehmen umdenken. Neben der stärkeren Einbindung von Frauen und ausländischen Fachkräften liegt die größte Heraus-forderung darin, die Arbeitnehmer möglichst lange im Betrieb zu halten und deren Wissen zu sichern. Viele Firmen fördern durch spezielle Weiterbildungs- oder Fitnessprogramme die geistigen und körperlichen Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter. Angesichts einer alternden Belegschaft kommt der Prävention eine Schlüsselrolle zu: So haben mehrere deutsche Autobauer Programme zum 60 Gesundheitsmanage-ment und zur ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung gestartet, um ihren älteren Beschäftigten ein möglichst attraktives Arbeitsumfeld zu bieten. Genauso wichtig ist der Erfahrungsaustausch zwischen den Generationen. Hier knüpft das Forschungsprojekt TANDEM an, das den Kompetenz- und Erfahrungsaustausch zwischen älteren und jüngeren Mitarbeitern sicherstellen soll. Kurzum: Der Rat der Weisen ist gefragt. Je weniger wir werden, desto öfter. II.2.3 Wir werden immer vielfältiger Unsere Gesellschaft wird immer facettenreicher. Fachkräfte aus dem Ausland bereichern Deutschland kulturell und stärken unsere Wirtschaftskraft. Neue Formen des Zusammenlebens entstehen über Altersgrenzen hinweg. Forscher befassen sich mit der Frage, wie wir diese neue Vielfalt am besten gestalten können. Immer mehr Jungunternehmer haben einen Migrationshintergrund. In nur fünf Jahren hat sich der Anteil der Einwanderer unter den Unternehmensgründern in Deutschland verdoppelt. Jährlich schaffen Migranten tausende neue Jobs. Aber auch die Erwerbsbiografien ändern sich: Angesichts des demografischen Wandels ist es im fortgeschrittenen Alter keine Seltenheit mehr, sich beruflich weiter zu entwickeln. Unser Land wird vielfältiger – und davon profitieren wir nicht nur kulturell, sondern auch volkswirtschaftlich. Zahlreiche Unternehmen haben dieses Potenzial längst erkannt. Bei dem badischen Software-Dienstleister SAP arbeiten Menschen aus mehr als 75 Nationen. Um seine personelle Vielfalt zu fördern, setzt das Unternehmen auf interkulturelle Mitarbeiternetzwerke. Diese treffen sich regelmäßig, organisieren Schulungen und richten internationale Feste aus. Das Stichwort heißt Diversity Management. Auch für den Pkw-Hersteller Ford, der in Deutschland an vier Standorten vertreten ist, steht eine durchmischte Belegschaft ganz oben auf der Agenda. So schult das Unternehmen seine Führungskräfte 61 gezielt, die kulturellen Unterschiede der Mitarbeiter und Mit-arbeiterinnen zu beachten. Mittlerweile haben bereits 40 Prozent der Ford-Auszubildenden am Standort Köln einen Migrationshintergrund. Ziel dieser Bemühungen ist, vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft alle Bevölkerungsgruppen fit für den Wandel zu machen. So können wir unsere Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit sichern. Hier schafft die Wissenschaft wichtige Voraussetzungen: Unter welchen Bedingungen Frauen aus Einwanderfamilien in Deutschland erfolgreich sind, untersuchen etwa zum Beispiel Forscherinnen und Forscher der Fachhochschule Bielefeld. Anhand von Lebensläufen ermitteln sie Aufstiegsfaktoren und Karrierebremsen, um anschließend Empfehlungen für die zukünftige Personalentwicklung geben zu können. Auch das Familienleben wandelt sich grundlegend. Die steigende Lebenserwartung ermöglicht Urgroßmüttern und Urgroßvätern immer häufiger, ihre Urenkelinnen und Urenkel bis in die Schulzeit oder gar bis ins Studium zu begleiten. Dadurch kommt ein neuer Wissens-transfer zwischen Jung und Alt in Gang. Neue Konzepte, wie das vom Bund geförderte Mehrgenerationenhaus, stärken dabei das alters-übergreifende Zusammenleben. Forschungseinrichtungen und Hoch-schulen untersuchen, wie unsere Gesellschaft am besten von diesen Trends profitieren kann. Denn nur wenn wir verstehen, wie wir unsere gesellschaftliche Vielfalt nutzen können, wird der demografische Wandel zur Chance für Deutschland. II.2.4 Demographie und Erwerbsbeteiligung Carsten Pohl von der IAB-Regional Nordrhein-Westfalen hat die Auswirkungen des demographischen Wandels auf den Arbeitsmarkt untersucht (Bericht 1/2013) und kommt zu folgendem Schluss: „In der Diskussion über die Auswirkungen des demografischen Wandels auf den Arbeitsmarkt werden häufig ausschließlich zukünftige Entwicklungen thematisiert. Allerdings können Veränderungen in der Alters-Zusammensetzung der Bevölkerung 62 bereits seit längerer Zeit beobachtet werden. In der vorliegenden Studie wird daher untersucht, ob in den vergangenen 15 Jahren in Nordrhein-Westfalen ein Zusam-menhang zwischen der Veränderung der Altersstruktur der Erwerbsbevölkerung, der Erwerbsbeteiligung und Erwerbslosigkeit bestand. Insgesamt ist die erwerbsfähige Bevölkerung, d. h. die Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren, in Nordrhein-Westfalen im Zeitraum von 1996 bis 2011 um 314.000 Personen geschrumpft. Gleichzeitig ist jedoch die Erwerbsbeteiligung, insbesondere von Frauen, gestiegen, so dass sich die Zahl der Erwerbspersonen in dieser Altersklasse im betrachteten Zeitraum um 837.000 auf nunmehr 8,686 Millionen erhöht hat. Neben dieser absoluten Veränderung der Erwerbspersonen hat sich deren Altersstruktur deutlich verändert. Rund 59 Prozent aller Erwerbspersonen waren in 2011 zwischen 40 und 64 Jahre alt, während deren Anteil 1996 noch bei knapp 47 Prozent lag. Ursächlich für diese Veränderungen sind die Alterung der geburtenstarken Jahrgänge sowie eine höhere Erwerbsbeteiligung der Älteren. Die Erwerbslosenquote ist im Zeitraum von 1996 bis 2011 um 0,8 Prozentpunkte auf rund 6,5 Prozent gesunken. Die Verschiebung der Altersstruktur hat positiv zu dieser Entwicklung beigetragen, fiel aber quantitativ kaum ins Gewicht. Unter sonst gleichen Bedingungen läge die Erwerbslosenquote lediglich um 0,2 Prozentpunkte höher. Auch die in Zukunft zu erwartende Veränderung der Altersstruktur der erwerbsfähigen Bevölkerung in Nordrhein- Westfalen dürfte nur einen geringen Effekt auf die gesamte Erwerbslosenquote haben. Zu spürbaren Effekten auf dem Arbeitsmarkt käme es nur dann, wenn die altersspezifischen Erwerbslosenquoten sinken.“ Fazit Kapitel II: Die ökonomische Entwicklung einer Gesellschaft wird im Wesent-lichen aus drei Quellen gespeist: Dem Produktionskapital, der Zahl der Arbeitskräfte und dem technischen Fortschritt. Die Begrenztheit der ökologischen Ressourcen weltweit und die Begrenztheit gut ausgebildeter Arbeitskräfte in den alten Industrie-ländern wie Deutschland werden unmittelbare Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung haben. 63 III.0 Wandel der Arbeit Die Europäische Union durchlebt eine der schwersten Krisen seit Jahrzehnten. Stark divergente Wirtschaftsentwicklungen, gerade auch innerhalb der Europäischen Währungsunion, haben einen massiven Bedarf für die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit vor allem in den Ländern der südlichen Peripherie geschaffen. Die Arbeitsmärkte in den EU-Ländern sind sowohl ein Indikator für die Divergenz als auch ein mögliches Anpassungsventil. Flexible Arbeitsmärkte sind eine wichtige Funktionsvoraussetzung für den gemeinsamen Binnen-markt und vor allem für die Währungsunion, wie die Theorie optimaler Währungsräume schon lange lehrt. Wie flexibel sind die Arbeitsmärkte in der E(W)U? Welche Wandlungsfähigkeit besitzen die jeweiligen europäischen Wirtschafts- und Sozialmodelle? Welche nationalen sowie europaweiten arbeitsmarktpolitischen Lösungsansätze sind vorstellbar? III.1 So viele Arbeitslose wie noch nie Meldung vom 2. April 2013: „Eine Tragödie für Europa“: Die Arbeitslosigkeit in den 17 Euro-Ländern hat den höchsten Stand seit elf Jahren erreicht. Betroffen sind vor allem junge Menschen im Süden. Im Februar waren 19,07 Millionen Menschen in der Eurozone ohne Job. Das meldete die europäische Statistikbehörde Eurostat. Damit ist wegen der andauernden Schuldenkrise ein neuer Rekord-stand seit der Euro-Bargeldeinführung im Januar 2002 erreicht. Die Arbeitslosenquote im Eurogebiet betrug im Februar zwölf Prozent - auch das ist ein neuer Höchststand. Die Quote war bereits im Januar auf 12,0 Prozent geklettert, die Statistiker hatten jedoch zunächst 11,9 64 Prozent gemeldet. Nun korrigierten sie nachträglich ihre Angaben. In der gesamten EU mit 27 Staaten betrug die Quote 10,9 Prozent. EU-Arbeitskommissar Laszlo Andor nannte die Zahlen inakzeptabel und sprach von einer „Tragödie für Europa“. Er ließ über seine Sprecherin erklären: „Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen alle verfügbaren Mittel anwenden, um Arbeitsplätze zu schaffen und wieder zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum zu kommen.“ In den Euro-Ländern waren im Februar knapp 1,8 Millionen Menschen mehr arbeitslos als ein Jahr zuvor. Besonders schwierig ist die Lage in den südeuropäischen Krisenländern. Griechenland und Spanien melden über 26 Prozent Arbeitslose, in Portugal sind es 17,5 Prozent. Ganz hart trifft es die Jungen: Über die Hälfte der jungen Menschen unter 25 Jahren in Griechenland und Spanien ist ohne Job. In Portugal und Italien ist es statistisch mehr als jeder Dritte. Im Schnitt liegt die Jugendarbeitslosigkeit in der Eurozone bei 23,9 Prozent. Genau ein Jahr zuvor waren 22,3 Prozent der jungen Menschen unter 25 Jahren arbeitslos. Wegen der Wirtschafts- und Schuldenkrise in vielen Ländern könnten die Zahlen laut Experten noch weiter ansteigen. Deutschland meldete mit 7,7 Prozent die niedrigste Jugend-Arbeitslosenquote der Euro-Länder, gefolgt von Österreich (8,9 Prozent) und den Niederlanden (10,4 Prozent). Mit 5,4 Prozent Arbeitslosigkeit hat Deutschland auch insgesamt einer der niedrigsten Quoten im Euroraum. Nur Österreich steht mit 4,8 Prozent noch besser da. Die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten berieten bereits mehrfach über die dramatische Lage von Berufsanfängern. Helfen soll eine sogenannte Jugendgarantie. Danach soll jeder junge Mensch unter 25 Jahren in Europa innerhalb von vier Monaten einen Job haben oder eine Ausbildung beginnen können. Es handelt sich dabei eine Selbstverpflichtung der Länder. 65 Auch für Praktikumsplätze oder die Teilnahme an Weiterbildungen wollen die EU-Länder sorgen. Dafür sollen in den kommenden Jahren insgesamt sechs Milliarden Euro fließen. Voraussetzung ist jedoch, dass sich die 27 EU-Staaten und das EU-Parlament auf den mehr-jährigen Finanzrahmen der Union einigen, der von 2014 bis 2020 läuft. Ein Kompromiss dafür ist im Frühjahr 2013 noch nicht in Sicht. Die Fachminister der EU-Staaten hatten bereits grünes Licht für die Jugendgarantie gegeben, auch das EU-Parlament sprach sich dafür aus. Die Staatenlenker bekannten sich zum Abschluss des Gipfels im März ebenfalls dazu. III.1.1 Dynamik der Arbeitslosigkeit Christina Wübbeke kommt in einem Beitrag im Journal for Labour Market Research, Vol, No. 1, S. 61 – 82 zu folgendem Ergebnis: „Die Arbeit untersucht die Dynamik der Arbeitslosigkeit in Deutschland. Um einen tieferen Einblick in die Bestimmungsgründe der Schwankungen der Stromgrößen am Arbeitsmarkt zu gewinnen, verwenden wir ein strukturelles VAR-Modell und identifizieren die Effekte eines Technologieschocks sowie zweier Politikschocks. Unsere Ergebnisse zeigen, dass der Fluktuationsprozess mit den identifizierten Schocks variiert. Infolge eines Technologieschocks und eines geldpolitischen Schocks spielt die Einstellungsrate eine größere Rolle, während die Entlassungsrate nach einem fiskalpolitischen Schock als dominanter Faktor fungiert. Technologieschocks sind relativ bedeutend für die Schwankungen der Übergangsraten, wenngleich sie nicht die Ursache der hohen Volatilität von deutschen Arbeitsmarktvariablen zu sein scheinen. Die Analyse von Politikschocks deutet auf fiskalische Interventionen als vielversprechendes Instrument hin, jedoch mit diversen Einschränkungen.“ III.1.2 Ältere Arbeitslose am Scheideweg zwischen Erwerbsleben und Ruhestand Mehr Arbeitslose und mehr Erwerbstätige – was auf den ersten Blick verwirrt, haben einen einfachen Grund. Der demografische Wandel ist 66 im Alltag angekommen. Die ‚69Plus-Generation‘ wächst. Die stark besetzten Geburtenjahrgänge, die für die Rentenkasse eine echte Herausforderung werden, kommen in die Jahre. Zudem nähert sich jene erste Frauengeneration dem Rentenalter, für die Erwerbstätigkeit neben Haushalt und Familie selbstverständlich ist. Es gibt Reformen, die sind so unpopulär, das sie zu überraschenden Bündnissen führen. Als die Große Koalition beschloss, die Politik der Frühverrentung nach Jahrzehnten endgültig zu stoppen, protestierten nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Arbeitgeberverbände. Heute, einige Jahre später, ist das Bündnis gekündigt. Inzwischen klopft sich die Arbeitgeberseite auf die Schulter und lobt das vorbildliche Engagement der deutschen Unternehmen. In keinem anderen Land Europas – außer in Schweden – seien ältere Mitarbeiter als Fachkräfte so stark in den Betrieben nachgefragt. Im Jahr 2000 waren nur 11 Prozent der 60 bis 64-Jährigen sozial-versicherungspflichtig beschäftigt, heute sind es fast 30 Prozent. Jenseits der 55 sind es 60 Prozent – mit steigender Tendenz. Die Arbeitgeber sollten allerdings ein wenig zurückhaltender sein, wenn sie sich selbst feiern. Die Ehrenmedaille für ein breites Angebot an altersgerechten Arbeitsplätzen und einer neuen Wertschätzung der Älteren steht ihnen noch nicht zu. Viele Firmen haben erkannt, wie wichtig die Kompetenz älterer Mitarbeiter ist. Studien belegen, dass das Wissen der Jungen und die Erfahrung der Alten in der Teamarbeit durchaus zu innovativen Lösungen führen kann und sich auszahlt. Hinzu kommt: In den nächsten fünf Jahren schrumpft die Zahl der Erwerbstätigen um zwei Millionen. Wer meint, er könne den Bedarf allein durch ausländische Fachkräfte decken, wird sich umgucken. III.2 Zehn Jahre Hartz IV Um zu erfahren, wie es um die wirtschaftliche Zukunft eines Landes bestellt ist, sollte man nicht unbedingt Politiker fragen. Dennoch gibt es Momente, in denen Staatslenker Weitsicht beweisen. Dazu gehört 67 jener flapsige Dialog, der vor zehn Jahren stattfand. „Wann kommt der Aufschwung?“, fragte ein Medienvertreter den Kanzler beim Rundgang auf der CeBIT in Hannover. „Am Freitag“, rief Gerhard Schröder. Selbstverständlich stand nicht der Aufschwung vor der Tür. Aber die Rede, die Schröder vier Tage später, an jenem Freitag, den 14. März, im Bundestag hielt, brachte das Land in den kommenden Jahren voran. Erst einen Tag vor der Regierungserklärung war der Name gefunden: Agenda 2010. Die Kernelemente sind: • • • Leiharbeit / Hartz I: Im Jahr 2003 werden viele gesetzliche Auflagen für zeitarbeitsunternehmen gestrichen. Arbeits-agenturen konnten Personal-Service-Agenturen (PSA) gründen, um Arbeitslose als Leiharbeiter zu vermitteln. Die PSA erwiesen sich als Flop. Aber Leiharbeit boomt. Ich-AG / Hartz II: Aus Millionen Arbeitslosen sollen Klein-unternehmer werden. Wer sich mit einer Ich-AG selbstständig machte, bekommt Zuschüsse. 2006 verschwindet die Ich-AG wieder. Hartz IV: das Arbeitslosengeld II, auch Hartz IV genannt, geht 2005 an den Start. Arbeitslosenhilfeempfänger bekommen weniger als vorher. Arbeitslosengeld I wird nur noch ein Jahr lang gezahlt. Auszüge aus der damaligen Regierungserklärung hallen bis heute nach: „Wir werden, meine sehr verehrten Damen und Herren, Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen. Wir werden eine gewaltige Anstrengung unternehmen müssen, um unser Ziel zu erreichen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt, und wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.“ Im März 2013 blicken viele zurück – angesichts der schwelenden Probleme in Europa. Und die Urteile fallen recht unterschiedlich aus. Die Hartz-Gesetze haben den deutschen Sozialstaat umgekrempelt. Startschuss für ein Jobwunder? Oder für eine Spaltung in arm und 68 reich? In der ARD-Sendung Hart-aber-fair vom 4. März 2013 und dem anschließenden Faktencheck wurden Antworten gesucht. Der ehemalige Bundesarbeitsminister und Umsetzer der Agenda 2010 Wolfgang Clement zieht Bilanz: Die Hartz-Reformen, sagt er, haben hierzulande für die niedrigste Arbeitslosigkeit in Europa und die höchste Erwerbsquote der Geschichte gesorgt. Hat er Recht? Sicher ist: Deutschland hat heute gute Zahlen aufzuweisen. Das schmälert auch nicht die Tatsache, dass Norwegens Arbeitslosenquote bei 3,5 Prozent, der Österreichs bei 4,9 Prozent vor der deutschen mit 5,3 Prozent liegt. Zwar weist Deutschland mit einem Wert von 76,3 Prozent die höchste Erwerbstätigenquote in seiner jüngeren Geschichte auf, allerdings ist dieser Erfolg weniger Ausdruck eines vermeintlichen Erfolgs der Hartz-IV-Reformen, sondern vielmehr Folge einer längerfristigen Entwicklung. Ausschlaggebender ist vor allem die in diesem Zeitraum deutlich angestiegene Frauenerwerbsquote - von 47,6 Prozent im Jahr 1960 auf 71,6 Prozent in 2011. Deutschlands Spitzenposition im europäischen Vergleich als Erfolg der Hartz-Reformen zu deuten, greift also zu kurz. Ulrich Schneider vom paritätischen Wohlfahrtsverband beklagt den ‚Drehtür-Effekt‘ bei Hartz IV. Er sagt, jeder dritte, der vermittelt wird, falle nach nur einem Jahr wieder in Hartz IV zurück. Stimmt das? Die Arbeitsaufnahmen finden häufig auf instabilen Jobs statt. Etwa 40 Prozent der Bedarfsgemeinschaften, die aus dem Leistungsbezug herauskommen, sind vor Ablauf eines Jahres wieder auf Hilfe angewiesen. Nur 55 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse, die im Anschluss an ALG-II Bezug geschlossen werden, dauern länger als sechs Monate. Eine Folge des so genannten Drehtüreffekts sind zunehmende Beschäftigtengruppen, die dauerhaft zwischen staatlicher Grundsicherung und - überwiegend prekärer – Erwerbsarbeit hin und her pendeln und kaum mehr Chancen auf eine Statusstabilisierung haben. Dies stellt eine Problematik dar, die sich im Lebensverlauf aufschichtet und verdichtet. Dies ziehe nicht nur Altersarmut, sondern auch für die Kinder der Betroffenen negative Folgeeffekte nach sich. 69 Ursula Engelen-Kefer sagt, die Entwicklung der Arbeitsmarktzahlen sei oberflächlich betrachtet zwar schön. Die Realität sieht nach Ansicht der ehemaligen Vizechefin des DGB jedoch anders aus. Denn 23 Prozent - über sieben Millionen Menschen - arbeiteten im Niedrig-lohnsektor für zwischen 9,15 und 10,37 Euro pro Stunde. Hat sie Recht? Die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen, dass die Anzahl der Beschäftigten mit Niedriglohn 2011 bei 20,6 Prozent lag und damit im Vergleich zum Jahr 2006 gestiegen ist. Auch das Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) spreche für 2010 auf Basis des Sozioökonomischen Panels (SOEP) von 23,1 Prozent. Bezieht man auch Schüler und Studenten mit ein, waren im Jahr 2010 7,84 Millionen Beschäftigte im Niedriglohnsektor tätig. Besonders in der Erholungsphase nach der Krise 2008/2009 sind anteilig verstärkt Leiharbeitsverhältnisse aufgebaut worden. Ihr Anteil am Aufbau der sozialversicherten Beschäftigung lag zwischen Oktober 2009 und Oktober 2010 im Bundesdurchschnitt mit 37,7 Prozent überproportional hoch. Der Niedriglohnsektor ist seit 1995 angewachsen – vor den Hartz-IV-Reformen allerdings stärker als danach. Der Chef der NRW-FDP, Christian Lindner, sagt, lediglich 16 Prozent der Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, sind von Armut bedroht. Auf der anderen Seite seien aber 60 Prozent der Arbeitslosen armutsgefährdet. Für Lindner ein Indiz dafür, dass Armut in erster Linie mit Arbeitslosigkeit und weniger mit dem Niedriglohnsektor zusammen hängt. Hat er Recht? Recht hat Lindner mit seiner Aussage, dass Menschen ohne jegliches Erwerbseinkommen in noch höherem Ausmaß armutsgefährdet sind als Menschen mit Niedriglohn und dass Arbeitslosigkeit das höchste Armutsrisiko birgt. Doch: Seine Schlussfolgerung, dass es keinen oder nur einen schwachen Zusammenhang gäbe zwischen dem Niedriglohnsektor und Armutsgefährdung ist damit in keinster Weise belegt. Was sich in den reinen Zahlen nicht zeige, ist eine steigende Gruppe von Menschen, die ständig zwischen prekärer Beschäftigung 70 und Arbeitslosigkeit pendelt. Und das in einer Gesellschaft in der alles andere Lebenslaufund Wertvorstellungen, soziale Sicherungs-systeme usw. - sich an einem weitgehend ungebrochenen Normal-arbeitsverhältnis orientieren. Gerade an dieser Stelle entwickeln sich unsere Gesellschaft und die Lebenswirklichkeit verschiedener Be-völkerungsgruppen zunehmend auseinander. Christian Lindner ist sicher: Alleinstehende in einem Vollzeitjob, die ihren Lebensunterhalt nicht alleine von ihrem Lohn bestreiten können, sind kein „Massenphänomen“. Er spricht von weniger als 100.000 Betroffenen. Hat er Recht? Nach den aktuellsten Zahlen des Statistischen Bundesamts sind im Jahr 2010 immerhin 10,8 Prozent der Beschäftigten in einem so genannten Normalarbeitsverhältnis - also nicht in Teilzeit oder in geringfügiger Beschäftigung - unter der Niedriglohngrenze beschäftigt. Bei 27,4 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im März 2010 liege damit die Zahl der Menschen, die trotz Vollzeitbeschäftigung Niedriglohn beziehen, bei rund 2,96 Millionen Menschen. Das ‚Runterrechnen‘ auf davon nur 100.000 Personen ist nicht nach-vollziehbar. Das entscheidende Argument liegt auf einer ganz anderen Ebene: „Wir lassen in unserer Gesellschaft – in durchaus auch quantitativ er-schreckendem und steigendem Ausmaß – Arbeitsverhältnisse zu, die selbst in einem Normalarbeitsverhältnis eine eigenständige öko-nomische Sicherung der Person nicht mehr gewährleisten.“ Dies lasse sich nicht schön rechnen, indem die Alleinstehenden als angeblich einzige Problemgruppe innerhalb der Betroffenen betrachtet werden. „Es geht schließlich nicht um die persönlichen Lebensumstände, sondern es geht um die Frage was Normalarbeit wert ist und ob es gelingt auf dieser Basis Teilhabe, Lebensplanung und Alterssicherung finanzieren zu können“, so die Soziologin Sabine Pfeiffer. Gerne wird auch kolportiert, dass Deutschland dank der Agenda im europäischen Vergleich wirtschaftlich besonders gut dastehen würde. 71 Diese Behauptung ist so weder falsch noch richtig, sie muss sehr differenziert betrachtet werden, denn die exportorientierte deutsche Wirtschaft hat im vergangenen Jahrzehnt massiv von weltweiten konjunkturellen Aufschwüngen profitiert. Dank ihrer massiven Wettbewerbsvorteile gegenüber der europäischen Währungsgemein-schaft, konnte sie die sich anschließenden Krisen bislang weitgehend ungetrübt meistern. Hinzu kommt die deutliche Lohnzurückhaltung, die die deutschen Tarifparteien in den vergangenen zehn Jahren an den Tag gelegt haben. Das Prinzip des ‚Förderns und Forderns‘ spielte bei der konjunkturellen Konsolidierung hingegen eher eine geringe Rolle. Nicht umsonst steht die soziale Spaltung der Gesellschaft, UmFairTeilen, Mindestlohn, Vermögensteuer ganz oben auf der Themenliste der kommenden Bundestagswahlen. III.2.1 Die Wirkungen der Agenda 2010 Haben die Reformen der Agenda 2010 Deutschland in der Finanz- und Schuldenkrise vor dem Schlimmsten (bisher) bewahrt? Hart, aber nötig - so lautet die herrschende Meinung zur Agenda 2010. Zehn Jahre ist es her, dass Gerhard Schröder die Agenda-Reformen ankündigte, deren Herzstück die Hartz-Gesetze für den Arbeitsmarkt waren. Die damals heftig umstrittenen Reformen erscheinen heute in einem anderen Licht, weil Deutschland die Wirtschaftskrise besser verdaut hat als die meisten anderen Länder. „Die Reformen haben uns in der Krise sehr geholfen“, sagt Jochen Kluve, Arbeitsmarktexperte am Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI). „Ohne sie stünden wir heute da wie Frankreich oder Italien.“ Heute stellt sich eine Frage: Wie viel hat das Gerhard-Schröder-Projekt wirklich beigetragen zum neuen deutschen Wirtschaftswunder? Viel spricht dafür, dass die Agenda Deutschland tatsächlich wettbewerbs-fähiger gemacht hat. So stiegen die Lohnkosten viel 72 langsamer als in EU-Ländern, die heute unter Wirtschaftseinbruch und Rekord-arbeitslosigkeit leiden. Kluve zeigt in Vorlesungen eine Grafik mit der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen nach den Hartz-Reformen. Zunächst scheinen diese keinen Einfluss zu haben, die Zahl der Jobsuchenden steigt weiter. Dann aber geht sie plötzlich stark zurück und bleibt trotz Krise weit unter dem früheren Niveau. Einen eindeutigen Beleg, dass gerade die Agenda Deutschland so glimpflich durch die Krise kommen ließ, gibt es dennoch nicht - das räumen selbst Befürworter wie Kluve ein. „Dazu müsste man ja gleichzeitig wissen, wie sich Deutschland ohne Hartz-Reformen entwickelt hätte.“ In einer kürzlich beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erschienenen Studie heißt es: „Trotz des guten Rufs der Hartz-Reformen unter Politikberatern bleiben die wissenschaftlichen Belege für ihre makroökonomische Effektivität unvollständig und uneinheitlich.“ Denn es gibt auch andere Erklärungen, warum Deutschland so glimpflich durch die Krise kam: • • Milliardenschwere Konjunkturhilfen wie die Abwrackprämie, mit denen die Bundesregierung die Wirtschaft in der Krise stützte. Die Ausweitung der Kurzarbeit - ein Instrument, das es bereits seit 1957 gibt. Die Skepsis deutscher Unternehmer, die im letzten Aufschwung 2005 bis 2007 mit Neueinstellungen zurückhaltend waren - und dadurch in der Rezession 2009 weniger Angestellte entlassen mussten. • Der Aufstieg von Schwellenländern, die derzeit besonders auf deutsche Produkte angewiesen sind. „Die Chinesen würden unsere Maschinen auch kaufen, wenn die Löhne höher wären“, sagt Matthias Knuth, Arbeitsmarktexperte an der Universität Duisburg-Essen. 73 • Die Bescheidenheit der Gewerkschaften in den Tarifver-handlungen. „Die jahrelange Lohnzurückhaltung hat die Exporte befördert und am Arbeitsmarkt mehr bewirkt als die Agenda“, glaubt der frühere DIW-Chef Gert Wagner. Doch jede Medaille hat bekanntlich zwei Seiten: Dafür stehen die Strichworte ‚Zeitarbeit, Mini-Jobs, Niedriglohn‘, etc. Gerade die Mindestlohn-Debatte zeigt, dass die Politik in diesen Monaten damit beschäftigt ist, unbeabsichtigte Folgen der Agenda zu korrigieren. Die Reformer hatten Mini-Jobs mit geringer Bezahlung gestärkt - vor allem als Mittel zum Wiedereinstieg in den Arbeits-markt. Doch mittlerweile sind Niedriglöhne für jeden fünften Deutschen zum Normalfall geworden, mehr als eine Million Menschen benötigen trotz Arbeit staatliche Hilfen. Auch ein anderes Ziel der Hartz-Reformen wurde bislang verfehlt. Zwar verbesserte sich die Vermittlungsquote von Hartz-IV-Emp-fängern. Doch ohne finanzielle Förderung werden auch heute nur jährlich sieben Prozent von ihnen vermittelt, sagt Knuth. „Das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit ist nicht gelöst.“ Dennoch verlangen prominente Ökonomen zum zehnjährigen Agenda-Jubiläum nun mehr vom Gleichen: Der RWI-Präsident und neue Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, forderte weitere Reformen. III.2.2 Lohndumping mit Werksverträgen muss ein Ende haben Wenn Unternehmen Billiglöhner aus Osteuropa beschäftigen, ist dies nicht zwangsläufig illegal. Wenn Hundertausende Mitarbeiter von Fremdfirmen Schiffsteile schweißen, Ladenregale füllen, Bücher verpacken oder Schweine schlachten, wird noch kein Gesetz übertreten. Es sei denn, das Recht wird ein klein wenig gebeugt, um 74 mit Schein-Werksverträgen die Stundenlöhne auf vier, fünf Euro zu drücken. Dieses Beugen und Drücken ist so verführerisch, vor allem dann, wenn es die meisten Mitbewerber machen. Immer mehr Unternehmen entlassen Stammmitarbeiter, um die Kosten zu senken, und die holen sich Firmen ins Haus, die mit Billigkräften, die in keiner Lohnliste auftauchen, ganze Abteilungen übernehmen. Nicht nur im Handel, in der Fleischindustrie und im Dienst-leistungssektor, sondern auch in der Metallindustrie. Das Tempo, mit dem innerbetriebliche Arbeit mittlerweile veräußert wird, ist beachtlich. Als Beschleuniger wirkt ein Gesetz, mit dem die Politik eigentlich Missstände beheben wollte. Anfang 2012 wurde die Leiharbeit reguliert. Seitdem gilt für Zeitarbeit ein Mindestlohn, und seitdem werben findige Arbeitsrechtler auf Seminaren der Wirtschaft für das Schlupfloch ‚Werksvertrag‘. Das Arbeitsverhältnis, das eigentlich für Architekten und verwandte Berufe gedacht ist, bietet alles, was sich Unternehmen ohne soziale Verantwortung wünschen: Keine Mitbestimmung, kein Kündigungsschutz und kein Prinzip ‚gleicher Lohn für gleiche Arbeit‘. Sozialabgaben entfallen, und einen Mindestlohn gibt es nicht. Damit lässt sich die Zeitarbeit noch einmal kräftig unterbieten. In Regionen wie dem Oldenburger Münsterland erinnert die Situation auf machen Schlachthöfen an Sklaverei. Kriminelle haben das lukrative Geschäft entdeckt. Osteuropäer werden angeheuert, in überteuerte Unterkünfte gepfercht und mit Hungerlöhnen abgespeist. Nebenbei wird ihnen empfohlen, sich mit Kindergeld für die Familie den Lohn aufzustocken. Das Problem ist, dass ein Werksvertrag zwar anderen Regeln folgt als die Leiharbeit, dass aber in der Praxis schwer kontrollierbar ist, ob die Regeln auch tatsächlich befolgt werden. Eine gesetzliche Klarstellung, die den rechtlich zulässigen Werkvertrag von Leiharbeit entschiedener abgrenzt, ist notwendig. 75 Das Ganze ist verführerisch: Für den Firmenchef, der für wenig Geld seine Schweine verpackt bekommt und nicht einsieht, warum er redlich sein sollte, wenn die Konkurrenten unredlich sind. Für den Verbraucher, der nicht auf das billige Schnitzel verzichten will. Dabei wird das Ende der Rechnung gern übersehen. Denn wer heute unter acht Euro arbeitet, wird nach 45 Versicherungsjahren mit seiner Altersrente auf die Fürsorge angewiesen sein. Die nächste Generation, die Mittelschicht, wird für die Dumpinglöhne von heute zahlen müssen – wenn sich nichts ändert. III.2.3 Junge Beschäftigte fürchten Jobverlust Überraschende Einsichten über Deutschlands Jugend: Trotz Fach-kräftemangel und vergleichsweise niedriger Jugendarbeitslosigkeit haben viele junge Beschäftigte Angst vor Jobverlust, schlechter Bezahlung und hohem Erfolgsdruck. Dies ergab eine aktuelle Studie der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE). Eigentlich überwiege eine optimistische Grundstimmung, heißt es in der Studie. Doch wenn konkret nach persönlichen Ängsten gefragt werde, trete ein pessimistisches Lebensgefühl zutage. In der Gruppe der 26- bis 29-Jährigen ist die Angst vor befristeten Arbeitsverträgen (79 Prozent) und Leiharbeit (62 Prozent) besonders stark verbreitet. Der Datenmissbrauch im Internet und die Folgen der Wirtschaftskrise (54 Prozent) beschäftigen mehr junge Leute als die Zukunft der Renten. Auf die Frage, was ihnen in ihrem Berufsleben am wichtigsten ist, nennen 81 Prozent die Arbeitsplatzsicherheit. An zweiter Stelle rangieren Arbeitsatmosphäre (72 Prozent), gefolgt von Weiterbildung (55 Prozent) und die Nähe zu Familie und Freunden. Weniger wichtig ist die Höhe des Gehalts (Platz 5). 76 III.3 Verdichtung der Arbeit Die Agendapolitik wirkt massiv in den Arbeitsmarkt und den beruflichen Alltag hinein. Arbeitsverdichtung, also das Leisten von mehr Arbeit im gleichen Zeitraum, hat durch Rationalisierung in den Betrieben immer mehr zugenommen. Die Personalstärke wird zurückgefahren, Arbeitsabläufe werden beschleunigt und zu betreuende Arbeitsbereiche vergrößert. Diese Entwicklung zu einem verdichteten Arbeitsalltag wurde durch die Einführung der 35-Stundenwoche teilweise noch verstärkt. Deswegen wird oft argumentiert, Arbeitszeitverkürzung hätte sowieso nur Arbeits-verdichtung zur Folge. Am Ende würde nur die gleiche Arbeit in kürzerer Zeit geleistet und noch dazu mit weniger Geld entlohnt. Die Beschäftigung in den Abend- und Nachtstunden sowie am Wochenende hat 2012 einen historischen Höchststand erreicht. Das ist weder gesund noch gewollt. Bereits seit Jahren warnen Experten zudem vor einer Zunahme psychosomatischer Erkrankungen, Ausfälle und Frühverrentungen durch Überlastungen am Arbeitsplatz. Die Ursachen sind weitgehend erforscht, sie lauten Selbstausbeutung, Arbeitsverdichtung, Präsentismus oder interessierte Selbstgefährdung. Der im Januar 2013 erschienene Stressreport listet weitere Gründe wie den zunehmenden Termin- und Leistungsdruck auf (Quelle: Bundesanstalt für Arbeitsschutz). Selbstausbeutung beschreibt das Phänomen, dass wir immer mehr und härter arbeiten ohne es als Problem zu empfinden. Wir sind nicht etwa froh, wenn die Arbeit um 17 Uhr getan ist, nein, Arbeit macht Spaß. Arbeit bedeutet auch Selbstverwirklichung. Das Problem ist, dass immer mehr Angestellte für den Beruf auf ein erfülltes Privatleben verzichten. In dem Moment, in dem unser Leben mit der Vorstellung von einem gelungenen Leben kollidiert, stimmt etwas nicht. Das zeigt sich auch an psychischen Krankheiten infolge von Stress, wie dem Burn-out-Syndrom. Das sind Beispiele für die unguten Seiten der Selbstausbeutung. 77 III.4 Arbeit in Deutschland teurer Mitteilung vom 26. März 2013: Eine Arbeitsstunde ist in Deutschland knapp ein Drittel teurer als im EU-Durchschnitt. Private Unternehmen hierzulande gaben 2012 im Schnitt 31 Euro für eine geleistete Stunde aus, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Damit lag Deutschland auf Platz 8. Die Arbeitskosten stiegen dabei kräftiger als in vielen anderen Ländern. Die Kluft innerhalb der EU ist groß. Schweden hatte mit 41,90 Euro die höchsten, Bulgarien mit 3,70 Euro die niedrigsten Kosten je Stunde. Bei Deutschlands wichtigstem Handelspartner Frankreich stiegen die Kosten um 11 Prozent auf 34,90 Euro. Im EU-Durchschnitt kostete eine Arbeitsstunde 23,50 Euro, 2,1 Prozent mehr als im Vorjahr. In den Krisenländern Spanien, Italien und Zypern stiegen die Arbeits-kosten nur unterdurchschnittlich. In Griechenland rechnen die Statistiker sogar mit einem massiven Rückgang von fast 7 Prozent. Damit ist Griechenland das einzige Land in der EU, in dem die Arbeitskosten im Jahr 2012 geschrumpft sind. In Deutschland bestätigte sich die Trendwende, die 2011 eingeläutet wurde. Von 2001 bis 2010 waren die deutschen Arbeitskosten lang-samer gestiegen als im EU-Schnitt. 2011 und 2012 kehrte sich diese langfristige Entwicklung um. Beachte: Die Reallöhne sind im vergangenen Jahr um 0,5 Prozent stärker gestiegen als die Verbraucherpreise. 2010 und 2011 hatte es Zuwächse um 1,5 beziehungsweise 1,0 Prozent gegeben. Auch in diesem Jahr rechnen Experten mit einem Lohnplus gegen den gesamt-europäischen Trend. III.5 Trotz Arbeit arm im Alter? 78 Trotz Teil- oder sogar Vollzeitjobs können sich viele Bürger mit ihrem Geld nicht allein über Wasser halten. Die Zahl der sozial-versicherungspflichtigen Arbeitnehmer, die mehr als 800 Euro brutto im Monat verdienen, aber zur Sicherung des Existenzminimums die staatliche Grundsicherung (Hartz IV) benötigen, ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Das geht aus einer neuen Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervor. Aktuellen Umfragen zufolge sieht sich jeder dritte Arbeitnehmer von Altersarmut bedroht. Berechtigte Furcht oder German Angst? Sind die prekär Beschäftigten von heute die Armutsrentner von morgen? Rutschen künftig gar Durchschnittsverdiener in die Grundsicherung im Alter? Die Diagnose des Problems ist in Politik, Wissenschaft und Fachöffentlichkeit ebenso strittig wie die zahlreichen Therapie-vorschläge: Soll die Rente mit 67 – von vielen als verkappte Rentenkürzung gescholten – wieder ad acta gelegt werden? Brauchen wir eine Reform der Riesterrente? Was bringt die aktuell von der Bundesregierung geplante Lebensleistungsrente, die von der Opposition als Nullnummer verspottet wird? Und welche Reformen brauchen wir am Arbeitsmarkt, um spätere Altersarmut zu vermeiden? Noch ist heute Altersarmut – statistisch gesehen kein Problem – es wird jedoch in den kommenden Jahrzehnten unweigerlich auf eine große Zahl der Bürger zukommen. III.6 Fehlen den Unternehmen hochqualifizierte Mitarbeiter? Jochen Stabler von der IAB Regional Rheinland-Pfalz-Saarland hat die Situation von Frauen und Männern im Saarland untersucht (Bericht 1/2013) und kommt zu folgendem Ergebnis: „Aufgrund des demografischen Wandels könnte es zukünftig immer schwieriger werden, den Bedarf an hochqualifizierten Fachkräften zu decken. Langfristige Arbeitsmarktprojektionen deuten darauf hin, dass die Arbeitskräftenachfrage nach Personen mit einem Qualifikationsprofil aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT) weiter ansteigt. MINT-Berufe gelten gemeinhin als 'Männerberufe'. Eine Strategie, der steigenden 79 Arbeitskräfte-nachfrage zu begegnen, besteht daher darin, verstärkt Mädchen und Frauen für diese Berufe zu gewinnen. Dazu ist es nötig, den Frauenanteil in der Ausbildung und im Studium der traditionell männerdominierten Fachrichtungen zu erhöhen. Die Situation von Frauen und Männern in MINT-Berufen im Saarland wird anhand von drei Aspekten näher betrachtet: der Ausbildungssituation, die Entwicklung der Zahl der Studienanfängerinnen und Studienanfänger und die Lage auf dem Arbeitsmarkt. In den vergangenen Jahren boten die meisten MINT-Berufe Frauen und Männern günstige Beschäftigungschancen. Die Beschäftigungsentwicklung verlief bei den Frauen sogar deutlich besser als bei den Männern. Auch die Zahl der Studienanfängerinnen in den MINT-Studienfächern hat sich in den vergangenen zehn Jahren positiv entwickelt. Trotzdem sind MINT-Berufe weiterhin eine Domäne der Männer und werden es auf absehbare Zeit auch bleiben. Der Anteil der MINT-Beschäftigten an allen Beschäftigten liegt im Saarland deutlich unter dem westdeutschen Durchschnitt, aber immer noch auf einem guten Platz im Mittelfeld. Das Risiko in MINT-Berufen arbeitslos zu werden ist deutlich geringer als in anderen Berufen.“ III.7 ‚Kalte Progression‘ als Leistungshemmer Das Steuerphänomen mit dem allzu bürokratischen Namen ‚kalte Progression‘ findet nur wenig Freunde. Von dieser heimlichen Steuererhöhung spricht man dann, wenn trotz Lohn- und Gehalts-erhöhung unter dem Strich weniger netto vom Brutto übrig bleibt, weil ein höherer Steuertarif sowie die Inflation den Gehaltszuwachs auffressen. Nach jüngsten Berechnungen des Bundesfinanz-ministeriums kostet die kalte Progression die Steuerzahler im Jahr 2014 allein drei Milliarden Euro. Der Fiskus kann sich über Mehreinnahmen freuen – zwischen 2011 und 2013 wandern auf diese Weise etwa neuen Milliarden Euro zusätzlich in die öffentlichen Kassen. Die schwarz-gelbe Bundesregierung wollte die Progression eigentlich längst abschaffen. Das entsprechende Gesetz ist jedoch von der rot-rot-grünen Mehrheit im Bundesrat blockiert worden. 80 Die kalte Progression ist nicht nur ungerecht sondern letztlich leistungshemmend. Ohne Leistung kann sich aber eine Gesellschaft nicht weiterentwickeln. III.8 Generation Vollbeschäftigung? Meldung vom 28. April 2013: Sie sind begehrt und gut vorbereitet für die Arbeitswelt. Doch die Abiturienten einer Frankfurter Schule sind seltsam pessimistisch. Es ist geschafft, erst einmal können sie aufatmen. Monatelang haben die 18 Schülerinnen und Schüler der Elisabethenschule in Frankfurt für Klausuren und mündliche Prüfungen gebüffelt: für den Englisch-Leistungskurs, den sie gemeinsam besucht haben, für Mathe, für Deutsch. Nun ist die stressige Zeit der Abiturprüfungen vorbei. Ihre Zukunft liegt offen vor ihnen, ein unbeschriebenes Blatt, so vieles wäre möglich. Doch gerade das macht vielen Angst. Wenn die Abiturienten über ihre Zukunft sprechen, dann gibt es ein Wort, das Dutzende Male fällt: Druck. Der Druck, dem sie schon in der Schule mit dem auf acht Jahre verkürzten Gymnasium ausgesetzt waren. Der Druck, jetzt schnell zu studieren, keine Lücke im Lebenslauf zu haben. Der Druck, den die Globalisierung macht. Und vor allem der Druck, den sie sich selbst machen. „Schon das Schulsystem ist darauf konzipiert, dass wir immer mehr leisten sollen, dass wir uns gegen die anderen durchsetzen“, sagt der 18 Jahre alte Niki. Danach folgt der Konkurrenzkampf um den Studienplatz, dann um den ersten Job. So wird es immer weitergehen, meint Niki, bis man nicht mehr kann - oder nicht mehr will. Die Schüler der Elisabethenschule glauben nicht daran, dass sie es auf dem Arbeitsmarkt einmal leichter haben werden als ihre Eltern. Ja, den Fachkräftemangel, den gibt es wohl, aber Vollbeschäftigung? Natur-wissenschaftler und Ingenieure werden vielleicht gesucht, aber bestimmt keine Journalisten, Designer oder Fotografen. Und da sind 81 noch die jungen Spanier, die Griechen und die Italiener, die jetzt in Scharen auf den deutschen Arbeitsmarkt drängen. Ganz zu schweigen von den Chinesen und Indern, mit denen sich die Schüler in einem globalen Wettbewerb sehen. Gerade in der Europa Krise: Sie prägt das Bild - was in zehn Jahren ist, wer weiß das schon. Auch wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, auch wenn immer weniger Kinder nachkommen, versprechen sich die Abi-turienten wenig Vorteile davon. Im Gegenteil. „Vielleicht haben wir bessere Chancen, in einen Job reinzukommen, weil für die gleiche Zahl an Arbeitsplätzen weniger Leute zur Verfügung stehen“, sagt Jakob. „Aber mit diesen Arbeitsplätzen müssen viel mehr soziale Leistungen gedeckt werden. Da lastet ein hoher finanzieller Druck und eine große Verantwortung auf uns.“ Beruflich möglichst erfolgreich sein, viel verdienen, Karriere machen? Oder doch lieber genug Zeit für Freunde, Familie und Freizeit haben? Auf einer Skala sollen die Schüler mit Kreide einzeichnen, was ihnen später wichtiger ist. Jeder Schüler tritt hinter die Tafel und macht seinen Strich, ohne dass die anderen es sehen können. Dann klappt der letzte die Tafel um: Nur vier Linien gruppieren sich näher am Freizeit-Pol, die restlichen Schüler haben entschieden, dass der Beruf ihnen mehr bedeutet. Englischlehrerin Angelika Frank, die ihren Leistungs-kurs auch als Tutorin betreut, ist überrascht: „Das hätte ich von meinem Kurs nicht gedacht.“ Betriebswirtschaftslehre, Medizin, Tourismus - wichtig ist den meisten Schülern, dass am Ende des Studiums ein Ergebnis steht, ein klar umrissenes Berufsbild. „Ich habe Angst, die falsche Entscheidung zu treffen“, sagt die 18 Jahre alte Gaya, deren Eltern aus Indien stammen. „Dann habe ich vielleicht ganz umsonst studiert und nur Zeit verloren.“ Damit das nicht passiert und weil sie gern Menschen etwas beibringt, hat sich Gaya entschieden, auf Lehramt zu studieren. Für einen sicheren Arbeitsplatz sind die Schüler auch bereit, viel zu arbeiten und Opfer zu bringen. „Mir ist Freizeit nicht so wichtig“, sagt Zeynab, die Wirtschaftswissenschaften studieren möchte. „Während 82 des ganzen Abi-Stresses hatte ich auch keine Freizeit, es hat mir aber nicht gefehlt. Mir ist wichtiger, etwas zu tun, um dann etwas dafür zu bekommen.“ Natürlich setzt nicht jeder ganz auf Nummer sicher. Ella schwankt zwischen Design und Psychologie, Jakob will Architektur studieren und Frauke Journalismus. Aber sie wissen: Das sind riskante Unterfangen. Niki denkt über Politikwissenschaften oder Soziologie nach, aber ihn plagen Zweifel. „Die Berufsaussichten sind ja nicht so prickelnd“, sagt er. Was kann man damit konkret machen? Das ist Niki auch nach langer Recherche nicht klargeworden. Ein geistes-wissenschaftliches Studium zu beginnen, Philosophie, Germanistik oder gar Theologie, kann sich kaum noch jemand vorstellen. Nur die wenigsten haben den Mut, das Studium als Lebensphase zu sehen, in der man die Welt und ihre Zusammenhänge theoretisch tiefer durchdringt, etwas über sich und die Welt begreift und darauf zu vertrauen, dass sie ihren Weg schon finden werden. Der Beruf soll sicher sein und gut bezahlt. Gleichzeitig stellen die Abiturienten aber noch ganz andere Anforderungen an ihre Arbeit. „Wir sind schon eine Generation, die superschnell gelangweilt ist“, urteilt die 18 Jahre alte Ella über sich und ihre Altersgenossen. „Wir können uns schnell informieren, uns über Youtube alles sofort aneignen - aber wir können kaum noch ein Buch zu Ende lesen.“ Es muss spannend bleiben, immer neue Impulse müssen her. Zehn Stunden im Anzug im Büro sitzen, Akten abarbeiten, am besten noch in der Versicherung oder im Finanzamt: Das ist für viele Albtraum pur. Denn der Beruf soll viel mehr sein als Broterwerb, er soll auch zeigen, dass man individuell ist, etwas ganz Besonderes. Als Teil des Lifestyles muss er zur eigenen Persönlichkeit passen und so interessant sein, dass man damit sein Facebook-Profil aufhübschen kann. Sich unterzuordnen und anzupassen, erst einmal langweilige Routine-aufgaben zu erledigen, nicht sofort zu bekommen, was man will: Das fällt den Schülern schwer. „Wir sind nicht so zielstrebig wie 83 die Generation unserer Eltern“, sagt Ilda. „Wenn etwas beim ersten oder zweiten Mal nicht klappt, dann lassen wir es auch.“ Bei den meisten Schülern spielt die Meinung der Eltern für die eigene Berufswahl nur eine untergeordnete Rolle. Vielleicht liegt es daran, dass die Erwachsenen ihnen alle Freiheiten lassen und dabei manchmal vergessen, Orientierung zu bieten. „Einen wirklichen Rat gibt es nicht“, sagt Nils. Als er ein Jahr lang in den Vereinigten Staaten zum Schüleraustausch war, erlebte er das anders. Die Lehrer kamen auf ihn zu und sagten: „Ich finde, das passt zu dir, darin bist du gut, warum machst du nicht das?“ Die Indifferenz der Elterngeneration macht auch ratlos. Vielleicht vermisst die junge Generation gerade eine klare Position, an der sie sich abarbeiten und gegen die sie auch mal opponieren kann, um so ihr eigenes Profil zu schärfen. Wenn alles irgendwie in Ordnung ist und die Möglichkeiten unendlich sind: Was soll man dann tun, was ist dann richtig? Auch Laura ist verunsichert, welche ihrer vielen Möglich-keiten sie nutzen soll. „Wir haben viel größere Entscheidungsfreiheiten als unsere Eltern, aber das überfordert uns auch“, sagt sie. „Das kann dazu führen, dass wir auf gar nichts mehr Bock haben.“ Ella findet es aber fehl am Platz, sich über die eigene Freiheit auch noch zu beschweren: „Wir sollten froh sein, dass uns alles offensteht.“ Die Abiturienten erleben, wie sich in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis viele Eltern scheiden lassen. Sie haben beobachtet, wie eine Freundin der Mutter oder eine Tante von ihrem Mann verlassen wurde, dass sich diese Frauen vieles nicht mehr leisten können. Sie müssen vom eigenen Haus mit Garten in eine Wohnung ziehen, weil das Geld nicht mehr reicht. Sie arbeiten immer mehr, um ihre Kinder und sich selbst zu ernähren. Das lässt gerade die jungen Frauen nachdenklich werden - und vorsichtig. „Mir ist es später am wichtigsten, dass ich finanziell von meinem Partner unabhängig bin“, sagt etwa Gaya. „Ich will allein 84 entscheiden, was ich mit meinem Leben mache.“ Auch Frauke ist sich bewusst, dass sie sich absichern muss: „Als Frau sollte man auf jeden Fall immer weiter arbeiten, damit man im Falle einer Scheidung für sich und die eigenen Kinder sorgen kann.“ III.9 ‚Arbeit für alle‘ - Vollbeschäftigung? Unglaublich, aber wahr In einem Schwerpunkt-Bericht ‚Arbeit für alle‘ der Frankfurter Allgemeinen vom 28.04.2013 kommt der Redakteur Patrik Bernau zu der Schlussfolgerung: „Die Vollbeschäftigung kommt, auch wenn auf den ersten Blick vieles dagegen spricht. Wir widerlegen die zehn wichtigsten Einwände gegen die optimistische Prognose.“ 1. Seit vierzig Jahren herrscht Arbeitslosigkeit. Wieso soll es jetzt plötzlich besser werden? Die nächsten Jahre werden Deutschland verändern. Denn dann geht die Generation der ‚Babyboomer‘ in Rente: die Menschen aus den geburtenstarken Jahrgängen nach dem Zweiten Weltkrieg. Dann werden viele Arbeitsplätze frei. Gleichzeitig rücken nur wenige junge Leute nach. Nach der Wiedervereinigung kamen in Ostdeutschland weniger Kinder auf die Welt, heute sind sie um die 20 Jahre alt. Sie finden ohne Probleme eine Lehrstelle. Die Jahrgänge nach ihnen werden sogar noch schwächer. Es gibt in vielen Regionen nicht mehr genügend junge Leute für die Arbeitsplätze. Das muss nicht bedeuten, dass die Arbeitslosigkeit auf null fällt. Denn es werden immer Menschen eine neue Stelle suchen. Schon bei einer Arbeitslosenquote von rund fünf Prozent fühlt sich eine Gesellschaft vollbeschäftigt, darum nehmen Ökonomen wie IWF-Chefvolkswirt Oliver Blanchard das als Grenze. (B.R.: 5% bedeuten aber immer noch 2,1 Mio. Arbeitslose. Also der Anspruch ‚Arbeit für alle‘ wird so nicht erfüllt.) 85 2. Warum soll es Deutschland besser gehen als anderen? Schon wahr: In vielen anderen europäischen Ländern herrscht Massenarbeitslosigkeit vor allem unter Jugendlichen. In Frankreich sind so viele Menschen arbeitslos wie noch nie, in Spanien sind es jetzt sogar mehr als sechs Millionen. Deutschlands Wirtschaft aber ist dank Umorganisationen, Lohnzurückhaltung und Hartz-Reformen immer wettbewerbsfähiger geworden, so dass viele neue Arbeitsplätze entstanden sind. Wenn die Krise nicht noch einmal heftig eskaliert, verschwinden diese Arbeitsplätze nicht so einfach. Ein Risiko für die Arbeitsplätze sind allerdings höhere Löhne. Aber die höheren Löhne setzen Arbeitnehmer nur dann durch, wenn sie sowieso schon in der besseren Verhandlungsposition, sprich vollbeschäftigt sind. 3. Die Arbeitslosenzahlen sind doch sowieso geschönt. Stimmt. Ein-Euro-Jobs, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Qualifi-zierungen - das alles gilt statistisch nicht als Arbeitslosigkeit. Doch immer weniger Menschen stecken in diesem sogenannten zweiten Arbeitsmarkt fest. Inzwischen sind es noch rund eine Million Menschen in Deutschland, die keine richtige Arbeit haben, ohne als arbeitslos zu gelten. Addiert mit der Zahl der Arbeitslosen, kommt die Bundesagentur für Arbeit zum Resultat: Vier Millionen Menschen fehlt ein richtiger Arbeitsplatz. Aber es werden immer weniger. Gleichzeitig haben heute in Deutschland so viele Menschen Arbeit wie noch nie zuvor, und es werden immer mehr. 4. Viele Stellen sind so schlecht, dass sie gar keiner haben will. Bemerkenswert ist, dass Deutschland seit einigen Jahren nicht mehr über Arbeitslosigkeit diskutiert. Sondern fast nur noch darüber, ob die Stellen angenehm sind und genug Geld bringen. Klar ist: Niedrige Löhne, befristete Stellen und Leiharbeit sind nicht angenehm. Allerdings gibt es solche Phänomene kaum in Berufen, in denen Arbeitnehmer knapp und begehrt sind. Und diese Berufe werden immer mehr. Dann diktieren die Bewerber die Bedingungen. Sie können hohe Gehälter heraushandeln, Sabbaticals und längere Urlaube. 86 Die schlechten Jobs, die es noch gibt, bekommen Arbeitgeber nicht mehr ohne weiteres gefüllt. Im Januar machte eine Fernseh-dokumentation Furore, die von schlechten Zuständen in einem Auslieferungslager von Amazon berichtete. Diese Stellen waren zwar gar nicht schlecht bezahlt, nämlich mit neun Euro je Stunde und damit über der Niedriglohngrenze und allen Mindestlohnforderungen. Trotzdem hatte Amazon für diese Stellen kaum Mitarbeiter in der Nähe seines Lagers gefunden. Stattdessen musste die Firma Studenten und andere Leute aus ganz Europa nach Hessen holen und dort beherbergen. 5. Die Stellen gehen sowieso ins Ausland. Manche bestimmt. Wenn die Arbeitnehmer knapp werden, verlangen sie höhere Löhne, und dann wird die eine oder andere Firma auch Stellen ins Ausland verlagern. Aber das wird nur dann wichtig, wenn die Arbeitnehmer schon knapp sind. In dieser Situation wird es in Deutschland sogar als Entlastung gelten, wenn einige Stellen ins Ausland gehen, glaubt der Ökonom Karl-Heinz Paqué. Ohnehin lässt sich nur ein Teil der Arbeit, die in Deutschland anfällt, überhaupt ins Ausland verlagern. Straßenbahnen müssen hier gefahren werden, Friseure müssen in Deutschland arbeiten, auch Altenpflege kann nur dann ins Ausland gehen, wenn die Alten selbst dorthin wollen. Einwanderung wird die Arbeitsmarktchancen der Deutschen ebenfalls kaum verschlechtern. Alle Initiativen der Bundesregierung, Zuwanderer zum Arbeiten nach Deutschland zu bringen, haben wenig Wirkung gehabt. Hießen sie nun ‚Green Card‘ oder ‚Blue Card‘: Stets kamen weniger Menschen als erhofft. Insgesamt sind in den vergangenen zehn Jahren durchschnittlich 90.000 Menschen pro Jahr nach Deutschland eingewandert. 200.000 wären nötig. 6. Der Osten wird noch ewig schwach bleiben. Die Landschaften mögen in Ostdeutschland noch nicht blühen. „Der Weg zur Vollbeschäftigung ist in Ostdeutschland noch weit“, sagt Arbeitsmarktforscher Hans-Peter Klös vom Institut der Deutschen Wirtschaft. „Ob das Ziel erreicht werden kann, hängt vor allem an der 87 weiteren Rückgewinnung industrieller Wettbewerbsfähigkeit ab, denn dann können Einkommen entstehen, die auch zu zusätzlichen Arbeitsplätzen in den vor- und nachgelagerten Dienstleistungen führen.“ Wirtschaftsforscher sind sich allerdings sicher, dass es über ganz Deutschland gerechnet künftig genügend Stellen für alle geben wird. Dann werden einige Menschen der Arbeit hinterher ziehen. Im Osten mögen strukturschwache Gegenden übrig bleiben, doch dort sind dann nicht mehr viele Menschen arbeitslos, weil dort nicht mehr viele wohnen. Schon heute zeigen Karten der Arbeitslosigkeit große rote Flächen, in denen aber die Bevölkerungsdichte gering ist. Dagegen lebt heute schon ein Viertel der Deutschen in Kreisen, in denen Vollbeschäftigung herrscht oder nahe ist. 7. Jugendliche ohne Abschluss bleiben abgehängt. Diese These ist umstritten. Handwerksmeister und Arbeitgeber-verbände lamentieren über Schulabgänger, die nicht mal ordentlich rechnen können. Und manche Eltern fördern ihre Kinder kaum. Andreas Peichl, Forscher am Institut zur Zukunft der Arbeit, glaubt, dass auch künftig einige Leute bleiben werden, die sich nicht genügend qualifizieren können oder wollen. Doch aus den 60er Jahren gibt es auch Geschichten von Handwerkern, die in ihrer Personalnot ihre Anforderungen überdacht haben und entlassene Häftlinge aus Italien anwarben. „Der demografisch bedingte Nachwuchsmangel führt dazu, dass Betriebe sich noch sehr viel stärker auch um leistungsschwächere Jugendliche bemühen werden“, sagt Hans-Peter Klös vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln. Heute haben Unternehmen wie BASF, Porsche und der Frankfurter Flughafen vor lauter Bewerbermangel Programme ins Leben gerufen, in denen sie schlecht qualifizierte Jugendliche an die Arbeit heranführen. Die Jugendlichen selbst werden vielleicht besser qualifiziert: Pädagogen glauben, dass Hauptschüler bisher wegen schlechter Arbeitsmarktaussichten demotiviert sind - sich aber in Zukunft anstrengen, wenn sie bessere Chancen auf eine Ausbildung haben. 8. Eine kleine Bevölkerung bringt keine Arbeitsplätze 88 Wahr ist: Wenn kleine Bevölkerungen immer Vollbeschäftigung hätten, dann gäbe es in Griechenland überhaupt keine Probleme. In dem Land leben nämlich nur rund 11 Millionen Menschen. Doch für Deutschland ist nicht die Bevölkerungsgröße entscheidend, sondern die Tendenz: Die Bevölkerung schrumpft und altert. Dass Deutschland schrumpft, verbessert die Arbeitsmarktsituation - denn es gibt schon die Arbeitsplätze, die jetzt gefüllt werden wollen. Dass Deutschland altert, unterstützt den Trend. Denn die alten Menschen wollen genauso versorgt sein wie junge, manche brauchen sogar Pflege. Auch das macht Arbeit. 9. Frauen und Alte könnten noch mehr arbeiten. Frauen gehören zu den wichtigsten Hoffnungen der Unternehmen im Versuch, die vielen Stellen zu besetzen. Wenn es zusätzliche Betreuungsplätze für Kinder gäbe (oder wenn die Familien sich eine private Betreuung leisten könnten) - dann würden möglicherweise mehr Frauen arbeiten. Eine Expertengruppe der Robert-Bosch-Stiftung hat aber ausgerechnet: Selbst wenn mehr Frauen Vollzeit arbeiten, wird nur der Mangel gelindert. Selbst in den extremen Szenarien gibt es weniger Arbeitskräfte. Die alten Leute werden heute schon eingespannt. Weil Arbeitskräfte fehlen und weil staatliche Zuschüsse weggefallen sind, ist die Zahl der Frührentner in den vergangenen Jahren immer weiter gesunken. Erst Anfang April wurde bekannt, dass im vergangenen Jahr so viele Menschen zwischen 60 und 65 Jahren sozialversicherungspflichtige Arbeit hatten wie nie. 10. Maschinen werden viele Arbeitsplätze vernichten Maschinen vernichten die Arbeit nicht, sondern sie schaffen andere Arbeit. Trotz allem technischen Fortschritt arbeiten heute in Deutschland mehr Menschen als vor 20 Jahren, auch wenn sie andere Berufe haben. „Die Arbeit geht uns nie aus, aber worin sie konkret besteht, unterliegt einem stetigen Wandel“, sagt Arbeitsforscher Hilmar Schneider. Arbeitsmarktexperten erwarten, dass die Deutschen sehr froh sein werden, wenn ihnen Maschinen Arbeit abnehmen. Mancher glaubt sogar: Mit zusätzlicher Maschinenhilfe können Arbeiter in 89 Deutschland mehr Autos je Arbeitsstunde bauen. Also kommt mehr Geld in die Unternehmenskasse, und die Arbeitnehmer können mit ihrer Verhandlungsmacht höhere Gehälter einfordern. III.10 Fazit Kapitel III Die Arbeit geht uns nicht aus, aber worin sie besteht, unterliegt einem stetigen Wandel. Zurzeit haben wir in Deutschland eine relativ hohe Arbeitsquote und sie wird weiter wachsen. Die Anforderungen an den Arbeitsplatz steigen ständig. Die Belastungen für den arbeitenden Menschen wachsen. Das bleibt nicht ohne Folgen: einerseits sind einige Millionen Menschen ‚nicht geeignet‘ bzw. werden ‚aus-gebeutet‘, andererseits nimmt der Beruf einen immer stärkeren Raum im Leben eines Menschen ein. Die Familie bleibt auf der Strecke. IV.0 Versinken die Staaten Europas, der USA und Japans in ihren Schulden? – Stand 2012 Europa wird in den letzten drei Jahren häufig vornehmlich mit dem Problem ‚Staatsschuldenkrise‘ assoziiert. Man bekommt fast den Eindruck, andere bedeutende Wirtschaftsregionen stehen in Bezug auf den öffentlichen Schuldenstand eindeutig besser dar als der Euro-Raum. Dies kann man beim Blick in die Statistik jedoch nicht behaupten. Tatsächlich ist der Euro-Raum als Ganzes weniger hoch verschuldet als etwa die USA. Zum Vergleich: Der Euro-Raum hat eine Schuldenquote von ca. 90 Prozent; die USA hat 100 Prozent und Japan bewegt sich bei ca. 200 Prozent. Deutschland liegt etwa bei 81 Prozent. 90 Und doch stellt sich die Situation momentan für Europa kritisch dar. Die Staatsverschuldung Europas ist außer Kontrolle geraten. Schon zu Beginn der Euro-Währungsunion lag die Schuldenquote bei 70%, Ende 2011 waren es 87%. Alle Länder der Währungsunion außer Finnland verletzen die Regeln. Die europäische Staatsschuldenkrise ist im Kern eine Vertrauenskrise. Allein in den letzten 4 Jahren hat sich die Weltverschuldung von 64 Billionen auf über 96 Billionen US$, also um 50% erhöht. Was sagt uns das? Was verstehen wir unter Staatsverschuldung? Als Staatsverschuldung bezeichnet man die zusammengefassten Schulden eines Staates, also die vom Staat an Dritte geschuldeten Verbindlichkeiten. Die Staatsverschuldung wird dabei in der Regel brutto betrachtet, das heißt, die Verbindlichkeiten gegenüber Dritten werden nicht um die Forderungen des Staates gegenüber Dritten vermindert ausgewiesen. Nach Eurostat ist der öffentliche Schuldenstand im Vertrag von Maastricht definiert als Brutto-Gesamtschuldenstand des gesamten Staatssektors zum Nominalwert am Jahresende nach Konsolidierung, also Verrechnung von Forderungen und Verbindlichkeiten innerhalb des Staatssektors. Der Staatssektor umfasst Zentralstaat und Extra-haushalte, Länder, Gemeinden und Sozialversicherung. Die Bewertung der Staatsverschuldung ist in den Wirtschaftswissen-schaften kontrovers: Während David Ricardo sie als „eine der schrecklichsten Geißeln, die jemals zur Plage einer Nation erfunden wurden“ bezeichnete, lässt sich aus keynesianischer Sicht eine verstärkte Verschuldung temporär zur ‚Ankurbelung‘ des Wirt-schaftswachstums rechtfertigen. Jedenfalls profitieren Volkswirt-schaften, die Exportüberschüsse (Nettoexporte) erzielen, von jenen Staaten, die diese mittels Neuverschuldung finanzieren. Innerhalb einer Volkswirtschaft, die keine Einnahmeüberschüsse aus Exporten erzielen kann, können letztlich und per Saldo nur Investitionen aus staatlichen Defiziten den jeweiligen privaten 91 Sektoren (Unternehmen, Bürgern) (gesamtwirtschaftlich) ermöglichen. Einnahmeüberschüsse Es stellt aber immer die Frage nach den wirtschaftlichen Grenzen. Staatsschulden kann ein Staat im Verhältnis zum BIP nur begrenzt aufnehmen, da ab einem bestimmten Verschuldungsgrad Investoren und Gläubiger an der Rückzahlungsfähigkeit der Volkswirtschaft zu zweifeln beginnen (sinkende Bonität). Die Einschätzung dieser Fähigkeit hängt unter anderem von der Zinslastquote ab, also den staatlichen Zinsausgaben gemessen an den Staatsausgaben insgesamt oder am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Sind die Zinssätze niedriger als die Wachstumsrate des BIP (in laufenden Preisen), ist als fester Prozentsatz am BIP eine dauerhafte Nettoneuverschuldung des Staates möglich. Für Staaten mit hoher Staatsverschuldung erhöhen sich im Allge-meinen nicht nur die Zinssätze, die die Investoren für ihre Kredite verlangen, sondern es verringert sich auch die Anzahl derjenigen Investoren, die überhaupt noch bereit sind, Geld zur Verfügung zu stellen. Ein hoch verschuldeter Staat kann in einen Teufelskreis aus immer höheren finanziellen Verpflichtungen (Zinsen und Tilgung bereits bestehender Schulden) und einem immer begrenzteren Zugang zum Finanzmarkt geraten. Dies kann mit dem Verlust der Kredit-würdigkeit oder gar mit der Zahlungsfähigkeit des Staates (Staatsbankrott) enden, insbesondere wenn die Verschuldung in fremder Währung oder einer Gemeinschaftswährung wie dem Euro vorliegt IV.1. Schuldenentwicklung in Deutschland in drei Wellen Ende der sechziger Jahre des vergangen Jahrhunderts begann das Schuldendrama in drei Akten. Vom Krisenökonomen Jon Maynard Keynes inspiriert, wollte die damalige Große Koalition die erste tiefe Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit besser machen. Wohl gemerkt: Die Arbeitslosenquote war auf 2,1 Prozent gestiegen, das BIP 1967 um 0,3 92 Prozent gesunken. Nach einer Grundgesetzänderung konnte nun der Staat gegen den bis dahin ehernen Grundsatz verstoßen, dass die Haushaltsausgaben nicht höher sein dürfen als die Einnahmen. Mit Konjunkturprogrammen durfte der Staat nun mit Konjunktur-programmen wirtschaftliches Wachstum stimulieren. Unter Helmut Schmidt ist dann mit der Ölkrise Anfang der siebziger Jahre das Defizit des Bundes nach oben getrieben worden. Als Schmidt 1982 abtrat hatten sich die Ausgaben des Bundes gegenüber 1970 schon umgerechnet auf 126 Mrd. Euro fast verdreifacht. Noch stärker langten die Bundesländer zu, sie steigerten ihre Ausgaben von 39 Mrd. Euro auf 115; auch die Kommunen hatten ihre Haushalte fast verdreifacht. Die gesamten Staatsausgaben von 424 Mrd Euro hatten sich um 324 Prozent erhöht, die Steuereinnahmen aber nur um 144 Prozent. Die Folge: Der Schuldenberg aller öffentlichen Haushalte verfünffachte sich von 64 Mrd. Euro auf 313. Unter Helmut Kohl setzte sich diese Entwicklung fort. Bis 1989 wuchsen die Schulden auf über 470 Mrd. Euro. Mit der Wieder-vereinigung aber erlebte die Republik die zweite große Ver-schuldungswelle, am Ende des Jahrtausends waren die öffentlichen Haushalte mit über 1,2 Billionen Euro verschuldet. Die moderne Sozialdemokratie unter Gerhard Schröder glaubte über Senkung der Staatsquote und Senkung von Steuern wirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Das erhoffte Wirtschafts-wachstum stellte sich jedoch nicht ein, die Arbeitslosen stiegen weiter, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte nahm wieder stark zu. Schaut man sich in dieser Zeit die Haushaltsentwicklung auf der Ausgabenseite näher an, fallen vor allem die Zunahmen im sozialen Bereich und die Aufwendungen für die Kreditzinsen auf. Insbesondere viele Kommunen sind in einem Teufelskreis gefangen als Folge einer weit verbreiteten Schuldenmentalität in den achtziger und neunziger Jahren. Die Begründung für neue Kredite waren immer: Mehr Arbeits-plätze, bessere Bildung, soziale Gerechtigkeit, … 93 Die dritte große Welle der Staatsverschuldung von 2008 bis 2010 trieb die Kreditsummen der öffentlichen Haushalte auf über 2 Billionen Euro. Wie setzt sich der Schuldenberg zusammen? Nicht nur der Bund, auch die Länder und Kommunen tragen zum Schuldenberg bei. Die Anteile betragen derzeit etwa 65 % für den Bund, 30 % für die Gesamtheit der Bundesländer und etwa 5 % für die Kommunen und sonstige Körper-schaften (bitte beachten: die Anteile können sich verändern). Faust-formel zur derzeitigen Aufteilung der Schulden zwischen Bund, Ländern und Gemeinden (in dieser Reihenfolge): 65 : 30 : 5. Wem schuldet der Staat Geld? Zum einen den Bürgerinnen und Bürgern, die Anleihen und andere Staatspapiere kaufen und dadurch mehr als 60 Prozent der Staatskredite finanzieren. Zum anderen den normalen Banken und Sparkassen, bei denen sich der Staat Geld geliehen hat. Als ‚guter Kunde‘ profitiert er hierbei von besonders günstigen Sonderkonditionen (derzeit erhält er Kredite schon für rund drei Prozent Zinsen, während der Zinssatz für Privat-Darlehen bei über zehn Prozent und mehr liegt). Da der Staat im Allgemeinen die höchste Kreditwürdigkeit genießt, ist auch eine Kündigung der Kredite mit anschließender Pfändung des Vermögens unrealistisch. B.R.-Kommentar: Der Schuldenberg Deutschlands wuchs und wächst kontinuierlich. Entgegen landläufiger Meinung hat die Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen praktisch jedes Jahr neue Schulden gemacht, die in erster Linie mit der sogenannten Nettokreditaufnahme ‚gedeckt‘ werden. Kritiker befürchten, dass der Schuldenberg bis zum Jahr 2050 auf gigantische 8 Billionen Euro anwachsen könnte. Die ganze Pro-blematik wird deutlich, wenn man sich den Zeitrahmen für einen möglichen Schuldenabbau vor Augen führt: Würde die öffentliche Hand keine neuen Schulden mehr machen und den Schuldenberg mit 94 jährlich 10 Milliarden Euro abbauen, wäre Deutschland erst in etwa 200 Jahren schuldenfrei! Vorsicht - Argumentationsfalle: Auch die gern benutzte Terminologie „Wir bauen Schulden ab“ meint nicht den Abbau des bislang aufgehäuften Schuldenbergs, sondern bezieht sich lediglich auf die Absicht, „etwas weniger mehr“ neue Schulden zu machen! Im Übrigen haben Kredite und Anleihen feste Laufzeiten. Die Aufnahme eines Dispo-Kredits (Überziehungskredit z.B. bei der Europäischen Zentralbank (EZB) - ist den EU-Ländern durch den Vertrag von Lissabon untersagt. Dass Papier geduldig ist, zeigt der Ankauf von griechischen Anleihen durch die EZB 2010/2011... Muss ein Staat jährlich neue Schulden machen? Nein. Es gibt Staaten, die statt Schulden ‚Gewinn‘ machen. Dazu gehörten bei der Ein-führung des Euro z.B. Irland und Luxemburg. Aber auch die USA hatten um die Jahrhundertwende ein erhebliches jährliches Plus zu verzeichnen. Ganz zu schweigen von Australien, das seit Jahren keine Schulden, sondern ‚Gewinn‘ macht. IV.1.1 Schulden gesamt Die Verschuldung Deutschlands besteht aus den zusammengefassten Schulden von Bund, Ländern, Gemeinden, gesetzlicher Sozialver-sicherung und Sondervermögen des Bundes bei in- und ausländischen Kreditgebern. Der Schuldenstand der Bundesrepublik Deutschland betrug am 31. Dezember 2012 2.072 Mrd. Euro (vorläufiges Ergebnis); davon entfallen 1.289 Mrd. Euro auf den Bund, 649 Mrd. Euro auf die Länder und 134 Mrd. auf die Kommunen. Das entspricht 81,7 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt. 95 (Schuldenstand am 1. Juli 2013 = 2.187.293.330.031 Euro; das entspricht einem Schuldenstand von 26.720 Euro pro Kopf) Und die Schuldenuhr tickt weiter – Tag für Tag, Stunde für Stunde! Wir leben noch immer über unsere Verhältnisse. Wann halten Politik, Finanzwesen, Wirtschaft und Bürger die Uhr an? Deutschland ist zu ca. 60 Prozent bei inländischen Gläubigern ver-schuldet, ca. 40 Prozent der deutschen Schulden sind Auslands-schulden. Die inländischen Gläubiger sind zu ca. zwei Dritteln inländische Kreditinstitute und zu einem Drittel Nichtbanken (Versicherungen, Unternehmen, aber auch Privatpersonen). Hinweis: Hier erkennen wir die starke ‚Verbundenheit‘ zwischen Staat und Banken! IV.1.2 Bund Meldung vom 21. Dezember 2012: Finanzminister Schäuble kann seine Schuldenbilanz erneut nach unten korrigieren: Entgegen den Erwartungen kommt der Bund 2012 mit neuen Krediten unter 25 Milliarden aus. Schäuble: „Aufgrund der bisherigen Entwicklung und unter Berücksichtigung des erfahrungsgemäß aufkommensstarken Dezember-Ergebnisses ist zu erwarten, dass die Nettokreditaufnahme 25 Milliarden Euro unterschreiten wird.“ Im Vergleich zu den Veranschlagungen im zweiten Nachtragsetat wären das sogar etwa drei Milliarden weniger. Na toll!??? Hinweis: Das Bundesfinanzministerium erwartet für die kommenden Jahre eine sinkende Verschuldungsquote – dank sprudelnder Steuer-einnahmen bei stagnierenden Ausgaben. Doch können unvorher-gesehene Ereignisse wie die Flut solche Erwartungen im Keim ersticken. 96 IV1.3 Länder Die Finanzlage der Länder war in den vergangenen Jahren durch starke Schwankungen gekennzeichnet, wie aus dem Bericht „Zur Entwicklung der Länderfinanz in Deutschland seit dem Jahr 2005“ (siehe Monatsbericht Oktober 2012) hervorgeht. Nachdem zwischenzeitlich für die Ländergesamtheit der Haushaltsausgleich erreicht worden war, kam es mit der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2009 zu einer erheblichen Verschlechterung. Seitdem ging das Defizit insgesamt zwar wieder deutlich zurück, aber erst zum Ende des Finanzplanungszeitraumes 2016 soll wieder ein annähernder Haus-haltsausgleich erreicht werden. Die aktuelle Finanzlage ist in den einzelnen Ländern sehr unter-schiedlich. Während in einigen Ländern schon in 2011 Überschüsse erzielt wurden, meldeten andere weiterhin sehr hohe Defizite. Aus hohen Schulden resultierende Zinsbelastungen spielten dabei zwar vielfach eine wichtige Rolle. Die übrigen Ausgaben und Einnahmen variierten aber mitunter ebenfalls beträchtlich. Die Betrachtung der Länderfinanzen in ihrer Gesamtheit verdeckt große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. Für einen möglichst aussagekräftigen Vergleich werden Haushaltsgrößen je Einwohner nach der Kassenstatistik 2011 verwendet. Da Aufgaben und die damit verbundenen Ausgaben länderweise unterschiedlich auf Land und Gemeinden verteilt sind und für die Stadtstaaten ohnehin konsolidierte Angaben vorliegen, ist es sinnvoll, die Gemeinden in die Betrachtung einzubeziehen. Danach lag das Defizit je Einwohner im Jahr 2011 im Durchschnitt bei 120 Euro. Die Spannweite war dabei aber außerordentlich groß. In Sachsen, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Baden-Württemberg standen jeweils Überschüsse von mehr als 100 € zu Buche, und auch in Brandenburg überstiegen die Einnahmen die Ausgaben. Das höchste Defizitniveau wurde mit 1200 € in Bremen registriert, aber auch für das Saarland ergibt sich mit fast 900 € ein sehr hoher Wert. Auch in 97 Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Land, lag der Wert mit 320 € noch fast dreimal so hoch wie der Länderdurchschnitt. Unterschiedliche Zinsbelastungen der Defizite aus der Vergangenheit erklären einen guten Teil der Differenzen der heutigen Defizite. Vergleicht man also die zusätzlich um die Zinsausgaben bereinigten Finanzierungssalden (Primärsalden) je Einwohner, verringert sich die Streubreite um mehr als die Hälfte, und auch die Rangfolge ändert sich teilweise. Während im Länderdurchschnitt je Einwohner ein Primärüberschuss von 200 € zu Buche stand, fallen mit deutlich über 300 € hohen Primärdefizite Hessens und des Saarlandes. Primärdefizite gab es darüber hinaus in Bremen und Rheinland-Pfalz (240 € und 90 €). Eine Untergliederung der Primärausgaben zeigt, dass die Personal-ausgaben – einschließlich der Versorgungsleistungen – mit einem Anteil von zwei Fünfteln ein besonderes Gewicht aufweisen. Auch bei den Transfers an private Haushalte – die über die Länder hinweg 13 % der Primärausgaben ausmachten – fallen deutliche Unterschiede auf. Im Mittel betrugen diese 640 € je Einwohner. Die Sachinvestitionen werden zum Großteil von den Kommunen getätigt, wobei die Länder über Investitionszuweisungen vielfach an der Finanzierung beteiligt sind. Insgesamt entfielen 2011 fast 9 % der Primärausgaben auf die Sachinvestitionen. Im Mittel betrugen dies je Einwohner 430 €. (Die europäischen Fiskalregeln und der Fiskalpakt erfordern, dass neben Bund und Ländern auch für die Kommunalebene Haushalts-grenzen wirksam sind, um den annähernden Haushaltsausgleich des Gesamtstaates zu sichern.) Meldung vom 22. Dezember 2012: Bremen erstickt in der Finanznot. Ausgaben und Schulden liegen viel zu hoch. Das Land Bremen hat keine Aussicht, aus der finanziellen Notlage herauszukommen und die in sieben Jahren verbindliche Schuldenbremse des Grundgesetzes einhalten zu können. Das ergibt sich aus den aktuellen Daten, die das Land dem Stabilitätsrat übermittelt hat, einem Gremium aus Bund und Ländern zur Überwachung der Haushaltsdisziplin in den Ländern. 98 Bremen leistet sich jährlich Ausgaben von 4,7 Milliarden Euro. Die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen liegt bei 783 Millionen Euro – das sind etwa 17 Prozent der Ausgaben. Obwohl Bremen jährlich vom Bund eine sogenannte Konsolidierungshilfe von 300 Millionen Euro bekommt, wird die Hansestadt nicht auf den grünen Zweig kommen. IV.1.4 Viele Kommunen stehen vor dem Bankrott Städte und Gemeinden hängen überwiegend am Tropf ihrer jeweiligen Länder. Trotz der gestiegenen Steuereinnahmen steigt die Ver-schuldung der Kommunen und Städte weiter an – und zwar dramatisch. Jede fünfte Kommune verzeichnet jetzt schon einen Gesamtschuldenstand, der das jährliche Haushaltsbudget übersteigt. Ein Drittel gesteht bereits ein, die Schulden, mit eigenen Mitteln nicht mehr zurückzahlen zu können. Sie sind so überschuldet, dass sie gerade mal die Kreditzinsen bedienen können. Vielerorts wird die Lage bereits mit der Situation in Griechenland oder Spanien verglichen. Die Möglichkeiten, die den Städten und Kommunen bei der Bewältigung der Schuldenlast zur Verfügung stehen, sind auch hierzulande sehr begrenzt. So werden zum Jahreswechsel 2012/2013 rund 80 Prozent aller Kommunen ihre Steuern und Gebühren massiv erhöhen. Von der Verteuerung sind vor allem Kitas, Ganztagesschulen, Grundsteuern und Friedhofsgebühren betroffen. Ebenfalls auf der Liste stehen: Eintrittspreise für Schwimmbäder, Hundesteuer und Parkgebühren. Die Schmerzgrenze der Bürger wird dadurch bald erreicht sein. Die Schere zwischen armen und reichen Kommunen wird immer größer. Es geht nicht allen schlecht. Während Städte und Gemeinden in Hessen und Nordrheinwestfalen jeweils deutlich über zwei Milliarden Euro minus machten, erwirtschafteten beispielsweise Kommunen in Baden-Württemberg 1,8 Milliarden Überschuss. Eine Vielzahl der 99 Kommunen konnte wegen ihrer schwachen Infrastruktur und den Folgen des demografischen Wandels nur bedingt am vergangenen wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben. Bis 2015 werden 64 Prozent aller Kommunen deshalb Haushaltssicherungskonzepte aufstellen müssen. Die Städte und Gemeinden, denen es heute schon schlecht geht, werden immer stärker von der Abwärtsspirale bedroht. Gemeinde- und Stadtverwaltungen verlieren zunehmend ihre Handlungsfähigkeit. Das nordrhein-westfälische Oberhausen ist die am höchsten verschuldete Kommune Deutschlands. Während dort ganze Ortsteile verelenden, muss die Stadt aber trotzdem fast 270 Millionen Euro in den Solidar-packt einzahlen. Das betrifft alle Städte und Kommunen der alten Bundesländer bis 2019. Dabei ist es völlig gleichgültig, wie ihr eigener Zustand ist. In den vergangenen zehn Jahren ist die Verschuldung der Kommunen um knapp 20 Prozent auf 126,7 Milliarden Euro gestiegen. Bisher wurde die Schuldenaufnahme über Kreditinstitute abgewickelt. Doch gerade die von der Eurokrise geschüttelten Banken werden in Zukunft genauer hinschauen. Durch die Verschärfung der Eigenkapitalvorschriften sitzt das Geld der Banken nicht mehr so locker wie früher. Geschäfte mit klammen Kommunen sind für viele Kreditinstitute schlicht und einfach unattraktiv geworden. Immer mehr Städte und Gemeinden müssen sich deshalb die benötigten Mittel direkt auf dem Geldmarkt beschaffen. Die Zeit des ‚billigen‘ Geldes ist also vorbei. So wird mehr und mehr deutlich, dass viele deutsche Kommunen de facto pleite sind. Die finanziellen Probleme vieler Städte und Gemeinden werden durch die steigenden Steuereinnahmen kaum gemildert. Im Jahr 2012 werden die Einnahmen der Kommunen um lediglich 800 Millionen Euro wachsen, sagt der Hauptgeschäftsführer des deutschen Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg. Scheinbar zu wenig – denn: Griechische Verhältnisse gibt es auch in Deutschland. Es existieren – beispielhaft sei hier Niedersachsen erwähnt – viele staatliche Gebilde, 100 die überschuldet sind und auf die Hilfe von Stärkeren hoffen. Im Gegenzug müssen auch sie sich, wie die Griechen, zu strengeren Sparmaßnahmen verpflichten. Und eine ‚Troika‘, die das alles überwacht gibt es auch – in Gestalt einer Kommission, die vom niedersächsischen Innenministerium eingesetzt wurde. Doch die Troika aus Hannover agiert im Verborgenen. Die an Griechenland erinnernden Fälle sind über das ganze Land Niedersachsen verstreut. 33 der mehr als 400 Kommunen sind es, und zwar solche, die unter hohen Kreditbergen leiden. Das Land will ihnen die Schulden abnehmen – wenn sie im Gegenzug drastisch sparen und ein Konzept vorlegen, im nächsten Jahr ohne neue Kredite auszukommen. Beispiel die Stadt Goslar - das Land übernimmt einen Großteil der Kassen-kredite, nämlich 43,7 Millionen Euro. Im Gegenzug setzt der Oberbürgermeister den Rotstift an: Die Jugendarbeit wird um 20 Prozent gekürzt, 27 der 400 Stellen im Rathaus fallen weg, die Bettensteuer wird eingeführt, Grund- und Gewerbesteuer werden hochgeschraubt. Rückt der Staatsbankrott Deutschlands immer näher? IV.2 Schuldenentwicklung in den USA – Obama erhält eine zweite Chance Meldung vom 6. November 2012: Es ist der Augenblick des Triumphes. Fast wie vor vier Jahren ist die Stimmung bei der nächtlichen Siegesfeier in Chicago. „Wir leben in dem großartigsten Land der Welt“, ruft ein überschwänglicher Obama seinen jubelnden Anhängern zu. Wie weggewischt sind die Strapazen des Wahlkampfes, wie weggewischt sind die Zweifel, die Ängste. Plötzlich, in dieser Nacht, scheint wieder alles möglich. „Heute habt Ihr Tatkraft gewählt, nicht Politik nach altem Schema", ruft ein erlöster Präsident. „Four more years“ (Vier weitere Jahre), antwortet ihm die Menge. Es scheint, als sei die Zukunft Amerikas wieder weit offen. 101 Doch die Amerikaner scheinen durch ihren Selbstbetrug selbst ihr größter Feind zu sein. So verschuldet der deutsche Staat auch sein mag, der US-Staatshaushalt ist noch viel tiefer in der Kreide. Die Differenz der Einnahmen und Ausgaben im US-Bundeshaushalt werden immer größer. Das ist seit Ende des Zweiten Weltkrieges so. Jahrzehntelang wurde mit einem Defizit von etwas mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) gewirtschaftet. Finanziert wurde das stetig größer werdende Loch aber mit immer höheren Schulden. Der Staatshaushalt der Regierung in Washington ist über die letzten 10 Jahre real um die Hälfte angewachsen. Dabei spielen die Ausgaben für das weltweite militärische Engagement und die staatlichen Krankenversicherungen Medicare (für die Pensionierten) und Medicaid (für die Armen) eine wichtige Rolle. Das US-Haushaltsdefizit weitete sich nach der großen Finanzkrise ab 2008 schlagartig aus. Die Arbeitslosenrate stieg in astronomische Höhen. Der Staat musste immer teurere Konjunkturprogramme anwerfen. Massiv steigende Etats für die Militäreinsätze im Irak und in Afghanistan trafen auf sinkende Steuereinnahmen und Konjunktur-flauten. So erhöhte sich die Neuverschuldung auf zehn Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung. Die USA schieben einen stetig wachsenden Schuldenberg vor sich her. Im November 2011 stieg die Staatsverschuldung der USA erstmals über die Marke von 15 Billionen US-Dollar. Seither musste die Schuldenobergrenze des Staates schon mehrmals angehoben werden, um überhaupt noch liquide zu bleiben. Gegenwärtig sind es rund 16,5 Billionen Dollar. Die Gesamtverschuldung liegt sogar bei unglaub-lichen 58 Billionen Dollar. Hinzu kommt der marode Zustand der Infrastruktur des Landes. Landkreise, Städte und Gemeinden stehen ebenfalls tief im ‚Soll‘. Landesweit wurden wegen des Geldmangels schon Hunderttausende Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes entlassen. Viele staatliche und kommunale Einrichtungen mussten bereits schließen. Busverkehrs-linien wurden eingeschränkt. Das Straßenverkehrsnetz des Landes verkommt zunehmend. 102 Die ehemalige ‚Motor-City‘ Detroit musste beispielsweise knapp 50 Prozent ihrer Schulen schließen. Brücken, Gleise, Flughäfen, Deiche, Dämme, Atomkraftwerke und Pipelines verfallen. Das Ansehen des Landes hat in der Vergangenheit gelitten. Besonders stark während der Regierungszeit von George W. Bush. Doch immer mehr Menschen trauen auch der neuen ‚alten‘ Regierung nicht mehr zu, eine Stabilisierung der Finanzlage auf längere Sicht zu erreichen. Meldung vom 21. Dezember 2012: Die USA stehen kurz vor ihrer sogenannten fiskalischen Klippe, ihnen geht also das Geld aus, weil wieder einmal die Schuldenobergrenze erreicht wird. Die vom früheren Präsidenten George W. Bush eingeführten Steuersenkungen enden dieses Jahr automatisch, wenn sie nicht verlängert werden. Schachern am Rande des Abgrunds. US-Haushaltsstreit: Republikanische Abgeordnete kündigen ihrer Führung die Gefolg-schaft auf. Amerika stehen unruhige Weihnachtstage bevor. Demokraten und Republikaner machen es spannend. Sie konnten sich bisher partout nicht auf eine gemeinsame Linie im Haushaltsstreit verständigen. Das sich der Kongress unmittelbar vor dem Jahresende noch einmal zusammenrauft, um ein Konzept für die Haushalts-sanierung zu verabschieden, erscheint immer fraglicher. Dabei weiß Obama nur zu gut um die Probleme des Landes: Das Land leidet unter einem noch größeren Schuldenproblem als die Euro-Zone. Die Verschuldung der USA, die mit rund 100 Prozent der jährlichen Wirtschaftskraft beinahe südeuropäische Ausmaße angenommen hat. Und dazu tragen gleich zwei Faktoren bei: das ist zum einen das massive Handelsbilanzdefizit und dann auch noch das massive Haushaltsdefizit. Da ist die marode Infrastruktur, die Wachstum hemmt, deren Überwindung aber selbst Milliarden und Abermilliarden Dollar zu verschlingen droht. Vier Jahre nach seinem ersten Amtsantritt bleibt die Bilanz des zweitgeringsten Beschäftigungsaufbaus (200.000 neue Stellen) aller US-Präsidenten seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Arbeits-losenquote liegt derzeit bei 7,9 Prozent, was ein historischer 103 Rekord ist. Allerdings ein trauriger. Dazu wuchs die Staatsverschuldung während seiner Amtszeit um vier auf rund 14,7 Billionen Dollar - auch ein Rekord. Während sich der US-Privatsektor seit der Finanzkrise entschuldet hat, wuchs die staatliche Schuldenlast immer weiter an, was teilweise in einem direkten Zusammenhang stehen dürfte - denken Sie nur an den staatlich gestützten Banken- und Hypothekensektor. Meldung vom 1. Januar 2013: Es war ein Deal in letzter Minute. Sie ist also vorbei, die Haushaltsstreiterei der Amerikaner. Ein wahrer Krimi. Aber definitiv keiner mit einem Happy End. Am Neujahrstag einigten sich in den USA Demokraten und Republikaner, die viel beschriebene Fiskalklippe, eine Mixtur aus automatischen Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen, vorerst zu umschiffen. USA umschiffen zwar die Fiskal-Klippe und steuern aber auf die nächste Klippe im Februar 2013 zu. Die Schuldenspirale bleibt ungelöst. Einschneidende Sparmaß-nahmen oder gar ein langfristiges Haushaltskonzept? Fehlanzeige. Wie soll es auch eine Lösung geben, wenn fast alle wichtigen Ent-scheidungen ausgespart wurden? Es gibt keine Steuersicherheit für alle Amerikaner, es gibt keine Sparmaßnahmen, die wirklich etwas bewirken würden. Es gibt Geplänkel und einen kleinen Streichplan. Die Mittelklasse soll nun geschützt sein, nur reiche Haushalte oberhalb von 450.000 Dollar sollen kräftig draufzahlen müssen. Aber das stimmt nicht: Auch die Mittelklasse wird drauf zahlen. Denn die Einigung hebelt die beschlossene Senkung der Lohnsteuern von 2010 aus. Für einen Durchschnittsamerikaner könnten so die Steuern im Schnitt um 1.635 Dollar steigen. Ein guter Deal sieht also anders aus. Und auch die meisten Ökonomen des Landes haben das bereits durchschaut. Wollen die Amerikaner ihrer Rolle als Nummer 1, 2, 3 in der Welt (je nach aktueller Be-trachtungsweise) gerecht werden, dann müssen sie das Problem jetzt nachhaltig lösen. 104 Das hieße auch, dass Republikaner und Demokraten ihr Ideologie-Ross verlassen und sachliche Entschlüsse fassen müssen. Schaffen die Amerikaner dies nicht, dann haben sie sich auf Jahre selbst paralysiert. Jede Partei, wie auch der Präsident, werden dann versuchen der anderen die Schuld zu geben. Die Wahrheit ist aber leider eine andere: Das gesamte politische Establishment wird schuld sein am Elend seiner Bürger. Meldung vom 24. Januar 2013: Es gibt Bewegung im US-Budgetstreit. Nein, nicht dass man sich nun doch unerwartet geeinigt hätte. Das US-Parlament versucht, die Sache erst einmal auf eine längere Bank zu schieben. Bis Ende Februar muss es ja ursprünglich eine Einigung über die Anhebung der Budgetobergrenze und vor allem auch über umstrittene Ausgabenkürzungen geben. Nun haben die Republikaner einen Gesetzentwurf vorgelegt, demzufolge eine Aussetzung der Schuldengrenze bis Mitte Mai möglich ist. Von US-Präsident Barack Obama wird der Vorstoß grundsätzlich begrüßt. Der Gesetzentwurf muss nur noch beide Kammern des US-Kongresses passieren und vom US-Präsidenten unterschrieben werden. Meldung vom 4. Februar 2013: Entwarnung aus den USA: Mit der Unterschrift von US-Präsident Barack Obama unter ein Gesetz zur Schuldenobergrenze ist der aktuelle Streit um eben diese Grenze erst einmal beigelegt. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Aber wie schon so oft in der Vergangenheit greift Obama nun zu einem Trick: Die Schuldenobergrenze wird erst einmal bis zum 19. Mai ausgesetzt. So erkaufen sich die Kontrahenten in Washington nun einfach nur Zeit. An den oben beschriebenen Fakten ändert sich nichts! Das böse Erwachen wird schon bald kommen. Die USA haben sich ja mit der aktuellen Scheinlösung nur drei Monate Zeit gekauft. Wie lange kann das gut gehen, fragt sich manch einer in Deutschland mit Sorge. Die Schulden der USA sind jetzt schon gigantisch kaum noch fassbar. Der Internet-Blog Wtfnoway.com hat im Sommer 2012 einmal ausgerechnet, wie der Schuldenberg von 15 Billionen Dollar in 105 100-Dollar-Noten aussehen würde. Die Scheine würden ausgelegt auf der kompletten Fläche eines Fußballfeldes eine Höhe von rund 93 Metern erreichen! Die Höhe ist schon lange nicht mehr aktuell. Bereits am 31. Dezember war der zulässige Schuldenstand von 16,39 Billionen Dollar erreicht. Solche Bilder zeigen, dass es auf Dauer mit dem Gelddrucken nicht weitergehen kann. Über kurz oder lang müssen die USA auf eine Sparkurs einschwenken, um unter der Schuldenlast nicht zusammen-zubrechen. Und dann sind wir speziell in Deutschland hart getroffen: • Deutschland ist einer der wichtigsten Handelspartner der USA und verdient rund 35 Milliarden jährlich durch den Export über den Atlantik. Fahren die USA einen harten Sparkurs, bricht ein großer Teil dieser Einnahmen für die deutschen Unternehmen weg. • Schlimmer noch: Die hemmungslose Schuldenmacherei entwertet den Dollar immer weiter. Wann werden Großanleger deshalb US-Staatsanleihen als Dollar-Reserven in großem Stil auf den Markt werfen. Dann ist der Zusammenbruch des Dollars als Währung unvermeidbar mit Folgen für die gesamte Weltwirtschaft, die jetzt nicht einmal vorstellbar sind. IV.2.1 Alle Maßnahmen der Bank of Japan der letzten 20 Jahre waren erfolglos Japans neue Regierung dreht den Geldhahn bis zum Anschlag auf. Führt der Geldregen das Land endlich aus der Deflationsfalle? Die Deflationsfalle, in der Japan seit über 20 Jahren steckt, konnte bisher keine Regierung durchbrechen. Trotz niedriger Zinsen und milliarden-schweren Konjunkturpakete, die die Schulden in die Höhe trieben, leidet das Land unter schwachem Wachstum. Während das BIP 106 seit 1980 um ca. 100 Prozent gestiegen ist, wuchs Staatsverschuldung im gleichen Zeitraum um etwa 900 Prozent. die Der Kurs des neuen japanischen Ministerpräsidenten Shinzo Abe ist umstritten. Im Kampf gegen die vierte Rezession seit der Jahr-tausendwende und eine seit 20 Jahren andauernde Deflation stemmen sich Regierung und Währungshüter nun gegen ein weiteres Dahin-siechen der Konjunktur. In einer gemeinsamen Erklärung kündigten sie an, dass die Notenbank ab 2014 unbegrenzt Anleihen des Staates aufkaufen wird. Zugleich verdoppelte die Notenbank das Inflationsziel von ein auf zwei Prozent. Die Regierung Abe will einen deutlich schwächeren Yen, der Japans Exportunternehmen wettbewerbsfähiger machen und so die Wirtschaft wieder in Schwung bringen soll. Dazu wird trotz Staatschulden in Höhe von 235 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) das zweitgrößte Konjunkturprogramm in der Geschichte aufgelegt. Strohfeuer oder neues Wirtschaftswunder? Statt zu erkennen, dass sowohl die Niedrigzinspolitik, als auch die Aufblähung der Staatsverschuldung und sämtliche QE-Programme bislang nicht nur erfolglos waren, sondern die seit den 1990er Jahren schwelende Deflation konservieren, wird von der neuen japanischen Regierung noch eins draufgesattelt. Momentan entwickelt sich alles wie ein überschaubares Sand-kastenspiel. Der Yen wurde in den vergangenen Wochen erfolgreich unter Druck gesetzt: Exportbeeinflusste Aktien stiegen und zogen die Börse Tokio nach oben. Somit scheint Abes Rechnung aufzugehen. Das Experiment kommt aber nunmehr in die entscheidende Phase. Für ausländische Investoren ist der japanische Anleihenmarkt aufgrund der extrem niedrigen Renditen uninteressant. Das gilt vor allem vor dem Hintergrund weiterer Währungsverluste, die sich Abe wünscht. Bleiben also nur die Bank of Japan und die japanischen Banken, um das hohe Emissionsvolumen an Staatsanleihen aufgrund der anvi-sierten Staatsschuldenerhöhung aufzufangen. 107 Meldung vom 3. April 2013: Japans Notenbank im Kaufrausch. Die japanische Notenbank setzt im Kampf gegen die Deflation auf ein massives Kaufprogramm. Wie die Währungshüter am Donnerstag nach ihrer zweitägigen Sitzung mitteilten, wird das Programm zum Ankauf von Wertpapieren deutlich ausgeweitet. Zudem verabschiedet sich die Bank von Japan vom Leitzins als maßgeblicher geldpolitischer Kenngröße und will stattdessen auf die Geldbasis (Geldmenge M0) achten. Bei der Regierung stößt sie damit auf Zustimmung: Die Entscheidung der Bank von Japan sei höchst anerkennenswert, sagte Wirtschaftsminister Akira Amari. „Die Bank von Japan wird geldpolitische Operationen so durchführen, dass die Geldbasis jährlich um 60 bis 70 Billionen Yen (495 bis 577 Milliarden Euro) steigt“, teilte die Notenbank zu ihrer Entscheidung mit. Sie zieht dazu den unbefristeten Ankauf von Wertpapieren vor. Auch wollen die Währungshüter in Zukunft japanische Anleihen mit längeren Laufzeiten von bis zu 40 Jahren kaufen. Mehrere Ankaufprogramme wurden zusammengefasst. Jährlich sollen die Bestände an Staatsanleihen um 50 Billionen Yen (412 Milliarden Euro) steigen. Zudem wollen die Notenbanker ihr Portfolio an langlaufenden Staatsanleihen und börsennotierten Fonds (ETF) verdoppeln. Die Entscheidungen seien im geldpolitischen Rat ein-stimmig gefallen, hieß es weiter. Wie belastbar ist ein System, in dem die Notenbank immer mehr Staatsanleihen kauft? Die Bank of Japan hat bereits vor Jahren signalisiert, dass sie unbegrenzt Staatsanleihen kaufen werde, und damit ausländische Hedgefonds abgeschreckt. Die Bank of Japan mag somit mögliche Shortseller (Hedgefonds, die japanische Anleihen leerverkaufen) abschrecken. Die möglichen Gefahren bestehen aber im japanischen Bankensystem, das mit Staatsanleihen überladen ist. Experten gehen davon aus, dass ein Inflationsanstieg und ein damit verbundener Anstieg der langfristigen Zinsen um 2% eine Bankenkrise in Japan nach sich ziehen können. Das System sei – auch unter 108 Einbeziehung der Staatsverschuldung – noch maximal zwölf Jahre belastbar. Die Vorstellung der neuen japanischen Regierung, alles weiterhin noch extremer manipulieren und staatlich steuern zu können, wird sich möglicherweise noch in diesem Jahr als Illusion herausstellen. Die Nachwirkungen der massiven Eingriffe im weiter oben beschriebenen System können jedoch zu spürbaren Turbulenzen führen. Und die wiederum können sich auf das globale Finanzsystem ausweiten. IV.3 Schuldenentwicklung der Euro-Staaten - So frisst sich die Schuldenkrise durch Europa Nach Eurostat ist der öffentliche Schuldenstand im Vertrag von Maastricht definiert als Brutto-Gesamtschuldenstand des gesamten Staatssektors zum Nominalwert am Jahresende nach Konsolidierung, also Verrechnung von Forderungen und Verbindlichkeiten innerhalb des Staatssektors. Der Staatssektor umfasst Zentralstaat und Extra-haushalte, Länder, Gemeinden und Sozialversicherung. Für die EU-Mitglieder (und hier insbesondere die Mitglieder des Euro-Systems) gilt gemäß Maastricht-Kriterien, dass der öffentliche Schuldenstand im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt (sog. Schuldenquote) einen Wert von 60 Prozent nicht überschreiten soll. Im Jahr 2012 verringerte sich das öffentliche Defizit in absoluten Zahlen sowohl im Euro-Raum (ER17) als auch der EU27 im Vergleich zu 2011, während der öffentliche Schuldenstand in beiden Gebieten anstieg. Gemessen am BIP verringerte sich das öffentliche Defizit im Euro-Raum von 4,2 Prozent im Jahr 2011 auf 3,7 Prozent im Jahr 2012 und in der EU27 von 4,4 auf 4,0 Prozent. Gemessen am BIP stieg der öffentliche Schuldenstand im Euro-Raum von 87,3 auf 90,6 Prozent und in der EU27 von 82,5 auf 85,3 Prozent. 109 Meldung vom 20. Oktober 2012 - Trauriger Geburtstag: Drei Jahre Eurokrise – und kein Ende in Sicht. Schon seit drei Jahren versucht die Politik, die Schuldenkrise in den Griff zu kriegen. Allen Garantien, Krediten und Versprechen zum Trotz verschärft sich die Lage weiter. Was mit gefälschten Haushaltsdaten in Griechenland begann, hat sich zu einer Krise des Euroraumes ausgeweitet. Die Hoffnungen der Politiker, mit den Hilfspaketen für Athen die Krise einzudämmen, haben sich nicht erfüllt. Auch Irland und Portugal brauchten Milliardenkredite. Griechenland wurde im Frühjahr 2012 ein Großteil der Schulden erlassen. Im Juli 2012 beantragte schließlich Spanien Hilfen aus den europäischen Rettungstöpfen, um sein Bankensystem zu stützen. Damit steuert die Schuldenkrise auf einen neuen Höhe-punkt zu. Im Januar 2013 erscheinen immer mehr Wirtschaftsdaten und die zeigen für die Eurozone einmal mehr: Die Krise ist noch nicht vorbei. Europa steht vor einem neuen Jahr mit großen Heraus-forderungen. Die Wirtschaftsaussichten sind schlecht und die Schuldenkrise von einer Lösung noch immer weit entfernt. So war es zuletzt um die Krise in Italien etwas ruhiger. Doch der Blick auf die Entwicklung der dortigen Industrieproduktion fördert ein erschreckendes Ergebnis zu Tage: So ist die Industrieproduktion im November 2012 im Vergleich zum Vorjahr um 7,6% eingebrochen. Wenn an immer mehr Stellen eingespart wird, kann das eben nur ein Absenken der Industrieproduktion zur Folge haben: Und noch laufen die harten Sparprogramme in Italien. So kommen die angeschlagenen Volkswirtschaften der Krisenländer nicht auf die Beine. Gleichzeitig verliert auch die für ganz Europa so wichtige deutsche Wirtschaft an Schwung. Bei dieser Ausgangslage kann es sehr schnell gehen. Dann werden eben nicht nur Bürgschaften fällig. Dann werden auch konkret 110 deutsche Steuergelder zur Rettung der angeschlagenen Länder fließen müssen. Doch diese Ansicht hören und sehen wir derzeit in den deutschen Medien kaum. Im Wahljahr 2013 geht es eher darum, den Euro-Optimismus weiter am Laufen zu halten. Wird uns die Realität nach dem 22. September einholen? IV.3.1 Griechenland am Abgrund Es war ein folgenreiches Geständnis: Am 20. Oktober 2009 offenbarte der griechische Finanzminister das wahre Ausmaß der Probleme. Drei Jahre später ist ein Ende der Milliardenhilfen noch immer nicht in Sicht. Wie auch? Zahlen vom September 2012 verdeutlichen am besten den kata-strophalen Zustand Griechenlands: Dort hat die Statistikbehörde die Zahlen zu den Baugenehmigungen präsentiert: Im September wurden nur noch 1.449 Baugenehmigungen ausgewiesen. Das entspricht einem Einbruch von rund 60% im Vergleich zum Vorjahr. Zudem wird auch deutlich, dass der griechische Staat als Wachstums-motor komplett ausfällt: Im September 2012 gingen gerade einmal 11 Genehmigungen für öffentliche Bauvorhaben ein. Seit dem Hoch im Jahr 2005 hat sich die Bautätigkeit in Griechenland um mehr als 90% abgeschwächt. Wie viel Geld wird Griechenland noch brauchen, bis sich das Land wieder selber auf dem Kapitalmarkt finanzieren kann? Kein Politiker wagt, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Zu oft stellten sich die Annahmen als falsch heraus. Auf das erste Rettungspaket im Frühjahr 2010 folgte ein zweites und mittlerweile scheint sogar ein drittes unausweichlich. Zwar würdigten auf dem EU-Gipfel die Staats- und Regierungschefs die Anstrengungen des Landes bei den Reformen. 111 Doch klar ist auch, dass die bisherigen Maßnahmen der Regierung, nicht ausgereicht haben, damit das Land wieder auf eigenen Füßen steht. Selbst eine Staatspleite ist für Ökonomen trotz aller politischen Solidaritätsbekundungen nicht vom Tisch. Es war das Geschenk für Griechenland zum neuen Jahr: Am 18. Dezember 2012 hat die Ratingagentur Standard & Poor’s die Kredit-würdigkeit Griechenlands gleich um sechs Stufen auf das Level Bangehoben, Aussicht: stabil. Dank der neuen Pro-Griechenland-Haltung der Europäischen Union glaubt die Agentur nicht länger an einen „teilweisen Kreditausfall“ des Landes. Der Schuldenberg des kleinen Landes ist allerdings weiterhin erdrückend – ja er wächst weiter. Allein 290 Milliarden Euro, etwa das 1,5-fache Bruttoinlandsprodukt, schuldet der Staat Investoren in aller Welt. 2012 gab das Land Staatsanleihen im Volumen von rund 93 Milliarden Euro aus. Fällig werden 2013 allerdings nur 28,5 Milliarden und auch in den nächsten Jahren belaufen sich die Rückzahlungen in kleinerem Rahmen. Interessant wird es erst 2017: Binnen einem Jahr muss Griechenland dann Anleihen im Wert von 60 Milliarden Euro ablösen. Sollte das Rating Griechenlands allerdings tatsächlich längerfristig auf dem jetzigen Niveau bleiben, stehen die Chancen nicht schlecht, dass das Land weniger auf EU-Hilfen angewiesen sein wird und sich verstärkt über den Kapitalmarkt refinanzieren kann. IV.3.2 Spanische Schuldenquote nimmt Kurs auf die 100-Marke Das Land taumelt auf den Abgrund zu. Und eine Lösung ist nicht in Sicht. So liegen die Bruttoschulden Spaniens Ende 2012 bei rund 923 Mrd. Euro. Im Vergleich zum Vorjahr entspricht das einem Anstieg von mehr als 19%. 112 Wie schnell sich die Lage in Spanien verschlechtert hat, zeigt der Blick zurück. Vor fünf Jahren betrug der Schuldenstand eben nur 360 Mio. Dollar und damit nur 40% des aktuellen Niveaus. Anders ausgedrückt: Während vor fünf Jahren die Gesamtschulden nur 36% der Wirtschaftsleistung ausmachten sind es aktuell schon 87%. Daran wird einmal mehr die fatale Lage des Landes deutlich. Nun waren auch die extrem niedrigen Schulden vor fünf Jahren ein Ergebnis des blühenden Immobilienmarktes des Landes. Bei den Zahlen im Dezember 2012 zum spanischen Immobilienmarkt müssen eigentlich sofort die Alarmglocken schrillen. Im dritten Quartal sind die Preise der spanischen Immobilien um weitere 15,2% abgesackt im Vergleich zum Vorjahr. Damit meldete die nationale Statistikbehörde mit diesen Zahlen den größten Rückgang der Immobilienpreise aller Zeiten. In den Vorquartalen hatte der Rückgang auch schon 14,4% und 12,6% betragen. Der beschleunigte Absturz zeigt einmal mehr: Der spanische Immobilienmarkt hat wohl seinen Boden noch nicht gefunden. Stellen Sie sich vor: Seit dem Hoch am spanischen Immobilienmarkt sind die Preise im Durchschnitt um fast 30% eingebrochen. Zusätzlich stehen immer mehr Immobilien in Spanien leer. Angeheizt durch den Boom und die steigenden Preise sind eben in vielen Regionen Spaniens neue Wohnungen und Häuser errichtet worden, die nun leer stehen. Die weiter fallenden Preise sind eine klare Reaktion auf diese Entwicklung: Die Nachfrage ist schwach und das Angebot ist riesig. In solchen Fällen sacken die Preise ab. Diese Entwicklung wird die Gesundung der spanischen Wirtschaft auf jeden Fall weiter massiv gefährden. Die Schwäche des Immobilienmarktes setzt auch die gesamte Volkswirtschaft unter Druck: Die viertgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone bekommt von der OECD Ende November 2012 ein extrem schlechtes Zeugnis ausgestellt. Vor allem die Prognosen bis 2015 fallen für die verschiedenen Bereiche extrem schlecht aus. 113 Nur ein Beispiel: Die Zahl der Arbeitslosen soll von aktuell 5,7 Mil-lionen auf rund 6 Millionen steigen. Das ist keine große Steigerung mehr. Doch die dramatische Lage wird erst deutlich beim Blick auf die Arbeitslosenquote: Die beträgt bei 6 Millionen Arbeitslosen dann 26,3%. Und diese Marke soll eben 2015 erreicht werden. Im Umkehr-schluss bedeutet das aber auch keine Entspannung am Arbeitsmarkt. Und das ist nur ein Sektor, der unter Druck steht. Bei der Wirtschaftsleistung erwartet die OECD erst 2014 wieder ein Wachstum in Spanien. Nach einem Rückgang von 1,3% in diesem Jahr soll sich die spanische Wirtschaft im kommenden Jahr um weitere 1,4% abschwächen. Die Erholung 2014 fällt zusätzlich auch noch mit nur aktuell prognostizierten 0,5% sehr schwach aus. Gleichzeitig steigt auch noch der spanische Schuldenstand weiter an. Hier sticht die Dynamik besonders stark hervor beim Blick auf die längerfristige Entwicklung: So lag die spanische Schuldenquote 2010 erst bei 61,5% - und damit noch im Rahmen der strengen Maastricht Kriterien. Bis Endes 2012 wird jedoch die Schuldenquote schon auf 86% an-steigen. Und dieser Trend setzt sich eben weiter fort. So erwartet die OECD für 2014 dann schon eine Schuldenquote von knapp 98%. Grundsätzlich malt die OECD ein düsteres Zukunftsbild von Spanien. Und wie reagiert die spanische Regierung auf diese düstere Prognose? Ministerpräsident Rajoy erklärte: „Wir kämpfen dafür, dass die düsteren Prognosen der OECD nicht Wirklichkeit werden.“ Das klingt kämpferisch. Aber es zeigt auch: Die spanische Regierung wider-spricht diesen Prognosen nicht. Damit ist klar: Wir können uns auf drei weitere schwere Jahre für Spanien einstellen. Und als viertgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone hat das Land ein viel größeres Gefahrenpotenzial als das kleine Griechenland. Einen ersten Vorgeschmack auf den möglichen Finanzbedarf liefern jetzt die spanischen Banken: Laut Angaben der EU werden die angeschlagenen Finanzinstitute erst einmal mit 37 Mrd. Euro unterstützt. Das ist sicherlich nur der Beginn eines sehr viel größeren Rettungsprogramms, 114 denn die Probleme von Spaniens Banken werden immer größer. Jeder zehnte Kredit ist mittlerweile ausfallgefährdet. Es drohen im Extrem-fall Verluste von 182 Milliarden Euro. Ende 2012 ist noch gar nicht absehbar, wo die Wende herkommen soll. Das sehen derzeit auch viele wohlhabende Spanier so und orientieren sich eher Richtung Ausland: Viele Spanier, die Kapital in Sicherheit bringen wollen, kaufen beispielsweise Immobilien in Deutschland. So werden die Preise vor allem in den deutschen Metropolen wie München oder Berlin auch von diesen Interessenten angetrieben. Auch das ist ein negativer Aspekt der aktuellen Euro-Krise. IV.3.3 Schuldenexplosion in Italien Die Lage ist in Italien dramatisch. Ein weiteres Beispiel für die angespannte Lage liefern jetzt die Daten zur Entwicklung der italienischen Staatsschulden. Laut offizieller Angaben sind die Schulden im Oktober 2012 um 19,5 Mrd. Euro im Vergleich zum Vormonat und sogar um mehr als 98 Mrd. Euro im Vergleich zum Vorjahresmonat angestiegen. Im Klartext heißt das: Trotz der rigiden Sparmaßnahmen der Regierung Monti wächst der Schuldenberg in Italien weiter an. Bezogen auf die aktuelle Wirtschaftsentwicklung dürfte der Schuldenstand eben jetzt zum Jahresende die Quote von 129% der nationalen Wirtschaftsleistung erreichen. Das bedeutet für Italien einen neuen Rekordstand. Doch bei den zuletzt erfolgreich verlaufenen Auktionen der neuen italienischen Anleihen rückt die Schulden-entwicklung in den Hintergrund. Erschreckend ist bezogen auf die Schuldenlage Italiens auch die Dynamik des Anstiegs. Bis zum Jahr 2007 wuchs die Staats-verschuldung des Landes um weniger als 3 Mrd. Euro pro 115 Monat. Doch seitdem ist der Monatsdurchschnitt auf rund 7 Mrd. Euro angestiegen. Damit bewahrheitet sich einmal mehr: Das exponentielle Wachstum der Schulden sorgt für eine massive Instabilität bis zum Zusammenbruch. In natürlichen Systemen herrscht das lineare Wachstum. Solche Systeme sind beherrschbar. Doch das Zinses-Zins-System ist exponentiell aufgebaut. Ist erst ein bestimmter Punkt überschritten, ist ein solches System nicht mehr beherrschbar. Bei Staatsschulden hat die Vergangenheit im Übrigen gezeigt, dass eine Schuldenquote von mehr als 120% fast immer geradewegs in den Staatsbankrott führt. Italien steuert jetzt auf die 130% zu. Das sind keine positiven Aussichten für 2013. IV.3.4 Auch Frankreich rückt in den Focus Anlass zur Sorge bereitet auch Frankreich. Mit 20 Prozent der Wirtschaftskraft des Euro-Raumes ist das Nachbarland nach Deutschland das größte Schwergewicht und damit der wichtigste Partner der Bundesregierung bei den Eurorettungsmanövern. Doch wie lange ist Frankreich noch in der Lage andere zu retten? Meldung vom 19. November 2012: Rückschlag für die Bemühungen um eine Beilegung der Schuldenkrise: Die einflussreiche Rating-agentur Moody's entzieht Frankreich die Topbonität und senkt die Kreditwürdigkeit um eine Note von ‚Aaa‘ auf ‚Aa1‘. Der Ausblick bleibt negativ, damit droht eine weitere Herabstufung. Moody's begründete den Schritt damit, dass sich Frankreichs langfristige wirtschaftliche Wachstumsaussichten eingetrübt hätten. Das Land habe an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt, teilte die Ratingagentur in Frank-furt mit. Der finanzielle Ausblick sei unsicher. Es sei auch immer weniger berechenbar, wie Frankreich künftige Schocks in der Euro-zone verkrafte. 116 Die sozialistische Regierung in Paris machte ihre konservativen Vorgänger für die Herabstufung verantwortlich. Die Moody's-Entscheidung reflektiere, dass die Vorgängerregierungen zu wenig für die Haushaltssanierung und die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft getan hätten, kommentierte Finanzminister Pierre Moscovici. Die seit Mai 2012 amtierende sozialistische Regierung unter François Hollande habe hingegen entschlossen Reformen eingeleitet und werde dies auch weiter tun. Die französischen Staatsanleihen gehörten weiterhin zu den sichersten in der Eurozone, teilte Moscovici mit. Ein schlechteres Rating kann die Geldbeschaffung am Kapitalmarkt verteuern. Moody's ist dabei nicht die erste Ratingagentur, die sich Frankreich vorknöpft: Standard & Poor's hatte bereits im Januar das Land auf die zweitbeste Note von hier ‚AA+‘ abgewertet. Damit hält lediglich Fitch noch ein sogenanntes Triple-A aufrecht, wenngleich auch hier mit negativem Ausblick. Moody's betonte, dass Frankreich immer noch sehr hoch bewertet sei. Die Wirtschaft des Landes sei breit aufgestellt und es gebe einen starken Reformwillen, führte die Ratingagentur auf der Positivseite auf. Auf der Negativseite verbuchte Moody's dagegen das ihrer Meinung nach übermäßig große Bankensystem und die engen Handelsverflechtungen mit den Problem-ländern innerhalb der Eurozone. Die Abwertung wirkt besonders schwer, weil Frankreich zu den größten Volkswirtschaften und Geldgebern Europas gehört. Auch andere Euroländer haben in der Schuldenkrise bereits an Bonität eingebüßt. Deutschland besitzt bei allen drei Ratingagenturen weiter-hin ein Spitzenrating; bei Moody's ist allerdings der Ausblick ebenfalls negativ. Die Bonitätswächter schauen sich den Fortgang der Schulden-krise sehr genau an. Auch die deutsche Wirtschaft leidet unter der Krise. Unternehmen werden weniger Waren in den rezessionsgeplagten Euroländern los; die Verunsicherung steigt und Investitionen werden zurückgestellt. All das bremst das Wachstum. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg im dritten 117 Quartal preis-, saison- und kalenderbereinigt nur noch um 0,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Die Wirtschaft war im ersten Quartal noch um 0,5 Prozent gewachsen, im zweiten um 0,3 Prozent. Die Experten beurteilen die wirtschaftlichen Aussichten für das Euro-Land kritisch. Spätestens dann wenn Frankreich ‚fällt‘, bricht Europa auseinander. IV.3.5 Großbritannien am Ende? (Inflate or Die) Dem hoch verschuldeten Großbritannien droht nun ebenfalls die Herabstufung seiner Bonitätsnote ‚AAA‘. Standard & Poors droht damit, das Rating zu senken, wenn sich innerhalb der nächsten beiden Jahre die Staatsfinanzen schlechter entwickeln, als erwartet. Der Aus-blick auf die Kreditwürdigkeit wurde auf ‚negativ‘ herabgestuft. Das macht die Kapitalaufnahme für die Briten teurer. In England mehren sich schon seit Längerem die Anzeichen für einen Staatsbankrott. Um den Konsum anzukurbeln, arbeitet die Bank von England bereits seit Jahren nach dem Motto: ‚Inflate or Die‘. Doch die anhaltende Inflation hat den Staat noch viel tiefer in die Krise gestürzt. In Großbritannien ist die implizite Verschuldung (Leistungs-versprechen der öffentlichen Hand, die nicht durch entsprechende Einnahmen gedeckt sind) fast so hoch wie in Spanien, nämlich 467% des Bruttoinlandsprodukts. Der Zustand der britischen Volkswirtschaft ist nach wie vor ver-heerend. Im Land hat sich eine gigantische Immobilienblase gebildet, die jederzeit platzen kann. Auch die Höhe der Schulden der privaten Haushalte ist in den letzten Jahren massiv angestiegen. Alleine im zweiten Halbjahr des vergangenen Jahres, hat sich die Verschuldung der britischen Bevölkerung kontinuierlich erhöht. Die 118 Zahl der neu aufgenommenen Kredite und nicht geleisteten Rückzahlungen haben deutlich zugenommen. Die Konsumenten fürchten jetzt sogar eine Begrenzung der Kreditvergabe. Während Deutschland die Rezession nach der Finanzkrise noch um-schiffen konnte, hat der Inselstaat geradewegs darauf zugesteuert. Die größte europäische Volkswirtschaft außerhalb der Währungsunion schrumpfte im vergangenen Jahr gleich mehrere Quartale hinter-einander. Ende der 1970er Jahre arbeiteten noch sieben Millionen Menschen in der britischen Industrie. Das waren fast 26% aller Jobs. Heute sind es noch 2,9 Mio., gerade einmal 9,4% der Beschäftigungsverhältnisse. Die Industrieproduktion fiel im Jahre 2009 auf den tiefsten Stand seit 1987. Im Gegenzug haben sich im gleichen Jahr die Bilanzsummen der britischen Banken auf 440% des britischen Bruttoinlandsproduktes aufgebläht. Das britische Bankensystem steht derzeit massiv unter Druck. Bereits 2011 wurden die Bonitätsnoten der Royal Bank of Scotland und der Banking Group, Lloyds, von ‚AAA‘‚ auf ‚AA-‚ herabgesetzt. Die gesamte Haushaltslage des Landes ist so katastrophal wie schon seit den 1950er Jahren nicht mehr. Wie kam es zu dieser desaströsen Lage? In den Jahren nach der Finanzkrise wurde alles unternommen, um den Konsum und den Kreditstrom wieder in Gang zu bekommen. Aber ein gesunder Aufschwung über Ersparnisbildung, Investitionen und Beschäftigung konnte nicht geschaffen werden. Doch ‚Konsum um jeden Preis‘ geht nur über die Notenpresse. Aber das ruft eine hartnäckige Inflation hervor. An deren Ende kann es in diesem Fall nur ein Ergebnis geben: die Zerrüttung des englischen Pfunds. Die Rechnung nach dem Motto ‚Inflate or Die‘ kann nicht aufgehen. Die Bank von England finanziert nahezu die gesamte Neuver-schuldung des britischen Staates. Bereits mittelfristig wird es für kleine und mittlere Unternehmen des Landes schwierig sein an frisches Geld zu kommen. Die Anzeichen für einen Staatsbankrott der 119 Insel sind definitiv gegeben. Deutschland wäre von diesem Szenario voll betroffen, da kein anderes Land so viele Nettoforderungen gegen-über den Briten hat. Angesichts dieses Szenarios stellt sich für mich ernsthaft die Frage: Warum bringt Premierminister Cameron ausgerechnet jetzt den Aus-tritt der Briten aus der EU ins Gespräch? IV.3.6 Deutschland – ein Land der Seligen? Auf den ersten Blick mag das so sein. Nach einem Jahr, in dem ständig von Krise die Rede war, verbreitet das Statistische Bundesamt am 15. Januar 2013 eine verblüffend gute Nachricht: Rechnet man die Zahlungsein- und abgänge sämtlicher öffentlicher Kassen zusammen, kommt ein bisschen mehr als eine schwarze Null heraus – erstmals seit 2007. Doch es lohnt ein genauerer Blick. Der Überschuss ist allerdings vor allem der guten Entwicklung bei der Renten- und Kranken-versicherung, sowie bei den Kommunen zu verdanken: Die Sozialversicherungen verbuchten ein Plus von 18 Milliarden Euro, die Kommunen ein Plus von sechs Milliarden. Der Bund schloss noch mit einem Defizit von 12,5 Milliarden Euro ab, die 16 Bundesländer haben zusammen ein Defizit von neun Milliarden. Finanzminister Schäuble zeigte sich auch in entsprechender aufgeräumter Stimmung: „Der Jahresabschluss ist sehr erfreulich“, ließ er wissen. Man habe für das vergangene Jahr ein Plus (2,2 Milliarden Euro) unter dem Strich erwirtschaftet. Seit 2007 steht zum ersten Mal wieder eine schwarze Zahl unter dem Jahresabschluss. Das war ein allgemeiner Grund zur Freude. Nun ja, drücken wir es mal so aus: Die Sozialkassen und Gemeinden haben es geschafft, trotz Bund und Ländern die Bilanz noch ins Positive zu drehen. Und doch reibt sich der Bürger verwundert die Augen: Warum ist Deutschlands Schuldenberg denn dann im letzten Jahr noch weiter 120 gewachsen? Wie passt das mit der Jubel- und Begeisterungsstimmung zusammen? • Es sind zwar noch Schätzwerte, aber laut EU ist die deutsche Schuldenquote im letzten Jahr um 1,2 % auf 81,7 % gestiegen. • In absoluten Zahlen heißt das: Die Staatsschulden sind von 2,086 Billionen um 74 Mrd. auf 2,16 Billionen gestiegen. • Das sind aber nur die offiziellen Zahlen. Zusammen mit den versteckten (impliziten) Schulden belaufen sie sich auf über 7 Billionen. Eine Horrorzahl - aber dennoch ist alles gut (?) Für 2013 ist kaum mit einer Besserung zu rechnen: So ist die deutsche Wirtschaftsleistung im 4. Quartal 2012 im Vergleich zum Vorquartal gesunken. Auf Jahressicht ist die deutsche Wirtschaftsleistung immer-hin um 0,7% gestiegen. Und für das gerade begonnene Jahr rechnet die Bundesregierung auch nur noch mit einem Miniwachstum auf Jahres-basis von 0,5%. Das ist definitiv zu wenig, um die angeschlagene Euro-Zone aus dem Schuldensumpf zu ziehen. Doch im Vergleich zu den Vorjahren wird erst deutlich, wie stark der Einbruch trotzdem war: So wuchs die deutsche Wirtschaft 2011 noch um 3% und 2010 sogar um 4,2%. Doch die durchgreifende Wende zum Besseren, zu einer nachhaltigen, wirklich zukunftstauglichen Finanz- und Sozialpolitik ist dies leider nicht. Das heißt: Auch in 2013 werden sich die öffentlichen Kassen insgesamt weiter verschulden. IV.3.7 Bundeshaushalt 2013 Meldung vom 20. November 2012: Regierung und Opposition haben zum Auftakt der Haushaltswoche im Bundestag über den richtigen Weg zum Defizitabbau gestritten. SPD und Grüne werten es als Versagen, dass Finanzminister Schäuble trotz guter Konjunktur (siehe 121 I.1) und niedriger Zinsen im Haushalt 2013 nicht ohne Schulden auskommt. Union und FDP halten der Opposition vor, kein Rezept zur Budgetsanierung zu besitzen. Schäuble verteidigte seinen Haushalt im Plenum mit dem Hinweis, dass die ab 2016 verpflichtende Vorgabe der Schuldenbremse bereits 2013 eingehalten werde. Beim Defizitabbau verfolge die Regierung das Ziel einer maßvollen, aber nachhaltigen Reduzierung. Der Etatentwurf für 2013 sieht eine Neuverschuldung von 17,1 Mrd. Euro vor. Für die Ausgaben des Bundes sind 302 Milliarden Euro eingeplant. Die Opposition widerspricht Schäubles Einschätzungen. Angesichts der guten Einnahmesituation hätte die Regierung die Neuverschuldung „längst auf null fahren müssen“, kritisiert der SPD-Haushaltspolitiker Carsten Schneider. „Daran sind Sie gescheitert.“ Der Haushalt 2013 sei geprägt von „Chaos, Verantwortungslosigkeit, Blindheit vor den großen Aufgaben, finanzpolitischen Tricksereien und offensichtlichem Wählerbetrug.“ Die grüne Haushaltsexpertin Priska Hinz wirft Schäuble vor, seinen Entwurf mit Buchungstricks bei Privatisierungserlösen geschönt zu haben. Zudem steht der Haushaltsentwurf 2013 unter dem Vorbehalt der Entscheidungen über den EU-Haushalt (siehe I.3) und die Griechen-land-Hilfe. In diesem Zusammenhang wirft der finanzpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Gerhard Schick, der Bundes-regierung vor, die tatsächlichen Kosten der Stützungsmaßnahmen für Griechenland zu vertuschen. Die deutschen Steuerzahler seien bereits beim ersten Schuldenschnitt Griechenlands mit über 9 Milliarden Euro herangezogen worden, und zwar in ihrer Rolle als Eigentümer der HRE-Bad Bank und der Landesbanken. „Diese Kosten verschweigt die Bundesregierung, weil sie nicht zugeben will, dass die Griechenland-Rettung etwas kostet“, sagte Schick Handelsblatt Online. Das sei unehrlich. Diese Milliarden würden in einen Schattenhaushalt geschoben, der erst in vielen Jahren aufgelöst werden solle. „Derzeit werden so 22 Milliarden Euro Schulden vertuscht“, sagte Schick. Mit 122 seriöser Haushaltspolitik habe das nichts zu tun. Worauf Schick anspielt, sind Bilanzlücken bei den Bad Banks in Deutschland, für deren Verluste der Bund garantiert. Darauf hatte jüngst auch der Jean-Monnet-Professor an der Universität Duisburg-Essen und Mitglied des Monetary-Experts-Panels im EU-Parlament, Ansgar Belke, im Gespräch mit Handelsblatt Online hingewiesen. Die erste Ab-wicklungsanstalt, die Bad Bank der WestLB, gibt laut Belke den derzeitigen Wert ihres Griechenland-Portfolios mit unter 100 Millionen Euro an. Bei der FMS Wertmanagement, die die Altlasten des einstigen Immobilienfinanzierers Hypo Real Estate verwaltet, sei die Summe größer. Sie hält noch knapp 2,2 Milliarden Euro in griechischen Schuldtiteln. Im schlimmsten Fall müsste also der Bankenrettungsfonds Soffin haften. Der Fonds verwaltet die Krisenhilfen an deutsche Banken, darunter auch die 25-prozentige Beteiligung an der Commerzbank. Weil das Haftungspolster der HRE-Bad-Bank aufgebraucht ist, er-höhen ihre Verluste faktisch die Verschuldung der öffentlichen Hand. Allerdings: In der offiziellen Statistik, die Deutschland an die EU-Kommission meldet, tauchen die Verluste der Bad Banks nicht auf. IV.4 Anteil der Finanzkrise an der Schuldensituation Politiker der europäischen Länder weisen immer wieder daraufhin, dass die Finanzkrise erst die Schuldenkrise ausgelöst habe. Ist dem wirklich so oder verschanzen sich die Politiker allzu gern dahinter, um ihre eigenen Fehler zu verschleiern? Gibt es darauf eine einfache, verbindliche Antwort? Nein! Es gibt aber zwei grundsätzliche Positionen. Vereinfacht ausgedrückt: • Ohne Finanzkrise gäbe es heute auch keine Staatsschuldenkrise (Position A). 123 • Ohne das Anhäufen von Schulden über Jahrzehnte, wäre die Finanzkrise weitgehend ausgestanden (Position B). Position A: Die Griechenlandkrise markiert eine entscheidende Wende. Zunächst schien es nur ein harmloser Etikettenwechsel zu sein: Aus der Finanzkrise wurde die Staatsschuldenkrise. Doch damit wechselten auch die Schuldigen. Die Banken als eigentliche Verursacher gerieten aus dem Blickfeld, stattdessen saßen die Staaten mit hohen Schulden auf der Anklagebank, weil sie nach gängiger Lesart „über ihre Verhältnisse gelebt haben“. Mit lebhafter Unterstützung der dankbaren Banker machten Politiker, allen voran Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, die Staatsschulden zum Hauptthema. Das deutsch-französische Gespann kannte für die Staaten der Europäischen Union nur noch eine Devise: sparen, sparen und nochmals sparen. Mit diesem Schritt beendeten Deutschland und Frankreich auch die Renaissance keynesianischer Nachfrage-programme, obwohl sich gerade die als wirksames Mittel gegen die Kollateralschäden der Finanzkrise in der Realwirtschaft bewährt hatten, und zwar weltweit. Position B: Richtig ist, dass die Finanzkrise, eine große Heraus-forderung rund um den Globus bedeutete, der nur durch riesige Konjunkturprogramme – und damit zusätzlicher Verschuldung – begegnet wurde. Die Ergebnisse waren allerdings ernüchternd. Während es Deutschland gelang, stärker aus der Finanzkrise heraus-zukommen, sind etliche Länder in Europa erst richtig in die Bredouille geraten. Aber auch Deutschland hat sich den ‚Wiederaufstieg‘ teuer erkauft. Lag die Verschuldungsrate vor der Finanzkrise 2008 noch bei ca. 60 Prozent gemessen am BIP waren es nach der Krise 2010 über 80 Prozent. Jedes Mehr an Prozent bedeutet aber eine zusätzliche Zinslast. Jeder Euro zur Begleichung der Zinsen geht aber für die Zukunfts-sicherung verloren. Die alten Industrieländer haben sich über Vierjahrzehnte Jahr für Jahr ein Stück Zukunftssicherung genommen. Natürlich haben beide Positionen Unrecht und Recht. Die Finanzkrise, also die Bankenkrise, hat die einzelnen Länder unterschiedlich hart 124 getroffen. Sie war für einige Auslöser weiterer Krisen wie beispiels-weise das Platzen der kreditfinanzierten Immobilienblasen. Es trat quasi eine Kettenreaktion ein. Aber letztlich ist auch das eine Verschuldung. Auch das ist eine Art des ‚über die Verhältnisse leben‘. IV.5 Schulden der Banken Meldung vom 28. Dezember 2012: Die franko-belgische Bank Dexia erhält eine Finanzspritze von 5,5 Milliarden Euro. Die EU-Kommission hat die milliardenschwere Rettung der franko-belgischen Bank Dexia durchgewunken. Das Vorhaben, weiterhin mit einigen Bereichen auf dem Markt präsent zu sein, sei „wirklich gerechtfertigt“, teilte EU-Wettbewerbskommissar Joaquin Almunia am Freitag mit. Es gehe nicht darum, ein fehlgeschlagenes Geschäftsmodell künstlich am Leben zu erhalten. Die Regierungen in Belgien und Frankreich hatten sich Anfang November darauf verständigt, zusätzliche 5,5 Milliarden Euro in das Institut zu pumpen. In der Folge wird der ehemals weltgrößte Kommunalfinanzierer nahezu komplett verstaatlicht und damit eine umgehende Abwicklung verhindert. Diese hätte nach Einschätzung einiger Experten Auswirkungen haben können wie die Pleite der amerikanischen Bank Lehman Brothers Die Dexia-Anteilseigner hatten wenige Tage vorher akzeptiert, dass Belgien und Frankreich fast 96 Prozent an der Gruppe halten werden. Bereits im Oktober 2011 hatte Belgien für 4 Milliarden Euro das Privatkundengeschäft der Bank übernommen, das nun Belfius heißt. Dies war bereits das zweite Mal, dass das Geldhaus gerettet werden musste. In Frankreich wird das Dexia-Kreditgeschäft mit der Banque Postale und der staatlichen Caisse des Depots (CDC) zu einem neuen Institut vereint. Ein Beispiel von vielen seit der Finanzkrise 2007/8. Nach einer Unter-suchung der Unternehmensberatung McKinsey fehlen den 125 Kredit-instituten langfristige Refinanzierungsmittel in Höhe von 1,2 Billionen Euro. IV.5.1 Bankenbilanzen bieten noch viel Sprengstoff Im Januar/Februar 2013 wird es immer deutlicher: Die Folgen der Finanzkrise haben viele europäische Banken noch immer nicht überwunden. Das zeigt sich an verschiedenen Kennziffern. So steigt der Anteil der faulen Kredite bei den Bilanzen der europäischen Banken immer weiter an. Auf die Rekordsumme von 918 Milliarden Euro belaufen sich laut Ernst & Young aktuell Kredite, die Unternehmen und Privatleute wegen der Wirtschaftsflaute nicht mehr fristgerecht zurückzahlen können. Betroffen sind wie kaum anders zu erwarten die spanischen und italienischen Banken. Stellen Sie sich kurz vor: In Spanien gelten mittlerweile annähernd 15,5% aller ausstehenden Kredite als notleidend und fallen damit in die Kategorie ‚Faule Kredite‘. Noch im Jahr 2008 vor Beginn der Krise lag diese Quote bei rund 1%. In Italien ist der Anstieg nicht ganz so stark ausgefallen. Doch auch dort liegt der Anteil der faulen Kredite auch bei 10,2 %. Binnen Jahresfrist erhöhte sich die Summe der faulen Kredite bei den Geldinstituten im Euroraum um 80 Milliarden. Deutsche Banken stünden dank der vergleichsweise starken Binnen-konjunktur deutlich besser da: Der Anteil fauler Kredite liege bei heimischen Instituten in diesem Jahr bei nur 2,7 Prozent. Die Experten gehen davon aus, dass deutsche Institute im laufenden Jahr ihren Bestand an notleidenden Krediten von 200 Milliarden Euro auf 183 Milliarden Euro verringern können. In der Eurozone insgesamt werde dieser Trend erst 2014 einsetzen. Doch die Euro-Krise zieht immer noch weitere Kreise: So ist jetzt in den Niederlanden die SNS Bank verstaatlicht worden. Die Belastungen aus Engagements bei spanischen Immobilien waren einfach zu groß. 126 Dieser drastische Schritt wurde zudem nötig, weil die staatlichen Hilfsgelder auch schon aufgebraucht worden waren. Derzeit ist eine solche Verstaatlichung ein Einzelfall. Doch ich schließe es nicht aus, dass wir so etwas in den kommenden Jahren wieder häufiger sehen werden. Die Banken werden derzeit zwar mit günstigem Kapital versorgt. Aber die Risiken sind noch immer in den Bankbilanzen vorhanden. Hier ist vor allem der europäische Bankensektor extrem gefährdet. Das größte Gefahrenpotenzial ergibt sich meiner Ansicht nach aus den riesigen Beständen europäischer Anleihen in den Portfolios der europäischen Banken. Warum bieten genau diese doch auf den ersten Blick sicheren Anleihen ein so großes Risiko? Selbst Anleihen aus den Krisenländern können mit dem Risiko null bewertet werden. In der Folge sind die Banken eben nicht dazu gezwungen, diese Anleihen mit Eigenkapital zu hinterlegen. Wie schwach die Basis der Banken in Europa sind, hat die Bilanz der Deutschen Bank gezeigt: Unterm Strich blieb im vierten Quartal 2012 ein völlig überraschender Milliardenverlust. Im Detail waren es 2,15 Mrd. Euro. Ist das erst die Spitze des Eisbergs? In den Bankbilanzen - ob nun in Deutschland, aber sicherlich verstärkt noch in den Krisenländern wie Spanien oder Italien - schlummern noch immer riesige Ab-schreibungssummen. In der Öffentlichkeit rückt die Euro-Krise in den Hintergrund. Doch unter der Oberfläche brodelt es weiter. Meldung vom 16. Mai 2013: Die EZB kündigt an, die Stresstests dieses Jahr - wie vollmundig angekündigt - doch nicht durchzuführen, sondern sie auf das kommende Jahr 2014 zu verlegen. Was steckt dahinter? Natürlich könnte man einerseits argumentieren, die EZB bräuchte angesichts dieser Aufgabe einfach mehr Zeit um alles ordentlich in die Wege zu leiten. Doch geht es hier tatsächlich nur um Vorbereitung des Prozesses? 127 Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten (DWN) schreiben: Grund für die Verschiebung sei eine notwendige Bestandsaufnahme der Großbanken, so die Europäische Bankenaufsicht in einer Mitteilung. Doch was genau heißt, dass und warum soll dies nötig sein? Fragen wir nochmals die DWN: Bei den bisherigen Stress-Tests seien Schwierigkeiten in den Bilanzen nicht gesehen worden. Die Rede ist von dem massiv gestiegenen Anteil fauler Kredite in den Büchern der Banken. Allein im spanischen Bankensektor geht es beispielsweise um geschätzte 200 Milliarden Euro. Vergebene Kredite, die nicht mehr an die entsprechenden Banken zurückgezahlt werden können, und die letztlich abgeschrieben werden müssen. Dies würde jedoch zu herben Verlusten bei den Banken führen. Nun soll die EZB bei den systemrelevanten Banken selbst die entsprechende Überprüfung der Bilanzen durchführen. Die EZB plant bereits, den Banken die faulen Kredite abzukaufen, um den Banken mehr Luft zu verschaffen, wenn es um die Vergabe neuer Kredite an Unternehmen geht. Und wenn sie die Überprüfungen vornimmt, weiß sie gleich, wie viel Schrottpapiere sie kaufen muss. Würde sich aufgrund genauerer Untersuchungen der Bilanzen tatsächlich ein klares Bild über den Zustand der großen europäischen Banken abzeichnen, würde dies die aktuelle Krise noch verschärfen. Die Risiken in den Bilanzen der systemrelevanten Banken sind enorm – nicht nur mit Blick auf die faulen Kredite, sondern auch hinsichtlich der Derivate. Im Umkehrschluss: Würde die EZB bereits jetzt den Test machen, wäre das Ergebnis wohl fatal. Und das Ende vom Lied? Letztlich geht es auch diesmal wieder darum, Zeit zu gewinnen. Der Plan ist wohl, die Bankenunion möglichst schnell europaweit zu etablieren, so dass Brüssel dann mit den gestohlenen Ersparnissen (d.h. den deutschen Spareinlagen) die Banken entsprechend ‚retten‘ kann. Die ehemalige Vorsitzende des Federal Deposit Insurance Corporation (FDIC), dem Einlagensicherungsfonds der USA-Banken, Sheila Blair, redet Klartext. Ihre Aussagen fasse ich wie folgt zusammen: • Eine neue Bankenkrise mit brutalen Zusammenbrüchen in naher Zukunft ist nicht nur möglich, sondern sogar wahr-scheinlich. 128 • Seit dem großen Zusammenbruch bei der Finanzkrise 2008 wurde nichts Wesentliches verändert, um Bankenkrisen zu vermeiden. • Viele unserer Banken sind Zombies. Lebende Tote. So Sheila Blair. Diese Banken, die eigentlich bankrott waren, sind künstlich am Leben gehalten worden. • Vollkommen inkompetente Management-Teams sind an der Spitze dieser Zombie-Banken geblieben. • Und diese Banken spielen immer noch mit den hochgradig gefährlichen Finanzprodukten, die wir toxische Papiere nennen. IV.6…Schulden der Bürger Spricht man über die Schulden, dann denkt man in der Regel zuerst an die Staatsschulden. Doch handelt es sich dabei nur um einen kleinen Teil einer traurigen Geschichte. Ein wesentlicher Teil der Schulden-problematik betrifft direkt die Bürger rund um den Erdball. Die Staatsschulden in den etablierten Volkswirtschaften haben Levels erreicht, die höher sind als während des Ersten Weltkriegs und auch höher als während der Großen Depression der 30er Jahre. Nur am Ende des Zweiten Weltkriegs waren noch höhere staatliche Schulden-stände zu verzeichnen, insbesondere für die Siegernationen USA und Großbritannien. Doch es gibt einen großen Unterschied zu damals: Private Haushalte und Unternehmen waren kaum verschuldet. Die Banken waren konservativ regulierte Institute, die Spareinlagen in Kredite verwandelten und nicht viel mehr. Heute jedoch sind auch die privaten Schulden - von Bürgern, Unternehmen und Banken - in praktisch allen westlichen Volkswirtschaften so hoch wie noch nie zuvor. 129 Abgesehen von den europäischen Krisenländern, wo wegen des Immobilienpreisverfalls der Verschuldungsgrad bedeutsam ist, steht die Euro-Zone im Vergleich zu den USA noch relativ stabil da: Während hier 44 Prozent aller Haushalte Schulden bedienen müssen, sind es in den USA 75 Prozent – zudem bei einer deutlich höheren Schuldenlast. USA: Allein im vergangenen Dezember 2012 haben die US-Bürger erneut Konsumkredite in Höhe von 19,3 Milliarden Dollar aufge-nommen, womit die Amerikaner laut Bloomberg nun insgesamt Konsumkredite in Höhe von 2,5 Billionen Dollar abstottern. Insgesamt 798 Milliarden US-Dollar Kreditkartenschulden lasten auf den Schultern der US-Bürger und 46% aller Kreditkarteninhaber schaffen es laut Forbes mit Müh und Not, ihren Schuldenstand zu halten, anstatt ihn zu verringern. Europa: Die am stärksten verschuldeten Haushalte des Euroraums, gemessen an den finanziellen Verbindlichkeiten in Relation zum Bruttoinlandsprodukt, befanden sich im Jahr 2010 in Zypern (154%), den Niederlanden (134%) und Irland (125%). Auch die privaten Haushalte in Portugal (105%) und Spanien (91%) waren stärker verschuldet als der Euroraumdurchschnitt (72%); unterdurchschnittlich war die private Verschuldung hingegen in Griechenland (66%) und Italien (59%). Deutschland verfügt ebenfalls über eine recht niedrige Verschuldungsquote privater Haushalte von 62% des BIP. Die Außen-stände stiegen von 2002 bis 2009 in allen Ländern des Euroraums mit Ausnahme Deutschlands an. Im Jahr 2010 blieb die private Verschuldung im Euroraumdurchschnitt erstmals konstant; in Deutschland, Estland, Irland, Luxemburg, Malta und Portugal ging sie sogar zurück. Deutschland: Die finanziellen Verbindlichkeiten deutscher Haushalte betrugen im ersten Quartal 2012 etwa 1,5 Bill. Euro. Der Großteil der privaten Schulden (88%) ist langfristiger Natur (Laufzeit über fünf Jahre). Mittelfristige Kredite (Laufzeit zwischen einem und fünf 130 Jahren) machen ca. 7% der Schulden aus, kurzfristige (Laufzeit bis zu einem Jahr) nur etwa 5%. Verantwortlich für die Dominanz der langfristigen Verschuldung sind die abhängig beschäftigten Privat-personen, die etwa drei Viertel des Kreditvolumens privater Haushalte beanspruchen und vorrangig Wohnungsbaukredite nachfragen. Seit dem Jahr 2009 wurden diese Immobilienkredite wieder ausgeweitet, im ersten Halbjahr 2012 jedoch in verringertem Ausmaß. Zuletzt stark angestiegen ist der Bestand an Ratenkrediten. Neben den abhängig beschäftigten Personen machen die selbstständigen Privatpersonen etwa ein Viertel der Verschuldung privater Haushalte aus. Ihr Kreditbestand nahm zuletzt ebenfalls zu. Die Löhne steigen, die Arbeitslosigkeit ist gering. Dennoch hat die Zahl der Menschen zugenommen, die ihre Zahlungsverpflichtungen nicht mehr begleichen konnten. Inzwischen betrifft dies 6,6 Millionen Erwachsene - vor allem Frauen landen immer häufiger in der Schuldenfalle. Einer von zehn Erwachsenen in Deutschland ist überschuldet. Die Zahl der Menschen, die ihre Zahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllen können, ist im Vergleich zum Jahr 2011 um rund 190.000 auf bundesweit 6,6 Millionen gestiegen, wie aus dem ‚Schuldneratlas 2012‘ hervorgeht, den die Wirtschaftsauskunftei Creditreform veröffentlicht hat. Das entspricht einem Anteil von 9,7 Prozent der Erwachsenen in Deutschland. Der Anstieg der privaten Überschuldung überrascht, denn die ökonomischen Rahmenbedingungen waren in Deutschland relativ gut. Die Konjunktur blieb stabil, die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor sehr niedrig, zudem steht vielen Verbrauchern durch eine Reihe kräftiger Lohnerhöhungen im Zuge der Tarifrunden in diversen Branchen grundsätzlich mehr Geld zur Verfügung. Aufgrund der guten wirtschaftlichen Bedingungen haben daher die klassischen ökonomischen Auslöser als Hauptursache für Über-schuldung an Bedeutung verloren: Arbeitslosigkeit ist zwar immer noch für mehr als ein Viertel der Überschuldungen 131 verantwortlich, dieser Wert liegt jedoch um 15 Prozent unter dem von 2011. Gescheiterte Selbstständigkeit als Hauptursache nahm sogar um ein Fünftel ab, 7,4 Prozent der Fälle sind darauf zurückzuführen. Stark angestiegen sind hingegen die Fälle von Überschuldung, die ihre Hauptursache in privaten Schicksalsschlägen wie Trennung und Scheidung oder Krankheit haben. Am höchsten war jedoch mit 31 Prozent die Zunahme der Überschuldungen, für die unangemessene Konsumausgaben verantwortlich sind. Die Angst vor Inflation und das niedrige Zinsniveau für Sparkonten verleitet Creditreform zufolge derzeit viele Verbraucher dazu, sich aufgeschobene Konsumwünsche zu erfüllen. Doch könne dies am Ende vor allem einkommens-schwache Haushalte überfordern, heißt es in der Untersuchung. Wo wird all das enden? Werden die Pleitekandidaten gerettet oder wird alles noch vielschlimmer? IV.7 Zeugnistag für Europas Pleitekandidaten Für die Euro-Zone war 2012 kein gutes Jahr. Erst ließ Mario Draghi die ‚Dicke Bertha‘ zwei Schüsse abfeuern. Und weil die Geldschwemme Ende 2011/Anfang 2012 die Misere der klammen Südländer nicht heilen konnte, legte die Notenbank im Sommer nach: Notfalls wollen die Währungshüter unbegrenzt Staatsanleihen der Krisenstaaten kaufen. Die Botschaft: Der Euro wird gerettet – koste es, was es wolle! Seit drei Jahren hält die Schuldenkrise Europa und die übrige Welt in Atem. Fünf von 17 Euroländern sind bisher unter den Euro-Rettungsschirm geflüchtet – und haben Reformen und eisernes Sparen versprochen. Wer hat 2012 Wort gehalten? Allmählich wird es eng unter den Rettungsschirmen EFSF/ESM. Im Gegenzug für die Milliardenkredite der internationalen Geldgeber haben die Pleiteländer 132 Reformen versprochen und sich zu ehrgeizigen Sparprogrammen verpflichtet. Diese allerdings wurden allzu oft ignoriert. Wie stehen die Euro-Pleiteländer Ende 2012 da? Wer hat Reformen nicht nur versprochen, sondern auch durchgezogen? Wo gehen die Schulden-berge zurück? WirtschaftsWoche Online hat die Krisenländer unter die Lupe genommen und die Abschlusszeugnisse 2012 verteilt. Irland Rückblick: Im November 2010 schlüpfte Irland als erstes Land unter den Euro-Rettungsschirm, nachdem die Immobilienblase im Land platze und der Bankensektor kollabierte. Die Arbeitslosigkeit stieg bis an die 15-Prozent-Marke, binnen eines Jahres stieg die Risikoprämie, die Anleger für zehnjährige Staatspapiere fordern, von knapp 7,0 auf 10,62 Prozent. Das Haushaltsdefizit schwoll zeitweise um 32 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) an. Europäische Union und Internationaler Währungsfonds (IWF) eilten zur Hilfe und garantierten Kredite in Höhe von 67,5 Milliarden Euro. Aber die Iren kämpften sich zurück: Durch massive Lohn- und Gehaltskürzungen, geringere Lebenshaltungskosten und günstigere Mieten hat das kleine Land seine Wettbewerbsfähigkeit wieder verbessern können. Die Lohnstückkosten sind seit der Finanzkrise um 6,3 Prozent gefallen – das ist EU-Bestwert –, in der herstellenden Industrie sogar um 42 Prozent. Die Folge: Irland steigert die Ausfuhren von Waren und Dienstleistungen um 9,5 Prozent gegenüber dem Vorkrisen-Niveau. Vor allem Pharma- und Medizintechnikprodukte sowie Lebensmittel sind international gefragt. In diesem Jahr wächst die Wirtschaft voraussichtlich um knapp 0,5 Prozent, im kommenden Jahr laut Prognose der EU-Kommission um etwa 1,1 Prozent. Auch die Investoren kehren zurück. Jüngst setzte der große US-Fondsmanager Franklin Templeton voll auf die grüne Insel und kaufte irische Staatsanleihen für mehr als acht Milliarden Euro. Die Zinsen – auf dem Höhepunkt der Krise bis auf 15 Prozent hochgetrieben – rutschen auf rund 4,5 Prozent. Diese Entwicklungen sind positiv. Irlands Abschlusszeugnis 2012: • Poltische Stabilität: Regierungschef Enda Kenny verfügt über breiten Rückhalt im Parlament. Auch Teile der Opposition unterstützen 133 • • • grundsätzlich Irlands Reformkurs. Widerstand kommt von den Gewerkschaften und aus der Wirtschaft. (Note: 2-) Umsetzung von Reformen: Die Lohnstückkosten wurden drastisch reduziert, die Wettbewerbsfähigkeit erhört, verkrustete Strukturen wurden aufgehoben. (Note: 2) Sparwille: In einer seiner ersten Amtshandlungen reduzierte Kenny sein Gehalt als Premier um sieben Prozent. Das Haushaltsdefizit wurde um fünf Prozentpunkte reduziert, Kritiker fordern aber mehr. (Note: 4+) Gesamtnote: Irland hat deutliche Fortschritte gemacht. Der Reformeifer ist hoch, der Sparwille fast befriedigend. Zieht die Konjunktur in den wichtigsten Abnehmerländern (Großbritannien, Deutschland) etwas an, dürfte Irland Ende 2013 wieder auf eigenen Beinen stehen können. (Note: 3+) Doch noch ist Irland nicht aus der Krise. Die Binnenkonjunktur stockt weiter. Viele Iren sind wegen geplatzter Immobilienträume immer noch bis über beide Ohren verschuldet, die Arbeitslosenrate liegt bei über 14 Prozent. Und die Schulden steigen weiter, in diesem Jahr um 8,3 Prozent des BIPs. Kritiker werfen der Regierung vor, Einspar-potenziale bei den Angestellten im Öffentlichen Dienst nicht zu nutzen. Gleichzeitig herrscht in Politik und Gesellschaft Uneinigkeit, ob der Sparkurs fortgesetzt werden soll. 30 Milliarden Euro sollen bis 2014 eingespart werden, die Wirtschaft sorgt sich. „Wir sind der Ansicht, dass die Einkaufsstraße genauso wichtig ist wie die Wall Street“, betont Danny McCoy, Generalsekretär des irischen Unternehmerverbandes IBEC. Die Etat-Kürzungen dürften angesichts der schwachen Binnennachfrage nicht höher ausfallen als die bereits in Aussicht gestellten 3,6 Milliarden Euro, fordert der IBEC. Auch Gewerkschaftschef Begg warnt davor, die wacklige Konjunkturerholung abzuwürgen, und verlangt, die Einsparungen über einen längeren Zeitraum zu strecken. Trotz der Unruhe: Im Juli 2012 erfolgte die Rückkehr an die Finanzmärkte. Das Land gab Anleihen mit einer Laufzeit von drei Monaten im Wert von 500 Millionen Euro aus und zahlte für das Geld 1,8 Prozent Zinsen. Kein Befreiungsschlag, aber ein erster Schritt. Spanien „2013 wird besser sein.“ Dies jedenfalls hofft der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy. Mit dieser Einschätzung steht die Madrider Regierung jedoch ziemlich allein da. Die Zentralbank stellte fest, dass eine Besserung der Wirtschaftslage im Euro-Krisenland nicht absehbar sei. Die EU-Kommission und die 134 OECD zeichnen ein düsteres Bild. Nach ihren Prognosen wird die Wirtschaftskraft auch im nächsten Jahr um 1,4 Prozent schrumpfen, fast dreimal so viel wie von der Regierung erwartet. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt bleibt dramatisch. Die EU und die OECD gehen davon aus, dass die Arbeitslosenquote von derzeit 25 Prozent auf über 26 Prozent steigen wird. Von den jungen Leuten zwischen 16 und 24 Jahren sind in Spanien 52 Prozent ohne Job. Spanien, das vor Beginn der Krise Millionen von Zuwanderern aufgenommen hatte, ist wieder ein Auswanderungsland. Seit Anfang 2011 kehrten 810.000 Ausländer in ihre Heimat zurück, 120.000 Spanier suchten ihr Glück in der Fremde. Rajoy reagiert nur zögerlich. Die Reform des Arbeitsmarktes kommt nur schleppend voran. Für die Sanierung maroder spanischer Banken wurden Ende November zunächst 37 Milliarden Euro freigegeben. Eine umfassende Rettungsoperation wollte Madrid bisher nicht beantragen – zu groß ist die Furcht vor dem strengen Blick der Troika-Augen und harten Reformauflagen. Zwar setzte Rajoy ein Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst durch, erhöhte die Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte und kreierte eine Benzinsteuer, die 2,3 Milliarden Euro einbringen soll. Doch das reicht nicht. Spaniens Abschlusszeugnis 2012: • • • • Politische Stabilität: Rajoy hat eine stabile Mehrheit im Parlament, doch der Druck von der Straße ist groß. Gewerkschaften und Arbeiter machen gegen seinen Sparkurs mobil, das Baskenland und Katalonien wollen sich abspalten. (Note: 3-) Umsetzen von Reformen: Eine Bonuszahlung für die Anstellung junger Leute, eine Lockerung des Kündigungsschutzes und weniger Tarifverträge: Rajoy hat Reformen angestoßen. Doch oft sind sie nicht entschieden genug. So müssen Zeitverträge nach zwei Jahren in volle Stellen umbesetzt werden, Abfindungen bleiben hoch. (Note: 4) Sparwille: Spanien wird 2012 wohl mit einem Haushaltsminus von acht Prozent des BIPs abschließen. Auch 2013 sieht die Prognose ein kräftiges Minus voraus (6,0 Prozent). Die Sparmaßnahmen sind weitgehend Kosmetik. (Note: 5) Gesamtnote: Spanien bleibt ein Sorgenkind. Premier Rajoy muss in Zukunft deutlich mehr sparen als 2012 und auch unliebsame Reformen gegen die Gewerkschaften durchführen. Gelingt das nicht, braucht Spanien 2013 Hilfe von außen – nicht nur für seine Banken. (Note: 4-) 135 Nach einer EU-Prognose wird Spanien 2014 bei der Höhe des Budgetdefizits alle anderen EU-Staaten - einschließlich Griechenland - übertreffen. Die Exportwirtschaft ist der einzige Bereich, in dem eine Besserung auszumachen ist. Aufgrund gesunkener Löhne steigerte Spanien seine Wettbewerbsfähigkeit und erzielte erstmals seit 1998 einen Handelsüberschuss. Dabei spielt allerdings auch eine Rolle, dass die Spanier weniger Güter aus dem Ausland importieren. Die Bauwirtschaft, deren Zusammenbruch vor gut vier Jahren die Krise auslöste, liegt nach wie vor am Boden. „Spanien hängt zu 100 Prozent von der Wahrnehmung ab, dass es im Falle des Falles staatliche Unterstützung erhält”, sagte Russel Matthews, Fondsmanager bei BlueBay Asset Management Ltd. in London laut der Nachrichtenagentur Bloomberg. „Die Fundamentaldaten sind so schlecht geworden, dass der Glaube an Spaniens Fähigkeit, auf eigenen Füßen zu stehen, verschwunden ist“, stellte er fest. Ohne die EZB habe Spanien die schwierige Wahl zwischen einem vollen Rettungsantrag oder dem Ausscheiden aus dem Euro. Zypern Lange Zeit war der Inselstaat mit seinen 800.000 Einwohnern und seinem Bruttoinlandsprodukt von 18 Milliarden Euro zu klein, als dass sich in der EU jemand ernsthaft mit Zypern beschäftigt hätte. Doch das hat sich geändert, seitdem Euro-Partner und Zypern über Milliarden-Rettungspakete diskutieren müssen. Die größten Sorgen bereiten die Banken des Landes. Sie haben durch Fehlinvestitionen riesige Kapitallücken angehäuft. Rund ein Viertel ihrer ausgereichten Kredite gingen an Griechen, zudem halten die zypriotischen Geldinstitute in hoher Zahl griechische Staatsanleihen. Der IWF schätzt die Außenstände der zypriotischen Banken gegenüber griechischen Schuldnern – dem Staat wie privaten Kreditnehmern – Ende letzten Jahres auf 29 Milliarden Euro. Das ist gut das Eineinhalbfache der jährlichen Wirtschaftsleistung. Ob ein Großteil der Kredite jemals zurückgezahlt werden kann, ist mehr als fraglich. Die ersten Banken wackeln schon jetzt. Experten sprechen von bis zu zehn Milliarden Euro, die Zypern für die Rekapitalisierung seiner Banken braucht. Für Zypern ist der Schuldige damit klar: Griechenland. „Wäre dieses Problem nicht, bräuchten wir gar keine Hilfe“, sagt der Sprecher des zyprischen Finanz-ministeriums Michalis Papadopoulos. Doch die Wahrheit ist: Die enge Verknüpfung hat das Land bewusst gewählt. Darüber hinaus verweigert es jede Reform und sucht den Schulterschluss zu Russland, anstatt sich zu westeuropäischen Standards zu bekennen. 136 Zyperns Abschlusszeugnis 2012: • • • • Politische Stabilität: Eine Einigung der geteilten Insel (türkisch im Norden, griechisch-zypriotisch im Süden) ist nicht in Sicht. Kommunist Christofias wird bei der Präsidentschaftswahl im Februar 2013 nicht erneut antreten, offen ist, wer an seine Stelle tritt. Die orthodoxe Kirche hat einen großen Einfluss. (Note: 4) Umsetzung von Reformen: Der öffentliche Sektor ist aufgebläht, Christofias mied jede Reform. Die Troika will er nicht ins Land lassen, lieber lässt sich die Regierung mit einem Kredit aus Russland helfen. (Note: 6) Sparwille: Zypern verfehlt die Maastricht-Kriterien deutlich. Das Haus-haltsdefizit liegt in diesem und im kommenden Jahr bei deutlich über fünf Prozent. Dennoch lehnt Christofias ein Sparprogramm entschieden ab. (Note: 6) Gesamtnote: Zypern hat 2012 bewiesen, dass es politisch nicht nach Westeuropa passt. Das Land ist nicht willens zu sparen und blockiert nötige Reformen. Europas Glück: Das Land ist zu klein, um die Währungsunion nachhaltig zu schaden. (Note: 5-) Zypern hat sich bislang 2,5 Milliarden Euro zu einem Zinssatz von 4,5 Prozent von Russland geliehen. Gleichzeitig deuten Daten der russischen Notenbank deuten darauf hin, dass Russen den Inselstaat in großem Stil für die Geldwäsche und Steuerhinterziehung nutzen. Ein zweites Beispiel: Frankreichs Energiekonzern Total erhielt Ende Oktober Lizenzen, um ein vielversprechendes Gasvorkommen vor der zypriotischen Küste zu erkunden. Seitdem kämpfen Frankreichs Präsident Francois Hollande und Zyperns Präsident Christofias gemeinsam dafür, Gelder aus dem ESM möglichst schnell den Banken zur Verfügung zu stellen. Ans Sparen denkt der kommunistische Präsident nicht – auch wenn das Haushaltsdefizit in diesem Jahr bei 5,3 Prozent des BIPs liegen wird. Die Staatsschulden werden in diesem Jahr wohl auf über 13,5 Milliarden Euro steigen, das sind 76,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dennoch sprach sich Christofias wiederholt und mit deutlichen Worten gegen eine strenge Sparpolitik aus. „Diese Politik, die uns aus der Krise führen sollte, hat unsere Probleme nicht gelöst, im Gegenteil, sie hat sie noch verschärft“, so der Präsident. Zyperns Staatsdiener werden damit auch weiterhin mit durchschnittlich 46.700 Euro im Jahr fast doppelt so gut entlohnt wie die Angestellten in der Privatwirtschaft. Die Personalkosten sind seit der Einführung des Euro 2008 im Staatssektor allein um 25 Prozent gestiegen. Und: Wie im Nachbarland Griechenland ist der öffentliche Dienst auf der Mittelmeer-Insel hoffnungslos aufgebläht. 137 Im jüngsten Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF) heißt es, die Lage der Insel sei „verwundbar und beängstigend“. Griechenland Die griechische Tragödie wurde 2012 um gleich mehrere Akte reicher. Zwei Mal mussten die Bürger des Euro-Pleitestaates in diesem Jahr zur Wahl antreten. Zwischenzeitlich drohte die Machtübernahme des linksradikalen ‚Syriza‘-Bündnisses, das sämtlichen Sparversprechen aufkündigen wollte. Schließlich erhielt aber der Konservative Antonis Samaras die meisten Stimmen, Griechenland versprach, den Reformkurs fortzusetzen. Zum Teil stimmt das. Um sechs Prozentpunkte vom Bruttoinlandsprodukt wurde das Haushaltssaldo in nur zwei Jahren verbessert. Auch bei der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit gibt es Fortschritte: Die Lohnstückkosten sind seit 2009 rückläufig. Zum Lohn halten die internationalen Geldgeber dem Land weiterhin die Treue. Ende November wurde verabredet, die nächsten Tranchen des Rettungspakets auszuzahlen. Doch an der misslichen Lage Griechenlands hat sich nichts geändert. Die hellenische Wirtschaft ist binnen fünf Jahren um mehr als 20 Prozent geschrumpft. Für 2013 wird mit einem weiteren Minus zwischen 4,2 bis 4,5 Prozent gerechnet. Die Arbeitslosenquote liegt auf einem Rekordstand von 25,4 Prozent. Die Stimmung ist explosiv. Gewerkschaften und ‚Syriza‘ rufen zu Massenprotesten und einen Kurswechsel auf. Die Regierung genießt kaum öffentlichen Rückhalt, die Koalition nicht per se krisenfest. Griechenlands Abschlusszeugnis 2012: • • • Politische Stabilität: Präsident Samaras konnte im Sommer erst im zweiten Versuch eine Koalition bilden. Laut Umfragen ist die Mehrheit inzwischen gegen den Konservativen. Die Gewerkschaften rufen immer wieder zu Massendemonstrationen auf. (Note: 4) Umsetzung von Reformen: Auch wenn die Troika den Griechen ein positives Zeugnis ausstellt: Wirklich vorangekommen ist Athen erneut nicht. Die Öffnung der geschlossenen Berufe kommt nicht voran, Investoren meiden das Land weiter. (Note: 5) Sparwille: Das Defizit wird bei knapp sieben Prozent in diesem Jahr liegen. Dennoch leistet sich das Land den Kauf von Rüstungsgütern. Auch bei der Privatisierung von öffentlichen Unternehmen und Grundstücken kommt das Land nicht voran. (Note: 5) 138 • Gesamtnote: Griechenland bleibt das Euro-Sorgenkind Nummer 1. Fortschritte sind erkennbar, keine Frage. Doch angesichts der dramatischen Finanzlage sind die Verbesserungen zu gering und kommen zu langsam. (Note: 5) Auch bei der Umsetzung von Strukturreformen bleibt noch viel zu tun. Ein Beispiel sind die ‚geschlossenen Berufe‘. Die Zahl der Ärzte, Apotheker, Architekten, Taxifahrer und Rechtsanwälte ist streng reglementiert. Der Staat bestimmt im Dialog mit den Berufsverbänden, wer eine Tätigkeit ausüben darf, wo dies geschieht und welche Tarife verlangt werden dürfen. In über 80 Berufen gibt es in Griechenland keinen Wettbewerb. Die Weltbank stuft Griechenland in der Rangliste der Wirtschaftsfreundlichkeit 2011 auf Platz 100 ein, weit hinter den weiteren Euro-Krisenländern Spanien und Italien und nur einen Platz vor Papua-Neuguinea. Die Weltbank kritisiert: Die Ausstellung von Baugenehmigungen dauert zu lange, Firmengründungen sind kompliziert und die Kreditvergabe intransparent. Und: Klientelpolitik bestimmt den politischen Alltag. Im Parlament verhindern Anwälte und Notare eine Liberalisierung ihres Berufszweigs, auf regionaler oder kommunaler Ebene werden Posten in der öffentlichen Verwaltung nach der Farbe des Parteibuchs vergeben. Die Qualität der Mitarbeiter ist zweitrangig. Griechenland hat mit knapp 25 Prozent den europaweit höchsten Anteil von Staatsbediensteten an der Gesamterwerbsbevölkerung. An einen Stellenabbau denkt kaum einer. Das Land sitzt nach Angaben des Finanzministeriums kurz vor Jahresende auf einem Schuldenberg von 340,6 Milliarden Euro. Das sind fast 170 Prozent der Wirtschaftsleistung - Tendenz steigend. Portugal Das südwestlichste Land der Euro-Zone zeigt von allen Ländern unter dem Rettungsschirm den größten Reformeifer. Unter Premierminister Pedro Passos Coelho wurden die Löhne und Arbeitszeiten flexibilisiert, wurde der Kündigungsschutz gelockert – und das Haushaltsdefizit reduziert. Dank steigender Exporte und fallender Importe brachte die Regierung das Handelsdefizit nahezu ins Gleichgewicht. Das Haushaltsminus schrumpfte von knapp zehn Prozent des BIP im Jahr 2010 auf 4,4 (2011) und 5,0 Prozent (2012). 139 Zudem wurde ein neues Wettbewerbsrecht verabschiedet und diverse Berufe liberalisiert. Auch auf dem Mietmarkt griff Coelho durch. Der Markt mit extrem niedrigen Mieten und entsprechend maroden Gebäuden wurde dereguliert. Die Lohnstückkosten wurden nach unten gedrückt. Der durchschnittliche Stundenlohn in Portugal liegt mit 12,10 Euro rund 40 Prozent unter dem Wert Spaniens. Troika, Ratingagenturen und EU-Kommission loben Portugal. Portugals Abschlusszeugnis 2012: • • • • Politische Stabilität: Coelhos Zweier-Koalition macht einen stabilen Eindruck. Auch in der Bevölkerung genießt der Premier das Vertrauen. Je länger die Krise aber andauert, desto schwerer wird es für ihn, sich gegen die aufkeimende Wut der Gewerkschaften und Angestellten zu wehren. (Note: 3) Umsetzung von Reformen: Lob von allen Seiten und das – anders als im Fall Griechenland – zu Recht: Portugal hat seine Arbeits- und Rentenmarkt in weiten Teilen neu gestaltet und sich so fit für die Zukunft gemacht. Trotz aller Schmerzen während der Übergangszeit. (Note: 2) Sparwille: 2010 lag das Haushaltsdefizit noch bei 9,8 Prozent. Inzwischen wurde es fast halbiert. 2013 rechnet die EU-Kommission mit einem Minus von 4,5 Prozent. Dass es nicht besser läuft, liegt an der Rezession in Südeuropa (allen voran in Spanien). Viel mehr sparen kann Portugal nicht. (Note: 2) Gesamtnote: Portugal hat 2012 vieles richtig gemacht. Neben Irland ist das Land der einzige Lichtblick unter den Hilfsgeldempfängern Europas. Doch die Abhängigkeit von Spanien macht eine schnelle Genesung unmöglich. Portugal wird noch Zeit brauchen. (Note: 2) Allein: Die Konjunktur zieht nicht an. Portugiesische Unternehmen leiden unter schrumpfenden Absätzen im Inland, im Haupt-abnehmerland Spanien und in der Euro-Zone. Nach Schätzung der Notenbank in Lissabon wird die portugiesische Wirtschaft in diesem Jahr um drei und 2013 um weitere 1,6 Prozent schrumpfen. Die Arbeitslosenquote erreichte zuletzt den Rekord von 15,9 Prozent und soll 2013 weiter auf 16,4 Prozent wachsen. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt bereits sogar 40 Prozent. Anders als in Spanien oder Griechenland ist die Regierung stabil, die Bürger reagieren gelassen auf die Krise. Gewalttätige Demonstrationen blieben die Ausnahme. Statt auf die Straße, gehen die Bürger immer öfter ins Ausland. Amtliche Zahlen gibt es nicht, Experten schätzen aber, dass 2011 und 2012 insgesamt 200.000 140 bis 250.000 Menschen ausgewandert sind. In den meisten Fällen sind es die Gutund Hochqualifizierten, die gehen. Portugal droht der ‚brain drain‘. Mit der Überweisung der nächsten Tranche in Höhe von 2,5 Milliarden Euro wird Portugal im Januar insgesamt 64 Milliarden Euro oder gut 80 Prozent des 2011 von der EU, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds gewährten 78-Milliarden-Hilfspakets erhalten haben. Viele Beobachter meinen jedoch, dass das Land zur endgültigen Sanierung der Finanzen mehr Zeit und mehr Geld benötigen wird. Die Mehrheit der Euro-Länder ist dazu bereit – wenn Portugal seinen Reformweg weiterführt. Und wie sieht es mit den andren Ländern aus? Bislang haben es Italien, Slowenien und Frankreich geschafft, sich mit eigenen Kräften gegen die Krise zu stemmen. Doch zum Jahresende 2012 stehen alle drei genannten Länder mit dem Rücken zur Wand. Wie haben sich die Länder im ablaufenden Jahr geschlagen – und droht die Flucht unter den Rettungsschirm? Italien Mario Monti hat Italien auf den rechten Weg gebracht. Ab 2014 soll eine Schuldenbremse ausgeglichene Haushalte garantieren, die Mehrwertsteuer wurde angehoben, Steuererleichterungen abgeschafft. Eine Reichen- und Immobiliensteuer soll zehn Milliarden Euro in die Kasse spülen, Privatisierungen weitere 15 Milliarden Euro. Auch das Renteneintrittsalter wurde angehoben, der Kündigungsschutz wurde gelockert. Der Lohn der Bemühungen: Das Geld kommt zurück ins Land. Zwischen Juli und September wurden im Schnitt 11,5 Milliarden Euro pro Monat ins Land gebracht. In der Folge mussten sich Italiens Banken weniger Geld bei der Europäischen Zentralbank leihen. Italiens Abschlusszeugnis 2012: • • Politische Stabilität: 13 Regierungschefs in 20 Jahren: Kontinuität ist in Italien ein Fremdwort. Mario Monti kündigte überraschend an, noch in diesem Jahr zurückzutreten. Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi plant sein Comeback. Investoren sind hochgradig verunsichert. (Note: 5) Umsetzung von Reformen: Monti hat viele Reformen angestoßen, von der Schuldenbremse über die Lockerung des Kündigungsschutzes bis hin zu einer Anhebung des Renteneintrittsalters. (Note: 2) 141 • • Sparwille: Italien kann möglicherweise schon in diesem Jahr die Drei-Prozent-Grenze bei der Neuverschuldung einhalten. Dazu trägt auch das Sparpaket (‚Salva Italia‘) bei, dass Einsparungen bei Pensionen vorsieht. (Note: 2) Gesamtnote: Italien war unter Monti in vielen Punkten (Ausnahme: Forderung nach Vergemeinschaftung der Schulden Europas) auf dem richtigen Weg. Mit seinem Rücktritt steht Italien vor einer ungewissen Zukunft. (Note: 4) Doch Mitte Dezember der Schock: Mario Monti tritt nach Querelen mit den italienischen Parteien, die ihn dulden noch in diesem Jahr zurück. Noch im Februar soll neu gewählt werden, Silvio Berlusconi, der das Land kaputt wirtschaftete, arbeitet an seinem Comeback. Die Märkte reagierten besorgt, die Renditen für italienische Anleihen schossen in die Höhe, die EU warnt, Italien dürfe seinen Reformweg nicht verlassen. Frankreich Moody’s entzog Frankreich Ende November sein ‚AAA‘-Rating. Überraschend ist das nicht: Das Land ignoriert die Herausforderungen der Globalisierung, ifo-Präsident Hans-Werner Sinn ist sich sicher: „Kein Land in Europa ist dem Sozialismus näher als Frankreich.“ Frankreichs Staatsverschuldung liegt inzwischen bei über 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – Tendenz steigend. Über drei Millionen Franzosen sind inzwischen arbeitslos, das sind mehr als zehn Prozent aller Bürger im erwerbsfähigen Alter. Bei den Jung-Erwachsenen ist gar jeder vierte ohne Job. Noch wächst die französische Volkswirtschaft minimal, doch schon im neuen Jahr könnte damit Schluss sein. Glaubt man den Prognosen, steuert das Land geradewegs auf eine Rezession zu. Frankreichs Abschlusszeugnis: • • Politische Stabilität: Francois Hollande hat nach nur einem halben Jahr einen Großteil seiner Sympathien verspielt. Links- und Rechtsextreme gewinnen an Zulauf und machen Druck. Auch die Gewerkschaften machen Hollande das Leben schwer. Eine Regierungskrise ist zunächst aber nicht in Sicht. (Note: 3-) Umsetzung von Reformen: Der französische Präsident hat Reformen umgesetzt – doch diese dienen nicht gerade der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit (Reichensteuer, Absenkung des Renteneintrittsalters). 142 • • An dem üppigen Sozialsystem wagt sich Hollande nicht heran, auch der Arbeitsmarkt mit seinem beinharten Kündigungsschutz bleibt unangetastet. (Note: 5) Sparwille: Frankreichs Defizit wird nur langsam zurückgefahren (in diesem Jahr von 5,2 Prozent des BIP auf 4,5). Gerade im aufgeblähten öffentlichen Dienst wird großes Sparpotenzial nicht genutzt. Privatisierungen kommen nicht voran. (Note: 4) Gesamtnote: Frankreich hat 2012 nichts getan, um auf die Heraus-forderungen der Globalisierung zu reagieren. Statt sich zu öffnen, schottet sich das Land ab. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone hat das Potenzial, die Krise zu meistern, besitzt kluge Köpfe und eine funktionierende Industrie. Ein Kandidat für den Euro-Rettungsschirm ist Frankreich derzeit nicht. Doch das kann sich ändern, ruht sich das Land weiter auf den Errungenschaften der Vergangenheit aus. (Note: 4) Die Gründe sind vielfältig: Während das Land zum Zeitpunkt der Euro-Einführung 1999 bei den Lohnstückkosten noch hinter Deutschland lag, ist es nun fast 25 Prozent teurer als der große Nachbar im Osten. Der gesetzliche Mindestlohn wurde kontinuierlich angehoben, auf derzeit 9,19 Euro pro Stunde oder 1.400 Euro im Monat. Mit den Sätzen liegt Frankreich im weltweiten Vergleich im Spitzenfeld. Das üppige französische Sozialsystem oder der Arbeitsmarkt, auf dem beinharter Kündigungsschutz, 35-Stunden-Woche und bis zu neun Wochen Urlaub regieren, sind für Hollande heilige Kühe. Trotzdem haben sich seine Wähler von ihm abgewandt. Umfragen sehen große Gewinne für die extremen Parteien am linken und rechten Rand. Slowenien Korruption in den Kommunen, ein Premier im Visier der internationalen Ermittler und unfähige Oppositionspolitiker: Slowenien steht sich selbst im Weg. Dabei wäre entschiedenes Handeln wichtig. Der Bankensektor ist noch immer nicht stabilisiert, dabei sollen rund 18 Prozent aller Bankkredite vom Ausfall bedroht sein. Im eingebrochenen Bausektor sind es sogar 50 Prozent. Moody's schätzt, dass das marode Bankensystem, wo auch der Staat den Ton angibt, bis zu drei Milliarden Euro Sanierungskosten benötigt. Der slowenische Wirtschaftsprofessor Joze Damijan bezifferte den Bedarf an frischem Geld zur Aufstockung des Kapitals und zur Ablösung fauler Kredite auf bis zu acht Milliarden Euro. 143 Sloweniens Abschlusszeugnis 2012: • • • • Politische Stabilität: Korruption in den Kommunen, ein Premier im Visier der internationalen Ermittler und unfähige Oppositionspolitiker: Sloweniens Politiker machen einen verheerenden Eindruck. Die Wut der Bürger nimmt zu, Demonstrationen sind zuletzt in Gewalt umgeschlagen. (Note: 4) Umsetzung von Reformen: Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes kommt nicht voran. Die Rentnerpartei ‚DeSUS‘ blockiert eine Reform des Rentensystems. Viele Bürger gehen bereits mit 58 Jahren in den Ruhestand. (Note: 5) Sparwille: Slowenien versucht mit Privatisierungen sein Haushaltsdefizit zu verkleinern und den Schuldenberg abzubauen. Doch weder eine der maroden staatlichen Banken noch die Fluglinie Adria Airways konnte bisher abgestoßen werden. Weitere Ideen hat die Politik derzeit nicht. (Note: 4) Gesamtnote: Experten im In- und Ausland sind sich sicher: Ohne Hilfe von außen wird Slowenien nicht durch die Krise kommen. Zu marode sind die Banken, zu löchrig der Haushalt. Hinzu kommt, der mangelnde Reformeifer und Sparwille der Regierung. 2012 war kein gutes Jahr für Slowenien. (Note: 4-) Auch der Arbeitsmarkt und das Rentensystem müssen dringend reformieren muss. Slowenien erlaubt es sich, seine Bürger schon mit 58 Jahren in den Ruhestand zu schicken, viele gehen bereits mit 57 Jahren. Kein anderes Industrieland hat ein derart geringes, offizielles Renteneintrittsalter. Mehrere Regierungen versuchten schon eine schrittweise Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf bis zu 65 Jahre. Doch bisher sind noch alle Reformversuche – und gleichzeitig ganze Regierungen – an dem Widerstand der ‚Demokratischen Rentnerpartei Sloweniens‘ (DeSUS) gescheitert. Sie ist sehr populär und die einzige Konstante im politischen System. Die Rentnerpartei ist seit Jahren an allen Regierungskoalitionen beteiligt – auch an der derzeitigen Mitte-Rechts-Regierung von Ministerpräsident Janša, die aus fünf Parteien besteht. „Ich sehe nicht, dass Slowenien zeitnah aus der Krise kommt. Die Bürger resignieren, Unternehmer wandern ab und die Politik beschränkt sich auf Grabenkämpfe“, so Klaus Schuster, ehemaliger Bank-Vorstand und erfolgreicher Managementbuch-Autor, der 2006 sein Beratungsunternehmen in Ljubljana gründete und dem er heute vorsteht. „Es wäre gescheit, wenn wir eine Technokraten-Regierung wie in Italien bekommen würden. Wir brauchen Leute, die 144 es verstehen, ein Unternehmen oder einen Staat ausgabenseitig zu stabilisieren und einnahmeseitig zu sanieren.“ Mit einer neuen Führung sollte das Land dann unter den Euro-Rettungsschirm flüchten, schlägt Schuster vor. IV.8 Fazit – Kapitel IV: Wird alles noch schlimmer? Bundeskanzlerin Merkel verbreitet am Ende des Jahres 2012 ge-dämpften Optimismus, dass wir in der Euro-Krise das Schlimmste hinter uns haben. Die Verlautbarungen der Politiker klingen beinahe wie abgesprochen und sind es wahrscheinlich auch. Ist der Optimismus gerechtfertigt oder wird alles nur noch schlimmer? Ist es in Wahrheit die gefährliche Ruhe vor dem finalen Sturm? Trotz allen politischen Bekenntnissen zu einer solideren Finanzpolitik hat im Euro-Raum insgesamt betrachtet noch kein Abbau der Staats-verschuldung begonnen. Im Gegenteil: Die kumulierten Brutto-schulden der Eurostaaten sind im zweiten Quartal 2012 um 175 Mrd. € auf 8517 Mrd. € oder 90 % des gemeinsamen Bruttoinlandsprodukts (BIP) gestiegen. Das ist der höchste Wert seit dem Start der Währungsunion. Die Rekordverschuldung von 90 % des BIP zeigt, welcher Kraftakt nötig sein wird, will die Eurozone als Ganzes die Schuldenquote auf den ‚Maastrich‘-Referenzwert von 60 % des BIP senken. Bisher ging die Entwicklung in die Gegenrichtung: Zum starken Anstieg der Verschuldung in den letzten Jahren trugen neben Bankenhilfen laufende Staatsdefizite bei, wie die große Mehrheit der EU-Staaten noch immer ausgewiesen hat, wenn auch mit sinkender Tendenz. Um mit den Worten Bundesbankpräsident Weidmann zu antworten: Wir sind ein gutes Stück vorangekommen, aber wir dürfen die vor uns liegende Wegstrecke nicht unterschätzen. Der Anpassungsprozess in den von der Krise betroffenen Ländern ist noch lange nicht abge-schlossen, und die Arbeiten am institutionellen Rahmen der Währungs-union müssen entschieden weitergehen. 145 V. Ursachen der Schulden Jetzt ist seit bald fünf Jahren Krise. Die Schuldenberge der westlichen Welt sind in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt durch teure Kon-junkturprogramme und die Stützung des für die Finanzkrise maß-geblich verantwortlichen Bankensektors bedrohlich angewachsen. Die Schuldenberge sind so groß geworden, dass Staatanleihen nicht mehr als sicher gelten und deshalb von Investoren immer mehr gemieden werden. Das trifft die Euro-Zone im Allgemeinen und einige Süd-länder im Besonderen. Der Euro und damit die Euro-Zone werden in Frage gestellt. V.1 Wirtschafts- und Sozialsystem auf der Grundlage von Wachstum Wirtschaftsentwicklung und Ausweitung des Sozialsystems hängen an einem Tropf – dem Tropf des Wachstums. Ohne Wachstum droht Stillstand gar Niedergang wie wir in diesen Jahren nicht nur im Süden Europas feststellen müssen. Dementsprechend führen Ökonomen und Politiker immer wieder das Wort ‚Wachstum‘ im Munde. Ist Wachstum nun die Lösung all unserer Probleme oder ist es gar die Ursache der Probleme? Oder muss ‚Wachstum‘ ganz neu definiert und umgesetzt werden? V.1.1 Staatsquote gibt einen Hinweis Da die Privatwirtschaft nicht ausreichend Wachstum generiert, ver-suchte der Staat über die Jahrzehnte hinweg immer wieder durch 146 eigene Maßnahmen das Wachstum sprich die Konjunktur anzukurbeln. Immer häufiger mit mäßigem Erfolg. Warum ist das aber so? Eine Antwort auf diese Frage liegt in der Staatsquote, also dem Verhältnis aus Staatsausgaben und Bruttoinlandsprodukt. Der Staat kann in der Regel nicht mit Geld umgehen und wirft es häufig für nutzlose und unproduktive Projekte zum Fenster hinaus, wobei bereits durch den bürokratischen Verwaltungs-Akt an sich ein Großteil der Mittel verloren geht. Je mehr Einfluss er auf das Ausgabenverhalten bekommt, umso schlechter ist das letztlich für die Allgemeinheit. Bezeichnenderweise leben wir in Deutschland derzeit in einem Umfeld von rekordhohen Steuereinnahmen. Dennoch werden immer neue Schulden gemacht, anstatt diese abzubauen. Viel schlimmer sieht es noch in den europäischen Krisenstaaten aus, die rezessionsbedingt mit deutlich weniger Steuereinnahmen auskommen müssen. Dort wurden so gut wie keine Fortschritte beim Abbau der Staatsdefizite gemacht trotz Unterstützung durch die EZB, die die Anleihezinsen und damit einen Teil der Zahllast künstlich drückt. Letztlich vernichten Ver-waltung und Bürokratie einen unvorstellbar großen Teil des von Unternehmen und Bürgern erwirtschafteten Wohlstandes. Sicher nicht ganz zufällig haben diejenigen Staaten mit einer ver-gleichsweise hohen oder gestiegenen Staatsquote die meisten wirt-schaftlichen Probleme. Bereits eine Staatsquote von 45% scheint Wettbewerbsnachteile gegenüber Staaten mit einer deutlich geringeren Quote nach sich zu ziehen. Schauen wir uns einmal die Staatsquote verschiedener Länder im Zeitablauf an (2003 und heute, 10 Jahre später). In Deutschland fiel diese Kennziffer in diesen 10 Jahren von 48,5% auf 44,9%. In anderen Staaten stieg sie hingegen: in Griechenland von 49,2% auf 51,0%, in Irland von 33,5% auf 42,8%, in Portugal von 45,8% auf 46,7%, in Spanien von 38,2% auf 42,7%, in Italien von 48,3% auf 51,0% und in Frankreich gar von ohnehin zu hohen 53,4% auf 56,2%. Und speziell Frankreich wird diese Entwicklung nicht etwa umkehren, sondern unter der Regierung der Sozialisten sogar noch verstärken. Was den Niedergang der 147 französischen Wirtschaft zweifellos beschleunigen wird und den Kern der ganzen Euroveranstaltung ins Wanken bringen wird. Ganz anders hält man es dagegen in den aufstrebenden Volks-wirtschaften Asiens. Dort sind die Staatsquoten im Vergleich extrem niedrig, das Wachstum enorm hoch. Selbst im ‚kommunistischen‘ China mit seiner von großen Staatsbetrieben gekennzeichneten Wirtschaft liegt die Staatsquote mit rund 24% nur ungefähr halb so hoch wie in Europa. Und China hat immerhin 8 Prozent Wachstum, Europa steckt in einer (leichten) Rezession. Was bringt uns unsere ganze ‚sozial gerechte Umverteilung‘, wenn dabei zu viel vom Kuchen verlorengeht? Sind wir bereit zu lernen? V.1.2 Die Geldmengenausweitung führt zur Weltwirtschaftskrise Das Karlsruher Institut für Wirtschaftforschung hat in einer Studie (1.03.2009) das Geldmengenwachstum als zentrale Ursache der Finanzkrise ausgemacht. These: Wir stehen erst am Anfang einer Weltwirtschaftskrise, die im Ausmaß mit der der 1930er Jahre ver-gleichbar ist. Der Blick auf den Geldfluss durch die Volkswirtschaften offenbart dies deutlich. Dazu muss man auch die Zusammenhänge und die Tücken des Geldmengenwachstums verstehen. Die Bankenkrise, die 2007 von den USA ausging und in viele Länder ausstrahlte, ist weit mehr als nur das Symptom einer harmlosen Konjunkturschwankung oder ein Störfall in der Kreditwirtschaft. Eine Finanzkrise, die einerseits von massenhaften Geldkrediten und andererseits von zahllosen Kreditausfällen wegen Zahlungsunfähigkeit gekennzeichnet ist, ist stets Ergebnis einer langfristigen, aber massiven Verwerfung im Gefüge einer Volkswirtschaft. 148 Zahlreiche Volkswirtschaften gründen auf einer stetig wachsenden Verschuldung von privaten und öffentlichen Haushalten. Die Ver-schuldung ist uns bewusst und in Grenzen gewollt, denn man erhofft sich durch Kreditaufnahmen immer irgendwelche wirtschaftlichen Vorteile. Die Geldmengen wachsen bei uns und in anderen Volkswirtschaften rasend schnell. Dieses Geldmengenwachstum entsteht durch Ver-schuldung, also durch Kreditaufnahmen. Die wachsende Verschuldung in einer Volkswirtschaft führt unmittelbar zu Geldmengenwachstum. Das stetige Wachsen der Verschuldung ist indes nicht beabsichtigt. Jeder Schuldner hat auch einen Gläubiger und jede Schuld ist zugleich eine Forderung. Die Zahl der Gläubiger ist gegenüber der Zahl der Schuldner mikroskopisch klein. Das Geldmengenwachstum verschleiert der Bevölkerung von Anfang an, wie sehr im Laufe von Jahrzehnten ihre Kaufkraft und damit ihre wirtschaftliche Bedeutung im Vergleich zu den wenigen Reichen sinken. Dies alles führt langfristig zum Austrocknen des Geldflusses bei 95% der Wirtschaftsteilnehmer und damit zum Zusammenbruch jeder auch für noch so stabil geglaubten Konjunktur und Volkswirtschaft. V.1.3 Deutschlands Sozialsysteme vor dem Kollaps Die ‚Schönrednerei‘ unserer Politiker wird mir, knapp 9 Monate vor der nächsten Bundestagswahl, jetzt schon zu viel. Das funktioniert immer nach demselben Muster. Der Bürger, also Sie, sollen damit ruhig gestellt werden. Dabei ist die wirtschafts- und finanzpolitische Situation noch nie so dramatisch gewesen. Egal, was die Politiker öffentlich über unsere so 149 ‚sicheren‘ Sozialsysteme kommunizieren. Ohne staatliche Hilfe geht nichts mehr. Sie als Steuerzahler tragen die Kosten des (überteuerten) Sozialstaates schon lange - und zwar in dreifacher Hinsicht: • • • höhere Steuern höhere Sozialversicherungsbeiträge (1979: 28 %; 2012: 40 %) geringere Sozialleistungen Die staatlichen Zuschüsse an die Sozialversicherungssysteme beliefen im Jahr 2008 auf knapp 100 Milliarden Euro. Bis 2013 sollen sie sogar auf 115 Milliarden steigen. Unvorstellbar: Schon jetzt müssen knapp 50 Prozent der Gesamteinnahmen des Staates für Zuschüsse an die Sozialsysteme ausgegeben werden. Und das, obwohl Sie jeden Tag doch in den Medien hören wie ‚gut‘ es den Krankenkassen und der Rentenversicherung geht. Trotzdem steigt Ihre Steuer- und Abgabenquote unaufhörlich. Jeder will in Ihr Portemonnaie greifen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zahlt der Durch-schnittshaushalt jährlich schon knapp 800 Euro mehr Abgaben als noch vor zehn Jahren. Ich möchte noch einen anderen Vergleich heranziehen, um Ihnen das Dilemma indem sich unser Sozialstaat befindet zu verdeutlichen. In Deutschland gibt es rund 82 Millionen Einwohner. Davon sind 41 Millionen erwerbstätig. Nicht erwerbstätig sind 25 Millionen Rentner, sowie 8 Millionen Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger. Erwerbstätig aber vom Steuerzahler finanziert sind 1,9 Millionen Beamte und 1,5 Millionen Pensionäre. Rund 41 Millionen Erwerbstätige stehen also über 36 Millionen Menschen gegenüber, die Leistungen vom Staat erhalten. Sie ernähren also einen ganzen Menschen mit. 150 Sie sehen ihn aber nicht. Doch er sitzt unsichtbar neben Ihnen, beim Frühstück, Mittag- oder Abendessen. Er hat immer Hunger, auch wenn Sie keinen haben. Sogar ein Laie kann sich vorstellen, dass die Lösung nur darin bestehen kann, drastische Kürzungen bei den Sozialleistungen vorzunehmen. Oder die Steuern noch weiter zu erhöhen oder beides gleichzeitig umzusetzen. Doch ich frage Sie: Welche Regierung wird sich vor Bundestags-wahlen trauen, solche Maßnahmen zu propagieren? Welche Partei die wieder gewählt werden will, hat diesen Mut? – Keine Einzige! So laufen die Sozialversicherungssysteme immer weiter aus dem Ruder und werden auch in Zukunft immer höhere Zuschüsse des Staates benötigen. Geld, das er nicht hat – aber vom Steuerzahler holen kann. So lebt unser Sozialstaat immer mehr auf Pump und steht vor dem Kollaps, wenn nichts Einschneidendes geschieht. V.2 Ursachen der Finanzkrise 2007/8 Die Finanzkrise ab 2007 ist eine globale Banken- und Finanzkrise als Teil der Weltwirtschaftskrise ab 2007, die im Sommer 2007 als US-Immobilienkrise (auch Subprimekrise) begann. Die Krise war unter anderem Folge eines spekulativ aufgeblähten Immobilienmarkts (Immobilienblase) in den USA. Als Beginn der Finanzkrise wird der 9. August 2007 festgemacht, denn an diesem Tag stiegen die Zinsen für Interbankfinanzkredite sprunghaft an. Auch in anderen Ländern, zum Beispiel in Spanien, brachte das Platzen einer Immobilienblase Banken in Bedrängnis. Die Krise äußerte sich weltweit zunächst in Verlusten und Insolvenzen bei Unternehmen der Finanzbranche. Ihren vor-läufigen Höhepunkt hatte die Krise im Zusammenbruch der US-amerikanischen Großbank Lehman Brothers im September 2008. 151 Seit Beginn der Krise wurden unzählige Berichte und Analysen über die Ursachen und Konsequenzen der Krise verfasst. Die Analysten sind sich einig: Die Krise hat viele Ursachen. Keine Einigkeit besteht hingegen darin, welches Gewicht den einzelnen Faktoren zuge-sprochen werden soll: Waren es vor allem die entfesselten Finanz-märkte, welche die USA und die Weltwirtschaft in eine der tiefsten Krisen seit der Depression der 1930er Jahre stürzten? Steht im Zentrum eine unverantwortliche Politik der US-Notenbank, welche die Verwerfungen auf den Finanzmärken weiter befeuerte, als die Zeichen der Krise längst sichtbar waren? Oder waren es doch das US-amerikanische Wachstumsmodell und die hohen Kapitalzuflüsse in die USA aus Ländern wie China, welche die unverantwortliche Kredit-vergabe erst möglich machten? Eine einfache Antwort auf diese Fragen gibt es nicht, und so enthält auch der Bericht der US-Untersuchungskommission zusätzlich zu der Konsensmeinung der Mehrheit zwei Minderheitsmeinungen. Die von den Republikanern im Kongress in die Kommission berufenen Mitglieder widersprachen ihren demokratischen Kollegen in einem wichtigen Punkt. Ihrer Meinung nach hätte die Krise auch dann nicht vermieden werden können, wenn das amerikanische Finanzsystem strenger reguliert worden wäre. Sie betonen zum einen die globalen Ungleichgewichte und die mit ihnen verbundenen Kapitalströme in die USA als eine entscheidende Ursache der Finanzkrise, zum anderen die verfehlte Wohnungspolitik der Regierung. Wer hat Recht? Für ein abschließendes Fazit ist es nach wie vor zu früh. Sicher ist jedoch, dass die Ursachen ausgesprochen komplex sind und die Krise sowohl ein Markt- als auch ein Regulierungsversagen war. Den Nährboden für die Wirtschafts- und Finanzkrise schufen zwei Faktoren: Die expansive Geldpolitik der Federal Reserve und die hohen Kapitalzuflüsse in die USA. Nach dem Platzen der New Economy Blase 2000 und den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 betrieb die US-amerikanische Notenbank Federal Reserve (Fed) auch dann noch eine expansive Geldpolitik, als die US-Wirtschaft 152 bereits wieder wuchs. Der Grund hierfür lag nicht zuletzt im Jobless Recovery: Trotz Erholung der Wirtschaft blieb die Arbeitslosigkeit vergleichsweise hoch. Da die Fed, anders als die Europäische Zentralbank, ein doppeltes Mandat hat – Preisstabilität und Voll-beschäftigung – begann sie erst Ende 2004, zunächst sehr zögerlich, die Zinsen wieder anzuheben. Gleichwohl war die hohe Arbeits-losigkeit nicht der einzige Grund für die laxe Geldpolitik. Die Fed unterschätzte lange Zeit die Preisblase am US-Immobilienmarkt, wie aus den Sitzungsprotokollen der betreffenden Jahre hervorgeht, welche die Fed jüngst im Internet veröffentlichte. Weder der damalige Vorsitzende der Fed, Alan Greenspan, noch sein Nachfolger Ben Bernanke deuteten die Zeichen richtig. Bernanke rechnete noch im Mai 2006 im schlimmsten Fall mit einem „planmäßigen Rückgang am Häusermarkt“. Für viel Liquidität im US-Markt sorgten zudem die exportstarken Länder wie China oder auch die Ölproduzenten des Nahen und Mittleren Ostens, die ihre Exporteinnahmen in den USA anlegten. China allein hielt im September 2008 US-Treasuries im Wert von 618 Mrd. Dollar – seit Anfang 2000 hatte sich dieser Wert somit rund verachtfacht (März 2000: 74,4 Mrd. Dollar). Niedrige Zinsen zusammen mit der Möglichkeit, Hypothekenrisiken durch Verbriefung (Securitization) und den Handel von strukturierten Wertpapieren (Asset-backed Securities, ABS, forderungsbesicherte Anleihen) weiterzureichen, beförderten nicht nur die Entstehung einer Immobilienblase in den USA, sondern auch eine Lockerung von Kreditvergabestandards und die Vergabe von Hypoheken an Kredit-nehmer geringer Bonität (Subprime Loans). Bei manchen dieser zweitklassigen Darlehen bestand die Sicherheit allein darin, dass die Kreditnehmer ihre Schulden mit dem Hauswert würden refinanzieren können, nicht jedoch in einer davon unabhängigen Rück-zahlungsfähigkeit. Zudem konnten Finanzinstitute dank der niedrigen Zinsen immer größere Geschäfte mit immer geringerem Eigen-kapitaleinsatz tätigen – es kam zu einem Leverage-Effekt (Hebelwirkung). Gleichzeitig wurde für breite Schichten der Bevölkerung sowohl der kurzfristige Konsum ‚auf Pump‘ als auch der Kauf beziehungsweise die Beleihung von Eigenheimen überaus 153 attraktiv. Mit dem Immobilienboom ging eine gefühlte Vermögens-steigerung der privaten Haushalte einher – dies förderte den privaten Konsum und das Wirtschaftswachstum. Zu mehr als 70 Prozent basierte die Wirtschaftsleistung in den USA vor der Krise auf dem Binnenkonsum. Die Schattenseite war eine enorme private Ver-schuldung: 2007 lag die Verschuldung der privaten Haushalte im Verhältnis zum verfügbaren Einkommen bei 137 Prozent. Dass dieses Modell nur so lange funktionieren kann, wie die Immobilienpreise steigen und Zinsen niedrig bleiben, wurde von fast allen Markt-teilnehmern ignoriert. Doch die Hauptursachen dafür, dass die Krise auf dem US-Markt für Subprime-Hypotheken sich so stark auch auf andere Bereiche des Finanzsystems auswirkte, haben kaum etwas mit der Globalisierung zu tun. Vielmehr bestand unter den Akteuren eine überzogene Risikoneigung, die von der staatlichen Regulierung und Aufsicht nicht ausreichend diszipliniert wurde. Schwächen im Finanzsystem trafen also auf ordnungspolitische Fehler des Staates. Beispielsweise kam es dazu, dass der für die Marktwirtschaft eigentlich wichtige und hoch produktive Wettbewerb der Unternehmen in die falsche Richtung wirkte und Anreize zu Fehlverhalten gab. Als einzelne Banken begannen, Regulierungs-Schlupflöcher zu nutzen um damit hohe Gewinne einzufahren, wurden andere Banken durch ihre Kapitaleigner dazu gedrängt, ähnlich hohe Renditen wie die Konkurrenz zu erzielen – und den gleichen fragwürdigen Weg zu gehen. Es gab eine ganze Reihe derartiger Regulierungs-Lücken, die gerade in den USA auch mit der politischen Einflussnahme des Finanzsektors in Verbindung gebracht werden. So fehlte es der Finanzmarktaufsicht an politischer Unterstützung und an ausreichend qualifiziertem Personal. Zudem hat der Staat eine extrem risikoreiche Hypotheken-Vergabe-praxis zugelassen. Kredite konnten gebündelt und in handelbare Anleihen umgewandelt werden. Die Experten nennen dies Verbriefung. Die sogenannten ‚Asset Backed Securities‘ (forderungs-besicherte Anleihen) wurden oft erneut wieder verpackt und dann von anderen Banken an eigens dafür gegründete Zweckgesellschaften weiterverkauft. Diese wiederum finanzierten den 154 Kauf der Forderungen oft, indem sie selbst via Schuldverschreibungen kurz-fristige Kredite aufnahmen. In der Finanzkrise brach dieses Kartenhaus weitgehend zusammen, und selbst der ansonsten sehr stabile Markt für kurzfristige Kredite (Geldmarkt) geriet in Schwierigkeiten. Außerdem hat der Staat Ratingagenturen kaum reguliert und beauf-sichtigt. Und Risiken mussten nicht – gerade bei der Verbriefung von Hypotheken – mit ausreichendem Eigenkapital zur Risikovorsorge unterlegt werden. Damit konnte es dazu kommen, dass das Finanzsystem unangemessen mit der eigentlich guten Idee der Ver-briefung umging. Dieses Instrument ermöglicht in einem ange-messenen Regulierungsumfeld im Grundsatz ein besseres Risiko-management, weil Risiken sich besser aufsplitten und verteilen lassen, so dass weniger Klumpenrisiken in den wenigen Händen der Banken liegen. Darüber hinaus hat der Staat versäumt, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass das ordnungspolitisch grundlegende Haftungsprinzip greifen kann. Die Akteure am Finanzmarkt werden nur dann keine überzogenen Risiken eingehen, wenn sie wissen, dass sie diese später nicht auf andere – z.B. die Steuerzahler – abwälzen können. • • • US-Hypothekenbanken konnten in großer Zahl extrem risiko-reiche Subprime-Kredite vergeben, weil sie die damit ver-bundenen Verlustgefahren in Form von verbrieften Wert-papieren meist vollständig an den Finanzmarkt weiter-reichen konnten. Manager in der Finanzbranche gingen enorme Risiken ein, um hohe Gewinne zu erzielen, weil die Vergütungssysteme zu kurzfristig orientiert waren und ihnen hohe Bonuszahlungen versprachen. Rückzahlungen dieser Boni für den Fall des Scheiterns der waghalsigen Finanzstrategien waren nicht vorgesehen. Rating-Agenturen erzielten hohe Einnahmen, indem sie verbriefte Wertpapiere großzügig bewerteten, ohne für die Konsequenzen ihrer Fehlurteile gerade stehen zu müssen. 155 • Deutsche Landesbanken, in deren Aufsichtsräten es zu wenige Finanzmarktexperten gibt, gingen hohe Risiken ein – im Wissen darum, dass für mögliche Verluste der Steuerzahler einstehen würde. Die Finanzkrise veranlasste mehrere Staaten, große Finanzdienstleister (unter anderem American International Group, Fannie Mae, Freddie Mac, UBS und die Commerzbank) durch riesige staatliche Fremdkapital- und Eigenkapitalspritzen am Leben zu erhalten. Auch wurden die Diskontsätze niedrig gehalten bzw. noch weiter gesenkt, um die Banken mit ‚billigem Geld‘ zu versorgen und dadurch die Kreditvergabe aufrechtzuerhalten. Einige Banken wurden verstaatlicht und später geschlossen. Die Krise übertrug sich in der Folge in Produktionssenkungen und Unternehmenszusammenbrüchen auf die Realwirtschaft. Viele Unter-nehmen, wie der Autohersteller General Motors, meldeten Konkurs an und entließen Mitarbeiter. Die ohnehin hohe Staatsverschuldung vieler Staaten stieg krisenbedingt stark an. V.3 Ursachen der Eurokrise Nachdem sich die Finanzmärkte wieder etwas beruhigt hatten, wurde im Oktober 2009 die Staatsschuldenkrise im Euroraum sichtbar, als Griechenland seine wahre Finanzlage offenbarte und Hilfspakete von IWF und Europäischer Union erbat, um die Staatsinsolvenz zu vermeiden. Wissenschaftliche Analysen sprechen dafür, dass die Bankenrettung, die in einigen Staaten mit großen Mengen von Staatsgeldern finanziert wurde, die Staatsverschuldung so stark und sprunghaft hat ansteigen lassen, dass dies die Ausbreitung der Staatsschuldenkrise von Griechenland auf andere Eurozonen-Staaten wesentlich mit verursacht haben dürfte. In diesem Zusammenhang verweisen einige Ökonomen darauf hin, dass ein weiterer Grund der europäischen Schuldenkrise (Eurokrise) in der Einführung des Euros liegt. 156 Auf die Frage, ob die Einführung des Euros eine gute Entscheidung gewesen sei, gibt es heute unterschiedliche Antworten. Die vielleicht wichtigste Antwort, ist der Hinweis auf die fehlende politische Union. Schon 1963 hat Alt-Bundesbankpräsident Karl Blessing darauf hinge-wiesen, dass man die Währungsunion in eine politische Union einbetten sollte. Anfang der 90er-Jahre, als die Währungsunion gegründet wurde, hat die damalige Bundesregierung von Helmut Kohl angemahnt, dass man zumindest klare Regeln braucht, die alle Mitglieder auch befolgen. Der Finanzjournalist Zeise weist in seinem Buch Euroland wird abgebrannt: Profiteure, Opfer, Alternativen darauf hin, dass der Euro gravierende Konstruktionsfehler hat: So wurden Länder mit unter-schiedlichster Wirtschaftskraft in einem Währungsverbund auf Gedeih und Verderb zusammengekettet. Der Euro sei ein Projekt des Groß-kapitals gewesen, das auf die ökonomischen und sozialen Belange der Bürger keinerlei Rücksicht genommen habe. Ebenso habe es einen Wettbewerb der Staaten um die Gunst der Finanzmärkte gegeben. Ein weiterer Konstruktionsfehler liege in der ungehemmten Macht der Rating-Agenturen, die am schwächsten Glied in der Euro-Kette, Griechenland, einen Exempel statuieren wollten. Zeis vertritt die Meinung, dass weder die Euro-Zone durch das „Spardiktat der deutschen Regierung noch durch die Regierungs-übernahme durch die Europäische Zentralbank gerettet“ werden könne. Oder anders formuliert: „Veränderungen, die notwendig wären, um die Währungsunion weiter zu entwickeln, um sie zu erhalten, wider-sprechen so grundlegend den Interessen derer, die sie aus der Taufe gehoben haben, dass es dazu nicht kommen wird.“ Damit es dazu käme, müsste das Finanzkapital entmachtet und seine Vermögens-ansprüche entwertet werden sowie die EU-Staaten sich durch die Einführung eines einheitlichen Steuersystems dem Zwang der Verschuldung und damit der Macht des Finanzkapitels entziehen. Illusionslos stellt Zeise fest, dass es dazu nicht kommen werde, „weil ein Ausweg aus der Krise der Interessenlage des herrschenden 157 Kapitals“ zuwiderlaufe sowie „die Gegenkräfte schwach und politisch uneins“ seien. V.3.1 Maastrich-Vertrag (Gründungsfehler) Im Zentrum des Vertrages stehen Änderungen des EG-Vertrages, in den insbesondere die Bestimmungen zur Schaffung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion in drei Stufen eingefügt werden. Laut Vertragstext sollte frühestens zum 1. Januar 1997, spätestens zum 1. Januar 1999 in der EU eine gemeinsame Währung (Euro) eingeführt werden. Damit ein Land an der Währungsunion teilnehmen kann, muss es bestimmte wirtschaftliche Kriterien (die EU-Konvergenzkriterien, auch als Maastricht-Kriterien bezeichnet) erfüllen, durch die die Stabilität der gemeinsamen Währung gesichert werden soll. Dabei handelt es sich um Kriterien, die Haushalts-, Preisniveau-, Zinssatzund Wechselkursstabilität gewährleisten sollen. Das Kriterium der Haushaltsstabilität (Defizitquote unter 3 % und Schuldenstandsquote unter 60 % des BIP) wurde als dauerhaftes Kriterium ausgelegt (Stabilitäts- und Wachstumspakt), die anderen Kriterien müssen Mitgliedsstaaten nur vor der Euro-Einführung erfüllen. Der Euro wurde am 1. Januar 1999 als Buchwährung eingeführt (am 1. Januar 2002 als Bargeld); ab dem 1. Januar 1999 waren die Wechselkurse zwischen den beteiligten Währungen fixiert. Trotz Bedenken wurde 2001 auch Griechenland in den Euroraum aufge-nommen. Die Zinsen in Griechenland und in vielen südlichen EU-Ländern sanken stark; dies verleitete in diesen Ländern Individuen, Unternehmen und auch die Länder selbst, Kredite in viel größerer Höhe als zuvor aufzunehmen (sich also zu verschulden: Staats-verschuldung, Fremdkapital, Privatschulden). 2009 gestand die griechische Regierung, dass das Land jahrelang EU-Statistiken gefälscht hatte, um seine Finanzlage zu beschönigen bzw. zu verschleiern. Die griechische Finanzkrise und die Staatsschulden-krise im Euroraum wurden sichtbar. 158 Ist der Maastricht-Vertrag zum Spaltpilz des Euroraumes geworden? Die Gemengelage ist heute gekennzeichnet durch: • • • • • Wirtschaftliche Entwicklung: massives Wachstumsgefälle Außenwirtschaftliche Ungleichgewichte Wettbewerb im Währungsraum: Massive Unterschiede bei den Lohnstückkosten Krisenstaaten in der Schuldenfalle: Zahlungsunfähigkeit Spekulativ hochgetrieben Zinssätze in den Krisenstaaten In einer Regierungserklärung im Dezember 2011 ging Bundes-kanzlerin Merkel die Väter der Europäischen Union hart an. Schon bei der Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion seien „Kon-struktionsfehler zugelassen worden, die die Euro-Gruppe inzwischen mit voller Wucht treffen“, sagte sie. Das habe sich fortgesetzt, weil Prinzipien nicht oder nicht vollständig angewandt worden seien. In der Zeit als die Währungsunion zur allgemeinen Zufriedenheit zu funktionieren schien, wuchsen unter der Hand die gegenwärtigen Probleme heran. Als Fitmacher für den Weltmarkt gedacht, hat die Währungsunion nur dort so gewirkt, wo - wie in der Bundesrepublik die vergleichsweise hohen Realzinsen zu Einschnitten in den Sozialstaat und am Arbeitsmarkt sowie zur Steigerung der Wett-bewerbsfähigkeit der Unternehmen zwangen. Anderswo hatten die auf einmal ungewohnt niedrigen Realzinsen entgegengesetzte Effekte. Die einheitliche Geldpolitik verstärkte auf der einen Seite die Defizite und auf der anderen Seite die Überflüsse in der Leistungsbilanz. Diesen entsprachen komplementäre und scheinbar risikolose Kapital-transfers aus den Überschuss- in die Defizitländer. Das Ergebnis waren kontinuierlich zunehmende Diskrepanzen der realen effektiven Wechselkurse, die ihrerseits die Unterschiede in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Euroländer kontinuierlich verstärkten. Aber ohne die Warnsignale der Zahlungsbilanzen blieben 159 die dadurch erzeugten Probleme für die nationale wie für die europäische Politik latent. Ob diese politische Blindheit und die Illusionen über die selbst-regulierenden Mechanismen der Märkte hätten sein müssen, kann man bezweifeln. Als die Probleme dann sichtbar wurden in der Schulden-krise, wandelte sich die Währungsunion aus einem liberalen Traum-land in eine in Permanenz tagende bürokratische und weitgehend intransparente Veranstaltung der Exekutiven. Dass die inneren Probleme der Währungsunion erst mit der von den USA ausgehenden globalen Finanzkrise sichtbar wurden, erschwert ihre Analyse und machte es schwieriger nüchtern nach Auswegen zu suchen. Das ehemalige Bundesbankmitglied, Thilo Sarrazin, glaubt, dass es bei der Vorbereitung und dem Vollzug der Währungsunion von Anfang der neunziger Jahre bis heute grundlegende Missverständnisse gab und gibt: • • • Das Statut des Europäischen Zentralbankensystems gibt seinen Mitgliedern eine denkbar große Unabhängigkeit: einmalige Bestellung auf acht Jahre, Weisungsunabhängigkeit, vorrangige Verpflichtung der Notenbank auf die Preisstabilität. Tatsächlich aber hat sich gezeigt, dass bei den Mitgliedern des Zentralbankrates wie auch den Mitarbeitern der EZB die Sozialisation der Herkunft und nationale Loyalitäten nach wie vor eine Rolle spielen. In der deutschen währungspolitischen Tradition seit dem Zweiten Weltkrieg stand es stets völlig außer Frage, das es nicht Aufgabe der Bundesbank, ja sogar verderblich sei, wenn diese sich direkt oder indirekt an der Finanzierung der Staats-schuld beteiligt. In der Lebenswelt anderer Notenbanken kommt dies aber durchaus öfter oder vielleicht sogar regel-mäßig vor. Der Fortfall der nationalen Notenbank als Lender oft last Ressort änderte aber grundsätzlich die Natur der Staatsanleihen im Euroraum: An die Stelle des Inflations- und Wechselkursrisikos trat – wie bei jedem Schuldner, der sein Geld nicht selber drucken kann – das Risiko eines Zahlungsausfalls. Die Märkte gingen offenbar für lange Zeit davon aus, dass es für Staatsanleihen im Euroraum keine gesonderten Ausfallrisiken gibt. Das heißt, sie hatten das No-Bail-Out-Prinzip entweder nicht verstanden oder sie nahmen es nicht ernst. No-Bail-Out heißt: Man erwirtschaftet mit getrennten Kassen, und jeder trägt indirekt die Folgen seiner (Miss-)Wirtschaft. 160 • Vielleicht das größte Missverständnis, das insbesondere in den Ländern mit traditionell höherer Inflation gab, ist der Irrtum, die im Vergleich zur Vor-Euro-Zeiten wesentlich niedrigeren Zinsen seien quasi ein ‚Geschenk‘, ein unvermuteter Vermögenszufluss, den man nun anderweitig ausgeben könne. Beim Stabilitätspakt handelt es sich nicht um eine Goodwill-Erklärung, sondern um eine völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung. Umso größer ist die Ironie, dass die Geschichte des Vertragsbruchs aus-gerechnet in Deutschland begann. Die rot-grüne Bundesregierung wollte sich nicht 2002 vor der Bundestagswahl einem Verfahren aus Brüssel wegen Überschreitung der Maastrich-Kriterien aussetzen und meldet optimistische Einschätzungen, die 2003 nicht mehr einhaltbar waren. Sind es nur jene ‚Missverständnisse‘, von denen Sarrazin spricht oder gibt es andere Gründe darüber hinaus? Erfolgte die Weichenstellung in Richtung Systemkrise dadurch, dass der Maastrich Vertrag nahezu ausschließlich auf Geldwertstabilität ausgerichtet wurde? Maßnahmen zur gegenseitigen Abstimmung der Wirtschafts-, Lohn- und Sozialpolitik waren in diesem Modell von Währungsunion nicht vorgesehen. Der Grad an gemeinschaftlicher Mindestkonvergenz, der von den aufzunehmenden Mitgliedsländern verlangt wurde, konzentrierte sich nur auf monetäre Kriterien. Diese Aufnahmekriterien standen ausschließlich unter dem Ziel, die Geld-wertstabilität der neuen Währung zu sichern. Dazu gehörten auch die Verschuldungskriterien. Gegen diese monetaristische Inflationsangst steht die Beobachtung der letzten Jahre: Der enorme Anstieg der Staatsverschuldung geht mit niedrigen Raten der Geldentwertung einher. Die Situation der Realwirtschaft und die wirtschaftliche Struktur der zukünftigen Euro-Länder spielten für den Zugang zur Währungsunion keine Rolle. Diese Ignoranz ist kein Zufall, sondern die logische Folge der Illusion von einer Währungsunion, die genügend Kraft entwickelt, wirt-schaftliche und politische Konvergenz voranzutreiben. Faktisch hat die Währungsunion die Spaltung der bereits beim Start zerklüfteten 161 ökonomischen Landschaft vorangetrieben. Die stark unterschiedliche ökonomische Wettbewerbsfähigkeit unter der Dominanz der deutschen Wirtschaft sowie die divergierenden Wirtschaftsstrukturen haben am Ende die Schuldenkrise in den Mitgliedsländern mit geringer inter-nationaler Konkurrenzfähigkeit beeinflusst. V.4 Verschiedene Ursachen in den Ländern a) Ursache – kreditfinanzierter Boom Bis zum Ausbruch der internationalen Finanzkrise im Jahr 2007 galten in Europa Großbritannien sowie die Euro-Mitglieder Spanien und Irland in finanzpolitischer Hinsicht nahezu als Musterknaben: Ihr Bestand an Staatsschulden betrug im Verhältnis zum Brutto-inlandsprodukt (BIP) zwischen 25 Prozent (Irland) und 44 Prozent (GB) und lag damit nicht nur spürbar unter den Vergleichszahlen von Deutschland und Frankreich, sondern auch unter der im Maastricht-Vertrag festgelegten Höchstmarke von 60 Prozent. Heute befinden sich die drei Länder in einer schweren Krise. Warum? Die Volkswirtschaften Großbritannien, Spanien und Irland sind heute Opfer eines kreditfinanzierten Booms am Immobilienmarkt in den Jahren vor der Krise, der damals die Konjunktur stützte und die Staatsverschuldung unter Kontrolle hielt, aber mit einer kräftigen Zunahme der Verschuldung von Privathaushalten und Unternehmen einherging. Diese Ausdehnung der privaten Kredite wurde nur von wenigen als Vorbote einer zukünftigen Krise bemerkt, obgleich die Geschichte lehrt, dass der Zyklus von Boom und anschließender Krise häufig von einer kräftigen Kreditexpansion begleitet worden war. Untersuchungen zeigen, dass Bilanzrezessionen besonders lang dauern – im Schnitt acht bis neun Jahre. b) Lähmender Staatsapparat 162 Die größte Lähmung der Wachstumskräfte entsteht durch einen überbordenden Staatsapparat – Beispiel Frankreich – für dessen Finanzierung jedes Jahr mehr als die Hälfte der Wirtschaftsleistung herhalten muss. Der öffentliche Dienst ist in den vergangenen Jahren in beängstigendem Umfang gewachsen. Der Apparat zur Verabreichung sozialer und anderer Staatsleistungen ist dabei oft das größere Übel als die Zuwendungen selbst, die in Krisenzeiten zwangsläufig anschwellen. So wurde ermittelt, dass wechselnde Regierungen neben den klassischen Verwaltungen mehr als 1.200 Sonderbehörden schufen, die 450.000 Mitarbeiter be-schäftigen und rund 50 Milliarden Euro im Jahr kosten. Frankreich ist mit 90 Beamten je 1000 Einwohner, das sind gut 40 Prozent mehr als in Deutschland, überversorgt. Andererseits: Der Industrieanteil an der Wertschöpfung ist in den letzten 40 Jahren von 30 auf 13 Prozent gefallen. Da muss es nicht wundern, dass das Wachstum unter null, die Arbeitslosigkeit über 10 Prozent liegt und die Jugendarbeitslosigkeit gar mehr als doppelt so hoch ist. V.5 Ungleichgewichte in der EU und in Deutschland Die Wirtschaftszeitungen feiern im Januar/Februar 2013 die Erfolge der EU-Krisenpolitik: „Krisenländer werden wettbewerbsfähiger" jubilierte zum Beispiel das Handelsblatt. Wie das? Womit denn? Ist ein Ausbalancieren der Ungleichgewichte zwischen den ver-schiedenen Volkswirtschaften und deren Leistungsfähigkeit möglich? Es gibt nicht wenige Menschen/Experten, die die Meinung vertreten, dass das unter der ‚Zwangsjacke Euro‘ nicht möglich sei. Konnten schwächere Wirtschaften wie etwa Griechenland, Portugal oder Spanien früher durch Abwertung ihrer Währung den Druck abbauen, werden jetzt die Menschen ‚abgewertet‘. Die entsetzlichen 163 Zustände sehen wir: Dumpinglöhne, Arbeitslosigkeit, Verzweiflung und Elend. In der gepflegten Expertensprache des ‚Conference Board‘, einer Denkfabrik, hört sich das so an: • „Schneller als bisher bauen die Krisenländer der Euro-Zone derzeit ihren Rückstand bei der Wettbewerbsfähigkeit ab". Aber was, so frage ich mich, stellen sie denn seit neuestem so Tolles, Wettbewerbsfähiges her, dass sich jetzt angeblich alle darauf stürzen wollen? Ich kann nur feststellen, dass dort mehr und mehr Betriebe schließen und die Wirtschaftsleistungen immer weiter einbrechen. • „... sind die Lohnstückkosten zuletzt mit wachsendem Tempo gefallen: zwischen Sommer 2011 und 2012 in Griechenland um 9%, in Portugal um 6% und in Spanien um 3%". Will sagen: Die Menschen dort, so sie überhaupt noch Arbeit haben, verdienen immer weniger und können immer schlechter leben von dem, was sie erwirtschaften. Das einzige, was also dort billiger geworden ist, sind Arbeitskräfte. Das wäre aber nur dann ein Wettbewerbsvorteil, wenn es Arbeit gäbe und brauchbare Produkte, die überhaupt hergestellt würden. In der Wüste ist der Sand sogar kostenlos, deshalb ist die Sahara aber auch nicht wettbewerbsfähig. Wenn ‚Experten‘ also so selbstzufrieden feststellen, dass die Ökonomien der Krisenländer sich ‚restrukturieren‘, sollte man die Herren Denkfabrikanten doch dazu einladen, sich diese Re-strukturierung einmal vor Ort ansehen. Sie würden erkennen, dass Zerstörung im weitesten Sinne auch eine Restrukturierung ist. Aufgabe einer Volkswirtschaft sollte es sein, ihren Menschen nach-haltig möglichst viele, möglichst gut bezahlte Arbeitsplätze für die Herstellung wichtiger Produkte zu bieten. 164 Die unterschiedliche Wirtschaftskraft kann sich durchaus darin ausdrücken, dass Menschen in einer schwächeren Volkswirtschaft für bestimmte, international hochpreisige Luxusgüter (z. B. teure Fahr-zeuge) länger arbeiten müssen, als in einer starken Volkswirtschaft. Andererseits sind ihre selbst hergestellten Produkte des täglichen Bedarfs entsprechend billiger. Eine Gleichmacherei bringt beiden Modellen nichts. Aber genau das ist das Problem. Mit einer europäischen Gemeinschaftswährung wurden die Unter-schiede zwischen den Volkswirtschaften ignoriert. Ja mehr noch, es wurde sogar eine Inflations-Flatrate (korrekter: Preissteigerungsrate) für alle verordnet. Sie soll um die 2% liegen. Doch wovon hängt die Inflationsrate ab? Hier kommen wir zu den Lohnstückkosten. Wirtschaftswissenschaftler beurteilen sie als die für Preissteigerungen und Wettbewerbsfähigkeit eines Landes ent-scheidende Größe. • Lohnstückkosten geben an wie viel Arbeitskosten in einem Produkt stecken. • Das 2%-Inflationsziel der EU bedeutet – praktisch gesehen -, dass die Löhne um 2% schneller als die Produktivität des Landes steigen sollen. • EZB hat dieses eingehaltene Inflationsziel immer wieder als Erfolg gefeiert. In Wirklichkeit hat es aber nicht funktioniert, denn die Lohnstückkosten haben sich im Euroraum voll-kommen unterschiedlich entwickelt. Bezogen auf seine Produktivität lebte Südeuropa buchstäblich ‚über seine Verhältnisse‘, denn die Löhne stiegen sehr viel steiler an. Deutschland lebte hingegen weit ‚unter seinen Verhältnissen‘ mit kaum steigenden Löhnen. • Die Auswirkungen waren drastisch: Deutschland baute seine Wettbewerbsfähigkeit immer weiter aus – zu Lasten etwa 165 Frankreichs. Unser Nachbar hat einen guten Industriesektor. Seine Unternehmen hätten mehr Waren exportieren können, wenn seine Lohnstückkosten nicht gestiegen wären – um genau diese vereinbarten 2%. • Deutschland hingegen hat die Löhne niedrig gehalten. Heute liegen die Netto-Erwerbseinkommen real sogar 1,8 Prozent unter denen im Jahr 2000. Durch diese ‚Lohndrückung‘ sollten mehr Arbeitsplätze geschaffen und Arbeit ‚billiger‘ gemacht werden. Die Binnennachfrage in Deutschland blieb aber trotzdem konstant oder brach zeitweise sogar ein. Grund: Der Lohnverzicht wurde eben nicht durch mehr Lohnempfänger ausgeglichen. Viele Betriebe stellten keine neuen, festen Arbeitskräfte ein, sondern Zeitarbeiter und Niedriglöhner. • Das Einzige, was wirklich expandierte, war der Export. Aber was brachte uns das? Schon vor der Euroeinführung hatte Deutschland immer wieder mit sehr moderaten Lohnabschlüssen auf dem Weltmarkt Wettbewerbs-vorteile erzielt. Gleichzeitig aber auch hervorragende Produkte hergestellt, die den meisten anderen überlegen waren. Schließlich verkaufen wir keine Tomaten sondern technisches Know How auf höchstem Niveau. Das machte die D-Mark stark. Folge: Importierte Rohstoffe wurden für Deutschland billiger. Die Produkte durch die aufgewertete D-Mark im Gegensatz dazu aber im Welthandel teurer. Das balancierte sich im Großen und Ganzen aus. In der Währungsunion konnte Deutschland seine Löhne weiter senken, ohne dass dies nach außen spürbar wurde. Denn die Löhne in den anderen Euroländern stiegen gleichzeitig an. Deshalb wertete der Euro gegenüber dem Rest der Welt nicht auf. Innerhalb des Euroraumes konnte Deutschland die anderen Länder weiter abhängen, weil sie immer weniger konkurrenzfähig wurden. Die anderen EU-Länder häuften durch deutsche Importe immer höhere Schuldenberge gegen-über Deutschland auf. 166 Die Frage stellte sich bald: Wie können die Anderen das alles be-zahlen, was sie bestellt und bekommen haben, wenn sie selbst immer weniger verkaufen? Ganz einfach: Gar nicht. Daher kommen nämlich die riesigen Target II-Salden, die sich auf über eine Dreiviertel Billion aufgetürmt haben. Das sind alles Lieferungen deutscher Güter ins EU-Ausland, die nicht bezahlt werden. Es ist ein riesiges Überziehungskonto, das nicht mehr ausgeglichen wird, weil alle anderen Länder nicht mehr mit Deutschland konkur-rieren können und der Reihe nach Pleite gehen. Wir Deutschen haben also weniger davon, dass wir ‚den Gürtel enger geschnallt‘ haben und so gnadenlos konkurrenzfähig sind. Wir werden das Geld, für das wir unsere ganzen Produkte verkaufen, zum Teil gar nicht sehen, weil die Käufer zahlungsunfähig - da arbeitslos geworden sind. Wie häufiger im Leben stoßen wir an Grenzen, an denen sich die Dinge ins Gegenteil verkehren. Wenn wir alle anderen Volkswirtschaften aus dem Geschäft wegkonkurriert haben, sind unsere Kunden schlicht und einfach bankrott. Sie können die deutschen Waren nicht bezahlen, weil sie selbst nichts mehr verdienen. So gesehen zahlen sich unser Fleiß und unser Lohnverzicht gar nicht mehr aus. Unsere Antwort im Verbund mit EU, EZB und IWF auf die Euro-Krise ist einfach und genial. Alle sollen es so machen, wie wir. Eisern sparen und auch den Gürtel enger schnallen, um exportieren zu können. Dass dabei überall der Binnenkonsum in die Knie geht, massenhaft Arbeitslose produziert werden und eine tödliche Lohndumpingspirale in Gang gesetzt wird, ist offensichtlich. Wer soll denn dann die ganzen Waren kaufen? Das könnten natürlich Länder außerhalb Europas sein. Wenn alle Europäer für Niedriglöhne schuften dann schlagen wir China aus dem Feld und beliefern – ja wen? Die USA natürlich. Leider sind die USA 167 aber auch kurz vor der Zahlungsunfähigkeit, und kämpfen selbst darum, ihre Industrie konkurrenzfähig zu bekommen – via Lohn-dumping! Alles, was dabei herauskäme, ist der Einstieg in eine weltweite Verelendung. Auch das ‚Conference Board‘ sieht, dass eine Lohnsenkungsspirale die Eurokrise nicht lösen kann. Langfristig, so räsonieren die ‚Thinktanker‘, müssen neue Technologien und Innovationen in den Krisenländern geschaffen werden. Sie müssen produktiver werden – aber nicht nur durch billige Arbeitskräfte. Das erfordere Investitionen. Doch diese gibt es bisher nicht. Tatsächlich nützen noch so niedrige Lohnstückkosten nichts, wenn es keine Möglichkeiten gibt, etwas Brauchbares zu produzieren und es dann auch zu verkaufen. Rumäniens Lohnstückkosten sind seit Langem beispiellos niedrig. Wettbewerbsfähig ist das Land deswegen aber nicht geworden. Es stellen sich mir zwei Fragen: • • Müssen die anderen Euro-Länder sich dem Niveau Deutsch-lands nähern oder Deutschland den anderen? Und reicht eine Angleichung der Wettbewerbsfähigkeit der Euro-Länder schon allein aus, um die Ungleichgewichte zu beseitigen? Nun gibt es wiederum andere ‚Experten‘, die die Ansicht vertreten, dass das Euro-System zu weit heruntergewirtschaftet sei. Alles spräche dafür, dass das ‚Währungsexperiment Euro‘ zu einem Ende kommt. Dann werden die Länder zu ihren nationalen Währungen zurückkehren und die Länder werden eine neue Balance miteinander finden. B.R.-Kommentar: Die ‚Zwangsjacke Euro‘ hat die Ungleichgewichte im Euroraum vergrößert. Die hat es allerdings auch schon zu DM-Zeiten gegeben. Zugegeben: Sie waren für alle Europäer erträglicher. Wir müssen uns aber schon entscheiden: Wollen wir ein gemeinsames Europa oder nicht (mehr dazu in Kapitel B.V). 168 V.5.1 Können die anderen Euro-Länder sich dem deutschen Wettbewerbsniveau nähern? Zuerst noch einmal ein Blick zurück: Der Verlust an Wett-bewerbsfähigkeit misst sich u.a. (also nicht ausschließlich !!!) an den Lohnstückkosten, die Löhne ins Verhältnis zur Produktivität setzen. Betrachten wir das Bild seit Beginn des Euros. Bis zum Crash sind die Löhne in Frankreich um 20 Prozent gestiegen, in Portugal um 25 Prozent, in Italien um 30 Prozent, in Griechenland um 35, in Irland um 40 Prozent. In dieser Zeitphase blieb die deutsche Kurve flach, ja, sie sank sogar. Die Arbeitslosigkeit fiel von fünf auf drei Millionen, der Exportüberschuss wuchs. Diese Entwicklung hat mit dem Finanzcrash 2008 nichts zu tun, dagegen alles mit dem Zustandes des jeweiligen Landes und dem Verhalten der Politik und den gesellschaftlichen Gruppen. Hans-Werner Sinn, der Präsident des Münchner ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, hat Zweifel daran geäußert, dass die Krisen-länder in der Eurozone wettbewerbsfähiger werden. „Ich kann nicht erkennen, dass die Wettbewerbsfähigkeit in den Krisenländern steigt. Das sind bisher reine Zweckbehauptungen, um dafür zu sorgen, dass die Deutschen beruhigt sind und bereitwillig ihre Portemonnaies aufmachen“, sagte Sinn der Zeitung Die Welt. Die EU-Kommission hatte erklärte, die Korrektur der makro-ökonomischen Ungleichgewichte verlaufe erfolgreich. Die Länder mit den größten außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten seien dabei ihre Leistungsbilanzdefizite zu reduzieren und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Ein Indikator dafür seien die sinkenden Lohnstück-kosten. Sinn hält die Interpretation der EU-Kommission für verfehlt, das gelte beispielsweise für die sinkenden Lohnstückkosten. „Die Lohn-stückkosten in den Krisenländern sinken, weil die Länder in der 169 Rezession stecken“, sagte Sinn. „Firmen mit hohen Lohnstückkosten gehen unter und Firmen mit günstigeren Lohnstückkosten und höherer Produktivität bleiben am Leben. Das führt zwar rechnerisch zu niedrigeren Lohnstückkosten der gesamten Volkswirtschaft, aber ich kann nicht erkennen, wie man das als Verbesserung der Wett-bewerbsfähigkeit interpretieren kann.“ Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die ‚Wirtschaftsverfassung‘ der Euro-Länder auf den Grundsätzen der Marktwirtschaft und nicht der der Planwirtschaft beruht. Und das ist gut so! Warum müssen sich die anderen also tendenziell eher am deutschen Modell orientieren? V.5.2…Die deutschen Erfolgsfaktoren Zum Jahreswechsel 2012/2013 fiel mir der Börsenbrief Investieren in Deutschland in die Hände. Der Autor beschäftigte sich mit der Frage, warum es sich lohne in Deutschland zu investieren. Er sieht sieben Gründe: • • • • • Grund 1: Die Größe – Deutschland ist die größte Wirtschaft Europas und weltweit nach China der zweitgrößte Exporteur. Deutschland allein erwirtschaftet jeden fünften Euro des gesamteuropäischen Brutto-inlandsprodukts. Grund 2: Stabile, verlässliche Rahmenbedingungen – Zum Beispiel hat Deutschland seit Gündung1949 eine der niedrigsten Inflationsraten der Welt. Das stärkt das Vertrauen ausländischer Investoren. Grund 3: Ausländer prügeln sich um Produkte ‚Made in Germany‘ – Selbst größere Länder wie die USA haben nur wenige Produkte, die sie nach China exportieren können. In Deutschland ist es umgekehrt: viele deutsche Produkte sind im Ausland heiß begehrt. Grund 4: Der schwache Euro nützt uns – Ein schwacher Euro verschafft der deutschen Wirtschaft einen Wettbewerbsvorsprung: hoch qualitative Produkte können wir damit zu günstigen Preisen anbieten. Grund 5: Flexible Arbeitsgesetze – Während man in den USA per Kahlschlag ein ‚Downsizing‘ durchgedrückt hat, wurden deutsche Arbeit-nehmer mit staatlicher Unterstützung in den Unternehmen gehalten. 170 • • Auf diese Weise konnten deutsche Firmen schnell und flexibel auf den wirtschaftlichen Aufschwung nach der Finanzkrise 2008/09 reagieren. Grund 6: Die Wirtschaft verteilt sich auf viele, solide Schultern – Anders als in vielen anderen Ländern gibt es in Deutschland keine wirtschaftliche Monokultur, von der das Wohl und Wehe des ganzen Landes abhängt. Selbst unter den DAX-Aktien-Unternehmen sind die Branchen gesund verteilt, darunter: 15 % Konsumgüter, 17 % Industrie, 18 % Grundstoffe, 14 % Energie. Allein in den Branchen Ausrüstung und Maschinenbau gibt es mehr als 6.000 Firmen. Anders, als viele denken, sind es eben besonders die kleinen und mittleren Unternehmen, die die meisten Arbeitnehmer beschäftigen. Diese weite Streuung sorgt dafür, dass die deutsche Wirtschaft weitaus weniger anfällig gegen Schwankungen und Konjunktureinbrüche ist als die vieler anderer Länder. Grund 7: Deutsche Firmen sind in vielen Branchen weltweit führend – dazu zählen zum Beispiel Bereiche wie Automobilindustrie, Maschinenbau, Elektromaschinenbau und Chemie. Die Zukunft ist fast immer durch Patente abgesichert. Deutschland hält pro 1 Million Einwohner 277 internationale Patente – das ist Weltrekord. Es gibt aber auch ein Aber. V.5.3 Deutsches Exportwunder: Fluch oder Segen? Die deutsche Exportwirtschaft boomt. Trotz eines Einbruchs der Ausfuhren im Dezember ist 2012 für die deutsche Exportwirtschaft ein neues Rekordjahr gewesen. Während viele Medien unseren starken Export bejubeln, werden die hieraus entstehenden Probleme leider komplett unterschlagen. Gegenüber dem vorherigen Spitzenjahr 2011 sind die Exporte im Jahr 2012 um 3,4% auf 1,097 Billionen € oder 14.000 € pro Bürger gestiegen, so das Statistische Bundesamt. Verantwortlich für dieses Rekordjahr war vor allem die Nachfrage aus den USA und China, welche die schwache Entwicklung in der Eurozone mehr als kom-pensierten. Denn während die Lieferungen in Länder der Eurozone um 2,1% zurückgingen, legten die Exporte außerhalb der EU um gut 8,8% deutlich zu. 171 Kurzfristig sollte vor allem die Belebung der US-Konjunktur zu einer Fortsetzung dieser Entwicklung führen, langfristig jedoch erwarten die deutsche Wirtschaft selbst gemachte Probleme. Denn während die exportierten Waren um 3,4% zulegten, fiel der Import mit einem Plus von nur 0,7% schwach aus. Dementsprechend hoch ist die deutsche Handelsbilanz (Saldo von Export-Import) für das Jahr 2012. Mit 188,1 Mrd. € wies diese den zweithöchsten Wert seit dem Jahr 1950 aus. Nur im Vorkrisenjahr 2007 lag der Überschuss höher. Was viele stets vergessen: Den deutschen Exportüberschüssen müssen im Ausland zwangsläufig Defizite gegenüberstehen, welche zu einer höheren Verschuldung bei den entsprechenden Handelspartnern sorgen. Was diese Verschuldung bewirken kann, sehen wir aktuell in Südeuropa – nicht umsonst gilt die Asymmetrie im Außenhandel zwischen Nord- und Südeuropa oftmals als einer der Auslöser der Eurokrise. Natürlich wäre es zu einfach, Nordeuropa oder gar Deutschland hier zum Hauptschuldigen zu machen. Die deutsche Regierung hat nun mal rechtzeitig reagiert und seit dem Jahr 1999 die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft durch Produktivitätssteigerungen bei gleichzeitig geringem Lohnzuwachs deutlich verbessert. Drastische Reformen wie etwa Hartz IV waren für die Bundesrepublik sicherlich schmerzhaft und doch unabdingbar auf dem Weg zu einer wettbewerbsfähigeren deutschen Exportwirtschaft. Warum die Bundesregierung aber an diesem Kurs ob der Krise weiterhin festhält, bleibt ein Rätsel. Um die Binnenkonjunktur und den Konsum anzukurbeln, müsste der deutsche Arbeitnehmer eigentlich am Erfolg von Wirtschaft und Unternehmen durch angemessene Lohnerhöhungen beteiligt werden. 172 Daneben könnte die Bundesregierung durch öffentliche Aufträge den Investitionsrückstau bei der deutschen Infrastruktur von mittlerweile über 100 Mrd. € beseitigen und damit gleichzeitig die Binnen-Wirtschaft ankurbeln. Doch auch Südeuropa ist sicherlich nicht ohne Schuld an der Krise. Statt die europäische Strukturförderung in den ersten Jahren nach EU-Beitritt zu nutzen, um die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft zu verbessern, wurden Lohnerhöhungen umgesetzt und trotz stagnierender Produktivität die Importe stetig erhöht. Südeuropa hat die Währungsunion einfach nicht verstanden und stattdessen gewirtschaftet, als ob es die Möglichkeit einer Abwertung der eigenen Währung weiterhin gebe. Letztendlich stellt sich die Frage, Rekord-exporte wirklich bringen. was Deutschland diese Kurzfristig erfreuen sich die Unternehmen natürlich an steigenden Gewinnen und die Bevölkerung an wachsendem Wohlstand. Dieses Wachstum ist jedoch nicht von Dauer. Südeuropa zeigt bereits, wohin wachsende Handelsbilanzdefizite und die daraus resultierende Verschuldung führen. Wichtige Handelspartner wie die USA müssen aufgrund der eigenen, massiven Staatsverschuldung ebenfalls mehr Sorgfalt bei den eigenen Ausgaben walten lassen. In der Momentaufnahme profitiert Deutschland wohl wie kein Zweiter von dem Aufschwung der Schwellenländer und der Erholung in den USA. Der Exporterfolg alleine reicht für die Zukunft aber nicht mehr aus. Anmerkung: Das deutsche Wort Wettbewerbsfähigkeit beinhaltet schon die Ungleichheit oder anders ausgedrückt, alles dafür zu tun meinem Wettbewerber eine Nasenlänge voraus zu sein. Das bedeutet Kampf, alles dafür zu tun die besseren Voraussetzungen zu schaffen. Das gilt für Unternehmen genauso wie für Staaten. Der Staat hat allerdings Möglichkeiten der Beeinflussung, zum Beispiel bei den Steuern. 173 V.5.4 Ungleichgewichte – Steuern Eine Quelle der Ungleichgewichte innerhalb der Euro-Länder ist natürlich in der unterschiedlichen Besteuerung zu sehen, z.B. bei der Körperschaftssteuer. Fast alle Staaten haben ihre Körperschaftsteuersätze angesichts des internationalen Wettbewerbs im Laufe der letzten Jahre zum Teil drastisch gesenkt. Bei den Körperschaftsteuersystemen ist international eindeutig der Trend zu einem ‚klassischen System‘ mit Tarif-Entlastung beim Anteilseigner erkennbar, um die wirtschaftliche Doppelbelastung ausgeschütteter Dividenden durch die Körperschaftsteuer der Gesellschaft und die Einkommensteuer des Gesellschafters zu mindern. So hat Deutschland einen Satz von 15 % plus Soli, Frankreich einen von 33,3 % und Irland einen von 12,5 %. Auch bei der Einkommenssteuer gibt es große Unterschiede: So hat Deutschland einen Steuersatz von 14 – 45 % plus Soli, Frankreich von max. 45 %, Niederlande von 37 – 52 % und Lettland eine Flat Rate von 25 %. Und so geht das mit den anderen Steuern weiter. V.6 Den Schulden stehen Vermögen gegenüber – Das Geld ist nicht weg, es hat nur ein anderer Alle Welt zittert vor den hochverschuldeten Peripheriestaaten wie Italien, Spanien oder Griechenland. Doch die hohe Verschuldung ist nur eine Seite der Medaille. Was dabei leicht übersehen wird: Die Bürger dieser Staaten haben oftmals die höchsten privaten Netto-geldvermögen. Wie kann das sein? 174 Nun, diese Entwicklung ist schlichtweg eine Folge der ‚Brot und Spiele‘-Politik dieser Staaten: Um ihre Staatsausgaben wieder ins Lot zu bringen, haben Länder wie Italien, Griechenland nicht etwa die Steuern für die Reichen erhöht. Stattdessen haben sie billige Euro-Schulden gemacht, um die weniger Wohlhabenden ruhigzustellen. Das Vermögen wurde also nicht ‚wegbesteuert‘. Leider ging diese Spekulation nicht auf. Umso schlimmer sind die Folgen – denn die Reichen verließen scharenweise das Land. Oder brachten zumindest ihr Geld ins Ausland – auch nach Deutschland. Die Deutschen könnten die Schulden der EU tilgen – theoretisch! Die Deutschen besitzen mehr als 10 Billionen Euro Vermögen. Meist in Form von Geld und Immobilien. Diese Summe ist genauso hoch wie die Staatsschulden aller 27 EU-Mitglieder. Das Geldvermögen an dieser Summe macht allein 4,8 Billionen Euro aus. Und dieses Vermögen nimmt immer weiter zu: Allein in den letzten 20 Jahren hat sich das Geldvermögen der Deutschen fast verdreifacht – es stieg von 1,75 Billionen auf mittlerweile rund 4,7 Billionen. Doch wem gehören diese gewaltigen Summen? Laut Statistiken der United Nations Children’s Fund (UNICEF) besitzen 20 Prozent der weltweiten Bevölkerung mehr als 80 Prozent des weltweiten Einkommens. Und: Weniger als 100.000 Menschen besitzen zusammen 9,8 Billionen Dollar – das sind rund zwei Drittel des BIP der Europäischen Union. Laut den Autoren der Studie ‚Inequality: You Don't Know the Half of It‘, schaffen diese Top 20 so viel Vermögen auf die Seite, dass die tatsächliche Kluft zwischen Arm und Reich wahrscheinlich noch deutlich höher ist. Beispielsweise in Saudi Arabien mogelten die Reichen des Landes in den Jahren 1970 bis 2010 kumuliert rund 308 Milliarden Dollar am Fiskus vorbei. Meldung vom 29. Januar 2013: Deutsche werden immer reicher. Die Deutschen haben so viel Geld wie nie: Im dritten Quartal 2012 stieg das Geldvermögen (in Aktien- oder Fondsdepots und Versicherungen) 175 der privaten Haushalte auf die Rekordhöhe von 4.871 Milliarden Euro. Das teilte die Deutsche Bundesbank mit. Das Plus von 1,3 Prozent oder 64 Milliarden Euro zum Vorquartal geht gut zur Hälfte (33 Milliarden Euro) auf das Kursfeuerwerk an den Börsen zurück und kommt damit den Aktionären zugute. Im Jahresvergleich erhöhten die Privathaushalte ihr Geldvermögen sogar um fünf Prozent. Meldung vom 12. Februar 2013: Reallöhne niedriger als im Jahr 2000. Die Arbeitnehmer in Deutschland haben heute real im Schnitt 1,8 Prozent weniger in der Lohntüte als im Jahr 2000. Einkommen aus Unternehmergewinnen und Vermögen hätten in diesem Zeitraum die Arbeitseinkommen klar hinter sich gelassen, teilte die Hans-Böckler-Stiftung mit. Diese erhöhten sich trotz Wirtschaftskrise zwischen 2000 und 2012 nominal um 50 Prozent, während die nominalen Arbeit-nehmerentgelte nur um 24 Prozent wuchsen. V.6.1 Wie verteilt sich das globale Geldvermögen? Wie verteilt sich der weltweite Reichtum und wer ist wirklich reich? Laut Allianz Global Wealth Report horten Sparer weltweit über 103 Billionen Euro in Wertpapieren, Bankeinlagen oder Versicherungen. Zum Vergleich: Das Volumen der außerbörslich gehandelten Finanzderivate beträgt rund 600 Billionen Euro. 2012 hat sich das Wachstum des Geldvermögens auf 1,6% beschränkt. 2011 hatte es noch 6,2% betragen. Die weltweite Verschuldung beträgt knapp 32 Billionen €, das entspricht 67% des globalen Bruttoinlandsprodukts. 80% der welt-weiten Schulden entfallen auf die Industrienationen. Doch die Verschuldung der Schwellenländer steigt jährlich um 20%. Wollte man eine Gewinn- und Verlustrechnung des Erdballs machen und subtrahiert die globale Verschuldung mit dem weltweiten Brutto-Vermögen, beträgt das weltweite Netto-Vermögen 71 Billionen 176 €. Die Schulden in der Euro-Zone haben sich von 5,99 Billionen € im Jahr 2007 auf 8,59 Billionen € im Jahr 2012 gesteigert. Geldvermögen, Mittel- und Oberschicht Das Pro-Kopf-Vermögen ist seit dem Jahr 2000 zwar um jährlich 3% gestiegen, aber trotzdem gab es keinen realen Wertzuwachs. Denn die Inflationsraten in diesem Zeitraum lagen ebenfalls um die 3%. 85% des weltweiten Netto-Geldvermögens (Bruttovermögen abzüglich Schulden) liegt in Nordamerika, Westeuropa und Ozeanien. Und das, obwohl in diesen Ländern nur 20% der Weltbevölkerung leben. Das Nettogeldvermögen pro Kopf ist sehr ungleich gewichtet: • Nordamerika: 87.401 € • Westeuropa: 41.247 € • Ozeanien: 31.956 € • Asien: 6.615 € • Lateinamerika: 3.561 € • Osteuropa: 2.434 € Zur Mittelschicht (Einkommen zwischen 4.500 und 26.800 €) zählen weltweit 723 Millionen Menschen. Das ist eine Verdoppelung seit der Jahrtausendwende. Vor allem wächst die Mittelschicht in ärmeren Ländern. Sie machen fast 55% der Mittelschicht aus. Im Jahr 2000 waren es nur 16% gewesen. Die Oberschicht umfasst hingegen 428 Millionen Menschen. Auch hier haben die Schwellenländer aufgeholt. In den reicheren Staaten ist diese um 32 Millionen gesunken, in den Schwellenländern hingegen um 15 Millionen gestiegen. 177 Wie sich der weltweite Reichtum verteilt Und so verteilt sich der Reichtum: 26.742.200 Menschen haben ein Vermögen zwischen 1 bis 5 Mio. US-$; 1.959.600 Menschen 5 bis 10 Mio. US-$; 987.300 Menschen 10 bis 100 Mio. US-$; 29.000 Menschen mehr als 100 Mio. US-$. Die drei reichsten Menschen der Welt sind: 1. Carlos Slim (Mexiko): 69 Mrd. US-$ 2. Bill Gates (USA): 66 Mrd. US-$ 3. Warren Buffet (USA): 46 Mrd. US-$ Die 3 reichsten Europäer sind: 1. Bernard Arnault (Frankreich): 41 Mrd. US-$ 2. Amanica Ortega (Spanien): 37,5 Mrd. US-$ 3. Stefan Persson (Schweden): 26 Mrd. US-$ Die Zahl der weltweiten Milliardäre setzt sich wie folgt zusammen: USA: 400; China: 400; Indien: 100; Russland: 62; Deutschland: 53; Hongkong: 40; Großbritannien: 29; Naher Osten: 19; Mexiko: 19; Brasilien: 18; Frankreich: 12. Interessant in diesem Zusammenhang dürfte sein, dass es in China genau so viel Milliardäre gibt wie in den USA. Außerdem dürfte auch die große Zahl an Milliardären in Indien überraschen. Wir sehen also: Reichtum ist da! Es ist jedoch nach Regionen, Ländern und Menschen ungleich gewichtet. 178 V.6.2 Streit um Vermögen in der Euro-Zone Die Deutsche Bundesbank, die es seit der Gründung der Europäischen Zentralbank (EZB) nur noch selten in die Schlagzeilen schafft, hat einen Streit ausgelöst. Die Streitfragen lauten: Sind die Deutschen viel ärmer als die Spanier und Italiener? Und ist es daher richtig, dass deutsche Steuergelder in die südlichen Euro-Staaten fließen? Ausgangspunkt der Diskussion ist die Bundesbank-Studie „Private Haushalte und ihre Finanzen“, die im März veröffentlicht wurde. Die Bundesbank-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Privatvermögen in Italien und Spanien größer sind als in Deutschland. Zuvor aber der Blick nach innen (Deutschland): Danach haben die privaten Haushalte in Deutschland ein durchschnittliches Vermögen von brutto 222.200 Euro; abzüglich der Verschuldung bleiben dann netto 195.200 Euro. 63 Prozent der Haushalte in Deutschland haben jedoch ein „unterdurchschnittliches Nettovermögen“, worauf Bundes-bankökonom Ulf von Kalckreuth bei der Vorstellung der Studie hinweist. Zieht man deshalb den Medianwert zur Veranschaulichung heran, der auch die Häufigkeitsverteilung der Haushalte in einer bestimmten Vermögensstufe berücksichtigt, liegt der so errechnete ‚Durchschnitt‘ bei 67.900 Euro bzw. 51.400 Euro. Wenigen reichen Haushalten kommt hierzulande also ein besonders großes Gewicht zu. Den reichsten 10 Prozent der Haushalte gehören 59,2 Prozent des Nettovermögens aller Haushalte. Reichtum in Deutschland resultiert der Studie zufolge zum einen aus vererbten Vermögen und Immobilienbesitz, zum anderen aus hohem Einkommen sowie der Art der Wirtschaftstätigkeit. So sind Selbstständige, die auch persönlich ein hohes Risiko eingehen, in der Regel auch besonders vermögend. Der Blick – richtiger der Vergleich mit anderen Ländern ist strittig: Die Bundesbank bezieht ihre Zahlen auf Haushalte, nicht auf Einzelpersonen. Das Vermögen pro Haushalt ist in Italien und Spanien größer als in Deutschland. 179 Dieses Ergebnis wäre aussagekräftiger, wenn die Haushaltsgrößen nahezu identisch wären. In Deutschland gibt es aber deutlich mehr Einpersonenhaushalte, während in den südlichen Ländern oft mehrere Personen in einem Haushalt wohnen. Ein durchschnittlicher Haushalt in Deutschland besteht aus 2 Personen, in Italien und Spanien leben dagegen durchschnittlich knapp 3 Personen in einem Haushalt. Die Bundesbankstudie vergleicht also faktisch: Was besitzen 2 Deutsche und was besitzen 3 Spanier und Italiener? Aussagekräftiger wäre es gewesen, wenn die Bundesbank das Vermögen pro Person untersucht hätte. Dann wäre ein Ländervergleich viel einfacher gewesen. Ein weiterer Kritikpunkt ist das Alter der Daten. So hat die Bundesbank für die Spanien-Untersuchung die Vermögenswerte aus dem Jahr 2008 ausgewählt. Das ist ein etwas unglückliches Basisjahr, da die Immobilienblase in Spanien in den Jahren 2007/2008 den Höhepunkt erreicht hat. Nie waren die Spanier (auf dem Papier) reicher als zu dieser Zeit. Die spanische Immobilienblase ist jedoch geplatzt und die Preise befinden sich seit Jahren im freien Fall. Viele private Vermögenswerte haben sich seit 2008 in Luft aufgelöst. Das ist besonders wichtig, da Immobilien den Schwerpunkt des privaten Vermögens in Spanien bilden. Der Preisverfall betrifft daher sehr viele Spanier. Die Daten aus 2008 sind kaum noch zu gebrauchen. Umgekehrt hat in Deutschland vor einigen Jahren die Flucht in Sachwerte begonnen. Es gibt nur in wenigen deutschen Städten einen Immobilien-Boom, aber die Preise sind im Durchschnitt gestiegen. Das heißt: Deutsche Immobilienbesitzer sind reicher als vor einigen Jahren. In der Bundesbank-Statistik fehlt der jüngste Vermögensanstieg der deutschen Immobilienbesitzer. Zwischenfazit: Im Jahr 2013 besitzt eine Einzelperson in Spanien durchschnittlich weniger Vermögen als eine Person in Deutschland. Je nach Studie liegt das Vermögen der Italiener und der Deutschen in 180 etwa auf einer Stufe. Man kann also nicht sagen, dass wir in Deutschland ärmer sind. So ist zum Beispiel das Netto-Auslands-vermögen ein weiterer Maßstab für die finanzielle Leistungsfähigkeit eines Landes. Das beträgt in Deutschland annähernd ein Drittel einer Jahreswirtschaftsleistung. Spanien dagegen ist mit einer Jahreswirt-schaftsleistung netto im Ausland verschuldet. Die Ergebnisse der Bundesbank-Studie sind im Detail umstritten (wie oben gezeigt). Dennoch sollten wir diese Zahlen nicht einfach ignorieren. Die Studie zeigt, dass die südlichen EU-Länder durchaus große Vermögenswerte besitzen. Es darf in diesen Ländern keine Enteignungen wie in Zypern geben, aber es muss zumindest geprüft werden, ob es in diesen Ländern Steuerschlupflöcher gibt und die Staaten ein ausreichend großes Steueraufkommen besitzen. V.6.3 DAX-Konzerne schütten so viel aus wie nie zuvor Der Frühling ist da. Und damit beginnt für deutsche Aktionäre wieder die Dividendensaison. Der Löwenanteil der Ausschüttungen fließt in den Monaten April und Mai auf die Konten der Anleger. Bei deutschen Unternehmen werden einen Tag nach der Haupt-versammlung die Dividenden ausgezahlt. In diesem Jahr werden die deutschen Firmen circa 34,4 Mrd. Euro an ihre Aktionäre überweisen. Allein die 30 DAX-Konzerne schütten 28,4 Mrd. Euro aus – mehr als im bisherigen Rekordjahr 2007, als 28,1 Mrd. Euro an die Anteils-eigner flossen. V.6.4 So viel Steuern haben Sie 2012 bezahlt 181 2012 haben Bund, Länder und Gemeinden rund 602 Milliarden Euro an Steuern eingenommen. Herunter gerechnet zahlte der Durch-schnittsbürger mehr als 5.500 Euro an Kaffee-, Energie- und sonstigen Abgaben. Mehrwertsteuer: Essen, Getränke, Kleidung, Technik - sie wird überall fällig und macht dementsprechend den größten Batzen der Abgaben-last aus. Allein in den Monaten Januar bis Oktober nahm der Fiskus 160,13 Milliarden Euro an Mehrwertsteuer ein. Rechnet man die Steuereinnahmen aus der konsumstarken Adventszeit noch hinzu, hat jeder Deutsche im Schnitt und über das Jahr verteilt 2.384 Euro Mehrwertsteuer gezahlt. Einkommenssteuer: Direkt darauf folgt die Steuer auf Einnahmen aus nichtselbstständiger Arbeit, also die Lohn- beziehungsweise Ein-kommenssteuer. Allein im Jahr 2011 nahm der Bund 59,475 Milliarden Euro an Lohnsteuer ein, was einem Anteil von 21,4 Prozent an den Bundeseinnahmen entsprach. In diesem Jahr stieg das Auf-kommen aus der Lohnsteuer allein im letzten Quartal um 7,8 Prozent. Durchschnittlich hat im Jahr 2012 jeder der 41,52 Millionen Beschäftigten in Deutschland 2.280 Euro Lohnsteuer bezahlt. Energiesteuer: Die Energiesteuer ist nach Umsatz- und Mehr-wertsteuer sowie Lohnsteuer die dritte große Einnahmequelle des Bundes. 40,036 Milliarden Euro sind 2012 für Strom, Energie-erzeugnisse und Biokraftstoffen geflossen. Umgelegt auf 40,439 Millionen Haushalte, hat im Jahr 2012 jeder Haushalt 99 Euro Energiesteuer gezahlt. Stromsteuer: Neben der Energiesteuer kassiert der Bund auch die sogenannte Stromsteuer, die im Strompreis enthalten ist und so an Endverbraucher weitergegeben wird. Dadurch kommen noch einmal 86 Euro an Abgaben für Energie für jeden Einzelnen dazu. Tabaksteuer: Bei Einnahmen durch die Tabaksteuer in Höhe von 13,9 Milliarden Euro (entspricht rund fünf Prozent der Staatseinnahmen) 182 und einem Raucheranteil von 26 Prozent der Bevölkerung, zahlte jeder Raucher in Deutschland über das Jahr verteilt rund 652 Euro Tabaksteuer. Solidaritätszuschlag: Deutlich geringer fällt da die Belastung durch den Solidaritätszuschlag aus. Rund 13,2 Milliarden Euro zahlten die Deutschen für den Aufbau Ost - für jeden Einzelnen macht das 166 Euro. Versicherungssteuer: Die Versicherungssteuer wird auf Prämien- oder Beitragszahlungen aus Versicherungsverträgen erhoben. Sie ist eine Bundessteuer, die von den Ländern erhoben und direkt von den Versicherungsunternehmen für den Versicherungsnehmer abgeführt wird. Normalerweise beträgt das jährliche Aufkommen der Abgabe etwas über 10 Milliarden Euro und macht rund vier Prozent der Steuereinnahmen des Bundes aus. So auch 2012: 10,755 Milliarden Euro flossen an den Fiskus – herunter gerechnet auf jeden Versicherten macht das eine Steuerlast von 132 Euro pro Kopf. Kfz-Steuer: Für die Steuer auf Kraftfahrzeuge blätterte jeder Deutsche im Schnitt 105 Euro hin. Insgesamt nahm der Bund so 8,42 Milliarden Euro ein. Abgeltungssteuer: Im vergangenen Jahr nahm der Bund durch die Abgeltungssteuer insgesamt 3,529 Milliarden Euro ein. für jeden einzelnen Investor ergab sich eine durchschnittliche Steuerlast von 99 Euro. Erbschaftssteuer: Mit der Erbschaftssteuer verdiente Deutschland 4,28 Milliarden Euro. Umgelegt auf alle, die im Jahr 2012 ein Erbe ange-treten haben, ergibt sich für den Einzelnen eine Steuerlast von 53 Euro. Steuern auf Getränke: Der Bund besteuert aber nicht nur Lohn, Waren und Energie, auch verschiedene Getränke sind neben der ohnehin fälligen Mehrwertsteuer zusätzlich steuerpflichtig. So verdiente der 183 Bund beispielsweise an der Kaffeesteuer rund 1,03 Milliarden Euro. Der Durchschnittskonsument hat im Jahr 2012 rund 25 Euro Branntweinsteuer, zwölf Euro Kaffeesteuer, neun Euro Biersteuer, sechs Euro Sektsteuer und zwei Cent für die sogenannte Alkopopsteuer gezahlt. Ticketsteuer: Seit 2011 kassiert der Fiskus auch bei Urlaubsreisen ab: erhoben. Im Inland und auf Kurzstrecken fallen seit dem 7,50 Euro, auf Mittelstrecken 23,43 Euro und für Fernreisen 42,18 Euro Luftverkehrssteuer an. 2012 hat jeder so Urlauber zusätzlich mit zwölf Euro zum Bundeshaushalt beigetragen. Hundesteuer: Rechnet man die Gesamteinnahmen aus der Hundesteuer im Jahr 2012 auf jeden Bürger um, hat jeder drei Euro Hundesteuer bezahlt. Abseits von der Statistik wird es - zumindest für die Hundehalter - aber deutlich teurer. So werden in Köln pro Jahr und Hund 156 Euro fällig, in Berlin sind es 120 Euro, in München 100 Euro und in Hamburg und Frankfurt 90 Euro. Natürlich sind das nur die direkten Steuern. Aber auch indirekte Steuern, die z.B. Unternehmen bezahlen, die sich dann in den Preisen der Verbraucher und Investoren widerfinden. Hinzu kommen noch jede Menge Gebühren. Die oben aufgeführten 5.500 Euro für den Durchschnittsbürger reichen meines Erachtens nicht aus. V.6.5 Was hat die Einkommensverteilung mit der Finanzkrise zutun? Das Thema „Privatverschuldung und Einkommensungleichheit im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise“ wurde lange Zeit unter den Tisch gekehrt. Die meisten Forscher interessierten sich nicht mehr für die Unterschiede zwischen den einzelnen Schichten der Gesellschaft, zwischen Armen und Reichen, Arbeitenden und Vermögenden. Die Stoßrichtung gab Nobelpreisträger Robert Lucas vor: Ökonomen sollten sich nicht von der gefährlichen Versuchung verführen lassen, 184 sich mit Verteilungsfragen zu beschäftigen, schrieb er vor gut zehn Jahren. Wer den Wohlstand mehren wolle, der solle nicht umverteilen, sondern für Wachstum sorgen. Fakt ist, dass der Unterschied zwischen Arm und Reich seit Beginn der Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrisen stark angewachsen. Dies ist vor allem in den USA zu beobachten, nimmt aber auch in den europäischen Ländern beängstigende Ausmaße an. Erste Forschungs-ergebnisse zeigen, dass die Einkommensunterschiede in den Vereinigten Staaten einer der Hauptgründe für den Zusammenbruch im Jahr 2007 waren. Denn diese haben zum Entstehen der Kreditblase geführt, deren Platzen erst die Finanzkrise ausgelöst hat. Mittlerweise ist über 46 Millionen Amerikaner auf Lebens-mittelmarken angewiesen. Insgesamt 23,3 Millionen Haushalte sind von dieser Maßnahme betroffen. Doch die Dunkelziffer der in Armut lebenden Menschen dürfte deutlich höher liegen. Vergessen wir nicht: Auch in China gibt es große Armut. Rund 600 Millionen Chinesen leben nach wie vor auf dem Land. Die Lebens-umstände haben sich trotz der ‚Wunderwirtschaft‘, in den letzten 200 Jahren aber kaum verbessert. Während die Zahl der Superreichen auf fast 500.000 angestiegen ist, existieren auf der anderen Seite riesige Heerscharen von Wanderarbeitern. Diese müssen monatelang ihre Familien alleine lassen, um für einen Hungerlohn in den Städten zu arbeiten. In Deutschland gibt es rund eine Million Leiharbeiter. Sie werden deutlich schlechter bezahlt als die Stammbelegschaften der Unter-nehmen. Gewerkschaften reden deshalb von "Lohndumping". Immer mehr Deutsche verdienen immer weniger. Ein Trend, der nicht nur auf die steigende Inflation und somit auf fallende Reallöhne zurück-zuführen ist. Mittlerweile ist jeder fünfte Arbeitnehmer ein ‚Niedrigverdiener‘. 185 Dadurch wird die Altersarmut drastisch ansteigen, was bedeutet: Wer nicht genug verdient, wird im Alter arm sein. Gleichzeitig wird das System der gesetzlichen Rentenversicherung implodieren. Denn wenn immer mehr Menschen weniger in die Rentenversicherung einzahlen, können die Renten im Umlageverfahren nicht finanziert werden. Menschen mit geringen Einkommen ‚erkaufen‘ sich zudem ihren Wohlstand mit Krediten. Die Privatverschuldung steigt. Das setzt eine Schuldenspirale in Gang. Inzwischen findet also in der ökonomischen Zunft ein Umdenken statt - immer mehr Volkswirte nehmen auch Verteilungsfragen wieder ernst, wie eine Konferenz des ‚Forschungsnetzwerks Makroökonomie‘ zeigt, die im November 2012 Berlin stattfand. Auf Einladung der Hans-Böckler-Stiftung diskutierten mehr als 300 Volkswirte über die Zukunft der makroökonomischen Forschung. Die Einkommens-verteilung war dabei eines der zentralen Themen. Schließlich ist die Kluft zwischen Arm und Reich vor der Krise massiv gewachsen - vor allem in den USA, aber auch in vielen anderen Industrieländern Wenn die Ungleichheit in einer Volkswirtschaft zu groß wird, wird diese instabil, zeigte Michael Kumhof, Vizeabteilungsleiter beim Internationalen Währungsfonds (IWF). Zusammen mit Kollegen hat er ein makroökonomisches Standard-Modell um Verteilungsfragen er-weitert. Anstelle von homogenen Haushalten, die einheitliche Interessen haben, gibt es in diesem Modell Arbeiter und Vermögende. Kumhofs Forschungsergebnisse zeigen, dass die Einkommens-ungleichheit in den USA einer der Hauptgründe war für den Zusammenbruch im Jahr 2007. Die Reichen, die vor der Krise immer reicher geworden seien, hätten ihre Überschüsse anlegen müssen, sagt Kumhof - und bei den Armen stets willige Abnehmer gefunden. „Die Wahrscheinlichkeit für große Krisen steigt dadurch deutlich“, so Kumhof im Handelsblatt-Gespräch. Die Liberalisierung der Finanzmärkte habe diese Spirale der Verschuldung dann weiter angefacht. 186 Kritische Rolle der Finanzmärkte Auch der Ökonom Robert Frank von der Cornell University sieht die enorm gestiegene Einkommensungleichheit als einen Grund für die Kreditblase und damit die Finanzkrise: Es sei vor allem der Wunsch der Menschen gewesen, nicht gegenüber den reicheren Schichten zurückzuzufallen, der den Schuldenboom verursacht habe. Die ärmeren Schichten hätten versucht, ihren Wohlstand mit Hilfe von Krediten zu stabilisieren. Dieser Mechanismus könne nicht nur eine Erklärung sein für die Krise nach 2007, sondern auch für die Große Depression, argumentierte der Linzer Ökonom Christian Alexander Belabed. „Sich zu verschulden hat damals sein Stigma verloren.“ Viele Haushalte hätten damals begonnen, sich Autos auf Pump zu kaufen. Tatsächlich waren private Verschuldung und Einkommensungleichheit auch in den USA der 1920er-Jahre massiv angestiegen - genauso wie vor 2007. Diese Sicht stellt die traditionelle Erklärung für die Große Depression infrage. Bislang führen die meisten Volkswirte die Weltwirtschaftskrise meist auf Fehler der Zentralbanken zurück. Besonders kritisiert wird dabei die Rolle der Finanzmärkte: Diese hätten sich fast vollends entkoppelt von der Realwirtschaft, sagte der US-Forscher Michael Hudson von der University of Missouri in Kansas City. Der Ökonom, der als einer der intellektuellen Vordenker der Occupy-Wall-Street-Bewegung gilt, zieht einen historischen Vergleich: „Was im 18. und 19. Jahrhundert die Großgrundbesitzer waren, das sind heute die Finanzmärkte.“ Neue BIP-Berechnung gefordert Genau wie diese damals schaffe auch der Finanzsektor heute keine realen Werte, sondern presse der Wirtschaft lediglich Gewinne ab und treibe die Arbeitenden, deren Löhne sinken, in die Verschuldung. Ob es sinnvoll sein kann, Verteilungsfragen mit dem traditionellen 187 methodischen Werkzeugkasten zu analysieren, zogen in Berlin viele Ökonomen in Zweifel. Sie fordern eher ein ganz neues Paradigma oder die Rückbesinnung auf Ansätze, die enger der Theorie von John Maynard Keynes folgen. Nicht nur Kumhof, auch der Berliner Makroökonom Michael Burda verteidigten allerdings die traditionelle Herangehensweise: Bevor man die Methodik komplett über Bord werfe, solle man lieber die bestehende reformieren, forderte Burda, derzeit Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik, der Vereinigung der deutschsprachigen Ökonomen. Der amerikanische Volkswirt Michael Hudson dagegen forderte eine ganz neue Art der Wohlstandsmessung. In den Statistiken zum Brutto-inlandsprodukt solle künftig getrennt werden zwischen der wahren Wirtschaftsleistung, die die Realwirtschaft erzielt - und der schein-baren, die in der unproduktiven Finanzwelt entsteht. „Denn die erzeugt keinen Wohlstand, sondern nur Schulden.“ V.6.6 Banken als Risikofaktor Vor fünf Jahren, am 15. September 2008, brach die große Invest-mentbank Lehman Brothers mit einem Donnerschlag zusammen. Der Kollaps riss einige andere Großbanken mit in die Tiefe. Diese katastrophalen Folgen waren offenbar unterschätzt worden. Schlagartig stockten die weltweiten Kapitalströme. Einige Wochen lang stand nicht nur das globale Finanzsystem sondern auch die gesamte Weltwirtschaft vor dem Abgrund. Nur durch einen beispiellosen Einsatz der Notenbanken und Regierungen mit nahezu unlimitiertem Kapital konnte der große Kollaps abgewendet werden. 188 Vorbei ist dieser Schock aber noch lange nicht, denn er hat tiefe Spuren hinterlassen: Die Wirtschaft der USA hängt auf Gedeih und Verderb an der Geldpolitik der Fed. Die Eurozone rettet immer noch unaufhörlich ihre Banken und hat das Vertrauen der Kapitalmärkte dabei verloren. Auch deutsche Banken sind bis heute nicht gesund. Seit der Lehman-Pleite und den Rettungsmaßnahmen für die Hypo Real Estate, die WestLB, die BayernLB & Co. bemühen sich die Geldhäuser toxische Wertpapiere und faule Kredite abzustoßen. Das ist aber nicht so einfach, denn der Finanzmarkt reißt sich nicht gerade um die giftigen Papiere. Deshalb liegen immer noch Milliardenrisiken durch den finanziellen Giftmüll in den Büchern der Institute. Analysten der US-Ratingagentur Moody's haben dem deutschen Bankensystem im Oktober 2011 einen negativen Ausblick attestiert. Sie halten sogar eine weitere Abstufung für möglich. Zweifellos gibt es gute Gründe, die die deutschen Banken in den Augen der Bonitätswächter zu Risikofaktoren machen. Diese haben sich sogar noch verschlimmert: • Die deutschen Banken stehen im Vergleich mit ihren inter-nationalen Mitbewerbern mit zu schwachen Erträgen da. Das ist zu einem guten Teil auch einer verfehlten Politik der Banken geschuldet. Bis 2008 haftete dem Geschäft mit den Privatkunden der Muff des mühsamen ‚Kleinklein-wirtschaftens‘ an. Man wollte die arbeitsintensiven ‚Peanuts‘ gern loswerden und sich auf die riskanten, aber lukrativeren Investments konzentrieren. Das ist gründlich schiefgegangen. Heute traut sich kaum noch eine Bank in nennenswertem Maße zu ‚zocken‘ - (oder doch?). Es zeigt sich, dass gerade Geld-institute wie Sparkassen und Raiffeisenbanken, die einen großen Stamm an kleinen Privatkunden haben, wesentlich stabiler sind. Allerdings bringen die gegenwärtigen niedrigen Zinsen für Privatkredite den Banken zusätzliche Probleme. 189 • • • • • • Die Konjunkturaussichten sind schlecht. Die gesamte Eurozone rutscht in eine Depression. Auch Deutschland wird davon erfasst. In den Medien ist das aber noch nicht ganz angekommen. Hier werden sogar Wachstumsphasen von 0,8 Prozent als „positiv“ verkauft. Und das, obwohl unser Land ein Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent braucht, um keine neuen Schulden mehr machen zu müssen. Die riskanten Engagements der Banken sind immer noch nicht aus ihren Büchern. Viele davon werden im schwieriger werdenden Wirtschaftsumfeld wieder virulent. Dazu zählen zum Beispiel Schiffsfinanzierungen. Bei einbrechender Welt-wirtschaft werden weniger Waren auf Containerschiffen rund um den Globus bewegt. Das zeigt ein Schiffs-Warenverkehr-Index deutlich an: der Baltic Dry Index bricht ein. Damit sind die Rückzahlungen der Schiffskredite in Gefahr. Überdies halten die Banken noch immer viele strukturierte und verbriefte Finanzprodukte in den Büchern. Altbestände an Staatsanleihen aus den defizitären EU-Staaten sowie Im-mobilienfinanzierungen in Ländern, in denen gerade die Immobilienblase platzt, liegen wie Tretminen in den Bilanzen. Allein die DZ-Bank hält faule Staatsanleihen in Höhe von sechs Milliarden Euro und verbriefte Finanzprodukte für 18 Milliarden Euro. Die – vorwiegend gewerblichen – Immobilienfinanzierungen im Ausland machten im letzten Jahr bei den 10 größten deutschen Banken über 400 Milliarden Euro aus! Das ent-spricht dem zweieinhalbfachen ihres Kernkapitals und ist mehr als der deutsche Bundeshaushalt. Die deutschen Banken könnten aber kaum noch größere Ver-luste auffangen. Sie segeln bereits hart am Wind. Nicht umsonst müssen die systemrelevanten Banken jetzt einen Notfallplan vorlegen. Nicht umsonst wurde der Banken-rettungsfonds Soffin verlängert. Zusätzlich kommen auf die Geldhäuser deutlich strengere Vorgaben zu. Die Aufsichtsbehörden stellen weitreichende 190 • Anforderungen an Eigenkapital und Sicherheit. Das treibt die Kapitalkosten in die Höhe. Die Banken müssen ihre Geschäftsmodelle an die neuen Bedingungen anpassen. Beispielsweise sollen die risikoreichen Kapitalmarktgeschäfte von den Einlagengeschäften abgeschottet werden, um die Einlagen der Sparer und Privatkunden vor den desaströsen Auswirkungen der Casino-Zockereien zu schützen. Inwieweit die Geldinstitute diese Herausforderung meistern können, ist noch unklar. Die Risikovorsorge, die die Banken für faule Kredite treiben müssen, steigt schon wieder. Der Wirtschaftsabschwung kommt zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt für die Institute. Arbeitslosigkeit und sinkende Umsatzzahlen treibt die Hypotheken- und Kreditnehmer wieder in die Enge. Die Zahlungsausfälle nehmen wieder zu. Keine guten Noten für die deutschen Geldinstitute. Die Rating-agenturen teilen Noten von ‚a‘ bis ‚e‘ für die Finanzkraft der Banken aus. Ein ‚a‘ bescheinigt dem Geldhaus eine „hervorragende eigene Finanzkraft“. Ein ‚e‘ steht für „sehr schwache eigene Finanzkraft“. Die besten Banken in Deutschland bewegten sich mit der Beurteilung „ausreichend hohe eigene Finanzkraft“ noch im sicheren Bereich. Doch die meisten Geldhäuser baumeln mit einer „nur schwach ausgeprägten eigene Finanzkraft“-Bewertung kurz vor dem Abgrund. Einer der großen Sorgenkinder ist die Commerzbank. Sie hält eine ansehnliche Sammlung von Pleiteländer-Staatsanleihen, Schiffs-krediten und strukturierten Wertpapieren von sage und schreibe 37 Milliarden Euro in ihren Büchern. Dabei ist völlig offen, was für heimliche Bomben noch in den Tiefen der Bilanzen der Geldhäuser verborgen sind. 2012 kam es knüppeldicke für die Banken. Ein Skandal jagt den nächsten. Meldung vom 11. Dezember 2012: Die Großbank HSBC hat in den USA größere juristische Schwierigkeiten wegen Geldwäschevorwürfen 191 mit der Zahlung von 1,9 Milliarden US-Dollar abwenden können. Der HSBC wurde vorgeworfen, Geld für mexikanische Drogenkartelle und mit Sanktionen belegte Staaten wie dem Iran durch das US-Finanzsystem geschleust zu haben. Teil der Einigung sei auch ein Abkommen mit dem US-Justizministerium teilte die Bank mit. So müsse HSBC unter anderem durch interne Kontrollen die Voraus-setzungen dafür schaffen, dass Geldwäsche nicht mehr vorkomme. Können wir darauf vertrauen? Meldung vom 12. Dezember 2012: Großrazzia bei der Deutschen Bank, gegen fünf ihrer Mitarbeiter wurde Haftbefehl erlassen. Der Verdacht: schwere Steuerhinterziehung, Geldwäsche und versuchte Strafvereitelung. Wenige Tage später: Mindestens ebenso schwer wiegen die groß-angelegten Ermittlungen – und der ungeschickte Umgang damit. Denn die Großrazzia passte Jürgen Fitschen, der einen Hälfte des Ackermann-Nachfolge-Duos, überhaupt nicht in den Kram. Das ließ er den hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier per Telefonat wissen. Der persönliche Draht von Spitzenmanagern zu Top-Politikern ist nichts Ungewöhnliches. Allerdings hat es einen faden Beigeschmack, wenn er in dieser Form (aus)genutzt wird. Worüber sich Fitschen Medienberichten zufolge beschwerte, war unter anderem die verheerende Außenwirkung, die Bilder von bewaffneten Polizisten in den Räumlichkeiten der Bank hätten. Nicht minder anrüchig wirkt nun allerdings sein eigener Anruf beim Chef der Landesregierung. Frei nach dem Motto: Die Bank hat vielleicht Mist gebaut (also, den Staat und somit die Allgemeinheit um ein Vermögen betrogen und kriminelle Energie bewiesen), aber das Ganze möge doch bitte mit etwas Diskretion und Diplomatie behandelt werden. Dass auch gegen Fitschen selbst ermittelt wird, ist bei alledem noch das pikante i-Tüpfelchen. 192 Meldung vom 17. Dezember 2012: UBS: Rekordstrafe nach Libor-Skandal? Die Schweizer Großbank UBS hat sich wegen des Libor-Manipulationsskandals offenbar mit den Ermittlungsbehörden auf einen Vergleich verständigt. Die Strafzahlung könnte mit 1,6 Milliarden Dollar so hoch ausfallen wie nie zuvor für eine Schweizer Bank. Die Summe wäre zudem das Dreifache dessen, was die britische Barclays Bank im Sommer zahlen musste. Diese hatte den Libor-Skandal als erstes Geldinstitut eingeräumt. (HB) Standpunkt: Die Strafen rund um die Zinsmanipulationsvorwürfe fallen drakonisch aus – angemessen drakonisch, wenn man den Schaden bedenkt, den die Banken durch ihren Machtmissbrauch anrichten. Es geht dabei um sehr viel mehr als das bloße Image der Bank. Das ist ohnehin ramponiert, nachdem spätestens Finanzkrise und Libor-Skandal offenbart haben, dass letztendlich jede größere Bank irgendwo Dreck am Stecken hat. Es geht vor allem um die Dreistigkeit, mit der die Banken glauben, sich alles erlauben zu können, ohne dafür je belangt zu werden. Alles miteinander keine Kavaliersdelikte. Aber bei den Banken und Bankern wundert einen allmählich ja nichts mehr. Was da in den letzten Monaten alles an die Oberfläche gespült wurde, geht schon längst auf keine Kuhhaut mehr. Erst diverse Fälle, in denen angeblich einzelne Banker, gerne aus der Investmentsparte, im Alleingang Millionen- bis Milliardenbeträge verzockt haben sollen. Dann die jahrelange systematische und koordinierte Manipulation des Libor-Zinssatzes, an der offenbar etliche Großbanken beteiligt waren. Und gerade erst wurde die britische HSBC zu einer Milliardenstrafe verdonnert wegen Geldwäsche für kriminelle Banden und mutmaßlich terroristische Netzwerke. Immer wieder heißt es, interne Kontrollmechanismen hätten versagt. Das stimmt so nicht ganz. Vielmehr bestand in vielen Fällen überhaupt 193 kein Interesse an irgendeiner Form von Kontrolle. Solange unterm Strich der Profit gestimmt hat, war – oder ist? – es den Bankern doch egal, ob der Häuslebauer für seinen Kredit ein paar tausend Euro mehr an Zinsen berappen muss. Moral und Gier geht nicht zusammen. Da es die Banken offenbar nicht auf die Reihe bekommen, sich einigermaßen selbst zu regulieren, sind die jüngsten Vorstöße innerhalb und außerhalb der Europäischen Union nur sinnvoll. Man könnte den Eindruck gewinnen, man müsse gut ausgebildete und hochbezahlte Finanzjongleure wie kleine Kinder an die Hand nehmen, um sie vor großen Dummheiten zu bewahren, die am Ende Unsummen an öffentlichen Geldern verschlingen könnten. An Deutschlands Bonität und Zahlungskraft hängt sehr viel und deshalb tut die EU alles, um die letzte (noch) stabile Säule zu erhalten. Taumelt Deutschland ist die EU sofort am Ende. Damit auch keine Irritationen entstehen, müssen die Deutschen (bis zur Bundestagswahl ?) bei Laune gehalten werden. Also präsentiert man einen Haushalt 2012, bei dem alle zufrieden nicken, erfreut applaudieren und sagen „Na, also. Geht doch. So schlimm ist es doch gar nicht. Nur keine Sorge, Mutti macht das schon!“. Aber ist die Situation wirklich so? In Wirklichkeit müssen die Statistiker und Buchhalter verschweigen oder gar tricksen: • Beim Schuldenstand Deutschlands sind die wahren Ausgaben und Verluste zwar immer noch abzulesen. Doch da schaut man nicht so drauf. Wer kennt schon die genauen Zahlen? • Die Kosten der Bankenrettungen haben die staatlichen Buch-halter weitgehend nicht mit in die Bilanzen genommen. Ganz nach dem Motto „noch ist das Geld ja nicht endgültig weg, und niemand weiß, wie viel die Banken vielleicht doch noch zurückzahlen. Also, lassen wir das erst mal raus“. 194 • Dabei belaufen sich die von Ihrem Steuergeld finanzierten Garantien und Kapitalhilfen des Soffin Ende November 2012 nach Rückzahlungen der Commerzbank und der IKB noch immer auf 22,9 Mrd €. Christopher Pleister, Chef des Soffin, deutete bereits an, dass der Steuerzahler mit herben Verlusten rechnen müsse. Bis Ende 2014 soll der Frankfurter Banken-rettungsfonds noch Gelder für bedrohte Geldhäuser freigeben können. • Noch nicht wieder zurückgezahlt haben z. B. die Geldinstitute: Hypo Real Estate (HRE) mit 9,8 Mrd; Commerzbank mit 6,7 Mrd; Sicherungsgesellschaft deutscher Banken mit 2,2 Mrd; Portigon (Nachfolgerin der WestLB) mit 2 Mrd; Düsseldorfer Hypothekenbank mit 1,5 Mrd und Areal Bank mit 300 Mio Euro. Ich frage mich: Wie viele Banken sind noch de facto bankrott und sehen nur durch geschickte Bilanztricksereien halbwegs gesund aus? Seltsamerweise genießen Banken bei vielen Bürgern immer noch den Ruf der Solidität und Vertrauenswürdigkeit. V.6.7 Steuerparadiese mitten in Europa (und der übrigen Welt) Die Diskussion um die Steuergerechtigkeit ist durch den Fall ‚Hoeneß‘ auf eine neue Stufe gehievt worden. Da gibt es auf der einen Seite reiche Privatpersonen, die Teile ihres Geldes vorbei am Finanzamt ins Ausland schaffen, konkreter in eine Steueroase. Das ist illegal – war bei den Deutschen (aber) über Jahrzehnte eine Art Volkssport. Da sind (Klein-) Unternehmer, die Schwarzgeld, in der Steueroase rein-waschen. Da sind Kriminelle, die ihr Geld den gleichen Weg gehen lassen. Und nicht zuletzt sind da große (globale) Unternehmen, die ihre hohen Kosten in den Ländern ihrer unternehmerischen Tätigkeit dem Finanzamt vorlegen und ihre Gewinne – legal – in den 195 Steueroase versteuern lassen. Und die Banken sind bei all diesen ‚Geschäften‘ häufig involviert. Meldung vom 4. April 2013: Geheime Geschäfte der Steueroasen enttarnt. Von diesem Tag an präsentierten Medien aus insgesamt 46 Ländern – darunter die Washington Post, die BBC, der Guardian und Le Monde – erste Ergebnisse der Daten-Analysen. In Deutschland sind die Daten des Projekts ‚Offshore-Leaks‘ exklusiv der SZ und dem NDR zur Verfügung gestellt worden. Die Datenmenge aus insgesamt zehn Steueroasen umfasse 260 Gigabyte, es handele sich um 2,5 Millionen Dokumente. 130.000 Personen aus mehr als 170 Ländern würden in den Unterlagen aufgelistet. Die Dokumente stammten von zwei Firmen, die auf die Errichtung sogenannter Offshore-Gesellschaften spezialisiert sind. Sie gehörten zu den größten Anbietern weltweit. In den Unterlagen fänden sich die Namen von Oligarchen, Waffenhändlern, Kriminelle, Finanzjongleuren, Briefkastenfirmen und sogenannte Trusts. Wie SZ und NDR am Donnerstag berichteten, finden sich in den Unterlagen auch Hunderte deutsche Fälle. Allein bei deutschen Steuer-hinterziehern dürfte es weltweit ein Hinterziehungsvolumen von rund 400 Milliarden Euro geben, sagte der Vorsitzende der Deutschen Steuergewerkschaft (DSTG), Thomas Eigenthaler, der Nachrichten-agentur dpa. „Wir wissen natürlich schon lange, dass weltweit ein solcher Wildwuchs besteht.“ Die nun erfolgte Veröffentlichung nannte ein Insider in der SZ den „bislang größten Schlag gegen das große schwarze Loch der Weltwirtschaft“. Nach einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Studie verstecken Superreiche weltweit mindestens 21 Billionen US-Dollar (17 Billionen Euro) in Steueroasen; andere sprechen gar von 32 Billionen US-Dollar. Nach Aussagen der OECD – Stand 2012 – gibt es rund um den Globus 37 Steueroasen. Den betrogenen Staaten entgingen dadurch pro Jahr Steuereinnahmen von wenigstens 190 Milliarden Dollar (148 Milliarden Euro), heißt es in den Berechnungen 196 von ‚Tax Justice Network‘, einer internationalen Vereinigung, die sich Steuergerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hat. Es gibt verschiedene Gründe, eine Briefkastenfirma au den Cayman Islands, Panama oder den britischen Jungferninseln zu eröffnen. Neben der Flucht vor dem Fiskus spielt auch die Geldwäsche eine große Rolle. Das Ausmaß illegalen Transaktionen ist schwer zu ermessen. Nicht nur Superreiche und skrupellose Drogen- und Waffenhändler parken ihr Geld in den ‚Schattenfinanzzentren‘, sondern auch ganz normale Firmen. Oftmals handelt es sich dabei um ganz legale Steuervermeidung. Auch in den Niederlanden mit ihren niedrigen Unternehmenssteuern haben zahlreiche internationale Unternehmen Tochterfirmen gegründet, zu denen sie sie Gewinne verschieben. Der geheime und verschwiegene Bereich der Finanzwirtschaft bricht auf. Er berührt nicht nur die reiche Klientel, sondern auch zahlreiche Banken und Unternehmen, die eben auf diesem Wege Gelder umleiten oder in manchen Fällen sogar waschen. Durch die Fülle an Personen und vor allem die hohe Internationalität des Falls ist dieser von der Brisanz deutlich höher als alle Steuer-CDs, die die Bundesregierung oder die Länder je aufgekauft haben. Und sie könnte ein wahres Beben auslösen: Unsichere Nutzer der Offshore-Unternehmungen könnten sich entschließen, lieber auszupacken, als öffentlich strafverfolgt zu werden. Gleichzeitig müssen Banken, die nach der Krise gerade dabei waren sich so etwas wie Finanz-Ethik auf die Fahnen zu schreiben, erklären warum sie in diesen Geschäftsbereichen auftauchen. Involvierte Banken könnten in Erklärungsnöte kommen. Laut Süddeutscher Zeitung soll auch die Deutsche Bank mitmischen – diese dementiert auf irgendwelche Arten bei der Steuerflucht durch Offshore-Konten zu helfen. Steuern zu hinterziehen geht auch scheinbar legal. Beispiel Unter-nehmen wie Apple: Apple hat im vergangenen Geschäftsjahr 197 sein Steuersparsystem perfektioniert: Auf den außerhalb der USA verbuchten Gewinn von 36,8 Milliarden Dollar wurden nur 1,9 Prozent Steuern fällig. Die Zahl aus dem kürzlich veröffentlichten Jahres-bericht dürfte vor allem in Großbritannien für neue Diskussionen sorgen. Dort musste schon eine Woche früher mit Starbucks sich ein anderer US-Konzern wegen niedriger Steuerzahlungen verteidigen. Die Unternehmen nutzen oft Irland als eine Oase für niedrige Steuersätze. Schon in den beiden Geschäftsjahren davor lag der Auslandssteuersatz von Apple auf dieser Basis bei 2,5 und 1,2 Prozent, während das Unternehmen insgesamt bei einer Rate von rund 25 Prozent liegt. Apple gilt schon seit den achtziger Jahren als ein Pionier der kreativen Steuerbuchhaltung, bei der man unter anderem von den niedrigen Sätzen in Irland profitiert. Die Säulen des Steuersparsystems sind zwei Tochterunternehmen in Irland, über die größere Teile des Apple-Geschäfts abgewickelt werden. Ein Teil davon fließt praktisch steuerfrei durch die Niederlande. Und die irischen Töchter gehören demnach teilweise einer Firma aus dem Steuerparadies British Virgin Islands. Die Steuertricks der Konzerne Erfinderische Branchen: Weltweit tätige Konzerne, vor allem aus den USA und vorwiegend aus dem IT- und Dienstleisterbereich, verstehen es meisterlich, unterschiedliche Rechtssysteme und Körperschaft-steuersätze so für sich gewinnbringend zu nutzen, dass sie für ihr Auslandsgeschäft kaum noch Steuern zahlen. Modell ‚Niedrigsteuerland‘: Das ‚Google-Modell‘ konzentriert sich darauf, die Wertschöpfung in einem Niedrigsteuerland zu bündeln. Das geht, weil bei Umsätzen aus Werbung und Lizenzen schwer auszumachen ist, wo welcher Umsatz und Gewinn entstanden ist. Am Ende landet der Google-Gewinn auf den Bermudas, einem Null-Steuer-Land. 198 Modell ‚großer Unterschied‘: Die Regeln in den Steuer- und Rechtssystemen unterscheiden sich von Land zu Land. Ein Konzern vergibt aus einem Niedrigsteuerland, etwa Irland mit 12,5 Prozent Steuersatz, einen Kredit an die Schwester im Hochsteuerland, etwa Deutschland mit knapp 30 Prozent Unternehmenssteuersatz. In Deutschland sind die Zinsen, die an Irland fließen, Kosten und schmälern den Steuergewinn in Irland. Modell ‚großer Unterschied‘ – reloaded: Das Modell funktioniert ebenso auch bei Patent- oder Lizenzgebühren sowie Nutzungsgebühren für Markenrechte. Bei Patenten kommt hinzu, dass Irland und die Niederlande ‚Patentboxen‘ anbieten: Gewinne darin bleiben steuerfrei. Auch die Gründung von Finanzierungsgesellschaften kann sich lohnen, weil sich die Definition von Dividenden und Zinsen von Land zu Land unterscheidet. Fast auf null drücken lassen sich die Steuern über die Kombination mehrerer Länder, was sich dann etwa ‚Double Irish‘ und ‚Dutch Sandwich‘ nennt. Modell ‚Verrechnungspreise‘: Innerhalb von Konzernen werden Dienstleistungen oder Vorprodukte unter den Tochtergesellschaften so mit Preisen versehen, dass hohe Kosten den Gewinn in den Hochsteuerländern schmälern. In Deutschland kontrollieren die Finanzämter diese Preisgestaltung aber inzwischen so genau, dass sie kaum noch möglich ist. Meldung vom 20. April 2013: Hoeneß hat Steuern hinterzogen. ‚Schweizer Bankkonto‘, ‚Selbstanzeige‘, ‚Millionenbeträge‘ – läuft es in den Nachrichten rauf und runter. Merkwürdigerweise klingt es nicht wie eine Skandalnachricht, sondern eher wie eine Trauerbekundung. Der Hoeneß? Doch nicht der! Er selbst gab sich zerknirscht: „Ich habe einen schweren Fehler gemacht, den ich versuche, mit der Selbst-anzeige zumindest halbwegs wieder gutzumachen“, sagt Uli Hoeneß. 199 V.6.8 Die Verschwendung von Steuergeldern Doch den normalen Steuerzahler wurmt vor allem wie mit seinem Steuergroschen um gegangen wird. Kommunen sparen sich die Straßenbeleuchtung, an den Schulen fallen Tausende Stunden aus und auf echte Steuererleichterungen warten die Bürger noch immer vergebens. Andererseits leistet sich der Staat jede Menge Über-flüssiges. Dafür steht ein Wort Verschwendung. In seiner 40. Ausgabe des Schwarzbuchs „Die öffentliche Ver-schwendung“ (2012) hat der Bund der Steuerzahler mit einer Beispielsammlung aus unterschiedlichen Bereichen, in denen die öffentliche Hand einen sparsamen und wirtschaftlichen Umgang mit Steuergeld vermissen ließ, darauf hingewiesen. Er dokumentiert Jahr für Jahr zahlreiche Beispiele aus Bund, Ländern und Kommunen, in denen er die Verschwendung von Steuergeld in den unter-schiedlichsten Formen und mit den unterschiedlichsten Summen entdeckt. Milliarden Euro Steuergelder werden Jahr für Jahr verschwendet, d.h. Bund, Länder und Gemeinden könnten mühelos diese Beträge einsparen, wenn weniger sorglos, weniger großzügig und dafür aber effizienter mit dem Geld der Steuerzahler umgegangen würde. Die Beispiele der Verschwendung reichen von maßlosen Baukosten-überschreitungen, Beschaffungspleiten, unnötige Politikerreisen, wertlose Gutachten, unsinnige Subventionen bis hin zu teuren Schildbürgerstreichen, unsinnigem Bürokratismus und Korruption. Hier einige krasse Beispiele: • • • • • Freizeitpark Nürnbergring World Conference Center Flughafen Berlin-Brandenburg Euro-Drohne Betreuungsgeld 200 Doch es gibt noch sehr viel mehr ‚unspektakuläre‘ Fälle: • • So stellt der Bund der Steuerzahler immer wieder fest, dass häufig Projekte von Dax-Konzernen mit Steuergeldern subventioniert werden, obwohl sie auf die Zuschüsse nicht angewiesen sind. Auch Kleinförderungen verschlingen erhebliche Steuermittel, wie der Bund der Steuerzahler aufzeigt: Im Landkreis Rosenheim wird mit Weitblick geplant: der Ingenieurs-nachwuchs der Fachhochschule tüftelt an einem kommerziellen Verfahren zur Trocknung, Pelletisierung und Verbrennung von Pferdemist. Die ländliche Region will Strategien entwickeln, sich in Zukunft ausschließlich mit Energie aus erneuerbaren Quellen zu versorgen, wozu Pferdemist zweifelsfrei zählt. Finanziert wird das Projekt aus Steuertöpfen: 312 000 Euro überweist das Bundesministerium für Bildung und Forschung an die Uni - für den Bund der Steuerzahler ist das eines von vielen Beispielen fehlgeleiteter Subventionen aus dem Bundeshaushalt. Der für mich größte Skandal ist jedoch der Haushalt der Europäischen Union. Hier werden Milliarden von den einzelnen Mitgliedsländern nach Brüssel hingeschoben, verschwinden dort in riesige Töpfe und werden wieder in die Mitgliedsländer zurückgeschoben – mit einem riesigen bürokratischen Aufwand! Und noch eine Meldung: Europa verschwendet Geld. Das Fazit einer neuen Banken-Studie lautet: In der Finanzkrise haben die europäischen Staaten beim Versuch, die heimischen Banken zu retten, viel Geld „verschenkt“. Insgesamt flossen rund 90 Milliarden Euro in die sieben untersuchten Banken aus Griechenland, Spanien und Zypern. Gut ein Drittel der Summe (35 Milliarden Euro) hätte eingespart werden können. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Forschungs-instituts Finpolconsult. Das Gutachten nennt die Schwachstellen der europäischen Bankenrettung. 3 Hauptfehler möchte ich hier nennen: 201 Fehler Nr. 1: Die Staaten haben zu früh Steuergelder zur Rettung eingesetzt. Die Gutachter sind zu dem Ergebnis genommen, dass die Banken nicht alles unternommen haben, um sich aus eigener Kraft zu retten. So hätten erst die Bankengläubiger auf Geld verzichten müssen, bevor die Steuerzahler bluten. Wer einer Bank Geld leiht, muss damit rechnen, dass in einer Bankenkrise Verluste entstehen. Daher sei es nicht angemessen gewesen, dass die Steuerzahler so früh haften. Fehler Nr. 2: Die Staaten haben zu spät reagiert. Dadurch, dass erst sehr lange über die Rettung einzelner Banken diskutiert wurde, konnten Bankengläubiger massiv Geld abziehen. Bei mehreren Banken wurden kurz vor der staatlichen Rettung Milliardenbeträge abgezogen, die dann im Rettungstopf fehlten. Ein harter und schneller Schnitt wäre aus Sicht der Steuerzahler besser gewesen. Fehler 3: Die Staaten, die den Banken finanziell geholfen haben, wurden mit Aktien-Beteiligungen abgespeist. Aufgrund der Kursverluste der Bank-Aktien entwickelte sich die Rettung zu einem fetten Minusgeschäft. Doch es sind nicht nur Beamte und Politiker, die von Großprojekten überfordert sind. Beispiel Thyssen-Krupp mit einem Stahlwerk in Brasilien. Was versteht man eigentlich unter Verschwendung? Verschwendung ist laut Brockhaus „der oft auf einer geistigen Störung beruhende Hang zu übermäßigen, sinn- und zwecklosen Ausgaben“. Doch auch Ausgaben, die sich als sinn- und zwecklos erwiesen haben, wurden ursprünglich von Beamten und Abgeordneten ausgedacht und beschlossen. Gemäß Brockhaus-Definition muss also die Frage beant-wortet werden, auf welche ‚geistige Störung‘ dieses Verhalten zurückzuführen ist. Laut Brüderle liegt dies an Selbstüberschätzung, Eitelkeit und Maß-losigkeit der handelnden Personen. Dem Präsidenten des Bundes-rechnungshofes, Dieter Engels, weist auf Beispiele hin, die deutlich machen, dass Prestigedenken, Irrsinn bei Bauprojekten – bei denen ein ‚Zurück‘ angeblich nicht mehr möglich ist -, Nachlässigkeit und bisweilen auch Amtsmissbrauch, Untreue oder Korruption im Spiel ist. 202 Die Gründe der Verschwendung sind sicherlich vielfältig. Nicht nur, dass sich fremder Leute Geld leichter ausgibt als das eigene, auch ein nicht mehr zeitgemäßes Haushaltsrecht, fehlende Kosten- und Leistungsrechnung, veraltetes Dienst- und Besoldungsrecht, über-triebener Perfektionismus und ungehemmte Regelungswut tragen zur Verschwendung bei. Vor allem aber müssen Verschwender bisher so gut wie keine Sanktionen befürchten. Wie läuft eigentlich eine staatliche Planung ab? Zunächst steht einmal die Idee eines Politikers im Raum. Dann wird grob geschätzt, was das Objekt kosten kann. Die Kosten werden dann runtergrechnet, so ungefähr um die Hälfte, damit sich niemand an den wirklichen Kosten erschrecken kann. Dann kommt die Planung – Dauer, sagen wir mal ca. 10 - 15 Jahre. Anschließend die Ausschreibung, so dass nach weiteren 2-5 Jahren, wenn die Prozesse um die Lurche und Käfer beendet sind, der erste Spatenstich erfolgt. Zwischenzeitlich gelten die planerischen Vorgaben nicht mehr, da die Gesetze und Vorschriften, z.B. zum Brandschutz, mehrmals überarbeitet und verschärft worden sind. Teilweise müssen jetzt sogar ganze Neubauteile abgerissen werden. Am Schluss wird die geplante Bauzeit verdoppelt und die Kosten verdreifacht. So funktioniert die politische Planung bei Groß-bauprojekte. Angesichts der hohen Staatsverschuldung warnte der ehemalige Präsident des Steuerzahlerbundes, Karl-Heinz Däke, die Politik bereits 2010 davor, beim Umgang mit öffentlichen Geldern nachlässig zu werden, nur weil die Steuereinnahmen derzeit steigen. „Bund und Länder müssen sich gewaltig anstrengen, um die Kriterien der Schuldenbremse und des Schuldenstopps einzuhalten. Sie können es sich daher nicht leisten, auch nur einen Euro durch Fehlplanungen und sorglosen Umgang zu verschwenden“, so Däke. „Die Verschwendung von Steuergeld gehört zu den Schwächen unseres politischen Systems und muss deshalb konsequent bekämpft und hart bestraft werden“, sagte Däke. Es reiche deshalb nicht aus, über Steuerverschwendung zu berichten. „Um die Steuerzahler vor dem 203 sorglosen Umgang mit Steuergeld zu schützen, ist die Einführung eines Amtsanklägers zwingend notwendig“, sagte Däke. Und sein Nachfolger, Reiner Holznagel, legt nach. Vor dem Hinter-grund des millionenschweren Schadens beim gescheiterten Rüstungs-projekt Euro-Drohne hat der Bund der Steuerzahler schärfere Gesetze gegen Steuergeldverschwendung verlangt. „Während Steuerhinter-ziehung zu Recht als Straftat verfolgt wird, bleiben selbst schwere Verstöße gegen die Haushaltsgrundsätze in aller Regel folgenlos“, sagte Holznagel, im Gespräch mit der ‚Welt‘ im Juni 2013. Nicht nur Steuerverkürzung, sondern auch die öffentliche Ver-schwendung wirke sich negativ auf die Steuermoral aus. In beiden Fällen müsse der Steuerzahler für den Schaden aufkommen, sagte der Verbandschef: „Es ist nötig, einen neuen Straftatbestand der Haushaltsuntreue einzuführen.“ Dieser müsse im Strafgesetzbuch verankert werden und auf die Verfolgung und Bestrafung von Steuergeldverschwendung durch Staatsdiener und Amtsträger abzielen. Holznagel verwies darauf, dass Union und FDP im Koalitionsvertrag 2009 der Steuerverschwendung ausdrücklich den Kampf angesagt hätten. „Doch geschehen ist überhaupt nichts“. Das politische Nichtstun stehe im eklatanten Gegensatz zum lauten Ruf nach schärferen Strafen für Steuersünder, monierte der Präsident des Steuerzahlerbundes. Die Arbeit der Rechnungshöfe müsse gestärkt werden. Sie müssten laut Holznagel künftig ähnliche Kompetenzen und Pflichten erhalten, wie sie die Finanzämter hätten. Dann wären die Prüfer verpflichtet, aufgedeckte Fälle von öffentlicher Verschwendung bei der Staatsanwaltschaft anzuzeigen, sagte der Verbandschef dem Blatt. In besonders schweren Fällen sollten laut Steuerzahlerbund Freiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren oder Geldstrafen verhängt werden können. „Wir müssen Steuerverschwendung endlich justiziabel machen“, so Holznagel. Nur dann werde es möglich sein, Amtsträger bei Steuergeldverschwendung zur Verantwortung zu ziehen. „Denn unterschiedliche Maßstäbe bei der Sanktionierung von Steuerhinter-ziehung einerseits und Steuergeldverschwendung 204 andererseits sind weder aus subjektiver Sicht der Steuerzahler noch aus objektiver rechtsstaatlicher Sicht hinnehmbar.“ B.R.-Kommentar: Der Begriff ‚Haushalt‘ hat etwas mit ‚Haus halten‘ zu tun und steht somit im absoluten Widerspruch zur Verschwendung. Was heute verschwendet wird, wird morgen fehlen. Die Ver-schwendung von heute belastet die kommenden Generationen. Die Sparzwänge der Kommunen machen es unumgänglich, dass wir zur engagierten Bürgernation werden, denn die ehramtlich Tätigen sind der ‚Kitt‘, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Die fetten Jahre sind vorbei! Konsolidierung statt Völlerei! V.6.9 Die Schlinge zieht sich immer mehr zu – Beispiel Schulen Verschwendung ist Hang zu übermäßigen, sinn- und zwecklosen Aus-gaben. Daneben gibt es eine über Jahrzehnte gewollte ‚zivilisatorische Entwicklung‘, die heute die Kommunalpolitiker vor fast unüber-brückbare Hürden stellt. Ich möchte das an einem konkreten Beispiel aus meiner Region – dem Landkreis Holzminden verdeutlichen. Die Kreispolitiker befinden sich in einer gewaltiger Zwickmühle: Es gibt den Grundsatzbeschluss, ein modernes, zukunftsfähiges Gym-nasium zu bauen. Es gibt viele Gründe – seit Vierjahrzehnten ist das jetzige Gebäude nicht mehr modernisiert worden – auch weiterhin zu diesem Beschluss zu stehen. Aber es stellt sich auch die berechtigte Frage, wie will der Landkreis Holzminden das alles finanzieren, ohne sich zu überschulden? Dabei steckt der Landkreis schon jetzt bis zu den Ohren in Schulden. Es stellt sich also die Frage: Neubau ja oder nein? Der Neubau soll 25 Millionen Euro kosten. Doch diese ‚Baustelle‘ ist leider nicht die einzige; der dringendste Investitionsbedarf für die übrigen bestehenden Kreis-Schulen beträgt nochmals mindestens 24 Millionen. Dabei 205 handelt es sich entweder um dringend notwendige oder gesetzlich vorgeschriebene Maßnahmen. Die gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmen im Bereich der Schulen sind vorwiegend mit drei Stichworten anzuführen: Energie/ Klimaschutz, Brandschutz und Inklusion. Hier sind in den ver-gangenen Jahren auf Bundes- bzw. Länderebene politisch motivierte Entscheidungen getroffen worden, die jede für sich gut begründbar ist, die jedoch gerade im Gebäudebestand bzw. bei Neubauten einen enormen zusätzlichen Investitionsbedarf nach sich ziehen. Beispiel Inklusion: Seit diesem Schuljahr können Kinder mit Behinderungen unter der Prämisse der Inklusion von der Einschulung bis zum Abschluss auch in allen Regelschulen unterrichtet werden. Denn in Niedersachsen ist die inklusive Schule verbindlich zum Schuljahresbeginn 2013/14 eingeführt worden. Das hat der Nieder-sächsische Landtag am 20. März 2012 mit breiter Mehrheit beschlossen. Mit der Konsequenz, dass die bisherigen Förderschulen keine Einschulungen mehr vornehmen und der Tag der Schließung vorauszusehen ist. Aus pädagogischer Sicht ist dieser Beschluss zu begrüßen. Die Konsequenz für die Kreiskasse: Noch tiefer in den nicht gefüllten Geldbeutel greifen, d.h. weiter verschulden – müssen nun alle Schulen behindertengerecht umgestaltet werden. Beispiel Brandschutz: In der Folge des Flughafenbrandes in Düsseldorf beschlossen die Bundespolitiker, alle öffentlichen Gebäude brandtechnisch aufzurüsten. Die Frage mag ja auf den ersten Blick zynisch klingen: Wie viel Kinder sind in den letzten 50 Jahren in deutschen Schulen verbrannt? Ja, jeder Tod eines Kindes, ist einer zu viel! Ich frage mich nur, ob die finanziellen Mittel an der richtigen Stelle ausgegeben werden. Neigt Politik dazu, zu schnell Medien-schlagzeilen mit unüberlegten Antworten zu begegnen? Beispiel energetische Sanierung: Ja, Klimaschutz ist eine globale und lokale Aufgabe. Dazu gehört auch die Energieverschwendung von Schulgebäuden. Nun ist der Landkreis Holzminden besonders stark 206 vom Schülerrückgang betroffen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob alle derzeitigen Schulen noch eine ‚Zukunft‘ haben? Ein langfristig wirkender Schulentwicklungsplan muss neben den pädagogischen Aspekten auch den finanziellen Rahmen setzen. Mir stellt sich generell die Frage, ob wir in Deutschland nicht zu viel Geld in Gebäudehüllen und zu wenig in die pädagogischen Inhalte einer Schule stecken? Was bedeutet dies für den Landkreis Holzminden? Bis 2018 muss der Kreis rund 60 Millionen Euro in die Schulen investieren. Geld, das er nicht hat. Und wohl auch nicht bekommt. Denn die Kommunalaufsicht hat einen genehmigungsfähigen Kreditrahmen von höchstens 26 Millionen Euro in Aussicht gestellt. Mehr, so rechnen die Kontrolleure vor, könne der Kreis gar nicht zurückzahlen. Wenn aber die Leistungsfähigkeit nicht mehr gewährleistet ist, ist das das Ende des Landkreises. Das Beispiel Schule ist eines von vielen. Durch gesetzliche Vorgaben schnüren wir den finanziellen Gestaltungsfreiraum einer Kommune, eines Landkreises immer mehr ein. Die Schlinge um den Hals zieht sich immer mehr zu. V.7 Das Spiel der Notenbanken Notenbanken spielen eine wichtige Rolle im internationalen Finanz-geschehen. Die Entscheidungen von Notenbanken sind oft weitläufiger als die von Regierungen. Die Fed ist auch heute noch die wichtigste Notenbank der Welt – aber sie ist in privaten Händen. Das wissen viele nicht! Ich möchte deshalb einmal einen Ausflug in die Vergangenheit machen. Denn es ist höchst interessant, mit welchen Tricks die Federal Reserve Bank in die Hände einer Bankiersclique kam. 207 „Gebt mir die Kontrolle über die Währung einer Nation, dann ist es für mich gleichgültig, wer die Gesetze macht.“ Diese prophetischen Worte des Großbankiers Mayer Amschel Rothschild sollten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts recht unheilvoll in den Vereinigten Staaten bewahrheiten. Denn im Jahr 1913 gelang es einem privaten Banken-kartell mittels eines konspirativ vorbereiteten Handstreichs, das amerikanische Parlament zu überlisten und die Kontrolle über die Währung zu erlangen. Aber wie konnte das geschehen? Die US-Notenbank Fed wurde durch den ‚Federal Reserve Act‘ von 1913 installiert. Für eine Clique Privatbankiers war dies ein großer Erfolg. Denn das Gesetz autorisierte eine private Zentralbank bestehend aus zwölf Kreditmonopolen - Geld für Darlehen praktisch aus dem Nichts heraus zu drucken. Es konnte dann gegen Zinsen an die Regierung verliehen werden. Gleichzeitig konnte die Fed die nationale Geldmenge kontrollieren bzw. vergrößern oder verkleinern. Der Kongressabgeordnete Lindberg nannte dieses Gesetz schon damals „das schlimmste Gesetzesverbrechen aller Zeiten. Das Finanzsystem ist einer Gruppe übergeben worden, die nur auf Profit aus ist. Das System ist privat und wird nur zu dem Zweck benutzt, aus dem Gebrauch des Geldes anderer Leute den größtmöglichen Profit zu erzielen.“ Ein paar Jahre später gab der Abgeordnete Louis McFadden vor dem Kongress zu Protokoll: „Einige Menschen denken, dass die Federal-Reserve-Banken Institutionen der US-Regierung sind. Es sind aber private Monopole, die das Volk dieser Vereinigten Staaten ausbeuten; in ihrem eigenen Interesse und dem ihrer ausländischen Kunden, im Interesse von Spekulanten im In- und Ausland und im Interesse von reichen und räuberischen Geldverleihern.“ Paul M. Warburg, einer der führenden Köpfe des Federal Reserve System, erläuterte, dass die Noten der Federal Reserve privat heraus-gegebenes Geld darstellen, während die Steuerzahler dabeistehen, um die potenziellen Verluste der Banken zu übernehmen. Damit hatte das Geldkartell alle sein Ziele erreicht. 208 Aber wie konnte es der amerikanische Kongress zulassen, dass die Kontrolle der Währung an diese kleine Clique privater Bankiers überging? Die Öffentlichkeit und auch der Kongress waren im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nicht bereit, eine Zentralbank in den USA zu akzeptieren. Dies widersprach der ‚freien‘ Marktwirtschaft und erzeugte Angst vor dem Sozialismus, der in vielen Ländern Europas bereits Einzug gehalten hatte. Die privaten Bankiers mussten also die öffentliche Stimmung und auch die des Kongresses manipulieren. Am besten eignete sich dazu, eine Bankenpanik zu erzeugen, und das taten sie auch: Sie streuten Gerüchte, dass die Knickerbocker Bank und die Trust Company of America kurz vor dem Bankrott stehen würden. Damit lösten sie die Bankenpanik von 1907 aus. Die Öffentlichkeit glaubte den lancierten Gerüchten und stürmte beide Banken. Jeder wollte sein Erspartes zurückhaben. Der Funke sprang schnell auch auf andere Banken über. Eine ganze Reihe von Bankenzusammenbrüchen war die Folge. Großbankier J. P. Morgan war daraufhin ‚edelmütig‘ bereit, 100 Millionen Dollar in Gold aus Europa zu importieren, um den Ansturm auf die Banken zu beenden. Erst jetzt war die hypnotisierte und geschockte Öffentlichkeit davon überzeugt, dass das Land ein Zentralbankensystem braucht. Dadurch sollten zukünftige Panik-attacken vermieden werden. Die Menschen hatten genug von der „Anarchie“ der Privatbanken. Dass es aber gerade die mächtigsten Privatbanken waren, die diese Panik zielgenau ausgelöst hatten, darüber erfuhr das amerikanische Volk lange Zeit nichts. Den Boden für die Saat war durch die inszenierte Bankenpanik von 1907 gut vorbereitet. Im November 1910 kam es auf Jekyll Island, einer Insel vor dem Bundesstaat Georgia, schließlich zu einem ‚Geheimtreffen‘ der mächtigsten Privatbankiers der USA. 209 Sie wollten ein Szenario entwerfen, das aus den ehemaligen Erzrivalen Verbündete machen und nur ihren Interessen dienen sollte. Das hieß im Klartext: • Profite maximieren • Wettbewerb minimieren • Die regulative Kraft der Regierung nutzen, um die im Kartell geschlossenen Abkommen durchzusetzen • Schaffung eines Entwurfes für ein Zentralbankensystem Sprich: Die gesamte Kontrolle des Geldes sollte auf wenige Privatbankiers übergehen, getreu Mayer Amschel Rothschilds Motto: Wer die Kontrolle der Währung hat, dem ist es egal, wer die Gesetze macht. Gastgeber des konspirativen Zirkels war der Fraktionschef der Republikaner Nelson W. Aldrich, Vorsitzender der Nationalen Währungskommission und Schwiegervater von John D. Rockefeller. Er galt gemeinhin als „Senator der Wall Street“ und Sprecher für Großindustrie und Banken. Die weiteren Teilnehmer waren: • Abraham Piatt US-Schatzamtes Andrew, • Henry P. Davison, Hauptteilhaber der J.P. Morgan Company • Charles D. Norton, Präsident von J.P. Morgans First National Bank of New York • Benjamin Strong, Vorstand der J.P. Morgans Bankers Trust Company 210 Ministerialdirektor des • Paul M. Warburg, Partner von Kuhn, Loeb & Company, Vertreter der Rothschildschen Bankendynastie • Frank A. Vanderlip, Präsident der National City Bank of New York in Vertretung von William Rockefeller. Wie pikant das Treffen war, enthüllte Vanderlip einige Jahre später: „Wenn die Öffentlichkeit erfahren hätte, dass unsere Gruppe den Entwurf für ein Bankengesetz geschrieben hätte, dann hätte dieses Gesetz im Kongress niemals eine Chance auf Verabschiedung gehabt.“ Das von den privaten Bankiers auf Jekyll-Island entworfene Gesetz (‚Aldrich-Plan‘) sah die Errichtung einer Zentralbank (‚Federal Reserve‘) vor. Zudem sollten private Banken privates Geld in Umlauf bringen dürfen und deren Kontrolle durch die Finanziers der Wall Street erfolgen. Der Kongressabgeordnete Lindbergh erhob den Vorwurf: „Das Geldkartell hat die Panik von 1907 verursacht. Diejenigen, die dem Geldkartell nicht genehm waren, konnten dabei aus dem Geschäft gedrängt werden, während das Volk derart in Angst versetzt wurde, dass es nach Veränderungen in den Bank- und Währungsgesetzen verlangte, die das Geldkartell formulieren würde.“ Genau das spielte den Privatbankiers in die Hände, die die Geld-kontrolle der USA übernehmen wollten. Aber zuvor musste noch ein „williger Präsident“ installiert werden. Doch William Howard Taft, US-Präsident des Jahres 1910,.weigerte sich, zusammen mit der Opposition, die von Aldrich entworfene Gesetzesvorlage für die Konstituierung einer Zentralbank zu unterstützen. Also musste bei der nächsten Wahl ein anderer Präsident her. Und tatsächlich fand man mit Woodrow Wilson den ‚richtigen‘ Präsidenten. Der neue Präsident der Vereinigten Staaten stellte also kein Problem mehr dar. Nun musste nur noch der Kongress umgestimmt werden. Um ihren Gesetzantrag durch den Kongress zu bringen, änderte die 211 Morgan-Fraktion die ‚alte‘ Bezeichnung ‚Aldrich-Plan‘, zunächst in ‚Federal Reserve Act‘ um. Der günstigste Zeitpunkt, um mit dem Gesetzesentwurf Erfolg zu haben, erschien ihnen kurz vor Weihnachten. Drei Tage vor Heiligabend wurde er in den Kongress eingebracht, als die Abgeordneten bereits Vorbereitungen für ihren Weihnachtsurlaub trafen. Der Antrag war so umständlich formuliert, dass nur Wenige dessen Inhalt wirklich verstanden. Aber die Opposition, allen voran William Jennings Bryan, war nach wie vor dagegen. Morgans und Aldrichs Mannschaft kam ihm deshalb mit scheinbarer Kompromissbereitschaft entgegen. Sie taten so, als akzeptierte sie seine Forderungen. Bryan durchschaute das Spiel nicht, buchte das für seinen Erfolg. Er sagte sogar: „Das Recht der Regierung, Geld in Umlauf zu bringen, geht nicht auf die Banken über; die Kontrolle über das so geschöpfte Geld wird von der Regierung nicht aufgegeben.“ Das dachte Bryan zumindest, aber die Wahrheit sah anders aus: Der Finanzminister und der Chef des Bankenaufsichtsamts, die beide im Fed-Direktorium (Federal Reserve Board) vertreten waren, hatten eine gewisse Kontrollfunktion. Doch die Federal-Reserve-Banken konnten ihre Politik weitgehend selbst gestalten, also außerhalb parlamentarischer Überwachung. Die Geldmenge wurde zwar von der US-Bundesdruckerei gedruckt, aber in Umlauf gebracht wurde sie in Form von Obligationen oder Schulden der Regierung. Diese Schulden musste die Regierung jedoch plus Zinsen an die private Federal Reserve zurückzahlen. Am 22. Dezember 1913 wurde der Gesetzesantrag dann im Abge-ordnetenhaus mit 228 zu 60 Stimmen und im Senat mit 43 zu 23 Stimmen verabschiedet. Bereits am nächsten Tag von Präsident Wilson unterzeichnet erhielt es als ‚Federal Reserve Act‘ Gesetzeskraft, der bis heute gilt. Der Kongress war von einem trügerischen wie brillanten Angriff des Geldtrusts überlistet worden. 212 V.7.1 Fördern die QE-Programme das Wachstum oder dienen sie ganz anderen Zwecken? Konjunkturabkühlung sind immer wieder große Herausforderungen für die Wirtschaft und die Politik bzw. Notenbanken, insbesondere für die FED. So auch in diesen Jahren. Dreimal hat die Fed bereits im großen Stil Wertpapiere gekauft. Von November 2008 bis März 2010 nahm sie verschiedene Arten von Zinspapieren für insgesamt 1,8 Billionen Dollar vom Markt. Dieses Programm ging als Quantitative Easing (QE I) in die Geschichte ein. Im November 2010 legte Fed-Chef Bernanke QE II auf. Bis Juni 2011 kaufte er langfristige US-Staatsanleihen für 600 Milliarden Dollar. Im September 2011 verkündete er dann die ‚Operation Twist‘ (QE III), bei der die Notenbank für 667 Milliarden Dollar Schuldtitel mit kurzer Laufzeit gegen solche mit langer Laufzeit tauschte. Aber das ist immer noch nicht genug. Ben Bernanke gibt nicht auf. Am 12. Dezember 2012 folgte der nächste - verzweifelt anmutende Versuch, die Arbeitslosenquote in den USA, gewisse Zinssätze sowie die Preise einiger Vermögenswerte in die gewünschte Richtung zu zwingen. Nach dem Auslaufen der ‚Operation Twist‘, wollen die Notenbanker nun längerfristig laufende Staatsanleihen im Wert von 45 Milliarden Dollar pro Monat kaufen. Damit würde die Fed im Jahr 2013 nochmals 540 Milliarden Dollar neues Geld drucken. Dazu kommen noch weitere 480 Milliarden Dollar, die sie weiter für den Kauf von Hypothekenpapieren ausgeben will. Sollte die US-Notenbank die Pläne wie angekündigt umsetzen, betrüge ihre Bilanzsumme Ende des Jahres 2013 rund 4 Billionen Dollar und wäre damit fünfmal größer als vor dem Ausbruch der Finanzkrise 2007. Nach Ansicht der Ökonomen des American Enterprise Institute scheint es bei den Vertretern der US-Notenbank die Annahme zu geben, dass ein gewisses Niveau von Anleihen- und Hypotheken-Käufen oder der Einsatz anderer geldpoltischer Werkzeuge eine substanzielle Verbes-serung am Arbeitsmarkt zwingend zeitigen wird. 213 Mit ‚anderen geldpoltischen Werkzeugen‘ ist vor allem die Nullzins-Strategie gemeint. Der US-Offenmarktausschuss (FOMC) legt seine geldpolitischen Richtlinien inzwischen bis Mitte 2015 fest. Hier wiederum ist die Ansage: Die Nullzins-Strategie bei den Leitzinsen soll solange fortgesetzt werden, bis die US-Arbeitslosenquote unter 7% fällt. Einzelne FOMC-Mitglieder verlangen sogar Quoten von 6,5% bis hin zu illusorischen 4,5%. Hier handelt es sich um ein Novum, einen Leitzins an die Arbeitslosenquote zu koppeln, zumal die Höhe dieser Quote Rückschlüsse über die Verfassung der Konjunktur nur teilweise zulässt. Aber zumindest lässt sich die Nullzins-Strategie simpel nach außen hin darstellen, sodass sie für jeden nachvollziehbar ist. Wir werden sehen, wie konsequent sich der FOMC letztlich verhält, wenn eines Tages die US-Arbeitslosenquote unter 7% fallen sollte. Werden dann tatsächlich sofort die Leitzinsen erhöht? Das wäre nur denkbar, wenn parallel das US-Bruttoinlandsprodukt über 3% notiert. Bernanke betreibt dieselbe Geldpolitik wie seine japanischen Kollegen: Leitzins bei null Prozent, kombiniert mit QE-Programmen. Die Bank of Japan hat nach ihrer Nullzinspolitik im Frühjahr 2001 erstmals ein QE-Programm aufgelegt, um die Konjunktur anzukurbeln. Das war die Grundidee: Wir kaufen Staatsanleihen und fördern damit die Konjunktur. Das Ergebnis kennen wir: Stagnation und Deflation. So wundert es nicht, dass liberale Ökonomen wie Frank Shostak, Inhaber der Beratungsfirma Applied Austrian School Economics, befürchten, dass das hemmungslose Drucken von immer mehr Geld eher zu einer Schwächung der Wirtschaft führen, weil diese immer weniger in der Lage ist, Güter und Dienstleistungen zu produzieren, welche vom Markt bzw., den Konsumenten benötigt und gewollt werden. Die Politik der Fed führt nach dieser Logik also zu falschen Anreizen, und diese wiederum führen zu Fehlinvestitionen. Dieser Mechanismus werde die reale Nachfrage nach Gütern eher vermindern. Das sehe ich genauso. Ob aber der Hinweis - „um die Nachfrage tatsächlich und nicht nur künstlich zu erhöhen, müsse zuerst die 214 Produktion von am Markt benötigten Gütern und Dienstleistungen erhöht werden“ – für die reifen Industrieländer richtig ist, bezweifele ich. So wie der Bedarf nach Gütern und Dienstleistungen in den auf-strebenden Schwellenländern wächst, verringert sich der Bedarf tendenziell in den reifen Industrieländern. Starke Export-Nationen wie Deutschland können allerdings an den Bedarfen in den Schwellen-ländern partizipieren. Dazu mehr in den Kapitel B.2.7 und B.VI.2. V.8 Der Fall Japan - Inflation oder Deflation? Die Zahlen waren zuletzt wirklich alarmierend. Im letzten Jahr ächzte die japanische Wirtschaft unter einer langsamen, aber beständigen Schrumpfung von zuletzt 3 bis 4%. Japan ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Und das Land der aufgehenden Sonne kämpft an vielen Fronten: Exportprobleme: Die Exportindustrie macht 15% der Wirtschafts-leistung aus. Sie brach mit dem Konsum und den Investitionen in einem Maße ein, wie es das Land schon lange nicht mehr erlebt hat. Japans Exportwirtschaft hat sich bis heute nicht von den Auswirkungen der Krise 2007/2008 erholt. Der starke Yen und die Weltfinanzkrise erschweren die Exporte. Die Güter sind für die krisengebeutelten Länder zu teuer. Gerade die USA und Europa sind Importeure japanischer Technik. Besonders hier geht der Konsum deutlich und für Japan schmerzhaft zurück. Der Exportrückgang hat mittlerweile die 20%-Marke gerissen. Deflationsprobleme: Seit Jahren hängt Japan in einer Deflation fest. Das zerstörerische Gemisch aus sinkenden Löhnen, sinkenden Preisen und stagnierender oder schrumpfender Wirtschaft ist kaum zu durchbrechen. Jeder dieser drei Faktoren beschleunigt den Niedergang der anderen. Weil die Löhne zu niedrig sind, können die Leute kaum konsumieren. Daher verkaufen die japanischen Firmen zu wenig 215 Produkte. Die Produktionen müssen gedrosselt werden, weil das Überangebot sonst zu schmerzhaften Preisnachlässen zwingt. Dadurch schrumpft die Wirtschaft. Betriebe verschwinden vom Markt. Wer überleben will, muss sparen, um preislich konkurrieren zu können. Das geht hauptsächlich über die Lohnstückkosten also die Löhne. Das schwächt wiederum die Kaufkraft, und da die Preise so beständig sinken, halten die Menschen ihr Geld zusammen, denn morgen wird sowieso alles billiger. Also lieber übermorgen kaufen als heute: Die klassische Deflationsfalle. Schuldenprobleme: Japan ist noch deutlich stärker verschuldet als Griechenland. Seine Staatsschulden betragen das 2,35-fache seiner Wirtschaftsleistung (Griechenland liegt beim 1,5-fachen). Nach dem Tsunami wurden staatliche Wiederaufbauprogramme ins Leben gerufen, die die Verschuldung in noch größere Höhen trieben, aber nur ein Strohfeuer waren. Die Schulden blieben. Die Zinsen liegen bei 0,1%. Zurzeit wird eine Senkung des Zinssatzes (auf die nicht notwendigen Reserven) von 0% oder gar in den negativen Bereich diskutiert. Man versucht mit aller Gewalt billiges Geld in die schrumpfende Wirtschaft zu pumpen und riskiert eine platzende Kreditblase. Die Zentralbank Japans (Bank of Japan) versucht seit Jahren, die Deflationsspirale durch den massiven Ankauf von Staatsanleihen zu durchbrechen und die Geldmenge zu erhöhen, also Inflation zu schaffen. Kursänderung: Japans neue Regierung ist wild entschlossen, den Kurs zu ändern. Sie will mit vorsätzlich herbeigeführter Inflation von 2% die deflationäre Spirale durchbrechen. Shinzo Abe, der neue Regierungschef macht Druck. Die japanische Notenbank, so fordert er, muss sich mehr nach den politischen Vorgaben richten. Erstaunlicherweise trägt ihm das aufgeregte Warnungen und Rügen amerikanischer und europäischer Politiker ein, die selbst ja schon lange genau dasselbe machen. Die US-Notenbank (Fed) und die 216 Europäische Zentralbank (EZB) folgen auch den Befehlen aus New York, Brüssel, Paris und Berlin, um das bröckelnde System zu stützen. Shinzo Abes Krisenpolitik ist keine Überraschung, sondern genau das, was unsere Regierungen im Verbund mit ihren Notenbanken und der EZB auch tun. Interessant ist dabei nur, dass man dem Bürger ständig weismachen will, dass damit keine Inflationsgefahr verbunden sei. Japan kommuniziert das dagegen ganz offen. Abes Auffassung nach sind das die wirksamsten Mittel eine Inflation zu schaffen: • Die Bank of Japan (BoJ) hat angekündigt, das Programm zum Ankauf von Wertpapieren und Staatsanleihen bis auf weiteres fort zu führen. Auch die Menge der aufzukaufenden Staats-anleihen soll stark erhöht werden. • Dazu kommt das Drucken von Geld, also die Finanzierung des Staatshaushaltes durch die Druckerpresse. Das ist beabsichtigt. Hierzulande werden Staatsanleihenaufkäufe der EZB dagegen als „harmlos“ dargestellt. • Die Zinsen sollen noch weiter sogar bis unter null gesenkt werden, um billiges Geld ins System zu schleusen. • Ausländische Währungen in großer Menge sollen eingekauft werden. Dadurch will man den Kurs des Yen schwächen und die Exportwirtschaft ankurbeln. Schon die Ankündigung dazu ließ den Kurs des Yen fallen. Erfolg haben die Maßnahmen aber bisher kaum gezeigt. Die Abwärts-spirale der Binnenpreise konnte nicht gestoppt werden. Überalterungsproblematik eine tickende Zeitbombe: Die Über-alterung der japanischen Gesellschaft ist noch stärker ausgeprägt als in Europa und den USA. Das bremst ein Wirtschaftswachstum alleine schon biologisch ab. Bei zu wenig jungen Arbeitskräften entstehen zwangsläufig Engpässe an relevanten Stellen. Denn zur 217 Expansion wird Personal benötigt. Selbst bei guter Konjunktur wäre deshalb kaum mehr als 1% Wachstum möglich. Immigration von Arbeits-kräften würde dem Problem abhelfen. Das ist jedoch bei der Einstellung der japanischen Bevölkerung nicht durchsetzbar. Doch die Uhr tickt. Bisher konnte Japan immer noch sehr gelassen mit seinen Schuldenbergen umgehen, weil es anders als andere Länder hauptsächlich bei seinen eigenen Bürgern verschuldet ist. Die Japaner legen sehr große Summen ihrer Altersrücklagen in eigenen Staats-anleihen an. Dabei stört sie nicht, dass die Zinsen erbärmlich niedrig sind. Der wahre Gewinnzuwachs ergibt sich nämlich nicht aus den Zinsen, sondern über die Jahre aus dem Kaufkraftzuwachs via Deflation: • Legt also Herr Yamamoto beispielsweise 100.000 Yen an, bekommt er nach zehn Jahren 110.462 Yen bei einem Prozent Zinsen ausgezahlt. Das ist keine gute Rendite. • Berücksichtigt man aber etwa 5% Deflation, gewinnen die eingezahlten 100.000 Yen nach zehn Jahren aber eine Kauf-kraft von 162.889 Yen (im Vergleich zum Einzahlungs-zeitpunkt). • Diese immensen Ersparnisse eines ganzen Volkes werden in den nächsten zehn Jahren zum größten Teil abgerufen. Die Generation, die heute in den Ruhestand hineinwächst, ist ein ansehnlicher Teil der Bevölkerung. Sie will ihr Altersgeld haben. • Gleichzeitig werden die nachwachsenden Einzahler aber immer weniger. Sie können die Geldtöpfe nicht mehr auffüllen. Ein solch massiver Entzug von Geld gibt der Deflation noch einmal richtigen Schub. 218 • Sollten die neuen Maßnahmen zur Schaffung einer Inflation Erfolg zeigen und zwei Prozent Preissteigerungen bei gleich-zeitigen Nullzinsen bewirken, rechnet sich das ganze Alters-versorgungsmodell aber für die Japaner nicht mehr. Die Jungen zahlen dort gar nichts mehr ein. Die Älteren werden sogar möglicherweise ihre Einlagen vorzeitig abziehen. Japan bleibt dann nicht mehr viel übrig, als in einer gnadenlosen Yen-Abwertungsaktion seine Exporte anzukurbeln. Dazu muss es seine Produkte auf dem Weltmarkt so billig anbieten, dass die Konsumenten in den Industrieländern die teureren, eigenen Produkte stehen lassen. V.8.1 Fluch und Segen des billigen Geldes Alles in der Wirtschaft dreht sich um den Preis des Geldes. Der Zins ist der Lebensnerv ökonomischer Aktivität. Wenn Geld teuer ist, dann geht die Nachfrage zurück. Firmen reduzieren ihre Investitions-ausgaben, und Häuslebauer überlegen zweimal, ob sie wirklich einen Baukredit aufnehmen. Doch wer bestimmt den Preis des Geldes? Das liebe Geld ist kein Gut wie jedes andere, da traut man den Markt-kräften nicht so recht über den Weg. Deshalb steuern die Zentral-banken den Preis über den Leitzins. In den USA, in Großbritannien, Japan und in der Euro-Zone – überall das gleiche Bild: der Leitzins liegt deutlich unter einem Prozent. Die Inflationsrate ist höher. Sparer machen deshalb Verluste. Sie bezahlen den Preis, dass Notenbanken alles dafür tun, den Konjunkturmotor in Gang zu setzen. Das weite Korsett der Geldversorgung schmückt ein hehres Anliegen: Man möchte die Wirtschaft ankurbeln. Unternehmen und Privathaushalte sollen förmlich dazu gezwungen werden, das billige Geld in die Hand zu nehmen und auszugeben: für Konsum und Investition. 219 Doch niedrige Zinsen können auch zum Fluch werden, dann nämlich, wenn sie Privatpersonen dazu verführen, zu viel Kredit für Konsum-artikel aufzunehmen oder Unternehmer auf Pump expandieren, obwohl es das Geschäftsmodell gar nicht hergibt. Oder noch brisanter: wenn Spekulanten sich günstig eindecken, um riskante Wetten an den Finanzmärkten einzugehen. Fast jeder Ökonom teilt die Einschätzung, dass allzu niedrige Zinsen auf Dauer gefährlich werden können. Billiges Geld verleitet zu Investitionen, die sich schon bei etwas höherem Zins nicht mehr rechnen würden. Zudem: Der niedrige Leitzins, die Flutung der Märkte mit billigem Geld, führt mittelfristig zu Inflation. Da sind sich die meisten Experten sicher. Diese Geldentwertung ist politisch ebenfalls erwünscht. Es wird keine Hyperinflation heraufbeschworen, es geht eher um eine schleichende Entwertung des Sparvermögens und der Schulden. Wissenschaftler sprechen von finanzieller Repression, die historisch immer eingesetzt hat, wenn Staaten überschuldet waren. V.8.2 Inflation ist nicht die Lösung aller Schuldenprobleme Seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 ist nichts mehr so, wie es einmal war. Begriffe wie ‚Staatsbankrott‘, ‚Bankenunion‘, ‚Bankenaufsicht‘ und ‚Bad Bank‘ stehen mittlerweile auf der Tages-ordnung. Von den Regierungen wird nur noch Schadensbegrenzung betrieben. Um ‚Wachstum und Wohlstand‘ zu sichern, produzieren die Noten-banken der Länder immer mehr Geld, um es bei extrem niedrigen Zinsen auf den Geldmarkt zu werfen. So soll für Stabilität gesorgt werden. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Die Geldschwemme auf den Märkten erhöht jedoch die Gefahr von Inflationen. Offiziell wird das natürlich bestritten. So liegt die ‚politisch korrekte‘ Inflation in Deutschland gerade mal bei knapp zwei Prozent. Stimmt das? 220 Die Liquiditätsschwemme, mit der die EZB das Bankensystem stabilisiert hat, schürt in Deutschland die Angst vor einer steigenden Inflation. Meldung vom 21. Dezember 2012: Arbeitnehmer in Deutschland hatten im dritten Quartal unterm Strich wieder etwas mehr Geld in der Tasche. Die Reallöhne seien im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um durchschnittlich 1,0 Prozent gestiegen, teilte das Statistische Bundes-amt mit. Die Verbraucherpreise stiegen jedoch um 1,9 Prozent. Meldung vom 14. Januar 2013: Plus 4,8 Prozent im Jahresvergleich Dezember 2012 zu Dezember 2011, wenn das keine Inflation ist. Es geht hier nicht etwa um die Preise für Strom und Sprit, sondern für Lebensmittel. Deren Anstieg hat das Statistische Bundesamt ver-öffentlicht. Und das Echo? Eher verhalten. Soll man die 4,8 Prozent also gar nicht so ernst nehmen? Eher doch, denn sie dürften eine Vorhut dessen sein, was uns in den kommenden Monaten und Jahren erwartet: eine Inflationsspirale nach oben. Eine andere Vorhut ist schon da, doch ihr mediales Echo bleibt zunächst eher verhalten: der bewusst inszenierte Anstieg der Inflations-erwartungen. Die Idee dazu ist zwar nicht neu, aber durch Mark Carney, den nächsten Gouverneur der Bank von England, der sie propagiert, findet sie in Regierungs- und Zentralbankkreisen immer mehr Sympathisanten. Carney gehörte früher ebenso wie Mario Draghi, der jetzige Präsident der Europäischen Zentralbank, zum Führungskreis der US-Investmentbank Goldman Sachs. Wir alle beobachten doch schon seit Längerem, dass viele Waren immer teurer werden. Was nützt es da, wenn ein Computer oder Fotoapparat billiger wird, die Preise der Güter, die man täglich braucht, aber immer höher steigen? Ganz abgesehen von Öl, Gas, Benzin und Strom. Rechnet man die Teuerungsrate also ‚richtig‘ (Geldmengenwachstum abzüglich BIP), so liegt die ‚wahre‘ Inflation bei rund neun (!) Prozent. Und das ist genau das, was der Bürger auch ‚fühlt‘. 221 Inflationen werden vom Zentral- und Notenbanken durch die Schaffung von immer höheren Geldmengen verursacht. Bereits 1974 hat der Nobelpreisträger Friedrich Hayek nachgewiesen, dass eine regelmäßige Expansion und Kontraktion der Geldmenge die Ursache für Konjunkturzyklen ist. Eine Ausweitung der Geldmenge wurde in der Vergangenheit schon immer mit einer Steigerung der Preise begleitet. Immerhin hat sich die Geldmenge in der Euro-Zone um 11,4 Prozent erhöht. Langfristig werden sich die Preise wieder auf einem höheren Niveau einpendeln. Der große Nachteil für Sie als Verbraucher: Unsere Ersparnisse verlieren ihre Kaufkraft. Zentralbanken haben grundsätzlich mehrere Möglichkeiten, eine Inflation in Gang zu setzen. Sie können allerdings auch scheitern, etwa wenn die Deflations- oder sogar Depressionserwartungen in der Bevölkerung tief verwurzelt sind. Rezessionen treten vornehmlich dann auf, wenn Geldmengen ‚fehlgeleitet‘ werden. Ein Bankensystem, das in der Lage ist, den Marktzins beliebig zu drücken und die Märkte massiv mit billigem Geld überschwemmt, kann eine Inflation auslösen. Ist der rapide Konjunkturanstieg, den wir in der Bundesrepublik in den letzten Jahren erlebt haben, bereits der Vorbote für die nächste Rezession bzw. Deflation? Es bleibt die Frage, ob Inflation die Schuldenproblematik lösen kann. Die Notenbanken, so wird oftmals argumentiert, könnten doch im Falle einer Schuldenkrise die Notenpresse anwerfen und massiv Geld drucken und damit eine Inflation auslösen, was die Schulden entwerten würde. Doch was hätte das für Folgen? Einmal würden die Zinsen, durch Erhöhung des Inflationszuschlages zum Zins, nach oben gehen. Das Zinsniveau entwickelt sich parallel zur Inflationsrate. Durch eine Zinserhöhung schützt sich der Gläubiger vor einer realen Schuldenentwertung. Die Zinsen steigen dabei um die gleichen Prozentpunkte, wie die zu erwartende Inflationsrate. Dies bedeutet, dass zum einen die Schulden höher verzinst werden müssen und zum 222 anderen der Gläubiger höhere Zinserträge hat. Im Endeffekt wird durch eine normale Inflation der reale Wert der Schulden in keiner Weise beeinflusst. Im Gegenteil! Denn durch den höheren Zinsfuß läuft das Zinses-zinssystem mit einer bedeutend höheren Dynamik, womit sich die Probleme auch in schnellerem Maße erhöhen. Dauert es beispielsweise bei einem Zinssatz von fünf Prozent etwa 14 Jahre, bis sich die Schulden durch den Zinseszins verdoppelt haben, sind es bei zehn Prozent, wenn zu den fünf Prozent Zins noch fünf Prozent Inflation dazukommen, nur noch etwa sieben Jahre. Eine Inflation ist also unter keinen Umständen geeignet, das Schuldenproblem anzugehen. Durch steigende Zinsen wird die Situation sogar noch verschlimmert. Was aber wäre, wenn die Notenbanken die Druckerpressen so schnell laufen lassen würden, dass es wie im Jahr 1923 zu einer Hyperinflation käme? Das würde zwar momentan die Schulden im Inland entwerten, allerdings nur um den Preis, dass die Auslandsschulden durch die fallenden Wechselkurse enorm aufgewertet würden. Von einer Lösung der Problematik kann auch hier in keiner Weise gesprochen werden, da auf diese Weise nur ein Problem mit einem anderen vertauscht, der Teufel mit dem Belzebub ausgetrieben wird. Dazu kommt, dass eine Inflation den Schuldenstand des Staates gar nicht senkt, sondern im Gegenteil noch weiter aufbläht. Eine Studie der Großbank Unicredit kam zum Ergebnis, dass höhere Inflationsraten die Schuldenquote in Deutschland deutlich in die Höhe treiben und für griechische Verhältnisse sorgen würden. Der Schuldenstand der öffentlichen Hand könnte demnach bei Preissteigerungen in Höhe von vier Prozent bis 2030 auf mehr als 100 Prozent des Brutto-inlandsprodukts (BIP) klettern. Die Ökonomen von Unicredit haben verschiedene Szenarien durch-gespielt, wie sich die Schuldenquote in Deutschland bei 223 verschiedenen Inflationsraten entwickeln könnte. Würde die Inflationsrate ab 2013 auf vier Prozent klettern, dann würde ab 2015 die Schuldenquote wieder ansteigen und im Jahr 2030 die 100-Prozent-Marke durchbrechen. Bei einer Inflationsrate in Höhe von sechs Prozent wären die Folgen noch gravierender: Die Schuldenquote würde ab 2016 Jahr für Jahr immer schneller steigen. Bereits im Jahr 2027 läge die Schuldenquote bei 101,3 Prozent. Der Grund dafür sind jeweils steigende Zinsen auf Staatsschulden. Die Unicredit-Ökonomen rechnen damit, dass Investoren Zinsaufschläge vom Staat verlangen, weil es in Zeiten einer Inflation für Investoren unsicherer ist, dem Staat Geld zu leihen, da ihnen ein Wertverfall ihrer Investitionen drohe. Damit zeigt sich, dass auch eine Inflation keineswegs ein Weg ist, um das Schuldenproblem zu lösen. V.9 Steht die Welt vor einem Währungskrieg? Das ‚Kriegsspiel‘ funktioniert nach einfachen Regeln: Die Länder der Welt brauchen dringend Wirtschaftswachstum, um aus der Krise zu kommen und die eigenen Schulden bezahlen zu können. Wirtschaftswachstum entsteht, wenn die Unternehmen des Landes möglichst viele Aufträge haben. Und die sind am einfachsten zu bekommen, wenn die Währung des eigenen Landes billig ist. Beispiel: Steht der Dollar im Vergleich zum Euro niedrig, sind US-Waren für Europäer billig zu haben. Und europäische Waren werden für US-Bürger teuer, sodass sie lieber zu heimischen Produkten greifen und die US-Wirtschaft weiter ankurbeln. Es kommt also darauf an, die eigene Währung möglichst billig zu halten und den Wechselkurs nach unten zu drücken. Deshalb pumpen die Zentralbanken der Länder unvorstellbare Geldmengen ins Finanzsystem. Billiges Geld eben. „Die Welt steht vor einem 224 Währungskrieg. Und Europa droht dabei unterzugehen“, warnte sogar das Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘. Europa ist bedroht, weil die Europäische Zentralbank sich noch ziert, bei dem gefährlichen Spiel im großen Stil mitzumachen, während Länder wie die USA oder Japan hemmungslos Geld drucken und den Kurs von Dollar und Yen auf Teufel komm raus nach unten prügeln. Der Euro droht durch die Decke zu gehen. Er könnte so teuer werden, dass sich die Welt keine Waren mehr aus Europa leisten kann. Made in Germany würde zum überteuerten Ladenhüter für den Rest der Welt. Mögliche Szenarien: • Bleibt Europa dabei, den Währungskrieg nicht im großen Stil mitzumachen, wird der Euro so teuer, dass Deutschland schon bald in der Depression versinkt. Eine lähmende deflationäre Spirale, die alle Unternehmen lahmlegt. Massenarbeits-losigkeit, Insolvenzen … • Spielt Europa mit, droht der Euro wertlos zu werden. Mit anderen Worten: Ihr Vermögen schmilzt wie Eis in der Sonne, wenn Sie das Geld nach wie vor in Euro halten (zum Beispiel auf einem Festgeldkonto). Ihre Rentenansprüche oder der Auszahlungsbetrag Ihrer privaten Rentenversicherung werden zu Spielgeld. V.10 Fazit Kapitel V Das Wirtschafts- und Sozialsystem basiert auf der Grundlage von Wachstum. Letztendlich entsteht Wachstum aber nur dann, wenn der Bürger Bedürfnisse hat und diese befrieden kann. Der Wohlstand der Bürger in den reifen Industrieländern ist über Jahrzehnte gewachsen. Der Zuwachs an Bedürfnissen nimmt logischerweise stetig ab, die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts ebenfalls. Das Wirtschafts225 und Sozialsystem gerät aus der Balance. Um dies zu verhindern bzw. zu mildern, wird von Politik und Notenbanken immer wieder Geld in den Kreislauf gepumpt. Doch der Erfolg bleibt weitgehend aus. Dafür wächst die Verschuldung sowohl des Staates als auch der Bürger. Manipulationen mit dem überschüssigen Geld – Geld, was nicht durch Güter bzw. Dienstleistungen, die wirklich im Kreislauf benötigt werden, ‚gedeckt‘ ist - bringen das Geldsystem an den Rand des Zusammenbruchs, mit negativen Folgen für den normalen Wirtschaftskreislauf. Wieder müssen weltweit Konjunkturprogramme das Schlimmste verhüten. Doch die Schuldenspirale schraubt sich weiter nach oben. Zusätzlich werden durch die Einführung des Euros die Ungleich-gewichte innerhalb der EU größer. Die Finanzkrise 2008 verschärft die Schuldensituation der ‚schwachen‘ Euro-Länder extrem. Rettungs-schirme werden installiert, die den sofortigen Kollaps verhindern sollen. Den betroffenen Ländern wird ein Spar- und Reform-Diktat verordnet. Die Wirtschaftsleistung sinkt, die Verschuldung steigt weiter. Die ‚schwachen Schultern‘ trifft es heftig; die ‚starken Schultern‘ lassen Staat und ihre Mitbürger mittels Steuerbetrug bzw. Steuervermeidung im Stich. Die Schere zwischen arm und reich geht weiter auseinander. Deutschland bürgt inzwischen für rund 122 Mrd. Euro. Und das wird mit hoher Sicherheit nicht das Ende der Fahnenstange sein. Wann kommt der Tag, an dem Deutschland und seinen Bürger die ‚Rechnung‘ präsentiert wird? VI.0 Ausblick der Schuldensituation Deutschlands und Europas Ohne die Schuldenstände irgendwie in den Griff zu bekommen, wird es keine Lösung der Krise geben, es wird allenfalls Zeit erkauft. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung 226 wurde Bundesbankpräsident Dr. Jens Weidmann am 30.12.2012 gefragt: „Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen der Krise?“ Seine knappe Antwort war: „Der Kern der Krise liegt in den Peripherie-ländern: ein übermäßiger Anstieg der privaten Verschuldung, eine zu hohe Staatsverschuldung sowie ein Mangel an Wettbewerbsfähigkeit, der Zweifel aufkommen lässt, dass sie die Schulden selbst schultern werden.“ IWF-Chefin Christine Lagarde warnt Mitte Januar 2013 vor einem Rückfall in Krise. Die Gefahr eines Rückfalls der Weltwirtschaft in die Krise ist noch nicht gebannt. Es seien im vergangenen Jahr zwar in vielen Teilen der Welt die richtigen Maßnahmen ergriffen worden, um einen ökonomischen Zusammenbruch zu vermeiden, doch mittelfristig gebe es zahlreiche ungelöste Probleme, sagte die Direktorin des Internationalen Währungsfonds. Konkret nannte sie etwa den Schuldenabbau in reichen Industrieländern, entschlossene Reformen im internationalen Finanzsektor und den Abbau der Arbeitslosigkeit. Damit der Staat trotzdem weiter an Kredite kommt, hat man sich zahlreiche Möglichkeiten einfallen lassen. In Europa werden die Schulden klammer Staaten deshalb anderen, solventeren Staaten aufgebürdet (unter dem Deckmantel europäischer Solidarität nennt sich das dann elegant Europäischer Stabilitäts-Mechanismus), oder von der Zentralbank über Stützungskäufe bei Staatsanleihen zeitweise übernommen, oder wie im Falle Griechenlands mit einer Mischung aus Streichung (Schuldenschnitt) und Umschuldung irgendwie auf die lange Bank geschoben. Parallel dazu versucht man, mit Spar-programmen den künftigen Finanzierungsbedarf soweit in Grenzen zu halten, dass das Vertrauen in die Rückzahlungsfähigkeit der Staatsschulden wieder soweit zunimmt, dass Investoren wieder genauso unbekümmert zugreifen wie in den vergangenen Jahrzehnten. Nur leider funktioniert das Ganze nicht. Schuldenbremse und europäischen Fiskalregeln sowie der Fiskalpakt erfordern, dass neben Bund und Ländern auch für die Kommunalebene Haushaltsgrenzen wirksam sind, um den annähernden Haushalts-ausgleich des Gesamtstaates zu sichern. 227 Neben den eher längerfristigen Konsolidierungsanforderungen im Rahmen der Schuldenbremse wurden vonseiten der Bundesländer zusätzliche kurzfristige Anpassungsnotwendigkeiten aus der Ratifizierung des europäischen Fiskalpakts befürchtet. Während die Schuldenbremse des Grundgesetzes für die Übergangszeit bis 2020 nur wenige Vorgaben macht, beinhaltet der Fiskalpakt letztlich für den Gesamtstaat die Verpflichtung zu einem annähernden strukturellen Haushaltsausgleich. Spätestens 2020 gilt die verfassungsrechtliche Vorgabe des grundsätzlichen Neuverschuldungsverbots für Länder und Gemeinden, sodass sich die Einnahmen und Ausgaben eines jeden Landes (strukturell) mindestens ausgleichen müssen. Sofern der – noch zu beschließende – neue Finanzausgleich ab 2020 nicht einen Ausgleich für die sehr unterschiedlichen Finanzlagen schafft, fallen die not-wendigen Anpassungen für die einzelnen Länder sehr unterschiedlich aus. Dann müssen insbesondere unterdurchschnittlich finanzstarke Länder mit höheren Schulden und entsprechenden Zinslasten entweder ihre Primärausgaben deutlich stärker einschränken oder eigene Einnahmepotenziale vermehrt ausschöpfen, um den (strukturellen) Haushaltsausgleich zu erreichen. Hier könnte es sinnvoll sein, bei der anstehenden Finanzausgleichsreform eine höhere Flexibilität insbesondere auf der Einnahmeseite etwa über länderspezifische Steuerzuschläge vorzusehen. Doch: Die Bundesbank hat den Länderregierungen vorgeworfen, die durch die Schuldenbremse notwendigen Korrekturen in den Landes-haushalten viel zu zaghaft eingeleitet zu haben. Aktuell (Oktober 2012) seien „noch keine genauen oder nur wenig ambitionierte Vorgaben für den Defizitabbau“ in der Übergangsphase bis 2020 festgelegt worden, moniert sie. Immerhin müssten alle Bundesländer ab 2020 strukturell ausgeglichene Budgets vorlegen. Die den Bundes-ländern eingeräumte Übergangsfrist hält die Bundesbank obendrein für viel zu lang. Die Verschleppung der nötigen Anpassungen berge „die Gefahr, dass notwendige Konsolidierungsmaßnahmen aufgeschoben werden und schließlich 228 Probleme bei der Zielerreichung auftreten“. Je später die Konsolidierung erfolge, desto höher werde obendrein auch die künftige Zinsbelastung ausfallen. Allein das Tempo des Schuldenabbaus ist angesichts des Schulden-berges geradezu lächerlich. Mehr Schuldenabbau wäre nur drin, wenn die heimische Wirtschaft stärker wächst, was sich leider nicht (mehr) staatlich verordnen lässt. Der Konsolidierungskurs bei den Staats-finanzen kommt ein paar Jahrzehnte zu spät, die Schuldenberge sind bereits zu groß zum Wegsparen! Wegducken ist allerdings keine Lösung. Deshalb müssen wir tiefer bohren, um die Ursachen zu erkennen. VI.0.1 Wunsch oder Wirklichkeit? Meldung vom 24. Oktober 2012: Schäuble sagte voraus, dass die Staatsschuldenquote Deutschlands von derzeit 81 Prozent bis 2016 auf 73,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes sinken werde. In diesem Jahr soll das laufende Defizit noch bei 0,5 Prozent des BIP liegen, im kommenden Jahr rechnen die Finanzminister von Bund und Ländern mit einem insgesamt ausgeglichenen Staatshaushalt. Man kann es auf den ersten Blick als kleine Sensation bezeichnen: mitten in der europäischen Schuldenkrise hat der deutsche Staat 2012 einen Überschuss erzielt - den ersten seit fünf Jahren. Bund, Länder, Kommunen und Sozialversicherung zusammengerechnet nahmen 2,2 Milliarden Euro mehr ein als sie ausgaben. Fein, nicht? 2011 hatte es noch ein Defizit von 0,8 Prozent und 2010 sogar von 4,1 Prozent gegeben. Das deutsche BIP stieg im Gesamtjahr 2012 um 0,7 Prozent. Das klingt zwar nach viel, aber es sind lediglich 0,1 Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes bei einer Gesamtverschuldung von derzeit über 80 Prozent des BIP bzw. über 2.000 Milliarden Euro. Inklusive Pensionsverpflichtungen soll der Schuldenberg gar doppelt so hoch liegen - nämlich bei unvorstellbaren 4 Billionen Euro. Würde 229 der Schuldenabbau in diesem Tempo weitergehen, bräuchte Deutschland also 1000 Jahre (bzw. 2000 Jahre) um seine Schulden komplett abzubauen. Und nochmals ein paar Tausend Jahre mehr, um die Schulden seiner europäischen Partnerländer mit abzubauen, für die es seit dem 01.01.2013 über den ESM mit haftet. Wir sehen: Das ein Schuldenabbau überhaupt gelingt, ist erfreulich und leider im europäischen Maßstab nicht die Regel. VI.02 Wollten Sie Grieche sein? In Griechenland wird die Situation im Herbst 2012 immer prekärer. Trotz massiver Sparmaßnahmen und milliardenschweren Hilfspaketen schlingert das Land immer noch am Rand des Staatsbankrotts. Die Krise auf dem griechischen Job-Markt verschärft sich. Im November stieg die Quote auf 27 Prozent. Besonders dramatisch ist es bei den Bürgern unter 24 Jahren: Hier hat die Arbeitslosigkeit mittlerweile 62 Prozent erreicht. Leidtragende sind die Bürger. Diese müssen die Suppe ausbaden. Hier eine Liste der bisher durchgeführten und geplanten Einschnitte für die Menschen. Entscheiden Sie selbst, ob Sie an der Stelle einer Griechen oder eines Griechen sein wollten. • • • • Die Preise für Nahrungsmittel sind nach wie vor viel zu hoch. Immer mehr Menschen sind deshalb auf Suppenküchen ange-wiesen. Viele verlieren ihre Häuser oder Wohnungen, weil sie arbeits-los geworden sind und die Miete nicht mehr zahlen können. Sozialhilfe wie etwa Hartz IV in Deutschland, die durchgängig ausbezahlt wird, gibt es nicht. Schätzungen zufolge hat jede Familie mindestens einen Arbeitslosen, der von dem Geld mitversorgt wird. 230 • • • • • • • • • • • • • • • Die Gehälter im staatlichen Sektor wurden massiv gekürzt. Das 13. und 14. Monatsgehalt fällt weg. Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes und Freiberufler werden mit einem Solidaritätsbeitrag zur Kasse gebeten. Zuschläge wurden gestrichen, die meisten frei werdenden Stellen nicht wieder besetzt und jede zweite befristete Stelle nicht verlängert werden. In Staatsunternehmen sollen mindestens 20.000 Entlassungen vorgenommen werden. Betroffen sind Mitarbeiter von 151 Firmen. Laut einem Schreiben des Finanzministeriums müssen die Unternehmen Listen von Angestellten präsentieren, die zunächst in eine sogenannte ‚Arbeitsreserve‘ geschickt werden. Diese erhalten ein Jahr lang 60 Prozent ihres Lohnes und werden dann entlassen. Andere müssen in Frührente gehen. Mindestens zehn Prozent der Angestellten müssen auf die Entlassungsliste gestellt werden. Die Abfindungen für entlassene Arbeitnehmer werden drastisch gesenkt. Arbeitgeber dürfen Verträge mit jedem einzelnen Arbeitnehmer schließen. Damit werden praktisch Tarifverhandlungen um-gangen. Bei Staatsbediensteten werden das Weihnachtsgeld und das Urlaubsgeld gestrichen. Viele Löhne und Gehälter sollen um sechs bis 20 Prozent verringert werden. Die Arbeitszeit der Verbleibenden wird von 37,5 auf 40 Wochenstunden verlängert. Die Mehrwertsteuer wurde um drei Prozent angehoben. Die Steuern auf Tabak, Spirituosen, Zigaretten, Heizöl, Erdgas und Kraftstoff stiegen. Die Kfz-Steuer wurde erhöht. Eine Finanztransaktionssteuer wurde eingeführt. Im Gesundheitswesen wurden über zwei Milliarden Euro gekürzt. Unter anderem sollen die Versicherten sich mit 231 • • • • • • • • • • • • • • höheren Eigenbeiträgen beim Kauf von Medikamenten beteiligen. Zahlreiche Krankenhäuser sollen schließen. Andere sollen sich zusammenschließen. Die Vermögenssteuer stieg. Luxusabgaben für Jachten, Schwimmbecken und Autos wurden angehoben. Ausgaben für die Landesverteidigung gekürzt. Der Steuerfreibetrag wird von 8.000 Euro auf künftig 5.000 Euro im Jahr gesenkt. Die Grundsteuer, die jeder Haus- oder Wohnungsbesitzer zahlen muss, soll mit der Stromrechnung eingezogen werden. Wer nicht zahlt, dem wird der Strom abgestellt. Geplant: Wer zu häufig zum Arzt geht, soll zur Kasse gebeten werden. Wenn die Arztkosten 1.500 Euro im Jahr übersteigen, sollen die Versicherten für jeden weiteren Arztbesuch 10 Euro zahlen, bei einem Krankenhausaufenthalt 15 Prozent der Kosten selbst tragen. Die Aufwendungen für Kliniken und staatliche Versicherungen sollen um zwei Milliarden Euro zusammengestrichen werden. In der Verwaltung sollen 1,5 Milliarden Euro zusätzlich einge-spart werden. Städte und Gemeinden erhalten eine Milliarde Euro weniger. Die Ausgaben für die Bildung sollen um 500 Millionen Euro sinken. Die Grundrenten werden eingefroren. Die zusätzlichen Altersversorgungssysteme werden angepasst und ebenfalls eingefroren. Alle Renten von 1.000 Euro aufwärts werden um 5 bis 15 Prozent gesenkt. Das Weihnachtsgeld für Rentner wird abge-schafft. Nach Gewerkschaftsangaben werden die Rentner dadurch im Durchschnitt 2.000 Euro im Jahr verlieren. Das Rentenalter wird für alle von 65 Jahre auf 67 Jahre angehoben. Familien, die mehr als 18.000 Euro im Jahr verdienen, haben keinen Anspruch auf Kindergeld mehr. 232 • Jeder Arbeitslose bekommt ein Jahr lang eine Unterstützung von rund 470 Euro - unabhängig vom vorherigen Einkommen. Danach bekommen sie nichts mehr. Fakt ist: Der griechische Staat ist immer noch gigantisch aufgebläht. Auch deshalb holt er die Gelder von der Privatwirtschaft und seinen Bürgern. Die Folge: Aufgrund des Rückgangs der Nachfrage in allen Wirtschaftsbereichen müssen Arbeitsplätze abgebaut werden. Griechenland braucht mindestens 20 bis 30 Jahre Zeit, um seine Ziele zu erreichen. Und das auch nur, wenn die Wirtschaft in den nächsten zwei Jahrzehnten pro Jahr um jeweils mehr als acht Prozent wachsen würde. Da Griechenland aber nicht China ist, wird sich der Staat sein Geld weiterhin von da holen, wo er kann: Von seinen Bürgern und von der EU. VI.0.3 Sündenfall Zypern – Die Zypern-Rettung kennt keine Gewinner Nach den langen Verhandlungen im März 2013 über eine Rettung der Mittelmeerinsel ist sowohl Präsident Nikos Anastasiades beschädigt, als auch die Euro-Zone. Zudem ist unklar, wie das Land seine Kredite je zurückzahlen will. Wahr ist: Das Schreckgespenst einer ungeordneten Staatspleite ist vertrieben. Zypern wird vor der Insolvenz mit Milliardenkrediten aus dem Rettungsschirm ESM gerettet, auch der Internationale Währungsfonds leistet einen Anteil. Zyperns Präsident Nikos Anastasiades, der bis zuletzt am zyprischen Geschäftsmodell festhalten und russische Großanleger schützen wollte, auch auf Kosten der Kleinsparer, musste einlenken. Erstmals beinhaltet ein Rettungspaket auch die Auflage, eine Bank – in diesem Fall die Laiki-Bank, das zweitgrößte Institut der Insel – abzuwickeln. Damit sendet Europa die 233 Botschaft: Aufgeblähte und nicht lebensfähige Banken in der Währungsunion werden nicht länger künstlich am Leben gehalten. Die Rechnung dafür, dass das Land im Euro-Raum verbleiben kann, zahlen zu einem großen Teil nicht die zyprischen Rentner, Beamten oder Lehrer, sondern Bankkunden mit einem Vermögen von mehr als 100.000 Euro. Sie sollen rund ein Drittel ihrer Bankeinlagen verlieren. Ist das gerecht? Es ist zumindest vernünftiger als viele andere Lösungen. Anders als Griechenland braucht Zypern die Hilfe aus Europa nicht, um Staatsschulden abzutragen, die sich über Jahre aufgebaut haben. Zypern benötigt Kredite, um seine Banken zu sanieren. Der Bedarf ist so groß, dass das Land das Geld wohl nie zurückzahlen kann. Die Bilanzsummen der zyprischen Banken übersteigen die Wirtschaftskraft des Landes bei Weitem. Deshalb wäre es falsch gewesen, dem Land wie Griechenland mit Garantien und Krediten zu helfen und die Banken unangetastet zu lassen. Deshalb ist es im Umkehrschluss auch richtig, den Banksektor zu verkleinern und die Kapitalseite zu beteiligen. VI.0.4 Ist die Zeit für Umverteilung reif? Ver.di-Chef Frank Bsirske verbündet sich mit den Globalisierungs-gegnern von Attac. Erklärtes gemeinsames Ziel: Bürger mit höherem Einkommen sollen mehr von ihrem Vermögen abgegeben. Er sagt: „Die Zeit ist reif für Umverteilung“. Jutta Sundermann von Attac fordert: „Wir brauchen endlich eine ehrliche Debatte über die Kosten der Krise und eines funktionierenden Sozialstaats auf der einen Seite … und die ungleiche Verteilung von Reichtum auf der anderen Seite“. Der Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider, warnt: Deutschland stehe vor einem Scheideweg. Das Sozialmodell 234 drohe angesichts massiver Kürzungen im Zuge der Schuldenbremse zu scheitern. Der SPD-Politiker Sigmar Gabriel stößt ins gleiche Horn: Zwar seien die Besserverdiener durch höhere Leistung wohlhabend geworden … sie würden aber auch von den vom Staat bereitgestellten Rahmen-bedingungen profitieren. Daher sei es nur gerecht, sie auch stärker zu schröpfen. Frankreichs sozialistischer Präsident Froncois Hollande will Ein-kommen über einer Million Euro mit 75 Prozent besteuern. Links-partei-Chefin Katja Kipping nennt Hollands Vorschlag „eine gute Basis“, … Spaniens neuer Ministerpräsident Mariano Rajoy erhöhte den Spitzen-steuersatz kürzlich von 45 auf 52 Prozent. Er gilt ab einem Jahres-einkommen von 175.000 Euro. Die Linkspartei macht die Reichensteuer zur Bedingung für eine Koalition mit der SPD, wenn es in diesem Jahr zu einem Regierungs-wechsel kommt. In Italien müssen Top-Verdiener ‚Solidaritäts-beitrag‘ leisten. bereits seit 2011 einen „Mehr Steuergerechtigkeit liegt im Trend“, sagt Stefan Bach, Steuer-experte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Dieses Institut regte die Einführung einer Reichensteuer überhaupt erst an. Die Grünen hatten schon Ende 2011 auf ihrem Bundesparteitag in Kiel beschlossen, den Spitzensteuersatz ab 80.000 Euro Einkommen von 42 auf 49 Prozent anzuheben. Außerdem sollen Millionäre zehn Jahre lang eine Vermögensabgabe von 1,5 Prozent bezahlen. Ist das alles oder kommt es ganz anders? 235 VI.1 Forderungen an Schuldenstaaten? Deutschland – Die Tyrannei der Deutschland gilt (derzeit) wirtschaftlich als das stärkste Land in Europa. Kanzlerin Merkel wird von unseren Nachbarn bewundert, manchmal gefürchtet, auf jeden Fall aber geachtet. Wenn es jedoch um die Durchsetzung deutscher Interessen geht, ist Deutschland in entscheidenden Fragen oft nicht stärker als der Zwergstaat Malta. Das europäische Prinzip ‚ein Land - ein Stimme‘ hat die Bundesbank bereits in eine hoffnungslose Minderheitenposition gebracht. Die umstrittenen Ankäufe von Anleihen überschuldeter Euro-Schuldenstaaten durch die Europäische Zentralbank werden gegen den erbitterten Willen von Bundesbank-Chef Jens Weidmann und wohl auch gegen den der deutschen Bevölkerung stattfinden. Wenn die Bankenaufseher also künftig entscheiden müssen, ob eine spanische Sparkasse gerettet oder eine Bank in Griechenland auch mit 27 Prozent deutschen Steuergeldern rekapitalisiert werden sollen, müssen sich die Deutschen der Mehrheit fügen. Darauf deuten jedenfalls die Pläne der EZB im Herbst 2012 für die europaweite Bankenaufsicht hin. Niemand hat so viel Geld, um alle diese Länder zu retten. Nicht einmal Deutschland als Hauptfinanzier des Euro-Dramas. Anteil Deutschlands an der Euro-Rettung (Stand Herbst 2012): • IWF-Anteil am Rettungsschirm: 15 Mrd. Euro • Bürgschaften für Hilfen aus dem EU-Haushalt (EFSM): 12 Mrd. Euro • Bürgschaften für EFSF: 253 Mrd. Euro • 1. Rettungspaket des IWF für Griechenland: 2 Mrd. Euro • 1. EU-Rettungspaket für Griechenland: 22 Mrd. Euro 236 • EZB-Staatsanleihenkäufe – DE: 94 Mrd. Euro (Haftungsanteil Deutschlands, wenn die Krisen-Länder einschließlich Italien als Garantiegeber ausfallen) • Target-Verbindlichkeiten der Krisenländer: 277 Mrd. Euro (Haftungsanteil Deutschlands, wenn die Krisen-Länder einschließlich Italien als Garantiegeber ausfallen) Wie gesagt, dass ist der momentane Stand im Herbst 2012. Um das Spiel am Leben zu halten, müssen die Spieler auch zukünftig noch viele Milliarden oder gar Billionen auf den Tisch legen – ein Spiel auf Zeit. VI.1.1 Bricht Europa zusammen? Außer Griechenland gibt es noch eine Vielzahl anderer Brandherde in Europa. Denn Griechenland ist erst der Anfang. Ich möchte diese punktuell aufzählen: Portugal: Notleidende Kredite steigen immer weiter; Banken verlieren Einlagen. Spanien: Auch hier ziehen immer mehr Sparer ihre Einlagen ab, ein neuer Immobiliencrash droht. Irland: Die Bilanzsumme der Banken am Bruttoinlandsprodukt (BIP) beträgt gefährliche 586 Prozent. Frankreich: Der gigantische Bankensektor mit Bilanzsumme am BIP gefährdet den Staatshaushalt. 304 Prozent Belgien: Die Rettung der größten heimischen Bank (Dexia) gefährdet den gesamten Staatshaushalt. Niederlande: Auch hier wird die Großbank ING zu einer immer größeren Bedrohung. 237 Österreich: Immer größere Positionen an notleidenden Krediten aus Osteuropa werden langsam zum Problem. Italien: Auch hier steigen die notleidenden Kredite und gefährden den gesamten Bankensektor. Griechenland: Sparer fliehen in Massen, der Anteil heimischer Staatsanleihen am Haftungskapital der Banken beträgt unglaubliche 180 Prozent. VI.1.2 Griechenland – wieder einmal ‚gerettet‘ Im Herbst 2012 ist Griechenland wieder in aller Munde. Mit einem neuen Rettungsplan soll das schon lange bankrotte Land noch am Leben erhalten werden. Offiziell handelt es sich zwar um drittes Hilfsprogramm, aber damit sollen nur Sie als Steuerzahler einmal mehr hinters Licht geführt werden. Und so sieht das ‚Nicht-Hilfsprogramm‘ aus: • Griechenland darf sich jetzt zwei Jahre länger, bis 2016 Zeit lassen, um die vereinbarten Sparauflagen der internationalen Geldgeber zu erreichen. Kostenpunkt: 32 Milliarden Euro. • Bis 2020 soll nun ein Schuldenstand von 124 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht werden. • Anleihen-Rückkauf-Trick: Athen soll seine Staatsanleihen von privaten Investoren zurückkaufen. Beispiel: Eine Anleihe über 200 Euro könnte für 50 Euro zurückgekauft werden. So kann die griechische Regierung durch den Einsatz von nur 50 Euro Schulden im Wert von 200 Euro tilgen. • Die Zinsen aus den bisherigen Hilfsprogrammen werden gesenkt. 238 • Die Kreditlaufzeiten werden verlängert. • Zinszahlungen werden gestundet. • Gewinne aus griechischen Staatsanleihen sollen an Athen weitergegeben werden. So die Fakten – doch was steckt hinter den Fakten? VI.1.3 Ein Spiel mit vielen Unbekannten – Der äußere Druck auf Deutschland Es war also mal wieder Finanzministertreffen (Brüssel, 26.11.2012). Sogar schon das zweite binnen weniger Tage, zum selben Thema. Griechenland braucht dringend Geld. Das ist allen Beteiligten von vornherein klar gewesen. Griechenland wird dieses Geld auch bekommen. Darauf haben sich alle Beteiligten von vornherein festgelegt. Im politischen Bekenntnis zu Griechenlands Zugehörigkeit zur Euro-Zone haben die Staats- und Regierungschefs Europas im Grunde das Ergebnis all dieser Verhandlungsrunden längst vorweg genommen. Trotzdem wurde wieder ewig diskutiert und um Details geschachert. Dabei wurde diesmal vor allem Deutschland in die Mangel genommen. Denn der Internationale Währungsfonds plädiert für einen Schulden-schnitt seitens der öffentlichen Gläubiger, um Griechenlands Schuldenlast zu reduzieren. Merkels Regierung in Berlin ist strikt dagegen, begründet das mit rechtlichen Vorbehalten – und hat sich diesmal durchgesetzt. Anstatt eine umfassende, längerfristige Lösung zu präsentieren, verliert sich das Ergebnis des neuerlichen Sitzungsmarathons wieder mal im 239 Kleinklein der nationalen Wünsch-dir-was-Listen. Ja, man will Griechenland entlasten. Immerhin darin ist man sich einig. Wie das genau funktionieren und vor allem: woher das Geld dafür kommen soll? Das wird dann beim nächsten Mal besprochen. Nun sind erst einmal wieder die Parlamente gefragt, die das nächste Hilfspaket abnicken sollen. Das werden sie wohl auch tun, der Weg ist bereits zu weit beschritten, als dass an diesem Punkt noch eine Umkehr sinnvoll wäre. Am 13. Dezember 2012 soll dann der erste Teil der Milliardentranche ausgezahlt werden. Und dann ist Griechenland selbst am Zug. Die Reformen, auf die man sich mit der Troika aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und Europäischer Union geeinigt hat, müssen umgesetzt werden – vorher wird die EFSF ihren Rettungsanteil nicht auszahlen. Wenn die Griechen es nicht schaffen, alle Reformen umzusetzen oder alle vereinbarten Sparziele zu erreichen? Dann wird wohl weiter debattiert, bis man sich irgendwann wieder auf eine Formel verständigt, die eine weitere finanzielle Unterstützung ermöglicht. Denn Griechenland fallen zu lassen, diese Option steht aktuell nicht zur Debatte. Stattdessen hat sich der Internationale Währungsfonds beim jüngsten Kompromiss bewegt und akzeptiert nun im Jahr 2020 auch einen Schuldenstand von 124 Prozent. Angepeilt war bislang eine Reduzierung auf 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis zu diesem Zeitpunkt. Nun ist das mit den Prognosen so eine Sache. Kein Meteorologe kann seriös vorhersagen, ob es in drei Wochen am Sonntag regnen wird oder nicht. Ebenso kann niemand seriös vorhersagen, wie genau sich die globale Konjunktur oder die europäische Wirtschaftsleistung in fünf oder zehn Jahren entwickeln wird. 240 Zu viele Unbekannte können das filigrane Gebilde der Berechnungen zum Kippen bringen. Alle jetzigen Beschlüsse wären dann das Papier nicht mehr wert, auf dem sie geschrieben stehen. Dass die Planungen zum Teil bis 2040 reichen sollen, erscheint geradezu aberwitzig. Das wäre ein Blick von 28 Jahren in die Zukunft. Denken Sie einmal 28 Jahre zurück – hätten Sie es 1984 für möglich gehalten, dass die DDR aufhört zu existieren, der Ostblock kollabiert, das World Trade Center zum Einsturz gebracht und es in Europa ein gemeinsames Zahlungsmittel geben wird, bei dessen Einführung derartig geschludert würde, dass nun der Deutsche Steuerhaushalt den griechischen Staat finanzieren muss? Eben. Mit derartigen Prognosen sollte man möglichst vorsichtig sein. So gesehen ist es vielleicht nur konsequent, bei der Euro-Rettung den berüchtigten „Weg der kleinen Schritte“ fortzusetzen, für den sich Angela Merkel einst entschieden hat. Ob damit allerdings langfristig den Griechen oder der Euro-Zone effektiv geholfen sein wird, müssen Historiker bewerten. Vielleicht schon im Rückblick aus dem Jahr 2040. VI.1.4 Der Druck der Amerikaner Der Kurs der zweiten Regierung Obama wird sich nur wenig ändern. Für Deutschland heißt das vor allem: Der Druck wird bleiben, viel-leicht sogar noch zunehmen. Nach wie vor lautet die amerikanische Hauptforderung in Richtung Europa – und damit vor allem an Deutschland: Tut mehr gegen die Eurokrise! Die Eurostaaten sollen endlich zu Gemeinschaftsschulden übergehen und die Staatsanleihen kränkelnder Partnerstaaten durch die EZB aufkaufen lassen. Sie sollen die Staatsverschuldung zwar nicht nominal, aber real durch Inflation verringern. Und vor allem sollen 241 insbesondere die Deutschen auf ihre Exporterfolge verzichten, die ganz besonders zum Handelsbilanzdefizit der USA mit Europa beitrügen. Der Rest des Fehlbetrages liege an der Krise in der EU, denn durch die schwächelnde Konjunktur auf dem alten Kontinent könnten US-Firmen hier weniger verkaufen. Kurz: Europa und Deutschland sollen also all die Schwächen und falschen Rezepte der USA übernehmen. Wobei zuzugeben ist: Diese Fehler hat sich Obama nicht selbst ausgedacht, er hat sie geerbt von demokratischen wie republikanischen Vorgängern. Er führt sie freilich fort als Präsident im Land der unbegrenzten Staatsverschuldung. VI.1.5 Die Eurokritiker – der innere Druck auf Euro-Befürworter: Die 10 größten Euro-Lügen die Die EZB senkt den Leitzins auf ein historisch niedriges Niveau. Arbeitslosigkeit und Verschuldung in der EU steigen und der Sparkurs wird wegen der Rezession gelockert. Ist der Euro gut für Europa? Könnte etwas dran sein, das gerade Deutschland vom Euro profitiert? Kommt die Eurokrise nur daher, dass die Südländer angeblich nicht wirtschaften können? Was durften wir vom Euro erwarten? Wie sieht es heute, fast 13 Jahre nach Ein-führung der Gemeinschaftswährung in unserem guten, alten Kontinent aus? An dieser Stelle gebe ich den Kritikern das Wort. Es müssen ja nicht gleich die ‚blühenden Landschaften‘ sein, wie sie uns Helmut Kohl in unnachahmlicher Bräsigkeit nach der Wieder-vereinigung versprochen hatte. Wir sind ja bescheiden: Es würde ja durchaus genügen, wenn es Frieden und Freundschaft zwischen den Ländern gäbe, wie vor der Euro-Einführung. Wenn die Völker in freier Selbstbestimmung, demokratisch gemeinsam das Schicksal Europas bestimmen könnten. Wenn die Europäer in stabilen Wirtschaften den Menschen Arbeitsplätze, Lohn und Brot und 242 nachhaltig steigende Lebensqualität bieten würden. Wenn der Handel untereinander gewinnbringend für alle Seiten wäre. Wir brauchen erst gar nicht anzufangen die vollständige Liste des Elends aufzuzählen, das sich in Europa seit der Einführung des Euro ausbreitet. Nur so viel: Die Wirtschaft in Europas Krisenländern kommt nicht in Schwung. Überall branden Unruhen aus Wut und Not auf. Die Arbeitslosigkeit in der EU erklimmt im Frühjahr 2013 gerade wieder Rekordstände. Fast 27 Millionen Menschen sind ohne Arbeit. Gefährlicher Sprengstoff, wie die Arbeitsmarktexperten der UNO meinen, sie sehen soziale Unruhen in großem Umfang kommen. Die tatsächliche Inflation, die zunehmend undemokratische Administration in Brüssel und den Mitgliedsländern und die fallenden Löhne tun ein Übriges. Reformen greifen nicht. Sparpakete verpuffen. Hilfskredite nützen nichts. Da kann die EZB ihre Zinsen senken wie sie will. Immer mehr Staaten schweben über dem Abgrund des Bankrotts. Die Politiker in Brüssel und den Hauptstädten fuhrwerken nur noch im Panikmodus mit verfassungswidrigen, rechtswidrigen, undemo-kratischen Diktaten plan- und erfolglos herum. Was hat man Ihnen nicht alles über die ‚Vorteile‘ des Euro erzählt? Beleuchten wir jetzt ein paar dieser Versprechungen: Argument: Mit dem Euro steigen unsere Exporte Die Antwort: Das ist falsch! Begründung: • Von 1988 bis 1998 betrug der Warenaustausch zwischen den (späteren) Euro-Ländern 12% des gemeinsamen Brutto-inlandsproduktes (BIP). 2009 war er zwar auf mehr als 15% angestiegen. das aber hatte andere Gründe. Denn die Zölle innerhalb der EU fielen weg. • Zudem stellte das Target-System in der EU sich als unlimitierter Dispokredit für die Krisenländer heraus. Ja, es 243 wurde kräftig exportiert, nur leider nicht entsprechend bezahlt. Die Bundesbank (also letztlich die Steuerzahler) finanziert die Konsumfreude der Europäer mit einer dreiviertel Billion Euro. Mit dieser Summe stehen die anderen EU-Staaten nämlich in der Kreide der Bundesbank. • Deutschland war noch nie der große Hersteller von Billig-waren. Die deutschen Hersteller haben auch zu DM-Zeiten mit Qualitätsprodukten auf dem Weltmarkt gepunktet. Das zwang die Wirtschaft, dazu, stets innovativ zu sein, die Her-stellungsprozesse zu optimieren, Qualität statt Quantität zu produzieren und sehr genau den Markt zu beobachten, welche Produkte wirklich gefragt sind. Nicht ohne Grund lag Deutschland in Sachen Erfindungen und Patente im Spitzen-segment. Die deutsche Wirtschaft hat die Herausforderung der immens starken D-Mark vorbildlich gemeistert. • Studien beweisen das sogar: Eine tatsächliche Aufwertung der Währung um 1% verringert die deutschen Exporte nur um 0,5%. Und auch das nur für eine Zeit, bis die Industrie das wieder durch Produktverbesserungen und Innovationen wett-macht. • Was nützt alle Exportfähigkeit, wenn sich die Käufer im Ausland die Waren nicht leisten können? Die bekanntermaßen verzweifelte Lage des gesamten Südraumes der EU wirkt sich sehr nachteilig auf die deutsche Handelsbilanz aus. Hier zeigen Untersuchungen, dass die deutschen Exporte um 2% ansteigen, wenn sich das BIP des jeweiligen ‚Käuferlandes‘ um 1% erhöht. Die deutschen Exporte legen also doppelt so viel zu wie die Wirtschaftskraft es Handelspartners. Und umgekehrt. • Aber unsere EU-Handelspartner leiden fast alle unter einer Rezession. Daher ist der Anteil der deutschen Exporte in die 244 anderen Länder der Euro-Zone seit der Einführung des Euro von 46% auf 40% aller Exporte gefallen. Damit wäre die Mär vom nahrhaften und gesunden Euro als Kraftfutter für die heilige Kuh ‚deutscher Export‘ widerlegt. Um es klipp und klar und politisch völlig unkorrekt zu sagen: Der Euro ist für Deutschlands Exportwirtschaft von Nachteil. „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ - das ist Frau Merkels Credo. Oder anders ausgedrückt: Scheitert der Euro, scheitert der Frieden in Europa. Die gebetsmühlenartig vorgetragene Versprechung, Deutsch-land sei wesentlich besser und sicherer in einem unter dem Euro geeinten Europa und nur so könne man sicher sein, dass nie wieder Krieg in Europa ausbricht, ist eine Illusion. Das Friedensprojekt EU ist fehlgeschlagen. Überall keimt Aversion und Ablehnung bis hin zum Hass – gerade gegen Deutschland! Was für ein schöner Gedanke: Europa, ein einig Volk von Brüdern. Nie wieder Krieg, alle genießen voller Freude und Freundschaft das Leben in einem prosperierenden Kontinent. Danach sehnen wir uns doch alle. Doch das Versprechen, der Euro würde dafür sorgen, dass ein kunterbunter Haufen von Sprachen, Mentalitäten, Lebensphilosophien und völlig unterschiedlichen Volkswirtschaften harmonisch zusam-menwächst, ist nicht wirklich wahr geworden: • Gerade das Drama um Zypern zeigt, wie sehr sich der Euro zu einem gefährlichen und giftigen Spaltpilz in Europa entwickelt. Dadurch, dass Deutschland immer wieder die größten Rettungssummen bereitstellen oder garantieren muss, tritt es als Gläubiger auf. Merkel, Schäuble & Co müssen die Hilfspakete vor dem Parlament vertreten und sind daher gezwungen, sich mit den inneren Angelegenheiten des Bittstellers eingehend zu beschäftigen. 245 • Die deutschen Politiker Kauder, Trittin und Gabriel mischten sich zum großen Missfallen der Zyprioten in das zyprische Rentensystem ein. • Deutsche Politiker meinen, den Griechen, Zyprioten, Portugiesen und Spaniern vorschreiben zu können, wie ihre Unternehmen besteuert werden, wie viele Beamte entlassen werden müssen. • Deutschland will Italien bei der Regierungsbildung dreinreden, sich in die französischen Löhne einmischen, von den Griechen verlangen, sie sollen ihre Inseln verkaufen und den Spaniern vorschreiben, weniger Urlaub zu machen. • Das alles erzeugt Zorn und Empörung. Genau dasselbe würden Sie bei Ihren Freunden erleben, wenn Sie diesen überall Vorschriften machen wollen, weil Sie Ihnen Geld geliehen haben. Darum heißt es ja so schön „beim Geld hört die Freundschaft auf“. Diese simple und alte Weisheit ist bei den Politikern nicht angekommen. Wenn Integration und Konvergenz wirklich durch den Euro befördert würden, dann müssten sich wichtige Basisgrößen wie das Pro-Kopf-Einkommen, die Löhne, das Preisniveau und die Steuern zwischen den Mitgliedsstaaten immer weiter angenähert haben. Das Gegenteil ist aber der Fall! Die Lebensbedingungen gleichen sich daher nicht immer weiter untereinander an. Die soziale Gerechtigkeit innerhalb Europas ist nicht ausbalanciert. Stattdessen verarmen die Krisenländer bis zum flächendeckenden Hunger und versinken in Elend und Hoffnungs-losigkeit. Vom Ideal des integrierenden Euro und der daraus sich entwickelnden Konvergenz der Euroländer zu 100% ist die tatsächliche Entwicklung auf nur noch 40% Konvergenz eingebrochen. Bei Einführung des Euro lag sie bei 80%. Ein blamables Ergebnis. 246 Die Konvergenzkriterien, die die EU selbst als Maßstab angesetzt hat, werden immer weniger erfüllt. Die Preisstabilität kann nur noch durch massives Frisieren der veröffentlichten Inflationsraten vorgegaukelt werden. Die Teuerungen laufen in den Mitgliedsländern weit aus-einander. Die vorgeschriebene Höchstgrenze für das Haushaltsdefizit liegt für alle Mitgliedstaaten bei 3%. Nicht nur, dass fast kein Mitgliedsland das einhalten kann, die Schlusslichter in der EU liegen weit darüber. Die Zinsen (ebenfalls ein Konvergenzkriterium) für Staatsanleihen sind so verschieden, dass die Refinanzierung auf dem freien Markt für die Schuldenländer wegen exorbitanter Zinsen so gut wie unmöglich geworden ist. Von einem homogenen Wirtschaftsraum ist Europa weiter entfernt als vor Einführung des Euro. Allein das illustriert, warum der Euro nicht überleben wird. Die ständige Instrumentalisierung der EZB als Aufkäufer der Staatsanleihen von Bankrottstaaten führt eindringlich vor Augen, wie unterschiedlich die wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedstaaten unter der gemeinsamen Währung Euro verläuft. Auch die große, mächtige EZB ist damit schon an den Rand der Belastbarkeit gegangen. Sie kann das Achterbahn fahrende Zinsniveau in der Eurozone nicht länger abfangen, ohne selbst Bankrott zu gehen. Daher drängen die schwächeren Mitgliedsländer auf Eurobonds, um durch gemeinschaftliche Anleihen so etwas wie eine Konvergenz bei den Zinsen zu erzwingen. Damit werden die defizitären Länder aber geradezu aufgefordert, weiter auf zuschulden. Die gesunden Länder werden daran ausbluten, für die schwachen gesamtschuldnerisch einzustehen. Fazit: Der Euro hat nicht nur kein integriertes Europa geschaffen, sondern die wirtschaftlichen Ungleichgewichte noch potenziert. Die Euro-Kritiker weisen zudem auf das ‚Lügen-Konstrukt‘ der Euro-Rettungspolitiker hin. Die 10 größten Euro-Lügen 247 Die Euro-Rettungspolitiker haben seit dem Ausbruch der Schuldenkrise stets versucht, die Bürger zu beruhigen. Viele Prophezeiungen lassen sich heute als dreiste Lügen enttarnen „Wir werden jeden Cent zurückzahlen. Deutschland bekommt sein Geld zurück und zwar mit hohen Zinsen“ Griechenlands Ex-Regierungschef Giorgios Papandreou betonte im März 2011, dass sein Land nicht dauerhaft alimentiert werden braucht. Bei den Rettungspaketen handele es sich lediglich um Kredite, die das Land mit hohen Zinsen zurückzahlen werde. Doch: Wenige Monate später brauchte Griechenland einen Schuldenschnitt. Der betraf zwar zunächst nur private Gläubiger. Allerdings: Mehrere Milliarden musste mit dem Schuldenschnitt auch die deutsche Hypo Real Estate abschreiben, die Griechenland-Anleihen im Wert von rund acht Milliarden Euro besaß. Durch die Verstaatlichung der Bank im Jahr 2009 trägt diese Lasten der deutsche Steuerzahler. „Wenn Griechenland pleitegehen würde, wäre das schlimmer als Hypo Real Estate und Lehman Brothers zusammen“ Wolfgang Schäuble warnte bei einem Treffen der Unionsfraktion vor den unkontrollierbare Folgen einer Griechenland-Pleite. Doch nach dem Schuldenschnitt für Athen blieben die Horror-Szenarien aus. Ansteckungseffekte auf Portugal oder Spanien gab es nicht. „Ich bin fest davon überzeugt, dass Griechenland diese Hilfe nie wird in Anspruch nehmen müssen, weil das griechische Konsolidierungsprogramm in höchstem Maße glaubwürdig ist“ Der Chef der Eurogruppe Jean-Claude Juncker war sich noch im März 2010 sicher, dass Griechenland die Wende schaffen würde und nannte die Sparvorhaben der griechischen Regierung „in höchstem Maße glaubwürdig“. Schon längst mussten die europäischen Geldgeber feststellen, dass die Politiker in Athen ihren Worten nur sehr spärlich Taten haben folgen lassen. Der Internationale Währungsfonds droht bereits, seine Hilfen einzustellen, wenn Griechenland nicht endlich seine Konsolidierungsversprechen einlöst. „Die Rettungsschirme laufen aus. Das haben wir klar vereinbart“ Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble versicherte in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Juli 2010, dass die Rettungsschirme nicht von 248 Dauer sein werden. Inzwischen ist klar: Der Euro-Rettungsschirm EFSF wird zwar abgelöst, aber ersetzt durch den permanenten Rettungsschirm ESM. „Wir können Zinsen nicht sozusagen künstlich herunter rechnen“ Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte diesen Satz im März 2011. Dabei versuchte die EZB mit ihren Anleihekäufen seit 2010, die Märkte auszutricksen. Durch den Kauf von Schuldpapieren in Milliardenhöhe versucht die Zentralbank, die Renditen für die Euro-Pleitekandidaten zu drücken. Kritiker sprechen von einer direkten Staats-finanzierung, die der Notenbank verboten ist. „Spanien wird sein Defizit-Ziel von 4,4 Prozent erreichen“ Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy beteuerte noch im Januar 2012, dass Spanien die Maastricht-Kriterien nur um 1,4 Prozent reißen wird. Schon damals hielten Ökonomen dieses Ziel für unrealistisch. Heute wissen wir: Spanien wird dieses Jahr nach Schätzungen der EU-Kommission ein Haushaltsdefizit von mindestens 6,4 Prozent aufweisen. Im Juli musste das Land bereits Finanzhilfen für seinen maroden Bankensektor anfordern. „Italien ist kein Risikoland“ EZB-Chef Mario Draghi erklärte am 15. Februar 2011, dass sein Heimatland stabil ist. Darstellungen, Italien sei ein Euro-Sorgenkind, seien falsch. Inzwischen ist der Zinsdruck auf Italien so hoch, dass der Notenbank-Präsident mit Anleihekäufen seinem Landsmann, Ministerpräsident Mario Monti, zur Seite springen muss. „Die Vorstellung, dass wir in Europa ein Liquiditätsproblem haben, ist komplett falsch“ Im August 2011 malte der Draghi-Vorgänger, Ex-EZB-Chef Jean-Claude Trichet, die Lage schön. Denn wahr ist: Sowohl auf staatlicher Seite, als auch im Bankensektor fehlt es vielerorts an liquiden Mitteln. „Deutschland kann sein Veto einlegen, wenn die Voraussetzungen für Hilfen nicht gegeben sind – und davon werde ich Gebrauch machen“ Bundeskanzlerin Angela Merkel beschrieb im März 2011 die „strikten Auflagen“ unter denen ein Euro-Sorgenland Geld von den europäischen Partnern bekommen kann. Die Realität ist eine andere. Griechenland hat die Auflagen aus dem ersten 249 Rettungspaket nicht erfüllt, wie die Troika festgestellt hat. Trotzdem bekam Griechenland per zweitem Rettungspaket neue Milliardenkredite. „Dieses Geld wird eine große Zukunft haben“ Helmut Kohl, Bundeskanzler von 1982 bis 1998, prophezeite der Gemeinschaftswährung in seiner Rede zur Einführung des Euro 2001 eine rosige Zukunft. Die kann noch kommen, keine Frage. Aktuell gilt aber eher, dass der Euro die Ressentiments gegenüber Brüssel und den europäischen Nachbarn verstärkt haben. Gegenüber dem Dollar hat der Euro in den vergangenen Jahren an Wert verloren, die Währungen der Nicht-Euro-Länder (Schweiz, Schweden) haben massiv aufgewertet. Die Fakten: Die deutschen Regierungen haben seitdem u.a. • • • • • mehrfach die Maastricht-Kriterien und damit den EU-Vertrag gebrochen mehrere Griechenland-Rettungspakete gebilligt dem EFSM zugestimmt dem ESM zugestimmt etc. Gibt es in diesem Land auch nur einen einzigen Bürger, der Be-kundungen glaubt, dass nun nicht auch noch kommen werden • • • die uneingeschränkte Transferunion die Bankenunion wer weiß noch was alles Stimmen also solche Bürger-Stimmen wie • • „Der Bürger mag sich noch so aufregen über all die Ver-tragsbrüche, über all die Inkompetenz, die Lügerei, das Geschachere um den eigenen Vorteil der einzelnen ‚solidarischen‘ Mitgliedsländer. Ich bin davon überzeugt, dass 99,9% der Bürger und Bürger-vertreter noch nicht annähernd die Dimension erfassen, 250 • • • mit der wir mittlerweile mit unserem Volksvermögen bürgen bzw. welche Teile davon bereits unrettbar verloren sind. Wer sich daran erinnert, wie viele Monate man sich um 1 Mrd. Euro Kinderbetreuungsgeld streiten konnte, aber nun beobachten kann, wie mal eben wieder ein 44 Mrd. EUR-Rettungspaket innerhalb von 2 Tagen abgenickt und durch gewunken wird (da „alternativlos“), kann aber erkennen, dass nur mehr die blanke Panik herrscht und das Volksvermögen mittlerweile beliebig in die Südperipherie gepumpt wird. Mit diesem Geld könnte man hierzulande Universitäten bauen, die Infrastruktur verbessern, eine Privatnanny für jeden Bundesbürger finanzieren statt Krippenplätze und so vieles mehr. Es klingt unplausibel, wenn die Politkaste meint, dass unser Geld in der EU-Südperipherie uns einen größeren Vorteil bringt, als wenn wir dies in sinnvolle Investitionen hierzulande ausgäben. Die Volksverräter versündigen sich an unserem Land in beispielsloser Art und Weise. B.R.-Kommentar: Nun, haben uns die Herrschaften wirklich belogen, also bewusst in jener konkreten Situation die Unwahrheit gesagt? Sicherlich haben mit ihren Äußerungen den Versuch unternommen, die Akteure der wild gewordenen ‚Märkte‘ zu beruhigen. Das ist auf Zeit gelungen, manchmal nur Wochen, Tage oder Stunden. Aber haben sie bewusst den Souverän, den Bürger hinters Licht geführt? Ich glaube nicht. Ich sehe hinter vielen Äußerungen eher einige gewisse Ohnmacht, ein gewisses Dahinwursteln, ein „Steuern auf Sicht“ wie sich Merkel ausdrückt. Fakt ist, dass Deutschland bis zum Herbst 2012 Krisengewinnler ist. So haben wir in den letzten drei Jahren aufgrund der niedrigen Zinsen für unsere Staatsanleihen 61,4 Milliarden Euro gespart. Noch … Doch in dieser Zeit haben wir viele Versprechungen (Bürgschaften) für die Zukunftsbewältigung anderer Staaten und Banken gemacht. Auf jeden Fall wird es zukünftig teuer (erstmals in Haushaltsjahr 2013 mit 740 251 Millionen Euro), egal ob Radikalansätze oder Trippelschritte zu einer Krisenbewältigung führen. Wir werden die Folgen der Ursachen der Schuldenkrise und deren Bewältigungsschritte alle spüren. Es wird eine neue Herausforderung für uns alle bedeuten. VI.1.6 Der Steuerzahler, ein tragischer Held Der deutsche Steuerzahler ist der wahre Held des Jahres 2012. Er ist keineswegs ein Wutbürger, er ist notgedrungen die Stütze unseres Staates. Er leidet, fast ohne zu klagen - und zahlt dem Fiskus so viel wie nie zuvor. Anfang Januar 2013 wird Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble verkünden, Deutschland habe einen ausgeglichenen Staatshaushalt. Doch der Dank dafür gebührt nicht dem Finanzminister, sondern seinem Gegenüber: dem deutschen Steuerzahler. Es ist seine Hand, die gibt. Es ist sein Fleiß, der ihn dazu in die Lage versetzt. Der deutsche Steuerzahler ist von allen Helden unseres Landes der stillste. Er flucht nur ganz leise vor sich hin, um dann sein Portemonnaie weit zu öffnen. Im ablaufenden Jahr überwies er rund 600 Milliarden Euro an den Fiskus - so viel Geld wie noch nie zuvor. Damit ist das deutsche Steueraufkommen größer als die gesamte Wirtschaftsleistung des Ölförderlands Saudi-Arabien oder fast zehn-mal so groß wie die Gewinne aller Dax-30-Konzerne zusammen. Pro Kopf zahlt jeder Deutsche im Schnitt fast 7.500 Euro pro Jahr beziehungsweise 20 Euro pro Tag an das Finanzamt, egal ob Baby oder Greis, Manager oder Arbeitsloser. Eigentlich müsste der Steuerzahlerbund nicht einen, sondern 365 Tage zum ‚Tag des Steuerzahlers‘ erklären. 252 Schon die Demut der Interessenvertretung zeigt, dass wir es beim Steuerzahler mit einem Geber-Wesen zu tun haben. Dieses Wesen ist geduldig wie ein Schaf, fleißig wie eine Biene und mit der ausdauernden Zähigkeit einer Galapagos-Schildkröte ausgestattet. Niemand kann es am Geben hindern. Wer versucht hat, es aufzuwiegeln, wie Friedrich Merz und Paul Kirchhof, findet Gehör, aber keine Unterstützung. Die Bundesregierung hat in einem Lebend-Experiment den deutschen Steuerzahler auf seine Leidensfähigkeit hin getestet. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Er ist in seiner stoischen Geberbereitschaft durch keine noch so dreiste Steuerneukreation zu erschüttern. Er zahlt die Alkopopsteuer genauso selbstredend wie die Zweitwohnungsteuer, er akzeptiert die Flugticketsteuer und bald auch noch eine Finanz-transaktionssteuer. Die SPD in der ihr eigenen Keckheit will das Experiment im Wahlkampf auf die Spitze treiben und ruft zur Erhöhung von Erbschaft- und Einkommensteuer und zur Wieder-einführung der Vermögensteuer auf. So überweisen die Arbeitgeber die Lohnsteuer, die Händler die Um-satzsteuer und die Banken die Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge. Das führt dazu, dass niemand am Jahresende genau weiß, wie viel Steuern er insgesamt tatsächlich gezahlt hat - tatsächlich sind es für eine vierköpfige Familie im Schnitt fast 30 000 Euro. Nun könnte der brave Steuerzahler ja zum Steuerflüchtling werden. Der Weg ist so offen wie illegal. Und nicht wenige Prominente haben ihn beschritten. Doch die Mehrheit der Steuerzahler lehnt diese Form der Selbstbefreiung ab. Die Flucht in die Schweiz ist ihnen unredlich oder vielleicht auch nur zu riskant. Einerseits macht der Staat sich zum Steuer-Daten-Hehler, um Steuer-Widerstandskämpfer aufzuspüren, andererseits verlangt der Bundes-gerichtshof mittlerweile Haftstrafen bei Steuerhinterziehung in größerem Stil. Das schreckt ab und auf, und beides hilft, die Steuermoral zu stärken. 253 VI.1.7 In der Zinsfalle - Die Sparer verlieren Die Notenbanken drücken die Zinsen (offiziell) Richtung null Prozent. Sie begründen ihre Zinspolitik mit der schwachen Konjunktur. Das Argument zieht aber nicht in allen Ländern. Ein anderer Punkt wird gerne verschwiegen: Die Zinsen sind so niedrig, weil so zumindest ein wenig die staatliche Schuldenlast gedämpft werden kann. Wichtig ist natürlich die Schuldenlage der einzelnen Staaten (so zahlen die EU-Mitglieder Spanien und Italien am Kapitalmarkt deutlich höhere Zinsen als das EU-Mitglied Deutschland, obwohl der Leitzins jeweils identisch ist), aber ein allgemein niedriges Zinsniveau hilft dabei, die Zins-Renditen nach unten zu drücken. So muss Deutschland bei neuen Staatsanleihen erst bei sehr langen Laufzeiten Renditen von über 1% bieten. Der Finanzminister freut sich. Aber das Spiel kennt natürlich auch Verlierer. Die Sparer und Versicherungen, die auf attraktive Zinsen bauen, werden mit Mini-Zinsen abgespeist, die unterhalb der Inflationsrate liegen. Das bedeutet im Klartext: Wer spart, der verliert (an Kaufkraft). Die Weltbank, die Dekabank und das Institut der deutschen Wirtschaft haben ermittelt, dass die Sparer und die Besitzer von Geldvermögen aufgrund der zu niedrigen Zinsen pro Jahr weltweit über 100 Milliarden Euro verlieren. In 23 Ländern liegt derzeit das Zinsniveau unter der Inflationsrate. Die Inflation frisst dann langsam das Geldvermögen auf. Das trifft nicht nur die Reichen. Auch Kleinsparer sind betroffen. Die Dekabank schätzt, dass Besitzer von Tagesgeld, Girokonten und anderen Sparformen in Deutschland pro Jahr rund 14,3 Milliarden Euro verlieren. Das allgemeine Zinsniveau sinkt im Trend seit über 30 Jahren. Es ist kein Zufall, dass vor rund 40 Jahren mit dem Ende des Goldstandards 254 die meisten Schuldenorgien der Staaten begonnen haben. Die jüngste Schuldenkrise ist nur eine Tempoverschärfung. Der Anstieg der Staatsverschuldung und das Absinken des Zinsniveaus sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Daraus lässt sich ableiten: Da eine Lösung der Schuldenkrise nicht in Sicht ist, wird auch das Zins-Niveau relativ niedrig bleiben. Natürlich wird es irgendwann auch wieder Zins-Erhöhungen geben, aber diese werden nicht so groß ausfallen wie früher. Sparer und Besitzer von Geldvermögen bleiben daher in der Zinsfalle gefangen. VI.2 Die Euro-Rettungsschirme Meldung vom 1.Dezember 2012: Der Euro-Rettungsschirm büßt sein Spitzenrating ein. Die Rating-Agentur Moody's senkte die Bonitäts-noten von ESM und EFSF von ‚AAA‘ um eine Stufe auf ‚AA1‘. Der Ausblick für beide bleibt negativ. Das heißt, die Agentur könnte den Rettungsschirm weiter absenken. Die Abstufung sei unter anderem eine Folge der schlechteren Bonität des Euro-Landes Frankreich, hieß es von Moody's. Moody's hatte Frankreich vor einer guten Woche ebenfalls von ‚AAA‘ auf ‚AA1‘ abgestuft. Das hatte die Rating-Agentur damit begründet, dass sich Frankreichs langfristige wirtschaftliche Wachstumsaussichten eingetrübt hätten. Frankreich ist nach Deutschland die wichtigste Stütze des ESM. Der Anteil der Franzosen liegt bei 20,3 Prozent. Deutschland steht hinter 27,1 Prozent der insgesamt 700 Milliarden Euro an Kapital und Garantien. Die Bundesrepublik besitzt bei allen drei großen Rating-Agenturen weiterhin ein Triple-A, bei Moody's allerdings mit einem negativen Ausblick. Ein schlechteres Rating kann grundsätzlich die Aufnahme von frischem Geld verteuern und erschweren. Allerdings ist eine Note von AA1 zum einen immer noch sehr gut. Zum anderen ist Moody's nur 255 eine der großen Rating-Agenturen. Beim Konkurrenten Fitch besitzt der Rettungsschirm weiterhin die Bewertung Triple-A. Die Entscheidung von Moody's sei "schwierig zu verstehen", sagte ESM-Chef Klaus Regling. Sie berücksichtige nicht im nötigen Ausmaß das starke institutionelle Rahmenwerk, die politische Verpflichtung und die Kapitalstruktur des ESM. Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker stellte sich stellvertretend für die 17 Euroländer hinter ESM und EFSF – „politisch und finanziell“. Wird seitens der europäischen Politiker dem Bürger gegenüber Opti-mismus vorgegaukelt? VI.2.1 EFSF Die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (kurz EFSF, Englisch: European Financial Stability Facility) ist ein EU-Krisenfonds, der verschuldeten Euro-Staaten mit günstigen Krediten sowie durch Ankauf und Absicherung von Staatsanleihen bei der Finanzierung hilft. Im Gegenzug müssen sich die betroffenen Länder zu Sparmaßnahmen und Reformen verpflichten. Umgangssprachlich wird der Fonds auch als Rettungsschirm bezeichnet. Zusammen mit dem reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt gehört er zu den wichtigsten Instrumenten, mit denen die Europäische Union die Staats-schuldenkrise in Europa bekämpfen will. Die im Juni 2010 eingerichtete EFSF leiht sich das Geld für die Hilfsleistungen am internationalen Kapitalmarkt, indem sie selbst Anleihen ausgibt. Sie kann dabei bis zu 440 Milliarden Euro aufnehmen. Die 17 Euro-Staaten haften für diese EFSF-Schulden mit insgesamt 780 Milliarden Euro. Diese deutlich über den 440 Milliarden Euro Kreditvolumen liegende Garantiesumme ist notwendig, damit der Fonds für seine Anleihen die Bestnote AAA bei den Ratingagenturen bekommt und damit nur vergleichsweise niedrige Zinsen zahlen muss. Deutschlands Garantieanteil an den 780 Milliarden Euro liegt bei rund 211 Milliarden Euro. Die ersten 256 EFSF-Gelder zu günstigen Konditionen flossen an die Schuldenländer Irland und Portugal, die ansonsten keine oder nur sehr teure Kredite von internationalen Anlegern bekommen hätten. Seit Herbst 2011 hat der Rettungsfonds auf Beschluss der 17 Euro-Staaten über die Kreditgewährung hinaus weitere Kompetenzen: • Um die Wirkungskraft des Rettungsschirms zu erhöhen, werden zwei neue Instrumente eingeführt, mit denen das Finanzierungsvolumen der EFSF von 440 Milliarden Euro ausgeweitet kann. Experten sprechen von „Hebeln“. Zum einen fungiert die EFSF künftig auch als Anleiheversicherer bei der Ausgabe von neuen Anleihen aus Problemländern. Die EFSF garantiert einen Teil der Emissionssumme und entschädigt im Falle eines Zahlungsausfalls Anleger in der Höhe dieses Anteils. Zum anderen kann die EFSF gemeinsam mit privaten Investoren Zweckgesellschaften gründen. Dieser Sondertopf investiert ebenfalls in Anleihen, welche die EFSF ebenfalls zum Teil absichert. • Die EFSF kann neu aufgelegte Anleihen von Euro-Staaten ganz aufkaufen – Fachleute sprechen hier von Interventionen auf dem „Primärmarkt“. Er kann darüber hinaus unter bestimmten Voraussetzungen auch auf dem „Sekundärmarkt“ tätig werden, also bereits im Umlauf befindliche Anleihen eines Eurolandes von anderen Anlegern kaufen. • Die EFSF kann gegen Auflagen auch vorsorgliche Maßnahmen treffen, wie zum Beispiel die Bereitstellung einer vorsorglichen Kreditlinie. Die EFSF ist eine Aktiengesellschaft nach luxemburgischem Recht mit Sitz in Luxemburg. Gesellschafter der EFSF sind die 17 Mitglieds-staaten der Euro-Zone. Die EFSF soll nach dem Beschluss der europäischen Staats- und Regierungschefs vom 21. Juli 2011 bis spätestens Mitte 2013 in einen dauerhaften Rettungsschirm 257 umgewandelt werden: den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). VI.2.2 ESM Der europäische Stabilitätsmechanismus (kurz: ESM, Englisch: European Stability Mechanism) ist ein Rettungsschirm, der insolvenzbedrohten EU-Ländern mit Krediten und in Ausnahmefällen auch durch den Ankauf von Staatsanleihen finanziell hilft. Er soll ab Mitte 2013 den als Provisorium angelegten EU-Krisenfonds EFSF ersetzen. Der ESM wird sich – genau wie der Vorgängerfonds EFSF – das Geld für die Finanzhilfen an den internationalen Kapitalmärkten besorgen, indem er selbst Anleihen ausgibt. Abgesichert werden diese Anleihen durch die 17 Staaten der Euro-Zone. Diese Zahlen insgesamt 80 Milliarden Euro in bar ein und garantieren weitere 620 Milliarden Euro. Deutschland muss vom eingezahlten ESM-Kapital knapp 22 Milliarden Euro übernehmen. Der Anteil an der Garantiesumme liegt bei rund 168 Milliarden Euro. Trotz der 700 Milliarden Euro Absicherung wird der ESM tatsächlich höchstens 500 Milliarden Euro Kredite an Problemstaaten ausgeben. Dieser Abschlag kommt dadurch zustande, dass der Rettungsfonds eine sehr gute Bonität (AAA-Rating) und damit niedrige Zinsen an den Kapitalmärkten erreichen will – aber nicht alle haftenden Staaten selbst die Bestnote AAA haben. Details und Ausgestaltung des ESM wurden politisch erst in 2012 entschieden. Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben sich auf vier Grundsätze geeinigt: • • Der ESM leistet nur dann Hilfe, wenn die Stabilität der Euro-Zone insgesamt gefährdet ist. Der Beschluss für Hilfen muss einstimmig von den Finanz-ministern als Gouverneuren des ESM gefasst werden. 258 • • Zuvor führen EU-Kommission, Europäische Zentralbank (EZB) und der Internationale Währungsfonds (IWF) für das betreffende Land eine sogenannte Schuldentragfähigkeitsanalyse durch. Unterstützung wird nur gewährt, wenn das Problemland einem wirtschaftlichen Reform- und Anpassungsprogramm zustimmt (sogenannte Konditionalität). In allen Fällen der finanziellen Unterstützung ist eine ‚angemessene‘ Beteiligung privater Gläubiger vorgesehen. Art und Ausmaß hängen vom Ergebnis der Schuldentragfähig-keitsanalyse ab. Anmerkung: Die Erfahrungen aus den vielen Krisensitzungen besagen, dass einmal gefasste Beschlüsse schon in der nächsten Sitzung über Bord geworfen werden (können). VI.3 Die EZB als Retter oder betrügt sich die EZB selbst und die Steuerzahler? Die Warteliste ist lang … Sie erinnern sich: Als im Sommer 2012 ein Griechenland-Hilfspaket das andere ablöste und der Rettungsschirm EFSF schon wieder eine Erweiterung brauchte, weil er nicht ausreichte, wurde mit heißer Nadel schnell ein Fiskalpakt zusammengestrickt. Ein dauerhafter Rettungs-schirm musste schnellstens her. Zudem stand eine Milliardenhilfe für spanische Banken an und selbst die dazu aus den Ferien eilends herbei gekarrten, braven deutschen Bundestagsabgeordneten begannen vernehmlich zu murren. Unter-gangsstimmung machte sich breit. 259 Da trat Mario Draghi in London plötzlich ins Scheinwerferlicht. Die frohe Botschaft, die die hypernervösen Geldmärkte beruhigen sollte, hieß: Die EZB werde innerhalb ihres Mandats alles Erforderliche tun, um den Euro zu erhalten. Und er fügte bedeutungsvoll hinzu „... und glauben Sie mir, es wird reichen“. Der Weltuntergang war abgesagt. Die EZB startete sofort ein Programm zum Ankauf der Staatsanleihen gefährdeter EU-Länder. Doch es liegt in der Natur der Sache, dass de facto bankrotte Länder keine erstklassigen Sicherheiten bieten können – sonst wären sie es nicht. Die Anforderungen an die Bonität der Sicherheiten mussten deshalb immer weiter gesenkt werden. Was aber dann die EZB (gezwungenermaßen) als solche akzeptieren musste. Da wundert es fast schon, dass die hauseigene Revision der EZB im November eine Kreditvergabe an Spanien ins Visier genommen hat. 16,6 Milliarden Euro sollen entgegen der eigenen Sicherheitsregeln der EZB an die Iberer verliehen worden sein. Offenbar konnte die interne Revision gar nicht mehr anders, als die mehrfach gerissenen Sicherheitshürden zu beanstanden: • Die spanischen Staatsanleihen, die als Sicherheit für den Kredit hinterlegt wurden, decken nicht einmal einen Teil der Kredit-summe ab. • Es handelt sich bei den spanischen Schuldverschreibungen darüber hinaus auch noch um T-Bills (kurzfristig laufende US-Staatsanleihen), die derzeit nicht mehr den Status erstklassiger Papiere haben. • Diese Anleihen hätten daher, wenn sie schon angenommen werden, nach den eigenen Statuten der EZB mit 5,5% verzinst werden müssen. D. h. Spanien müsste 5,5% Rendite auf diese Staatsanleihen zahlen. Aber auch das wurde aus unerfindlichen Gründen ‚versäumt‘. 260 • Selbst die Bewertung der Bonität der fraglichen Papiere ist auf dubiose Weise zustande gekommen. Die großen Rating-agenturen Standard & Poor's sowie Moody's stufen die besagten Papiere als ‚B‘ und noch schlechter ein. Die EZB ließ die Schuldverschreibungen aber von der relativ unbekannten kanadischen Ratingagentur DBRS bewerten, die spanische Papiere trotz allem als ‚A‘ einstuft. • Selbst diese ‚A‘ Bewertung der DBRS bei spanischen Staats-anleihen bezieht sich nur auf langlaufende Titel, und nicht auf kurzlaufende 18-monatige Schuldtitel, wie sie hier vorliegen. Auch ein Versehen? • Spaniens Notenbank hatte Vorarbeit geleistet: Sie selbst stufte die spanischen Staatsanleihen in eine Bonitätskategorie ein, die sie gar nicht haben. Die Untersuchung der EZB-Revisoren brachte den ganzen Sachverhalt ans Licht. In Anbetracht all der seltsamen Umstände entsteht natürlich der Eindruck, dass hier ein gemeinsamer ‚Deal‘ durchgezogen wurde. Was also tat die EZB, als dieser Deal ans Tageslicht kam? Wurde der Kredit rückabgewickelt? Maßnahmen getroffen, dass so etwas nicht wieder passieren kann? Die Bonität den Sicherheiten angepasst? Mitnichten. Den Spaniern wurde nicht einmal zugemutet, die Papiere nachträglich herunterzustufen. Das Problem wurde von der EZB sehr pragmatisch gelöst: Die EZB änderte einfach die Verfahrensweise mit den DBRS Ratings. Ab jetzt dürfen ganz offiziell die besseren Langzeit-Noten auch auf schlechter bewertete, kurzfristige Anleihen angewendet werden. Schwupps – ist damit nicht nur der Pfusch nachträglich legitimiert, nein: Von jetzt an dürfen auch alle anderen Zentralbanken des Euro-systems ganz offiziell das tun, was die Spanische Notenbank im Verbund mit der EZB regelwidrig unter der Decke betrieben hatte. 261 Was bedeutet das? Die EZB wird sich noch schneller und desaströser mit schlechten Sicherheiten vollsaugen und immer mehr faule Kredite in den Büchern halten. Gibt es noch irgendwo Lichtblicke? VI.4 Wird Irland die erste Erfolgsgeschichte? Wird Irland die erste Erfolgsgeschichte des Euro-Krisenmanagements? Der Inselstaat kämpft sich aus der Rezession und will Ende 2013 den Rettungsschirm verlassen. In einem Spiegel-Interview vom 1.12.12 führte Haushaltsminister Brendan Howlin über die irischen Niedrigsteuern und das harte Leben eines Musterschülers folgendes aus: SPIEGEL ONLINE: Herr Minister, Griechenland benötigt weitere Finanzhilfen. Muss auch Irland bald um neues Geld bitten? Howlin: Das wird uns nicht passieren. Wir haben uns fest vorgenommen, das EFSF-Programm Ende 2013 zu verlassen. Die Troika hat uns in ihrem Bericht Ende Oktober bestätigt, dass wir auf dem besten Weg dorthin sind. SPIEGEL ONLINE: Sie wollen, dass der Euro-Rettungsfonds ESM bis zu 64 Milliarden Euro Schulden des irischen Staates übernimmt, die durch die Banken-rettung angefallen sind. Wenn Irland sich so gut entwickelt, warum brauchen sie diese Hilfe dann noch? Howlin: Weil unser Fall absolut einzigartig ist. Irland war das erste Land in Europa, das Probleme mit Banken hatte. Es gab damals noch keinen Mechanismus, durch den ein Übergreifen unserer Bankenkrise auf den Rest Europas verhindert werden konnte. Nur deswegen musste das kleine Irland seine Banken in Eigenregie ver-staatlichen. Dafür, dass wir die ersten waren, sollten wir nicht auch noch bestraft werden. SPIEGEL ONLINE: Ihr Land hat zuvor jahrelang steigende Immobilienpreise erlebt und vom schuldenfinanzierten Boom profitiert. Warum sollten Euro-Länder erst Wohlstand auf Pump genießen und die Schulden dann beim ESM abladen können? 262 Howlin: Deswegen brauchen wir eine robuste Bankenaufsicht, auf die wir uns beim letzten EU-Ratsgipfel geeinigt haben. Es geht uns ja auch nicht darum, die Schulden irgendwo abzuladen. Aktuell geht es darum, die Zinsen, die unseren Haushalt jedes Jahr mit drei Milliarden Euro belasten, etwas zu senken. Jeder sagt uns, wir sind der Klassenbeste. Das nützt aber nichts, wenn wir dafür nur noch mehr Hausaufgaben bekommen. SPIEGEL ONLINE: Wenn Sie sich bei der Frage der Altschulden nicht mit Deutschland einigen, ist Irlands Rückkehr an die Finanzmärkte dann in Gefahr? Howlin: So denken wir nicht darüber. Die Rückkehr an die Finanzmärkte ist unser oberstes Ziel. Unseren europäischen Partnern muss aber auch klar sein, was dazu von ihnen notwendig ist. SPIEGEL ONLINE: Sie könnten ja auch die Körperschaftssteuer erhöhen, mit 12,5 Prozent die niedrigste in ganz Europa. Howlin: Das ist für uns kein Thema. Wir müssen die Nachteile ausgleichen, die uns durch unsere Lage in der Peripherie entstehen. Der Steuersatz liegt in Irland zwar nur bei 12,5 Prozent, wird aber auch tatsächlich gezahlt. In anderen Ländern Europas haben manche Regionen weit niedrigere Sätze oder sie bevorzugen bestimmte Sektoren. SPIEGEL ONLINE: Ihre eigene Wirtschaftsförderungsagentur IDA wirbt damit, dass Irland die niedrigste Steuer für Unternehmen in der ganzen EU hat. Howlin: Natürlich sagen die das. Was erwarten Sie denn auch von einer Wirtschaftsförderungsagentur? SPIEGEL ONLINE: Jedenfalls nicht, dass sie Investoren belügt. Howlin: Aber die Körperschaftssteuer ist nur ein Faktor unter vielen, die bei Standortentscheidungen eine Rolle spielen. Unternehmen wie Microsoft, Google oder Ebay kommen zu uns, weil wir Englisch sprechen, weil wir eine junge, gut ausgebildete Bevölkerung haben und bezahlbare Löhne. Solidarität innerhalb Europas kann nicht bedeuten, dass Deutschland alles aufsaugt. 263 SPIEGEL ONLINE: Um die Vorgaben der Troika zu erfüllen, hat Ihre Regierung Gesundheitsausgaben und das Kindergeld gekürzt, Beamte entlassen und die Mehrwertsteuer erhöht. Nur die Unternehmen kommen als einzige ungeschoren davon. Bricht Ihnen das nicht ihr sozialdemokratisches Herz? Howlin: Das irische Volk hat enorme Opfer erbracht. Für mich als Sozialdemokraten ist es aber am wichtigsten, dass die Menschen wieder Arbeit finden. Die Arbeitslosigkeit von 15 Prozent in Irland ist die größte Armutsgefahr für Familien. Das ist unser Problem, nicht die Unternehmenssteuersätze. SPIEGEL ONLINE: Trotz der enormen Haushaltskürzungen und der Massen-arbeitslosigkeit hat die irische Bevölkerung bis jetzt stillgehalten. Was können südeuropäische Regierungen von Ihrem Krisenmanagement lernen? Howlin: Das ‚Croke Park Agreement‘ von 2010, in dem die Regierung Gehaltskürzungen gegen Jobgarantien getauscht hat, ist ein großer Erfolg und wird auch von den Gewerkschaften gelobt. Wir haben die Kosten unseres Beamten-apparats um 20 Prozent gekürzt und dennoch die Qualität beispielsweise unserer Schulen verbessert. Ich glaube, dass andere davon lernen können. Das Interview führte Alexander Demling VI.5 Die Schuldenbremse Schuldenbremse und europäischen Fiskalregeln sowie der Fiskalpakt erfordern, dass neben Bund und Ländern auch für die Kommunalebene Haushaltsgrenzen wirksam sind, um den annähernden Haushalts-ausgleich des Gesamtstaates zu sichern. Neben den eher längerfristigen Konsolidierungsanforderungen im Rahmen der Schuldenbremse wurden vonseiten der Bundesländer zusätzliche kurzfristige Anpassungsnotwendigkeiten aus der Ratifi-zierung des europäischen Fiskalpakts befürchtet. Während die Schuldenbremse des Grundgesetzes für die Übergangszeit bis 2020 nur wenige Vorgaben macht, beinhaltet der Fiskalpakt letztlich für den 264 Gesamtstaat die Verpflichtung zu einem annähernden strukturellen Haushaltsausgleich. Spätestens 2020 gilt die verfassungsrechtliche Vorgabe des grundsätzlichen Neuverschuldungsverbots für Länder und Gemeinden, sodass sich die Einnahmen und Ausgaben eines jeden Landes (strukturell) mindestens ausgleichen müssen. Sofern der – noch zu beschließende – neue Finanzausgleich ab 2020 nicht einen Ausgleich für die sehr unterschiedlichen Finanzlagen schafft, fallen die notwendigen Anpassungen für die einzelnen Länder sehr unter-schiedlich aus. Dann müssen insbesondere unterdurchschnittlich finanzstarke Länder mit höheren Schulden und entsprechenden Zinslasten entweder ihre Primärausgaben deutlich stärker einschränken oder eigene Einnahmepotenziale vermehrt ausschöpfen, um den (strukturellen) Haushaltsausgleich zu erreichen. Hier könnte es sinnvoll sein, bei der anstehenden Finanzausgleichsreform eine höhere Flexibilität insbesondere auf der Einnahmeseite etwa über länderspezifische Steuerzuschläge vorzusehen. Doch: Die Bundesbank hat den Länderregierungen vorgeworfen, die durch die Schuldenbremse notwendigen Korrekturen in den Landes-haushalten viel zu zaghaft eingeleitet zu haben. Aktuell (Oktober 2012) seien „noch keine genauen oder nur wenig ambitionierte Vorgaben für den Defizitabbau“ in der Übergangsphase bis 2020 festgelegt worden, moniert sie. Immerhin müssten alle Bundesländer ab 2020 strukturell ausgeglichene Budgets vorlegen. Die den Bundes-ländern eingeräumte Übergangsfrist hält die Bundesbank obendrein für viel zu lang. Die Verschleppung der nötigen Anpassungen berge „die Gefahr, dass notwendige Konsolidierungsmaßnahmen aufgeschoben werden und schließlich Probleme bei der Zielerreichung auftreten“. Je später die Konsolidierung erfolge, desto höher werde obendrein auch die künftige Zinsbelastung ausfallen. VI.6 Auswirkungen auf die Haushalte 265 Die Zinszahlungen für die Schulden belasten die Haushalte der Staatsorgane auf allen Ebenen in Europa - auch in Deutschland. Die derzeitige Zinspolitik der EZB mag für das ein oder EU-Land noch erträglich sein. Selbst Deutschland wird es aber in dem Moment mit aller Wucht treffen, wenn der Zins für die Staatsanleihen von derzeit durchschnittlich 1,2 Prozent auf den langfristigen Durschnitt von 3,4 Prozent steigen sollte. VI.6.1 Bundeshaushalt – 2015 soll die große Wende kommen Mittteilung vom 13. März 2013: „Eine Leistung von historischem Ausmaß habe die schwarz-gelbe Bundesregierung vollbracht“, sagte der Bundeswirtschaftsminister Phillip Rösler, als er mit Finanzminister Wolfgang Schäuble den Haushaltsentwurf der Bundesregierung für 2014 vorstellte. Die Neuverschuldung wurde mit 6,4 Milliarden Euro ausgewiesen. So niedrig war die Neuverschuldung zum letzten Mal Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Strukturell gilt der Haushalt für 2014 sogar schon als ausgeglichen, weil Einmalzahlungen wie etwa für den Euro-Rettungsfonds ESM heraus gerechnet werden. Im vergangenen Jahr hatte der Bund sein Defizit auf 22,5 Milliarden Euro gesenkt. Dies war allerdings weitestgehend rasant gestiegenen Einnahmen durch die boomende deutsche Wirtschaft geschuldet. Das Ziel des strukturell ausgeglichenen Bundeshaushalts für 2014 hatten die Spitzen der schwarz-gelben Koalition beim Koalitions-ausschuss vor etwa drei Monaten beschlossen. Beim Strukturdefizit werden Konjunktur- und Einmaleffekte ausgeklammert. Es ist daher ein wichtiger Indikator für den Konsolidierungsbedarf in den Staatskassen und stellt den Betrag dar, um den das Haushaltsdefizit durch Einnahmeverbesserungen oder Sparmaßnahmen verringert werden muss. Die eigentliche Neuverschuldung weicht vom strukturellen Defizit ab. 266 Insgesamt will der Bund im Jahr 2015 ganz ohne neue Schulden auskommen und 2016 sogar einen Überschuss von fünf Milliarden Euro erzielen. Der Haushaltsplanentwurf für 2014 und die mittelfristige Finanz-planung sind sicherlich zu einem gewissen Teil der vor uns stehenden Bundestagswahl im September geschuldet. Zudem profitiert der Finanzminister von den niedrigen Zinsen, die Deutschland derzeit an den Finanzmärkten für neue Kredite zahlen muss. Die geplanten Ausgaben dafür sinken 2014 gegenüber 2013 um vier Milliarden. Zum letzten Mal muss Deutschland im nächsten Jahr 4,3 Milliarden Euro an den Euro-Rettungsfonds ESM überweisen, um damit dessen Stammkaital auf zubauen. Ohne diese Summe wäre der Haushalt bereits 2014 nahezu ausgeglichen. Einerseits – andererseits: Einerseits ist das obige Zahlenwerk für die Opposition natürlich nicht ambitioniert genug (schließlich hat Schäuble seit 2010 mehr als 100 Milliarden Schulden gemacht – andererseits versprechen SPD, Grüne bzw. die Linke im auf-kommenden Wahlkampf jede Menge soziale Wohltaten. Nimmt man die Wahlprogramme zum Maßstab und rechnet einmal durch, was allein die Rentenpläne der Opposition am Ende kosten würden, stellt sich hier die Frage nach der Glaubwürdigkeit. Dabei musste Schäuble einen Tag vorher noch einen Dämpfer verdauen: Der Überschuss der Bundesbank ist 2012 deutlich geringer ausgefallen als von Schäuble erwartet. Gerade einmal 664 Millionen Euro überweist die Bundesbank nach Berlin. Geplant hatte Schäuble mit 1,5 Milliarden Euro. Die Notenbank erklärt das mit riskanten Geschäften im Auftrag der EZB, für die neue Milliardenrückstellungen gebildet wurden. Die Rückstellungen für allgemeine Wagnisse wurden um 6,7 Milliarden auf den Rekordwert von 14,4 Milliarden Euro erhöht. Deutschlands Währungshüter befürchten vor allem Einbußen infolge der europäischen Geldpolitik: Die EZB flutet die Märkte seit Monaten mit 267 extrem billigem Geld und hatte in der Vergangenheit über die nationalen Notenbanken Anleihen von Krisenstaaten gekauft. VI.6.2 Streit um den EU-Haushalt 2014 - 2020 Nach langwidrigen Verhandlungen und Streit sowie Zugeständnissen an die Briten hat man sich geeinigt. 320 Milliarden Euro hat die EU in den zurückliegenden sieben Jahren nach dem Gießkannenprinzip an Europas Regionen verteilt. Doch das soll künftig vorbei sein. Dann sollen die lukrativen Fördertöpfe der EU zielgerichteter eingesetzt werden. Der zuständige Ausschuss des Europäischen Parlaments hat im Juli 2013 die Vorschläge der EU-Kommission gebilligt nachdem man sich ordentlich durcheinandergewirbelt und um aus deutscher Sicht wichtige Politikbereiche ergänzt hatte. Gab es bislang Geld für eigentlich alles, was irgendwie den EU-Richtlinien entsprach, sollen künftig 60 bis 80 Prozent der Mittel für drei Schlüsselbereiche reserviert werden: Forschung und Entwicklung, Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie Unterstützung von energieeffizienten und klimaschonenden Produktionsverfahren. Ein viertes Ziel dürfen sich die Bundesländer zusammen mit den Kommunen aus einem Elf-Punkte-Katalog auswählen. Der enthält neben dem Ausbau von Breitbandnetzen, Anpassungen an den Klimawandel oder der Bekämpfung der Armut nun auch die Konversion. Viele Regionen in Deutschland haben hier großen Bedarf, wenn die Bundeswehr oder die US-Armee abziehen. Dennoch muss Deutschland einen besonders harten Rückschlag verkraften. Statt wie bisher 17 Milliarden Euro zur Regionalförderung und weiteren neun Milliarden aus dem Sozialfonds wird es nur noch insgesamt 17 Milliarden Euro aus Brüssel erhalten. 268 Betroffen von der Kürzung sind ausnahmslos alle Bundesländer. Und die müssen sich nun beeilen, für die bewilligten Finanzmittel Zusagen zu bekommen. Denn die Kommission plant weitere Neuerungen: man will mit den Mitgliedsstaaten Partnerschaftsvereinbarungen mit über-prüfbaren Zielen schließen. Diese zu begrüßenden Änderungen besagen doch, dass in der Ver-gangenheit eine einzigartige Verschwendungsorgie stattgefunden hat. Die neuen Regeln können meines Erachtens nur ein ersten Schritt darstellen. Der Brüsseler bürokratische Verteilungsmoloch muss auf eine sinnvolle Größe zurückgefahren werden. VI.7 Inflation an der Ladentheke – ist das die Lösung? In einem Interview mit FOCUS Online führte ‚Mr DAX‘ Dirk Müller u.a. folgendes aus: Ist das Schuldenproblem ein Problem der Verteilung? Ja. Weil die Masse der Menschen überhaupt kein Vermögen besitzt und damit keine Zinsen kassiert. Auf der anderen Seite aber muss sie die Zinslast für alle anderen tragen – die eigene sowieso, die des Staates über Steuern, die der Industrie über die Ladenthecke, und die Banken legen ihre Zinslast auf alle möglichen Bereiche um. Mit anderen Worten: Der Bürger zahlt am Ende immer – egal wo. Und das, ohne eigene Zinseinkommen aus Anlagen zu erzielen. Je höher also die Schuldenlast des Staates ist, desto größer ist die Belastung, die der Bürger tragen muss. Gibt es Zahlen dazu? Die Statistik zeigt, dass in den 50er-Jahren der durchschnittliche deutsche Haushalt etwa zehn Prozent seines Einkommens für Zinsen aufzuwenden hatte. Heute sind es mehr als 40 Prozent. Im Fall Griechenland hat man versucht, das Problem mit einem Schuldenschnitt zu lösen. Droht den USA ein ähnlicher Schnitt? Das ist eine Möglichkeit, löst aber nur die Schulden des Staates auf. Die Schulden der Bürger, die Schulden der Banken und die Schulden der Unternehmen sind immer noch da. Wir machen den Fehler, immer nur auf die Staatsschulden zu blicken. Wir 269 müssen auf die Gesamtverschuldung schauen – inklusive der Schulden der Bürger, Banken und Industrie. Denn das ist die Belastung, die die Gesellschaft des Staates tragen muss. Und es reicht nicht, nur dem Fiskus ein paar Schulden zu erlassen. Ihr Vorschlag? Wir brauchen eine Inflation an der Ladentheke. Steigende Preise erfordern parallel genauso steigende Löhne, Gehälter und Renten, damit die Leute die Preis-steigerungen verkraften können. Dadurch steigen für den Staat die Einnahmen aus der Mehrwert- und Einkommenssteuer bei gleichzeitig konstanter Verschuldungs-quote. Damit wird die Schuldenlast für alle Schuldner kleiner, solange die Zinsen gedrückt bleiben. Und die Bürger können die höheren Preise bezahlen, weil sie höhere Löhne bekommen. Dieser Kreislauf müsste funktionieren. Und diesen Kreislauf müssen wir hinbekommen, um die Schuldenlast abzubauen. Warum zittern dann alle vor der Inflation? Beim Thema Inflation wird schnell gejammert. Aber ohne Inflation kriegen wir’s nicht hin. Jedem Euro Schulden steht irgendwo ein Euro Guthaben gegenüber. Um die Schuldenlast wegzukriegen, müssen die Schulden auf der einen und die entsprechenden Geldguthaben auf der anderen Seite gegeneinander neutralisiert werden. Soll heißen: Derjenige, der Geldwerte besitzt, wird gekniffen sein, wenn derjenige, der die Schulden hat, in realer Kaufkraft gemessen zurückzahlen muss. B.R.-Kommentar: Wenn es denn so einfach wäre. Steigende Preise bedeuten für den Staat zwar steigende Einnahmen, den Staat belasten gleichzeitig nicht nur steigende Renten und steigende Löhne für seine Bediensteten. Der Staat ist auch Konsument. Steigende Löhne für die Exportindustrie schmälern die Wettbewerbsfähigkeit auf dem globalen Markt mit der möglichen Folge geringeren Umsatzes. Weniger Umsatz gefährdet Arbeitsplätze und für den Staat weniger Steuern auf die Gewinne. Mal davon abgesehen, dass man die Zinsen nicht auf sehr lange Zeit auf dem jetzigen Niveau halten kann. Ich weiß nicht, ob das Ganze letztlich ein Nullsummenspiel sein wird. Ich bin der Meinung, dass man an die Ursachen des Problems herangehen muss! VI.8 Lösung der Schuldenkrise - Gibt es Auswege? 270 Die Zentralbanken haben in den letzten Jahren unvorstellbar große Mengen an Staatsschulden aufgekauft (im Rahmen ihrer geld-politischen Stützungsoperationen). Weil das weder mit dem Sparen (Schulden werden einfach nicht weniger) noch mit dem Wachsen (Einnahmen steigen für die Schuldenlast nicht schnell genug) wirklich etwas werden wird, werden wir in den kommenden Jahren wohl immer abenteuerlichere Vorschläge zu hören bekommen, wie man denn die Schuldenkrise endlich lösen will (die ja eigentlich schon das x-te Mal gelöst wurde). VI.8.1 Lösung der Schuldenkrise – durch Bilanztrickserei? Warum annullieren die Notenbanken nicht einfach die Staatsanleihen in ihrem Bestand? Die Schuldenproblematik wäre somit doch ganz einfach gelöst. Dieser Vorschlag wurde allen Ernstes vor kurzem in einigen Medien diskutiert. Aufhänger war ein Statement von Bundesbank-Präsident Jens Weidmann. Er wies darauf hin, – ohne dies gut zu heißen – dass einige Notenbanken bereits mit negativem Eigenkapital arbeiten. Ist das Eigenkapital aufgezehrt, so arbeitet man halt mit negativem Eigenkapital weiter. Man hat quasi Forderungen gegen sich selbst. Auf gut deutsch: Man druckt eben einfach Geld, wenn es nicht mehr anders geht. Und Forderungen kann man ja wertlos ausbuchen. Darauf liefen die diskutierten ‚Lösungsvorschläge‘ hinaus. Notenbanken gelten als Kreditgeber der letzten Instanz. Wenn nichts mehr geht in Volkswirtschaft und Kreditsystem, springen sie ein und stellen frisches Geld zur Verfügung, damit der Geldkreislauf weiter zirkulieren kann. Die Staatsanleihen, die dafür aufgekauft werden, stehen in der Bilanz der Notenbank. Alle bedeutenden Staaten sind auf diese Weise in erheblichem Umfang bei ihren jeweiligen Notenbanken verschuldet. Da Staat und Notenbanken ja zusammen gehören, könnte man sich ja nun die Staatsanleihen bei der Notenbank und die Schulden des Staates 271 gegeneinander aufrechnen und sich somit der Schulden des Staates entledigen könnte. Die Notenbanken gehören ja nun mal als Institution dem Staat. Man schuldet sich doch eigentlich nur selbst Geld. Nichts spräche doch dann dagegen, sich auch selbst die Schulden zu erlassen, oder? Um es vorweg zu nehmen: Solche Vorschläge zeugen weder von Sachverstand noch von Gerechtigkeitsempfinden. Denn was bedeutet dies am Ende des Tages? Das Geld des Bürgers wäre wertlos. Stellen wir uns die Frage, wie Staatsanleihen eigentlich in die Bilanz der Notenbank gelangen. Ursprünglich wurde vom Staat die Anleihe emittiert und vom Anleger gekauft. Letztlich wurde sie – genau wie Geld, das von der Notenbank ausgegeben wurde – von einer staatlichen Institution an den Anleger ausgegeben. Der Unterschied besteht – neben der Tatsache, dass man mit Anleihen nicht beim Bäcker bezahlen kann – darin, dass Anleihen Zinsen abwerfen und Geldscheine nicht. Beide wurden jedoch im Grunde vom Staat ausgegeben und ihr Wert beruht auf Vertrauen. Dieses Vertrauen zeigt sich darin, dass wir weder unsere Geldscheine noch unsere deutschen Staatsanleihen händeringend gegen etwas anderes – z.B. Güter – eintauschen wollen. Wir haben Vertrauen dahingehend, dass auch morgen noch ein entsprechender Gegenwert besteht. Welches Signal würde nun ein Staat bzw. seine Notenbank senden, wenn er plötzlich anfängt, Staatsanleihen für wertlos zu erklären? Das wäre – nicht nur sprichwörtlich – eine Bankrotterklärung. Der panik-artige Verkauf von Anleihen durch die Anleger wäre die Folge. Und anschließend die Flucht in Sachwerte und Rohstoffe. Wenn man also den sofortigen Vertrauensverlust in den Staat und das von ihm ausgegebene Geld (und Anleihen) samt anschließender Güter- und Vermögenspreisinflation als gute Lösung ansieht, spräche wohl nichts dagegen, dem diskutierten Vorschlag zu folgen und Staatsschulden einfach wertlos auszubuchen. 272 VI.8.2 US-Budgetproblematik durch einen Trick umgehen? Die Ruhe im Januar 2013 trügt, denn das heikle Thema Budgetkrise ist nur für ein paar Wochen vom Tisch. Es kommt spätestens Ende Februar wieder auf die Tagesordnung – (oder auch später?). Die anstehenden Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen werden nicht gerade das Wachstum ankurbeln. Wie schön wäre es doch, wenn man die ganze Budgetproblematik mit einem simplen Trick umgehen könnte. Und der geht so: Die US-Regierung könnte theoretisch unendlich viel Geld ausgeben, ohne neue Schulden aufzunehmen, indem sie einfach Gedenkmünzen prägt. Nicht irgendwelche, sondern zum Beispiel eine Platinmünze mit einem Nennwert von einer Billion US-Dollar. Die dann bei der US-Notenbank Fed hinterlegt werden würde. Im Gegenzug überweist die Fed der US-Regierung dann eine Billion US-Dollar in Scheinen. Und schon wäre diese wieder flüssig. Geht nicht? Doch, und sogar legal. Allein der Umstand, dass dieses Vorgehen derzeit ernsthaft in den USA diskutiert wird, zeigt, wie ernst die Lage ist und auf welche Finanztricks wir uns in den kommenden Jahren noch einstellen dürfen. Es geht schlichtweg darum, den offiziellen Staatsbankrott nahezu aller westlichen Staaten und erst Recht den der USA solange wie möglich hinauszuzögern. Die Nebenwirkungen sind auch klar. Bei dem oben skizzierten Vorgehen dürfte es zu einer starken Abwertung des US-Dollars und eines noch weiter schwindenden Vertrauens in diese Währung kommen. Auch der Schuldenberg wird größer (die US-Regierung häuft dann eben zusätzlich Schulden bei der Fed an). Ich glaube allerdings kaum, dass die US-Banken, denen die US-Notenbank Fed gehört, da mitspielen werden. Man wird sich wohl einen neuen Trick überlegen müssen. Es muss ein Trick sein, denn 16,4 Billionen Dollar Staatsschulden sind schlichtweg nicht mehr rückzahlbar. 273 VI.8.3 Zypern - Wird die Kontenpfändung zur europäischen ‚Abwicklungspolitik‘? Zypern musste ‚gerettet‘ werden. Der Finanzbedarf des Landes beträgt rund 17 Milliarden Euro, was fast 100 Prozent der jährlichen Wirt-schaftsleistung entspricht. Die EU wollte diesmal neue Wege bei der Rettung einschlagen. Das sah dann so aus, dass an der ‚Rettung‘ diesmal auch die Sparer beteiligt werden sollen. Im ersten Anlauf sollten die Bankguthaben in Höhe von unter 100.000 Euro mit einer Zwangsabgabe in Höhe von 6,75% belegt werden, alles darüber kostet gleich 9,9%. Natürlich wollte die EU damit vor allem die Ausländer beteiligen (insbesondere Russen und Briten), die Gelder im kleinen Inselstaat gebunkert haben. Vorsorglich wurden die Banken am 16. März geschlossen und die Geldversorgung nur aus Geld-automaten mit einem beschränkten Betrag möglich. Es folgten Proteste aufgebrachter Zyprioten und ein Pokern der zypriotischen Regierung mit der Troika. Am Ende einer turbulenten Woche verabschiedeten die Finanzminister der Eurozone ein neues Paket. Im letzten Moment ist es gelungen, die Kleinsparer nicht auch noch für die Sünden der Großen mit haften zu lassen. Wichtigste Änderung: Die Konten unter 100.000 Euro werden vom ‚Rettungsplan‘ ausgenommen. Die Konten über 100.000 Euro trifft es dafür umso härter. Die zyprische Bankenlandschaft wird radikal umgebaut. Die Nr. 2 der Branche wird abgewickelt, der Markt-führer muss harte Einschnitte hinnehmen. Die dortige Bankbranche soll bis 2018 auf eine in Europa durchschnittliche Größe im Verhältnis zur Wirtschaftskraft schrumpfen. Damit soll das Ende des frag-würdigen Geschäftsmodells Zypern als Oase für Fluchtgeld und Steuervermeider besiegelt. Damit die Bankkunden nicht fliehen und das gesamte Geld abziehen, wird der Geldverkehr kontrolliert. Eine Kapitalflucht soll so verhindert werden. Ohne diese Maßnahme würde es ein sofortiges Bankensterben geben. Bevor die Banken am 28. März 2013 wieder geöffnet wurden, rief eine Sprecherin der zyprischen Zentralbank alle Kunden auf, sich so zu 274 verhalten, „als wäre nichts geschehen, um damit dem zyprischen Bankensystem das Vertrauen auszusprechen“. Sicher ein Leichtes, wenn Kapitalverkehrskontrollen in noch unbekannter Höhe un-mittelbar bevorstehen und eine massive Enteignung der Bankkunden mit größeren Vermögen durchgeführt wird. Es trifft dort aber in erster Linie nicht die Reichen oder die Russen. Nein, besonders hart auch die zypriotischen Geschäftskunden. Wenn der Haircut bei Konten über 100.000 Euro zuschlägt, dürfte dies den Mittelstand in Zypern auf einen Schlag regelrecht ausradieren. Wenn plötzlich 30 oder 40 Prozent der Liquidität fehlen, können keine Rechnungen oder Gehälter mehr bezahlt werden. Entweder weiß die EU nicht, was sie tut. Oder das Vorgehen ist tatsächlich so geplant. Bleibt Zypern wirklich ein Einzel- oder wird es zum Präzedenzfall? Laut einem Medienbericht soll noch vor der Sommerpause ein Richtlinienentwurf der EU verabschiedet werden, der explizit vorsieht, dass „vorrangige Gläubiger und nicht abgesicherte Einleger an den Kosten einer geordneten Abwicklung (von Banken) beteiligt werden können.“ Ausdrücklich von diesem Vorhaben ausgenommen werden sollen nur Sparkonten bis zur Höhe der europaweit geltenden Einlagensicherung von 100.000 Euro. Zwangsenteignung nennt man das in aller Regel. Schockiert sollte aber eigentlich auch jeder EU-Bürger sein. Denn obwohl man seitens der Offiziellen natürlich versicherte, dass Zypern ein Einzelfall bleiben werde. Die Vergangenheit hat leider gelehrt, dass man sich auf derlei Versicherungen nicht verlassen kann. Schließlich hielt es vor ein paar Jahren auch noch niemand für denkbar, dass man einmal den überschuldeten Mitgliedsstaaten mit Geld unter die Arme greifen würde. Denn die Zwangsenteignung oder die Frechheit, dass Vater EU-Staat dem Bürger einfach mal eben in die Tasche greifen kann ist eigentlich nichts anderes als eine Steuer. Die umstrittenen Äußerungen von Eurogruppenchef Dijsselbloem, wonach eine Teilenteignung von Sparern wie in Zypern als Modell für 275 weitere Hilfsprogramme dienen könnte, waren kaum dementiert, da wurde das Dementi schon wieder zurückgenommen. Kurz vor der Osterpause sorgte der niederländische Notenbankchef Klaas Knot, gleichzeitig EZB-Mitglied, endlich für Klarheit. Allerdings nicht in der von den Sparern gewünschten Richtung. Er sagte, das Vorgehen in Zypern wird Bestandteil einer europäischen Abwicklungspolitik im Bankensektor. Entsprechende Überlegungen, lägen in Europa schon seit längerem auf dem Tisch. Diesmal hatte sich die Nachrichten-agentur Reuters von Klots Sprecherin ausdrücklich die Bestätigung geben lassen, dass die Aussage dieses Niederländers definitiv kein Missverständnis ist. Ähnlich äußerte sich nach einem Bericht der Zeitung Die Welt auch eine Sprecherin von EU-Binnenmarktkommissar Barnier. Demnach liege in Brüssel schon länger ein Gesetzentwurf vor, nachdem Spar-vermögen über 100.000 Euro zur Sanierung von Banken genutzt werden sollen. Ein endgültiger Beschluss darüber sei aber noch nicht getroffen worden. Dem Handelsblatt sagte Barnier, die EU könnte Sparer schon bald systematisch zur Kasse bitten, wenn Banken saniert oder abgewickelt werden müssten. Der Richtlinienentwurf zur Bankenabwicklung sehe ausdrücklich vor, dass „vorrangige Gläubiger und nicht abgesicherte Einleger an den Kosten einer geordneten Insolvenz beteiligt werden können“. Gesetzlich geschützt seien nur Sparkonten bis zu 100.000 Euro. Bundesfinanzminister Schäuble wird mit einem ähnlichen Wortlaut zitiert: Europäische Einlagen bis 100.000 Euro seien weiterhin sicher. Einlagensicherung setzt aber zahlungsfähige Staaten voraus. Deutschland ist (noch) zahlungsfähig. Heißt im Umkehrschluss: Größere Konten sind ab sofort vogelfrei. Alle anderen Konten ebenfalls, sobald Deutschland aus ESM,- Target 2- oder sonstigen Verpflichtungen Schwierigkeiten erwachsen. Die 100.000 Euro-Grenze ist derzeit die Schallmauer für Pfändungen, die an die gesetzliche Einlagensicherung angelehnt ist. Sie dürfte allerdings fallen, sobald damit die erforderlichen Mittel für eine umfängliche 276 Bankenrettung nicht mehr aufgetrieben werden können (oder ein Verfassungsgericht etwas dagegen hat). Wie die Dinge liegen, haben diese Herren in der Enteignungsfrage dann offenbar gelogen (Zitate aus diversen Zeitungen und Nachrichtenagenturen): EZB-Ratsmitglied Nowotny: Zypern ist ein spezieller Fall. Das Rettungspaket für die zyprischen Banken ist keine Blaupause für zukünftige Bank-Restrukturierungen. Eurogruppenchef Dijsselbloem: Zypern ist keine Blaupause für Europa. Frankreichs Präsident Franois Hollande: Bankeinlagen-Garantie in der Euro-Zone ist „unwiderrufliches Prinzip“. Das Prozedere in der Zypern-Krise, Einlagen von mehr als 100.000 Euro an der Banken-Sanierung zu beteiligen, bewertete Hollande als einmalig und einzigartig, „aber gleichwohl notwendig“. Unionsfraktionsvize Michael Meister: „Das Modell Zypern lässt sich nicht einfach eins zu eins auf ganz Europa übertragen. Zypern ist ein Spezialfall.“ (Rheinische Post) Wie war das noch mal mit der Vertrauenskrise? Die Quintessenz bleibt aber die gleiche: am Ende kann es immer nur einen Bezahler geben und das wird immer und überall der Steuerzahler sein. Denn der ist auch Sparer, Vermögender und Bankkunde und er bildet zusammen mit allen anderen Steuerzahlern, Sparern, Vermögenden, Bankkunden und Bürgern den Staat. Und wenn der Staat fällt, dann kann es am Ende nur den Bürger, Bankkunden, Vermögenden, Sparer und Steuerzahler treffen. Daran führt kein Weg vorbei. Ist nun eine massive Kapitalflucht aus Europa zu erwarten? VI.8.4 Eine andere Form der Enteignung: Financial Repression Klar ist: Mit den überbordenden Schulden müssen Regierungen und Notenbanken irgendwie fertig werden, weil sie Wachstum verhindern und das Finanzsystem lähmen. Eine Art, die Schulden abzubauen, ist es, sie abzuschreiben. Doch wir bewegen uns nun einmal in einem Umfeld, in dem Politiker das nicht wollen. Also wird Geld über 277 negative Zinsen vom Sparer zum Kreditnehmer transportiert. Der technische Begriff dafür heißt: Financial Repression. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben alle Staaten mit hohen Schuldenbergen auf dieses Mittel zurückgegriffen, Regierungen haben sogar offen die Zinsen für Staatsanleihen gedeckelt. Heute bedienen sie sich subtilerer Mittel. Soll heißen: Inflation. Wenn Zentralbanken anfangen, Schulden zu kaufen, werden sie irgendwo auf diesem Weg Inflation produzieren. Einfach gesagt: Wenn die Preissteigerungsrate höher ist als die Zinsen, die für Schulden bezahlt werden, schrumpfen die Verbindlichkeiten wie durch Zauberhand zusammen: Das Dumme ist, dass das auch für das Ersparte der Bürger gilt. VI.8.5 Ausweg Goldstandard? Immer mehr wird im Zuge einer weiteren Verschärfung der weltweiten Finanzkrise und damit eines Euro-Zerfalls über ein eigentlich überwunden geglaubtes Währungsmodell diskutiert: dem Gold-standard. Alternativ wäre eine Währung mit Goldmünzen denkbar. Je mehr das Vertrauen in die Währungen erschüttert wird, um so mehr wollen viele Leute wieder eine vermeintlich ‚stabile‘ Goldwährung. Auf den ersten Blick wirkt eine Goldwährung insofern gut, als Gold für ‚Stabilität‘ steht und viele Menschen von dem Wert des Goldes überzeugt sind, nach dem Motto: „Dann hat Geld endlich wieder einen Wert“, oder: „Meine Großmutter hat schon gesagt: Gold ist immer etwas wert“. Eines ist bei der ganze Diskussion über eine eventuelle Wieder-einführung eines Goldstandards schon merkwürdig: In den letzten Jahren, also während der gesamten heißen Phase der Schuldenkrise, haben die Notenbanken so gut wie nichts mehr von ihren Gold-beständen verkauft. Das war in den Jahren zuvor komplett anders, als wir ständig Berichte über massive Verkäufe in den 278 Nachrichten hatten. Selbst die ganz armen Partnerländer wie Griechenland und Portugal gaben keine einzige Tonne her. Sie verfügen heute über beachtliche Goldreserven (Griechenland über 111,6 Tonnen und Portugal über 382,5 Tonnen). Warum man diesen Staaten Notkredite gewährt hat, ohne dafür deren Goldreserven wenigstens als Sicherheiten einzufordern, das wird wohl das Geheimnis unserer genialen Politiker-kaste bleiben. Was wäre, wenn in Europa über Nacht der Goldstandard wieder eingeführt werden würde? Wie immer gibt es bei solchen Fragestellungen ein Pro und ein Kontra, Befürworter und Kritiker. Zunächst einmal: Was ist das überhaupt? Der Goldstandard war bis 1914 das dominierende Währungssystem, wurde während der Weltkriege jedoch von vielen Ländern ausgesetzt. Logisch, man musste die teuren Rüstungsausgaben ja irgendwie mit neuen Schulden stemmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er wieder eingeführt (Währungsabkommen von Bretton Woods). 1971 wurde er endgültig abgeschafft (US-Präsident Nixon war der ‚Übeltäter‘). Wie funktioniert er? Alle am Goldstandard teilnehmenden Währungen werden zu einem festen Kurs an den Goldpreis gebunden. Meinet-wegen sind 2000 Euro eine Unze Gold. Und die bekommt der Bürger in einem goldhinterlegten Währungssystem dann auch immer von der Zentralbank garantiert, was Vertrauen in die Währung schafft, die dann eben nicht nur ein Schuldschein - ein künftiges Zahlungsversprechen - buntes Papier ist wie heute. Alle Währungen innerhalb des Goldstandards haben zudem feste Wechselkurse (da alle an das gleiche Gold gebunden sind), Schwankungen entfallen. So, und jetzt kommen wir zur (vermeintlichen) Lösung der Schuldenkrise durch die Wiedereinführung eines neuen Goldstandards. Pro: Diese würde mit einer massiven Währungsabwertung einher-gehen. Momentan kostet eine Unze Gold ungefähr grob gerundet 1400 Euro. Und wenn man den Goldpreis in einem neuen Goldstandard auf 140.000 Euro die Unze festlegen würde (Abwertung 279 1:100)? Oder noch mehr? Dann wären auf einen Schlag die Goldreserven fast aller heute hoffnungslos überschuldeten Länder mehr wert als deren Schulden und die ganze Schuldenkrise ist wie durch ein Wunder vorbei! Freilich würden dann die Wechselkurse mit anderen Währungen munter durcheinanderpurzeln und an die Folgen einer solch drastischen Währungsabwertung für den Außenwert des Euros mag ich schon gar nicht denken. Öl, Kupfer und andere Rohstoffe schwanken ja auch in engeren Spannen um den Goldpreis und würden in Euro wohl extrem teuer werden. Das würde wohl auf eine faktische Enteignung für alle Bürger hinauslaufen, die nicht vorab großflächig in physischem Gold investiert sind. Aber selbst wenn das ein gangbarer Weg wäre, wie würde es dann weiter gehen? Das Schuldenproblem wäre wohl erst einmal gelöst (um den Preis einer faktischen Währungsreform). Kontra: Mit neuen Schulden ist es dann nicht mehr so einfach wie bisher, was Vor- und Nachteile hat. Die Notenbanken können nicht mehr einfach Geld drucken. Eine Erhöhung der Geldmenge ist nur über eine Ausweitung der Goldreserven machbar. Damit wird einerseits die Geldwert-stabilität gesichert. Andererseits ist ein stützender Eingriff der Notenbanken in Wirtschaftsabschwüngen aber nicht mehr machbar. Kritiker des Goldstandards führen zudem an, dass bei ausländischem Mittelabfluss, etwa während einer Rezession, die Geldmenge zu-sätzlich sinkt, statt (wie es förderlich wäre) zu steigen und damit eine Rezession noch verschärft. Dann hätten wir aber einige Hundert Jahre nur von einer Rezession in die andere purzeln müssen, denn es gab früher nichts anderes als den Goldstandard. Doch wäre das eine akzeptable Lösung? Wie oben behauptet, gäbe es mit einer Goldwährung keine Staats-verschuldung mehr. Wie die Geschichte jedoch zeigt, waren gerade zur Zeit des Goldstandards die größten Exzesse bei der Schuldenaufnahme zu beobachten. Ein Goldstandard bremst keineswegs die staatliche Schuldenaufnahme. Es werden dann eben Papier-Schulden lautend auf Gold gemacht. Ebenso kann ein 280 Goldstandard keinen Krieg verhindern, wie ebenfalls fortwährend behauptet wird. Im Gegenteil: Der Goldstandard von 1873 legte durch die massive Verarmung der Bevölkerung überhaupt erst den Grundstein für den Ersten Weltkrieg, ebenso wie der Goldstandard von 1924 die Weltwirtschaftskrise verursachte und letztlich zum Zweiten Weltkrieg führte. Die Goldwährung und der Goldstandard lösen keine Probleme, sondern schaffen nur neue. Die Probleme beginnen damit, dass die meisten Länder weltweit überhaupt kein oder nur sehr wenig Gold besitzen. Egal, ob Goldwährung oder Goldstandard, die meisten Länder der Welt wären dann gezwungen, sich Gold von den wenigen Groß-Goldbesitzern der Welt zu deren Bedingungen und entsprechend hohen Zinsen zu leihen, um einen entsprechenden Gegenwert für ihr Geld zu haben. Selbstverständlich müssten diese Summen ständig und in immer höherem Maße ‚bedient‘ werden. Alles, was wir heute an Belastungen durch den Zinsmechanismus haben, würde sich sogar noch weiter verstärken, weil die Beschaffung des Goldes noch zusätzlich finanziert werden müsste. Heute kann ein verarmter Staat wie Bangladesch durch Papiergeld mit wenig Aufwand ein eigenes Geld schaffen, das den Warenaustausch im Land sicherstellt. Was sollen diese Nationen machen, wenn sie Gold dafür benötigen? Eine noch größere Verarmung auf der Welt wäre die logische Folge. Nicht umsonst waren die Zeiten der Goldwährungen auch immer die Zeit, in der die Massenarmut am größten war. Fazit: Die Probleme bei einem weltweiten Goldstandard sind nahezu dieselben wie beim Euro: Es werden Wechselkurspuffer beseitigt, und alle Länder verlieren ihren Anpassungsmechanismus. Dadurch ent-stehen Spannungen, die das System letztlich zum Einsturz bringen. VI.8.6 Schulden einfach streichen? 281 Der jüngste Vorschlag kommt aus der Bankenszene: Die Zentral-banken könnten diese in ihrem Besitz befindlichen Staatsanleihen ja einfach streichen, da es sich – so diese bahnbrechende Idee – um Transaktionen innerhalb des öffentlichen Sektors handle, die sich gegenseitig aufheben. Die Schuld der Regierung einerseits ist die Forderung der Notenbank anderseits, und beide Posten heben sich gegenseitig auf. Na, das wir da nicht früher drauf gekommen sind! Da kann sich künftig ja jeder Staat einfach weiter verschulden und lässt die Schulden nachher wieder von der Notenbank annullieren. Der Vor-schlag hat allerdings ein paar riesige Schönheitsfehler. Immer dann, wenn eine Notenbank auf ihre Forderung gegenüber dem Staat ver-zichtet, haben wir es mit einer Staatsfinanzierung direkt über die Notenpresse zu tun. Nur so lassen sich alle Salden (wenigstens formal) wieder ausgleichen. Der Nebeneffekt einer solch überaus eleganten Vorgehensweise ist gerade uns Deutschen noch in schrecklicher Erinnerung. Im Jahr 1923 erreichte die Hyperinflation ihren schreck-lichen Höhepunkt, nachdem einige Jahre zuvor die Golddeckung abgeschafft worden war und ein unvorstellbar teurer Weltkrieg samt anschließenden Reparationszahlungen zumindest indirekt über die Notenpresse finanziert worden war. Wohl nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrung ist die monetäre Staats-finanzierung der Europäischen Zentralbank verboten. Was diese aber offenbar nicht daran hindert, sie früher oder später über die Hintertür zu betreiben. Entweder, es fallen Anleiherückzahlungen von einzelnen Schuldnerstaaten einfach aus. Oder die Politik drängt die EZB zur teilweisen Abschreibung von Forderungen, so wie es jetzt gerade im Falle Griechenlands geschieht. Golddeckung haben wir schon lange keine mehr und die ach so vorteilhafte europäische Einheit entpuppt sich als Massengrab deutscher Steuergelder. Haben wir wirklich aus der Geschichte gelernt oder sind das alles nur Lippenbekenntnisse? Die Versuchung ist derzeit wieder enorm groß, den hoffnungslos überschuldeten Staat erneut mit der Notenpresse Geld bereitzustellen. 282 Aber Schulden kann man nicht einfach streichen. Jeder Schuld steht eine Leistung bzw. ein Vermögenswert gegenüber. Werden Schulden ‚gestrichen‘, dann werden immer auch im gleichen Umfang Leistungen/ Vermögen gestrichen. Mit anderen Worten: Einer bezahlt immer die Zeche. Und wenn es über eine drastisch erhöhte Inflation und eine Schwächung der Währung ist. Ganz zu schweigen vom Vertrauensverlust in die entsprechende Währung, die auf ein hemmungsloses Gelddrucken zusteuert. Gerade Papiergeld braucht Vertrauen, was es in diesem Fall restlos verlieren würde. Und dann wohl für immer. VI.8.7 Ausweg – Ein Geldsystem ohne Zins? Das Schuldenproblem und die Deflationsgefahr lassen sich im heutigen System nicht lösen, weil der jährliche Zinszuwachs zu einer immer schnelleren Verschuldung führt. Da weder die Notenbanken langfristig in der Lage sind, einer Deflation entgegenzuwirken, noch Inflation das Problem lösen kann, stellt sich die Frage, wie die Katastrophe abgewendet werden kann. Hier gebe ich die Meinung von Experten wider, die noch in der Minderheit sind. Ihre Ausgangsthese: Der Zins ist der treibende Motor für die Schuldenspirale. Ohne Zins gäbe es zwar auch Kredite, allerdings keinen Ver-schuldungszwang, da keine automatische Ausweitung der Ver-pflichtungen stattfinden würde. Zur Lösung der Misere muss also der Störfaktor ‚Zins‘ im Wirtschaftssystem ersetzt werden. Verbote würden dazu führen, dass der Geldkreislauf ins Stocken geriete. Niemand wäre bereit, sein Geld zinsfrei zu verleihen, sondern würde es zuhause bunkern. Es würde also sofort eine Deflation durch Geldmangel einsetzen. So wie der Zins heute das Geld quasi als Belohnung in den Verkehr lockt, so muss zur Lösung der Schuldenmisere der Zins durch ein 283 Druckmittel ersetzt werden. Analog zum Straßenverkehr, wo nicht richtiges Verhalten belohnt, sondern falsches Verhalten unter Strafe gestellt wird. Wie jeder am Beispiel Straßenverkehr leicht nach-vollziehen kann, ist hier die zweite Methode sicher die sinnvollere. Was wir also brauchen, um den Störfaktor Zins zu eliminieren, ist eine Gebühr für falsches Verhalten beim Geldverkehr (Geldhortung). Dieses interessante Lösungsmodell wurde in den 1930er-Jahren während der Weltwirtschaftskrise praktiziert. Es basierte darauf, dass der heutige Positivzins durch eine Umlaufgebühr ersetzt wurde. Es wurden dazu Geldscheine herausgegeben, die ihre Gültigkeit nur dann behielten, wenn zu einem bestimmten Datum eine Art Briefmarke aufgeklebt wurde. Diese ‚Briefmarke‘ musste kostenpflichtig erworben werden. Das führte dazu, dass sich Geldhortung, trotz null Prozent Zins, nicht mehr lohnte, da ständig Kosten für das Markenkleben anfielen. Deshalb wurden die Geldscheine freiwillig, ohne Zinsforderung, entweder ausgegeben oder zinslos weiterverliehen. Die Folgen dieser einfachen Maßnahmen waren allerdings erstaunlich: Innerhalb kurzer Zeit akzeptierte der Handel die neue ‚Währung‘, da dieser in der Deflation ohnehin nichts mehr zu verlieren hatte. Überall, wo dieses Geld auftauchte, ging plötzlich die Arbeitslosigkeit zurück und der Warentausch blühte wieder auf. Obwohl nur eine geringe Menge dieses neuen Geldes ausgegeben wurde, verdrängte es schnell die staatliche Währung. Leider wurden wenig später alle derartigen Lösungsmodelle von den Notenbanken verboten. Um Schuldenkrisen in Zukunft auszuschließen bzw. eine solche Katastrophe aufzuheben, wäre es also nötig, derartiges Geld (auf moderner Grundlage) einzuführen. Das Problem dabei dürfte allerdings weniger sein, dass dies nicht funktioniert, sondern dass die bisher vom Zinssystem profitierenden Kreise eine solche Lösung nicht wünschen. 284 VI.8.8 US-Banken haben die Krise angeblich überwunden Vor einigen Jahren schreckten Meldungen aus den USA über ein anhaltendes Bankensterben auf. Fast wöchentlich gab es neue Hiobsbotschaften - und das Vertrauen - nicht nur der Anleger - war auf einem Nullpunkt. Grund waren Fehlspekulationen und eine anhaltende Krise am US-Immobilienmarkt. Lange hat es gedauert, aber mittlerweile sind die US-Kreditinstitute wieder zu alter Stärke zurückgekehrt. Wie gut die Geschäfte laufen, belegte im April 2013 die größte US-Bank JPMorgan Chase eindrucksvoll. So konnte der Gewinn im ersten Quartal auf Grund der eingesetzten und inzwischen anhaltenden Erholung am amerikanischen Immobilienmarkt sowie einem florierenden Investmentbanking auf - unterm Strich - 6,5 Mrd. US-$ zulegen. Dies entspricht einem Zuwachs gegenüber dem Vorjahres-zeitraum von einem Drittel und stellt einen neuen Rekord dar. Dass der Gewinnsprung auch deshalb so hoch ausfällt, weil das Vorjahresergebnis durch Spekulationsverluste einer Londoner Ab-teilung belastet waren, interessierte an der Börse kaum noch jemanden. Rekord ist eben Rekord. Doch in den USA ist JPMorgan mit diesen Zahlen nicht allein: Auch Wells Fargo konnte einen Rekordgewinn vermelden. Hier sorgt die Erholung des US-Häusermarkts ebenfalls für zufriedene Gesichter und deutliche Pluszeichen beim Ergebnis. So verdiente das Institut in den ersten 3 Monaten des Jahres unterm Strich 5,2 Mrd. US-$, was einem Zuwachs von 22% entspricht. Weitere Rekordergebnisse aus der US-Bankenbranche sind daher wahrscheinlich. Während hierzulande die Aktien der Deutschen Bank und der Commerzbank meilenweit von ihren alten Höchstständen 285 entfernt sind, haben viele US-Bankwerte ihr Kursniveau von 2007 und 2008 bereits wieder erreicht. Doch wie nachhaltig sind die Zahlen? Und: Das Geschäftsmodell sich nicht wirklich geändert. Neue Hiobsbotschaften sind in den nächsten Jahren wahrscheinlich. VI.9 Fazit – Kapitel VI: Langfristige Folgen des Schuldenbergs Der deutsche Steuerzahler als Schuldensklaven ? Zwischenfazit am 15. April 2013: Die Euro-Zone hat ihre Schuldenkrise immer noch nicht im Griff: Trotz harter Sparmaßnahmen häufen die 17 Länder mit der Gemein-schaftswährung immer neue Schulden an. Im ersten Quartal 2013 stieg der Schuldenstand mit durchschnittlich 92 Prozent der Wirt-schaftsleistung auf einen neuen Rekord. Der Wert lag um vier Prozent höher als vor einem Jahr. Im Vorquartal waren es noch 90,6 Prozent gewesen. Dabei haben sich die Euro-Länder seit Ausbruch der Staatsschuldenkrise vor drei Jahren eine strikte Sparpolitik verschrieben. Spitzenreiter bleibt das hochverschuldete Griechenland mit 160 Prozent. Ein Jahr zuvor lag die Quote noch bei 136 Prozent. Der Wert nähert sich inzwischen wieder dem Niveau vor dem teilweisen Schuldenschnitt im März 2012. Die Schuldenquote Deutschlands blieb laut Statistik gegenüber dem Vorjahr stabil und sank gegenüber dem Vorquartal von 81,9 auf 81,2 Prozent. Doch wächst die Staatsverschuldung der Bundesrepublik Deutschland absolut immer weiter an – seit 1970 hat sie sich verzweiunddreißigfacht. Und sie wird in den kommenden Jahren weiter wachsen, daran ändern auch die langfristigen Spar-Ziele der Bundesregierung nichts. Gerade in Wahljahren sollten wir Bürger solchen Zielsetzungen ohnehin nicht allzu viel Glauben schenken. 286 Doch welche Konsequenzen hat der aufgetürmte Schuldenberg lang-fristig für unser Land? Und welche Folgen hat die steigende Staats-verschuldung für unseren Wohlstand? Derzeit liegt die Staatsverschuldung von Bund, Ländern und Kommunen bei über 80% des deutschen Brutto-Inlandsprodukts. Das ist absoluter Rekord in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Vor der Gründung der BRD gab es allerdings zwei Zeitpunkte in der Geschichte, an denen Deutschland einen noch höheren Schuldenberg angehäuft hatte. Zum Ende des Ersten Weltkriegs lag die Verschulung durch die Kriegsfinanzierung bei über 130% des BIPs. In der Weimarer Republik konnte sich der Staat – unter Zuhilfenahme der Geldmengenausweitungen der Notenbank – durch die Inflation seiner Staatsschulden entledigen – zulasten der Gläubiger. Auch der Zweite Weltkrieg ließ die deutschen Staatsschulden explodieren: Am Ende betrug der Schuldenstand über 240% des BIPS. Durch die anschließende Währungsreform war Deutschland quasi wieder schuldenfrei – und die Gläubiger hatten wiederum ihr Geld verloren. Sicher waren die beiden Weltkriege Ausnahmesituationen. In der Zeit bis 1871 findet man sonst keine vergleichbare Situation, in der Deutschland so hoch verschuldet war wie heute. Es stellt sich für uns die Frage, welche Auswirkungen die hohe Verschuldung für unseren Wohlstand hat. Sicher kann ein Staat auch mit solch exorbitant hohen Schulden weiter Leben, sofern die Zinsen, die man an die Gläubiger zahlen muss, nur niedrig genug sind. Japan ist das beste Beispiel hierfür. Hier liegt die Staatsverschuldung mittlerweile bei über 200% des BIPs. Doch bei Mini-Zinssätzen knapp über der Null-Linie wird Japan trotz des Schuldenbergs nicht Pleite gehen. Die japanische Wirtschaft ist in den letzten 20 Jahren allerdings kaum gewachsen. Und das ist der springende Punkt: Glaubt man Politikern, so ist es anscheinend ein Leichtes, durch weitere Schulden die Konjunktur immer weiter anzukurbeln. Kurzfristig mag das vielleicht richtig sein. Gemäß einigen akademischen Studien hat eine zu hohe 287 Staats-verschuldung langfristig allerdings negative Effekte auf das Wirt-schaftswachstum. Denn immer mehr Geld wird für Zinszahlungen nötig und der Handlungsspielraum des Staates wird in der Zukunft stark eingeschränkt. Schulden sind ein süßes Gift. In den vergangenen Jahrzehnten ist das Leben auf Kredit zur Lebenslüge fast aller westlichen Industriestaaten geworden. Zentralbanken in aller Welt fluten die Märkte mit billigem Geld, um ihrer Wirtschaft und damit ihren Regierungen zu helfen. Historisch gesehen ist das zwar nichts Neues: Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es lange Phasen, in denen Zentralbanken ihren Regierungen dienten. Erst in den siebziger Jahren wurden sie unabhängiger. Seit der Finanzkrise schwingt das Pendel zurück. Die Krise ist noch nicht vorbei – weder in den USA noch in Europa. Derzeit gibt es weltweit 22 Länder, deren Staatsverschuldung über der kritischen Marke von 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt – 10 davon sind Länder Europas! Die Konsequenz ist, dass die Staaten allmählich eine Mauer auf sich zukommen sehen, auf die sie früher oder später prallen. In diesem Moment wird der verschuldete Staat zur Hypothek für alle. Europa – eine tickende Zeitbombe? Es fällt es unheimlich schwer, die Auswirkungen der europäischen Schuldenkrise richtig einzuordnen. Dabei muss man eigentlich nur eins und eins zusammenzählen. Auf der einen Seite stehen die großen traditionellen Industrienationen, die vor allem in den letzten drei Jahrzehnten gigantische Schuldentürme aufgebaut haben, um beispielsweise in den USA einen irrwitzigen Militärapparat aufzubauen oder hierzulande ein Sozial-System, das kaum mehr finanzierbar erscheint. Forciert wurde die Schuldenorgie durch immer billigeres Geld. Die Zinsen gingen permanent in den Keller und vor allem die traditionellen Hochzinsländer aus dem europäischen Süden konnten nicht der Versuchung widerstehen, zu solch niedrigen Zinsen an Geld zu kom-men. Finanziert wurde das Ganze einmal von Sparern in Lebens-versicherungen, Bundesschatzbriefen oder Rentenpapieren und 288 zum anderen von den reichen Öl-Ländern und vor allem China, das inzwischen gigantische Währungsüberschüsse besitzt. Gott sei Dank müssen wir als deutscher Steuerzahler nicht auch noch für das Desaster in den USA bürgen, das sich am 28.Februar / 1. März 2013 erneut verschärft hat. Doch auch die Probleme in Europa sind schon schlimm genug. Jürgen Stark propagiert im Handelsblatt vom 1. März 2013 „das Ende der Unabhängigkeit“ der westlichen Zentral-banken, die spanische Großbank Bankia verbucht Rekordverluste und das Misstrauen gegen Zypern wird immer größer. Aber dennoch ist im Welt-Finanzcasino beste Stimmung. Die Börsen steigen (der Dow Jones erzielt am 12. April ein neues Allzeithoch), die Anleger und Investoren feiern Party und vor allem sich selbst. Präsident Hollande, Frankreichs ‚stärkste Waffe‘ gegen wirtschaftliche Erholung und Wettbewerbsfähigkeit, machte erst kürzlich eine ‚Erfolgsreise‘ ins bankrotte Griechenland. Dort rief er vor den darbenden und hungernden Griechen sogar das Ende der Krise aus. Die mussten darüber selbst staunen. Finanzminister Wolfgang Schäuble ‚glaubt‘ an Italien. Glauben ist wohl das Einzige, was beim unlösbaren Euro-Desaster noch geblieben ist. Noch vor einem halben Jahr liefen Leute in vielen Ländern Europas vor dem Wochenende auf die Bank, hoben all ihr Erspartes ab und brachten es montags wieder zurück. Andere transferierten es vorsichtshalber gleich ins Ausland. Die Zinsen für spanische und italienische Staatsanleihen drohten davonzufliegen. Die Target-II-Salden der Bundesbank stürmten immer steiler auf die Billionengrenze zu. Der Fortbestand der Eurozone stand auf Messers Schneide. Doch – Hurra! - der Untergang wurde abgewendet. Die Anleger holen ihre Gelder zurück. Spanien und Italien können Staatsanleihen zu moderaten Zinsen ausgeben. Die Target II-Salden sind sogar gesunken, die Börsen steigen. Die Investoren trinken Champagner. Main-streammedien aller Couleur sind auf dem ‚Positiv-Trip‘. 289 Das kommt nicht von ungefähr. Die bisherigen Erfahrungen zeigen den Spekulanten und Investoren ja, dass letzten Endes die Steuerzahler die Rechnung immer bezahlen werden Wir als deutscher Steuerzahler sind dabei in einer wichtigen Rolle. Denn wir bezahlen den Großteil der Kosten der Verschuldungsorgien in ganz Europa. Das ist nämlich das eigentliche Versprechen, das Mario Draghi letztes Jahr den ‚Märkten‘ gegeben hat, als er bedeutungsschwanger sagte, die EZB werde den Euro mit allen Mitteln verteidigen und prophetisch hinzufügte: „Und glauben Sie mir, es WIRD reichen!“ Zur Erinnerung: Im November/Dezember 2011 konnte nur eine konzertierte Aktion der globalen Notenbanken einen Zusammenbruch des Weltfinanzsystems verhindern. Innerhalb eines Tages fluteten die großen Zentralbanken das gesamte System mit fast unlimitierter Liquidität. Es wäre sonst binnen 24 Stunden kollabiert. Der Inter-bankenhandel war bereits vollkommen zum Erliegen gekommen. In den Medien wurde das kaum erwähnt. Man wollte die Menschen nicht beunruhigen. Erst eine Studie der BIZ im darauffolgenden Frühjahr behandelte in vorsichtigen Formulierungen den Beinahe-Welt-Finanzcrash. Doch – von woher nehmen die Zentralbanken die unlimitierte Liquidität? Richtig - sie drucken es. Aber genau das entwertet unser Geld mehr und mehr. Zur gleichen Zeit als die EZB den Markt mit neuem Geld überschwemmte, flackerte die schwelende Griechenland-Tragödie wieder einmal zum Großbrand auf. Doch paradoxerweise wurde der darauf beschlossene Schuldenschnitt, der eigentlich ein Staatsbankrott war, als endgültige ‚Rettung‘ gefeiert. Alles atmete auf, nur um dann in der hochkommenden Italien- und Spanienkrise wieder panisch zu rennen, retten und flüchten. Im Handelsblatt vom 4. März 2013 war folgende Überschrift zu lesen: „Iren fühlen sich fit für Rückkehr an den Markt“. In derselben Ausgabe ein anderer Artikel mit der Überschrift „Hilfe für die Musterschüler – 290 Irland und Portugal sollen für die Rückzahlung der Hilfskredite mehr Zeit erhalten“. Verrückte Welt, oder? Das ist ein gutes Beispiel dafür, welche ‚Art‘ von Informationen wir täglich aus den Mainstreammedien erhalten: Widersprüchlich, Halb-wahrheiten, Schönfärbereien. Doch für jeden der ‚sehen‘ kann ist die nächste Krisen-Ausbruchswelle vorhersehbar. Und wieder werden wir als Steuerzahler Europas die Zeche zahlen müssen. Und das sind die Gründe, weshalb wir immer mehr zum Schuldensklaven werden: • Die EZB, die im letzten Jahr die Märkte nur beruhigen konnte, indem sie den Banken riesige Geldmengen zur Verfügung stellte, wartet vergeblich auf die umfassende Rückzahlung der Milliardenbeträge. Gerade mal die Hälfte der erwarteten 120 Mrd. € wird in absehbarer Zeit an die EZB zurückfließen. Viele Banken sind immer noch sehr anfällig. Sie sind vom Geld der EZB abhängig, wie ein Junkie von seinem Dealer. Sie als EU-Melkkuh haften mit 27% für die Verluste der EZB. • Die EZB gerät aber durch die Geldschwemme der anderen Zentralbanken in zusätzliche Probleme. Im globalen Ab-wertungswettlauf und der Geldflut gerät der Eurokurs immer mehr unter Druck. Denn wenn andere Staaten ihre Währungen künstlich abwerten, wird der Euro stärker und das ist Gift für die Euro-Zone. Denn dadurch geraten die schwachen Staaten in immer noch größere Probleme, weil ihre Exporte teurer werden. Und das angesichts der immer noch ungelösten, gefährlichen Situation im Bankensektor. Die Lage wird für die EZB immer verzweifelter. • Dazu kommt: Die Wirtschaft der Eurozone gerät immer tiefer in die Rezession. Die EU-Kommission muss ihre Prognosen immer weiter nach unten korrigieren. Im November war es noch ein sehr kleines Wachstum von 0,1%, dann gab man zu, es 291 werde einen Stillstand geben. Vor wenigen Tagen räumte Olli Rehn ein, dass sogar eine Schrumpfung der Wirtschaften des Euro-Raums von 0,3% zu erwarten ist. Dabei ist das ja nur ein Durchschnitt aller Länder. Die Schlusslichter sehen weit schlimmer aus. Diese werden wieder verstärkt die aus Deutschland importierten Waren via Target II ‚anschreiben‘ lassen. Der Turm an Forderungen, auf denen die Deutsche Bundesbank sitzen bleibt, wird wieder anwachsen. Für die Verluste der Bundesbank steht der deutsche Bürger natürlich auch ein. • Frankreich ist auf dem besten Weg in eine Katastrophe zu schlittern. Sein Haushaltsdefizit wird mit 4,6% erwartet. Das dürfte eine optimistische Prognose sein. Die Wirtschaft des gallischen Nachbarn ist höchst reformbedürftig aber mindestens genauso reformunfähig. Und Frankreich war bisher die zweite starke Säule, auf die der Euro ruhte. Sie bricht gerade weg. Kann Frankreich seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen, erhöhen sich die Summen für Deutschland. • Die französischen Banken können ihre immensen Verluste mittlerweile kaum noch verbergen. Die zweitgrößte Immobilienbank musste bereits verstaatlicht werden. Der Gigant ‚Crédit Agricole‘ schreibt Milliardenverluste. Man wird die großen, französischen Banken keinesfalls crashen lassen. Es ist schon abzusehen, dass diese Summen aus dem neuen ‚Banken-ESM‘ kommen müssen. • Der ESM würde schon gar nicht mehr ausreichen, um die angeschlagenen Banken des Euroraumes zu rekapitalisieren. Der wird schon mehr als ausgelastet sein, Spanien und demnächst wahrscheinlich auch Italien aufzufangen. Die Kassen des ESM füllt ebenfalls der Steuerzahler. 292 • Gerade stellt sich heraus: Spanien hat bei der Berechnung seiner Schulden schlicht betrogen. Der spanische Premier Rajoy hat die Milliarden, die er als Kredit von der EU zur Rettung der praktisch insolventen Geldhäuser bekommen hat, bei seiner Rechnung einfach unterschlagen. Die Wahrheit sieht weit finsterer aus, als uns im Polittheater vorgemacht wurde. Die bereits gewährten 100 Mrd. € an Krediten, die auch von uns deutscher Steuerzahler mit bezahlt werden, reichen trotzdem nicht aus, um die spanischen Banken zu ‚retten‘. • Spanien muss in den nächsten drei Jahren 548 Mrd. € auf-bringen, um die Regierung und die überschuldeten Regionen überhaupt handlungsfähig zu halten. Bisher kauft die EZB die spanischen Staatsanleihen auf, um das zu ermöglichen. Auch hier haften wir als europäische ‚Steuermelkkuh‘ mit dem größten Anteil. Der Blick der Krisenländer ist auf Deutschland gerichtet: Wir als deutscher Steuerzahler sollen Wohl oder Übel den Großteil der EU-Schuldenorgie sanieren - und das, obwohl es in unserem Land alles andere als rosig aussieht. Die Kassen der Gemeinden sind fast überall leer. Sehr viele sind bereits so überschuldet, dass sie quasi vor der Zahlungsunfähigkeit stehen. Der Bailout der deutschen Kommunen hat bereits angefangen. Überall werden Nothaushalte aufgestellt und Sparprogramme beschlossen. Allein in Hessen müssen mehr als 100 Kreise, Städte und Gemeinden an einem solchen Konsolidierungsprogramm teilnehmen. Doch auch in den anderen Bundesländern ist die Situation prekär. Nordrhein-Westfalen stellte einen Nothaushalt für 144 Kommunen auf. Drakonische Sparpläne wurden verordnet. Über 90% der 427 NRW-Kommunen sind verschuldet oder überschuldet. Die Bürger müssen auch in anderen Bundesländern auf Straßen-sanierungen, Schulen, Kindergärten, Bibliotheken, Hallenbäder und Krankenhäuser verzichten. Notwendige 293 Renovierungen und Sanierungen können nicht gemacht werden, viele Einrichtungen werden geschlossen. In den Einkaufsstraßen stehen immer mehr Ladenlokale leer. Der Streudienst im Winter wird durch ein Schild ‚Vorsicht, kein Winterdienst‘ ersetzt. Kommunen legen die Feuer-wehren zusammen, um Personal zu sparen. Kleine Ämter und Polizei-dienststellen auf dem Land werden geschlossen, um Personal zu sparen. Manche Gemeinden verkürzen zuerst die Straßen-beleuchtungszeiten und schalten ab 23 Uhr ab. Parks und Grünflächen verwildern. Deutschland wrackt sich ab. Gleichzeitig werden Steuern und Gebühren angehoben. Von der Hundesteuer bis zur Grundsteuer, von der Müllabfuhr bis zu den Kanalgebühren – überall steigt die Abgabenlast für den Bürger spürbar an. Noch ist der Niedergang nur an einigen Orten spürbar – aber das wird sich in den nächsten Jahren verschärfen. Klein-Griechenland wird dann überall Realität! Man muss kein Wirtschaftsprofessor sein um zu sehen, dass die Geldnot der Kommunen und der Regierung deren gierige Blicke auf das Vermögen der Bürger lenkt. Und wieder einmal beweist das die deutsche Politdenkweise: Wer fleißig ist, spart und nicht auf Kosten des Sozialstaats lebt, wird bestraft. Leistung lohnt sich immer weniger. (Zypern lässt grüßen) B.R.-Kommentar: Wer dauerhafte (strukturelle) Problemlösungen sucht, bleibt enttäuscht. Das ist das größte Problem in dieser Krise: Den Politikern geht es zu häufig um Prinzipien – und zu selten um praktische Problemlösung. Damit verschärfen sie die Misere. Das bedeutet im Umkehrschluss: Politiker haben es auch in der Hand, sie zu bewältigen. Das beginnt mit der richtigen Diagnose ihrer Ursachen und den richtigen Schlussfolgerungen. Die Zeit für Schönfärberei und Verleugnungsrhetorik ist definitiv vorbei. Der Ökonom David Ricardo warnte bereits 1820: „Staatsverschuldung ist eine der schrecklichsten Geißeln, die je zur Plage einer Nation erfunden worden ist“. Oder vielleicht sollten die Herren einmal bei Ludwig von Mises (genialer Ökonom) nachlesen: „Es gibt keinen Weg, 294 den finalen Kollaps eines Booms durch Kreditexpansion zu vermeiden. Die Frage ist nur, ob die Krise durch freiwillige Aufgabe der Kreditexpansion kommen soll, oder später zusammen mit einer finalen und totalen Katastrophe des Währungssystems.“ Man hat sich wohl für den zweiten Weg entschieden, der länger und schmerzhafter ist. Die freiwillige Aufgabe der Kreditexpansion würde die federführenden Großbanken die Existenz kosten. Da opfert man lieber die Existenz der europäischen Bevölkerung. Da hilft alle Trickserei nicht: Wir werden unsere Schulden ‚anerkennen‘ müssen und ihren Ursachen begegnen. Aber wie? Wir befinden uns in einem Dilemma: Sparen oder wachsen? Der Zwang zum Schuldenabbau in Europa führt – mit oder ohne Euro – in ein Tal der großen Herausforderungen. Die Pessimisten gehen von einer Langzeit-Rezession aus, die von heute an 15 bis 20 Jahre dauern kann. Wirtschaftlicher Niedergang würde unausweichlich zu flächendeckenden Wohlstandsverlusten in Europa führen. So unausweichlich die Sparpolitik ist, so sehr vertieft und verlängert sie die Phase der wirtschaftlichen Schwäche. Vier Faktoren, die Europa immer tiefer in die ‚Todesspirale‘ von Deflation und Depression hinziehen: • • • • Steuererhöhungen: Zum Ausgleich der fehlenden Einnahmen erhöhen die Finanzpolitiker Steuern und Abgaben. Instabile Banken: In der Rezession steigt die Zahl notleidender Kredite. Zusammenbruch der Nachfrage: Das Schrumpfen der Wirt-schaft ist ohnehin gleichbedeutend mit schwindender Nach-frage. Das Europa-Problem: Europa ist organisatorisch und politisch überhaupt nicht auf die katastrophale ökonomische Situation vorbereitet. 295 Sparen um jeden Preis kann nicht die Antwort sein, aber Wachsen auf Kredit hat uns ja in diese jetzige – scheinbar aussichtslose Situation erst gebracht. Neuerdings wird deshalb (wieder) der Slogan ausgegeben: Sparen und Wachsen! Doch wie dieses ‚Programm‘ denn aussehen könnte, dafür fehlen die Worte und erst recht die Taten. Mein ‚Versuch‘ im Teil B dieses Buches. 296 Buch B Deutschland braucht eine neue Agenda – einen Gesellschaftsvertrag 297 „Sparen und Wachsen“ ist doch ein vertrauter Begriff: Mitte der 1960er-Jahre beherrschte die besonders von Keynes vertretene Theorie des ‚deficit spending‘ die konjunkturelle Diskussion. Keynes‘ Auffassung zufolge sollte der Staat Schulden aufnehmen und mit diesem Geld Investitionen finanzieren, um so die Konjunktur anzu-kurbeln und den Arbeitsmarkt zu beleben. Gelingt die Konjunktur, so die Hoffnung der Keynesianer, so können die dabei erzielten Gewinne dazu verwendet werden, die Schulden zu begleichen. Keynes‘ wirtschaftspolitische Position wird auch heute noch von vielen als Weg aus der Krise vertreten. Sie fordern, die Konsolidierung der Haushalte mit der Förderung von Wachstum zu verbinden. Sparen und zugleich Geld ausgeben – eine Strategie, die alles Vertrauen in das wirtschaftliche Wachstum setzt oder die Anglos sagen: „Weniger Austerity. Mehr Stimulus“. Nun ist das ja nichts Neues. Jahrzehntelange Erfahrungen liegen vor: Mehr Steuereinnahmen führten prompt zu mehr Ausgaben. Die Aus-gaben überstiegen immer die Einnahmen. Wir müssen uns also einen anderen Weg gehen. Deutschland und die Welt brauchen eine neue Agenda. Große Pläne verbinden sich gern mit Jahreszahlen. Solange sie in der Zukunft liegt, ist sie ein motivierendes Ziel. Eines Tages ist es dann geschafft, man kann sie abhaken und beruhigt in der Vergangenheit zurück lassen. Das geschieht gerade mit der ‚Agenda 2010‘. Doch die Welt hat sich weitergedreht, plötzlich liegt das Wort von der ‚Agenda 2020‘ in der Luft. Die Vorstellungen von deren Inhalt unterscheiden sich allerdings diametral. Gerhard Schröder und Ursula von der Leyen, zum Beispiel, mahnen mit diesem Begriff zur Fortsetzung der Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit. Andere wünschen sie sich als Korrekturprojekt. Das ist verständlich, sie verdankt ihre Wirkung schließlich ihren Härten. Die scheinen 298 manchem angesichts des allgemeinen Jubels über die deutsche Wirt-schaftskraft inzwischen unverzichtbar zu sein. Wie gefährlich diese Sicht ist, zeigt ein Blick auf die Vorgeschichte der Agenda 2010. Die reicht zurück bis in den Einheitsjubel. Historische Zeiten, die nur ein Thema kannten. Alles andere wirkte daneben kleinteilig und aufschiebbar. Die Konjunktur lief, und damit öffentliche Missstimmung die Sache nicht komplizierter machte, wurden Härten vermieden. Im Ergebnis addierten sich zusätzliche Lasten und überkommende Strukturen zu einem Mix, an dem die deutsche Wirtschaft irgendwann zu ersticken drohte. Und heute? Seit 2008 liefert die Finanz- und Schuldenkrise das historische Großereignis, auf das sich alles konzentriert, dem sich alles unterzuordnen hat. Auch diesmal bleibt wenig Zeit, Folgen zu bedenken, auch diesmal häuft man langfristige Lasten an. Wieder bleiben Strukturthemen liegen, während man sich damit beruhigt, dass die deutsche Wirtschaft gut läuft. Der Hinweis, Deutschland brauche eine neue Agenda um wett-bewerbsfähig zu bleiben, ist zwar richtig, greift allerdings viel zu kurz! B.I Grundthese Die Verschuldungsstruktur vieler hoch verschuldeter Industrieländer hat sich nach Meinung der Organisation für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung (OECD) in den vergangenen Jahren verändert und die Staaten anfälliger gemacht gegenüber Schocks. Die Schuldenkrise ist kein lokales und vorübergehendes Problem. Das gesamte politische System funktioniert nicht mehr. In den Parlamenten werden keine tragfähigen Kompromisse mehr gefunden, weil der Verteilungskampf in sein Endstadium getreten ist. Denken wir nur an 299 das Hickhack in der Zypern-Krise: Völlig planlos versuchten die Politiker, einen faulen Kompromiss zu finden. Was für Deutschland akzeptabel ist, ist für Zypern überhaupt nicht der Diskussion wert. Kein Wunder: Es gibt schlichtweg nichts mehr zu verteilen. Es wird immer offensichtlicher, wie bankrott sämtliche westlichen Industrie-staaten sind. Sehen wir uns nur das Missverhältnis an zwischen • • den weltweiten Schulden und dem weltweiten Bruttoinlandsprodukt (also der Summe aller weltweit produzierten Güter und Dienstleistungen): 70.000.000.000.000 (70 Billionen) US-Dollar an BIP stehen 190.000.000.000.000 Dollar an Schulden gegenüber. Anders ausge-drückt: Die gesamte Weltbevölkerung müsste mehrere Jahre ohne jede Entlohnung arbeiten, um diese Schulden tilgen zu können. B.I.1 Einführung - Auswirkungen der Verschuldung Finanzielle Repression, überalterte Gesellschaften und vielfach rekord-verdächtige Staatsschulden – das ist der gefährliche Cocktail, der die Zukunftsgestaltung so unsicher macht. „Wenn Europa heute 7 Prozent der Weltbevölkerung stellt, rund 25 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts produziert, aber 50 Prozent der globalen Sozial-ausgaben zu finanzieren hat, ist es offensichtlich, dass es sehr hart daran arbeiten muss, um Wohlstand und lebensstand zu halten“, so Bundeskanzlerin Angela Merkel. In der aktuellen Diskussion um Ursachen und Lösungsansätze der europäischen Finanz- und Staatsschuldenkrise wird viel über Symptome, aber wenig über eigentliche Ursachen gesprochen: Unsere westlichen Demokratien haben in wirtschaftlichen und demo-graphischen Boomzeiten zu Lasten der kommenden 300 Generationen zu viel versprochen. Und wir sollten uns eingestehen, dass dies seitens der Politiker und der Wähler wider besseres Wissen geschehen ist – auch in Deutschland. Die Staatsschuldenkrise ist im Kern eine Ver-trauenskrise. Mit einem Beiseiteschieben oder schlichtem Nicht-diskutieren klar vereinbarter, parlamentarisch bestätigter Regeln lässt sich vielleicht kurzfristiger politischer Geländegewinn, aber kein dauerhaftes Marktvertrauen und erst recht nicht das Vertrauen der Bürger erreichen. Die Auswirkungen der Verschuldung der öffentlichen Haushalte scheinen auf den ersten Blick keinen Bezug zum Leben der Bürger zu haben. Denn ihre Wirkungsmechanismen sind vage und intransparent. Bisher werden Debatten über Staatsschulden und zusätzliche Sozial-leistungen von den Regierungen der EU ganz überwiegend unter Bezug auf die expliziten Staatsschulden geführt. Über 2 Billionen Euro Schulden haben Bund, Länder und Gemeinden angehäuft. Das ent-spricht ca. 80 Prozent des Bruttosozialprodukts. Tatsächlich belaufen sich die Schulden aber auf circa 200 Prozent des BSP, wenn man neben den am Kapitalmarkt eingegangenen Verbindlichkeiten auch bereits zugesagte Sozialleistungen einbezieht, analog zur Bilanzierung von Pensionszusagen in Unternehmen. Der Befund lautet also: In Europas derzeit stärkster Volkswirtschaft belaufen sich die Schulden auf 200 Prozent des BSP. Dem stehen jährliche Steuereinnahmen von weniger als der Hälfte des BSP gegen-über. Eine nachhaltige Finanzierung sieht anders aus! Tatsächlich hat das schiere Volumen der Verschuldung schon heute reale und massive Auswirkungen auf die privaten Finanzen aller Bürger. Negative Aspekte einer zu hohen Staatsverschuldung: • Politische Spielräume werden durch Staatsverschuldung langfristig eingeengt. 301 eine zunehmende • Zukünftige Generationen werden durch notwendig werdende Steuer- und Abgabenerhöhungen sowie durch steigenden Zinsdienst stark belastet und benachteiligt. • Kreditfinanziertes Wirtschaftswachstum, welches nicht in zukunftsorientierte Investitionen fließt, wird vergeudet und ist dann erst recht nicht nachhaltig. • Höhere Inflationsrisiken durch Kontrollverlust der Geldpolitik. Übermäßige Schuldenaufnahme eröffnet keine neuen Handlungs-spielräume, sondern verstellt den Weg für eine zukunftsorientierte Politik. Klar ist: Investiert der Staat sinnvoll, so darf er diese Investitionen auch teilweise schuldenfinanzieren, denn solche Investitionen, z. B. in Bildung oder Infrastruktur, steigern langfristig das BIP und somit auch die Staatseinnahmen. Doch die staatliche Bruttoinvestitionsquote ist in Deutschland seit den 1970er-Jahren kontinuierlich gesunken. Die gesamten staatlich getätigten Invest-itionen konnten nicht einmal die Instandhaltung (Abschreibung) der ehemals errichteten Infrastruktur finanzieren, sodass die Infrastruktur unterm Strich abgebaut wurde. Bund und Länder haben von der Substanz gelebt: Das Sachvermögen des Bundes ist von 61 Prozent des BIP in den 1980er-Jahren auf 44 Prozent im Jahr 2007 gesunken. Konkret leidet das gesamte öffentliche Umfeld darunter: Öffentliche Plätze verwahrlosen, Autobahnen verkommen zu Buckelpisten, Lehr-einrichtungen werden zu Bretterschulen und Laborruinen. Vor allem das öffentliche Sachvermögen in westdeutschen Ländern ist marode und bedarf unbedingter Erneuerung. Gleichzeitig nahmen die kon-sumtiven Ausgaben ständig zu. Damit diente die Verschuldung seit Jahrzehnten nur noch dazu, kurzfristig zu konsumieren, nicht aber dazu, in die Zukunft zu investieren. Je mehr Schulden ein Land hat, umso mehr Steuergelder müssen für Tilgung und Zinszahlungen aufgebracht werden. Schon heute ist der Schuldendienst der drittgrößte Posten im Bundeshaushalt und 302 verschlingt über 12 Prozent des Jahreshaushalts des Bundes. Geld, das an anderer Stelle fehlt. Für die eigentlichen Kernaufgaben des Staates, wie Bildung und Infrastruktur, bleibt immer weniger Geld übrig. Auch gesamtwirtschaftlich sind die Auswirkungen übermäßiger Staats-verschuldung beträchtlich. Hohe staatliche Kreditnachfrage lässt die Zinsen auf dem Kapitalmarkt steigen. Das hat zur Folge, dass der Anreiz, in privatwirtschaftliche Projekte zu investieren, sinkt, da deren Rentabilität unterhalb der Rendite für öffentliche Anleihen liegt. Private Investitionen werden durch staatliche Schuldenaufnahme verdrängt. Als Folge leidet die Wirtschaftsaktivität. Am Ende entmündigt eine zu hohe Staatsverschuldung die Bürgergesellschaft. Erreicht die Staatsverschuldung ein kritisches Niveau – gekennzeichnet durch starke Zinssteigerungen auf den Kapitalmärkten und den Rückzug privater Investoren, meist bei einer Staatsverschuldung von über 90 Prozent des BIP –, hat der Staat nur noch drei Möglichkeiten: Entweder er erhöht seine Einnahmen oder er senkt seine Ausgaben oder er entledigt sich seiner Schulden über die Entwertung des Geldes. Alle Maßnahmen gehen direkt zulasten der Bürgerinnen und Bürger. Empfehlungen: • Um wieder politischen Handlungsspielraum zu gewinnen, müssen die Bundesregierung und die Landesregierungen damit beginnen, ihre Haushalte zu konsolidieren. • Eine asymmetrische Fiskalpolitik im Sinne steigender Um-schuldung und sinkender Investitionen muss vermieden werden. Der Anteil der öffentlichen Investitionen an den Ausgaben muss unbedingt erhöht werden, um das öffentliche Sachvermögen zu erhalten und auszubauen. • Konsumtive Ausgaben sollten als laufende Ausgaben direkt über Steuern finanziert werden und nicht nachfolgende 303 Generationen belasten. Es gilt das Credo Ludwig Erhards: „Verteilt werden kann nur, was vorher erwirtschaftet wurde.“ • Nachfolgende Generationen müssen entlastet werden, indem die steigenden Risiken des demografischen Wandels aus um-lagefinanzierten Sozialleistungen in die Haushaltspolitik mit einbezogen werden. • Eine Verschuldung im Falle außergewöhnlicher Ereignisse kann sinnvoll sein. Aber auch in solchen Fällen gilt es, den Abbau der Verschuldung mit exakten Fristen zu versehen. • Die Monetisierung der Fiskalpolitik muss verhindert und die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank muss gewahrt werden. Wenn sich die jetzige Generation der Nachhaltigkeit und generations-übergreifenden Solidarität verpflichtet fühlt, muss sie mit dem Geld intelligenter umgehen, um zukünftigen Generationen keinen Schuldenberg zu hinterlassen. Wer nachhaltig prosperieren und den hart erarbeiteten Wohlstand dauerhaft sichern will, muss seine Finanzen im Griff haben. Es ist Zeit für eine zukunftsorientierte Fiskal-politik, es ist Zeit für eine fiskalpolitische Zeitenwende im Sinne der Nachhaltigkeit. ALSO: Aus ökonomischer Sicht ist es relativ unbestritten, dass die in den Krisenjahren deutlich gestiegene Staatsverschuldung zurück-geführt werden sollte. Ob dies tatsächlich durchgesetzt werden kann, ist jedoch hauptsächlich eine politische Frage. Deshalb ist es wichtig zu verstehen, ob und unter welchen Bedingungen die Wählerschaft für oder gegen eine Reduktion der Staatsschulden ist. Wähler unterstützen eine Konsolidierung prinzipiell – wenn diese fair und glaubwürdig ist. Die in den vergangenen Jahrzehnten mit fiskalischen Kon-solidierungsprogrammen gemachten Erfahrungen zeigen, 304 international betrachtet, dass durchaus nötige Konsolidierungen oftmals hinaus-gezögert wurden. Dies wirft die grundlegende Frage nach dem Warum auf. Laufen Politiker Gefahr abgewählt zu werden, wenn sie Konsolidierungsprogramme beschließen? Etwa wenn die Bevölkerung der Schuldenentwicklung relativ gleichgültig gegenübersteht („was kümmert mich, welche Belastungen in 50 Jahren auf die nächste Generation zukommen?“) oder wenn die Bevölkerung zwar die kurzfristigen Kosten (etwa durch höhere Steuern), nicht jedoch die langfristigen Aspekte niedrigerer Schulden bewertet. Oder scheiterten Konsolidierungsbemühungen eher an anderen Aspekten des poli-tischen Prozesses (etwa durch Kompromissnotwendigkeiten in Koalitionsregierungen) denn an den Wählern? Pressemitteilung vom 12. März 2013: Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder und führende Politiker aus Regierung und Opposition haben zehn Jahre nach Ankündigung der Agenda 2010 neue Reformanstrengungen gefordert. „Deutschland kann seinen Vorsprung gegenüber den aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie Brasilien und China nur verteidigen, wenn wir hart an unseren Wettbewerbsfähigkeiten arbeiten“, sagte Schröder der Bild-Zeitung. Ökonomen bescheinigen Deutschland eine gefährliche Reformmüdig-keit. „Das Bewusstsein, dass es auch nach der Agenda 2010 noch einen großen Reformbedarf gibt, scheint in der Politik mehr und mehr abhanden gekommen“, sagte der neue Chef des Sachverständigenrats, Christoph Schmidt. B.R.-Kommentar: Ob und welche Antworten Christoph Schmidt hat, ist mir nicht bekannt. Liebe Leserinnen und Leser machen wir uns gemeinsam auf den Weg – auf der Suche nach Antworten. B.I.2 Grundthese(n) „Die größte Freiheit ist 305 die Zukunft unserer Gesellschaft mitzugestalten!“ San del Auf der Online-Seite der WirtschaftsWoche verrät der Zukunfts-forscher Horst Opaschowski im Gespräch mit Mark Fehr am 29. Dezember 2012, mit welchem Neujahrsvorsatz wir am besten im Jahr 2013 durchkommen: Horst Opaschowski: Wir sollten Reserven für schlechte Zeiten bilden und Sicherheiten für Unvorhersehbares einplanen. Sicherheit hört auf, eine konservative Vokabel zu sein. Sicherheit wird sogar wichtiger als Freiheit. Nur wer sich absichert, kann frei sein. Wie funktioniert das Absichern? Für Verbraucher wird die Zukunftsvorsorge am wichtigsten sein, die sich aber immer weniger Leute leisten können. Auch das Rentenniveau ist auf Dauer nicht mehr sicher. Die Deutschen entwickeln daher ein neues Lebenskonzept, bei dem Gesundheit wichtiger ist als Geld und bei dem eine Jobgarantie mehr zählt als eine Gehaltserhöhung. Die persönliche Strategie wird lauten: Lieber gut leben als immer mehr haben. Wie wappnen sich Unternehmen für 2013? Viele Unternehmen müssen sich 2013 auf Nullwachstum einstellen. Angesichts der Schuldenkrise sinkt die Investitions-bereitschaft und breitet sich Kurzarbeit aus. ‚Outplacement‘ könnte zum Unwort des Jahres werden. Allerdings entdecken immer mehr Unternehmen die Qualität älterer Arbeitnehmer wieder. Die Silver-Worker sind als hochspezialisierte Wissensträger unverzichtbar, denn ohne sie würden die Unternehmen in Zukunft ihr Langzeit-gedächtnis verlieren. Wie kommen Arbeitnehmer mit der Unsicherheit klar? Die Leute haben gelernt, sich mit Dauerkrisen zu arrangieren und sind fast krisenresistent geworden. Für die Bürger werden auch 2013 Krisen zum Alltag gehören. Trotz weltweiter Finanz-, Wirtschafts- und Umweltprobleme wird die überwiegende Mehrheit der Deutschen weiterhin optimistisch in die persönliche Zukunft blicken. Also wird alles ganz toll? Nein, es gibt auch Schattenseiten. Weil die Unternehmen keine Arbeitsplatzgarantie mehr gewähren können, gibt es auch kaum noch Mitarbeiter, die der Firma zeitlebens die Treue halten oder Loyalität versprechen. Viele Arbeitnehmer werden zu Minijobbern mit zahlreichen Nebenbeschäftigungen. Immer mehr können von ihrem Haupteinkommen nicht mehr leben. 306 Wie schützt man sich davor? Die Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt lässt das Private immer wichtiger werden. Die Familie wird zur wichtigsten Lebens-versicherung. Sie ist vertraut und verlässlich, billig und barmherzig. In Krisenzeiten bauen Menschen auch auf Wahlverwandtschaften und Wahlfamilien, Freundeskreise und soziale Konvois, also lebenslange Begleiter bis ins hohe Alter. Das können auch nette Nachbarn sein. So schaffen sich die Bürger ihre eigene Wagenburg, halten zusammen und driften nicht mehr auseinander. Welche Megatrends für die langfristige Zukunft werden wir 2013 schon besonders stark zu spüren bekommen? Global gesehen wird China immer weiter ins Zentrum rücken, während die USA an wirtschaftlicher Macht und politischem Einfluss verlieren. Für die Medien droht die Digitalisierung zum Schreckenswort zu werden. Eine neue Ära digitaler Mobilität zwischen Smartphone und Tablet-Computer beginnt. Das Nachsehen werden die Tageszeitungen haben, wenn sie sich nicht von der Lokalzeitung zur Glokalzeitung wandeln. Sie müssen ihren lokalen Lesern erklären, wie sich globale Trends bei ihnen vor der Haustür auswirken. Wie können Unternehmen und Medien ihre immer rastloseren Kunden überhaupt noch erreichen? Wird es noch eine Öffentlichkeit geben oder ziehen sich die gesellschaftlichen Gruppen in spezielle Winkel des Internets zurück, wo sie nur noch unter sich kommunizieren? Menschen suchen auch im Internetzeitalter den direkten Kontakt zu anderen. Die Devise der Kommunikationsstrategen muss daher lauten: face-to-face statt Facebook. Internet und Geldautomaten sind kein Ersatz für soziale Kontakte und auch Online-Shopping wird das Flanieren auf den Boulevards nicht entbehrlich machen. Welche Partei hat das sinnvollste Zukunftskonzept – und kümmern sich Politiker überhaupt um die Zukunft? Zukunftsdenken über Legislaturperioden hinaus findet bei Politikern kaum statt. Sie machen weiter Schulden und machen sich dadurch schuldig. Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde einmal gefragt, an welche Zeiträume sie beim Begriff Zukunft denke. Ihre Antwort: an die nächsten drei Monate. Würde sie heute noch mal gefragt, würde ihre Antwort vielleicht sogar lauten: an die nächsten drei Tage. Die letzte leise Hoffnung auf Aktivität in der Politik wurde in der Niedersachsenwahlnacht zerstört. Schwarz-gelb in Berlin und rot-grün im Bundesrat bedeutet: Da werden sämtliche Vorhaben blockiert. Und bis in den Herbst hinein dreht sich das Denken aller Beteiligten nur noch um die Wahlen. Was können wir erwarten? Populismus pur. Die Parteien werden im Kampf um die Macht die letzten Skrupel ablegen und das Wahlvolk mit leeren Versprechen ködern, bis sich die Balken 307 biegen. Und bis die neue Regierung dann steht, ist das Jahr 2013 schon so gut wie rum. Tricksen und Vertuschen gehört zwar zum politischen Geschäft. Damit kann man sich bis zur nächsten Wahl retten. Doch an der Erkenntnis, dass eines Tages die Rechnung beglichen werden muss, wird man nicht vorbeikommen! Die politischen Parteien haben keine wirklichen Zukunftskonzepte. Eine der Gründe dafür hat Heribert Prantl in einem Kommentar „Warum Wähler und Parteien im Lagerwahlkampf verharren“ in der Süddeutschen Zeitung am 22. Januar 2013 verdeutlicht: Der Lagerwahlkampf ist ein Wahlkampf, den es eigentlich nicht mehr gibt, der sich aber trotzdem abzeichnet. Die Wähler haben Sehnsucht nach Unterscheidbarkeit der Parteien. Lagerwahlkampf: Das Wort kommt soeben wieder in Mode. Es ist ein ungutes Wort, auch wenn es von Heiner Geißler stammt. Der hat es vor dreißig Jahren erfunden, als er CDU-Generalsekretär und die Welt in Ost und West geteilt war. Damals nannte er CDU/CSU und FDP das „bürgerliche Lager“, SPD und Grüne das „linke Lager“. Er hätte besser eine andere Bezeichnung gefunden, weil das Wort Lager, wenn man nicht an Lagerhaus und Lagerfeuer denkt, makaber ist. Unterschiede zwischen Parteien verschwinden: Aber das, was Geißler damals bezeichnen wollte, existierte in der Tat: Es gab konträre Positionen in allen Grundfragen der Politik: Außen-, Wirtschafts-, Energie- und Ausländerpolitik. Hinter diesen Aussagen, pro oder contra Nato, AKWs etc., scharten sich die Anhänger der jeweiligen Parteien. Das ist heute anders. Das Reden von den angeblich „bürgerlichen“ Parteien im Gegensatz zu den „linken“ ist altbacken, ja lächerlich geworden. Bürger sind alle, auch diejenigen, die Linkspartei wählen. Und vor allem: Die fundamentalen Unterschiede zwischen den Parteien (die Linke ausgenommen) sind verschwunden oder gemindert - auf Bundesebene jedenfalls. Wahrscheinlich gibt es, trotz des Boheis, der um die Rentenpolitik gemacht wird, nur tausend Leute in Deutschland, die hier die Differenzen zwischen Union und SPD buchstabieren können. Bei anderen Fragen ist es ähnlich. Und dort, wo es die Unterschiede gibt (beim Mindestlohn), versucht sie die Kanzlerin zu verwischen. In Niedersachsen hat das mit dem Verwischen nicht geklappt - auch darum hat die CDU verloren. Bei Streitthemen wie Studiengebühren, Atommüll und Tierschutz hatte die Landes-CDU sich unklug verpanzert. 308 Vages Grundgefühl statt scharf getrennter Programmatik: Politische Blöcke mit scharf getrennter Programmatik gibt es nicht mehr. Es gibt sie kraft ständiger Übung und, das entwickelt sich gerade wieder neu, kraft eines vagen politischen Grundgefühls. Sowohl Schwarz-Gelb als auch Rot-Grün sind heute erst einmal Exempel für Paarungen kraft ständiger Übung, die im Fall Schwarz-Gelb ein verbissenes Stadium erreicht hat: Die CDU verliert eine Landesregierung um die andere, weil sie sich so auf die FDP fixiert hat; die Alt-Konservativen in der CDU haben zwar keine Gestaltungskraft mehr, hatten aber (in Baden-Württemberg zum Beispiel, wo Teufel und Oettinger mit Grün koaliert hätten) Verhinderungskraft. Vielleicht gibt es so etwas wie eine Seele der Parteien. In dem Maß, in dem die Gerechtigkeitsfrage wichtiger wird und es darum geht, ob und wie Reichtum verteilt wird, suchen sich die politischen Grundgefühle der Wähler eine Heimat: mangels anderen Angebots vorerst bei Schwarz-Gelb oder Rot-Grün. Dies sind derzeit Entscheidungen kraft gefühlter Nähe (die im Fall SPD durch Steinbrück irritiert wurden). Ob dann die bisherigen Paarungen halten, wird davon abhängen, wie die Parteien die Gefühle programmatisch bedienen. B.R.-Kommentar: Die jetzigen Entwürfe verändern nichts bzw. nur marginal an den bestehenden ungerechten und überkommenen Strukturen. B.I.2.1 Grundthese Faber Der Versuch, Staatshaushalte über Steuererhöhungen, Lohnsenkungen und Sozialabbau konsolidieren zu wollen, führt wegen der massiv einbrechenden Nachfrage zu einer noch stärker schrumpfenden Wirtschaftsleistung und einem dramatischen Anstieg der Arbeits- und Perspektivlosigkeit in der Bevölkerung. Weil den Krisenländern das Ventil der Währungsabwertung fehlt, nimmt der Druck der Straße wegen der wirtschaftlichen Depression immer weiter zu. In den vergangenen Monaten eskalierten die Massenproteste in Portugal, Spanien, Italien und Griechenland. B.I.2.2 Die Gerechtigkeitsdebatte der SPD 309 Die Opposition rückt die soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt des Wahlkampfes. Geht der Sozialstaat pleite, wenn das Wirtschafts-wachstum nicht mehr stimmt? Die soziale Gerechtigkeit wird zu einem Kernthema des Bundeswahlkampfes. Dafür sorgen SPD und Grüne. Auf diesem Feld sehen sie eine Chance, Angela Merkel in Bedrängnis zu bringen. Rot und Grün erklären sich zu Anwälten der kleinen Leute, die gegen ‚die Reichen‘ verteidigt werden müssen, da sie von der amtierenden Regierung keine Unterstützung erwarten könnten. 51 Prozent der Deutschen sind der Auffassung, dass es ungerecht zugeht in Deutschland. Dies ist eine Reaktion darauf, dass sich die Schere zwischen arm und reich weiter öffnet. Die Soziale Gerechtigkeit genießt mittlerweile einen höheren Stellenwert als das Wirtschaftswachstum. Vielleicht deshalb weil die Menschen spüren, dass die Argumente für mehr Wachstum sich mehr und mehr als hohl herausstellen. Wenn wir tendenziell also mit fallenden Wachstumsraten rechnen müssen, bleibt die Frage wo wir das Geld hernehmen für die sozialen Wohltaten. Denn was der Sozialstaat verteilen soll, muss an anderer Stelle auch erwirtschaftet werden. Das scheint auch beim Kanzlerkandidaten Steinbrück angekommen zu sein. In einem offenen Brief vom 11.12.2012 an die Mitglieder der SPD schreibt Peer Steinbrück einen Tag vor seiner offiziellen Nominierung zum Kanzlerkandidaten u.a.: „Nicht besser steht es um die öffentliche Verschuldung: Noch läuft die Wirtschaft, der Staat verzeichnet Rekordeinnahmen. Trotzdem macht die Bundesregierung unverantwortlich Schulden. Und jetzt will sie unsinnig Steuern senken. Und unsinnig Geld ausgeben, zum Beispiel für das Betreuungsgeld. Wir wollen stattdessen für solide Staatsfinanzen sorgen, damit der Staat seine Aufgaben für die Menschen erfüllen kann. Vor allem die Kommunen sind dringend darauf angewiesen. Das heißt: Wir müssen auch Steuern erhöhen. Nicht jede Steuer für alle. Aber einige Steuern für diejenigen, die oben in der Einkommenspyramide stehen. Auf der anderen Seite müssen wir Subventionen streichen, zum Beispiel auch die „Prämie für Kita-Verzicht“. Denn das sogenannte Betreuungsgeld nimmt vielen Kindern wichtige Entwicklungschancen.“ 310 Im Frühjahr beschließt die SPD ihr Finanzkonzept. Nach eigener Dar-stellung sieht dies wie folgt aus: Der neue Spitzensteuersatz von 49% gilt für zu versteuernde Ein-kommen von 100.000 Euro für Singles und 200.000 Euro für Verheiratete. Das heißt: Nur 5% der Steuerpflichtigen müssen mehr zahlen. Ein verheiratetes Paar mit zwei Kindern zum Beispiel erst ab 138.000 Euro Bruttojahreseinkommen. Mehreinnahmen: 6 Milliarden Euro. Die Kapitalertragssteuer steigt von 25% auf 32%. Mehreinnahmen: 1,5 Milliarden Euro. Die Vermögensteuer für private Millionen-Vermögen. Damit Unternehmen weiter investieren und Arbeitsplätze schaffen können, wird eine Substanzbesteuerung von Betriebs-vermögen vermieden. Mehreinnahmen: 3 bis 10 Milliarden Euro. Die Spekulantensteuer: Zahlen müssen keine Bürgerinnen und Bürger, sondern Banken, Versicherungen, Investmentfonds. Mehreinnahmen: 2,5 bis 10 Milliarden Euro. Reform der Erbschaftsteuer: Die Regelungen für Betriebsvermögen müssen verfassungsrechtlich klarer werden. Für private Erbschaften und Schenkungen bleibt alles wie bisher. Subventionen: Der Mindestlohn beendet Steuerförderung von Dum-pinglöhnen (Mehreinnahmen: 3,3 Milliarden Euro; weniger Sozial-transfers: 1,7 Milliarden Euro). Reduzierung allgemeiner und öko-logisch schädlicher Subventionen – etwa die Absetzbarkeit von Firmenwagen (Mehreinnahmen: 1,8 Milliarden Euro, ab 2017 rund 4 Milliarden Euro). Keine Privilegien für Hoteliers, wie die Mövenpicksteuer (Mehreinnahmen: knapp 5 Milliarden Euro). Schluss mit Steuerbetrug: zum Beispiel durch automatischen Informationsaustausch und härtere Strafen für Banken, die Steuer-betrug fördern. Die Straffreiheit bei Selbstanzeigen wird die SPD auf Bagatellfälle begrenzen und mittelfristig ganz abschaffen. 311 Wirt-schaftlich erfolgreich und sozial gerecht: Mit dem SPD-Finanzkonzept kann Deutschland rund 27 Milliarden Euro zusätzlich in Zukunft investieren – und die Schuldenbremse einhalten. B.I.2.3 Grüne Zielsetzung Mit Blick auf den Wahlkampf 2013 fordert Trittin, dass die Grünen sehr geschlossen ihr politisches Profil – für Gerechtigkeit und Teilhabe, für eine offene Gesellschaft, für Nachhaltigkeit – im Wahlkampf zeigen. Konkreter schreibt Trittin in der Dezemberausgabe 2012 im grün-profil: „Seit sieben Jahren regiert Angela Merkel unser Land. Es sind sieben verlorene Jahre. Unsere Gesellschaft ist aus der Balance geraten. Ein nie dagewesener privater Wohlstand der oberen zehn Prozent steht überschuldeten öffentlichen Haushalten gegenüber. Banken und Finanzmärkte können nach der Krise weiter unverantwortliche Risiken eingehen, als sei nichts geschehen. Unterdessen stockt der noch unter Rot-Grün angestoßenen ökologische Umbau der Wirtschaft, die Energiewende stagniert. Auch gesellschaftspolitisch herrscht Stillstand: Die Förderung von Frauen kommt nicht voran. Statt Kinderbetreuung und Ganztagsschulen auszubauen, verschwendet Schwarz-Gelb Milliarden für die Herdprämie. Die Regierung Merkel hat das Zeug dazu, als schlechteste Bundes-regierung seit Jahrzehnten in die Geschichte einzugehen. Die Bundestagsfraktion hat der schwarz-gelben Konzeptlosigkeit in dieser Zeit ein klares Profil entgegengesetzt. Wir wollen die Energiewende zum Erfolg führen. Mit einer Wirtschaft, die ihren Energiebedarf zu 100 Prozent erneuerbar deckt, die immer weniger Ressourcen benötigt und so ihre industriellen Kerne erneuern kann. Wir wollen einen demokratiekonformen Markt und eine marktkonforme Demokratie. Dazu gehört auch, den Finanzmarkt durch eine Schuldenbremse für Banken zu kontrollieren, ein Trennbankensystem sowie eine europäische Bankenunion. Wir wollen mehr Gerechtigkeit schaffen. Mit einer Vermögensabgabe für Millionärinnen und Millionäre zum Abbau der Schulden aus der Finanzkrise, mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und einer Bürgerversicherung zur Überwindung der Zwei-Klassen-Medizin. Teilhabe in der offenen Gesellschaft ist ein grünes Ziel, das wir durch Frauenquoten, die vollständige Gleichstellung der Lebenspartnerschaften sowie eine Einbürgerungsoffensive vorantreiben wollen. Gerechtigkeit, Teilhabe, Energiewende – eine andere Politik ist möglich, eine andere Mehrheit ist dafür notwendig.“ 312 An einer anderen Stelle weist Trittin daraufhin, „Unsere Aufgabe ist es aber nicht nur, Ziele zu formulieren, sondern auch, konkret zu beschreiben, welche die nächsten Schritte zur Veränderung sein müssen. (…) Und wir müssen klar machen, wie das alles finanziert werden kann. Ziel der Steuererhöhungspläne der Grünen ist, die Haushalte nachhaltig ohne Schulden zu finanzieren, ohne den Sozialstaat kürzen zu müssen. Im Gegenteil: Auf ihrem Parteitag in Hannover haben die Grünen in ihrem neuen Sozialprogramm die Geldbörse des Steuer-zahlers noch einmal kräftig geöffnet. Die Stoßrichtung des in Hannover verabschiedeten neuen Sozial-programms ist klar: Weil es den Reichen in diesem Land im besser geht und den Armen schlechter setzt man auf Umverteilung. Eine Ver-mögensabgabe hatte die Partei schon auf ihrem letzten Parteitag in Kiel verabschiedet. Jetzt folgen gesetzlicher Mindestlohn, Kinder-grundsicherung und höhere Hartz-IV-Regelsätze - von 374 auf 420 Euro. Die Sanktionen der Arbeitsagenturen gegen Langzeitarbeitslose sollen ausgesetzt werden. B.I.2.4 Wohltaten für die Familie – Union plant soziale Wahlversprechen Am 23. Juni 2013 wollen die beiden Unionsparteien allerlei Wohltaten in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl festzurren. Rechnet man alles zusammen, was die Unionsgranden vorhaben, dann summiert sich das auf 28,5 Milliarden Euro im Jahr. Die SPD wirft Merkel Themenklau vor. Dabei sind die meisten Punkte des Programms nicht einmal neu. So will Merkel den Grundfreibetrag für Kinder auf das Niveau von Erwachsenen anheben, von derzeit 7008 Euro auf 8354 Euro im Jahr 2014. Aus der Staatskasse müssten für diese steuerliche Besserstellung etwa 7,5 Milliarden Euro fließen. 313 Damit auch die Kinder von nicht so gut verdienenden Eltern besser gestellt werden, müssten in der Folge auch das Kindergeld von derzeit 184 Euro um 35 Euro pro Monat angehoben werden. Ein weiterer Knackpunkt des Unions-Wahlprogramms sollen bessere Renten für Mütter werden, deren Kinder vor dem Jahr 1992 geboren worden sind. Pro Kind könnte die Rente um 90 Euro im Monat ansteigen. Freilich würde eine solche Aufbesserung, wenn sie denn sofort zu 100 Prozent umgesetzt würde, den Steuerzahler ab 2014 rund 13 Milliarden Euro jährlich kosten. Auf Druck des Unions-Arbeitnehmerflügels (CDA) schließlich soll eine kräftige Verbesserung bei den Erwerbsminderungsrenten ins Unionsprogramm aufgenommen werden. Auch soll der Früh-rentenabschlag von bis zu 10,8 Prozent schrittweise abgeschafft werden. Etwa 7,7 Milliarden Euro pro Jahr könnten diese Ver-besserungen kosten. Wie dieses Sozialprogramm der Union finanziert werden soll, ist noch völlig offen. Unions-Fraktionsvize Michael Fuchs vom Wirtschafts-flügel der CDU hat bereits Gegenwehr angekündigt: „Man könne nicht gleichzeitig gegen rot-grüne Pläne für Steuererhöhungen wettern und selbst neue Ausgaben planen“. B.I.3 Veränderung setzt Ehrlichkeit und Vertrauen voraus – Die unmögliche Griechenland-Rettung Am 18. Juni 2013 war Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in Athen. Im Gepäck hatte Schäuble ein 100 Mio. Euro Unterstützungs-programm speziell für den griechischen Mittelstand. Und was gab es als Dank? Wütende Proteste auf den Straßen. Dennoch hält Schäuble weiter an der Planung fest, dass dieses Land zu retten ist. Ein Schuldenschnitt kommt für ihn nicht in Frage – und das gilt für jetzt also die Zeit vor der Bundestagswahl und auch für die Zeit nach der Bundestagswahl. 314 Immer mehr Wirtschaftsexperten und sogar Koalitionspolitiker sehen das jedoch anders. Euro-Kritiker und FDP-Bundestagsabgeordneter Frank Schäffler sagt zum Thema: „Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dass sich man entweder über einen Schuldenschnitt oder über ein drittes Hilfspaket für Griechenland unterhalten muss.“ Damit spricht Schäffler eine unbequeme Wahrheit aus, die sonst so im politischen Berlin nicht zu hören ist. Für mich ist es schon seit längerem klar, dass der bis jetzt eingeschlagene Weg der Hilfen nicht final zum Erfolg führen wird. In diesem Jahr wird die Schuldenquote in Griechenland wohl auf 175% steigen. Dies bedeutet: Die Schulden in Griechenland belaufen sich auch 175% der jährlichen Wirtschafts-leistung. Schon beim Überschreiten der 100%-Marke über einen längeren Zeitraum bekommen Länder massive Finanzierungsschwierigkeiten. Die Senkung der griechischen Schulden sind eine Illusion – für die wir bezahlen werden. Durch die Troika aus EU, EZB und IWF ist vor geraumer Zeit einmal das Ziel ausgegeben worden, diese Schuldenquote bis 2020 auf nur noch 110% zu senken. Das ist schon jetzt als illusorisch zu betrachten. Vor allem auch, weil nun in Griechenland immer neue Finanzierungslöcher auftun. Schon gibt es Gerüchte aus Brüssel, wonach allein die griechischen Banken noch einmal weitere 10 Mrd. Euro benötigen. Da sind die 100 Mio. Euro als Anschubfinanzierung von Bundesfinanzminister Schäuble nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Im Übrigen reagierte Schäuble in Athen nahezu abweisend bei Fragen nach einem Schuldenschnitt. Er riet den anwesenden Journalisten diese Fragen doch einfach zu unterlassen. So kann man als Politiker auch mit unbequemen Fragen umgehen. Keine Frage: das politische Kalkül dahinter ist mehr als klar. Vor der Bundestagswahl soll das Bild der perfekt laufenden Euro-Rettung nicht mehr getrübt werden. 315 Nicht nur für Investoren heißt das ganz klar: das dicke Ende der scheiternden Euro-Rettung steht uns dann im kommenden Jahr bevor. Denn dann sind auf jeden Fall auch deutsche Steuergelder verloren – auch noch so eine unbequeme Wahrheit. Ein Leugnen der Realitäten schafft kein Vertrauen! B.I.4 Grundthese Bernd Rojahn Welche Aufgabe hat die Politik? Das Ziel von Politik muss die Verbesserung der Lebensbedingung bzw. der Lebenszufriedenheit aller Menschen sein! Erreicht werden kann dieses Ziel dann, wenn Politik als Ganzes sich auf drei Grundpfeiler ausrichtet: Leistung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit! Dabei müssen die drei Grundpfeiler in einem ausbalancierten Verhältnis zueinander stehen! Zurzeit ist die Balance durch die Unwucht einzelner Politikfelder massiv gestört. Die größte Unwucht liegt im Finanzsystem vor – verdeutlicht durch die derzeitige Finanz-/Schulden- und Euro-Krise. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass schon lange die Einnahmen und Ausgaben der Öffentlichen Hand nicht mehr ausgewogen sind. Hervorzuheben ist, dass die Einnahme-/Ausgabestruktur der drei Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – nicht zu der Aufgaben-verteilung stimmig ist. Maßnahmen zur Schuldenreduzierung müssen also sowohl die Einnahme-/Ausgabestruktur der dahinter stehenden Aufgaben auf allen drei Ebenen berücksichtigen. 316 Die derzeitige Unwucht auf diesem Politikfeld reicht aber allein nicht aus – hinzukommen muss die Durchforstung der Aufgaben, die sich über die Jahrzehnte in sämtlichen Politikfeldern gebildet haben. Dabei steht die Frage nach der Effizienz (Leistung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit) jeder einzelnen Aufgabe im Vordergrund. Erleichtert wird das Herangehen an die Aufgaben, wenn man die Effizienzfrage mit der Frage nach dem Gemeinsinn verbindet. Oder anders ausgedrückt: Wie können wir mit einer stagnierenden Mittelverwendung durch Umgestaltung einen größeren MehrWERT erzeugen und damit die Lebensbedingungen verbessern? Deutschland braucht Gesellschafts-vertrag! eine neue Agenda – einen neuen B.II Schulden-Eindämmungsmaßnahmen Aktuell befinden sich die westlichen Industrieländern auf einem Irrweg: Die Regierungen versuchen zusammen mit den Notenbanken die Schuldenprobleme zu lösen. Das gängige Mittel derzeit: Noch mehr Schulden. Was der schwäbischen Hausfrau schon seit Generationen bekannt ist, hat sich wohl noch nicht bis in die Führungsetagen in Berlin, Brüssel und Washington herumgesprochen. So etwas funktioniert nicht. Das hat noch nie funktioniert und es wird auch in der Zukunft nicht funktionieren. Und noch etwas wird in Zukunft nicht funktionieren: Der Abbau der Schulden die heute angehäuft werden. Immer wieder ist zu hören: Länder wie Deutschland oder die USA können die Schulden abbauen, in dem in diesen Ländern die Wirtschaft schneller wächst als die Schulden. Doch das gelingt uns in 317 Deutschland schon lange nicht mehr. Das Erschreckende daran: Es gelingt uns auch heute nicht, obwohl die Zinsen schon auf historisch niedrigen Niveaus sind. Ein entscheidender Faktor ist die aktuell hohe Dynamik des Schuldenwachstums. Doch was müsste denn passieren, damit Deutschland tatsächlich auch Schulden abbaut? Einige Experten vertreten die Meinung, dass „der Nominalzins langfristig unterhalb des Wirtschaftswachstums liegen müsste“. Doch das ist eben nur selten der Fall. „Zeiten des Wirtschaftswunders sind eben in Deutschland eher die Ausnahme als die Regel“, heißt es dazu weiter. Wenn wir verhindern wollen, dass sich die Schulden-Zeitbombe irgendwann in einer gewaltigen Explosion entlädt, müssen die Verantwortlichen konzertierte Schritte zum Schuldenstillstand und darüber hinaus zum Abbau auf den Weg bringen. Bundesbankpräsident Jens Weidmann hat sich bisher (Stand Januar 2013) nicht politisch korrekt verbogen. Er ist noch einer der wenigen öffentlichen ‚Klartexter‘. Dafür steht er oft im Abseits und im EZB-Rat mit seiner Meinung sogar fast alleine da. Der Wirtschaftswoche gab er unlängst ein höchst aufschlussreiches Interview. Auf die Frage hin, ob wir, im Bezug auf die Eurokrise das Schlimmste hinter uns haben, antwortete der Präsident der Bundesbank sehr zurückhaltend. Natürlich war er der Meinung, dass die Lenker der EU ein gutes Stück vorangekommen seien. Er räumte aber auch ein, dass der Anpas-sungsprozess der Krisenländer noch lange nicht abgeschlossen sei. Werden sich die Volkswirtschaften erholen? Laut Meinung von Herrn Weidmann gibt es Lichtblicke. Er lobte die bessere Wettbewerbsfähigkeit vieler Länder, die seiner Meinung nach auf ‚Hilfe gegen Auflagen beruhten‘. Dennoch gäbe es große Unterschiede zwischen den Ländern. Auf der einen Seite des Spektrums läge Griechenland, auf der anderen Seite Irland. Die Anreize die vereinbarten Auflagen auch einzuhalten, dürften aber nicht weiter geschwächt werden. Welche Rolle spielt die EZB als Zuchtmeister bzw. Finanzier? Die Rolle der EZB als ‚Finanzier‘ ist, laut Herrn Weidmann, ausdrücklich verboten. Die des 318 ‚Zucht-meisters‘ würde weder der EZB noch der Währungsunion guttun. Notenbanker dürfen sich nicht zu Dompteuren von demokratisch gewählten Regierungen aufspielen. Das würde eindeutig den Verantwortungsbereich der Notenbank überschreiten. Er gab aber zu, dass Notenbanken bereits mit Ankündigungen Märkte beeinflussen können. Ist der Ankauf von Anleihen maroder Staaten seriös? Jens Weidmann: „Zunächst beinhaltet das Programm die Bereitschaft, über die Notenbankbilanz massiv und im Grundsatz unlimitiert Insolvenzrisiken zwischen den Steuerzahlern einzelner Länder umzuverteilen. In einer Währungsunion mit 17 souveränen Mitgliedstaaten sollte das den demokratisch gewählten Parlamenten vorbehalten sein. Als Notenbank sollten wir außerdem ausreichenden Abstand von monetärer Staatsfinanzierung wahren. Schließlich kommt der Moral Hazard hinzu, also dass der Reformeifer der Regierungen schwindet, wenn wir den Handlungsdruck durch unsere Maßnahmen reduzieren.“ B.R.-Kommentar: Da bin ich gleicher Meinung. Herr Weidmann ist noch einer der wenigen Mutigen, die hier die Karten offen auf den Tisch legen. Doch anstatt unsere Politiker darauf hören, ignorieren sie diese Stimme. Es kann offenbar nicht sein, was nicht sein darf. B.II.1 Wofür gibt der Staat sein (unser) Geld aus? Jede und jeder von uns zahlt dem Staat Steuern. Die eingenommenen Gelder verschwinden erst einmal in der Staatskasse. Anschließend werden sie so ausgegeben, wie es im Haushalt beschlossen wurde. Doch wohin genau fließt das ganze Geld? Was macht der Staat konkret mit den Steuergeldern? Und wer passt auf, dass alles richtig aus-gegeben wird? Im Jahr 2010 hat der Bund 319,5 Milliarden Euro ausgegeben. Das klingt erst einmal nach einer unglaublichen Summe. Man muss aber auch im Kopf behalten, was der Staat mit diesem Geld alles bereitstellen und machen muss: Straßen, Renten, Arbeitslosen-unterstützung, Verwaltung, Sicherheit und so weiter. Und das alles für über 80 Millionen Menschen. Die 319,5 Milliarden Euro wirken dann schon nicht mehr ganz so riesig. Im Bundeshaushalt wird 319 die insgesamt ausgegebene Summe auf so genannte Ressorts aufgeteilt. Das sind Fachbereiche der Regierung, die jeweils für ein ganz spezielles Gebiet (Soziales, Verteidigung, Finanzen etc.) zuständig sind. Für jedes Ressort gibt es ein entsprechendes Ministerium. Der mit Abstand größte Teil der Ausgaben des Bundes wird jedes Jahr vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales ausgegeben. 2010 waren das 143 Milliarden Euro. In den Fachbereich dieses Ministeriums fallen zum Beispiel Ausgaben für Menschen, die länger Arbeit suchend sind, ein Teil des Geldes für die Renten, die Förderung behinderter Menschen, die Beseitigung von Arbeitslosigkeit etc. Die Sozialausgaben sorgen damit vor allem für mehr Gerechtigkeit in Deutschland. Geld von Menschen, die reicher sind und deshalb auch mehr Steuern bezahlen, wird auf diese Weise an diejenigen umverteilt, die Hilfe benötigen, weil sie zum Beispiel nicht mehr arbeiten können. Also: • 2010 hat der Bund 319,5 Milliarden Euro zur Erfüllung seiner Aufgaben gebraucht. • Den mit Abstand größten Anteil am Bundeshaushalt hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. • Ein immer größerer Teil des Bundeshaushaltes mittler-weile für Zinsen ausgegeben. wird Ein weiterer großer Ausgabenbereich ist die Verteidigung. Für die äußere Sicherheit Deutschlands und damit vor allem für die Bundeswehr hat das Bundesministerium für Verteidigung im Jahr 2010 etwa 31 Milliarden Euro ausgegeben. Größere Ausgabenposten im Bundeshaushalt sind außerdem diejenigen der Ressorts Verkehr (26 Milliarden), Gesundheit (16 Milliarden) und Familie (6,5 Milliarden). Vor allem im Bereich der Gesundheitsausgaben, aber auch bei den Sozialausgaben ist es aber wichtig zu wissen, dass der Staat hier nicht alles, was bezahlt werden muss, aus Steuergeldern bezahlt. Ein großer Teil des Geldes in diesen Bereichen stammt aus Versicherungen. 320 Ein bedeutendes Ministerium ist daneben das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Die Bundesregierung hat schon vor längerer Zeit damit begonnen, in diesem wichtigen Bereich mehr Geld auszugeben. Die Ausgaben des Ministeriums lagen 2010 jedoch bei ‚nur‘ ca. elf Milliarden Euro. Das liegt daran, dass Bildung und Schulen in Deutschland vor allem Sache der Länder sind. Und die Bundesländer haben schließlich ihre eigenen Steuereinnahmen und Haushalte. Auch die Schulden kosten Geld: Der zweitgrößte Betrag im Bundes-haushalt wird mittlerweile für Zinsen ausgegeben. Der deutsche Staat musste in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder neue Kredite aufnehmen. Und so hat sich mit der Zeit ein immer größerer Schuldenberg aufgetürmt. Für all diese Kredite zahlte der Bund 2010 fast 39 Milliarden Euro Zinsen. Dieses Geld fehlt natürlich an anderer Stelle, weshalb es so wichtig ist, zu sparen und einen ausgeglichenen Haushalt – also einen Haushalt ohne neue Schulden – zu schaffen. B.II.1.1 Investitions- und Zinsausgaben des Staates 1965 bis 2010 Helmut Creutz hat den „Niedergang eines Staates“ sehr schön auf-gezeigt, indem er den Zusammenhang zwischen den Investitions-ausgaben des Staates und den Zinsaufwendungen für die Kredite auf gezeigt hat. Misst man die Größen in Mrd Euro, dann sind sowohl die Investitionen des Staates als auch seine Zinslasten von 1965 bis 2010 deutlich angestiegen. Verglichen mit dem Anstieg der Steuern von 54 auf 569 Mrd. €uro (umgerechnet) auf gut das Zehnfache, nahmen die Investitionen jedoch nur auf gut das Dreifache zu, während die Schuldenzinszahlungen auf das 30-fache eskalierten! Rechnet man aber die beiden letztgenannten Größen in Prozent der Steuereinnahmen 321 um, dann gingen die Investitionen des Staates bis 1995 fast im gleichen Umfang zurück, wie die Zinszahlungen anstiegen. Die deut-lichen Schwankungen der Zinslastkurve hängen vor allem mit den Veränderungen der Zinssätze zusammen. Das gilt für die beiden Anstiege in den Hochzinsphasen Anfang der 1980er und 90er Jahre ebenso, wie der deutliche Rückgang in den letzten 15 Jahren. Während sich bisher jedoch die Investitionen bei fallenden Zinssätzen wieder erholten, wurden sie nach 1995, im Zuge der leerer werdenden Haus-haltskassen, auch bei sinkenden Zinssätzen weiter herunter gefahren, mit entsprechenden Auswirkungen auf Konjunktur und Beschäftigung. Welche Probleme angesichts dieser Lage ein erneuter Anstieg der Zinssätze auslösen muss, lässt sich in etwa erahnen: Schon bei gleich bleibender Verschuldungshöhe würde ein um zwei Prozentpunkte erhöhter Zins die Belastungen von 64 Mrd Euro 2009 auf mehr als 90 Mrd. € ansteigen lassen. Anmerkung: Politik und Notenbanken haben dafür gesorgt, dass zumindest in den Jahren 2011 bis wahrscheinlich 2014 die Zinsen auf einem historisch niedrigen Satz liegen bzw. liegen werden. B.II.2 Sparen aber … In einem Interview von FOCUS-Online am 3.12.2012 mit Mister DAX Dirk Müller führte dieser folgendes aus: Sparpakete führen in die Katastrophe und das Massaker, das wir jetzt in Ländern wie Griechenland, Portugal, Spanien und Italien anrichten, werden mit etwas Verzögerung bei uns voll durchschlagen wird. Haben Sie Massaker gesagt? Die Sparpakete. Anders kann man es schon fast nicht nennen. Die Sparpakete führen in die Katastrophe. Dass diese Länder ihre Arbeitsmärkte und ihre Wirtschaft reformieren müssen, daran gibt es nichts zu deuteln. Aber diese Reformen muss ich mit Konjunkturprogrammen flankieren. Die kann ich unmöglich mit Sparpaketen begleiten, sonst wirken die Reformen sogar störend fürs System. Ein Beispiel: Wenn ich einen verkrusteten Arbeitsmarkt 322 aufbreche, in dem es schwierig ist, Leute zu entlassen, und den Unternehmen die Möglichkeit biete, sich schneller von Arbeitskräften zu trennen, muss ich das mit Konjunkturpaketen unterstützen. Ich muss sicherstellen, dass die Unternehmen die neue Freiheit auch nutzen, um bei Bedarf Leute einzustellen, weil sonst der Konkurrent die Aufträge bekommt. Bei konjunkturabwürgenden Programmen dagegen schmeißt der Konzern die Leute raus, die er sowieso schon immer los werden wollte. Also steht in Griechenland das Schlimmste noch bevor? Zumindest gehen wir den absolut falschen Weg. Und alle um uns herum bestätigen uns, dass es der falsche Weg ist. Die Leute gehen auf die Barrikaden. Griechenland steht vor Weimarer Verhältnissen. Spätestens wenn man auf der Autobahn unterwegs ist und es kommen einem Tausende entgegen, sollte man darüber nachdenken, ob wirklich die alle falsch abgebogen sind oder ob man nicht selber die falsche Ausfahrt erwischt hat. Die Troika ist nach jüngsten Erkenntnissen ganz begeistert von den Fortschritten in Griechenland. Das ist doch lächerlich. Die Troika hat sich in den letzten Jahren nicht mit Ruhm bekleckert. Fortschritte? Fragt sich, wohin? Fortschritte in Richtung Abgrund möglicherweise. Das sind die einzigen Fortschritte, die Griechenland momentan macht. Das Land hat eine Währung, die 100 Prozent über der Leistungsfähigkeit des Landes liegt. Die können sich auf den Kopf stellen und mit den Füßen wackeln: Sie werden nicht ansatzweise eine Wirtschaft aufstellen, die sich selbst trägt. Diese Diskrepanz zwischen ihrer Leistungsfähigkeit und der völlig falschen Währung wird immer entweder durch Kredite oder Transferzahlungen anderer – namentlich Deutschland – ausgeglichen werden müssen. Da können wir uns noch so in die Tasche lügen. Wo bleibt denn das ganze Geld? Kern allen Übels ist, dass die Gelder ausschließlich in die Refinanzierung der Banken gehen. Die werden ihre Griechenland-Anleihen los, weil die EZB diese Anleihen übernimmt. Es fließt also kein Geld in die Wirtschaft, sondern es werden einfach nur Schulden umgeschichtet. Und die Verschuldung Griechenlands wächst weiter. Wo ist das Erfolgssystem? Wo ist man auf einen guten Weg? In Portugal zum Beispiel. Portugal ist auf einen guten Weg? Dort demonstriert bereits das Militär und macht mobil gegen die Sparpakete. Wir sind vielleicht auf einem guten Weg zu Revolutionen – wahrhaftig ein guter Weg, den wir da einschlagen. Pressemitteilung vom 3. Juni 2013: In der vergangenen Woche hatte die OECD höhere Löhne in Deutschland gefordert. Nun legt der IWF nach und warnt vor einer zu strikten Sparpolitik. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht in seinem Deutschland-Bericht auf Distanz 323 zu einem rigiden Sparkurs. Im derzeitigen Umfeld niedrigen Wachs-tums sollte eine Übererfüllung der Haushaltsziele unbedingt vermieden werden, heißt es darin. Für dieses Jahr rechnet der IWF mit einem Mini-Wachstum von 0,3 Prozent in Deutschland. Lese ich richtig? Der IWF warnt Deutschland vor einer ‚Übererfüllung der Haushaltsziele‘. Da drängt sich mir die Frage auf – natürlich nur hypothetisch – was wäre wenn … wenn alle Staaten der Welt schuldenfrei wären, bräuchten wir dann noch den IWF? Sind Schulden gewollt? B.R.-Kommentar: Die Aussagen von Mister DAX zu der Frage, ob Sparen ein Beitrag zur Lösung der Schuldenkrise leistet, sind mir zu populistisch. Als Kern allen Übels hat er die Refinanzierung der Banken ausgemacht. Ist das wirklich der Kern allen Übels? Ist nicht vielmehr die Schuldenmacherei der Staaten dafür verantwortlich, dass sie sich letztlich in eine babylonische Gefangenschaft mit den Banken begeben haben. Wird diese Gefangenschaft nicht noch größer, wenn Konjunkturprogramme wiederum schuldfinanziert werden? Natürlich brauchen diese Staaten Programme, um eine Wachstumsdynamik zu erzeugen (Blick nach vorn), um mit höheren Steuereinnahmen die Neuverschuldung zu minimieren. Das erreicht man aber nur, wenn Geldausgeben auch zu einer Wertschöpfung führt. Und hier muss der Blick auch zurück gerichtet werden. Welche Ausgaben führen zu wenig oder keiner Wertschöpfung. Hier muss die Axt angelegt werden. Das verstehe ich dann unter Sparen. B.II.3 Sparen und Wachsen funktioniert nicht (?!) Spätestens seit dem Jahr 2000 sind zu hohe Schulden ein nicht mehr unter den Teppich kehrbares Problem geworden. Seit dem Platzen der ersten großen Spekulationsblase des neuen Jahrtausends haben die Notenbanken immer wieder versucht, eine platzende Kreditblase mit neuen billigen Krediten durch die nächste Blase zu ersetzen. Nach der Internetblase kam die Immobilienblase, Bankenblase, Rohstoffblase, 324 Staatsanleihenblase ... - allein mit dem Aufpumpen wollte es nicht mehr so recht klappen, mit dem Wachstum noch weniger. Meldung vom 15. März 2013: Die Europäische Zentralbank (EZB) hat die EU-Staaten davor gewarnt, die Konsolidierung der Staatsfinanzen auf die lange Bank zu schieben. Dass sich viele Länder in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation befinden, dürfe die Regierungen nicht von der Konsolidierung abbringen. Im Gegenteil: Hohe öffent-liche Schuldenstände seien negativ für das Wachstum, schreibt die EZB: „Schieben die Regierungen die Konsolidierung auf, schwächt dies die Wachstumsaussichten und stellt eine zusätzliche Belastung für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen dar“. Die Mahnung platzt mitten in die zunehmende kontroverse Diskussion in Europa über den richtigen Weg zur Lösung der Krise. Schon seit Jahren versprechen uns die Politiker, dass sie Schulden durch Sparen abbauen wollen. Es wird behauptet, dass sich dann alle Schuldenprobleme in Luft auflösen würden. Doch wo liegt der Fehler in dem oberflächlich gesehen so einleuchtenen Argument, durch Sparen wirklich Schulden tilgen zu können? Schon vor mehr als zehn Jahren befragte die Zeitschrift Stern zum Thema Schuldenabbau Experten vom Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsinstitut (RWI). Deren Antwort: „Es ist möglich, innerhalb von 20 oder 30 Jahren den gesamten Schuldenberg von 2,4 Billionen Mark (1,2 Billionen Euro; d. Verf.) abzutragen.“ Nach deren Analyse sollte sich die Lage der öffentlichen Haushalte dramatisch verbessern. Der Wendepunkt zum Schuldenabbau könne sogar angesichts sprudelnder Steuereinnahmen und hoher Privatisierungserlöse noch früher kommen, so die Experten. Sie vertraten zudem die Ansicht, 2004 und 2005 könnten jeweils Überschüsse von 40 Milliarden Mark erzielt werden und nach 30 Jahren wäre die gesamte Staatsschuld getilgt. Allerdings wussten die Experten nicht genau, welche Folgen eigentlich der Spareffekt habe, da solch eine Phase noch nie untersucht werden konnte und so vertrauten alle aufs ‚Gesundsparen‘. 325 Im Stern heißt es weiter: „Fest steht: Anders als ein guter Hausvater kommt die Volkswirtschaft nie ohne Kredite aus. Damit die Kon-junktur in Schwung gerät, muss sich jemand verschulden. Wenn der Staat spart, fällt die Nachfrage aus, und das Wachstum geht zurück. Im Gegenzug könnten allerdings die Bürger ihre Ersparnisse verringern, weil sie künftig mit niedrigeren Abgaben rechnen.“ Also wird deutlich, dass Verschuldung in unserem System einen festen Stellenwert hat, dass, wenn der Staat sich nicht mehr verschuldet, sich umso mehr andere Wirtschaftsteilnehmer verpflichten müssen. Im Endeffekt werden die Schulden also nur umverteilt und nicht wirklich getilgt. Im Stern heißt es dazu: „Der lange Boom in den USA ist ohne den Tausch der Schuldnerrollen nicht zu erklären: Während der Staat spart, plündern die Bürger ihre Konten für den Konsum, und die Unternehmen borgen sich Geld zu niedrigen Zinsen, um Fabriken zu bauen.“ Demnach handelte es sich in den USA selbst in den besten Jahren und dem damaligen angeblichen ‚Schuldenabbau‘ unter Präsident Clinton nie um eine richtige Schuldentilgung. Stattdessen wurden die Ver-pflichtungen nur vom Staat auf die Bürger und die Wirtschaft umverteilt, d. h. am Gesamtproblem hat sich nichts geändert. Dass es heute tatsächlich nur um Schuldenverlagerung, niemals um eine Schuldentilgung geht, zeigt sich abermals im Jahr 2010 in Amerika: Zwar gab der Staat mehr Geld aus, zugleich aber spart die verunsicherte private Wirtschaft massiv. Nach Daten der amerikanischen Notenbank Fed machte die öffentliche Hand in den USA so 1.551 Milliarden Dollar neue Schulden, stolze 1.123 Milliarden Dollar mehr als zwei Jahre zuvor. Die Haushalte und Unternehmen aber, die sich damals noch 2.096 Milliarden Dollar geliehen hatten, reduzierten ihre Schuldenaufnahme um 521 Milliarden Dollar. 326 Wir sehen, der Staat ist nicht mehr als ein Lückenbüßer in Sachen Schulden. Welche verheerenden Folgen hat das? Kann es einen Schuldenabbau wirklich geben? Beim Schuldenmachen ist es doch so, dass der Staat praktisch nur dort einspringt, wo der Privatsektor sich zurückzieht. Weil das Geld ansonsten überhaupt nicht genutzt würde, kann er zusätzliche Nach-frage schaffen, statt bestehende Nachfrage zu verdrängen. Insgesamt nahm die US-Volkswirtschaft sogar weniger neue Kredite auf als während der Boomzeiten. Ein Sparen gibt es deshalb nicht, nur ein Schuldenverlagern innerhalb der einzelnen Sektoren einer Volks-wirtschaft. Deshalb sind die Behauptungen, wir könnten irgendwelche Schulden reduzieren, indem wir „den Gürtel enger schnallen“, reine Zweck-propaganda, was sich an den Versprechen vor zehn Jahren gut zeigen lässt: Mit der gleichen Argumentation wie das RWI wiederholte auch der damalige Bundesfinanzminister Eichel auf dem Forum ‚Verantwortung für die Zukunft‘ der Dresdner Bank im März 2001 stereotyp seine Behauptung, die Steuersätze im zweijährigen Rhythmus zu senken und den Bundeshaushalt durch strikte Ausgabenbegrenzung bis zum Jahr 2006 ausgleichen zu wollen. Ab dem Jahr 2009 solle dann der Bundeshaushalt einen Überschuss von einem Prozent des Brutto-inlandsproduktes aufweisen. Den Haken bei dieser schönen Rechnung nannte Eichel auch, als er als Voraussetzung ein Wirtschaftswachstum von vier Prozent nannte. Um dies zu erreichen, fördere die Bundesregierung eine unternehmer-freundliche Steuerpolitik und eine Verbesserung der Qualität der Staatsausgaben. Wie allerdings langfristig ein Wachstum von vier Prozent durch-gehalten werden soll, konnte der Finanzminister nicht beantworten. Eine solche Wachstumsrate würde bedeuten, dass sich die Produktion alle 18 Jahre verdoppeln muss. Niemand kann aber 327 erklären, wer denn die Produkte eigentlich kaufen soll, welche in einem solchen Fall den Markt überschwemmen. Von den entstehenden Umweltproblemen einmal ganz abgesehen. 4% Wirtschaftswachstum sind über Jahre hinweg in Deutschland nicht möglich Dass es anders gekommen ist, wissen wir spätestens seit der Finanzkrise von 2008/2009. Vorher wurde noch der angebliche ‚Aufschwung‘ an die Wand gemalt, und als dann die Immobilienblase in den USA platzte, war das Finanzsystem nur durch milliarden-schwere Rettungspakete zu stützen. Die dann folgende, nie da gewesene Rekordverschuldung des Staates lässt alle Schuldenreduzierungswünsche von damals für lange Zeit unrealistisch erscheinen. Daran sieht man, wie falsch die Versprechen der Politiker und die Annahmen der Experten oft sind. Bei näherer Betrachtung ist klar ersichtlich, dass die Vorbedingungen für ein Wegsparen der Schuld beträchtlich sind. Zum einen wird ein hohes Wirtschaftswachstum gefordert, welches sich realistisch gesehen gar nicht über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten lässt. Zum anderen werden die Unternehmen und Arbeitnehmer, welche dann durch die Sparprogramme unter die Räder kommen, ganz vergessen. Es ist also klar, dass Sparmaßnahmen allein nicht die Lösung des Problems sein können, weil ohne Verschuldung im heutigen System nicht investiert wird. Doch warum wirkt diese scheinbare Problem-lösungsstrategie für viele Politiker und auch die breite Bevölkerung so einleuchtend und damit attraktiv? Es wird schlicht übersehen, dass eine komplette Volkswirtschaft nicht mit einem Einzelhaushalt verglichen werden kann. Weil beispielsweise ein überschuldeter Haushalt oder ein verschuldetes Einzelunternehmen durch Sparmaßnahmen tatsächlich seine Schulden tilgen kann, wird dieser Vorgang fälschlicherweise auf die ganze Volkswirtschaft über-tragen. 328 Es wird behauptet, dass die Schulden durch Sparpakete abbaubar wären. Dabei argumentieren die Wirtschaftswissenschaftler auf einer betriebswirtschaftlichen Ebene und sehen nicht die Volkswirtschaft im Ganzen. Der Fehler in dieser Betrachtung liegt darin, dass die den Schulden gegenüberstehenden Geldvermögen gänzlich unbeachtet bleiben. Damit überhaupt Kredite vergeben werden können, muss erst jemand bereit sein, sein Geld dafür zur Verfügung zu stellen. Genauso ist es beim Staat: Erst wenn jemand bereit ist, beispielsweise Schuldpapiere des Staates gegen Geld anzunehmen, kann sich dieser überhaupt verschulden. Es muss also immer zwei Seiten geben: Schuldner und Gläubiger. Während der Gläubiger eine Geldforderung gegen den Schuldner hat (also ein Geldvermögen), hat dieser gegenüber dem Kreditgeber eine Schuld. Die Beträge der Schulden und Geldvermögen müssen also immer gleich groß sein, und wenn eine Größe zunimmt, muss auch die andere ansteigen. Im Umkehrschluss bedeutet das allerdings, dass Schulden nur dann wirklich reduziert werden können, wenn im selben Atemzug auch Geldvermögen vernichtet werden. Das alleinige Konzentrieren auf Sparen ist eigentlich nur eine Ver-lagerung des Problems – aber keine Lösung Wenn also der Staat seine Verpflichtungen wirklich reduzieren würde, dann müssten gleichzeitig beispielsweise die Bundesschatzbriefe von Herrn Meier wertlos werden – das allein wäre wirkliche Schulden-reduzierung. Alles andere ist nur ein Verlagern des Problems von einem auf den anderen Sektor. Um also das Schuldenproblem zu verstehen, muss man sich erst einmal die Entwicklung der Geldvermögen ansehen, um zu erkennen, wie viel Kapital überhaupt verliehen werden kann und sogar verliehen werden muss. Sehr anschaulich ist der kausale Zusammenhang zwischen Geld-vermögen und Verschuldung. Beide Größen wachsen, um 329 annähernd gleiche Beträge jährlich, und das mit exponentiell steigender Geschwindigkeit. An sich wären Schulden und gleich hohe Geldvermögen kein Problem, würden daraus nicht Zinslasten für den Schuldner und entsprechende Zinsgewinne für den Geldverleiher resultieren. Wenn die Beträge darüber hinaus nicht immer schneller anwachsen, sondern auf einem stabilen Niveau bleiben würden, dann wäre die Entwicklung ebenfalls nicht besorgniserregend. Das Grundproblem liegt also darin, dass die Geldvermögen und Schulden explodieren. B.II.4 So will der Staat dem Bürger sein Geldvermögen ‚abschöpfen‘ Wenn Deutschland immer mehr Verpflichtungen eingeht, um den Euro zu retten und die Schulden der Südländer zu übernehmen, braucht der Staat irgendwann dringend Geld. Dies kann unter dem Strich nur durch eine schleichende Enteignung der eigenen Bürger funktionieren. Mit anderen Worten: Die Steuern werden erhöht. Dies kommt so sicher wie das Amen in der Kirche, wenn die Euro Krise weiter voranschreitet. Das Problem für Immobilienbesitzer: Sie sind die schnellsten und sichersten Opfer für den Staat, der an das Geld seiner Bürger will. Wenn es ernst wird, geht es Immobilienbesitzern als Erstes an den Kragen! Das war schon immer so – zum Beispiel in der 1920er Jahren: Damals war Deutschland pleite, weil es die Reparationszahlungen nach dem 1. Weltkrieg nicht mehr leisten konnte. Durch die Hyperinflation ver-suchte der Staat, sich zu entschulden. Effekt: Die Immobilienbesitzer, die Haus und Grund per Kredit finanziert hatten, waren ebenfalls ihre Schulden los – dachten sie zumindest. Dann kam das dicke Ende. 330 Die Immobilienbesitzer wurden zur Kasse gebeten: Bis zu 16% ihrer Mieteinnahmen mussten Immobilienbesitzer an den Staat abführen. Und weiter ging es nach dem 2. Weltkrieg: Ab 1949 – nach der Währungsreform – mussten alle Immobilienbesitzer, die durch die Reform Schulden verloren hatten, eine Hypothekengewinnabgabe zahlen. Das ‚Betongold‘ wird schnell zum Betonklotz am Bein. Natürlich wird es nicht nur Immobilienbesitzer treffen. Hinter den Kulissen denken die Politiker darüber nach, was nach der Bundes-tagswahl möglich wäre. So könnte eine Liste der Möglichkeiten aussehen: • Erhöhung der Einkommenssteuer: Zwei Varianten werden aktuell diskutiert. Variante 1: Der Spitzensteuersatz soll ab einem Einkommen von 100.000 Euro (Alleinstehende) beziehungsweise 200.000 Euro (Ehepaare) auf 49 Prozent steigen. Variante 2: Erhöhung des Spitzensteuersatzes von derzeit 42 Prozent linear auf 45 Prozent bei einem zu versteuernden Einkommen ab etwa 60.000 Euro für Alleinstehende. • Abschaffung des Ehegattensplittings. Dies soll „für künftige Ehen durch eine Individualbesteuerung mit Unterhaltsabzug umgestaltet“ werden. • Reichensteuer ab einem Einkommen von 125.000 (250.000) Euro in Höhe von drei Prozent (der Grenzsteuersatz erhöht sich also auf 48 Prozent). • Wiedereinführung der Vermögenssteuer. • Reform der Erbschaftssteuer. • Erhöhung der Abgeltungssteuer von derzeit 25 auf 35 Prozent. 331 • Einführung einer Finanzmarkttransaktionssteuer in Höhe von 0,05 Prozent. • Systematisierung der Mehrwertsteuersätze, was im Klartext wohl ‚Mehrwertsteuererhöhung‘ heißen dürfte. • Erhöhung der Gewerbesteuer. • Erhöhung der Körperschaftssteuer. • Prüfung des Elterngeldes auf Abschaffung. • Abschaffung der Wohnungsbauprämie. • Abschaffung der Subventionierung von Agrardiesel. • Abbau von Subventionen von Flugbenzin, sprich: Fliegen wird teurer. • Prüfung, ob Kinder und Jugendliche noch beitragsfrei in der gesetzlichen Krankenversicherung mitversichert sein können, was jährlich rund 16 Milliarden Euro kostet. • Weitere Erhöhung der Grunderwerbssteuer. Die meisten Bundesländer haben diese bereits von 3,5 auf 5 % erhöht und dadurch 6,4 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen generiert. • Besteuerung von Schachtelbe-teiligungen. • Anhebung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre. • Kürzung der Sozialleistungen (Einzelheiten werden noch diskutiert). Auslandsdividenden 332 aus • Einführung einer PKW-Maut. Und das alles wird nur der Anfang sein. Oder geht es auch anders? B.II.5 Verschwendung eindämmen Das hätte für die Bundesregierung schlimmer ausgehen können: Der Bundesgerichtshof attestiert ihr löbliche Ziele zur Begrenzung der Neuverschuldung. Aber es geht noch mehr sagen die Prüfer, und listen gnadenlos auf, wo die öffentliche Hand Millionen verschwendet. Der Bundesrechnungshof hat die schwarz-gelbe Koalition zu noch mehr Sparanstrengungen aufgefordert. Angesichts der günstigen gesamtwirtschaftlichen Situation und der Risiken der Euro-Krise sollte die Bundesregierung „in stärkerem Maße finanzielle Vorsorge“ treffen, sagte der Präsident des Bundesrechnungshofes, Dieter Engels, Dezember 2012 in Berlin. Es gehe darum, den „Defizitabbau stärker voranzutreiben“ als bislang vorgesehen. Der Bundesrechnungshof machte auch in diesem Jahr eine Reihe von Einsparvorschlägen für den Bund – im Umfang von bis zu 1,5 Mil-liarden Euro. Aus Sicht des Bundesrechnungshofes finden zu wenige Lohnsteuer-Ausprüfungen statt. Die Prüfungsquote sei gesunken, die Zahl der Prüferstellen ebenso. Von 2005 bis 2010 seien die jährlichen Ein-nahmen aus Lohnsteuer-Außenprüfungen von 911 auf 787 Millionen zurückgegangen. Außerdem zeigten die Prüfungsquoten der Länder erhebliche Unterschiede. Wenn man das optimierte, wäre ein dreistelliges Millionen-Plus möglich, rechneten die Prüfer vor. Während die staatlichen Stellen auf der Einnahmeseite zu wenig tun, sind sie großzügig – besser gesagt ‚verschwenderisch‘ auf der Aus-gabenseite. 333 So kritisieren die Rechnungsprüfer beispielweise, dass das Bundes-innenministerium seine Fachaufsicht über die ‚Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheits-aufgaben‘ unzureichend wahrnehme. Die habe nämlich „mehrfach unwirtschaftlich und teilweise unzulässig“ gehandelt. Beispiele: Für ihre Führungsspitze gab es regelmäßig Fahrzeuge mit Motorleistungen bis 260 PS. „Einige waren mit Sonderausstattungen, zum Beispiel einem Panoramaglasdach, ausgerüstet“, heißt es im Bericht des Rechnungshofs. Für die Bewirtung von Besucherinnen und Besuchern in den Jahren 2008 bis 2010 gab die Behörde insgesamt 92.000 Euro aus – etwa für externes Catering. Zum Vergleich: „Dem Bundes-innenministerium stand im gleichen Zeitraum ein Betrag von 75.000 Euro zur Verfügung.“ Die Ausstattung der Geschäftszimmer ihres Präsidenten und ihres Vizepräsidenten hat sie laut dem Rechnungshof insgesamt 23.100 Euro kosten lassen – obwohl sie nur 10.500 Euro ausgeben dürfen. B.R.-Zwischen-Kommentar: Ich frage mich, ob das Land bzw. diese Gesellschaft überhaupt diese Behörde benötigt? Ein weiteres Beispiel für Verschwendung: Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt habe 1.800 Beschäftigte, aber fast drei Mal so viele Computer, nämlich 4.350. Den Überhang von ca. 2.500 PCs konnte sie nicht erklären. B.R.-Zwischen-Kommentar: Diese Beispiele können nur beispielhaft für viele andere an dieser Stelle stehen. Diesen Handlungen behörd-licher Stellen muss ein gnadenloser Kampf angesagt werden. 1,5 Milliarden Euro sind viel Geld, doch machen wir uns nichts vor: die viel größeren Summen liegen in den politischen Entscheidungen. Karl-Heinz Däke – langjähriger Präsident des Bundes der Steuerzahler - führt in seinem Buch Die Milliarden Verschwender (2012) dazu aus: „Ich habe immer gesagt, dass 95 Prozent der öffentlichen Ausgaben sparsam und wirtschaftlich ausgegeben werden. Fünf Prozent hingegen schätzungsweise nicht. Dass sind, bezogen auf die Ausgaben von Bund, Länder und Gemeinden, 30 Milliarden Euro.“ Dies sind 334 allerdings Zahlen bezogen auf das Jahr 2004. 2012 liegt dann der Wert bei ca. 40 (?) Milliarden Euro. B.R.-Kommentar: Ohne, dass ich hier einen Beweis antreten könnte, glaube ich, dass die wahre Verschwendung noch viel gewaltiger ist, als die besagten 5 Prozent. Beispiel: Lebensmittel - Zwischen Wertschätzung und Verschwendung Jahr für Jahr landen in Deutschland 11 Millionen Tonnen Lebensmittel im Wert von ca. 25 Mrd. € von der Lebensmittelherstellung bis zum Privathaushalt im Müll. Diese Menge entspricht 275.000 Sattel-schlepper: hintereinander gestellt ergibt das die Strecke von Düsseldorf nach Lissabon und zurück. Hinzu kommen weitere ein bis zwei Millionen Tonnen Lebensmittelverluste, die in der Landwirtschaft entstehen. Verschwendung vom Acker bis zum Teller: • in der Landwirtschaft werden z.B. Salate untergepflügt, weil sie in Form, Farbe oder Größe abweichen oder zu niedrige Preise erzielen, • sensible Lebensmittel, wie Trans-port oder Lagerung, • beim Hersteller wird eine Überproduktion vernichtet, weil bei schlechtem Wetter weniger Grillwürste bestellt wurden, • der Handel entsorgt Lebensmittel kurz vor Ablauf des Mindest-haltbarkeitsdatums, • Bäckereien bieten Brot vom Vortag nicht mehr an, sondern werfen es weg, 335 Erdbeeren, verderben beim • in Kantinen müssen Buffetreste aus hygienischen Gründen entsorgt werden und • Verbraucher und Verbraucherinnen kaufen oder kochen zu viel oder lagern Lebensmittel falsch. Aus der Wertschätzung von Lebensmitteln ist inzwischen eher eine Geringschätzung geworden. Zurückzuführen ist dies auf den ständigen Preiskampf des Lebensmitteleinzelhandels in Deutschland. In der Folge sind die Ausgaben für Nahrungs- und Genussmittel von1950 mit 50 Prozent des Haushaltseinkommens auf aktuell nur noch 9,5 Prozent gesunken. Lebensmittel sind immer billiger geworden. Und die ‚Geiz ist Geil‘-Mentalität wird weiter geschürt, denn es vergeht kein Tag ohne Werbung mit neuen Sonderangeboten. Das Marketing tut ihr Übriges und hält die Idylle einer klein-bäuerlichen Landwirtschaft und eines nach traditionellen Verfahren arbeitenden Handwerks hoch. Der Trend zu Fast Food und Fertig-produkten hält ungebrochen an. Der veränderte Alltag und die Zeitknappheit haben dazu geführt, dass inzwischen über 30 Prozent der Lebensmittelausgaben in der Außer-Haus-Verpflegung erfolgen – mit steigender Tendenz. Das damit Kenntnisse und Kompetenzen der Lebensmittelauswahl, Lagerung und Zubereitung ‚auf der Strecke‘ bleiben, liegt auf der Hand. Auswirkungen auf Umwelt, Ressourcen und Versorgung: • Mit jedem weggeworfenen Lebensmittel ist ein hoher Ver-brauch an Energie, Wasser und anderen Rohstoffen in der Kette vom Anbau bis zum Handel verbunden. • Lebensmittelverluste wirken sich auch negativ auf das Klima aus. Der vermeidbare Lebensmittelmüll der EU verursacht im Jahr die gleiche CO2-Menge klimaschädliche Gase wie die Niederlande. 336 • Die Hälfte aller produzierten Lebensmittel landet nutzlos in der Tonne. In vielen armen Ländern der Erde ist dagegen die Versorgung mit Nahrungsmitteln schwierig, auch weil Acker-flächen für den Lebensmittelexport und unsere Ernährungs-gewohnheiten belegt werden. • Vermeidbare Lebensmittelverluste erhöhen die Nachfrage nach Rohstoffen wie Getreide. Dadurch steigen die Preise für wichtige Grundnahrungsmitteln, von dem arme Länder be-sonders betroffen sind. Beispiel: Gesundheitswesen - Verschwendung und Missbrauch Nach genereller Auffassung kommt bewusster, strafbarer Missbrauch im Gesundheitssystem aber nur vereinzelt vor und spielt bei den steigenden Gesundheitskosten eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist nach überwiegender Meinung die im System angelegte Ver-schwendung. Dabei werden Ressourcen falsch eingesetzt, die in anderer Verwendung mehr Nutzen stiften würden. Das Ergebnis sind Defizite in der Qualität und Wirtschaftlichkeit des Gesundheitswesens. Verschwendung äußert sich in strukturellen Überkapazitäten sowie Über-, Unter- und Fehlversorgung. Insbesondere bei den chronischen Volkskrankheiten führt sie zu suboptimalen Behandlungen und unnötigen Ausgaben. Inzwischen hat die Verschwendung beträchtliche Dimensionen erreicht. Schätzungen gehen davon aus, dass im Gesundheitssystem rund 35 Mrd. €, damit jeder vierte Euro unnötig ausgegeben werden. Formen und Verursacher der Verschwendung in den unterschiedlichen Bereichen des Gesundheitswesens: • Bei den ärztlichen Leistungen wird kritisiert, dass sie vielfach nur unzureichend wissenschaftlich abgesichert seien. Behand-lungen von Haus- und Fachärzten sowie die ambulante 337 • • • und stationäre Versorgung seien ungenügend koordiniert. Dies führe zu Verschwendung durch unnötige Doppelunter-suchungen und nicht indizierte Leistungen. Als weitere Folgen werden Therapieabbrüche und vermeidbare Behandlungsfehler genannt. Symptomatisch seien internationale Spitzenwerte bei den Röntgenuntersuchungen, bei der Dauer der Kranken-hausaufenthalte und der Zahl der Arztbesuche. Bei der Ergebnisqualität dagegen nehme Deutschland trotz hoher Kosten international keinen Spitzenplatz ein. Nach Schätzungen landen in Deutschland jährlich 4.000 Tonnen verschriebener Medikamente im Wert von mindestens 2 Mrd. € auf dem Müll. Hinzu kommt die Fehlversorgung, etwa durch den Einsatz falscher Arzneimittel, aber auch das Verhalten der Beteiligten, z. B. Nichtbefolgung der ärztlichen Anweisungen(Non-Compliance). Der Pharmaindustrie wird Innovationsschwäche vorgeworfen. Bei 92% der neuen Wirkstoffe handle es sich um Schein-innovationen ohne Zusatznutzen für den Patienten. Um das Innovationsdefizit auszugleichen und die Gewinne zu steigern, würden korruptive und illegale Praktiken wie Daten-manipulation und Fälschung eingesetzt. Studienergebnisse würden gefälscht oder gar nicht veröffentlicht, kritische Meinungen unterdrückt, über Produkte werde desinformiert. Mit finanziellen Mitteln in Milliardenhöhe würden Ent-scheidungsträger in Fachgesellschaften und Berufsverbänden, Leitlinien-Autoren bis hin zu Selbsthilfeorganisationen be-einflusst. Die Einschätzungen der Verschwendung durch Versicherte gehen weit auseinander. Einerseits wird den Versicherten ein hohes Anspruchsdenken vorgehalten. Es sei zwar individuell rational, möglichst viele Leistungen zu beanspruchen. Gesamt-gesellschaftlich führe dies jedoch zu Verschwendung, weil weniger Leistungen für eine erfolgreiche Therapie ausreichten. Die schlechte Befolgung ärztlicher Anweisungen, 338 • • • • • der Arzneimittelberg und die hohe Zahl von Erstbesuchen bei Ärzten verursache unnötige Mehrkosten. Die Gesundheitsbranche ist ein Nicht-Markt, der sich nicht über das Verhältnis von Angebot und Nachfrage reguliere. Große Bedeutungen werden dem fehlenden Preismechanismus und der Informationssymmetrie zwischen Arzt und Patient beigemessen. Auch sei der kranke Patient in aller Regel kein souveräner Konsument. Die Nachfrage nach Gesundheits-leistungen werde daher weitgehend von den Anbietern bestimmt. Ärztliche Behandlungsleistungen sind nach Auffassung der Kritiker vielfach unzureichend wissenschaftlich abgesichert und koordiniert. Ökonomische Anreize führten dazu, dass Patienten trotz mangelnder Kompetenz oder Zuständigkeit weiterbehandelt würden. Ärzte und andere Akteure, einschließlich Krankenkassen, hätten sich nicht ausreichend um Qualität und Effizienz gekümmert. Bei den Versicherten verleite das Sachleistungs- und das Solidarprinzip dazu, sich nicht mit den ökonomischen Folgen ihres Handels auseinander zu setzen. Die Individualisierung des Nutzens bei kollektivierten Kosten führe zu einem Verant-wortungsvakuum und einer Freifahrermentalität. Als Folge manifestiere sich Verschwendung in drei Verhaltensformen des Versicherten. Zum einen verhalte er sich risikoerhöhend, d. h. er habe kein gesteigertes Interesse an präventivem Verhalten, da mögliche gesundheitliche Schäden ‚kostenfrei‘ abgedeckt seien. Zum anderen neige er zu preiserhöhendem Nachfrageverhalten. Danach würden nur teure Leistungen als gute Leistungen gesehen und in Anspruch genommen. Außerdem trete im Schadensfall ein mengenerhöhendes Verhalten auf nach dem Motto „Je mehr, desto besser“. Die Verschwendung bei Arzneimitteln wird auf unter-schiedliche Fehlsteuerungen und Fehlallokationen wie die Festsetzung des Arzneimittelpreises oder ärztliches 339 • Ver-ordnungsverhalten mit der Verordnung teurer anstelle wirtschaftlicher Arzneimittel zurückgeführt. Sie beruhten z. T. auf ordnungspolitischen Regelungen. Patienten wird fehlende Compliance vorgeworfen. Die Forschung der Pharmaindustrie sei am Gewinn orientiert, nicht an der Bekämpfung von Krankheiten. Aus Umsatz-gründen würden vorrangig Life-Style-Produkte für Gesunde entwickelt. Für echte Krankheiten, gar in der 3. Welt, werde fast nicht geforscht. Die Politik habe ihre Hausaufgaben ebenfalls nicht immer oder nicht rechtzeitig gemacht (Beispiel: Abbau überflüssiger Kranken-hausbetten). Mit der strikten Budgetierung habe sie überdies zur hermetischen Abschottung der Sektoren im Gesundheitswesen beigetragen, die viel Geld koste. Beispiel: Euro Hawk - Der Rüstungs-Sumpf Der Euro-Hawk-Flop zeigt: Die Liste misslungener Rüstungsprojekte der Bundeswehr ist lang. Kritiker fordern eine transparentere Einkaufspolitik. Der 680 Millionen teure Skandal um den Euro-Hawk zeigt die strukturellen Probleme der Beschaffungspolitik im Ver-teidigungsministerium. Diese Pleiten haben in Deutschland eine lange Tradition. Man kann es sich natürlich einfach machen. So wie Peer Steinbrück. Er kommt „zu der Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland keiner Drohnen bedarf“. Punkt. Allerdings hat der SPD-Kanzlerkandidat dabei übersehen, dass die Bundeswehr längst Drohnen im Einsatz hat (zur Aufklärung in kleinerem Radius), und dass es Steinbrücks Parteifreunde Scharping und Struck waren, die als Verteidigungsminister dafür sorgten, dass die hochfliegende Lang-strecken-Drohne ‚Euro Hawk‘ überhaupt ins Programm kam. Und schon unter Scharping und Struck war bekannt, dass ‚Euro Hawk‘ erhebliche Schwierigkeiten wenn nicht mit der Technik, dann zumindest bei der luftverkehrsrechtlichen Zulassung haben würde. 340 Gleichwohl wurde munter geplant und konstruiert - und viel Geld ausgegeben. Insofern muss Thomas de Maizière sich für etwas rechtfertigen, dass er gar nicht bzw. nur zum Teil zu verantworten hat. Wenn er jetzt die Schuld für das aktuelle Desaster seinen Staatssekretären zuschiebt, die ohne sein Wissen das Drohnen-Projekt gestoppt hätten, macht er es sich allerdings auch etwas einfach. Eine „solche Entscheidungsfindung auf Staatssekretärsebene“, so de Maizière, sei wohl in den „vergan-genen Jahren und Jahrzehnten gelebte Tradition des Verteidigungs-ministeriums zu Rüstungsangelegenheiten“, gleichwohl „nicht in Ordnung“. Ein Minister ist politisch verantwortlich für das, was sich in den Leitungsebenen seines Hauses abspielt, also auch de Maizière. Jeder Politiker, der sich auch nur am Rande mit Wehrpolitik beschäftigt, weiß um die ewigen Kalamitäten bei praktisch allen großen Rüstungsprojekten der Bundeswehr. Vor knapp drei Jahren erst beklagte Generalinspekteur Volker Wieker die enorme Ver-schwendung im Rüstungsbereich und forderte eine „grundlegende Reform des Beschaffungskreislaufs“. Geschehen ist seitdem nichts außer dass das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung einen neuen Namen bekommen hat. Es firmiert aber immer noch als Obere Bundesbehörde mit vielen, über das ganze Land verstreuten Dienst-stellen und einem entsprechenden Eigenleben auch gegenüber der vorgesetzten Abteilung im Verteidigungsministerium. Der kürzlich publik gewordene Korruptionsverdacht in Zusammenhang mit der Beschaffung mehrerer Gewehrtypen, die den Anforderungen der Truppe keineswegs genügten, ist da nur eine von vielen Blasen in einem kaum noch trocken zu legenden Sumpf. Beispiel: Subventionen – Stütze der Wirtschaft oder Verschwendung? Seit vielen Jahren werden im Institut für Weltwirtschaft die Subventionen in Deutschland erfasst. Als Subventionen werden 341 Steuervergünstigungen und Finanzhilfen, die die Allokation der Ressourcen verzerren, definiert. Danach belief sich die Höhe der Subventionen 2010 in Deutschland auf 163,6 Milliarden Euro. Es gibt jedoch keine allgemein verbindliche und/oder anerkannte Definition dessen was als Subvention anzusehen ist. In der Volkswirtschaftslehre wird überwiegend ein eher weiter Begriff der Subvention zugrundegelegt der auch Steuerund Gebühren-ermäßigungen oder -befreiungen und Sozialleistungen umfasst. In der politischen Diskussion werden unterschiedliche Subventionsbegriffe oft zum Instrument der Argumentation gemacht was dem Gebot politischer Redlichkeit nur dann entspricht wenn die jeweilige Argumentationsbasis offengelegt und begründet wird. Nach der Zielsetzung lassen sich 3 Arten von Subventionen unter-scheiden: • Förderungssubventionen : Unter-nehmensneugründungen Förderung von (z.B.) • Anpassungssubventionen : Vereinfachung von Anpassungs-prozessen denen Betriebe ausgesetzt sein können • Erhaltungssubventionen : Erhaltung wirtschaftlicher kultureller und landeskultureller Strukturen, z.B. in der Landwirtschaft und im Bergbau. Nach der Methode der Subventionierung lassen sich unterscheiden: • Direktzahlungen: Der Subventionsempfänger erhält Geld-zahlungen wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen • Steuerermäßigungen und -befreiungen: Der Subventions-empfänger muss bestimmte Steuern nur zu einem ermäßigten Steuersatz oder gar nicht bezahlen wenn bestimmte Voraus-setzungen vorliegen 342 • Kreditverbilligungen: Der Subventionsempfänger erhält für bestimmte Zwecke Kredite von Banken unter öffentlichem Einfluss deren Kreditzinsen unterhalb der marktüblichen liegen. • Übernahme externer Kosten: Vom Subventionsempfänger verursachte externe Kosten werden von der Allgemeinheit getragen. Dieser Aspekt spielt vor allem in der Umweltpolitik eine Rolle. Andere ordnungspolitische Eingriffe des Staates (wie beispielsweise staatliche Preisfestsetzungen durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz) werden nicht als Subventionen bezeichnet. Argumentation Pro Subventionen: • Einkommen: Subventionen stützen Einkommen oder die Produktion. • Marktpreise: Durch Subventionen lassen sich Marktpreise beeinflussen. • Politischer Zweck: Durch Subventionen lässt sich ein politisch erwünschter Zweck fördern. Contra Subventionen: • Eingriff in das Marktgeschehen: Subventionen greifen in das natürliche Marktgeschehen ein und bringen es aus dem Gleichgewicht. • Verschwendung: Durch Subventionen werden Unternehmen am Leben gehalten deren Produkte vom Markt nicht (mehr) gewünscht werden. Steuergelder werden verschwendet. 343 • Modernisierung: Subventionen verhindern dass veraltete Industrien absterben und moderne Industrien wachsen können. Hohe Subventionsausgaben in Deutschland sind dafür mit-verantwortlich, dass dem Staat Geld für seine Kernaufgaben (Bildung Infrastruktur Sicherheit Rechtsprechung) fehlt. • Fehlsteuerung: Oftmals werden Subventionen weiter gezahlt wenn der ursprüngliche politische Zweck nicht mehr gegeben ist. Rechtliche Problematik: Der unter den Contra-Argumenten genannte Eingriff in das Marktgeschehen, der durch Subventionen bewirkt, wird dann zum rechtlichen Problem, wenn der Freihandel rechtlich gesichert ist wie es innerhalb der Europäischen Union und zwischen den Vertragsstaaten der Welthandelsunion (WTO) der Fall ist. Deswegen enthält Artikel 87 des EG-Vertrages ein grundsätzliches Verbot von Subventionen (im Sprachgebrauch der Europäischen Union: Beihilfen) das jedoch durch eine Reihe von Ausnahmetatbeständen durchbrochen wird. Gewährt ein Mitgliedsstaat Subventionen, die diesem Verbot zuwiderlaufen, schreitet die Europäische Kommission ein. Innerhalb der Welthandelsunion schränkt das über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1994 Nr. L 336 S. 156) die Zulässigkeit von Subventionen einschließlich steuerlicher Subventionen stark ein. Sowohl innerhalb der Europäischen Gemeinschaft wie auch zwischen den Vertrags-staaten der Welthandelsunion kommt es häufig zu Konflikten über Exportsubventionen, die von einzelnen Staaten gewährt werden, um ihrer heimischen Wirtschaft Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Weitere Gesichtspunkte: • Neben Subventionen stellen ungleiche gesetzliche Vor- und Abgaben auf einem bestehenden (zunehmend globalen) Markt einen Eingriff in das Marktgeschehen dar. 344 • Bei einigen sogenannten ‚Subventionen‘ übersteigt der Verwaltungskontrollaufwand bei weitem das was heute beim ‚Subventionsempfänger‘ ankommt. Publizität: Die deutsche Bundesregierung ist gesetzlich verpflichtet im zweijährlichen Abstand über die Subventionen des Bundes dem Bundestag zu berichten. Die Auseinandersetzung um die ver-schiedenen Subventionsbegriffe findet sich auch dort wieder. Beispiel: Brüsseler Bürokratie Meldung am 7. Februar 2013: Europa blickt heute nach Brüssel. Die 27 Staats- und Regierungschefs verhandeln im zweiten Anlauf darüber, wie viel Geld die Union zwischen 2014 und 2020 für Landwirte, Studenten, Infrastrukturmaßnahmen, Forschung und ihre EU-Beamten ausgeben darf. Regierungskreise in Berlin machen klar, dass sie nicht mehr als ein Prozent des BIP an Brüssel abtreten will. Das heißt, Deutschland will nicht mehr als die bisherigen 21 Milliarden pro Jahr an die EU überweisen. Der entscheidende Haken ist jedoch, dass Berlin zukünftig weniger als die bisherigen etwa 12 Milliarden wieder zurück bekommen wird, weil die Förderung der Regionen im Osten in den kommenden Jahren ausläuft. Das Geld aus dem lukrativen Topf für die regionale Entwicklung fließt bis 2020 vorrangig in den Osten und Süden der Gemeinschaft. Ja, Deutschland muss in dem gemeinsamen ‚Haus Europa‘ solidarisch mit den armen Regionen sein. Die große Frage ist allerdings, ob der Weg der richtige ist. Selbst Deutschland bekommt ja schließlich 12 Milliarden wieder zurück. Aus vielen europäischen Töpfen schöpfen auch deutsche Kommunen gerne Geld für allerlei Dinge ab. Das Ergebnis kann der interessierte Betrachter überall beobachten: Schilder mit der Aufschrift, dass dieses oder jenes Projekt mit Mitteln der EU gefördert wurde – selbst Kleinstprojekte von wenigen tausend Euro. Und wer bearbeitet Töpfe und Projekte: Bürokraten von Brüssel über 345 Berlin, den Landesregierungen bis hin zu den Verwaltungen in Kreisen und Kommunen. Da wird einem bei dem Bericht der Welt am Sonntag richtig ‚warm ums Herz‘: „4.365 EU-Beamte verdienen mehr als die Bundes-kanzlerin“. Im Herbst vergangenen Jahres war Großbritanniens Premierminister mal wieder ‚not amused‘ über die Bürokratie in Brüssel. Hunderte EU-Beamte verdienten im Monat mehr als ein Regierungschef, schimpfte David Cameron vor den Haushalts-beratungen und forderte: „Damit muss Schluss sein“. Nur hat Cameron neuen Berechnungen zufolge untertrieben: Es sind nicht Hunderte, sondern mehrere Tausend EU-Beamte, die jeden Monat mehr Geld nach Hause tragen als der Premier oder dessen deutsche Kollegin Angela Merkel. Dies berichtete die Welt am Sonntag. Mitsamt der Zulagen – etwa für Schulgeld oder die Haushaltsführung – könne schon in der 13. von 16 Gehaltsstufen das Einkommen eines Regierungschefs erreicht werden. So komme ein älterer verheirateter Beamter mit Kind als Referatsleiter auf rund 16.000 Euro brutto im Monat, das entspreche etwa dem Kanzlergehalt. In der Be-soldungsstufe 13 und darüber arbeiteten Mitte 2012 4.365 EU-Beamte, darunter 1.760 in den Gehaltsstufen 14,15 oder 16. Die 79 Generaldirektoren in der höchsten Besoldungsstufe stellten selbst den Bundespräsidenten locker in den Schatten. Bei der Europäischen Union sind rund 46.000 Frauen und Männer beschäftigt. B.R.-Kommentar: Europa ja! Brüsseler Bürokratie nein! Die Brüsseler Bürokratie muss auf den Kopf gestellt werden. 10.000 Frauen und Männer müssen reichen! Mehr dazu in Kapiteln B.V.4.1. Beispiel: Industrie und Fertigung 346 Die sieben Arten der Verschwendung in der Produktion: Auch in der modernen Produktionstechnik spricht man von Verschwendung (Japanisch Muda). Abgeleitet vom Lean-Gedanken, der dem Toyota Produktionssystem (TPS) entspringt, unterteilt man in sieben Arten der Verschwendung bei der Herstellung oder Veredelung von Produkten: • Korrekturen (Correction) • Überproduktion (Overproduction) • Bewegungen (Motion) • Materialbewegungen (Material movement) • Wartezeiten (Waiting) • Bestände (Inventory) • Verarbeitung (Processing) Zu den sieben klassischen Arten der Verschwendung (7V) kommen die erweitere Arten der Verschwendung, die vor allem in indirekten und administrativen Bereichen vorkommen (aber nicht nur dort). Die Verschwendung in einem Unternehmen belastet nicht nur dieses, sondern auch seine Kunden. Dazu gehört auch der Staat mit seinen Investitionsaufträgen. Das Unternehmen versucht natürlich seine ‚Unzulänglichkeiten‘ wenn irgend möglich über den Preis abzuwälzen. B.II.6 MehrWert: Mit weniger, mehr erreichen Es muss für die Politik und Verwaltungen ein eherner Grundsatz werden, die Verschwendung in den nächsten 10 Jahren zu halbieren! 347 Das wird nicht leicht und bedeutet, Courage zeigen und Verantwortung übernehmen. Ich glaube aber zudem, dass daneben ein weiterer Ansatz treten muss: Mit weniger, mehr erreichen! Es geht nicht nur um die politische Entscheidung mehr Geld für die Bildung und weniger im Sozialbereich auszugeben, sondern zusätzlich um die Frage, wie ich einem MehrWert schaffe, z.B. investiere ich in die Gebäudehülle Schule oder in die Zahl und Qualität der Lehrer. Die Beantwortung solcher Frage-stellungen müssen rational und nicht ideologisch beantwortet werden. Wie bereits ausgeführt, erlebe ich als Bürger und Steuerzahler die Schuldenproblematik und ihre Bewältigungsohnmacht vor Ort ganz hautnah. In der Berichterstattung der örtlichen Tagespresse zu dieser Thematik habe ich mich mit einem Leserbrief eingemischt, den ich hier wiedergebe: Bravo Ulf Hillebrecht Stellungnahme zum TAH-Bericht „Stadtrat verordnet sich mehr Ausgabendisziplin beim Haushalt“ vom 20.10.2012 „Woher nehme ich das Geld für die Ausgaben?“, so Ratsherr Ulf Hillebrecht. Für jeden Bürger ist das eine immer wiederkehrende Frage und gelegentlich muss so mancher Wunsch der Antwort - dafür fehlt mir das Geld - weichen. In der großen und kleinen Politik hat man sich in den letzten Jahrzehnten – wenn auch unterschiedlich – um diese Frage und erst recht die Antwort gedrückt. Die Schuldenberge sind immer weiter angewachsen. Dass wir als europäische Gesellschaft inzwischen an Grenzen gestoßen sind bzw. diese überschritten haben, erfahren Bürger und Parlamentarier täglich. Die Erkenntnis, dass man nur jenes Geld ausgeben kann, was man hat, ist der Kern des Antrages von Ulf Hillebrecht. Der Antrag hat eine breite Mehrheit gefunden – das ist gut. Für mich stellt sich allerdings die Frage, ob aus dieser Selbstverpflichtung auch Taten folgen. Zweifel sind da angebracht. So zeigte sich SPD-Fraktionsvorsitzende Marlies Grebe verwundert darüber, „dass eine Einzelperson diesen Antrag stelle“. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Herr 348 Hillebrecht ganz bewusst diesen Weg gesucht hat, weil sein Antrag in der Fraktionsund Mehrheitsgruppenmaschenerie im Ergebnis zerrieben worden wäre. Und damit bin ich bei den Grünen. Der Antrag, so Fraktionsvorsitzender Peter Ruhwedel sei „höchst populistisch, politisch falsch und vor allem blauäugig“. Und: Er sei unpraktikabel und hemme in der Praxis die Arbeit der Politik und der Verwaltung, sorge für Unruhe in der Verwaltung und schade dem Bürger. Ja, die Arbeit der Politik wird im Sinne der Selbstverpflichtung zur Haushaltsdisziplin schwieriger. So manch lieb gewonnenes Politikprojekt/-geschenk bleibt dann wohl auf der Strecke. Die Beurteilung, ob das gut oder schlecht für meine Mitbürger und den Wähler ist, muss ich ihnen überlassen. Mit einem Blick auf die Finanzsituation des Kreises, siehe dazu die TAH-Berichte vom 20.10.2012 „Kreis senkt strukturelles Fehl um 1,1 Millionen Euro“ und „Landtagswahlkampf schwappt in den Holzmindener Kreistag“, fordern SPD und Grüne vom Land Niedersachsen eine bessere Finanzausstattung für den Landkreis Holzminden. Adressat: die jetzige Landesregierung. Nun mag es richtig sein, dass der Landkreis Holzminden im Vergleich zu anderen Landkreisen in der Vergangenheit und Gegenwart schlechter weggekommen ist. Mir drängt sich allerdings der Verdacht auf – und hier beziehe ich mich auf Aussagen der beiden Kreistags- und Landtagsmitglieder Sabine Tippelt und Christian Meyer in meiner Anwesenheit – dass die Beseitigung der Schulden im kommunalen Bereich dadurch gelöst werden sollen, indem man der nächsthöheren Ebene in die Tasche greift. In drei Monaten sind Landtagswahlen, SPD und Grüne wollen erklärtermaßen die jetzige Regierung ablösen. Ob die genannten Personen als Regierungs-fraktionsmitglieder dann auch die Forderung stellen? Schließlich ist das Land Niedersachesen ja auch über beide Ohren verschuldet. Bliebe ja noch der Bund – doch schade, da ist auch nichts zu holen, droht da doch ab 2016 die Schuldenbremse. Und die Solidarität mit einigen europäischen Partnern wird den Druck noch erhöhen. Fazit: Es ist gut, dass es Einzelpersonen gibt, die ihren Kopf aus der Fraktionsdecke herausstrecken. Aber über die Parteigrenzen hinweg ist umgehend eine Konsolidierung und Nachhaltigkeit der Finanzen, insbesondere des Kreises, erforderlich. Die Kernfrage lautet dabei für mich: „Erzeugt eine Ausgabe X einen (finanziellen) Mehrwert? Die Antwort darauf ist eine schwierige, vielleicht auch auf den ersten Blick unpopuläre Arbeit. Eine Zusammenarbeit aller Ebenen würde meines Erachtens die Erfolgsaussichten steigern. Es wird sicherlich ein langer Weg werden – er wäre für die Politik leichter begehbar, wenn man den Bürger stärker dabei einbinden würde. Bernd Rojahn, Holzminden, 23.10.2012 349 Was verstehen wir unter Mehrwert bzw. Mehrwertstrategien? ‚Mehr-wert‘ ist durchaus ein schillernder bzw. mehrdeutiger Begriff. Ver-suchen wir uns heranzutasten. Mehrwertstrategie ist ein Begriff aus der Betriebswirtschaft und gehört zur Absatzpolitik oder zum Marketing eines Unternehmens. Im Wettbewerb zwischen den Marktteilnehmern nimmt die reine Preis-politik an Bedeutung ab. Bei der Mehrwertstrategie geht es darum, dem Kunden greifbare und messbare Mehrwerte zu bieten, die ihm auf irgendeine Art und Weise konkret dienlich sind. Im Bereich Finanzdienstleistung haben sich Mehrwertstrategien als Differenzierungs- und Bindungsinstrument etabliert. Eine leicht ver-gleichbare Leistung wie etwa das Girokonto wird durch Mehr-wertleistungen erweitert. Dadurch steigt die Wertanmutung des Produkts und die Vergleichbarkeit mit Wettbewerbsangeboten wird erschwert. Mehrwert bezeichnet bei Marx den Wert der Arbeitskraft hinaus-gehende Teil der Wertschöpfung. In der Marxschen Arbeitstheorie bezeichnet Mehrwert den Teil der Wertmenge, den der Lohnarbeiter durch seine Arbeit produziert und der über den Ersatz des Wertes seiner Arbeitskraft und der eingesetzten Produktionsmittel hinausgeht, also die für den Kapitalismus spezifische Form des Mehrprodukts. An dieser Stelle scheint es mir angebracht, eine Abgrenzung zur Wertschöpfung vorzunehmen. Der heutige Begriff der Wertschöpfung entspricht dem Marxschen Neuwert. Die Wertschöpfung ist die Differenz des Wertes aller von einer Unternehmung verkauften Produkte (Produktionswert oder Umsatz) abzüglich der dafür be-nötigten Vorleistungen und Abschreibungen (das konstante Kapital bei Marx) – für ein bestimmtes Jahr gerechnet. Dieter Suhr bezeichnet den von Silvo Gesell definierten „Urzins“ als „Mehrwert des Geldes“. Urzins ist in der Freiwirtschafts-Theorie die Bezeichnung für einen Zinsanteil, der in einer Wirtschaft mit 350 Geldgebrauch allen Zinsforderungen zugrunde liegt. Gesell führte den Urzins auf die höhere Begehrtheit des Zahlungsmittels Geld zurück, das seinem augenblicklichen Besitzer auf einem Markt von Angebot und Nachfrage Wahlfreiheit und Überlegenheit verschafft zu Lasten derer, die Waren oder ihre Arbeitskraft anzubieten haben. Der Duden definiert: (Wirtschaft) Zuwachs an Wert, der durch ein Unternehmen erarbeitet wird. Die ‚Perspektive Mittelstand‘ definiert: Es sind die Menschen, die den Erfolg eines Unternehmens ausmachen. Angefangen vom Unter-nehmer, dem Chef, über seine Mitarbeiter bis zu den Kunden. Zwischen diesen Menschen bewegt sich jedes Geschäft – egal, ob es sich um ein Produkt oder um eine Dienstleistung handelt. Und genau darauf baut Kundenbindung und der Erfolg eines Unternehmens auf. Und zu guter Letzt - umgangssprachlich so viel wie: zusätzlicher (öko-nomischer, finanzieller) Nutzen. Wie wir sehen gibt es mehrere Definitionen von MehrWert. Wie aber ist er im Sinne dieses Abschnitts gemeint? Dazu müssen wir zuerst einmal festhalten, welche Aufgaben z.B. die öffentlichen Ver-waltungen von Gemeinden haben. B.II.6.1 Kommunale Selbstverwaltung Ich möchte der Wertwertdefinition drei Begriffe der kommunalen Selbstverwaltung in den Vordergrund zuordnen: Öffentliche Verwaltung, Kommunalpolitik und Haushalt. Kommunale Selbstverwaltung ist als Grundlage des Staatsaufbaus ein wesentlicher Bestandteil unserer Demokratie. Diese bürgernahe Er-ledigung öffentlicher Angelegenheiten kennzeichnet unser demo-kratisches Staatswesen und ergänzt neben dem Föderalismus die vertikale Gewaltenteilung. Die Kommunen dürfen ihre Angelegen-heiten selbst verwalten. Deshalb haben sie ein sogenanntes 351 ‚Aufgabenfindungsrecht‘: Eine Kommune kann alles Mögliche zur kommunalen Aufgabe machen – den Verleih von Regenschirmen beispielsweise, die kostenlose Ausgabe von Verhütungsmitteln oder auch die Bereitstellung öffentlicher Duschen. Aber umsonst sind diese Sachen nicht zu haben: Alles muss bezahlt werden. Die öffentliche Verwaltung begreift sich als „Summe aller Einrichtungen und organisierten Wirkungszusammenhänge, die vom Staat, den Gemeinden und den von ihnen geschaffenen öffentlich-rechtlichen Körperschaften zur Erledigung öffentlicher Aufgaben unterhalten werden“ (Ellwein). Ziel der Verwaltung ist es, das Wohl der Bürger zu fördern. Dabei hat die öffentliche Verwaltung zwar vorwiegend Pflichtaufgaben zu erfüllen, die ihr durch Gesetze und anderen Rechtsvorschriften auferlegt sind. Diese sind nicht abzuändern und können auch nicht gestrichen werden. (Halt! Formal ist das korrekt – ist aber deshalb schon unabänderlich?) Die Verwaltung verfügt darüber hinaus auch über ein Maß an freiwilligen Aufgaben, die je nach Bedarf erweitert oder reduziert werden können. Die Aufgaben ordnen sich schwerpunktmäßig wie folgt: • • • • • Ordnungsverwaltung: Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch Abwehr drohender Gefahren, z.B. Regelung des Straßenverkehrs; Leistungsverwaltung: Gewährleistung und Verbesserung der Lebensbedingungen der Bürger durch Unterstützung einzelner (z.B. Sozialhilfe) oder Bereitstellung öffentlicher Einrichtungen (z.B. Schulen); Gewährleistungsverwaltung: Sicherstellung der Leistungs-erbringung durch Private; Lenkungsverwaltung: Förderung und Steuerung des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens; Abgabenverwaltung: Beschaffung erforderlicher Geldmittel aus Steuern und Abgaben; 352 • Bedarfsverwaltung: Beschaffung von Personal und Sachmitteln für Verwaltungstätigkeit Außerdem unterscheidet man zwischen: Ordnungs-, Dienstleistung-, Organisations-Verwaltung sowie politischer und wirtschaftlicher Verwaltung. An dieser Stelle interessiert uns insbesondere die wirtschaftliche Verwaltung. Die wirtschaftliche Verwaltung umfasst vor allem das Verwalten der Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Sie ist dabei an geltende Rechtsvorschriften streng gebunden, es spielen dabei auch Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit, Effektivität und Ertrag eine bestimmende Rolle. Die persönliche Einschätzung der Verantwortungsträger spielt bei der Interpretation der Rechtsvorschrift eine Rolle, damit der Leitgedanke der Vorschriften, einer erfolgreichen Tätigkeit, vollzogen werden kann. Während die Verwaltung quasi ‚vollzieht‘, gestaltet die Kommunal-politik. Beide sind dem Bürger in ihrer Arbeit verpflichtet. Kommunalpolitik ist die politische Arbeit in Gebietskörperschaften auf der kommunalen Ebene von Gemeinden bzw. Städten oder in Landkreisen und Verwaltungsbezirken, sowie Stadtbezirken, Stadtteilen oder Ortsteilen. Die Städte und Gemeinden der Bundesrepublik Deutschland haben das im Art. 28 Abs. 2 GG garantierte Recht auf kommunale Selbstverwaltung, d.h. sie können ihre eigenen Angelegenheiten im Rahmen der Gesetze selbst und eigenverantwortlich regeln und entscheiden. Dafür werden von den Bürgern Gemeindevertretungen und Bürgermeister gewählt. Städte und Gemeinden haben elementare Bedeutung für das Leben ihrer Bewohner. Durch die Art, wie sie ihren Anforderungen gerecht werden, beeinflussen sie die soziale und wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Das bedeutet große Verantwortung für die gewählten Gemeindevertreter, denen das Grundgesetz ein hohes Maß an Autonomie zur Erfüllung ihrer Aufgaben gewährt. Die Aufgaben selbst werden ihnen wiederum von Bund und Ländern zugewiesen, denen die 353 Kommunen staatsrechtlich untergeordnet sind. Für den kommunalen Mandatsträger wird es jedoch zusehends schwerer, die Aufgaben wahr-zunehmen, die die Gemeindeordnungen den kommunalen Ver-tretungskörperschaften übertragen. Dies engt den kommunal-politischen Handlungsspielraum unnötig ein und ermöglicht es Technokraten, sich auf vermeintliche Sachzwänge zu berufen! Der Haushaltsplan verbindet Kommunalpolitik und Verwaltung. Der Haushaltsplan enthält alle für das nächste Haushaltsjahr die von juristischen Personen des öffentlichen Rechts veranschlagten Haushaltseinnahmen und –ausgaben (Kameralistik) bzw. Erträge und Aufwendungen (Dopik) sowie Verpflichtungsermächtigungen, Plan-stellen und Stellen aller Verwaltungen sowie spezifische Haus-haltsvermerke. Bei deutschen Gebietskörperschaften spricht man von einem Gemeindehaushalt, Kreishaushalt, Landeshaushalt, Bundes-haushalt oder Staatshaushalt. Für Gemeinden laufen Experimente, den Haushalt in Abstimmung mit Bürger zu erstellen (Bürgerhaushalt). Der Haushaltsplan ist die Grundlage für die Haushalts- und Wirt-schaftsführung. Art und Umfang der zu erbringenden Leistungen einer Gebietskörperschaft werden durch den Haushaltsplan festgelegt. Bei der Aufstellung und Ausführung ist den Erfordernissen des gesamt-wirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen. Nach dem Grundsatz der Einheit sind alle zu erwartenden Einnahmen, voraussichtlich zu leistenden Ausgaben und voraussichtlich benötigten Verpflichtungsermächtigungen in einem Haushaltsplan zu erfassen. Das allgemein geltende Gesamtdeckungsprinzip (§ 8 LHO) kann im Haushaltsplan durchbrochen werden, wenn dort die Verwendung von Einnahmen für bestimmte Zwecke zugelassen wird. Leider haben viele Gebietskörperschaften in der Vergangenheit von der Ausnahme reichlich Gebrauch gemacht, mit der Folge steigender Verschuldung. 354 Wie kann Politik und Verwaltung einer Kommune im Rahmen ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben zukünftig mit weniger Geld mehr als heute erreichen? B.II.6.2 Wertschöpfung vs MehrWert – Beispiel: Campe Der Begriff Wertschöpfung wird in der Volkswirtschaftslehre im Rahmen des Inlandskonzeptes bei Betrachtung der im Inland erstellten Produktion durch Einsatz in- und ausländischer Produktionsfaktoren verwendet. Dies wird zur Messung des Bruttoinlandsprodukts genutzt. Dabei geben die Wertschöpfungsdaten Aufschluss darüber, welchen Anteil eine einzelne Branche oder ein einzelnes Unternehmen zur gesamtwirtschaftlichen Leistung beigetragen hat. Daraus lassen sich indirekt Aussagen über den Strukturwandel machen. Allgemein wird in der Literatur Wertschöpfung als die Wertgröße beschrieben, um die der Output den Input übersteigt, also eine durch den Transformationsprozess entstehende, dynamische (Strom-) Größe. Eine höchstmögliche, maximale betriebliche Wertschöpfung (Gewinn) zu erzielen sollte das Ziel ökonomischen Handelns sein. Wert-schöpfung ist – in einer Geldwirtschaft – das Ziel produktiver Tätigkeit. Diese transformiert vorhandene Güter/Dienstleistungen in Güter/Dienstleistungen mit höherem Geldwert. Das Volkseinkommen ist die Summe aller Nettowertschöpfungen, also der aus Produktionstätigkeit entstandenen Einkommen. Das Sozial-produkt umfasst alle volkswirtschaftlichen Endprodukte abzüglich der Roh- Hilfs- und Betriebsstoffe vom gesamten Produktionsergebnis, also dem Reinertrag der Produktion (Wertschöpfung aller Pro-duktionsfaktoren in der Betrachtungsperiode). Das Bruttosozial-produkt erfasst nicht alle wirtschaftlichen Aktivitäten einer Volkswirtschaft. Als unvollkommenes Maß erfasst es nicht die Wertschöpfung der Hausarbeit (beispielsweise Backen eines Kuchens), der Kindererziehung, der Schattenwirtschaft (Schwarzarbeit, Illegales wie 355 Drogenhandel usw.), der Do-it-yourself-Bewegung. Subsistenzwirtschaft und der Unternehmerisches Ziel ist es, den Gewinn zu steigern. Eine Möglichkeit besteht darin, die Wertschöpfungstiefe zu reduzieren. Bei der Reduktion der Wertschöpfungstiefe geht es darum, Leistungen auf Zulieferer oder externe Dienstleister zu verlagern. Die Reduktion der Wertschöpfungstiefe ist unter dem Stichwort Outsourcing bekannt. Beim Outsourcing werden unternehmensübergreifende Wert-schöpfungsketten gebildet, d.h., es findet eine Arbeitsteilung zwischen Unternehmen statt, sodass Spezialisierungs- und Größenvorteile wahrgenommen werden können. Für das einzelne Unternehmen, welches Funktionen und Leistungen auslagert, bedeutet dies über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg betrachtet eine Reduktion der gesamten Komplexität. Porsche beispielsweise hat eine Fertigungs-tiefe, die bei den Sportwagenmodellen 911 und Boxster etwa 20%, beim Cayenne 10% und bei dem 2009 erschienenen Modell Panamera etwa 15% beträgt. Ein Unternehmen mit einer vergleichsweise hohen Fertigungstiefe ist dagegen VW, das z.B. unter anderem eine haus-eigene Gießerei im Werk Hannover besitzt. Mehr oder weniger verbirgt sich hinter jedem Endprodukt /Dienstleistung eine Wertschöpfungskette, die ständig einem Wandel unterworfen ist. Welche Wirkungen hat das aber auf die Staats-einnahmen – kurz- und langfristig? Der Wandlungsprozess hat natürlich Auswirkungen auf die Steuereinnahmen des Staates. Es gibt ständig unendliche Minus- und Pluszeichen. Generell lässt sich aber sagen: Gesunde, d.h. wettbewerbsfähige Unternehmen sorgen letzt-endlich für hohe Steuereinnahmen. Eine Kommune kann ihre Steuereinnahmen bei einer Investitions-entscheidung natürlich beeinflussen, z.B. im Bereich der erneuerbaren Energien (siehe B.VI.5.1). Bei der Mehrwertstrategie geht es weniger darum die Steuer-einnahmen zu erhöhen, vielmehr darum, dem Bürger greifbare und messbare Mehrwerte zu bieten, die ihm auf irgendeine Art und 356 Weise konkret dienlich sind – und zwar mit den begrenzten Finanzmitteln, die der Kommune heute und morgen zur Verfügung stehen, ohne sich weiter zu verschulden. Ich möchte hier ein aktuelles Beispiel (Bau eines neuen Gymnasiums) aus meiner Gemeinde schildern: Die Grundsatzentscheidung für ein neues Campe-Gymnasium an der Wilhelmstrasse hat noch der alte Kreistag vor mehr als zwei Jahren getroffen – nach kontroversen Diskussionen zu einem Umzug in das vorhandene Schulzentrum Holzminden an der Liebigstrasse, der Gründung einer Bürgerinitiative und der immer wieder aufbrandenden Frage, wie kann der Kreis Holzminden alles finanzieren? 15 Millionen Euro, so der Wunsch der Kreistagsabgeordneten, sollte das Limit sein –so die Vorgeschichte. Inzwischen liegen die verabschiedeten Architektenpläne auf dem Tisch. Meldung vom 23. Januar 2013: Hamburg hat seine Elbphilharmonie, Berlin seinen Großflughafen und die Stuttgarter ihren Bahnhof – Fässer ohne Boden eben. Der Landkreis Holzminden will für’s Campe-Gymnasium genau das vermeiden. Deshalb wird er für den Neubau einen Projektsteuerer beauftrage. (…) Der Kreis Holzminden kann es sich nicht leisten, dass die Baukosten für das Gymnasium explodieren. Noch aber gibt es keine Kostenschätzung von den Architekten. Mehr als 20 Millionen dürfen es aber auf keinen Fall sein. Meldung vom 24. Januar 2013: Der Kämmerer des Kreises Holz-minden verfügt vor allem über eines: leere Kassen. Und aus denen muss bezahlt werden, was lange nicht angepackt wurde. Vor allen Dingen in den Schulen besteht Investitionsbedarf in Millionenhöhe. (..) Nach ersten Zahlen des Kämmerers schnellt der Kreditbedarf in diesem und nächsten Jahr auf 35 Millionen Euro. Die Kom-munalaufsicht des Landes Niedersachsen hat dem Kreis im letzten Sommer aber die Daumenschrauben angelegt und die Gesamt-Netto-kreditaufnahme auf 25 Millionen Euro gedeckelt. Die Kreispolitiker stehen jetzt vor der schwierigen Frage, wie spart man zehn Millionen? 357 Meldung vom 16. März 2013:Jetzt liegt er auf dem Tisch: Auch 2013 wird der Kreis Holzminden tiefrote Zahlen schreiben. Einnahmen in Höhe von 103 Millionen Euro stehen 111 Millionen an Ausgaben gegenüber. Dazu kommen 6,4 Millionen Euro aus Investitionen, die voll über Kredite finanziert werden müssen. Die bedrückende Bilanz: Der in den letzten Jahren aufgestaute Haushaltsfehlbetrag wird bis Ende des Jahres auf 62,8 Millionen Euro klettern. Bis 2016 werden es 69,7 Millionen minus sein. Meldung vom 24. April 2013: Wird sich die Schullandschaft nach der Niedersachsenwahl ändern? Die rot-grüne Mehrheit im nieder-sächsischen Landtag will die Einrichtung von Integrierten Gesamtschulen verändern. Meldung vom 21. Juni 2013: Das Schulgutachten: Über allen Schulen schwebt ein Fragezeichen. Es lässt an Deutlichkeit nichts vermissen. Und es hat den Kreispolitikern Hausaufgaben mitgegeben, die sie viel zu lange in der Schublade ließen. (…) Es dürfte spannend werden im Kreis Holzminden. Meldung vom 29. Juni 2013: Der Holzmindener Kreisausschuss hat in seiner Sitzung weitere Planungsaufträge für das Holzmindener Gymnasium erteilt. Und die Landrätin hat dagegen Einspruch erhoben. Jetzt soll die die Kommunalaufsicht in Hannover (mit)entscheiden wie es weitergeht mit der Neugestaltung der Kreis-Holzmindener Schullandschaft. Meldung vom 11. Juli 23013: Wirtschaftlichkeitsvergleich wird jetzt geprüft. Meldung vom 20. Juli 2013: Das wird ein heißer schulpolitischer Sommer: Nach dem Gutachten – das Campe passt in das Schulzentrum – das neue Campe kostet 24,8 Millionen Euro – und dem Veto der Landrätin, formiert sich der erwartete Widerstand. Die Bürger-initiative: Ein gutes, erfolgreiches Gymnasium kann es nur am jetzigen Standort (Wilhelmstrasse) geben. Aber: 25 Millionen Euro für 358 den Campe-Neubau sind zu viel. Wir bekommen es nur hin, wenn das Campe weniger als 20 Millionen kostet. Dazu drei Ideen. Meldung vom 13. August 2013: (Mit Blick auf die bevorstehende Bundestagswahl) Die Positionen der Grünen: 25 Millionen sind eine sinnvolle Investition. Meldung vom 14. August 2013: Regierungsdirektor Warlitz von der Kommunalaufsicht warnt im Kreisausschuss vor einer massiven Über-schuldung. Meldung vom 27. August 2013: SPD: Wir müssen mit den Campe-Kosten runter – wir streben ein Gesamtkonzept für die Schulen im Kreis Holzminden (bei dramatisch abnehmender Schülerzahl) an. Meldung vom 27.August 2013: Wird jetzt schöngerechnet? Ehrlichkeit sollten die Kreis-Holzmindener hier und jetzt von ihren Kreispolitikern erwarten können. Meldung vom 29. August 2013: Die zukünftige Gestaltung des Campe-Gynasiums ist derzeit Thema Nummer eins in der Kreispolitik. Aber auch die anderen Schulen im Landkreis müssen saniert, brandsicher oder einfach regendicht gemacht werden. Und das kostet Geld. Die Zahlen liegen nun vor: mindestens 24 Millionen Euro. Und was gilt nach der Bundestagswahl? B.II.7 Ein neuer Ansatz – Basis: Leistungswille, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit MehrWert-Finanzen nachhaltig gestalten heißt: „Nur was (fast) allen nutzt, kann dauerhaft Gewinn abwerfen“. Der Schuldenstand sagt nicht immer etwas über die Qualität der Politik in der jeweiligen Kommune aus. Er ist aber jedoch ein Indiz, welche politischen und strukturellen Probleme die Kommunen in Zeiten der 359 Krise, der unzureichenden kommunalen Finanzierung sowie der anstehenden Schuldenbremse entgegen sehen müssen. Strukturwandel, eine rückläufige und alternde Bevölkerung sowie knappe Kassen stellen die Kommunalpolitik vor große Heraus-forderungen. Sie lassen sich am ehesten meistern, wenn alle Beteiligten, außer den Parteien auch Vereine, Verbände, die örtliche Wirtschaft und Bürgerinitiativen, bereit sind, sich zu engagieren, zusammenzuarbeiten und gegebenenfalls neue Wege zu beschreiten. Bei den Pflichtaufgaben haben die Kommunen relativ wenig Spiel-räume. Oft ist nicht nur vorgegeben, ob die Aufgabe erledigt werden muss (Pässe ausstellen), sondern auch, wie sie ausgeführt werden soll (einheitliche Pässe und bestimmte Bearbeitungsfrist). Wenn ‚Ob‘ und ‚Wie‘ festgelegt sind, spricht man von Auftragsangelegenheiten. Stehen ‚Ob‘ und ‚Wie‘ der Kommune völlig frei, so handelt es sich um eine freiwillige Aufgabe. Die freiwilligen Aufgaben sind das Herzstück der Kommunalpolitik. Hier geht es um Lebensqualität: Um Parks, Grünflächen und Bau-vorhaben, um Theater, Museen und Orchester, um Kinderkrippen und Jugendeinrichtungen, um Sportplätze, Schwimmhallen und Freibäder, um den Öffentlichen Nahverkehr, um Bibliotheken und Freizeit-angebote. Je knapper das Geld, desto mehr geraten diese freiwilligen Aufgaben in Bedrängnis, denn vor der Kür kommt die Pflicht. Ausgehend von der momentanen Rechtslage sehe ich nur einen Ansatz, der Gemeinden auf Dauer wieder mehr Spielräume für die Gestaltung ermöglicht: „Mit weniger Geld mehr erreichen!“ Damit sind wir wieder bei den obigen Ausführungen zum ‚Mehrwert‘. Wie kann ein Betrag X einen Mehrwert für den Bürger erzeugen? An welchen Kriterien messen wir das? • • • Fundament schaffen Bedürfnisse klären Transparenz erzeugen 360 • • Potenziale nutzen Beständigkeit bieten Die Synergieeffekte sind dann am größten, wenn sich politisches Handeln - in dem jeweiligen Fachbereich an den drei Basis-MehrWert-Säulen orientiert: Basis: MehrWert durch Stärkung des Leistungswillen Das Fundament einer Gesellschaft ist die Gemeinschaftsleistung. Ein gemeinsamer Leistungswille bildet die Grundlage für das ver-antwortungsvolle Miteinander und Leben. Pioniergeist, Kompetenz und Leistungswille sind nicht zuletzt Voraussetzung für politische und wirtschaftliche Stabilität. Die Kombination von Leistungswille und Lernfähigkeit vieler – möglichst aller Individuen - befähigen eine Gesellschaft die öko-nomischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen zu meistern. Basis: MehrWert durch mehr Chancengerechtigkeit Derzeit wird die Diskussion durch die Frage geprägt: „Was ist gerecht?“ Zum Beispiel bei der Frage nach einer gerechten Entlohnung. Hier sei stellvertretend der Mindestlohn erwähnt. Dahinter steht das Ziel der Herstellung größtmöglicher Gleichheit. Wichtiger ist aber die Frage nach der Chancengerechtigkeit! Menschen sollen von Anfang an die Chance haben, durch ihre Leistung und ihr Engagement an der gesellschaftlichen Entwicklung teilzuhaben. Dafür braucht es institutionelle Arrangements, die ihnen bestmögliche Startbedingungen gewährleisten. Chancengerechtigkeit ermöglicht jedem Individuum den breiten Zugang zu Entwicklungspotenzialen. Ob und in welchem Ausmaß sie diese nützen, liegt in ihrer Freiheit und in ihrer Verantwortung. Heute sind die Chancen ungleich verteilt. Das ist nicht nur nicht gerecht, es ‚fesselt‘ Potenziale, die der Gesellschaft als Ganzes fehlen. Deshalb: Alle Individuen und Institutionen müssen einen fairen bzw. 361 gerechten Zugang zu sozialen Gütern und Positionen ermöglicht werden. Basis: Mehrwert durch Nachhaltigkeit Gesellschaft, Staat, Unternehmen und das Individuum stehen heute vor vielschichtigen Problemen: Eine davon heißt Nachhaltigkeit. Kaum ein Thema treibt und derzeit so stark an wie dieser Schlüsselbegriff für umsichtiges Wachstum. Jeder ist dazu aufgerufen, die begrenzten Ressourcen effizienter zu nutzen, um Lebensqualität und Umwelt miteinander zu vereinen. Nachhaltigkeit leitet sich aus kulturellen, sozialen, organisatorischen und wirtschaftlichen Zielen ab. Eine nachhaltige Entwicklung ist, gemäß der Definition der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung von 1987, eine Entwicklung die „Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass zukünftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“. Nachhaltigkeit bedeutet Lösungen, die ökonomischen Erfolg, ökologisches Gleich-gewicht und soziale Verantwortung zusammenführen. Auf allen Ebenen wird nachhaltiges Wirtschaften als Corporate Sustainability verstanden. Nach dem Drei-Säulen-Modell muss die jeweilige Ebene ihre Aktivitäten darauf ausrichten, „die Beiträge der Ebene zu den sozialen, ökologischen und ökonomischen Nach-haltigkeitsanforderungen“ systematisch zu optimieren. Je besser eine Ebene ihre Identität und ihre Ziele in ihr tägliches Handeln übersetzt, desto wertschöpfender und werthaltiger ist das Ergebnis. B.R.-Kommentar: Deutschland ist ein Land voller Möglichkeiten, voller Potenziale. Es ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt, mit technologisch starken Unternehmen, gut ausgebildeten Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern, mit vielen kreativen Köpfen. Es ist ein Land, das die Herausforderungen unserer Zeit meistern könnte. Die gesellschaftliche Modernisierung bedarf aber neuer Impulse! 362 B.III Ansätze der Veränderung Mögen die Staatseinnahmen auch noch so sehr steigen, die Ausgaben liegen immer wieder höher. Allein seit 1996 ist die Habenseite der öffentlichen Hand kontinuierlich angewachsen – parallel dazu stiegen aber auch die weit darüber liegenden Ausgaben. Nach Berechnungen der StiftungMarktwirtschaft müsste jeder heute lebende Bundesbürger bis an sein Lebensende monatlich 260 Euro zusätzlich zu Steuern und Abgaben zahlen, wollte man von dem über Jahrzehnte angehäuften Schuldenberg herunterkommen. Wir bräuchten insgesamt hundert Jahre, um die bis heute angehäuften Schulden abzubauen – vorausgesetzt, es würden keine neuen Schulden gemacht, die Inflation wäre stabil und das Wirtschaftwachstum läge kontinuierlich bei 1,5 Prozent. Wachstum ist also unerlässlich, um überhaupt staatliche Leistungen noch in den Blick nehmen zu können. Und selbst dann kann es im Grunde keine zusätzlichen Ausgaben geben, wenn nicht an anderer Stelle gekürzt wird. Es kann aber nicht darum gehen, blind zu kürzen! Vielmehr geht es darum, die zur Verfügung stehenden Mittel effizienter einzusetzen! Die ‚Alles wird gut – Strategie‘ von Kanzlerin Merkel mag zurzeit den Nerv der Deutschen in ihrer Mehrheit treffen. Und Optimismus ist eine der Voraussetzungen, den notwendigen Wandel auch angehen zu können. Doch Optimismus allein reicht nicht aus den richtigen Weg einzuschlagen. Welche Ansätze der Veränderung sind also erforder-lich, damit dem Optimismus nicht letztendlich Lügen gestraft wird? B.III.1 … ein Blick zurück auf Deutschland 363 Die derzeitige komfortable wirtschaftliche Lage Deutschlands ist eine Momentaufnahme und ist kein Grund zur Selbstzufriedenheit. Das verdeutlicht auch ‚ein Blick zurück‘, den der Präsident der Deutschen Bundesbank, Dr. Jens Weidmann, beim Neujahrsempfang des Ver-bandes der Automobilindustrie am 30. Januar 2013, wirft: (…) Die Entwicklung in der deutschen Automobilindustrie in den letzten 20 Jahren steht beispielhaft für den Weg der deutschen Volkswirtschaft insgesamt. Nach dem Ende des Wiedervereinigungsbooms war die Automobilindustrie 1993 in einer Krise. Deutschland war nach der Wiederveinigung ebenfalls in eine schwierige wirt-schaftliche Lage geraten. Es gab Strukturprobleme, sinkende Wettbewerbsfähigkeit, hohe Arbeitslosigkeit, angespannte Sozialsysteme und wachsende Haushaltsdefizite. Nach Beginn der Währungsunion und dem Platzen der Dotcom-Blase nahmen die Probleme zunächst noch zu. Deutschland galt manchen schon als Verlierer der Währungsunion oder gar als kranker Mann Europas. Doch Unternehmen, Tarifpartner und die Politik haben große Anstrengungen unternommen, um die Probleme zu bewältigen und verlorene Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen. Die Politik hat mit der Agenda 2010 und den Arbeitsmarktreformen als ihrem Kernstück wesentliche Beiträge geleistet. Mitentscheidend für den Erfolg all dieser Bemühungen und das wirtschaftliche Wiedererstarken war und ist aber auch die gelungene Sozialpartnerschaft. Maßvolle Tarifanschlüsse haben die Konkurrenz-fähigkeit der Unternehmen gestärkt und so die Rentabilität erhöht – nicht nur, aber auch in der Automobilindustrie. Die Arbeitnehmerseite profitierte ebenfalls. Bestehende Arbeitsplätze wurden gesichert, neue Arbeitsplätze geschaffen, und mit dem wiederkehrenden unternehmerischen Erfolg stiegen auch die Einkommen, in vielen Fällen aufgrund von beachtlichen Erfolgsprämien. Ein weiterer Baustein des Erfolgs sind seit dem ‚Porzheimer Abschluss‘ im Herbst 2004 gängigen Tariföffnungsklauseln zur Beschäftigungssicherung und nicht zuletzt die Hersteller selbst, die Forschung und Entwicklung entschlossen vorangetrieben haben. In gewisser Weise ist Nachahmung das ehrlichste Kompliment von allen. So gesehen stellen die jüngst vorgestellten Reformen des französischen Arbeitsmarktes den deutschen Ansatz ein sehr gutes Zeugnis aus. (…) Mag die Situation Deutschlands als Ganzes heute im Vergleich zu seinen europäischen Partnern gut sein, so muss an dieser Stelle doch nochmals darauf verwiesen werden, dass dieser Prozess neben den 364 Gewinnern auch Verlierer mit sich gebracht hat. So berechtigt Zu-versicht und ein gesundes Selbstvertrauen angesichts der derzeitigen Lage auch sind: Die Zukunft hält genug Herausforderungen bereit. Und so mag es nicht verwundern, dass die Bundeskanzlerin in ihrer Neujahrsansprache im Zusammenhang mit der Schuldenkrise die Wettbewerbsfähigkeit nochmals angemahnt hat. Wir müssen die Krise als Chance begreifen! B.III.2 Ansätze der Veränderung Die Ansätze der Veränderung müssen letztendlich einen Gleichklang der gesellschaftlichen Grundstruktur-Elemente Leistung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit erbringen. Wie fühlen sich die Menschen in unserem Land und was wünschen sie sich für ihr Leben? Veränderung muss bei den Menschen selbst beginnen. Das Buch Die erschöpfte Gesellschaft (2013)von Stephan Grünewald ist nicht nur Analyse, sondern auch ein Appell: Wir finden zu neuer Lebensautonomie, wenn wir unseren Lebensstil hinterfragen und unseren Lebenssinn neu entdecken. Nur der Mut immer wieder neu zu träumen kann uns aus dem alternativlosen Weiterso des Ham-sterrades befreien und schöpferische Kräfte wecken. Das Träumen ist die Voraussetzung für Kreativität und Innovation. Denn in seinen besten Zeiten war Deutschland stets das Land der Träumer und Querdenker. Viele Wirtschaftsexperten befürchten oder hoffen, je nach Standpunkt, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem die aktuelle Krise nicht übersteht. Der Harvard-Professor James A. Robinson beurteilt die Lage ganz anders: „Der Kapitalismus ist per se instabil. Aber Krisen haben ja auch etwas Positives. Nicht umsonst gibt es den Begriff der 365 schöpferischen Zerstörung.“ Daher ist Robinson überzeugt, dass unser Wirtschaftssystem nach der Krise noch stärker ist als vor der Krise. Für einige ist dies eine Drohung, für andere ein Hoffnungsschimmer. Den erforderlichen Wandel gibt es fast nie freiwillig. Wenn sich eine Volkswirtschaft in einer Sackgasse befindet, folgt selten ein sanfter Richtungswechsel. Eine Krise, die ‚schöpferische Zerstörung‘, muss dafür sorgen, dass sich die Denk- und Sichtweise ändert und die knappen Güter besser eingeteilt werden. Auch in Europa muss es einen radikalen Wechsel geben. Zum Beispiel muss der aufgeblähte Finanzsektor schrumpfen. Es kann nicht sein, dass die Bankbilanzen in Zypern, Irland oder Malta 6 bis 8 Mal so groß sind wie die Wirtschaftsleistung der gesamten Volkswirtschaft. Es wird und muss auch weiterhin einen starken Finanzsektor geben, aber die Relation zwischen Finanz- und Realwirtschaft muss stimmen. Die Banken dürfen ihre Bilanzen nicht mit heißer Luft aufblähen. Auch der Sozialbereich muss die Erkenntnis, dass man nur das Geld ausgeben kann welches man auch erwirtschaftet, genüge tun. Deshalb muss generell gelten: Wir müssen jede Kostenstelle der Sozial-haushalte von Staat und Wohlfahrtsverbänden auf den Kopf stellen, nicht um weniger Menschen zu helfen sondern mehr Menschen! Dies kann gelingen, • • • • • wenn Sozialleistungen nur bei Gegenleistungen – soweit möglich – erbracht werden; wenn benachteiligte Menschen früher aus ihrer Benach-teiligung herausgeholt werden können; wenn dabei der Grundsatz ‚Inklusion statt Selektion‘ umgesetzt wird; wenn nicht therapierbare Menschen in der Mitte der Gesell-schaft ‚aufgenommen‘ werden; wenn alle Menschen, die Vollzeit arbeiten, von ihrem Lohn zukünftig leben können; 366 • wenn mehr Steuergerechtigkeit herrscht, ohne das Gesamt-steueraufkommen – durch Steuererhöhungen - zu erhöhen. Pressemitteilung vom 17. Februar 2013: Billige Arbeit - Amazon, das sind wir. Wie lange wird der Zorn auf Amazon anhalten? Einen Tag? Zwei Tage? Vielleicht drei? Eine Fernsehreportage über die mise-rablen Arbeitsbedingungen in den deutschen Logistikzentren des Onlinehändlers hat eine wahre Wut entfacht. Doch vermutlich wird sich die Aufregung sehr schnell wieder legen, werden die Kunden morgen schon wieder den Bestseller bei Amazon ordern oder den Laptop zum Schnäppchenpreis. Die Menschen neigen nun mal dazu, es sich bequem zu machen, auch beim Einkaufen. Nicht viel nachdenken, auf den Preis schauen, auf den Bestellknopf drücken - fertig. Wo die Ware herkommt, unter welchen Bedingungen sie gefertigt, verpackt und geliefert wird, ist den meisten Kunden egal. Was zählt, ist der eigene Nutzen. Und der definiert sich in der Geiz-ist-geil-Welt eben über den Preis: möglichst billig. Arbeitskraft wird schnell zu einem Wegwerfposten. Sehr treffend überschreibt das Kölner Institut für Handelsforschung eine kürzlich veröffentlichte Studie mit dem Satz „Die Kunden haben entschieden: Amazon ist Deutschlands Top Online-Shop 2013“. Amazon, das sind also wir. So wie wir Lidl, Zara, Kik und all die anderen Händler sind, die Ware zu Niedrigpreisen anbieten. Wir wollen das so, sonst hätten diese Firmen am Markt keine Chance. Wer ein T-Shirt für 3,95 Euro kauft, muss wissen, dass es nicht unter anständigen Bedingungen entstanden sein kann. Und wo Produkte zur Ramschware werden, da wird eben auch die menschliche Arbeitskraft schnell zu einem Wegwerfposten. Für die Näherinnen aus Bangladesch, Indonesien oder anderen Schwellenländern bedeutet das, dass ihre Löhne für das tägliche Leben nicht reichen. Kinderarbeit, menschenunwürdige Bedingungen in den 367 Fabriken, erzwungene Überstunden, Schikanen, Gesundheitsschäden und Umweltverpestung - das alles ist der Preis, den andere für uns zahlen. Übrigens nicht nur für Billigwaren. Auch in Zulieferbetrieben, die für Premium-Marken wie Adidas oder Nike fertigen, sind die Arbeitsbedingungen oftmals schlecht. Der Technologiekonzern Apple geriet unlängst wegen der Arbeitsbedingungen bei seinen Zulieferern in China und auch wegen der schlechten Umweltstandards seiner Computer unter Beschuss. Mal ist es der Konkurrenzdruck, mal die Rendite, die Firmen ins billigere Ausland treibt. Meldungen dieser Art gibt es immer wieder, ohne dass die Kunden merklich reagieren. Von Käuferstreik keine Spur. Doch zu einem guten Wettbewerb gehört die Macht der Verbraucher. Sie können etwas verbessern, indem sie verzichten. Leider geschieht das nur selten. Beim Lebensmittel-Discounter Lidl hat das erfreulicherweise gut funktioniert. Als der für seinen rüden Umgangston gescholten wurde und heftige Kritik wegen der Bespitzelung von Mitarbeitern einstecken musste, stellten ihn Politiker, Gewerkschafter und Verbraucher an den Pranger. Die Firma zog die Notbremse, erhöhte die Löhne, durch-leuchtete die Führungsstruktur und informierte die Öffentlichkeit besser. Heute ist das Image des Discounters so gut wie noch nie. Es fehlt auch der politische Druck. Denn die Bürgermeister in den zumeist wirtschaftlich schwachen Regionen freuen sich, wenn einer wie Amazon in den Logistikzentren Arbeitsplätze schafft. Besser schlecht bezahlte Jobs als gar keine. Und dass Amazon zu Stoßzeiten wie etwa im Weihnachtsgeschäft Arbeitslose für wenige Wochen auf Probe beschäftigen darf, ohne sie zu bezahlen, das ist legal. Im Amtsdeutsch ist das eine betriebliche Trainingsmaßnahme. Der Staat zahlt weiter Arbeitslosengeld. Alles geregelt im Sozialgesetzbuch (SGB III). Die Politik hat noch andere Unarten hoffähig gemacht. Dazu gehört die Leiharbeit, die von der rot-grünen Bundesregierung ausgebaut wurde. Amazon nutzt das ausgiebig, ebenso wie den Einsatz von Aushilfen, die die Firma relativ kurzfristig wieder kündigen kann geregelt im BGB. 368 Wenn aber Arbeiter aus Spanien oder Polen nahezu zwei Wochen ohne Ruhetage durcharbeiten, verstößt das gegen das deutsche Arbeits-zeitgesetz. Die Arbeiter wehren sich nicht, weil sie das Geld brauchen und die deutschen Gesetze nicht kennen. Dann ist es wichtig, dass die bei Amazon festangestellten Mitarbeiter die Rechte einfordern. Im Amazon-Logistikzentrum in Graben bei Augsburg haben sie das getan - und erstmals einen Betriebsrat gewählt. Steuergerechtigkeit ja – mehr Steuern nein! Im Blick zu halten ist, dass die Leistungsträger der Gesellschaft nicht noch stärker in die Pflicht genommen werden können. Damit sind nicht diejenigen gemeint, die millionenschwere Jahreseinkommen nach Hause tragen oder von ihren üppigen Kapitaleinkünften leben, sondern die, die durch ihren persönlichen Einsatz ihren Lebensunterhalt (durchaus auch gut) verdienen. Leistungsträger sind durchaus solidarisch. B.R.-Kommentar: Wir dürfen uns also nichts vormachen: Deutschland geht es gut, ist ordentlich durch die Krise gekommen – und lebt dennoch über seine Verhältnisse. Um soziale Gerechtigkeit herzu-stellen, können nicht einfach neue Ausgaben ersonnen werden. Niemand sollte im Wahlkampf den Eindruck erwecken, es sei schlicht eine Frage des guten Willens, mehr für soziale Gerechtigkeit zu tun. Es geht vielmehr darum, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu fördern. Sonst ist der Spielraum für alles Soziale am Ende weit geringer als heute. B.III.3 Wettbewerbsfähigkeit und Effizienz – Wertschöpfen ohne Verschwendung ‚Wettbewerbsfähigkeit‘ und ‚Effizienz‘ – zwei schillernde Begriffe. Was sagen sie eigentlich aus? Die Fähigkeit im internationalen Wettbewerb zu bestehen umfasst eine volkswirtschaftliche und eine unternehmerische Dimension. Wettbewerbsfähigkeit bedeutet in der Betriebswirtschaftslehre, dass Unternehmen an den für sie relevanten 369 nationalen oder internationalen Märkten ihr Waren- bzw. Dienst-leistungsangebot mit Gewinn absetzen können. Es spielen hierbei sowohl Preisfaktoren wie auch Entwicklung, Standort, Forschung, Service, Qualität eine Rolle. Als wirtschaftspolitisches Schlagwort bezieht es sich auf die Rangordnung von ganzen Volkswirtschaften, und zwar in der Hauptsache im Hinblick auf die Unternehmen be-günstigenden wirtschaftsgeografischen und institutionellen Rahmen-bedingungen. Ihre Ausprägung kann in Welthandelsstatistiken abgelesen werden, so beispielsweise die Rolle der Bundesrepublik Deutschland, gemessen am Welthandelsumsatz oder am, auf den Pro-Kopf der Bevölkerung, saldierten Import und Export. Effizienz ist das Verhältnis zwischen einem definierten Nutzen und dem Aufwand, der zu dessen Erreichung notwendig ist. Also ein Beurteilungskriterium, mit dem sich beschreiben lässt, ob eine Maßnahme geeignet ist, ein vorgegebenes Ziel in einer bestimmten Art und Weise zu erreichen. Zum Beispiel Produktion: technisches Kriterium, nach dem Güterbündel partiell geordnet werden. Umwelt-ökonomik: Entscheidungskriterium, das von mehreren ökologisch gleich wirksamen Maßnahmen diejenige auswählt, die mit den geringsten volkswirtschaftlichen Kosten verbunden ist. B.III.3.1 „Wir müssen wettbewerbsfähiger werden!“ „Wir müssen wettbewerbsfähiger werden!“ Zu Beginn der Glo-balisierung war das der meistgeäußerte Spruch. Über-raschenderweise benutzt ihn neuerdings wieder unsere Bundeskanzlerin bezogen auf die Schuldenkrise. Leider ohne nähere Erläuterungen. Was könnte sie gemeint haben und welche Effekte ergeben sich daraus? Annahme 1 - Wir sollten unser Geld und unsere Arbeitskraft produktiver nutzen - bei gleichem Aufwand (Geld und Personal) mehr 370 und bessere Produkte/Dienstleistungen zu schaffen. Effekt: Arbeitsplatzsicherheit, Gewinnsteigerung. Mehr Produkte bedeuten größeren Ressourcenverbrauch. Also eher weniger als mehr Produkte. Gut ist allerdings das Schaffen von besseren Produkten im Sinne von weniger Ressourcenverbrauch, mehr Sicherheit und größerer Langlebigkeit. Steuereinnahmen und Abgaben verstetigen sich. Annahme 2 - Lohnkosten senken. Effekt: konkurrenzfähiger im Aus-land, damit können mehr Produkte verkauft werden. Im Inland wird allerdings die Kaufkraft gesenkt, was wiederum weniger Absatz bedeutet, abgesehen davon, dass Wohlstandsniveau sinkt. Steuer-einnahmen steigen weniger stark; Abgaben sinken. Annahme 3 - Deutschland sollte wettbewerbsfähiger sein gegenüber seinen europäischen Partnern in der Eurozone. Effekt: Die Ungleichgewichte werden noch größer. Folge: Euro-Krise wird verschärft. Deutschland kann möglicherweise seine Neuverschuldung beenden. Euro könnte auseinanderbrechen – mit unabsehbaren Folgen. Annahme 4 - Die europäischen Partner sollten wettbewerbsfähiger gegenüber Deutschland werden. Effekt: Eine der Grundprobleme der Eurokrise wird entschärft. Folge: Deutschland verliert auf den Auslandsmärkten seine derzeitigen Vorteile. Daraus folgen Gewinn-minderung der Unternehmen und in deren Folge Arbeitsplatzabbau und weniger Steuereinnahmen des Staates. Die lohnabhängigen Abgaben für die Sozialkassen sinken. Annahme 5 - Europa als Ganzes sollte wettbewerbsfähiger gegenüber den Schwellenländern werden: Effekt: Insbesondere transnationale Großkonzerne und der deutsche exportorientierte Mittelstand pro-fitieren. Stärkung des europäischen Binnenmarktes, Minderung der europäischen Arbeitslosigkeit, Stärkung der finanziellen Grundlagen, Entschärfung der Schuldensituation. Dagegen steht das Modell der Stärkung des Binnenmarktes. Er ist nicht nur weit größer als der Exportmarkt, sondern viel entscheidender für 371 das Wohlergehen unserer Bevölkerung und unsere (weniger export-orientierten) mittelständischen Betriebe. Das Problem ist nur, dass wir im Binnenmarkt uns nicht nur auf das Verkaufen konzentrieren dürfen, sondern mit gleicher Intensität auch der Schaffung von Kaufkraft. Wir erkennen sehr schnell, dass alles mit allem zusammenhängt. Dass es dabei positive und negative Effekte gibt, dass es Gewinner und Verlierer gibt. Es gibt nicht den einen Lösungsansatz. Entscheidend ist, ob es insgesamt das Wohlergehen der Bevölkerung in Deutschland, Europa und darüber hinaus dient. B.R.-Kommentar: Generell können wir aber festhalten, dass wir den verschwenderischen Einsatz aller Ressourcen – Arbeitskraft, Kapital und natürliche Ressourcen – beenden müssen! B.III.3.2 Wir müssen unsere Ressourcen besser nutzen Europa hat viele Jahrzehnte Wohlstand und Wohlergehen genossen, die auf der intensiven Nutzung von Ressourcen beruhten. Doch heute steht es vor der doppelten Herausforderung, das Wachstum anzuregen, das erforderlich ist, um seinen Bürgerinnen und Bürgern Be-schäftigungsmöglichkeiten und Wohlergehen zu bieten, und sicher-zustellen, dass die Qualität dieses Wachstums zu einer nachhaltigen Zukunft führt. Damit diese Herausforderungen in Angriff genommen und als Chancen genutzt werden können, muss unsere Wirtschaft innerhalb einer Generation grundlegend umgestaltet werden - in Bezug auf Energie, Industrie, Landwirtschaft, Fischerei und Verkehrssysteme, in Bezug auf das Verhalten von Erzeugern sowie von Ver-braucherinnen und Verbrauchern und in Bezug auf technische Innovationen. Wird diese Umgestaltung rechtzeitig, vorhersehbar und kontrolliert vorbereitet, so können wir unseren Wohlstand und unser Wohlergehen weiter ausbauen und gleichzeitig unseren 372 Res-sourcenverbrauch und die Auswirkungen auf die Ressourcen verringern. B.III.3.3 Wir brauchen mehr kluge Köpfe und Anreize im Berufs- und Wirtschaftsleben Eine Studie der Robert Bosch Stiftung zeigt, dass die Zahl der potenziellen Arbeitskräfte bis 2030 um 12 Prozent sinken wird. Was muss getan werden, damit wir in Deutschland auch in Zukunft noch genügend Fachkräfte haben? Wir müssen die Menschen stark machen, sie mit Kompetenzen und Fähigkeiten ausstatten. Für mich gibt es drei Hauptaspekte. Der erste Punkt ist Bildung. Es ist enorm wichtig, Bildungsarmut zu vermeiden und möglichst wenig Geringqualifizierte zu haben. Wir müssen viel für Aus- und Weiterbildung tun, vom lebenslangen Lernen nicht nur sprechen, sondern es auch umsetzen. Zum zweiten muss Deutschland attraktiver werden für gut ausgebildete Arbeitskräfte. Wir brauchen viel mehr kluge Köpfe aus aller Welt und müssen auch im Inland mehr Hochqualifizierte halten. Die dritte große Baustelle sind Erwerbs-anreize für Ältere und Frauen. Wir müssen bessere Rahmen-bedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schaffen, uns aber auch darum kümmern, dass Betriebe das Erfahrungswissen von älteren Arbeitnehmern hinreichend nutzen. Wir müssen etwas dafür tun, dass es nicht zu einem erhöhten Vorruhestand Hoch-qualifizierter kommt. B.III.4 Beispiele der Veränderung 373 Beispiel politische Strukturen: Bremen erstickt in der Finanznot und kommt auf keinen grünen Zweig. Anders als andere Länder leidet Bremen nicht unter Bevölkerungsverlust, die Ausgaben für Bildung und Soziales dürften deshalb eher noch steigen. Fraglich ist allerdings, ob die Notlage noch das Aufrechterhalten einer eigenständigen teuren Landesverwaltung rechtfertigt. Der hannoversche Wirtschaftswis-senschaftler Stefan Homburg erklärte: „Es führt kein Weg an einem Zusammenschluss von Niedersachsen und Bremen vorbei. Nun sollten zügige Verhandlungen zwischen Bremen und Niedersachsen über eine Fusion beginnen. Das Ziel sollte sein, teure Doppelstrukturen aufzulösen – das betrifft Behörden, Kammern und auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.“ Ich habe bereits in meinem ersten Buch „Tu was!“(2000) auf notwenige Veränderungen der politischen Strukturen hingewiesen. Karl-Heinz Däke, Präsident des Bundes der Steuerzahler, hat in seinem neusten Buch „Die Milliarden Verschwender“ (2012) ebenfalls auf eine Zusammenlegung von Bundesländern verwiesen, allerdings mit dem wichtigen Hinweis, dass eine Zusammenlegung laut Grundgesetzt … in einer Volksabstimmung gebilligt werden muss. Bekanntlich sind die Bemühungen der Länder Berlin und Brandenburg an dieser Hürde gescheitert. Hier kommt auf die Bürgerinnen und Bürger in der Zukunft eine große Verantwortung zu. Beispiel ärztliche Versorgung: Nach der neuen Einteilung der neuen Bezirke für den Augenärztlichen Notdienst wächst aus Protest der Patienten im Landkreis Holzminden. Außerhalb der normalen Sprechzeiten müssen sie bis nach Göttingen fahren, um behandelt zu werden. Gegen diese neue Regelung der Kassenärztlichen Vereinigung haben inzwischen weit über 2.000 Menschen ihre Unterschrift abgegeben. Die augenärztlichen Bereitschaftsdienste waren zum 1. September 2012 zusammengelegt worden. Niedersachsenweit gibt es nun 20 Bezirke. Vor der Neuregelung wechselten die Dienstbereiche entsprechend der Arztsitze, was unterschiedlich lange Anfahrten zur Folge hatte. Angeblich sei bereits in Planung, die 20 Gebiete auf nur noch acht zu reduzieren. 374 Was auf den ersten Blick so aussieht, als werden Ressourcen effizienter genutzt, muss doch stark in Zweifel gezogen werden. Ganz abgesehen, dass eine ärztliche Notfall-Versorgung auch in den ländlichen Gebieten ein Muss ist. Hier müssen sich die Ärzte in einer Region – unabhängig von Landes- und damit Kammergrenzen zusam-mensetzen und einen kostengünstigen Notfalldienst organisieren. Hinweis: Auch Effizienzsteigerungen stoßen in der jeweiligen Situation an Grenzen – stellen aber immer fort eine neue Heraus-forderung dar! Beispiel Stärkung der Regionen: Es gibt auch positive Beispiele. So solle ein Zukunftsinstitut die Zwillingsstädte Holzminden und Höxter für den Wandel wappnen. Gemeinsam soll die Region entwickelt werden und gemeinsam über Landesgrenzen hinweg will man dem demografischen Wandel begegnen. Städte und Kreise Holzminden und Höxter sowie die Hochschulen in beiden Städten planen die Errichtung eines Zukunftsinstituts Transregio Holzminden Höxter (ZuTHH). Dieses Institut soll die vorhandenen fachlichen Schwerpunkte der Wissenschaftler nutzen, um Zukunftskonzeptionen zu entwickeln. ZuTHH soll Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zu Fragen des demografischen Wandels für ländliche Regionen erarbeiten. Schwer-punkte sind die Umsetzung von zukunftsorientierten Vorhaben der Stadt- und Regionalentwicklung. Beispiel Ausbildung: Jede vierte Lehre in Deutschland wird vor dem Abschluss abgebrochen. Die Quote der Vertragsauflösungen stieg im Jahr 2011 (2012er Zahlen liegen noch nicht vor) von 23 auf 24,6 Prozent – das ist der höchste Wert seit 20 Jahren. Dies geht aus einer Auswertung des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB) hervor, die als Grundlage für den neuen Berufsbildungsbericht der Bundes-regierung dienen soll. Die Abbrecherquoten sind sowohl regional als auch branchenbezogen unterschiedlich. Tendenziell kann man aber feststellen: Dort wo das Bildungsniveau auf die Länderebene bezogen schlechter als der 375 Bundesdurchschnitt ist, dort ist auch die Abbrecherquote höher. Auch zwischen den Branchen sind die Unterschiede groß. Während Auszubildende im öffentlichen Dienst mit 6,1 Prozent nur selten die Lehre vorzeitig abgebrechen, schmeißt jeder zweite Kellner und jeder zweite Umzugshelfer die Ausbildung vor dem Ende hin. Ein Großteil der Abbrecher wechselt entweder den Ausbildungsbetrieb oder die Berufsausbildung; andere entscheiden sich für eine schulische Ausbildung. Lediglich 12 Prozent der Abbrecher haben keine Perspektive. Die Gründe: Ein boomender Arbeitsmarkt einerseits und der demografische Wandel andererseits haben viele Berufsstarter in eine komfortable Situation gebracht: Galten sie noch vor Jahren vor allem als Vermittlungsproblem, können sie sich heute ihren Ausbildungs-platz aussuchen. Und wenn es ihnen in einem Betrieb nicht gefällt, dann schmeißen sie eben hin und suchen sich einen neuen Aus-bildungsplatz. Für viele Betriebe ist das eine neue Situation: Sie müssen plötzlich aktiv um neue Arbeitskräfte werben. Viele Unternehmen beginnen gerade das zu verstehen und verbessern die Qualität der Lehre und die Arbeitsbedingungen. Wenn jeder vierte Auszubildende in Deutschland seine Lehre trotzdem abbricht, zeigt das auch, dass hier noch viel zu tun ist. B.IV Ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell – MehrWERT entdecken und gestalten Die globale Ausweitung der Finanzmärkte hat die Makroökonomie westlicher Industrienationen unberechenbar gemacht. Der wirt-schaftliche Aufschwung hat die Lebensläufe der Menschen zerrissen. Wohlfahrtsstaatliche Handlungsspielräume schwinden in 376 Zeiten wachsender nationaler Schuldenlasten. Es droht die Entdemo-kratisierung des europäischen Systems. Welche Antwort geben die von Jahrzehnten des Neoliberalismus geprägten westlichen Markt-gesellschaften auf diese Veränderungen und Instabilitäten? Wie kann man grenzüberschreitende wirtschaftliche Prozesse regulieren, um negative Folgen für die Gesellschaften zu vermeiden? Diese Fragen stellen sich mit besonderer Dringlichkeit angesichts einer Finanz-, Schulden- und Wirtschaftskrise, als deren Ursache eine Kombination aus wenig staatlicher Regulierung und viel zu privater Selbst-regulierung gilt. So wie erfolgreiche Geschäftsmodell-Innovationen Quelle von künftigen Wettbewerbsvorteilen, nachhaltigem, profitablem Wachstum und Erfolg sein werden so sind erfolgreiche Gesellschafts-Innovationen Quelle des künftigen Lebensstandards der Bürger. Ein systematischer und ganzheitlich orientierter Prozess der Gesellschafts-Innovationen ist dafür Voraussetzung. Diesen Prozess – anknüpfend an die neuen Rahmenbedingungen - weiter zu entwickeln, wird in den kommenden Jahren eine wesentliche Aufgabe von Politik und Bürgern sein. Das Motto lautet: MehrWERT entdecken und gestalten. Wie sehen die Bundesbürger die Zukunft? Welche Entwicklungen halten sie für möglich oder wahrscheinlich? Welche Rolle spielen darin Natur, Technik oder Soziales? Erleben sie sich als aktiv Handelnde oder eher als passiv Zusehende? Und was bedeuten diese Zukunftsbilder für die Gesellschaft insgesamt? Fragen rund um den Euro- und Verschuldungskrise standen im Jahr 2012/13 ganz oben auf der Agenda der Deutschen ... und werden wohl auch 2014 stehen. Die Themenagenda der Menschen wird ergänzt von den großen außen-politischen, ökologischen und sozialen Fragen. Die repräsentative Er-hebung ist Teil der Langzeitstudie „Wirtschaftskommunikation – Innovationen und Trends“ des 377 Fachgebiets für Kommunikations-wissenschaft und Journalistik der Universität Hohenheim (Stuttgart) und der ING-DiBa AG (Frankfurt). Top-Thema 1 - Euro & Verschuldung: 37,1 Prozent der Bürger sagen, dass sie die Euro- und Verschuldungskrise und die damit verbundene Sorge um die Stabilität des Geldes und ihr Erspartes persönlich am meisten beschäftigt hat. „Die Euro- und Verschuldungskrise ist in den Wohnzimmern der Deutschen angekommen. Den Bürgern ist bewusst, dass die Krise kein ‚isoliertes‘ Problem ist, das nur die Stabilität des Euro bedroht. Sie fühlen, dass es sie und ihre Familien – aber auch die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft – betrifft. Neben der Euro- und Verschuldungskrise, die die Problemwahrnehmung der deutschen dominiert, weiten die Menschen aber ihren Blick auf ‚das große Ganze‘. Sie beunruhigt über die Entwicklungen der internationalen Politik und Umwelt sowie über soziale Unwuchten“, sagt Claudia Mast, Professorin für Kommunikationswissenschaft der Universität Hohenheim. Top-Thema 2 - Energiewende: Fragen der Energieversorgung und Energiewende beschäftigen 7,1 Prozent der Menschen am meisten. Den Zustand der Umwelt, z.B. Umweltkatastrophen und Klimawandel, sowie politische Maßnahmen zum Umweltschutz nennen immerhin 3,4 Prozent der Bürger als wichtigstes Thema. Top-Thema 3 – Sozialpolitik: 4,3 Prozent der Befragten nennen Themen wie z.B. die Debatte um das Betreuungsgeld oder den Mindestlohn. Fast 2,9 Prozent der Bürger sprechen soziale Ungerechtigkeit wie Armut in Deutschland, das Gefälle zwischen Arm und Reich oder Hungersnöte an. Anmerkung: Es ist ein skeptischer, mit unter pessimistischer Blick, den viele Deutsche auf die Zukunft werfen – nicht so sehr auf ihre persönliche Zukunft. Vielmehr ist es die gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die den Bundesbürgern Sorge bereitet. Ein Widerspruch? Nur scheinbar. Aus der gefühlten Entkopplung von privatem und gesamtgesellschaftlichem Glück spricht eine Ahnung von Ver-gänglichkeit. Nach dem Motto: Uns geht’s gut. Noch. Bis 378 Schulden-krise, Ökokrise und Bildungskrise unseren Wohlstand dann doch irgendwann mit sich reißen und kaum noch einer da ist, der die Renten zahlt. Skepsis ist Mainstream: Technologischer Fortschritt wird vor allem als Risiko begriffen und nicht so sehr als Chance. Genforschung und Biotechnologien etwa stoßen in keinem anderen westlichen Land auf so große Ablehnung wie in der Bundesrepublik. Dabei gründet der Wohlstand Deutschlands auf seiner Fähigkeit zur Innovation. Es stellt sich die Frage, ob wir Deutschen besonders pessimistisch veranlagt sind? Zumindest muss man dies auf der Grundlage der Ergebnisse einer Ipsos-Umfrage in 26 Ländern im Oktober 2012 vermuten. Demnach blicken acht von zehn Menschen weltweit optimistisch auf das neue Jahr und sind zuversichtlich, dass 2013 besser wird als 2012. In Deutschland ist der Optimismus mit 68 Prozent geringer als im globalen Durchschnitt, dahinter liegen nur noch Polen (65 %), Italien (64 %), Spanien (61 %) und Japan (55 %). Zum Vorjahr sind die Deutschen jedoch optimistischer geworden, denn 2011 lag die positive Einschätzung für 2012 bei 63 Prozent. Der Optimismus in Bezug auf das neue Jahr geht einher mit dem Glauben, dass auch die globale Wirtschaft wieder stärker wird, die Hälfte der Weltbürger (49 %) ist dieser Auffassung. Auch hier gibt es im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg um acht Prozent. In Deutschland sind jedoch nur drei von zehn Personen der Meinung, dass sich die Weltwirtschaftslage entspannen wird. Habt ihr Deutschen keine Lust auf Neues? Lieber nicht. Die Zukunft – in den Nachkriegsjahrzehnten noch Verheißung eines sorgen- und mühelosen Lebens - hat ihre Strahlkraft verloren. Deutschland wird zur Republik der Bedenkenträger und Besitzstandswahrer. Mit Kleinmut und Angst jedoch werden sich die Herausforderungen von morgen nicht bewältigen lassen. 379 Nun müssen Verzagtheit und Überdruss an der Moderne aber nicht gleich als Indiz für das dräunende Ende einer Gesellschaft nach spät-römischem Beispiel gedeutet werden. Eher drückt dies die ernst-zunehmenden Ängste und Sorgen einer alternden Gesellschaft aus, in der ein beträchtlicher und stetig wachsender Anteil im verdienten Ruhestand ist und nicht mehr am Erwerbsleben teilnimmt. Zugleich aber sind an kaum einem anderen Ort die Voraussetzungen für eine gute Zukunft so günstig wie in Deutschland – einem Land mit überdurchschnittlich gebildeter Gesellschaft, großer Produktivität und einmaliger Infrastruktur. Dafür müssen die Bürger auch die Mühe aufwenden, die es kostet, die Richtung des Fortschritts aus zu handeln. Eins aber kann sich keiner leisten: Stillstand. Die befragten Weltbürger sind sich indessen bewusst, dass sie selbst einen Anteil daran haben, ob 2013 ein besseres Jahr wird. 80 Prozent der befragten Personen weltweit haben angegeben, dass sie 2013 für sich oder andere etwas ändern wollen. Darum halte ich es mit Paul Gilding, der sinngemäß ausführte: Es wird sich alles ändern – und zwar zu Besseren! Es ist die Krise selbst, die die Menschheit auf die nächste Ent-wicklungsstufe zwingen und es ihr möglich wird, das in ihr steckende evolutionäre Potenzial auch zu erkennen. Das eine ist, große Konzepte zu entwickeln, die über den Tag hinaus-reichen, und mit visionärem Überschuss zu beschreiben, wie wir unsere Gesellschaft langfristig gestalten wollen. Aber gleichzeitig muss klar sein, was wir in welchen Schritten umsetzen können. Das müssen wir verlässlich beschreiben und uns trauen Prioritäten zu setzen – auf denen wir später aufbauen können. B.IV.1 Ein anderes Gesellschaftsmodell „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“ 380 Albert Einstein hatte Recht! Jede/r von uns hat die Freiheit, Chance und Möglichkeiten, die Zukunft aktiv mitzugestalten. Das Streben nach Glück ist ein zentrales Element im Leben eines jeden, wobei das individuelle Wohlbefinden sowohl persönliche als auch gesellschaftliche Ursachen hat. Welchen Einfluss haben Wirtschaftsentwicklung, Einkommen, der berufliche Werdegang oder Arbeitslosigkeitserfahrungen auf das Glücksempfinden eines Menschen? Wie wird sich unsere Arbeit verändern? Der Konsum? Die Ge-sellschaft? Die Zukunft kann man nicht vorhersehen, aber man kann sie gestalten. Der Zukunftsforscher Werner Mittelstaedt wagt die Behauptung, dass wir mit den richtigen Bildern die Zukunft nachhaltig formen können. Durch unsere Wert- und Handlungsmuster gestalten und verändern wir die Welt. Daher können wir uns an wünschenswerten Entwicklungen beteiligen und Einfluss auf negative Entwicklungen nehmen, damit sie sich zum Positiven verändern. Dabei zeichnen sich an folgenden Megatrends die großen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte ab: • • • • • • • • • • • • • • Demografischer Wandel Neue Stufe der Individualisierung Soziale und kulturelle Disparitäten Umgestaltung der Gesundheitssysteme Wandel der Geschlechterrollen Neue Mobilitätsmuster Digitale Kultur Lernen von der Natur Ubiquitäre Intelligenz Konvergenz von Technologien Globalisierung 2.0 Wissensbasierte Ökonomie Business Ökosysteme Wandel der Arbeitswelt 381 • • • • • • Neue Konsummuster Umbrüche bei Energie und Ressourcen Klimawandel und Umweltbelastung Urbanisierung Neue politische Weltordnung Globale Risikogesellschaft Megatrends sind langfristige und übergreifende Transformations-prozesse. Wir sehen sie als wirkungsmächtige Einflussgrößen, welche die Märkte der Zukunft prägen. Sie unterscheiden sich von anderen Trends in dreierlei Hinsicht: • • • ZEITHORIZONT: Megatrends sind über einen Zeitraum von Jahrzehnten beobachtbar. Für die Gegenwart existieren bereits quantitative, empirisch eindeutige Indikatoren. Sie können mit hoher Wahrscheinlichkeit noch über mindestens 15 Jahre in die Zukunft projiziert werden. REICHWEITE: Megatrends wirken umfassend. Ihr Geltungs-bereich erstreckt sich auf alle Weltregionen und alle Akteure – Regierungen, Individuen und ihr Konsumverhalten, aber auch auf Unternehmen und ihre Strategien. WIRKUNGSSTÄRKE: Megatrends bewirken tiefgreifende, mehrdimensionale Umwälzungen aller gesellschaftlichen Teil-systeme – politisch, sozial und wirtschaftlich. Ihre spezifischen Ausprägungen unterscheiden sich von Region zu Region. Zukunftsforschung, egal wo und wie sie betrieben wird, sollte Zukunftsbilder für eine nachhaltige, lokale und globale Entwicklung entwickeln. Diese können dann in die Grundlagen für die Zukunftsgestaltung auf allen Ebenen (Bürger, Wirtschaft, Wissen-schaft und Technik sowie Politik) einfließen. 382 B.IV.1.1 „So viel du brauchst“ – Losung für den Evangelischen Kirchentages 2013 Als ‚Zuspruch‘ und ‚Aufmunterung‘ sowie zugleich als ‚Auf-forderung‘, sich „den Herausforderungen der Zeit“ zu stellen, kenn-zeichnete Präsident Gerhard Robbers das Leitwort. Themen, denen der Kirchentag sich unter dieser Losung und besonders in Hamburg zuwenden müsse, sind nach Ansicht des Trierer Verfassungsrechtlers das bürgerschaftliche Engagement für Schwächere und die Frage nach dem richtigen, verantwortungsvollen Wirtschaften. Dazu gehöre das Gespräch mit der Wirtschaft in der Hamburger Tradition des ‚ehrbaren Kaufmanns‘ ebenso wie der Austausch mit den Gewerkschaften. Ferner, so Robbers, verweise die Losung auf das Thema der Integration von Menschen aus anderen Kulturen und Regionen der Welt sowie auf den Dialog mit anderen Religionen und Konfessionen. • • • • • • • „So viel du brauchst“ – diese Losung ist Aufforderung: Stellt euch den Herausforderungen der Zeit. Und findet Lösungen. „So viel du brauchst“ – da geht es um das richtige Maß. „So viel du brauchst“ - fragt nach dem richtigen Wirtschaften. Wie viel Wachstum geht eigentlich? Was brauchen wir auf dem Weg zu mehr Toleranz und Weitherzigkeit? Gebrauche nur so viel, wie da ist – angesichts einer Milliarde Hungernder und einer Milliarde übergewichtiger Menschen. So viel du brauchst – das meint auch den sorgsamen Umgang mit Ressourcen. Sicher brauchen wir Wachstum, auch ökonomisch. Aber wie viel? Und wir brauchen Wachstum an anderer Stelle, ganz viel: Wachstum an Zuwendung, Wachstum an menschlicher Wärme, Wachstum an Wissen. Was der Mensch zum Leben braucht – ist Sinn. Sinn durch Arbeit, durch Liebe, durch Gemeinschaft – auch mit der Schöpfung. Und all 383 das hat einen gemeinsamen Nenner: der Sinn des Lebens liegt im Miteinander. B.IV.1.2 Die moralischen Grenzen der Marktwirtschaft In seinem Buch „Was man für Geld nicht kaufen kann: Die moralischen Grenzen des Marktes“ stellt der amerikanische Philosoph Michael J. Sandel in einem bemerkenswerten Buch dem Leser zahlreiche provokante Fragen bezüglich ethischer Konflikte, die durch Geld und die Möglichkeit nahezu alles (egal ob legal oder auf dem Schwarzmarkt) kaufen zu können, ausgelöst werden. Sandels Buch ist eine systematisch angelegte Sammlung und Reflexion von Beispielen, die sich alle auf dieselbe Frage beziehen: Wo liegen die moralischen Grenzen unserer Marktwirtschaft? Zugrunde liegt dieser Sammlung die nahezu überall erfahrbare These, „dass wir auf dem Weg in eine Gesellschaft sind, in der alles käuflich ist“. Waren sie für eine lange Zeit auf das Gebiet des wirtschaftlichen Handelns beschränkt, haben sich im Zeitalter des Internets, der Globalisierung und der Allverfügbarkeit der menschlichen Arbeitskraft die Regeln und die Gesetze des sogenannten Marktes auf fast alle Lebensbereiche ausgeweitet. Sie haben Bereiche infiltriert und besetzt, die eigentlich außerhalb des Konsums und des Strebens nach Mehrwert liegen sollten. Zum Beispiel in der Medizin, in der Kunst, im Sport, in der Erziehung und immer mehr auch im Bereich der Familie und der Partnerschaft zwischen Menschen. Ursachen für die inflationäre Ökonomisierung unseres Lebens sieht Sandel weniger in menschlicher Gier als vielmehr in der „Ausdehnung der Märkte und ihrer Wertvorstellungen in Lebensbereiche, in die sie nicht gehören“, etwa Schulen, Gefängnisse oder medizinische Einrichtungen. Moralisch bedenklich ist dies im Wesentlichen aus zwei Gründen: Ungleichheit und Korruption. 384 „In einer Zeit zunehmender Ungleichheit läuft die allumfassende Kommerzialisierung des Lebens darauf hinaus, dass Arme und Reiche zunehmend getrennte Leben führen. Wir arbeiten und kaufen und spielen an verschiedenen Orten. Unsere Kinder besuchen verschiedene Schulen, unsere Lebenswelten schotten sich voneinander ab. Das dient weder der Demokratie noch unserer Lebensqualität. Demokratie erfordert keine vollkommene Gleichheit, aber sie erfordert, dass Bürger an einer gemeinsamen Lebenswelt teilhaben. Es kommt darauf an, dass Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und Sozialstatus miteinander in Kontakt kommen und im Alltag auch einmal zusammenstoßen. Denn nur so lernen wir, wie wir unsere Unterschiede aushandeln und wie wir gemeinsam dem Gemeinwohl dienen können. Am Ende läuft die Frage nach den Märkten also auf die Frage hinaus, wie wir zusammen leben wollen. Wünschen wir uns eine Gesellschaft, in der alles käuflich ist? Oder gibt es gewisse moralische und staats-bürgerliche Werte, die von den Märkten nicht gewürdigt werden – und die man für Geld nicht kaufen kann?“ B.IV.1.3 Was man für Geld nicht kaufen kann Wir werden als Minimalisten geboren. Babys brauchen (eigentlich) nur die Fürsorge der Eltern und die Befriedigung körperlicher Grund-bedürfnisse wie Schlaf, Nahrung und Wärme. Auch Kinder können noch selbstvergessen stundenlang mit Stöckchen und Steinen am Bach spielen. Doch bereits die Babys werden häufig von ihrem Umfeld mit allerlei unsinnigem Krempel versorgt. Und selbst die Kinder erliegen bereits den Verlockungen des Konsums. Je älter wir werden, häufen wir Sachen an, von denen wir die wenigsten wirklich brauchen. Häufig bedarf es eines Einschnitts im Leben, sei es die Trennung von einem Lebenspartner oder der Verlust eines Arbeitsplatzes, der ein Nachdenken über seine bisherige Lebensart ermöglicht. 385 Es stellt sich die Frage, warum ‚weniger besitzen‘ eine größere Lebensqualität bedeuten kann. Wer weniger besitzt, hat mehr Zeit. Konsumartikel müssen ausgesucht, gekauft, heimgebracht, aufgestellt, verwendet, sortiert, gepflegt, repariert und ersetzt werden. Verzichtet man auf Sachen, hat man mehr Zeit, Sachen zu machen, etwa sich um seine Lieben zu kümmern. Wer weniger besitzt, hat weniger Geldsorgen. Auch Schulden können meist schnell abgebaut werden, indem man weniger konsumiert. Wer weniger besitzt, kann sein Arbeitspensum reduzieren. Die eine oder andere Auszeit vom Job rückt in greifbare Nähe. Wer weniger besitzt, lebt nachhaltiger, weil bei der Herstellung von Produkten weniger Ressourcen verbraucht werden und am anderen Ende weniger Müll anfällt. Wer weniger besitzt, hat mehr Platz oder kann in eine kleinere Wohnung ziehen. Nach unten sind der Größe der Wohnung fast keine Grenzen gesetzt. Wer weniger besitzt, muss weniger putzen. Wer weniger besitzt, erfreut sich mehr an den kleinen Dingen des Lebens. Die einzige Kaffeetasse wird zur Lieblingstasse. Blumen auf der Wiese erfreuen das Auge wie selten zuvor. Die Umarmung eines Freundes ist eine kleine Geste mit großer Bedeutung. Wer weniger besitzt, pflegt echte Freundschaften, in denen es um mehr als um schicke Klamotten und schnelle Autos geht. Wer weniger besitzt, hat weniger Angst. Besitz und Statussymbole verlieren zu können und Rechnungen zahlen zu müssen, verursachen Stress, der weniger krank machen kann. Wer weniger besitzt, ist glücklicher, denn er kann sich den wichtigen Dingen im Leben widmen: Freunde treffen, die Partnerin lieben, mit den Kindern spielen, sich in der Natur bewegen, kreativ sein, sich gesund ernähren, seinen Passionen nachgehen … Ist das überzeugend für mich, für den verehrten Leser, für uns alle? Was würde passieren, wenn morgen auf Knopfdruck alle Deutschen so denken würden? Das Ergebnis liegt auf der Hand: Die Unternehmen brechen zusammen, es folgen Massenentlassungen, die Sozialsysteme implodieren – Massenarmut. Nein so möchte ich die obigen Zeilen nicht verstanden wissen. Aber ein Nachdenken über unsere derzeitige Lebensweise ist nicht nur wünschenswert, sie ist absolut notwendig. Nur in einem längeren Prozess ist die schrittweise Veränderung unseres Lebensstils – im Sinne der Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit möglich. Das heißt aber nicht, dass wir morgen weniger leisten müssen. Wer weniger besitzt, ist sozial und integriert sich in die Gemeinschaft. 386 B.IV.1.4 Zukunftsbilder einer gerechten (Wirtschafts-)Welt aus Sicht von Schülerinnen und Schülern Ich gebe hier zwei Sichtweisen über eine Perspektive für eine nachhaltige Entwicklung zwischen Wettbewerb und Konkurrenz wider: „Konkurrenz belebt das Schulgeschäft, aber schadet der Wirtschaft!“ oder „Von der Ohnmacht (neo-)liberaler Pädagogik“. „Ja, ich meine enormes Konkurrenzdenken und alter Egoismus, sage ich einmal so, man wird nie einen mittleren Weg finden oder Kompromissbereitschaft, das denke ich wird auch eher weniger – ich meine, ja ich denke, dass es wirtschaftlich halt auch – dass es für die Wirtschaft nicht gut sein wird.“ Markus beklagt die zunehmende Vereinzelung in der Gesellschaft, die er auch in der Schule grundlegend sieht. Gegenüber solchen Formen der anonymisierenden Abkapselung und Isolation fordert er ein gemeinschaftliches Handeln, das über zwischenmenschliche Kom-munikation realisiert werden muss. Solche Formen des kom-munikativen Austauschs müssten seiner Meinung nach schon in der Schule mehr gefördert werden, da die Vereinzelung auch schon im wohlverstandenen Eigeninteresse der Wirtschaft nicht gewollt sein könne: „Ja, ich denke im Berufsleben auf jeden Fall, ich meine man arbeitet nicht für sich alleine, sondern miteinander eben. Und ich denke mir einfach miteinander geht’s leichter und – ja. Egoismus und so – das ist für mich überhaupt nichts – also total fehl am Platz.“ Entgegen der gängigen Meinung, das Konkurrenz das Geschäft belebe und damit Qualität und Quantität der Produktion befördert werden könnten, hält er an diesem Standpunkt fest, oder konstatiert zumindest: „das ist kontrovers“. Markus verweist auf die enormen Transaktionskosten solchen Wirtschaftens: 387 „Wenn zu viel Konkurrenzkampf ist, meine ich – z.B. jetzt von der Wirtschaft aktuell – dann werden die Preise immer weiter runter gedrückt und das ist ja dann schlecht für die Wirtschaft, oder? Wenn man es so – das ist zu viel Konkurrenzdenken und Kampf.“ Auch wenn Konkurrenz in bestimmter Hinsicht ‚marktförderlich‘ sein kann, so setzt Markus doch dem Konkurrenzkampf als allgemeinem Prinzip Grenzen. Der Kulminationspunkt, an dem produktives Wett-eifern in kontraproduktive Konkurrenz umschlägt ist für ihn genau an dem Punkt erreicht, an dem sich der Wettbewerb in Konkurrenzkampf verwandelt. Zum Kampf wird solches Konkurrieren, wenn es auf Kosten der Schwächeren geschieht. Diese Überlegung macht Markus an einem lebensweltlichen verankerten Beispiel der schulischen Konkurrenz deutlich: „Ich verstehe es z.B. wenn ein Schüler um seine Note kämpft, aber wenn es dann persönlich wird, auf andere Mitschüler eben, wenn da irgendwie so ein gewisser Neid und das entsteht, so ein extremer Neid oder so, dann ist auf jeden Fall die Grenze erreicht.“ In der Situation jedoch, in der der gewollte Wettbewerb, das gegen-seitige Anspornen, in Neid und Konkurrenzkampf umschlägt ist für Markus schon der Punkt erreicht, an dem die (neoliberalen?) PädagogInnen) nicht mehr in der Lage sind, korrigierend einzugreifen. Sie erscheinen ohnmächtig gegenüber den Geistern, die sie riefen: „Ja, was kann ein Lehrer tun. Wenn er sieht, dass es zu extrem wird das Ganze, dann ja – ermahnen oder so, aber im Endeffekt der Lehrer kann nicht recht viel tun dagegen. Also fair beurteilen und so, also ich denke, dass der Lehrer eher machtlos ist. Also ich könnte mir kaum vorstellen – wie kann man das unterbinden kann? Ja, ich kann kaum einem Schüler sagen, ja du bist so egoistisch oder so, ich meine, das ist irgendwie auch verständlich, dass man die eigenen Noten oder so, also dass man selbst besser ist wie andere oder so, dass ist, glaube ich, psychologisch so, oder?“ Markus erkennt sehr genau die Eigendynamik, die der ‚faire Wett-kampf‘ um die guten Noten entwickeln kann. Diese Effekte lastet er den Lehrerinnen und Lehrer nicht unmittelbar als Fehlleistung oder Versäumnis an, sondern erkennt darin vielmehr einen allgemeine psychologische Grundstruktur, der man als LehrerIn gegenüber recht machtlos dasteht. Zumindest scheint eine direkte Intervention 388 aus-geschlossen, bei der die PädagogInnen die KämpferInnen explizit darauf hinweisen, dass sie ‚zu egoistisch‘ handeln: „Wenn ich Lehrer wäre, könnte ich es nicht. Das wäre zu direkt.“ Nachdem Markus eine Zeit lang erfolglos darüber räsoniert hat, wie sich die direkte Intervention vielleicht doch vermeiden ließe, entwickelt er eine gegenläufige Strategie. Auch wenn man den Erfolgreichen (bspw. bei einer Klassenarbeit) ihre Freude nicht verbieten könne, so müsste man doch zumindest auf der Verliererseite kompensierend eingreifen: Ja, also ich würde zu dem Schüler der sich recht freut nichts sagen, ich täte eher auf den Schüler mit der schlechteren Note zugehen und mit ihm darüber reden. Das wäre auch unfair, wenn man jetzt den, der die bessere Note hat, jetzt irgendwie zurückstoppt oder so – ich meine, der hat ja einen Grund zum Freuen eben. Also das wäre schon ungerecht wenn man jetzt sagt – na, stopp jetzt, also – wir wissen, dass du eine gute Note hast, aber jetzt sei ruhig. Also, das denke ich ist auch der falsche Weg. Ich täte eben gezielt auf die schlechteren Schüler zugehen und mit denen Gespräche führen oder so – was könnte man besser machen. Lösungsvorschläge. Weil es bringt ja ihm auch nichts, wenn man einfach sagt, ja – stopp. Hörts auf, weil dem geht’s so schlecht oder so – ich glaube, dass man gezielt auf die zugehen sollte.“ Markus macht hier sehr deutlich, dass mit der expliziten Zurecht-weisung des protzenden Schülers nur Mitleid mit den VerliererInnen eingeklagt wird, ohne dass diesem geholfen wäre. Eine Hilfe, die die VerliererInnen nicht durch falsch verstandenes Mitleid diskriminiert, sondern die Dialektik von GewinnerInnen und VerliererInnen auf-bricht, müsste so organisiert sein, dass sie die Schwachen in einer Art und Weise stärkt, dass sie nicht mehr zu den VerliererInnen werden. Markus illustriert ganz konkret, wie eine solche indirekte, aber doch wirksame Hilfe zur Selbsthilfe aussehen kann: „Aber es werden auch Projekte in der Unterstufe und so viel gemacht, damit man das Klassenklima stärkt, so untereinander, das finde ich nicht schlecht. Wir haben so ein Tutorenprojekt - vielleicht haben Sie von dem schon was gehört – das finde ich auf jeden Fall auch super.“ 389 Nur eine Pädagogik, die über Vergemeinschaftungsprozesse auf solche Formen der allgemeinen Solidarität abzielt scheint für Markus Erfolg versprechend zu sein. B.IV.1.5 Ein anderes Demokratieverständnis – Ich bin ein Teil der Veränderung Dass sich die Weltgesellschaft drastisch verändern wird, ist sehr wahrscheinlich. Die Art der Transformation wird aber davon ab-hängen, wie wir sie kommunizieren und beraten. Denis Meadows macht das Thema am Ressourcenverbrauch fest: „Die Frage ist: wird dieser Rückgang (des Verbrauchs) stattfinden, weil wir handeln und ganz bewusst Prozesse einleiten, die wir als politisch, wirtschaftlich und ethisch akzeptabel ansehen? Oder werden wir die Probleme weiter ignorieren und uns der Planet dann dazu zwingen, dass dieses Wachstum abnimmt – allerdings auf nicht sehr angenehme Art und Weise - Epidemien, Kriege, Hungernöte – ich kenne die Mechanismen nicht genau, aber es wären nicht die Dinge, die wir uns aussuchen würden.“ Wir haben es – in Transformationsprozessen – mit zwei grund-sätzlichen Problemen zu tun: Einerseits mit dem Problem der Thematisierung, dem Agenda Setting, dem Wecken öffentlichen Interesses (und dem Schaffen öffentlichen Ärgernisses) – die gegen tradierte Herrschaftsstrukturen und kulturelle Barrieren initiiert werden müssen. Dieses Phänomen der gesellschaftlichen Emanzipation der Alltagserfahrung (was gesellschaftliche Kommunikation ist) zeigt das Zitat von Meadows mit vielen Facetten. Andererseits, wenn die Umstände das Thema oder Problem oder den Handlungsdruck erzwingen oder die kritischen Akteure es schlau in die öffentliche Diskussion schleusen, – dann geht es in radikalen Auseinander-setzungen darum, wer von den Akteuren die Kraft und Macht zur Definition dessen von der Öffentlichkeit übertragen 390 bekommt, was denn die gesellschaftlich sinnvollsten Lösungswege wären. In den westlichen Industriegesellschaften gibt es seit einigen Jahren keinen qualitativen politischen und gesellschaftlichen Fortschritt. Politischer Stillstand und Rückschritte kennzeichnen unsere Zeit. Die Politik konzentriert sich primär darauf, ‚Antworten‘ auf die Probleme der wirtschaftlichen Globalisierung zu geben. Aber mit ihren Kon-zepten gelingt es ihr nicht. Weil sie seit vielen Jahren nicht erfolgreich sind, nimmt das Tempo politischen Wandels zu. Hektisch entworfene Reformen prägen die politische Realität. Sie müssen in immer kürzeren Intervallen korrigiert werden und können nicht verhindern, dass die Qualität der sozialen Sicherungssysteme immer schlechter wird und der Wirtschaft immer mehr Freiheiten eingeräumt werden. Freiheiten, die sich zunehmend gegen den Staat und ihre Bürger richten. Diese Form des Wandels kann keinen wahren Fortschritt für Mensch und Gesellschaft erzeugen. Um qualitative Veränderungen zur Wiedererlangung der Zukunfts-fähigkeit zu erzielen, müssen die Seelen der Menschen angesprochen und einbezogen werden und ihnen Visionen mit nachvollziehbaren Perspektiven für die Zukunft vermittelt werden. Darüber hinaus benötigen Menschen das Gefühl von Zukunftssicherheit und sozialen Schutz durch den Staat. Das Gegenteil trifft zu! Der Mensch trägt nicht nur Verantwortung für sich selbst, sondern auch für den Mitmenschen und die Gesellschaft. Jeder Einzelne ist angesprochen. Doch er braucht auch Orientierung. Für die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellen die zehn Sätze der Zukunftsphilosophie Werner Mittelstaedts einen Orientierungsrahmen: 1. Ich bin ein Teil der Biosphäre und muss mein Handeln so anlegen, dass ich sie nicht gefährde. 2. Ich bin Weltbürger und trenne Menschen nach keinerlei Kategorien. 391 3. Mein Leben wird durch die Vielfalt der Völker, Religionen und Kulturen bereichert. 4. Mein lokales Handeln hat grundsätzlich globale Folgen. 5. Mein Handeln hat grundsätzlich langfristige Folgen, lokal und global. 6. Ich strebe nach qualitativen Wachstum und innerer Ruhe (Muße); dafür begrenze ich meine materiellen und erhöhe meine ideellen Ansprüche. gute Lebensqualität schließt für mich die Mitarbeit an wünschens-werten gesellschaftlichen Entwicklungen ein. 8. Meine Lebensqualität wird erhöht, wenn ich Fortschritte wahrnehmen kann – individuell, lokal und global. 9. Weniger ist mehr, wenn die Qualität stimmt und wenn dieses Weniger nicht dazu beiträgt, die Biosphäre und anderen Menschen gefährden. 10. Ich kann mit kleinsten Beiträgen wünschenswerte Entwicklungen fördern. 7. Eine B.IV.1.6 Schweizer stimmen Management-gehältern für Deckel bei Man kennt die Schweiz auch als das Land der Steuervorteile und des Bankgeheimnisses. Und genau dort, wo man es sonst eher libertär mit der Einmischung in Finanzfragen durch den Staat hält, haben die Schweizer sich in einer Volksabstimmung Anfang März 2013 für mehr Gesetz entschieden. 67,9 Prozent der Schweizer votierten dafür, Gehaltsexzessen der Firmenbosse einen Riegel vorzuschieben. Die Schweizer hatten die Möglichkeit über die ‚Abzockerei‘ abzustimmen und so von der Politik Nägeln mit Köpfen in Sachen Manager-Gehälter und Verbindlichkeiten zu fordern. Mit dem positiven Ausgang dieser Initiative wird die Schweiz nun wohl das härteste Aktienrecht der Welt haben – zu Gunsten der Aktionäre. „Die Schweizer hatten es satt“, erklärte der Genfer Wirtschaftsprofessor Edouard Dommen. „Die Leute wissen, dass Abzockerei auf ihre Kosten geschieht“, sagte er unter Hinweis auf die Großbank UBS. Diese musste 2008 mit dem Geld der Steuerzahler vor der Pleite gerettet werden. Im vergangenen Jahr überwies die Bank dem Ex-Bundesbanker Axel Weber bei dessen Antritt als UBS-Präsident ein ‚Begrüßungsgeld‘ von vier Milliarden Franken. 392 Unternehmen in der Schweiz haben es jetzt deutlich schwerer, wenn es um eigene Entscheidungen etwa bei Gehältern geht. Denn künftig haben die Aktionäre das letzte Wort über die Manager-Vergütungen. Und das auch noch jährlich. Damit soll Erfolg nicht nur messbarer sein, sondern die entsprechenden Köpfe auch mehr Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Auch ‚goldene Handschläge‘ – also hohe Abfindungen beim Weggang – soll es so nicht mehr geben. Gleiches gilt für Begrüßungsgelder. Mit anderen Worten: Für scheidendes Top-Personal wird der Wind rauer. Auch die Strafen steigen: Wer gegen die Regeln verstößt soll 1-3 Jahre ins Gefängnis. Die Schweizer haben wohl auch bedingt durch die Finanzkrise die Nase voll von riesigen Boni – selbst wenn die Leistung nur im negativen gemessen werden kann. Aus Bürger-Sicht also mehr als verständlich, dass man dagegen vorgehen will – und in der Schweiz ja anders als hierzulande etwa – auch deutlich kann. Allerdings bleibt zu bedenken, dass damit auch ein Wett-bewerbsnachteil für Schweizer Unternehmen entsteht. Wer will schon etwa Vorstand werden, wenn die Boni gedeckelt sind und man auch noch im Anschluss haftbar gemacht werden kann? Dagegen hilft – wenn – nur ein Ausbau der Initiative auf andere Rechtsräume, wie die EU. Allerdings muss es vermutlich schon mit dem Teufel zugehen, wenn etwa in Großbritannien oder in den USA solche Richtlinien verabschiedet werden sollten. Das Schweizer Experiment muss daher genau im Blick behalten werden. Vieles hängt davon ab, wie die Politik nun genau die Gesetze ausgestaltet. Ein Tag nach der Abstimmung in der Schweiz ist der Funke auch nach Deutschland übergeschwappt. Die Initiative findet überraschender-weise in Berlin quer durch die Parteien – selbst in der FDP - und in der Bundesregierung Zuspruch. Ist das nun Überzeugung oder hat man nur Angst vor dem Wähler? 393 Wie auch immer. Die Schweizer haben ein Signal gesetzt. Es ist eine Stimmung entstanden, die man nicht mehr als Neiddebatte abtun kann. Bei den Managergehältern ist in den letzten zehn Jahren etwas aus dem Ruder gelaufen – in einem Maß, das die öffentliche Akzeptanz des marktwirtschaftlichen Systems gefährdet. B.IV.1.7 Vom Elend der Großprojekte (Rede ALT) Ich füge an dieser Stelle einen Redebeitrag Franz Alts anlässlich einer Demo gegen ‚Stuttgart 21‘ am 23. Februar 2013 in Auszügen ein: „Wir alle sind Zeugen des langsamen Sterbens von Großprojekten in Deutschland. Das war so beim Dahinsiechen des Transrapid und das ist so bei Stuttgart 21 und beim neuen Flughafen in Berlin. Warum ist diese Bewegung gegen Stuttgart 21 noch immer so machtvoll, dass die Mächtigen Angst vor uns haben? Weil sich hier viele tausend Menschen nachhaltig informiert und zusammengefunden haben. Und weil wir ein Gespür dafür haben, was menschlichem Maß entspricht und was in menschlichen Größenwahn ausartet. Für gigantische Großprojekte werden ganze Landschaften oder Stadtteile platt gemacht. Für gigantische Großprojekte kommt es zu irreparablen ökologischen Schäden, zu einem immensen Energieeinsatz und zu riesigen Schadstoff-Emissionen. Oder sie werden unverantwortlicher organisiert oder von der Regierung bzw. von den Großkonzernen Sicherheitsrisiken wie bei der Atomkraft eingegangen. Wir sind nicht grundsätzlich gegen Großprojekte. Die Energiewende hin zu 100 % erneuerbaren Energien ist ein sinnvolles Großprojekt. Aber dieses sinnvolle Großprojekt wird eher von den Bürgerinnen und Bürger befürwortet. (…) Ein weiteres Großprojekt, (…), wäre zum Beispiel die Renaissance der Flächenbahn in ganz Deutschland. Aber es geschieht genau das Gegenteil: in den letzten Jahrzehnten sind 25.000 Kilometer Schienen stillgelegt und 12.000 Bahnhöfe abgerissen worden. (…) Wichtiger als die Großmannssucht von Managern, Technikern und Politikern sind die realen Mobilitätsbedürfnisse aller Menschen. Für Managern und Politiker galt bisher die Devise: Immer schneller und immer größer. Für die meisten Menschen aber gilt: Sicher, mobil, pünktlich, preiswert, bequem. Für 90 % der Menschen dominieren die kurzen und mittleren Entfernungen bis zu 30 Kilometern und nicht die Frage, ob ich einige Minuten schneller von Stuttgart nach München komme. Primäre Aufgabe der Fernbahn ist es, die etwa 1.000 Groß- und Mittelstädte Deutschlands 394 mit einem weit verzweigten Netz vieler eng verknüpfter Hauptstrecken mit einander zu verbinden. (…) Die Bahn sagt: Kopfbahnhöfe seien nicht mehr zeitgemäß. Aber seltsamerweise kommen Frankfurt, Leipzig, London, Wien oder Paris mit Kopfbahnhöfen ganz gut zurecht. Nur Stuttgart soll damit überfordert sein. Das aber ist sehr provinziell gedacht. Der neue Flughafen in Berlin, die Elbphilharmonie in Hamburg, Stuttgart 21 hier: Warum müssen alle Großprojekte am Schluss doppelt bis dreimal so teuer werden wie uns am Anfang gesagt wurde? Wegen der Inflation? Wegen steigender Löhne? Jeder der ein Haus baut, rechnet doch diese Mehrkosten immer mit ein. Wenn Kosten so explodieren wie bei Stuttgart 21 oder den anderen genannten Großprojekten, dann kann es dafür nur zwei Gründe geben: Entweder Unfähigkeit der Verant-wortlichen oder bewusste Täuschung, also Betrug. Bei Stuttgart 21 riecht es sehr nach Betrug. Die Wahrheit war das erste Opfer von Stuttgart 21. Großprojekte werden für ihre politische Zustimmung immer kleingerechnet. Aber die Quittung erhalten am Schluss die Steuerzahler. Stuttgart 21 ist ein Verbrechen am deutschen Steuerzahler. Ich stelle mir folgende Situation vor: Alle Häuslebauer in Schwaben müssten ab sofort doppelt bis dreimal so viel bezahlen wie ursprünglich geplant. Ich bin kein Schwabe – aber ich kann mir gut vorstellen, was hier los wäre! Eine Revolution! Ich vermute das als nichtschwäbischer Ausländer aus dem Badischen. Wir, die Bürgerinnen und Bürger, werden künftig bei allen Großprojekten mitrechnen. Und weil wir da unten mitrechnen, müsst ihr da oben viel mehr mit uns rechnen. Ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag der hiesigen grün-roten Landesregierung: „Die Zeiten des Durch-Regierens von oben sind zu Ende. Gute Politik wächst von unten. Echte Führungsstärke entspricht der Bereitschaft zuzuhören. Für uns ist die Einmischung der Bürgerinnen und Bürger eine Bereicherung. Wir wollen mit ihnen im Dialog regieren und eine neue Politik des Gehört-Werdens praktizieren.“ Soweit also der Koalitionsvertrag von Grün-Rot. Lieber Winfried Kretschmann, lieber Nils Schmid und lieber Winfried Hermann: Wir machen etwas ganz Unverschämtes – wir nehmen Euch jetzt einfach beim Wort! Uns ist im Laufe der Jahre von Stuttgart 21 klar geworden: Der größte Kostensteigerungsfaktor ist die Unwahrheit. Die meisten Großprojekte werden deshalb so teuer, weil sie am Anfang trickreich schöngerechnet werden, um Politik und Öffentlichkeit zu täuschen. Aber wir haben Politiker nicht gewählt, damit sie mit den Größenwahnsinnigen kungeln, sondern damit sie unsere Interessen vertreten. Und wenn sie das nicht mehr tun, dann machen wir es selbst und wählen die Politiker ab. Die Schwarzen haben Jahre lang gelästert, dass die Sozis nicht mit Geld umgehen können. Heute rufen wir den Schwarzen zu: Lernt Ihr endlich mal 395 anständig mit unserem Steuergeld umzugehen. So wie die Kosten kleingerechnet werden, so werden die Folgekosten der Großprojekte verdrängt, verleugnet oder einfach vergessen. Inzwischen wissen es alle: Stuttgart 21 ist tot, aber keiner der Verantwortlichen will es offen aussprechen. Auch nicht die Landesregierung. Es wird nur noch der Schwarze-Peter der Schuld hin und her geschoben. Der derzeitige Zustand des Bahnhofs sagt alles über die Chaoten-Pläne der Bahn für Stuttgart 21: Kräne, Rohre, Baugruben, stillstehende Tunnelbohrer, Plastikplanen, ein kahl rasiertes Parkgelände. Es geht nichts vorwärts und nichts rückwärts. Ratlosigkeit überall. Peinlicher geht es nicht mehr. Stuttgart 21 ist ein einziges Geld-Loch. Das teuerste Loch der Republik. Aber die Bahn will noch immer weitermachen. Der Bund sagt inzwischen, er sehe keine „ausreichende Grundlage“ für weitere Milliardenausgaben. Am Ende könnte noch viel mehr verschwendet werden als wir heute ahnen. Für die Bahn ist das wirklich ein Debakel, aber es wird von Tag zu Tag größer, solange das Scheitern des Projekts nicht eingestanden wird. Der Imageschaden wird bald so groß sein wie am Berliner Flughafen. Stuttgart 21 ist bis jetzt eine Blamage, aber allmählich wird es für alle Beteiligten zum unkalkulierbaren Risiko. Es gilt endlich zu erkennen: Wenn andere mit einem Kopfbahnhof im 21. Jahrhundert gut leben können, dann gilt das auch für Stuttgart. Der einzig logische Schluss ist ein sofortiger Rückzieher von Stuttgart 21. Und die Volksabstimmung? Sie war eine Farce, weil ihr völlig falsche Zahlen zu-grunde lagen. Auf der Basis der heutigen offiziellen Zahlen war die Volks-abstimmung ein weiterer Betrug. Als beinahe täglicher Bahnfahrer mit einer Bahncard 100 mache ich der Bahn diesen Vorschlag: Steckt die vielen Milliarden, die ihr bei Stuttgart 21 sparen könnt, so rasch wie möglich in tausende verlotterte Bahnhöfe und in die Infrastruktur einer modernen, wirklich zukunftsfähigen Bürgerbahn. Bürgerbahn statt Größenwahn! In diesen Tagen war zu lesen: Der Bund drohe mit einem Ende des Projekts. Wir bitten hier und jetzt den Bund: macht Eure Drohung endlich wahr. Wie viele Jahrzehnte soll es denn noch dauern bis die sogenannten Experten begreifen, was die einfachen Bürgerinnen und Bürger schon lange verstanden haben. Unsere Zeit ist geprägt vom Größenwahn der Großprojekte. Und von einem rastlosen Gigantismus. Was wir aber brauchen ist eine Rückkehr zum menschlichen Maß. Small is beautiful. Ökonomie muss dem Gemeinwohl dienen, nicht der Raffgier und dem Größenwahn weniger. Die Bundeskanzlerin hat in diesen Tagen den starken Satz gesagt: „Stuttgart 21 muss sich aber auch rechnen.“ Frau Bundeskanzlerin: Wenn Sie diese Erkenntnis ernst nehmen, dann hat sich Stuttgart 21 von selbst erledigt. 396 So wie es möglich war, die einst geplanten Großprojekte Frankfurt 21 und München 21 zu beerdigen, so ist es auch möglich, Stuttgart 21 endgültig zu begraben. Der erste Schritt dazu ist ein sofortiger Baustopp. Wenn Wackersdorf, Whyl und Brokdorf gestoppt werden konnten, weil der Widerstand und die Kosten zu groß wurden, dann kann auch Stuttgart 21 noch aufgehalten werden. Hinzu kommt, dass die Brandschutzbestimmungen der Stuttgarter Feuerwehr so wenig erfüllt werden können wie am Berliner Flughafen. „Oben bleiben“ heißt die Alternative. Und endlich Schluss mit den Erpressungsversuchen der Deutschen Bahn gegenüber der Stadt und dem Land. Nur ein Abschied vom alten Verkehrs-Größenwahn macht den Ausstieg aus der irrationalen Stau- und Autogesellschaft möglich. Wir fordern eine intelligente, eine rationale, eine effiziente und eine bezahlbare Verkehrswende. Nur dann wird auch Autofahren eines Tages heilbar. B.IV.1.8 Ideen braucht das Land – ein Beispiel 2005 wurde die Zukunftsinitiative Eifel gegründet. Die Ankurbelung des Tourismus war eines ihrer fünf wichtigsten Handlungsfelder. Doch inzwischen sind die Ideen sehr viel breiter aufgestellt. Kommunen und Kreise stellen Projekte vor, mit denen sie der Zukunft und dem Bevölkerungsschwund begegnen wollen. Die Zukunftsinititative Eifel vertritt 52 Kommunen und acht Wirtschaftskammern in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Jedes Jahr einmal lädt die Zukunftsinitiative Eifel alle 52 Bürger-meister aus dem Eifelraum zu dieser so genannten Bürger-meisterkonferenz ein. Beraten werden Dinge, die in allen Eifelteilen auf den Nägeln brennen. Hauptthema der Bürgermeisterkonferenz 2013 der Zukunftsinitiative Eifel in Eupen war die Vorstellung von Projekten aus den Eifeler Modellregionen im Rahmen des Aktionsprogramms regionale Daseinsvorsorge des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Bei diesen „Modellvorhaben der Raumordnung“ 397 (MORO) machen aus dem Eifelraum die Verbandsgemeinde Daun, der Landkreis Trier-Saarburg und die Region Nordeifel mit. Auch die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens nutzte die Gelegenheit, Mehrgenerationen- und Seniorenprojekte vorzustellen. Bei den Projekten geht es weniger um blanke Theorie, Sand-kastenspiele oder Schubladenpläne, sondern um konkrete Ansatz-punkte, wie man das Leben auf dem Lande angesichts des demografischen Wandels auch in Zukunft erträglich gestalten kann. Es geht um die ärztliche Versorgung, den Nahverkehr, ehrenamtliche Hilfe, Kinder- und Seniorenbetreuung, Jugendarbeit, Kultur auf dem Dorf, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Verbandsgemeinde Daun plant ‚Generationenstätten‘, in denen im Gegensatz zu Kindertagesstätten eben nicht nur Kinder, sondern auch ältere Menschen betreut werden können. Caroline Seibert und die als ‚Seniorencoach‘ ausgebildete Daniela Troes von der Gemeinde Daun stellten ihre diesbezüglichen Pläne vor. Sabine Conrads (Kreisverwaltung Euskirchen) legte den Bürger-meistern, Beigeordneten, Verbandsvertretern und Funktionären der Zukunftsinitiative Eifel unter der Überschrift „Leben in der Nordeifel“ ihre „Immobilien- und Baulückenbörse“ für den nordrhein-westfälischen Eifelteil vor, mit der Wohnungs- und Häuserleerständen auf den vielfach kleinen Nordeifeldörfern vorgebeugt werden soll. Ruth Roelen stellte für die Städteregion Aachen ein vorbildliches Versuchsprojekt dar, mit dem das Leben auf dem Dorf für alle Generationen auch in Zukunft lebens- und liebenswert bleiben soll. Das Ganze nennt sich „Dorfgespräch“ und ist eine ultraleicht bedienbare Internetplattform, auf der man einen Babysitter, Hilfe für die Gartenarbeit oder eine Mitfahrgelegenheit zum nächsten Arztbesuch organisieren kann. 398 B.IV.2 Ein anderes Wirtschaftsmodell Neue Technologien bestimmen unser Leben und verändern unseren Alltag. In den vergangenen Jahrzehnten haben vor allem Computer, Internet und Handy einen flächendeckenden Siegeszug gefeiert und große Namen hervorgebracht wie Microsoft, Apple oder Google. Vor allem sie waren es, die durch immer schnellere Computer, immer leistungsfähigere Datenträger und immer ausgereiftere Software die digitale Revolution vorangetrieben haben. Den letzten großen Doppel-wurf landete Apple unter Steve Jobs mit iPhone und iPad. Doch inzwischen holt Google wieder auf. Das Smartphone-Betriebssystem Android ist längst zum Selbstläufer geworden. Ob das nächste Experiment ebenfalls Früchte tragen wird, bleibt abzuwarten. Die Rede ist von Google Glass. Zunächst einmal sieht die Datenbrille gewöhnungsbedürftig weil asymmetrisch aus. Man könnte auch sagen: futuristisch. Vielleicht etwas zu futuristisch für den Alltagsgebrauch. Was das Ding können soll? Vieles. Was genau? Weiß man nicht so richtig. Wer die Brille trägt, hat offenbar stets ein kleines Display vor Augen, mit dem sich beispielsweise googeln lässt, ohne dass man dafür extra das Smartphone zücken müsste. Auch Foto- und Videoaufnahmen sollen möglich sein. Schon schrillen bei Datenschützern alle Alarmglocken. Und nicht nur bei denen. Wie geheuer wäre Ihnen ein Google-Brillenträger, der Ihnen im Zug gegenübersitzt – und Sie womöglich filmt, ohne dass Sie es bemerken? Sicherlich, das ist prinzipiell auch mit Smartphones schon jetzt möglich. Mit Googles Brille wird der Vorgang aber offenbar ziemlich perfekt getarnt. Bei Google ist man anscheinend überzeugt von dem Produkt, das aggressiv beworben und mit dessen technischen Details zugleich hinterm Berg gehalten wird – eine Lektion, die sich die großen 399 IT-Konzerne von Steve Jobs abgeschaut haben. Der hatte es seinerzeit verstanden, durch intensive Geheimniskrämerei die Erwartungen hochzuschrauben und die mit Spannung erwartete öffentliche Präsentation zu einem Spektakel werden zu lassen. Doch die Brille ist nicht die einzige Innovation, an der zurzeit im Silicon Valley geforscht wird. Schlagzeilen machen auch Pläne um eine Smartwatch – eine Armbanduhr mit Smartphone-Funktionen. Google soll daran arbeiten, Apple sowieso. Das sind natürlich alles nur Gerüchte, wie immer. Und in die reiht sich nun auch Urgestein Microsoft ein. Medienberichten zufolge soll der Windows-Konzern entsprechende Bauteile in Asien bestellt haben. Wozu das Ganze? Offenbar werden die Smartphones zu groß. Riesen-Exemplare wie etwa das Samsung Galaxy Note erinnern längst eher an ein Tablet. Vom Hosentaschenformat sind aber auch kleinere Modelle inzwischen weit entfernt. Genutzt werden die Giganten eher selten, wie jüngst eine Studie ans Licht gebracht hat. Mittelgroße Smartphones erfreuen sich demnach größerer Beliebtheit. Sie bilden den Kompromiss zwischen praktischer Mitnehm-Größe und komfortabler Display-Lesbarkeit. Und nun soll es also doch wieder eine Nummer kleiner werden auf der Armbanduhr. Die wird wahr-scheinlich allerdings recht groß ausfallen – für eine Armbanduhr. Am Ende könnte also das Design entscheiden über die Frage, welcher Hersteller sich durchsetzen kann, sofern am Markt überhaupt ein gesteigertes Interesse an den mutmaßlich klobigen Geräten besteht. Im Gegensatz zum klassischen Handy, das vor allem dann als Prestigeobjekt galt und gilt, wenn es den neuesten technischen Standards entspricht, setzt die geneigte Kundschaft gerade bei Armbanduhren eher auf klassisch-schickes Design. Wenn man denn überhaupt noch eine Armbanduhr trägt, denn nötig ist die ja nicht mehr, seit ein Blick aufs stets greifbare Handy genügt, um die Uhrzeit abzulesen. 400 Insofern ist es eine schmale Gratwanderung, ob die Branche mit der Smartwatch auf das richtige Pferd setzt. Wird sich der Mainstream-Geschmack erneut radikal wandeln und sich neuen Produkten zuwenden, die man ihm anbietet? Oder ist die Innovationslust der breiten Masse inzwischen gestillt, sodass Brille und Armbanduhr eher ein Nischendasein am Körper von Technikliebhabern führen werden? Die Prognosen gehen auseinander, belastbare Erhebungen zum Thema gibt es kaum. Was sagen uns die obigen Ausführungen? Apple war vor einem Jahr das größte börsennotierte Unternehmen weltweit – gemessen am Börsenkapital bei einem Aktienkurs von 710 USD; bereits wenige Monate später war das Unternehmen nur noch etwas mehr als die Hälfte ‚wert‘. Werden immer schnellere Produkteinführungen das Erlahmen des Wachstums in den alten Industrieländern aufhalten können? Kann das Innovationstempo noch weiter gesteigert werden? Wenn ja, wie lange noch? Im Jahr 2025 werden wir eine Milliarde Menschen mehr sein, bis zu 20 Prozent mehr Nahrung nachfragen, bis zu 30 Prozent mehr Energie verbrauchen und bis zu 40 Prozent mehr Wasser benötigen. Was bedeutet das für unser Leben in der Zukunft? Welchen Heraus-forderungen haben wir zu stellen – global und lokal? Welche Modelle der Zukunft ergeben sich aus alledem? Was sind die wichtigsten Zukunftsmärkte und wie stehen unsere Chancen? Meldung vom 25. Januar 2013: Ifo-Geschäftsindex steigt zum dritten-mal in Folge. Der ifo-Geschäftsklimaindex stieg im Vergleich zum Vormonat um 1,8 Punkte auf 104,2 Zähler (Prognose 103,0 Punkte), wie am Freitag mitgeteilt wurde. Aufschlussreich ist ein Blick auf die Einzelkomponenten des ifo-Indexes: Die Erwartungskomponente stieg kräftig um 2,5 Punkte auf 100,5 Zähler, die Einschätzung der aktuellen Lage verbesserte sich um 0,9 Zähler auf 108,0 Punkte. 401 Ist also alles wieder gut? In der Regel ergibt sich nach einem markanten Rückgang des ifo-Indexes erst dann eine sichere Trend-wende zum Besseren, wenn die Erwartungskomponente die Lage-komponente auf dem Weg nach oben überholt. Davon sind wir aktuell noch ein gutes Stück entfernt, aber die Entwicklung geht in die richtige Richtung. Hoffen wir, dass es sich diesmal nicht wieder lediglich um eine mehrmonatige Zwischenerholung vor einem neuen Einbruch handelt. Um zu einem gesicherten Urteil zu gelangen, müssen wir unseren Blickwinkel erweitern. Die traditionelle (neoklassische) Ökonomie hält an einer Reihe von Aussagen fest, die dafür sorgen, dass die Probleme des 21. Jahr-hunderts nicht gelöst werden. Als eindrückliche Belege gelten dabei die Klimaerwärmung, die Übernutzung der natürlichen Ressourcen, der Zusammenbruch der Finanzmärkte 2008/09, die Verschuldung öffentlicher und privater Kassen und die zunehmende Verteilungs-ungerechtigkeit. Die realitätsfernen Annahmen und Modelle sowie die uneingeschränkte Marktgläubigkeit können für die zunehmende Krisenhäufigkeit angesehen werden. Wir müssen uns von dem traditionellen Wachstumsparadigma verabschieden, das in unserer endlichen Welt mit knappen Ressourcen eine unendliche Steigerung der materiellen Produktion fordert. Statt-dessen muss sich die Ökonomie der Frage zuwenden, wie ein nach-haltiges Wirtschaftssystem gestaltet werden kann, das nicht mehr auf der Gewinnmaximierung, sondern auf den Prinzipien Gerechtigkeit, Vorsorge und Dauerhaftigkeit sowie der Bereitschaft zur Leistung beruht. Welche Antworten haben wir? Etwas vereinfacht betrachtet, gibt es zwei Wege, die auf den ersten Blick sich diametral gegenüber stehen: ein ‚Modell des modernes Weiter-so‘ und ein ‚total konträres Modell‘. 402 Das Modell des modernen Weiter-so kann man umschreiben mit den nachfolgenden Äußerungen des Chefentwickler der ‚Pictures of the future‘ bei Siemens • „Städte müssten sich vor allen Dingen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Attraktivität und ihres Arbeitsplatzangebotes, hinsichtlich der Bereitstellung von Lebensqualität sowie bezüglich der Effizienz ihrer Verwaltung grundlegend verändern. Bislang würden diese Aspekte zu häufig getrennt voneinander in unterschiedlichen Verwaltungsressorts be-handelt. Dies gelte es zu überwinden: Ohne Arbeitsplätze kann keine Stadt existieren. Arbeitsplätze entstehen nur bei wirtschaftlicher Attraktivität, und diese ist nur gewährleistet, wenn moderne Mobilitätsinfrastrukturen existieren. Aber Städte konkurrieren auch untereinander: Ohne eine hohe Lebensqualität werden die Menschen nicht kommen, selbst wenn es Arbeitsplätze gibt.“ Die Anforderung eines solchen Modells heißen ‚lokale Weiter-entwicklung‘ mit dem Blick auf den globalen Markt. Fortentwicklung Deutschlands als Exportland bei gleichzeitiger lokaler Modernität. Also: Was dient der Wirtschaft? Das Gegenmodell betont verstärkt eine Art Rückbesinnung auf die eigentliche Lebensqualität und der Anpassung der Wirtschaft. Also: Die Wirtschaft muss den Menschen dienen! B.R.-Kommentar: Können wir nur den einen oder den anderen Weg gehen? Ich meine nein! B.IV.2.1 Wohlstand ohne Wachstum? Eine seltsame deutsche Teilung ist im Gang: Mit dem Wohlstand im Land geht es aufwärts, mit der Stimmung abwärts. Zwar haben in Deutschland noch nie so viele Arbeitnehmer (insgesamt) so viel verdient. Doch neuerdings wird das auf dem Konto gelandete Geld mit 403 bangem Blick betrachtet: Laut Umfrage Ende März 2013 glauben 54 Prozent der Bundesbürger nicht mehr, dass Spareinlagen in Deutschland sicher sind. Kein Wunder. Ob es um Zypern, Griechen-land, Spanien oder Italien geht: Jeden Abend wird das Wort ‚Euro‘ in den Fernsehnachrichten mit dem Wort ‚Krise‘ kombiniert. Und die Wachstumsprognosen sind auch nicht mehr jene aus dem Jahre 2011 und 2012. Meldung vom 25. März 2013. Die fünf Wirtschaftsweisen haben ihre Wachstumsprognose für die deutsche Wirtschaft mehr als halbiert. Für 2013 werde nur noch ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 0,3 Prozent erwartet, teilte der Sachverständigenrat mit. Im Herbst waren noch 0,8 Prozent vorhergesagt worden. Grund für die Senkung sei der unerwartete Einbruch im vierten Quartal 2012, als Europas größte Volkswirtschaft mit 0,6 Prozent so stark schrumpfte wie seit Anfang 2009 nicht mehr. Dadurch startet sie mit deutlich weniger Schwung in das Jahr 2013. Dennoch hatten zuletzt mehrere Wirtschafts-forschungsinstitute ihre Wachstumsprognosen angehoben. Die Zeiten, in denen die Herren des Gelds mit minimalen Drehungen an der Zinsschraube die großen Volkswirtschaften steuerten wie ein Kapitän eines Supertankers, sie sind vorbei. ‚Bazooka‘, QE III‘ oder ‚Dicke Berta‘, solche Spitznamen tragen heute die Instrumente der Notenbanker. Mit Hunderten von Milliarden Euro auf einmal fluten sie die Banken. Doch die Hoffnung, dass die mit frischem, billigem Geld vollgesogenen Banken endlich wieder mehr Kredite an die Unter-nehmen und Haushalte vergeben, erfüllt sich nicht. Es bestätigt sich die historische Erfahrung, dass schwere Finanzkrisen in besonders lange wirtschaftliche Schwächephasen münden und die Staatsschulden weiter in die Höhe treiben. In den USA und der Euro-Zone, in Japan und Großbritannien ähnelt sich die Lage: Die Leitzinsen sind nahe Null, das Wachstum ist negativ oder sehr schwach und die Inflation ist im historischen Maß niedrig. Mit den Zinssenkungen sind die Zentralbanken am Ende, die bei-spiellose Ausweitung der Bilanzsummen hat zwar das globale 404 Finanz-system – vorläufig – vor dem Kollaps bewahrt, aber die Realwirtschaft nicht nachhaltig angekurbelt. In Japan ruft der neue Regierungschef Shinzo Abe im Januar 2013 die Notenbank dazu auf, so lange unbegrenzt Staatsanleihen und andere Wertpapiere zu kaufen, bis die Inflationsrate wieder auf zwei Prozent steigt. In den USA kündigt die Notenbank Fed an, die Zinsen erst wieder zu erhöhen, wenn die Arbeitslosenquote auf 6,5 Prozent gesunken ist. In der Euro-Zone verspricht die EZB, notfalls unbegrenzt Anleihen von Krisenländern zu kaufen, um den Fortbestand des Euros zu sichern. Und auch die Bank von England hat trotz steigender Inflationsgefahr weitere Anleihekäufe in Aussicht gestellt. Das alles klingt danach, dass sich die globale Geldschwemme noch einige Jahre fortsetzen wird. Doch die Stimmen der Zweifler werden lauter. Ich frage mich, warum erst jetzt? Sind doch die Wachs-tumsraten der reifen Industrieländer im Trend in den letzten Vier-Jahrzehnten immer geringer geworden. Also: Die Medizin der Geldschwemme und niedriger Zinsen hat durch die Finanz-systemkrisen eher der Wachstumsdynamik geschadet. Experten befürchten sogar bis 2050 ein Null-Wachstum in den USA. Es sind die langfristigen, strukturellen Schwierigkeiten der USA, die Sorge bereiten. Doch worin genau liegen diese langfristigen Probleme begründet? Die USA gehören zu den reifen Industrieländern, die besonders stark von der Problematik der alternden Bevölkerung betroffen sind. Die ‚Baby Boomer‘ sind inzwischen in ein Alter gekommen, in dem nicht mehr so freizügig das Geld ausgegeben wird. Das drückt den Konsum – Konsum und Aktienmärkte werden nur noch leicht ansteigen. Die Rückkehr zu den ‚goldenen Zeiten der achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts‘ ist unwahr-scheinlich. Die demografischen Entwicklungen der USA kennen wir Deutschen ja bereits. In einem gewissen Umfang fangen wir Deutschen die schwächer werdende ‚innere‘ Wachstumsdynamik durch die hohe Exportfähigkeit auf. Diese gilt es auch unbedingt zu erhalten. Doch wir 405 müssen erkennen, dass die ‚innere Wachstumsdynamik‘ mehr und mehr nachlässt. Welche Faktoren sind dafür verantwortlich? Und in welchem Maße können wir diese positiv beantworten? B.IV.2.2 Was aber ist Wohlstand – wie messen wir Wohlstand? Wirtschaftswachstum ist wichtig – aber Wachstum ist nicht alles! Meldung vom 28. Januar 2013: Der Wohlstand der Deutschen soll neu vermessen werden. Das geht aus einem Bericht der Enquete-Kommission ‚Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität‘ hervor. „Wir brauchen ein Verständnis von Wohlstand, das über das Brutto-inlandsprodukt hinausgeht“, sagt die Vorsitzende der Kommission, Daniela Kolbe. Bei Fragen nach dem Wohlstand eines Landes ist man schnell beim Bruttoinlandsprodukt (BIP). Doch dieses sagt wenig über die sozialen und ökologischen Zustände aus. Union und SPD wollen deswegen zehn weitere Indikatoren für einen ‚Jahreswohlstandsbericht‘ heran-ziehen. Derzeit ist das BIP der gängigste Gradmesser des wirtschaftlichen Wohlergehens. Er misst den Wert aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr erstellt werden. Seit jeher stößt dieser Ansatz auf Kritik. Denn das BIP sagt nichts darüber aus, unter welchen sozialen und ökologischen Bedingungen in einem Land gewirtschaftet wird Der Messwert Inlandsprodukt, so heißt es in dem Bericht, müsse‚ „ergänzt oder erweitert werden, damit ein umfassendes Bild gesellschaftlichen Wohlstands entstehen kann“. Die OECD hat sich bereits vor zehn Jahren vom Leitstern des BIP verabschiedet und setzt beim Lebensqualitäts-TÜV auf 22 Leit-indikatoren. Deutschland will nun folgen. Allerdings ist noch umstritten, wie kompliziert der jährliche Wohlstandsbericht sein darf. Die Enquete-Kommission tritt für zehn Messwerte ein, die zukünftig Aufschluss über das Befinden geben sollen. So treten zur Messung der 406 Wirtschaftslage neben das BIP je Einwohner auch der Schuldenstand und die Verteilung der Einkommen. Letzteres soll ein Indikator bewerten, der das Gesamteinkommen des Fünftels mit den höchsten Einkommen ins Verhältnis zu jenem der einkommensschwächsten 20 Prozent setzt. Hinzu kommen Messwerte über die soziale Situation, erhoben in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Qualität der Arbeit. Auch ein Welt-Index über die Rechtsstaatlichkeit soll hier einfließen. Den Zustand der Umwelt sollen Zahlen zur Artenvielfalt, zum Klimaschutz und zum Stickstoffkreislauf – aussagefähig für die Landwirtschaft – aufschlüsseln. Viele dieser Indikatoren gibt es bereits. Die zehn Eckpunkte sollen einmal jährlich in einen ‚Jahres-wohlstandsbericht‘ einfließen. Ein solcher Wohlstandsbericht wird zwangsläufig ein anderes Verständnis von Wachstum vermitteln und letztlich auch zu einer anderen Art des Wirtschaftens. B.IV.2.3 Der Wert eines Produktes oder einer Dienstleistung Im Jahr 2009 wurden in Deutschland Waren und Dienstleistungen im Wert von 2,4 Billionen Euro produziert. Darunter fallen Kleidung und Essen, Wohnungen und Autos, CDs und Konzerte, Reisen und Lotterielose. Vieles davon findet Abnehmer, weil es sich unver-zichtbare Güter handelt. Doch längst nicht alle Nachfrage auf Märkten erklärt sich quasi von selbst. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert entfielen noch vier Fünftel der Ausgaben auf die Grundbedürfnisse Wohnen, Kleidung und Essen. Heute ist dieser Anteil auf ein gutes Drittel zusammengeschmolzen. Warum aber kaufen wir immer mehr, anstatt einfach weniger zu arbeiten? In modernen (reifen) wohlhabenden Ökonomien ist die Nachfrage nach Gütern längst dem Reich des Notwendigen entschwunden und wird dadurch zufällig. Wir könnten auch mit viel weniger Gütern auskommen. Das Wachstum beruht jedoch darauf, dass die Wirtschaftssubjekte genau so nicht denken. Wäre in einer Ökonomie des Verzichts die Krise permanent? 407 In verschiedenen Forschungsprojekten am Max-Plank-Institut für Gesellschaftsforschung sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Frage nach den Quellen des Werts von Gütern nachgegangen. Dabei richtete sich das Interesse gerade auf Produkte, für die sich die Frage besonders stellt: Warum geben Menschen jedes Jahr über acht Milliarden Euro für das Lottospielen aus, obwohl sie wissen, dass die Chance zu gewinnen gleich gegen Null geht. Wie kann es sein, dass eine Flasche Wein für einhundert Euro verkauft wird, obwohl sie in der Produktion nicht teuer ist als eine Flasche für fünfzehn Euro und selbst Experten die Qualitätsunterschiede nicht schmecken? Warum geben Menschen viel Geld für eine heruntergekommene Lederjacke aus, nur weil sie von einem verstorbenen Rockstar ist. Die Unter-suchung von Lotto, Wein und Antiquitäten mag auf den ersten Blick ein wenig abwegig erscheinen. Man mag meinen, solche Phänomene gibt es, doch in den wirklich wichtigen Teilen der Wirtschaft spielt das doch keine Rolle. Dieser Schluss ist voreilig! Phänomene, die sich bei Wein und Antiquitäten finden, treten auch bei Autos, Reisen und sogar bei der Nachfrage nach Innovationsgütern sowie auf Finanzmärkten auf. Die Beschäftigung mit der sozialen Konstruktion von Wert ist somit ein Kernthema der Forschung der Wirtschaft. Es geht dabei um die Identifizierung der Mechanismen, die in der Bewertung von Gütern wirken. Dies können moralische Überzeugungen sein, wie etwa bei Fairtrade-Produkten, bei denen die Käufer bereit sind, einen höheren Preis zu bezahlen, und zwar nicht, weil das Produkt besser ist, sondern weil die Produktionsweise mit ihren moralischen Werten korrespondiert. Das kann der Versuch der Erlangung einer eigenen Identität – etwa des sozialen Status oder der kulturellen Zugehörigkeit – sein, in die die Käufer von Gütern flüchten, etwa wenn sie ein Lotterieticket oder einen besonders alten Wein erwerben. Wert, so die Ausgangsüberlegung der verschiedenen Forschungs-projekte am MPIfG zu diesem Thema, entsteht in modernen Ökonomien immer stärker durch die symbolische Aufladung von Gütern. Qualität ist nichts den Gütern Innenwohnendes, sondern 408 entsteht in der Gesellschaft – also in der Kommunikation über Objekte und Dienstleistungen und ausgefeilte soziale Strukturen wie anerkannte Experten, Rankings, Zertifikate, Marken, Diskussionsforen, Standards und soziale Netzwerke, mit Hilfe derer Unterscheidungen zwischen ansonsten ununterscheidbaren oder bedeutungslosen Objekten getroffen werden und Wert entspringt. Nicht technische Qualitätsunterschiede bestimmen den Wert von symbolisch aufgeladenen Gütern, sondern im Marktfeld intersubjektiv geteilte Bedeutungen. Die Beschäftigung mit der Konstruktion ökonomischen Werts gibt nicht nur Einblicke in die sozialen Konstruktionen der Ökonomie, sondern auch Erkenntnisse über die Gesellschaft. Bei Lotterielosen lässt sich fragen, welche Bedeutung die Hoffnung auf den Haupt-gewinn für die Integration der Gesellschaft hat. Bei Mode und Luxuswaren lässt sich fragen, welche Bedeutung diese für die Differenzierung sozialer Ordnung haben. Die Beschäftigung mit der sozialen Konstruktion von Wert schärft zugleich den Blick für die Verwundbarkeit einer Wirtschaftsordnung, deren Grundlage wesentlich in der Symbolbedeutung der Objekte steht. So wie die Menschen die Nacht vor einem Geschäft zubringen, nur um als erste das neuste Produkt eines kalifornischen Computer-herstellers zu besitzen, so kann dieses Interesse auch erlöschen. Doch was geschähe wenn Menschen zukünftig im Auto nichts anderes als ein Transortmittel sähen, um von einem Ort zum anderen zu gelangen? Wer würde dann noch so viel Geld ausgeben wollen, um ein teures Auto aus Sindelfingen zu erstehen? Was würde das für das Wachstum der Wirtschaft bedeuten? B.IV.2.4 Umfrage: Bürger wollen kein Wachstum um jeden Preis Wir wissen, dass das Streben nach Wachstum dem Menschen inhärent ist. Aber es muss ein Wachstum sein, das sich durch Qualität statt Quantität auszeichnet, das nicht wenigen Einzelnen, sondern der 409 Gesellschaft nützlich ist, das nicht die Biosphäre zerstört, sondern mit ihr harmoniert. Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid im Auftrag der deutschen Bertelsmann Stiftung im Jahr 2010 zeigt, dass fast drei Viertel der Befragten in Deutschland den Selbstheilungskräften der Märkte misstrauen. Drei Viertel der Bürger akzeptieren auch einen geringeren Zuwachs an materiellem Wohl-stand, wenn dadurch die Umwelt für künftige Generationen besser erhalten und die öffentliche Verschuldung gesenkt werden könnte. Zugleich breitet sich bei den Befragten Skepsis aus. Wirtschaftliches Wachstum ist zwar für 93 Prozent wichtig, um die Lebensqualität zu erhalten, allerdings nicht um jeden Preis. Einen Wohlstand, der durch Schädigung der Umwelt oder hohe Staatsverschuldung erkauft wird, lehnen mehr als 80 Prozent ab. „Die Soziale Marktwirtschaft ist über Jahrzehnte eine stabilisierende und ausgleichende Kraft in unserem Land und damit auch ein Garant für den sozialen Zusammenhalt gewesen. Auf ihrem Fundament muss jetzt eine langfristige Strategie zum Umgang mit Krisen entwickelt werden. Vertrauen, Nachhaltigkeit und sozialer Ausgleich müssen die Grundpfeiler einer solchen Strategie sein“, so Dr. Gunter Thielen, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung. Schon heute sind viele Konzepte in Anwendung, die den Konsumenten erste Hinweise für ihren Konsum geben, wie zum Beispiel quantitative Labels und Ampeln. Auch bieten Management-Checklisten den Unternehmen grobe Leitlinien. Das konkrete Ausmaß der öko-logischen Wirkung ist mit diesen Labels und Konzepten nicht steuerbar. Quantitative Ansätze wie die Umwelt-GuV liefern hier schon erste quantitative Informationen und tragen so zur Bewusst-machung der Risiken bei. Sichtweisen der Konsumenten fehlen hier noch und die monetären Bewertungseinheiten können im Knapp-heitsfall nicht gleichzeitig monetär gehandelt werden. Somit ist eine Ansteuerung der ökologischen Nachhaltigkeitsbalance nicht möglich. Diese Ansteuerung wird mit Ansätzen wie dem CO2 Zertifikate-Handel möglich, da hier konkrete Gesamtziele gesetzt 410 werden. Es müssten nun noch fehlende ökologische Felder in einer einheitlichen Nachhaltigkeitswährung ergänzt werden. Diese Funktionalitäten bietet futureparty und sieht sich damit als zukunftssicheres ökologisches Nachhaltigkeitskonzept. Dieses Konzept basiert auf 10 Erfolgs-kriterien: 1. In der Beschreibung ihrer Systematik und Wirkweise müssen Labels und Konzepte das Oberziel ‚ökologische Nach-haltigkeitsbalance‘ explizit formulieren und aufzeigen, wie es erreicht werden soll. 2. Alle Akteure und Einzelziele müssen in einem Gesamtkonzept abgestimmt sein (one fits all), um Fehlsteuerungen zu ver-meiden. 3. Ökologischer industrieller Wettbewerb muss initiiert werden, um die Innovationskraft der Industrie auch in den Dienst der Natur zu stellen. Das heißt, dass Unternehmen im limitierten ökologischen Rahmen nur wirtschaftlich wachsen können, wenn sie ökologisch besser als der Wettbewerb agieren. 4. Nur mit quantitativen Informationen kann der Konsument bei seiner Kaufentscheidung seinen individuellen Konsum richtig bewerten (Konsumenten-Guidance) und so seinen freedom of lifestyle im gesetzten ökologischen Rahmen gestalten. 5. Wirtschaftliche und wissenschaftliche Aspekte müssen durch demokratische Mitbestimmung ergänzt werden, da die Natur Gemeingut ist. 6. Die quantitative Abdeckung aller relevanten ökologischen Nachhaltigkeitsfelder in allen Prozessschritten und Industrien schafft Vergleichbarkeit. 7. Vorhandene Unternehmensdaten müssen einfach ökologisch bewertbar werden und in 411 weiteren Ausbaustufen die öko-logischen Daten mit den wirtschaftlichen Daten mitgeführt werden. So fallen im Entscheidungsfall keine Nacherhebungen an und die Komplexitätsbeherrschung wird gesichert. Gleich-zeitig ist eine Aggregierbarkeit der Detailkennzahlen nötig, um eine Gesamtbewertung, -steuerung und eine entsprechende Kommunikation zu ermöglichen. 8. Die Einführung des Konzeptes ist wegen seiner Mächtigkeit nur schrittweise möglich. Daher müssen Konzept-bestandteile aufeinander aufbauen können. die 9. Für alle Akteure muss der Umgang mit ökologischer Nachhaltigkeit planbar sein. Mit der Handelbarkeit (z.B. an Börsenplätzen) können unterschiedliche Bedarfe an öko-logischem Nachhaltigkeitsverbrauch zwischen den Akteuren ausgeglichen werden. 10. Die Handelbarkeit erforderte getrennte quantifizierte Maß-einheiten für ökologischen Nachhaltigkeitsverbrauch (Quantität und Wert). Ein konkretes Beispiel: Nachhaltiges Lieferkettenmanagement in der Textilindustrie Kennen Marken und Einzelhändler die Herstellungsgeschichten ihrer Produkte? Immer mehr Modekonzerne machen sich auf, um Sozialverträglichkeit, umwelt-schonende Produktionsweisen und die Vermeidung von schädlichen chemischen Substanzen in der gesamten Wertschöpfungskette nicht nur zu fordern, sondern deren Einhaltung sicherzustellen. Bis ein textiles Produkt im Laden liegt, hat es eine Reise hinter sich, von der die meisten Menschen nur träumen können. Die textile Lieferkette ist verzweigt und unübersichtlich. Ein Hemd etwa durchläuft vom Faseranbau über Garnerzeugung, Weben, Färben und Drucken bis zur Konfektion viele Arbeitsschritte. In der Konfektion wird der fertige Oberstoff mit anderen Zutaten wie Etiketten oder Knöpfen zusammengefügt. Wenn jede einzelne Komponente eine eigene Wert-schöpfungskette hat, werden die Komplexität und der hohe Aufwand für die Transparenz der Lieferkette deutlich. 412 Die Verarbeitung erfolgt meist in Niedriglohnländern. Bis zu 30 verschiedene Zulieferer und Subunternehmer an Produktionsstandorten in unterschiedlichen Ländern sind im Durchschnitt an der Produktion eines Herrenhemdes beteiligt. Hinzu kommt, dass sich die einzelnen Stationen mit jedem neuen Auftrag ändern können. Dabei den Überblick zu behalten, ist arbeitsintensiv, zumal Mode- und Handelskonzerne häufig nur mit dem Ende der Kette, das heißt mit Konfektionären oder direkten Lieferanten von fertigen Kleidungsstücken in Kontakt stehen. Vorgelagerte Herstellungsprozesse und Standorte sind meistens unbekannt. Nur einige Markenhersteller kaufen die Komponenten und fertigen das Bekleidungsstück in eigenen Fabriken oder bestimmen die Vorlieferanten. Risiken erkennen: Anders als vor zehn Jahren fragen Analysten, Investoren, Nichtregierungsorganisationen und Verbraucher immer detaillierter nach, wie sich ein Unternehmen in sozialen Fragen, in Sachen Ökologie und Ethik verhält. Das hat Auswirkungen auf die Bewertung des Unternehmens und die Kaufentscheidungen der Konsumenten. Ein „Ja“ zu mehr Transparenz kann bedeutsame Auswirkungen auf die Geschäftsprozesse haben, und erfordert neben finanziellen und fachlichen Ressourcen auch Mut und Ausdauer. Viele Mode- und Handelsunternehmen stehen erst am Anfang dieses Weges. Es werden Regeln aufgestellt, Verhaltenskodizes formuliert und ausführliche Listen mit verbotenen chemischen Substanzen zusammengestellt. Allerdings ist es üblich, Vereinbarungen nur mit Direktlieferanten zu treffen und auch nur diese zu über-prüfen. Eine Garantie, ob diese Anforderungen verstanden, eingehalten und an Zulieferer weitergegeben werden, gibt es nicht. Daran hat auch der „Audittourismus“, der sich in den letzten zehn Jahren entwickelt hat und bei dem Konfektionsstätten nahezu wöchentlich von verschiedenen Kunden geprüft werden, nicht viel verändert, wie die aktuellen Ereignisse in Bangladesch zeigen. Ein Audit ist lediglich eine Momentaufnahme und bringt ohne weitere Maßnahmen des auditierten Betriebes keine Veränderung oder Verbesserung. Im Hinblick auf Schadstoffe werden bislang hauptsächlich fertige Produkte stichprobenartig im Labor getestet. Ist das Ergebnis positiv, sind kostspielige Rückrufaktionen, verbunden mit Imageschäden die Folge. Durch steigende gesetzliche Anforderungen muss zunehmend mehr getestet werden - was die Kosten weiter in die Höhe treibt. Ökologische Anforderungen wie Abwasserreinigung oder Abfallwirtschaft sind am Endprodukt ohnehin nicht erkennbar. Rückverfolgungssysteme etablieren: Wie also gelingt es, einen Mehrwert im Sinne einer nachhaltigen Weiterentwicklung zu schaffen? Die erste große Hürde ist die Identifizierung aller Lieferanten vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt. Für viele Produzenten stellt das Offenlegen von bisher als vertraulich betrachteter Daten über 413 Zulieferer ein großes Hindernis dar. Unternehmen können dem begegnen, indem sie neutrale externe Stellen beauftragen oder mit eigenen Abteilungen und Rückverfolgungssystemen interne Strukturen schaffen, die unabhängig vom Einkauf agieren. Modeunternehmen müssen verstärkt präventive Maßnahmen initiieren. Dazu gehört auch, die interne Kommunikation zwischen den einkaufenden Abteilungen und der Designabteilung von Modeunternehmen auszubauen. Hier muss ein Bewusstsein für die Auswirkungen ständig wechselnder Designs oder für die Problematik bestimmter Farben, Effekte oder Materialien geschaffen werden. In den Produktionsunter-nehmen spielen vor allem Wissensvermittlung und Bewusstseinsschaffung eine große Rolle. Allerdings erzielen Diskussionen am Runden Tisch, die Probleme nur theoretisch lösen, oder Lieferantenseminare nach dem Gießkannenprinzip - beides häufig das Mittel der Wahl, wenn Audits alleine keine Verbesserung bringen - nicht die gewünschten Resultate. Vielmehr müssen die Produktionsprozesse und Arbeitsabläufe direkt in den Betrieben beobachtet werden. So kann der Schulungsbedarf genauestes ermittelt und die Arbeitenden praxisorientiert trainiert werden. Es gibt immer schwarze Schafe: Es geht um ein gemeinschaftliches Miteinander, nicht um Kontrolle. Viel Kommunikation und persönlicher Kontakt zu einer konsolidierten Anzahl von Lieferanten fördert die Vertrauensbildung. Eine Investition in den Aufbau und die Pflege langfristiger Lieferbeziehungen gibt den Produzenten Planungssicherheit und stärkt den Willen zu verantwortungsvollem Handeln mehr als jedes von oben vorgeschriebene Regelwerk. Unabhängig in welchem Land produziert wird: Es gibt immer schwarze Schafe, aber eben auch zahlreiche Herstellungsbetriebe, deren Inhaber oder Manager verantwortungsvoll handeln und das Wohl ihrer Mitarbeiter im Auge haben. Und genau diese machen den Unterschied. Wenn dazu die einkaufenden Unternehmen über veränderte Beschaffungsstrategien, angemessene Preisgestaltung und Motivation der eigenen Einkäufer Anreize für Lieferanten schaffen und Hilfestellung bei komplexen Aufgabenstellungen anbieten, kann der Produzent auf mehr Qualität und bessere Arbeitsbedingungen setzen und auf Subunternehmer verzichten. Bekleidungsanbieter allerdings, die sich im Wettbewerb weiter nur über den Preis definieren, nehmen billigend in Kauf, dass unter schlechtesten Bedingungen produziert wird. Dadurch wird sich nichts ändern. Veränderungen müssen auf beiden Seiten gewollt sein. Werden Verbesserungen in den Fabriken angenommen und konsequent umgesetzt, wächst auch die Effektivität, und die Motivation des Produzenten für weitere Veränderungsprozesse steigt. Mit der Zeit wird er sich seinerseits ein Netz zuverlässiger Zulieferer aufbauen. So 414 entwickeln sich, auch wenn es keine hundertprozentige Sicherheit gibt, Schritt für Schritt nachhaltigere und rückverfolgbare Lieferketten. B.IV.2.5 Marktmacht der Verbraucher - Abstimmung mit dem Geldbeutel Billige Textilien, teurer Strom: Nach Ansicht der Politik liegt es in der Hand der Verbraucher, ihre Marktmacht für bessere Arbeits-bedingungen in Entwicklungsländern einzusetzen - und für günstigere Energiepreise auf dem deutschen Markt. Die Politik entdeckt den Verbraucher, das unbekannte Wesen. Sie sollen richten, was in der Marktwirtschaft schiefläuft - und das sind mal viel zu niedrige und mal zu hohe Preise. Viel zu billige Produkte, verbunden mit inhumanen Arbeits-bedingungen in Großfabriken der Dritten Welt - das schreckte Ent-wicklungsminister Dirk Niebel (FDP) auf, nachdem einem Feuer in einer Textilfabrik in Bangladesch bei Dhaka mehr als 1000 Menschen gestorben waren. Die Fabrik Tazreen Fashion Limited gehört zur Tuba Group, die unter anderem für C&A, Carrefour und Wal-Mart produziert. „Wer ein T-Shirt für 99 Cent kauft, der muss - bei aller Freude über den niedrigen Preis - wissen, dass dieser niedrige Preis auf Kosten der Erzeuger geht, häufig in Entwicklungsländern“, mahnt Minister Niebel. Der Verbraucher könne seine Marktmacht einsetzen. Auch Ex-Bundes-arbeitsminister Norbert Blüm fordert ein neues öffentliches Bewusst-sein: „Wir brauchen so eine Welle, dass es für die Schnäppchenjäger Grenzen der Menschlichkeit gibt.“ Stromanbieter wechseln: Die geballte Macht der Verbraucher ist gefragt. Sie soll dagegen in Deutschland dafür sorgen, dass Energie nicht zu teuer wird. Gut 500 Stromversorger, mehr als die Hälfte aller Gesellschaften in Deutschland, haben zum Jahreswechsel ihre Preise 415 erhöhen. Durchschnittlich zwölf Prozent mehr müssen Kunden 2013 zahlen. Nach dem Willen von Bundesnetzagentur und Bundeskartellamt sollten die Deutschen dem Treiben ihrer Anbieter nicht länger tatenlos zusehen. Die Verbraucher sollten ihre Stromversorger wechseln, um nicht drastisch erhöhte Rechnungen zahlen zu müssen: Zu dieser radikalen Reaktion rufen Netzagentur und Kartellamt in ihrem ersten gemeinsamen Monitoringbericht zum Strom- und Gasmarkt auf. „Vor dem Hintergrund weiterer angekündigter Strompreiserhöhungen sollten alle Verbraucher prüfen, ob nicht günstigere Angebote verfügbar sind“, sagt Netzagentur-Präsident Jochen Homann. Das fördere den Wettbewerb, assistiert Kartellamts-Chef Andreas Mundt. Zwar inzwischen mehr als 30 Prozent der Bürger und Firmen die Möglichkeit zum Wechsel bereits genutzt, dennoch bleiben die meisten Kunden bislang ihrem teurerem Tarif treu. Dabei ist der Wechsel einfach: Tester wie die Stiftung Warentest ermitteln günstigere Tarife. Der neue Anbieter kümmert sich in der Regel um die Formalitäten und kündigt dem alten Stromversorger. Erhöht der Anbieter den Preis, haben Kunden ein Sonderkündigungsrecht. Die Frist ist mit vier Wochen bis zum Monatsende allerdings meist knapp bemessen. Sorge bereitet den beiden Behörden auch, dass die deutschen Strom-netze immer häufiger an ihre Belastungsgrenzen stoßen. Immer häufiger müssten zur Stabilisierung unplanmäßig Kraftwerke abge-schaltet oder angeworfen werden. Für Homann und Mundt ein Warnsignal: „Gemessen an dem starken Zubau der erneuerbaren Energien schreitet der Netzausbau nur äußerst langsam voran, wichtige Netzausbauprojekte haben erheblichen Zeitverzug.“ Im internationalen Vergleich stehe Deutschland allerdings immer noch sehr gut da. Auch nach Stilllegung von acht alten Kernkraftwerken im Zuge der Energie-wende erweise sich das deutsche Stromnetz mit einer durch-schnittlichen Unterbrechungsdauer von gut 15 Minuten pro Kunde im Jahr als sehr zuverlässig. Und was die Preise angeht: Da ist ja noch der Verbraucher. 416 B.IV.2.6 Eine andere Art des Wirtschaftens Wirtschaftswachstum lässt nicht nur Umsätze und Einkommen steigen, sondern auch den Ausstoß von Treibhausgasen. Ist ‚Grünes Wachs-tum‘ ein Ausweg, ist es Märchen oder Strategie? Um die künftigen Probleme im Bereich Umwelt, Klima und Ressourcen, wissen wir schon länger: Unsere Wirtschaft verbraucht zu viele Rohstoffe, ihre Produktion ist zu wenig nachhaltig und künftig müssen mit genau dieser Wirtschaft rund drei Milliarden Menschen mehr mit Gütern versorgen als heute. Wenn wir nicht umsteuern, endet das für den Planeten höchstwahrscheinlich in einer Katastrophe. Nun ist die Frage: Wie gehen wir mit diesem Problem um? Die Ant-worten darauf könnten nicht unterschiedlicher sein und seit Jahren streiten Experten, Forscher und Unternehmer um die Lösungen. Vor allem Vertreter der alten Schule der Umweltbewegung und neuere wachstumskritische Ökonomen predigen den Verzicht. Denn kon-sumieren wir nicht alle weniger, bekommen wir die Probleme der Zukunft nicht in den Griff. Wohlstand sei durchaus auch ohne Wachstum möglich, und auf Dauer schade das Wachstum unserem Wohlstand, weil es dessen natürliche Grundlagen plündert so argumentierte der britische Wachstums-kritiker Tim Jackson von der Universität Surrey. Eine Entkopplung von Wachstum und Umweltschäden hält er nicht für machbar. „Die Anforderungen wären enorm: In einer Welt mit neun Milliarden Menschen, die alle nach westlichen Einkommen streben, müsste die globale Kohlenstoffintensität der Wirtschaftsleistung im Jahr 2050 mindestens 130-mal niedriger sein als heute – dies wäre eine technologische Meisterleistung der Industriegesellschaft, jenseits von allem bisher Erreichten“, sagte Jackson. 417 Einer der einflussreichsten deutschen Vertreter dieser Denkrichtung ist der Ökonom Niko Paech, derzeit Gastprofessor am Lehrstuhl für Produktion und Umwelt an der Universität Oldenburg. Er plädiert für eine ‚Postwachstumsökonomie‘ und sagt: „Unser aktuelles Wirt-schaftssystem beruht nur auf einer Plünderung der Natur und kommt mit der sich abzeichnenden Verknappung wichtiger Ressourcen an sein Ende.“ Der 52-Jährige streitet deshalb für eine Ökonomie der Bescheidenheit. Darüber hat er auch ein Buch verfasst: „Befreiung vom Überfluss“, heißt es. Paech gehört damit auch zu den schärfsten Kritikern einer Green Economy, die propagiert, dass technischer Fortschritt und nachhaltigere Unternehmen einen gangbaren Weg in die Zukunft ebnen. Der Ökonom lebt zudem vor, was er lehrt: Seine Kleidung kommt aus dem Second Hand Shop, ein Auto hat er nicht, fliegen lehnt er generell ab. Auch um zu Lehrveranstaltungen in der Schweiz zu kommen, nimmt er den Zug. Einer der wichtigsten Vordenker und Verfechter der von Paech kritisierten Green Economy ist Ralf Fücks, der Vorsitzende der Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen in Berlin. Fücks war zuvor Bundesvorsitzender der Partei und Senator für Umwelt und Stadtent-wicklung in Bremen. Die Zweifel an der Wachstumsökonomie nennt er „Weltflucht“. In seinem gerade erschienenen Buch „Intelligent wachsen – die grüne Revolution“ beschreibt Fücks als Gegenentwurf, wie ein nach-haltigeres Wirtschaftssystem aus seiner Sicht aussehen kann. Zentrale Eckpfeiler für den Sozialwissenschaftler sind dabei: Eine deutlich gesteigerte Energieeffizienz bei der Produktion und in den Haushalten, eine Energierevolution, Zukunftsoptimismus und eine ökologische Steuerreform. „Letztendlich geht Wohlstand über materielle Interessen weit hinaus", betonte Jackson. „Er beruht auf unserer Fähigkeit, als menschliche 418 Wesen ein gutes Leben zu führen – und zwar innerhalb der öko-logischen Grenzen einer endlichen Welt.“ B.R.-Kommentar: Ja, Wohlstand geht weit über materielle Interessen hinaus! Ja, wir werden bescheidener leben müssen! Aber nicht nur die Natur hat Grenzen – auch der Mensch. Die emotionale Sehnsucht nach einem höheren materiellen Wohlstand wird für den überwiegenden Teil der Menschen weltweit weiterhin von großer Bedeutung sein. Wie bringen wir die beiden Grenzen so zu einander, dass der Mensch Einsicht gewinnt – als Individuum, als Teil einer Gesellschaft, als Teil der Weltgemeinschaft? B.IV.2.7 Das Wachstum der Schwellenländer Chinas spektakulärer Aufstieg ist eine der wichtigsten Entwicklungen unserer Zeit: Innerhalb weniger Jahrzehnte stieg das vom Maoismus völlig ausgeblutete Land zur zweitgrößten Wirtschaftsnation der Welt auf. Und auch heute noch weist das Reich der Mitte höhere Wachstumsraten aus als jede andere große Volkswirtschaft (wenn auch mit fallender Tendenz). Aufgrund des weltwirtschaftlichen Abschwungs und der Maßnahmen zur Drosselung der Nachfrage, die die chinesischen Behörden im Anschluss an das umfangreiche Konjunkturprogramm der Jahre 2008 – 2009 einleiteten, hat sich das Wirtschaftswachstum in China seit 2010 – 2011 verlangsamt. Besonders negativ wirkte sich dabei die globale Nachfrage aus. Als ‚Werkbank der Welt‘ ist China naturgemäß noch stark von den Ausfuhren in den Westen abhängig, der aber weiterhin unter den Folgen der Finanz- und Schuldenkrise leidet. Im Herbst 2012 kam das Exportwachstum des Landes fast völlig zum Erliegen. So sank das Wachstum des realen BIP im dritten Vierteljahr das siebte Quartal in Folge. Doch es betrug immerhin noch immer 7,4 Prozent. Inzwischen sind Chinas Machthaber aber wieder auf Wachstumskurs umgeschwenkt. Im vierten Quartal 2012 erholte sich das Wachstum auf 419 überraschend hohe 7,9 Prozent. Daneben lag das Wachstum der chinesischen Industrieproduktion im Dezember wieder bei 10,3 Prozent, und die Einzelhandelsumsätze stiegen um 15,2 Prozent. Auch die Exporte stiegen um 14,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Export setzt man zunehmend auf technisch höherwertige Produkte. Erfolge, die das Land etwa als Hersteller von Werkzeugmaschinen, Smartphones oder auch Solarzellen vorweisen kann, sprechen Bände über die Wandlungsfähigkeit der dortigen Industrie. Daneben wird der Binnenkonsum zu einem immer wichtigeren Wachstumsbringer. Im Dezember 2012 legten die politischen Entscheidungsträger in China die wirtschaftspolitischen Prioritäten für die nächsten fünf Jahre fest. Diese umfassen ein nachhaltiges Wachstum auf der Grundlage von Innovationen, Produktivitätssteigerungen und eines damit einhergehenden Strukturwandels in der Industrie, eine weitere Urbanisierung, Reformen des Steuersystems zur Verringerung der Steuerlast und eine Ausweitung der sozialen Absicherung. Ähnliche Aussagen können wir auch über andere Schwellenländer wie Indien, Brasilien, Russland und viele andere aufstrebende Länder – selbst aus Afrika – machen, die heute noch in der zweiten Reihe stehen. Der Nachholbedarf von über fünf Milliarden Menschen ist gewaltig. Diese Länder sind für ein exportorientiertes Land wie Deutschland eine zweifache Herausforderung. Die Umgestaltung der deutschen Wirtschaft erfordert deshalb ein differenziertes Vorgehen. B.IV.2.8 Ein differenziertes Vorgehen – auf dem Weg zu einer Gemeinwohl-Ökonomie Zugegeben: da läuft nicht alles gut, schon gar nicht gerecht und nachhaltig. 80% bis 90% der Menschen wünschen sich eine neue Wirtschaftsordnung. 420 Doch: Dabei gibt es kein Entweder-Oder! Eine Wirtschaftsordnung kann nicht – es sei denn durch eine Revolution, die letztlich ins Verderben führt – durch eine Schalterumdrehung von rot auf grün umgeschaltet werden. Eine Wirtschaftsordnung ist ein fein-gesponnenes, kompliziertes Netzwerk von Aktion und Reaktion – erst recht in der globalen Ausprägung. Das heißt aber überhaupt nicht, dass alles beim Status quo bleiben muss. Bei einem Blick zurück, stellen wir sehr schnell fest, dass sich ständig etwas verändert hat. Wir befinden uns immer in einem evolutionären Prozess. Viele Unternehmer wissen heute, dass in der Wirtschaft (global und national) einiges nicht stimmt und die Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln dringend und zum Teil grundlegend zu reformieren sind. Ziel ist eine Gemeinwohl-Ökonomie, die von fast allen Menschen vertretenen Grundwerte – Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und demokratische Mitbe-stimmung & Transparenz, aber auch Leistungsbereitschaft – zur Basis des Handelns aller Akteure zu machen – auch in der Wirtschaft – visionär, parteiübergreifend und undogmatisch. Das Werkzeug dazu ist die Gemeinwohl-Bilanz. Für diesen Veränderungsprozess werden Menschen, Unternehmer gesucht, die wissen und wollen, dass • • • Ethik und Menschlichkeit elementare Bestandteile jeder Unter-nehmenskultur und jeder Wirtschaftsbeziehung sind bzw. sein sollten; der Mensch nicht lediglich ein ‚Arbeitsfaktor‘ ist – sondern betrieblicher Erfolg nur durch ein wertschätzendes Miteinander aller Stakeholder erreicht werden kann; unser Wirtschaftssystem insgesamt und speziell die Finanz-branche und das ‚Finanz-Kapital‘ unter den Exzessen 421 • • • • des Neoliberalismus und der übertriebenen Gier/Sucht leiden, die es grundlegend zu korrigieren gilt; denen Nachhaltigkeit und Fairness im Unternehmen und in der Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit sowie der ökologische Umgang mit unserer Welt und ihren Ressourcen (Rohstoffe, Umweltbelastungen) ein wirklich wichtiges Anliegen sind. ‚Greenwashing‘ reicht dafür nicht aus; die auf Kooperation mit anderen Unternehmen und eine stärkere Verankerung in der Region setzen (Lieferanten, Mitbewerber, Kunden); die einen Beitrag zum Gemeinwohl mit ihrem Unternehmen und ihren Produkten/ Dienstleistungen leisten wollen; die mit der Erstellung einer Gemeinwohl-Bilanz einen Unter-nehmens-Entwicklungs-Prozess starten und sich zukünftig mit gleichgesinnten Unternehmen aus der Region über Gemein-wohl-Unterstützung durch Unternehmen austauschen möchten. B.R.-Kommentar: Es ist an uns – an jeden von uns – die die Dinge in die richtige Bahn zu bringen. Jeder an seinem Ort, mit seinen Möglichkeiten. B.IV.3 Ein anderes Finanzsystem – Die Perversion des Finanzsystems In der Finanz- und Schuldenkrise bilden Politik, Notenbanken und Banken eine (unheilige) Schicksalsgemeinschaft. Die unheilvollen Folgen müssen die Bürger tragen. Die Politik behauptet, sie überwache die Banken jetzt wieder strenger. In Wirklichkeit sind die bisher beschlossenen Auflagen nur ein mini-maler Fortschritt im Vergleich zu den gewaltigen Rückschritten in den Jahrzehnten zuvor. Die jahrzehntelange massive Deregulierung hat 422 zu einem radikalen Umbau der Finanzbranche geführt. An den Rand gedrängt wurde bei vielen Banken das klassische Kreditgeschäft, bei dem der Kreditgeber das finanzielle Risiko selbst trägt, weshalb er hier sehr genau prüft, ob das finanzierte Projekt auch nach vielen Jahren noch rentabel ist. Ausgebreitet haben sich dagegen komplizierte Geschäftsmodelle, die vor allem eines gemeinsam haben: Möglichst hoher kurzfristiger Gewinn, gepaart mit möglichst wenig langfristiger Verantwortung. ‚Moderne‘ Finanzprodukte machen es möglich: Durch Verbriefungen und Derivate können Banken ihre Risiken heute mühelos an andere Akteure weiterverschieben, und zwar weltweit. Verschweigen und Ratlosigkeit beim IWF: Das unabhängige Evaluationsbüro (IEO) des Weltwährungsfonds bescheinigt dem IWF ein „fatales Versagen bei der Finanzkrise“. In dem Bericht ‘IMF Performance in the Run-up to the Financial and Economic Crisis’, steht Klartext: • Der IWF hat nicht nur in seiner Funktion als Frühwarnsystem sträflich versagt und (wider besseren Wissens) keinerlei Warnungen herausgegeben. Noch im April 2007 bewertete der Fonds die großen Banken sogar als vertrauenswürdig und widerstandsfähig. Kurz darauf kollabierten Lehman Brothers und viele andere Großbanken. • Die längst als gefährlich erkannten Praktiken der großen Finanzzentren wurden weiterhin ausdrücklich unterstützt. • Die Risiken, die mit der Immobilienblase und den ‚innovativen‘ Finanzprodukten (Derivate etc.) verbunden waren, wurden dagegen absichtlich heruntergespielt. • Eine längst notwendige Regulierung des Finanzsektors wurde aktiv unterlaufen. • Die Risikoanalyse, die der IWF nach dem Desaster der Lateinamerika- und Asienkrise anstellte, bezog die westlichen 423 Industrieländer überhaupt nicht mit ein. Das lag vollkommen außerhalb des ‚Radars‘ des Währungsfonds. • Gegenüber der Wall Street und dem Finanzplatz London herrschte blindes Vertrauen. • Gegensätzliche Meinungen wurden offensichtlich nieder-gebügelt. Im Bericht heißt das vornehm, es herrsche beim IWF „eine institutionelle Kultur, die gegensätzliche Standorte entmutigt“. Der Bericht kritisiert in deutlichen Worten die „Silomentalität“ und die „Inselkultur“ innerhalb des IWF. Es müsse möglich sein, gegenüber den Mächtigen die Wahrheit sagen zu können. Können wir zukünftig auf die Politik und internationalen Institutionen vertrauen? Was muss sich ändern? Meldung vom 22. Januar 2013: Die 27 Finanzminister haben den Weg frei gemacht für eine Finanztransaktionssteuer. Demnach kann diese jetzt in 11 EU-Ländern eingeführt werden. Die EU-Kommission kann nun einen Gesetzesentwurf vorlegen, der die Steuer auf Börsen-geschäfte konkret ausgestaltet. Über den Entwurf müssen sich dann noch die 11 teilnehmenden Länder, u.a. Deutschland, abstimmen. Erdacht wurde die Steuer in den 1970er Jahren vom amerikanischen Ökonomen James Tobin, um kurzfristige Spekulationen auf den Finanzmärkten einzudämmen. „Nach Planungsmodellen könnte bereits eine niedrige Steuer von zehn Basispunkten auf Aktienkapital und zwei Basispunkten auf Anleihen in den G20-Staaten etwa 48 Milliarden US-Dollar und in den wirtschaftlich stärkeren EU-Staaten neuen Milliarden Dollar hervorbringen“, heißt es in einem Bericht der an die Weltbank. Andere Berechnungen kommen sogar auf Steuer-einnahmen von 100 bis 250 Milliarden Dollar, insbesondere wenn Derivate eingeschlossen werden. Seit fünf Jahren sind wir mit einer massiven Finanz- und Verschuldungskrise konfrontiert. Wichtige Fragen werden immer 424 drängender. Beispielsweise welches ist der richtige Umgang mit den durch die Krise - arbeitslos gewordenen Menschen? Wie soll mit der sprunghaft angestiegenen Staatsverschuldung umgegangen werden? Was ist mit den europäischen Rettungstöpfen und der lockeren Geldpolitik? Die Reihe an Fragen ließe sich endlos fortsetzen. Die materiellen Folgen der Banken- und Finanzkrise gehen in die Billionen. Von menschlichen und sozialen Kosten ganz zu schweigen. Doch allen Rettungsversuchen zum Trotz machen die Banken (fast) weiter wie gehabt. Sie bedrohen nicht nur Ihre Einlagen, sondern auch Ihre wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen. Zeit also, sich genauer damit auseinander zu setzen. Der Zustand der globalen Banken wird immer katastrophaler. Trotz des katastrophalen Zustandes, in dem sich die meisten europäischen, amerikanischen und japanischen Banken immer noch befinden, wehrt sich die Zunft vehement dagegen, weitreichende Sicherungsstrategien einzugehen. Nach wie vor fehlt es den Instituten am nötigen Bewusstsein für ein verantwortungsvolles Handeln. Die global operierenden Banker sind mehr an Profit, als an politischen Maßnahmen interessiert. Sie zocken weiter wie gehabt. Und das kommt nicht von ungefähr, denn sie haben die Gewissheit, dass Regierungen sie jederzeit vor einer drohenden Pleite bewahren werden. Systemrelevante Banken verzeichnen weiterhin unglaubliche Zuwächse. Beispiel Deutsche Bank. Deren Bilanzsumme betrug im Jahr 1980 umgerechnet gut 77 Milliarden Euro. Heute sind es fast 30-mal so viel. Bei großen Versicherern und deren Investmentfonds ist es ähnlich. Das Finanzsystem ist ‚pervers‘ geworden. Das gigantisch ange-wachsene Kapital will angelegt werden. Der Staat braucht die Banken als Abnehmer seiner Anleihen. Die Banken wiederum brauchen diese Papiere zur Absicherung ihrer Anlagen. Die Europäische Zentralbank aber stützt gerade jene Banken und Staaten, die wertlose Anleihen auf den Markt bringen durch Finanzspritzen und Anleihenaufkauf. 425 Dazu kommt, dass die führenden Notenbanken eine extrem lockere Geldpolitik praktizieren. Banken und Hedgefonds nehmen dieses billige Geld, um damit auf verschiedenen Finanzmärkten zu spekulieren und vergrößern die Risiken dadurch um ein Vielfaches. Alleine das zeigt, wie pervers das System bereits geworden ist. Das Finanz- und Bankensystem ist eine Bedrohung für sich selbst. Zwar wurden von den Banken selbst einige Maßnahmen ergriffen, doch diese sind eher Makulatur. Anleger und Sparer sind kaum besser geschützt als vor dem Ausbruch der Krise. Eine Neuregulierung, mit der wieder ein Mindestmaß an markt-wirtschaftlichen Ordnungsprinzipien Einzug halten würde, ist mehr als notwendig. Bis dahin ist das Finanz- und Bankensystem weiterhin eine Bedrohung für sich selbst. Doch es werden im Januar 2013 reichliche Beruhigungspillen ausgegeben. So sieht Warren Buffet von den Banken keine weitere Gefahr mehr ausgehen. Für ihn ist die die Bankenkrise gelöst. Die Brandherde für das globale Finanzsystem seien nachhaltig gelöst. „Die Banken werden dieses Land (USA) nicht mehr in Schwierigkeiten bringen, das garantiere ich“, so die Worte von Warren Buffet. Too big to fail – Lange Zeit war das das einzige Argument – oder besser gesagt: die einzige Hoffnung – auf das Ausbleiben weiterer Bankenpleiten. Die Banken sind und waren ‚Too big to fail‘ – also zu groß, um sie Pleite gehen zu lassen. Man hat sich darauf verlassen müssen, dass aufgrund der Größe und der daraus resultierenden Sprengkraft der Staat im Notfall einspringen würde – was ja schließlich auch mehrfach passiert ist. Doch das die Banken ohne die Hilfe des Staates am Leben bleiben würden – und das auch noch profitabel –, daran haben viele Marktbeobachter zwischen-zeitlich den Glauben verloren. Nicht so Warren Buffet: Er sieht die Bankenbilanzen mittlerweile als weitestgehend bereinigt an. Als gewaltig hat er jüngst die 426 Eigen-kapitalquoten der amerikanischen Banken bezeichnet. Die Großbanken haben ihre Hausaufgaben gemacht, indem sie sowohl riskante als auch unprofitable Vermögenswerte und Geschäftsbereiche veräußert, Personal abgebaut und die Bilanzqualität deutlich gestärkt haben. Auch den neuen Stresstests sieht Warren Buffet gelassen entgegen. Und tatsächlich ist hieran etwas neu. Denn einige Institute wollen sich den Stresstests dieses Mal unterziehen, um Dividenden erhöhen und eigene Aktien zurück kaufen zu dürfen. Warren Buffet ist also nicht der einzige, der das Vertrauen in die Banken zurück gewonnen hat. Auch die Bankenvorstände – also Unternehmens-Insider – blicken endlich wieder mit Optimismus in die Zukunft. Denn Divi-dendenerhöhungen und Aktienrückkäufe zeugen von Zuversicht der Bankenmanager in eine nachhaltige Ertragskraft ihrer Geschäfts-modelle. Wenn der erfolgreichste Investor der Welt dies noch einmal betont, müssen wir das wirklich glauben? B.R.-Kommentar: Ich will ja gerne glauben, dass sich die Situation einiger, vielleicht auch mehrerer Banken zurzeit gebessert hat. Aber erstens gilt das bei weitem nicht für die überwiegende Zahl der Banken weltweit. Und zweitens – und das ist entscheidend – ist die Geschäfts-grundlage, auf der die Manager der Banken agieren können, noch lange nicht so strukturiert, dass die bekannten Exzesse zukünftig verhindert werden. Immer wieder drehen die Finanzmärkte durch. Schon seit vielen Jahrzehnten. Es wird Zeit, dass wir aus der Geschichte lernen: Ein bisschen Regulierung reicht nicht. Denn Finanzmärkte streben nicht ins Gleichgewicht, sondern zerstören sich immer wieder selbst. Jede Gemeinschaft funktioniert nur mit strengen Regeln. Wenn die Politik das nicht bald erkennt, steuern wir geradewegs auf den nächsten Crash zu. 427 Meldung vom 25. März 2013: Es kommt in Zypern nun doch so, wie es der Internationale Währungsfonds (IWF) von Anfang an gefordert hat: Der Bankensektor wird geschrumpft, die zweitgrößte Bank des Landes Laiki sogar ganz abgewickelt. Die Rechnung dafür, dass das Land im Euro-Raum verbleiben kann, zahlen zu einem großen Teil nicht die zyprischen Rentner, Beamten oder Lehrer, sondern Bankkunden mit einem Vermögen von mehr als 100.000 Euro. Sie sollen rund ein Drittel ihrer Bankeinlagen verlieren. Es an der Zeit ist, dass Europas Politik das Bankenproblem angeht. Anders, als viele meinen, sind die Geldinstitute hierzulande nämlich keinesfalls sicherer als vor der Krise. Viele von ihnen sind noch immer groß genug, um ganze Staaten in den Abgrund zu reißen. Dass die Politik in Zypern eine Bank jetzt komplett abwickelt, statt sie mit weiteren Steuermilliarden am Leben zu halten, ist ein Fortschritt in der Euro-Krise, dessen Folgen womöglich erst in einiger Zeit spürbar sein werden. Die gelassene Reaktion der Anleger auf den Zypern-Beschluss dürfte Europas Politiker ermutigen, nicht jede Bank zu retten, aus Sorge sie sei ‚systemrelevant‘. Vor allem in Deutschland wird nun argumentiert, die Einigung stelle einen Tabubruch dar. Erstmals in der Euro-Krise würden Sparer ‚enteignet‘. Das ist einerseits richtig und andererseits eine logische Folge der spezifischen Situation Zyperns. Natürlich wäre es theoretisch möglich gewesen, die Besitzer der zyprischen Staatspapiere an den Rettungskosten zu beteiligen. Das sind jedoch oftmals genau die Banken, die saniert werden sollen – sie können kaum ihre eigene Rettung finanzieren. Auch sollten zuerst die Eigentümer der Bank verzichten, also die Aktionäre. Davon gibt es allerdings in Zypern nur wenige, weil sich die Banken kaum Kapital über Aktien besorgt haben. Sie finanzieren sich vor allem über Einlagen. Wer die Kapitalseite beteiligen will, der muss also bei den Bankkunden ran. Den Fehler, auch die Kleinsparer zu belasten, haben die Verhandlungsführer in Brüssel mittlerweile korrigiert – was den Deal gerechter macht. 428 B.IV.3.1 Auf dem Weg zur Entmachtung der Rating-Agenturen? Meldung vom 4. Februar 2013: US-Regierung klagt gegen S&P – Ratingagentur wird Schuld an Finanzkrise vorgeworfen. Erstmals geht die US-Regierung juristisch gegen eines der großen und am Kapital-markt einflussreichen Unternehmen vor, die für den Ausbruch der weltweiten Finanzkrise vor sechs Jahren mitverantwortlich gemacht werden. Dass es bei den drei großen Rating-Agenturen nicht mit rechten Dingen zugeht, ist keine Überraschung. Aber der Zynismus und die Dreistigkeit, die jetzt durch die Klage der USA gegen Standard & Poor`s an die Öffentlichkeit gelangen, sind nur schwer zu ertragen. In der knapp 130 Seiten starken Klageschrift werden unter anderem interne Emails zitiert. Was sie beinhalten und vor allem, in welchem Ton sie verfasst sind, wirft ein ziemlich schlechtes Licht auf die Rating-Agentur. Trotzdem wurden immer wieder Bestnoten verteilt, weil sich damit eben die Kunden am leichtesten zufrieden stellen lassen und man damit mehr Geld scheffeln kann. Gerade der in der Klageschrift zitierte Schriftverkehr bestätigt auf düstere Weise die schlimmsten Befürchtungen der Rating-Kritiker. Dass nämlich die Analysten sehr wohl wissen, was sie tun. Und dass sie aus rein persönlicher Profitgier in Kauf nehmen, ganze Wirt-schaftssysteme ins Wanken zu bringen oder sogar einstürzen zu lassen. Hauptsache, der eigene Kontostand stimmt. Verantwortungs-bewusstsein? Null! An der Spirale aus Gier und Macht, die sich ver-selbständigen und immer weiter beschleunigen konnte, sind natürlich auch andere Akteure nicht ganz unschuldig. Die globalen Märkte und die an ihnen beteiligten Staaten haben die Rahmenbedingungen für dieses System geschaffen und es zugelassen, 429 dass die Rating-Agenturen und in erster Linie S&P, Fitch und Moodys eine derartige Monopolstellung erreichen konnten. Die jetzige Klage könnte der erste bedeutsame Schritt sein hin zu einem Kulturwandel in der globalen und der US-Finanzwelt ein Schritt auf dem Weg zur Entmachtung der Rating-Agenturen, die ihren Auftrag nicht nur missverstanden, sondern aufs Übelste missbraucht haben. B.R.-Kommentar: Höchste Zeit, dass sich was ändert! B.IV.3.2 Basel III lässt auf sich warten Der Begriff Basel III bezeichnet ein Reformpaket des Basler Aus-schusses der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) für die bereits bestehende Bankenregulierung Basel II. Es stellt die ab 2013 gültige Reaktion auf die von der weltweiten Finanz- bzw. Wirtschaftskrise ab 2007 offengelegten Schwächen der bisherigen Bankenregulierung dar. Im Dezember 2010 wurde die vorläufige Endfassung von Basel III veröffentlicht, wenngleich noch einzelne Aspekte in Diskussion sind. Die Umsetzung in der Europäischen Union wird über eine Neufassung der Capital Requirements Directive (CRD) erfolgen und soll ab 2014 schrittweise in Kraft treten. In der Schweiz soll die Umsetzung ab 2013 erfolgen. Dort sind insbesondere die Kapitalquoten noch strenger. Die Finanzkrise hatte gezeigt, dass das globale Bankensystem unge-nügend qualitativ hochwertiges Eigenkapital besaß. Unter Basel III wird somit verstärkt auf die reinste Form von Eigenkapital, das sogenannte Kernkapital („Common Equity“), fokussiert. Es setzt sich bei Aktiengesellschaften in erster Linie aus dem eingezahlten Gesellschaftskapital und den Gewinnrücklagen zusammen. 430 Folgende Maßnahmen werden zur Stärkung des Eigenkapitals ergriffen: • Innovatives Hybridkapital mit Rückzahlungsanreizen, welches unter Basel II bis zu 15 % ausmachen kann, wird nicht mehr als Tier-1-Kapital akzeptiert werden. • Tier-2-Kapital wird harmonisiert werden, das heißt nationale Definitionen sollen einem internationalen Standard weichen. • Tier-3-Kapital wird komplett abgeschafft werden. Insgesamt sollen zukünftig vor allem solche Eigenkapitalinstrumente vorgehalten werden, die am laufenden Verlust partizipieren. Eigen-kapitalinstrumente, die lediglich im Liquidationsfall verfügbar sind (zum Beispiel Nachrangdarlehen), werden an Bedeutung verlieren. Dadurch soll das Fortführungsprinzip („Going-Concern-Prinzip“) in den Vordergrund rücken. Meldung am 7. Januar 2013: Basel gibt Banken mehr Spielraum – die Liquiditätsvorschriften fallen weniger hart aus als geplant. Die Liquiditätsregeln für Banken sind neben den erhöhten Eigenkapital-Anforderungen der zweite Teil des sogenannten Basel-III-Regelwerks. Einige Beobachter halten die Folgen der Liquiditätsregeln sogar für noch gravierender als die Eigen-kapitalregeln, weil sie das Geschäftsmodell der Banken verändern. Mit den neuen Liquiditätsvorschriften wird es für sie schwieriger, aus kurzfristigen Einlagen langfristige Kredite zu vergeben. Das bereitet den Banken Kopfzerbrechen. Sie müssten kurzfristig billionenschwere Reserven schaffen. Um ihrer Sorge zu begegnen, wurden die ursprünglichen Regeln nun gelockert. Der Zeitplan für die Einhaltung der neuen Vorgaben wird gestreckt. Außerdem wird der Kreis der als liquide Mittel anerkannten Anlagen der Banken erweitert. Demnach dürfen Institute auch 431 Unternehmensanleihen, Aktien und auch mit Immobilien besicherte Anleihen zur Erfüllung der Liquiditäts-anforderungen verwenden. Es ist wie (fast) immer: Auf Konferenzen werden schöne Pläne geschmiedet – grob oder sehr grob geschmiedet. Es sieht so aus, als wenn die Regierungschefs an einem Strang gezogen haben. Doch bei der Ausgestaltung und Umsetzung der Pläne im Detail ‚stolpern‘ die Beteiligten über viele nationale Besonder- und Eigenheiten. Ergebnis: Die schönen Pläne werden aufgeweicht und hinaus-geschoben. Sollte es bei der geplanten Bankenunion anders sein? B.IV.3.3 Politische Pläne zur Bankenregulierung - Bankenunion „Der Bankensektor in Europa ist zu groß geworden und muss sich wieder gesund schrumpfen. Heute ist es so, dass im Bereich der Banken und Finanzmärkte grundlegende Regeln der Marktwirtschaft auf den Kopf gestellt sind. Aus Angst vor dem gigantischen Schaden für die reale Wirtschaft, der aus einem Zusammenbrechen großer Teile des Bankensystems resultieren würde, werden immer neue Banken-rettungsprogramme aufgelegt. Das heißt: Die Banken selbst müssen für den Schaden, den sie anderen bereiten, nicht aufkommen: Aus diesem Grund müssen wir das Banken- und Finanzsystem ändern und reformieren“, so Sigmar Gabriel in einem Thesenpapier. Die Gründung einer EU-Aufsichtsbehörde kann wahrlich als ein Meilenstein bezeichnet werden, ist zugleich aber nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer nachhaltigen Finanzstabilität in Europa. Ende Juni 2012 stellten die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone erste Weichen. Sie vereinbarten einerseits, einen „einheitlichen Aufsichts-mechanismus“ (SSM) für Banken zu schaffen. Andererseits soll der Euro-Krisenfonds ESM die Möglichkeit erhalten, Banken direkt zu kapitalisieren. Hintergrund dieses Doppelbeschlusses, die die 432 zwei ersten Säulen der Bankenunion skizziert hat, war der Teufelskreis zwischen Banken- und Staatsschuldenkrisen. Für eine gut funktionierende Bankenunion sind nach Aussage von Klaas Knot, Notenbankchef der Niederlande, mindestens drei wichtige Schritte erforderlich. Der erste Schritt, eine europäische Aufsichtsbehörde, ist eine logische Reaktion auf den grenzüberschreitenden Charakter des Finanzsektors und die gegenseitige Verflechtung der Banken. Als Folge des EU-Binnenmarktes und des Wegfalls des Wechselkursrisikos ist diese Verflechtung vor allem in der Euro-Zone besonders ausgeprägt. Finanzielle Integration hat zwar wesentliche Vorteile, doch haben wir in der jüngsten Finanzkrise auch ihre Schattenseiten kennen gelernt. Der zweite Schritt auf dem Weg zu einer vollwertigen Bankenunion hat mit einem wichtigen Merkmal europäischer Banken zu tun. Trotz ihrer Internationalität greifen sie in der Krise nach wie vor auf ihren jeweiligen Staat zurück. Wohin das führt, haben wir gesehen: Die Probleme der Banken beeinträchtigen die Kreditwürdigkeit der Staaten und umgekehrt. Es ist eine Schicksalsgemeinschaft zwischen beiden entstanden; die Folgen sind Kapitalflucht bis hin zu Zweifeln hinsichtlich des Fortbestehens des Euros. Indem man neben der Aufsicht auch die Abwicklung von Banken und deren Finanzierung auf EU-Ebene regelt, kann die Schicksalsgemeinschaft durchbrochen werden. (Ein entsprechendes Konzept zur Abwicklung von Banken haben britische und amerikanische Aufsichtsbehörden bereits entwickelt.) Doch für eine zukunftsbeständige Bankenunion ist noch ein dritter Schritt erforderlich. Gerade aufgrund der Verflechtung von Bank-instituten, Finanzmärkten und der realen Wirtschaft ist es nicht ausreichend, die diversen Teile des Finanzsystems zu beaufsichtigen. Eine der wichtigsten Lektionen der Krise ist, dass Finanzstabilität eine Politik erfordert, die sich auf das Finanzsystem als Ganzes richtet. 433 Beim Bau der europäischen Bankenunion geht es zu wie auf einer Großbaustelle: Die geplante Bauzeit wird überschritten, und die Bauherren sind zerstritten. Immerhin geht es um das vielleicht ehr-geizigste Integrationsvorhaben seit dem Euro und um eine massive Verlagerung von Kompetenzen auf die europäische Ebene. Aber ohne eine gemeinsame Vision wird die Bankenunion zu einem Sammel-surium von faulen Kompromissen verkommen – und für die Steuer-zahler im Zweifel doch wieder teuer werden. Die Bundesbank stellt in ihrem Monatsbericht Juli 2013 fest: „Die Bankenunion kann die gegenwärtige Krise nicht lösen, aber wertvolle Beiträge dazu leisten, künftige Krisen weniger wahrscheinlich zu machen“. Da kann man nur hoffen … Die Europäische Zentralbank (EZB) will die Bilanzen all jener Gelhäuser unter die Lupe nehmen, deren Aufsicht sie künftig übernehmen soll. Das sind in ganz Europa voraussichtlich rund 130 bis 150 Häuser, in Deutschland etwa 25. Die Qualitätsprüfung ist mehr als eine rein technokratische Angelegenheit. Sie ist der Lackmustest für die EZB-Bankenaufsicht und für die Banken selbst. B.IV.3.4 Zerlegt die Banken! Oder gelingt ein Kulturwandel? Banken sind generell ein Schlüsselsektor in einer Volkswirtschaft. Sie sind somit wichtige Player am Finanzmarkt. Einerseits symbolisieren gesunde Banken ein funktionierendes Finanzsystem. Andererseits sind gesunde Banken jedoch auch wichtige Teilnehmer an den Märkten, die die Entwicklungen deutlich beeinflussen können. Folglich ist auch die Entwicklung von Bankaktien ein wichtiges Indiz dafür, ob der Finanzmarkt gerade funktioniert oder eben nicht. Der Absturz der Banken seit dem Jahr 2007 ist praktisch beispiellos. Beim 434 Blick auf den US-Bankenindex sehen wir, dass sich die Banktitel von 2007 bis 2009 gesechstelt haben – der Kurs ging von etwa 120 Punkten herunter auf nur um die 20 Punkte. Jetzt befinden wir uns auf dem langen Weg zurück. Seit dem Tief im März 2009 legten die Banktitel nunmehr um das Dreifache zu, dennoch bleibt ein mehr als komfortabler Abstand zu den Höchst-kursen: Wir sind aktuell bei gerade einmal 60 Punkten. Das Hoch aus dem Jahr 2007 ist somit immer noch in weiter Ferne. Und der Index müsste mehr als 100% zulegen, um mit den Standardmärkten S&P 500, Dow oder DAX gleichzuziehen. Ist das Vertrauen wieder zurück? Ich glaube nicht! Dafür hat sich noch zu wenig geändert. „Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab“ Greg Smith beschreibt in seinem Buch sehr konkret die wahre Firmenphilosophie der Krake Goldman Sachs. Seine Insider Kenntnisse um den Derivat Handel und die Warentermingeschäfte nebst dem leidigen Thema der Optionsscheine belegt nur zu ‚eindrucksvoll‘, dass dieses Unternehmen mit dem Gang zum Spielcasino extrem viel gemeinsam hat. Moderne Zockereien auf Kosten der ganzen Menschheit und deren Grundbedürfnisse, das sind die Elemente ihres Tagesgeschäftes. ‚Goldman Sachs‘ und ‚Gier‘ brachte der Stanford-Absolvent Greg Smith zu Beginn seiner Karriere nicht zusammen. Im Gegenteil, er war stolz für diese Ikone der Wall Street zu arbeiten. Goldman zählte zu den großen Gewinnern des Technologie-Aktien-Booms Ende der 90er-Jahre, brachte zahlreiche große Internet-Unternehmen an die Börse. Es herrschte Goldgräberstimmung. Und Smith wollte zu denen gehören, die nach Gold graben. Dann kam der Crash, kurze Zeit später fanden die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon statt. Die Wall Street verharrte für einen kurzen Moment in Schockstarre. An Smiths Loyalität zu Goldman änderte das nichts. Nach wie vor erfüllte es ihn mit Genugtuung, für dieses Unternehmen zu arbeiten. Besonders schätzte er den Umgang von Goldman mit 435 seinen Kunden. Seine Überzeugung: „Jetzt zeigt sich, dass wir anders sind. Dass wir wirklich am Wohl unserer Kunden interessiert sind, auch wenn wir selbst nicht unmittelbar Profit daraus schlagen.“ Man könnte meinen, Smith sei einfach naiv gewesen. Vielleicht war er das sogar. Vermutlich aber spielte das viele Geld, das er verdiente, eine mindestens genauso große Rolle bei seiner Verblendung. Denn bis ihm die Augen aufgingen, vergingen viele Jahre. Richtig offen standen sie erst, als die Blase längst geplatzt war. Was für Goldman-Sachs gilt, gilt für viele große Banken rund um den Globus. Es muss sich Entscheidendes verändern. Heute können wir bestenfalls von einer Zwischenbilanz sprechen. Wie Branchenkenner schätzen, sollen gerade im Investmentbanking 15% der Stellen wegfallen. Offenbar verdienen die einstigen Magier der Märkte nicht mehr genug. In erster Linie wollen Institute aus der Schweiz Personal freisetzen: Neben der UBS und der Credit Suisse berichten Insider auch von entsprechenden Plänen der Citigroup. Auch in London und an der Wall Street mussten zuletzt Investmentbanker gehen. Und auch deutsche Unternehmen spielen beim Streichkonzert in der Finanzbranche mit: Erst kürzlich offenbarte die Commerzbank, bis zu 6.000 Menschen auf die Straße setzen zu wollen. Dass sich Entlassungen langfristig auszahlen können, zeigt das Beispiel der UBS. Die Schweizer haben ihr Investmentbanking bereits früher als die Konkurrenz zurechtgestutzt und fahren daher jetzt die Ernte ein. UBS-Verwaltungsrat-Chef Axel Weber kündigte eine nachhaltige und ordentliche Dividende an. Viele Geschäfte der Banken funktionieren nicht mehr. Nach Ansicht von Weber sind Kürzungsmaßnahmen in der Branche unbedingt notwendig. Viele Geschäfte funktionierten wegen der heute geltenden strengen Kapitalregeln nicht mehr und könnten daher nicht mehr profitabel abgewickelt werden. Als Folge dessen entstehen freie Kapazitäten und damit unnötige Kosten. 436 Auch strukturell will die UBS einiges ändern: Statt des Invest-mentbankings will man künftig wieder mehr auf die Vermögens-verwaltung setzen. Im Gegensatz zum Investmentbanking binde die Vermögensverwaltung viel weniger Kapital, sagt man bei der UBS. Die UBS könnte für deutsche Banken ein Vorbild sein. Am Ende der schwierigen Umbaumaßnahmen könnte womöglich gar ein stabileres Geschäft stehen. Vorausgesetzt, den Deutschen gelingt der Umbau ihrer Banken genau so gut wie den Schweizern. Möglicherweise haben Deutsche und Schweizer aber auch unterschiedliche Startbedingungen: Axel Weber hat die Kapitalausstattung zwischen deutschen und Schweizer Banken bereits mit einem Vergleich zwischen der norddeutschen Tiefebene und den Schweizer Alpen illustriert. Doch wer will diese Aussage überprüfen? Tatsächlich sind Banken doch eine recht unübersichtliche Branche, die derzeit mitten im Wandel steckt – Ausgang ungewiss. Darum gehen die Forderungen wesentlich weiter. Das gilt insbesondere für die Deutsche Bank. Gelingt ein Kulturwandel? Da legt die Deutsche Bank in der letzten Januar-Woche 2013 einen Quartalsverlust von mehr als 2 Milliarden Euro vor und wird dafür auch noch belohnt. Der Aktienkurs erlebte nur einen kurzen Knick, dann ging es schon wieder rauf an die Dax-Spitze. Das Führungsduo Anshu Jain und Jürgen Fitschen hat sich geschickt angestellt. Trotz eines mageren Jahresgewinns von nur knapp 700 Millionen Euro bleibt die Dividende von 75 Cent je Aktie bestehen. Auf eine Kapitalerhöhung zu Lasten der Anleger wurde verzichtet. Und auch der Managementebene wird offenbar fleißig Honig ums Maul geschmiert: Medienberichten zufolge soll die Boni-Grenze von zuletzt 200.000 Euro jährlich auf 300.000 Euro angehoben werden. 437 Kosten verursachen vor allem Altlasten, die noch unter der Führung Josef Ackermanns entstanden sind. Dabei geht es meist um juristische Streitigkeiten. So hat die Bank etwa kürzlich den Prozess um die Kirch-Pleite verloren. Bleibt das Urteil bestehen, wird das teuer. Aber auch an größeren, internationalen Skandalen ist die Deutsche Bank beteiligt: Libor-Manipulation, Steuerbetrug im Kontext des Handels mit Emissionszertifikaten, umstrittene Hypothekendeals in den USA die Liste ließe sich noch fortsetzen. Mit all diesen Negativschlagzeilen mussten sich Jain und Fitschen herumschlagen, seit sie im Sommer 2012 die Führung des Geldhauses übernahmen. Doch die Vorwürfe scheinen an dem Institut abzuperlen. Fitschen und Jain müssen nun ausbaden, was Ackermann über die Jahre angerichtet hat. Aber aufgeben, das ist die Sache der beiden nicht. Im Gegenteil: Sie wollen die Bank auf Vordermann bringen, ganz oben mitspielen bei den Global Players, sich messen lassen mit den größten Banken der Welt, selbst zu diesem exklusiven Kreis gehören. Der Weg dorthin ist steinig und teuer. Ausbaden müssen das in erster Linie die Beschäftigten: Zahlreiche Stellen wurden schon gestrichen, außertariflich bezahlte Mitarbeiter müssen auf die sonst übliche Gehaltssteigerung in diesem Jahr verzichten. Und auch die Bonuszahlungen für höherrangige Manager erhalten kleine kosmetische Korrekturen wie einen Deckel oder eine zeitverzögerte Auszahlung als Anreiz, auf längerfristige Ent-wicklungen zu achten anstatt auf kurzfristige Gewinne, die allzu oft mit hohen Risiken behaftet sind. So sieht er also aus, der vielbeschworene ‚Kulturwandel‘, von dem Jain und Fitschen seit Monaten reden. Ja klar, das geht nicht über Nacht. Und schließlich muss sich das neue Spitzenduo ja noch um die ganzen alten Baustellen kümmern, die diese erste Bilanz verhageln was nach Führungswechseln durchaus nicht unüblich ist. Ob sich aber langfristig ein wahrer Wertewandel in den Frankfurter Zwillings-türmen vollzieht, bleibt fraglich. 438 Sich einen moralischen Anstrich zu verpassen, ist nach den Skandalen (nicht nur) des letzten Jahres durchaus angezeigt. Diesem neuen Anspruch auch gerecht zu werden, dazu bedarf es mehr als schöner Worte. Ob es also wirklich zu einem Richtungswechsel kommt oder ob hinter den Kulissen das ‚business as usual‘ fortgesetzt wird, muss sich noch zeigen. Meldung vom 6. Februar 2013: Kabinett beschließt schärfere Banken-regulierung. Die Regierung will dagegen vorgehen, dass sich einzelne Banker verzocken und dadurch ganze Finanzinstitute in die Misere stürzen. Bei schwerem Fehlverhalten droht Top-Managern von Banken und Versicherern nun Haft. Das Gesetz besteht aus drei Elementen: Bankentestatment, Trennbanken und Strafen für Manager. Bankentestament: Große Banken müssen künftig Pläne zur Sanierung und Abwicklung erarbeiten und der Aufsichtsbehörde vorlegen, damit diese im Ernstfall schneller agieren kann und Abwicklungshindernisse vermieden werden. Die Einführung solcher ‚Bankentestamente‘ wurde im Oktober 2011 vom Financial Stability Board (FSB) international vereinbart. Trennbank: Größere Finanzinstitute müssen sich auf eine Abtrennung des risikoreichen Investmentgeschäftes vom klassischen Bankgeschäft einstellen. Als Schwellwert gilt: Die Vermögenswerte müssen mehr als 20 Prozent der gesamten Bilanzsumme ausmachen oder größer als 100 Milliarden Euro sein. Die Banken betreiben einerseits das Einlagen- und Kreditgeschäft mit Kunden. Sie können andererseits auch auf eigene Rechnung mit Wertpapieren, Devisen oder sogenannten Finanzderivaten handeln. Durch diesen sogenannten Eigenhandel sind etliche Geldinstitute in der Finanzmarktkrise ins Trudeln geraten. Die Bundesregierung will diese Gefahr durch eine Abschirmung der Risiken aus spekulativen Geschäften vom Kundengeschäft verringern. 439 Strafen für Manager: Geschäftsleitern von Banken und Ver-sicherungen, die ‚wesentliche Risikomanagementpflichten‘ verletzen, drohen zukünftig Geld- oder Haftstrafen bis zu fünf Jahren. Die Regierung zieht damit weitere Konsequenzen aus der Finanzkrise 2008/2009, in der auch in Deutschland Banken vor der Pleite gerettet werden mussten. Einlagen der Sparer sollen besser geschützt und Steuerzahler vor neuen Milliardenverlusten bewahrt werden. „Wir gehen damit die Probleme der mangelnden Krisenfestigkeit des Finanzsystems und der mangelnden Verantwortung der Banken und der Banker frontal an“, sagt Finanzminister Wolfgang Schäuble. Ähnliche Regeln sind auch in Frankreich geplant – Paris und Berlin haben vereinbart, gemeinsam in Europa voranzugehen. Natürlich ist der Bundesverband deutscher Banken (BdB) ganz anderer Meinung. Mehrere Oppositionspolitiker kritisierten die neuen Regeln als zu lasch. Der Grünen-Finanzexperte Gerhard Schick tat das Gesetz als ‚Wahlkampfplacebo‘ ab. Die ‚Banken-Testamente‘ etwa kämen viel zu spät, sagte er im Deutschlandradio Kultur. Die Trennung von Risikound Kundengeschäft wiederum greife zu kurz. Es sei lediglich eine Überschrift, die durch das Gesetz in der Substanz aber nicht erreicht werde. Der Bundesverband deutscher Banken sieht in den Regulierungsplänen einen nationalen Alleingang Deutschlands, dessen Folgen auf dem hiesigen Finanzplatz schwierig abzuschätzen sind, wie Haupt-geschäftsführer Michael Kemmer im Deutschlandfunk sagte. Mit Blick auf die geplante Abtrennung von Investmentgeschäft und klassischem Bankengeschäft warnte er vor erheblichen Zusatzkosten und größerer Bürokratie: Das könne „die Effizienz der Kreditversorgung behindern oder zumindest die ganzen Produkte teurer machen“. Die deutsche Wirtschaft sei aufgrund ihrer mittelständischen Struktur aber darauf angewiesen, alle Bankdienstleistungen aus einer Hand zu bekommen. Die Pläne könnten der internationalen Konkurrenz in die Karten spielen. 440 Das Gesetzesvorhaben orientiert sich an Vorschlägen einer Experten-gruppe der EU-Kommission unter Leitung des finnischen Notenbank-präsidenten Erkki Liikanen aus dem vergangenen Oktober. Die Beratungen auf EU-Ebene laufen noch, Deutschland prescht also vor. Fraglich ist allerdings, ob das Paket noch bis zum Ende dieser Legislaturperiode verabschiedet wird. Durch die Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Bundesrat könnten die von SPD und Grünen geführten Länder das Vorhaben erheblich verzögern. B.IV.3.5 Steuerflucht ausschließen Spätestens seit dem Ausbruch der Wirtschafts-, Finanz- und Euro-Krise und den damit verbundenen zahlreichen steuergestützten Rettungsaktionen für Banken und Staaten ist das Thema Steuergerechtigkeit in den tagespolitischen Fokus gerückt. Die Gesellschaft sieht nun etwas genauer hin, die Wellen der Empörung über prominente Steuerhinterzieher schlagen höher, als es noch in den 1990er Jahren der Fall gewesen wäre. Aktuelle Anlässe gab es zuletzt auch genügend. Es herrscht Handlungsbedarf! Eine Ikone stürzt: Bayern-Präsident Höneß bezichtigt sich am 20.04.2013 selbst der Steuerhinterziehung – und enttäuscht eine ganze Nation. Kanzlerin Merkel ist von ihm enttäuscht; die Oppositions-parteien haben mit dem Stichwort ‚Steuergerechtigkeit‘ neue Wahlkampfmunition gefunden. Schließlich fällt einmal mehr ein grelles Licht auf das Problem der Steuerhinterziehung – und einmal mehr kann gesagt werden, die Bundesregierung unternehme dagegen nicht genug. Vor allem das von der Regierung geplante und am Widerstand der Opposition gescheiterte Steuerabkommen mit der Schweiz gerät erneut in die Schusslinie. Bundesfinanzminister Schäuble hatte mit der Schweiz eine Über-einkunft ausgehandelt, die deutschen Steuerhinterziehern in der Schweiz tatsächlich massenhaft einen Weg in die Legalität öffnen würde. Sie müssten Steuern auf die bei den Eidgenossen deponierten 441 Beträge pauschal nachzahlen und natürlich künftig ihre Erträge versteuern. Im Gegenzug müssten sie dafür aber keine Strafverfolgung befürchten. Dagegen lässt sich allerhand einwenden, insbesondere das Argument der Gerechtigkeit. Schließlich haben andere Straftäter auch nicht die Möglichkeit, sich von der Strafe freizukaufen. Vielleicht hat Höneß mit seiner Selbstanzeige jedoch – unabhängig davon ob sie wirksam wird – dem deutschen Staat einen Dienst erwiesen. Sein prominentes ‚Vorbild‘ könnte andere Steuerhinterzieher animieren, ebenfalls reinen Tisch zu machen. Bisher gibt es 47.000 Selbstanzeigen; die Steuerschuld beträgt ca. zwei Milliarden Euro. Doch das ist erst der Anfang. Die Deutschen bunkern geschätzte 175 Milliarden Euro in der Schweiz. Die Schweiz ist ‚die‘ Steueroase schlechthin. Doch es tut sich was. Die Schweizer Banken reagieren und raten ihren Kunden in diesen Tagen zur Selbstanzeige. Ab 2015 soll es keine Steuerstraftaten mehr geben. Und auch in den anderen europäischen Steueroasen tut sich was. Meldung vom 10. April 2013: Nach jahrelangem Widerstand beugt sich Luxemburg dem europäischen Druck und lockert sein Bank-geheimnis. Von 2015 an werde sich das Land an der automatischen Weitergabe von Informationen zu Zinserträgen beteiligen, kündigte Regierungs-chef Jean-Claude Junker an. „Wir müssen uns am Kampf gegen Geldwäsche und Steuerbetrug beteiligen“, sagte Junker. Die internationalen Entwicklungen steuerten „auf den automatischen Informationsaustausch hin“. Daher werde in dem Großherzogtum zu 1. Januar 2015 die automatische Auskunftserteilung für Zinserträge eingeführt. Bisher erheben Luxemburg und Österreich eine anonyme Quellensteuer von 35 Prozent. Die wird zum großen Teil an die Herkunftsländer überwiesen, aber ohne den Namen der Bankkunden zu nennen. In Berlin und Brüssel sorgte die Kehrtwende für Genugtuung. Das sei für das Land „kein leichter Schritt“ und werde „ausdrücklich begrüßt“, sagte ein Sprecher von Finanzminister Wolfgang Schäuble. Im langen Kampf gegen Steueroasen stellten sich langsam die Früchte ein. 442 Österreich wehrt sich als einziger EU-Staat noch gegen eine auto-matische Weitergabe von Steuerdaten und somit eine Lockerung seines Bankgeheimnisses. Finanzministerin Maria Fekter hatte noch Mitte April 2013 gesagt, ihre Regierung werde „um das Bankgeheimnis kämpfen“. Für diese Haltung wurde Österreich scharf kritisiert. Österreich stellt aber Bedingungen. So soll der Informationsaustausch „zumindest entsprechend dem OECD-Modell“ erfolgen. Zudem sollen künftig auch Auskünfte über die Eigentümer von Unternehmen, Stiftungen und anonymen Stiftungen (Trusts) möglich sein, um gegen Briefkastenfirmen vorzugehen. Auch dürfe das österreichische Steuer-abkommen mit der Schweiz und Liechtenstein nicht durch die Ver-handlungen auf EU-Ebene betroffen sein. Nun ja, sicherlich sind das Teilerfolge, es bleibt aber im Kampf gegen die Steueroasen noch viel zu tun. Stichworte sind in diesem Zusam-menhang: Europäische Steuerharmonisierung, globale Ächtung der Steueroasen, … Aufgrund der Tatsache, dass es derzeit – ich befürchte immer - noch viele weitere Schlupflöcher auf der Welt gibt, muss die Diskussion um die Steuerehrlichkeit in Deutschland und Europa intensiv geführt werden. Steuerehrlichkeit ist aber nur ein Teilaspekt von Gemeinsinn. Meldung vom 22. Mai 2013: Brüsseler Zielvereinbarung - Man sollte mal was machen. Die Zielvereinbarung sieht vor, jetzt aber endlich mal Schluss zu machen mit den Steuerschlupflöchern. Zumindest mit den selbstgemachten, also, denen innerhalb der EU. Der Weg zum Ziel und in welcher Geschwindigkeit welche Etappen erreicht werden sollten, steht noch in den Sternen. Denn es gibt noch Dis-kussionsbedarf. Konkret geht es um den automatischen Austausch von Bankdaten zwischen den EU-Staaten, der das Bankgeheimnis weitgehend unter-graben würde. Einem solchen Schritt wollen Luxemburg und Österreich nur „unter bestimmten Bedingungen“ zustimmen, wie Juncker es formulierte. 443 Will heißen: Erst mal sind die Nicht-EU-Nachbarn am Zug, also vor allem die Finanzplätze in der Schweiz und den Zwergstaaten Monaco, Liechtenstein, Andorra und San Marino. Mit ihnen soll die EU-Kommission jeweils Abkommen aushandeln, um die Wettbewerbs-fähigkeit der EU-Mitglieder nicht zu gefährden. In Brüssel ist man zuversichtlich, die Drittstaaten zu Zugeständnissen bewegen zu können. In dem Fall soll Ende des Jahres entschieden werden, das Bankgeheimnis aufzuheben. Der aktuelle Sondergipfel jedenfalls hat wieder einmal guten Willen signalisiert, aber nichts Greifbares geliefert. Bis das alles in Gesetze gegossen und umgesetzt ist, dauert es noch Jahre. Und die Aufhebung des Bankgeheimnisses ist nur einer von vielen Schritten auf dem Weg zur effektiven Bekämpfung der Steuerhinterziehung und -Vermeidung. B.R.-Kommentar: Langfristig wird auch über eine grenzübergreifende Anpassung der Steuermodelle nachgedacht werden müssen. B.IV.3.6 Steuergerechtigkeit, Steuerehrlichkeit, Gemeinsinn Da wir Menschen aber so unsere Schwächen haben, muss der Staat diesbezüglich eine ‚ausgewogene‘ Gesetzesgrundlage schaffen. Der Fall Höneß hat in Deutschland eine heftige Debatte um die sogenannte ‚Selbstanzeige‘ hervorgerufen. Nach SPD, Grünen wollen nun auch die Regierungsparteien Steuerbetrüger härter bestrafen. Die Regelung, dass sich eine Selbstanzeige strafbefreiend auswirken kann, ist damit innerhalb einer Woche ins Wanken geraten. Kanzlerin Merkel erteilte einen offiziellen Prüfauftrag. Eine der Fragen sei, ob die Selbstanzeige, ob die Selbstanzeige-Regelung in erster Linie für Bagatellfälle ange-wendet werden soll. Repräsentative Umfragen deuten daraufhin, dass es keine Mehrheiten mehr für Steuervermeidung gibt. Solche Umfragen sind aber immer mit Vorsicht zu betrachten. In einer Zeit – meistens sind es zwei oder drei Wochen -, in denen der potenzielle Befragte von den Medien mit 444 der Thematik ‚bombardiert‘ wird, werden solche Aussagen sehr emotional getroffen. Die Fragestellung ist zudem immer sehr verengt. Schwarzarbeiten lassen ist auch eine Steuerhinterziehung – und das finanzielle Ausmaß ist noch größer als die Steuerflucht. Dieser Hinweis soll die Steuerflucht nicht bagatellisieren, sondern nur darauf hinweisen, dass die Thematik viel größer ist. Steuerhinter-ziehung hat neben dem juristischen und steuerpolitischen auch einen gesellschaftspolitischen Aspekt. Was trägt jeder Bürger zum Gedeihen unserer Gemeinschaft im Rahmen seiner Möglichkeiten bei? Und wo entzieht er sich seiner Möglichkeiten? Jeder möge da vor seiner eigenen Tür kehren! Meldung vom 20. Juli 2013: G 20 wollen Schlupflöcher für Apple und Co. stopfen. Die Finanzminister der führenden 20 Wirtschafts--nationen der Welt, der sogenannten G 20, saßen in Moskau zusammen und verabschiedeten ein Paket, mit dem Gewinnverschiebungen künftig unterbunden werden sollen. Der ‚Plan gegen die Erosion von Steuerbemessungsgrundlagen und die Gewinnverlagerung‘ soll etwa verhindern, dass multinationale Unternehmen zu wenig oder gar keine Steuern zahlen. Allein dem deutschen Fiskus entgeht nach Schätzungen des Finanzministeriums durch die Steuergestaltung der Konzerne jedes Jahr ein zweistelliger Milliardenbetrag. Während der OECD-Generalsekretär verkündete, dass die 15 Maßnahmen zum größten Wandel des internationalen Steuersystems seit den 1920er Jahren werde, fragen sich Skeptiker, wie sollen Firmen wie Google oder Facebook, die keine Nationalität und insofern auch keine klassischen Produktionsstätten haben, an die Kandare genommen werden? B.R.-Kommentar: Gemeinsinn kann man von den großen multi-nationalen Unternehmen nicht erwarten, es sei denn ihre Kunden reagieren darauf. 445 B.IV.3.7 Banken- und Finanzmarktregulierung: Zwischenbilanz In einem Beitrag der Börsen-Zeitung vom 6. April 2013 hat die Vize-Präsidentin der deutschen Bundesbank, Sabine Lautenschläger, ein Zwischenbilanz zur Banken- und Finanzmarktregulierung gemacht: (…) Der entscheidende Wendepunkt in der jüngsten Geschichte der Banken- und Finanzmarktregulierung ist das Jahr 2008. Die Staats- und Regierungschefs der G 20 haben damals in Washington die Grundsätze zur Reform der Finanzmärkte und insbesondere eine Verschärfung der Regulierung beschlossen. Der Antrieb dafür war der Ausbruch der Subprime-Krise in den USA und deren verheerende Auswirkungen auf den globalen Finanzsektor und die Staaten, die in der Folge ihre strauchelnden Finanzinstitute auffangen mussten. Die Staats- und Regierungschefs einigten sich darauf, mit konkreten Maßnahmen die Widerstandsfähigkeit der Banken zu stärken. Mit dem 2009 verabschiedeten Basel-II.5-Regulierungspaket wollte der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht unter anderem möglichst rasch die in der Krise hervorgetretenen Schwächen in der Regulierung des Investment Banking beheben. Er erhöhte die Eigenkapitalanforderungen für Marktpreisrisiken im Handelsbuch der Banken und bei Verbriefungen. Darüber hinaus verschärfte er die Anforderungen an das Risikomanagement der Banken. In Deutschland gelten die Regeln seit Anfang 2012. Nach der raschen Notfallversorgung war es der Politik und uns Aufsehern ein Anliegen, die Widerstandsfähigkeit von Banken und Bankensystem grundlegend zu stärken. Das Ergebnis ist das Basel-III-Paket des Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht. Damit soll die Gefahr, Banken in Krisensituationen abermals durch Steuermittel stützen zu müssen, verringert werden. Um dies zu erreichen, wird die Qualität des Kapitals erheblich verbessert und seine Quantität signifikant erhöht. Die neue Eigenkapitalklasse ‚hartes Kernkapital‘ haftet bei Verlusten vollumfänglich und uneingeschränkt. Der geforderte Anteil des harten Kernkapitals an der Eigenkapitalquote wird von derzeit 2 auf künftig 4,5 Prozentpunkte erhöht. Zusätzlich führte der Baseler Ausschuss einen Kapitalerhaltungspuffer der gleichen Qualität in Höhe von 2,5 Prozent ein. Die Marke von 7 Prozent hartem Kernkapital wird zukünftig als die Untergrenze sein, die Institute vorhalten müssen. 446 Die ist aber noch nicht alles: Für global systemrelevante Banken gibt es einen zusätzlichen ‚Aufschlag‘. Sie müssen je nach systemischer Relevanz einen weiteren Kapitalpuffer – auch in hartem Kernkapital – vorhalten, da der Ausfall dieser Banken schwerwiegende Konsequenzen für das gesamte Bankensystem haben könnte. In der Summe verlangt dies von manchen deutschen Banken einiges; sie werden die gewährte Übergangszeit bis zur vollen Wirkung der neuen Regeln im Jahr 2019 nutzen, um ihr Kapitalniveau auf das geforderte Maß anzuheben. Basel III verlangt von den Banken aber nicht nur besseres und deutlich mehr Kapital. Neben den risikosensiv berechneten Kapitalquoten hat der Baseler Ausschuss eine Kapitalanforderung eingeführt, die unabhängig vom Risiko allein auf den Verschuldungsgrad der Bank abzielt und diesen auf maximal 3 Prozent beschränkt: die Leverage Ratio. So soll eine exzessive Verschuldung der Banken gerade in konjunkturell guten Zeiten vermieden werden – ein Begrenzung, die eine Vielzahl von deutschen Instituten härter trifft als die Erhöhung der risikosensitiven Kapitalquoten. Und schließlich hat der Baseler Ausschuss als ‚lessons learnt‘ aus der Krise seine Grundsätze zur Steuerung der Liquiditätsrisiken überarbeit und erstmals harmonisierte Mindeststandards für Liquiditätsrisiken vorgelegt. (…) Noch ist die Gesetzgebung zur Umsetzung von Basel III in der EU nicht abgeschlossen, aber mit der Einigung im Trilog zwischen Parlament, Rat und Kommission Ende Februar 2013 ist man einen erfreulichen Schritt vorangekommen. (…) Viele Erkenntnisse aus der Krise sind also entweder schon umgesetzt oder befinden sich in der Umsetzung. (…) Vielmehr müssen wir nun die Wirkung der einzelnen Regeln, vor allem ihre Wirkung in der Summe, sorgfältig beobachten. (…)“ Und was hat sich in den folgenden Monaten diesbezüglich noch getan? B.R.-Kommentar: Nun gut – man hat einiges schon auf den Weg gebracht. Ob das ausreicht, darf zumindest in Frage gestellt werden. Sabine Lautenschläger liefert selbst das Argument: „Die neuen Baseler Standards können allerdings nur dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn sie auf allen wesentlichen Finanzmärkten angewendet werden. Nur so können wir sicherstellen, dass der europäische Bankenmarkt nicht über Zweit- und Drittrundeneffekte von Banken solcher Länder 447 angesteckt wird, in denen beispielsweise für bestimmte Geschäfte wie komplexe Verbriefungen nicht ausreichend kapital vorbehalten werden muss.“ Und: die Bundestagswahl rückt immer näher. B.IV.3.8 Und schon meldet sich Widerspruch: Finanzierungslücke Meldung Anfang April 2013: Europas Banken steuern nach einer Untersuchung der Beratungsgesellschaft McKinsey auf eine riesige Finanzierungslücke Zu: Den Kreditinstituten fehlen langfristige Re-finanzierungsmittel in Höhe von 1,2 Billionen Euro „Der eigentliche Engpass für die Banken in Europa wird in den nächsten Jahren weniger das Eigenkapital sein, sondern der Zugang zu Fremdkapital“, sagt Thomas Poppensieker, einer Autoren der Studie. Grund für die Lücke sieht McKinsey zufolge vor allem die strengeren Liquiditätsregeln, die internationale Regulierer in den nächsten Jahren einführen wollen. Die Lücke kann für Unternehmen und Verbraucher zum Problem werden: Europas Wirtschaft wird stärker als in den USA über Bank-kredite finanziert. Etwa 60 Prozent der Kreditnachfrage decken die Banken in Europa ab. Die Größe der Finanzlücken schwankt, je nach-dem wie sparwillig die Bürger eines Landes sind: „Länder mit einer hohen Sparrate haben keine große Refinanzierungslücke, während Länder mit einer niedrigen Sparrate sehr viel verletzlicher sind“, heißt es in der Studie. Davon profitieren deutsche Institute: Sie haben zwar im EU-Vergleich keine sehr üppige Kapitalbasis, mit Liquidität sind sie aber relativ gut ausgestattet. Gemessen an der Bilanzsumme sind die Lücken der französischen und italienischen Institute mit fünf bzw. acht Prozent noch relativ beherrschbar. Kritischer ist die Lage in Ländern wie Irland, Griechenland oder Slowenien, in denen die Lücke anteilig 11, 21 und 19 Prozent erreicht. McKinsey sieht Handlungsbedarf: Die Regulierungsbehörden müssten „die Refinanzierungsvorschriften an wesentlichen Stellen über-denken“. Gemeint ist wohl lockern. 448 B.R.-Kommentar: Ich kann dieser Ausführung nicht folgen. Würden wir ihr folgen, würden wir uns im Kreis drehen. Die Banken werden im Wirtschaftkreislauf immer eine wichtige Rolle spielen, ihr Einfluss muss jedoch gemindert werden und dazu können neben der Politik alle Teilnehmer am Wirtschaftskreislauf mit zu beitragen: Die Verbraucher durch eine Sparquote, die etwa bei acht Prozent liegt bzw. weniger Konsumschulden machen; Unternehmen, die ihre Eigenkapitalquote erhöhen und ihre Investitionen daraus tätigen; der Staat, der seine Neu-verschuldung im ersten Schritt auf null fährt. B.IV.3.9 Fair Finance – Das Kapital der Zukunft? Mörderische Risiken, Zinsmanipulationen, Rekord-Boni und Bankrott-erklärungen – die Exzesse des Kasino-Kapitalismus haben das Ver-trauen der Menschen in die Finanzwelt zerstört. Waren Banker einst smarte Leitbilder eines blühenden Kapitalismus, ist ihr Image heute nachhaltig beschädigt. Durch wahnwitzige Spekulationen haben sie die Welt 2008 in eine folgenschwere Finanzkrise gestürzt, deren Nach-wirkungen wir heute als Staatsschuldenkrise mit großen sozialen Kol-lateralschäden durchleben müssen. Ist es da nicht an der Zeit, reinen Tisch zu machen? Gewiss, die Politik versucht, mittels Gesetzen, die Märkte zu bändigen, und weiß doch zugleich, dass damit neue Schlupflöcher entstehen. Vielversprechender und vor allem zukunftsweisend sind dagegen andere Ansätze. Sie existieren in den Randzonen der Finanzmärkte und zielen darauf ab, die finanzwirtschaftlichen Instrumente auf soliden realwirtschaftlichen Boden zu stellen und mit neuen Inhalten zu füllen. Karl Peter Sprinkart und Franz-Theo Gottwald stellen in ihrem Buch Fair Finance echte Alternativen für all diejenigen vor, die ihr Geld nachhaltig anlegen und zugleich Gutes bewirken wollen. Das Spektrum reicht von Mikrokrediten und Regionalwährungen über Banken, die nach ethischen Kriterien in gesellschaftliche Zukunfts-projekte investieren, bis hin zu innovativen Fonds, die neben 449 wirt-schaftlichen auch soziale Renditen erzielen. So wird Geld wieder das, was es sein soll: ein Mittel, um die Zukunft sinnvoll zu gestalten. Fair Finance fragt nicht nach dem kurzfristigen Gewinn, jagt nicht der Rendite um jeden Preis hinterher, sondern will mit seiner nachhaltigen Wirtschaftsweise einen positiven sozialen, kulturellen, umwelt- oder gesundheitspolitischen Beitrag für die Menschheit leisten. Karl Peter Sprinkart und Franz-Theo Gottwald stellen anhand von Beispielen die ganze Bandbreite innovativer Finanzprojekte vor, in die jeder von uns investieren kann – zum eigenen und zum Vorteil seiner Mitmenschen. Seien es Banken, die nach ethischen Grundsätzen agieren, Regionalwährungen, die die lokale Wirtschaft unterstützen, Genussrechte, Mikrokredite, Stiftungsfonds oder Genossenschaften – sie alle eint der Anspruch, dass Geld primär Kapital ist, das für eine lebenswerte Zukunft verantwortungsvoll und umsichtig eingesetzt werden will. Denn das zahlt sich am Ende wirklich aus. B.R.-Kommentar: Ich unterstütze die obigen Ideen; ja jeder Bürger sollte in dem einen oder anderen privaten Bereich die Möglichkeiten aufgreifen. Wir dürfen uns allerdings nicht der Illusion hingeben, dass diese Ansätze in dem globalen Wirtschaftsprozess eine durchdringende Alternative zu dem jetzigen Finanzsystem darstellen. Fair Finance ist aber eine sinnvolle Ergänzung, die noch weiteres Potenzial hat. B.III.3.10 Ein anderes Finanzsystem – Stabilität und ein nachhaltiges Wachstum Die Welt befindet sich in einem riskanten ökonomischen Experiment: Alle wichtigen Notenbanken haben ihre Leitzinsen bis nahe Null gedrückt und halten ihn seit Jahren auf diesem Niveau. Erhofft wird damit eine konjunkturelle Erholung in den alten Industrieländern. Dieses Vorgehen birgt aber beträchtliche Gefahren. Die wohl größte Gefahr einer andauernden Niedrigzinspolitik liegt in einer strukturellen Fehlallokation von Kapital. Der Zins wirkt wie ein mächtiger Hebel, 450 der Investorenströme umlenkt. Mit deutschen Staatspapieren lässt sich kaum etwas verdienen. Die großen institutionellen Anleger sind ver-zweifelt auf der Suche nach Rendite. Und damit gehen sie faktisch höhere Risiken ein. Diese ‚Verführung zum Risiko‘ ist aber das größte Problem der Niedrigzinspolitik. Ohne höhere Eigenkapitalregeln verleiten niedrige Zinsen die Banken auch dazu, große Fremd-kapitalhebel für Geschäfte zu nutzen. Geht es dann schief, ist die Gefahr eines Bankenzusammenbruchs umso größer. Die Lektion von Japan lautet, dass ohne eine Normalisierung der Kapitalkosten keine Erneuerung stattfindet. Ökonomen untersuchten für den Zeitraum von 1976 bis 2005, wie sich das Wachstum des Finanzsystems auf die Wirtschaftsentwicklung in unterschiedlichen Ländern ausgewirkt hat. Ergebnis: In Staaten mit einem unterentwickelten Bankensystem tat es der Wirtschaft gut, wenn die Geldhäuser größer wurden und mehr Kredite vergaben. Doch die Forscher stießen auf eine Grenze, ab der sich die positiven Wachs-tumseffekte umdrehten: Steigt die Kreditvergabe der Banken über das Bruttoinlandsprodukt des Landes, sinkt das Wirtschaftswachstum mit jedem neuen Bankkredit. Fangen Banken zu wachsen an, sind sie schwer zu stoppen. Deshalb plädieren die Notenbanker Haldane und Tarullo für eine Radikal-lösung: Die Schulden einer Bank sollen auf einen Prozentsatz der Jahreswirtschaftsleistung ihres Heimatlandes begrenzt werden. Wie hoch dieser Grenzwert sein soll, lassen sie offen. In den USA wurden bisher Zahlen zwischen zwei und acht Prozent diskutiert. Damit wollen die Aufseher vor allem verhindern, dass sich kleine Staaten mit einem aufgeblähten Finanzsystem übernehmen und später selbst gerettet werden müssen wie Irland oder Zypern. Doch lässt sich eine Größenbeschränkung für Banken auch durchsetzen? Man denke hier beispielsweise an die Schweiz. 451 B.IV.4 Ein anderes Sozialsystem Das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland wird als Soziale Marktwirtschaft beschrieben. Aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs hat sich in den 1960er und 1970er Jahren nicht nur ein ‚Wirtschaftswunder‘ entwickelt, sondern auch schrittweise ein Sozialstaat. In den folgenden Jahrzehnten haben Politik und Bürger immer mehr die Tatsache aus den Augen verloren, dass die weitere Ausformung des Sozialstaates auf einem ‚geborgten Wachstum‘ – sprich Schulden – basierte. Die Zahlen erlangen eine echte Brisanz, wenn man sie im Zusammenhang mit der demographischen Entwicklung sieht. Denn die rückläufige Bevölkerungsentwicklung stellt nicht nur eine Wachstumsbremse dar. Sie bedeutet auch, dass sich die im Umlageverfahren finanzierten Sozialsysteme als Schnee-ballsysteme entpuppen. Für sich genommen ist die demographische Schwäche Deutschlands kein Drama. Geringeres Wachstum kann bei einer schrumpfenden Bevölkerung ausreichend sein, um den Wohlstand pro Kopf zu erhalten oder gar zu mehren. Voraussetzung ist aber die Bereitschaft zu solider Haushaltspolitik, auch und gerade um den Preis politisch unpopulärer Sparanstrengungen. Heute müssen Politik und Bürger gemeinsam fragen: „Wer sind eigentlich die Hilfsbedürftigen?“ „Wie weit geht die Hilfspflicht der Solidargemeinschaft?“ „Wo sind die Grenzen?“ Und: „Wer steuert eigentlich, was mit den 115 bis 140 Milliarden Euro geschieht, die der Sozialstaat jährlich an die Hilftsindustrie zahlt?“ „Welches ‚Eigen-leben‘ führt eigentlich die Hilfsindustrie?“ B.IV.4.1 Was ist ein Sozialstaat? Ein Sozialstaat ist ein Staat, der in seinem Handeln soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit anstrebt, um die Teilhabe aller an den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zu gewährleisten. Es bezeichnet konkret auch die Gesamtheit staatlicher Einrichtungen, Steuerungsmaßnahmen und Normen, um das Ziel zu erreichen, 452 Lebensrisiken und soziale Folgewirkungen abzufedern. Der Staat verpflichtet sich, in Gesetzgebung und Verwaltung für einen sozialen Ausgleich der Gesellschaft zu sorgen. Die konkrete Gestaltung des Sozialstaats erfolgt in der Sozialpolitik. Der Begriff des Sozialstaats, der vor allem in der politischen und juristischen Diskussion Verwendung findet, dient häufig zur Selbst-beschreibung und Abgrenzung der deutschen Sozialordnung vom Versorgungs- bzw. Wohlfahrtsstaat nach skandinavischem Vorbild. Der Sozialstaat verfolge das Ziel, dem Menschen insbesondere in unverschuldeten Notlagen, die aus eigener Kraft nicht mehr bewältigt werden können, zur Seite zu stehen und darüber hinaus durch langfristig angelegte Maßnahmen diesen Notlagen vorzubeugen (Subsidiarität), während der Wohlfahrtsstaat weiter reichende Maßnahmen zur Steigerung des sozialen, materiellen und kulturellen Wohlergehens seiner Bürger ergreife. In Deutschland gehört das Sozialstaatsprinzip neben dem Rechtsstaat-, dem Bundesstaat- und dem Demokratieprinzip zur Grundlage der Verfassungsordnung. Das Grundgesetz bestimmt: „Die Bundes-republik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundes-staat.“– Grundgesetz: Art. 20 Abs. 1 GG Das Sozialstaatsprinzip ist damit im Grundgesetz als Staatsziel verankert, das neben der Garantie der Menschenwürde und der Menschenrechte den Schutz der sogenannten Ewigkeitsgarantie des Art.79 Abs. 3 GG genießt. Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Gesetzgeber, die Rechts-sprechung und die Verwaltung dazu, nach sozialen Gesichtspunkten zu handeln und die Rechtsordnung dementsprechend zu gestalten. Das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik wird als Soziale Marktwirtschaft bezeichnet, da der Staat der Wirtschaft einen Ordnungsrahmen vorgibt, der für einen sozialen Ausgleich sorgen soll. 453 Soziale Verantwortung ist im gesellschaftlichen Umfeld zu einer Schlüsselqualifikation geworden. B.IV.4.2 Krise des Sozialsystems Angesichts wirtschaftlicher Probleme durch nachlassendes Wirt-schaftswachstums, die Akkumulation von Kapital, die Globalisierung, demografische Entwicklungen, Arbeitslosigkeit und Staatsver-schuldung kam es in vielen Industrienationen dazu, dass der Sozialstaat zur Ursache der Probleme erklärt wurde. Zum Teil wurden staatliche Leistungen gekürzt. Positive Wirkungen werden von anderer Seite hingegen zum Beispiel für die schwedische Implementierung des Sozialstaates beschrieben, in dem Unternehmen – beispielsweise Saab – ungeschützter dem Markt überlassen werden als in Deutschland, aber die einzelnen Menschen besser abgesichert sind. Meldung vom 5. Dezember 2012: Der DAX steht mit einem Plus von 25 Prozent an der Spitze. Sogar die Märkte der Peripherieländer haben mächtig Auftrieb erhalten. So hat seit Juli 2012 die spanische Börse um 34 Prozent zugelegt, die italienische um 27 Prozent und die griechische gar um 40 Prozent. Feiern die Börsen etwa das Ende des Trauerspiels in Euroland? Tatsächlich zeigt sich, dass sich fundamental einiges getan hat. Die Haushaltsdefizite sind spürbar gesenkt worden. Auf den Arbeits- und Gütermärkten wurden Reformen angestoßen. Die Wettbewerbs-fähigkeit ist gestiegen, weil die Lohnstückkosten gesenkt wurden. Das ist bei Weitem noch nicht genug; es gibt noch viel zu tun. Ein politisches Diktum lautet ja, man dürfe eine Krise nicht ungenutzt vergeuden. Von dieser Warte aus betrachtet, ist die Euro-Krise ein Weckruf für eine EU, die mit ihren aufgeblähten Sozialstaaten droht, im globalen Wettbewerb ins Hintertreffen zu geraten. Das zeigt sich, wenn man sich folgende Fakten vor Augen führt: Die EU stellt mit 500 Millionen Menschen etwa sieben Prozent der Menschheit dar. Sie 454 erbringt 25 Prozent der Wirtschaftsleistung der Welt, doch ihre Sozialausgaben betragen sage und schreibe 50 Prozent der Welt! So gesehen hat die Euro-Krise ein Schlaglicht auf eine gewaltige Schief-lage geworfen. Der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands täuscht darüber hinweg, dass es auch hierzulande einen enormen Reform-bedarf gibt, wenn im Bundeshaushalt 2013 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit 119 Mrd. Euro nahezu 40 Prozent der Staats-ausgaben ‚verbraucht‘. Wir können uns unseren derzeitigen Sozial- und Versorgungsstaat in der jetzigen Form/Ausgestaltung – trotz oder gerade wegen der offen-sichtlichen Ungerechtigkeiten - nicht mehr leisten. Wo wir auch hin-schauen – überall sehen wir Menschen, die unserer Hilfe scheinbar bedürfen. Ein Widerspruch? B.IV.4.3 Reiches Deutschland – Armes Deutschland Deutschland ist reich – richtiger: seine Bürger sind reich. Und dennoch sind mehr Menschen denn je von Armut bedroht. Die Schere zwischen Reich und Arm klafft immer weiter auseinander, auch von Region zu Region. Wer an Armut denkt, hat vielleicht hungernde Kinder und Flüchtlinge in Krisengebieten wie Syrien vor Augen. Wenn es um Deutschland geht, denkt man vielleicht an Obdachlose. Aber arm in einem reichen Land? Wohl eher nicht. Und doch ist die Armutsgefährdungsquote in Deutschland weiter gestiegen – auf 15,1 Prozent laut einem Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, der auf dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes beruht. Jeder Sechste in Deutschland ist demnach von Armut bedroht. Ein trauriger Rekord. (Anmerkung: Ist diese Aussage aber richtig? Dazu später mehr) Laut diesem Bericht gibt es krasse regionale Unterschiede in Sachen Armut in Deutschland: Nach der regionalen Auswertung des Ver-bandes sind in Bayern und Baden-Württemberg weitaus weniger 455 Menschen von Armut betroffen als in anderen Bundesländern. Mit einer Quote von 22,3 Prozent landet Bremen zum ersten Mal auf dem letzten Platz des Rankings. Und wie jedes Jahr – auch nach dieser Untersuchung – besetzen der Osten und das Ruhrgebiet die traurigen Spitzenplätzen. Am schlimmsten trifft es im Westen Dortmund mit einer Quote von 21,6 Prozent, Bremen mit 22,3 Prozent und Hannover mit 22,6 Prozent. Im Osten ist es die Region Vorpommern mit einer Quote von 23,9 Prozent. Im Ländervergleich ist es Bremen, das den traurigen Spitzenplatz einnimmt. Vor allem für das Ruhrgebiet und den Osten gilt: „Der Grund für die schlechten Quoten sind strukturelle Probleme“, sagt Antje Richter-Kornweitz von der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen. Arbeitslosigkeit, Niedrigeinkommen und die daraus folgende schlechte Perspektive seien der Grund. Sie nennt einen weiteren, klassischen Indikator für Armut: den der Säuglingssterblichkeit, von dem man wisse, dass sie sozioökonomisch beeinflusst sei. Eine Studie des Gesundheitsamtes Bremen aus dem Jahr 2010 verglich die Kindesterblichkeit in Bremen zwischen Stadt-teilen, in denen eher Mittelschicht zu Hause ist und Stadteilen, die durch Armut geprägt sind. Das Ergebnis: Während im reichen Wohngebiet 1,2 Säuglinge pro 1.000 Lebendgeburten im ersten Lebensjahr sterben, sind es im armen Stadtteil 7,3. Die wichtigsten Fakten zum Armuts- und Reichtumsbericht Kinder Das Risiko von Kindern, arm zu werden, ist dann am höchsten (60 Prozent), wenn sie in einem Haushalt ohne Verdiener aufwachsen, berichtet die Süddeutsche Zeitung und nimmt Bezug auf den Armuts- und Reichtumsbericht. Auch Kinder Allein-erziehender haben ein hohes Risiko zu verarmen (55 Prozent), gefolgt von Ausländern (28 Prozent), berichtet die Zeitung. Kinderbetreuung 456 Die Zahl der Betreuungsplätze für Kinder ab einem Jahr hat sich seit 2006 auf mehr als 500.000 verdoppelt. Auch werden doppelt so viele Grundschüler ganztags betreut. Trotz aller Verbesserung: Die eingesetzten Mittel für die frühkindliche Bildung und Betreuung von Kindern unter sechs ist im internationalen Vergleich „immer noch weit unterdurchschnittlich“. Sie beliefen sich auf 0,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.“ „In Ländern wie Dänemark oder Schweden beträgt dieser Anteil das Dreifache“, heißt es in der Regierungsanalyse. Bildung In Deutschland sind die Bildungschancen von Kindern davon abhängig, was die Eltern gelernt haben und welches Haushaltseinkommen sie erzielen. Und: Für Analphabeten - mindestens 7,5 Millionen in Deutschland - wird nicht genug getan. Immerhin: nur noch 6,5 Prozent schafften 2010 keinen Schulabschluss. 2007 waren es noch 7,7 Prozent. Minijob und Teilzeitstelle Teilzeitstelle von bis zu 20 Wochenstunden, Minijob, befristeten Arbeitsverträge oder einer Anstellung als Leiharbeiter: Immer mehr Menschen arbeiten in einer solchen atypischen Beschäftigung. Der Anteil hat sich innerhalb von zehn Jahren von 20 auf 25 Prozent erhöht - und das auch noch auf Kosten normaler Arbeitsverhältnisse. Denn deren Zahl hat sich fast nicht verändert. Ältere Menschen „Die Einkommens- und Vermögenssituation der Älteren von heute ist über-durchschnittlich gut“, heißt es in dem Bericht laut Süddeutsche Zeitung. Nur 2,45 Prozent der über 65-Jährigen waren auf die staatliche Grundsicherung im Alter angewiesen. Als entsprechend niedrig gilt ihr Risiko, arm zu werden. Es liegt bei 14,7 Prozent, bei der Bevölkerung insgesamt bei 15,3 Prozent. Arbeitsmarkt Immerhin: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist seit 2007 um 40 Prozent auf im Jahresdurchschnitt 1,06 Millionen 2011 gesunken, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Besonders deutlichen Rückgang gibt es bei Zugewanderten. Zwischen 2008 und 2011 sei deren Erwerbstätigenquote „noch stärker gestiegen als die der Inländer“. Auch habe sich die Zahl der hoch qualifizierten Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten kräftig von 1.200 im Jahr 1998 auf 27.800 im Jahr 2011 erhöht. 457 Betroffen von Armut sind vor allem Alleinerziehende, Migranten, Langzeitarbeitslose. Und es sind immer Kinder, die es am härtesten trifft – in vielerlei Hinsicht. In Sachen Bildung hätten sie es schwerer, weil arme Kinder nicht so viele Angebote wahrnehmen können, sagt Antje Richter-Kornweitz. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit den Auswirkungen von Armut auf Kinder. Ein Faktor, der sich lebens-lang auswirke, beispielsweise wenn es um Schulabschlüsse gehe. „Da helfen auch die Bildungsgutscheine der Regierung nichts“, sagt sie. Denn es seien ja nicht nur die Gebühren für einen Sportkurs, sondern auch die Ausstattung und die Busfahrkarte, die bezahlt werden müsse. Und dann wirkt sich Armut auf die Gesundheit aus: Arme Kinder hätten bei den Schuleingangsuntersuchungen häufig schlechtere Befunde beim Sehen und Hören, hätten häufig schlechtere Zähne, auch weil die Ernährung schlechter sei. „Das ist kein Wunder“, sagt sie. „Denn vom Hartz-IV-Satz ist es nicht möglich, ausreichend Gemüse, Obst und Vollkornbrot zu kaufen – auch nicht in einem Discounter. Eltern müssen einfach zu Lebensmitteln mit einem hohen Energie-gehalt greifen, um mit dem Geld monatlich auszukommen.“ Vom Hartz-IV-Satz bleibe etwas mehr als drei Euro pro Tage für das Essen eines Kindes übrig. Zu wenig, um gesund zu bleiben. Untersuchungen zeigen auch: Selbst Erwachsene, die als Kind Armut erleben mussten, und trotzdem beruflich erfolgreich seien: Armut schlage sich ein Leben lang nieder –zum Beispiel in der Gesundheit. „Wer als Kind Armut erlebt hat, ist als Erwachsener viel häufiger chronisch krank.“ Es helfe nichts, die Schuld den Eltern zuzuschieben. Denn in den allermeisten Fällen würden sich die Eltern darum bemühen, die Kinder vor der Armut zu beschützen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband macht jedenfalls die Bundes-regierung für die wachsende Armut in Deutschland mitverantwortlich: „Diese Entwicklung ist auch politisch verursacht“, sagte Haupt-geschäftsführer Ulrich Schneider. Denn während in den vergangenen Jahren die Armutsquote an den Erfolg oder Misserfolg 458 der Wirtschaft gekoppelt war und mit ihr stieg oder sank, galt das für 2011 nicht mehr. Denn obwohl das Bruttoinlandsprodukt um 3,9 Prozent stieg, stieg auch die Armutsquote um 4,1 Prozent. Und SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte, die neuen Zahlen des Paritätischen zeigten, „wie zynisch und verlogen die 'Alles ist gut'-Rhetorik der Koalition aus Union und FDP ist“. In diesem Kontext blicken wir noch auf Europa: Dazu haben die Brüssler Statistiker im März 2013 folgendes ausgeführt: Bei der Frage, wie groß die Armutsrisiken eines Landes sind, belegt Deutschland im europaweiten Vergleich einen Mittelplatz, 1.1 Prozentpunkte besser als der Durchschnitt. Die Tschechische Republik weist die niedrigste Quote auf – 9,8 Prozent der dortigen Bevölkerung waren 2010 armuts-gefährdet, in Deutschland waren es dagegen 15,8 Prozent, also etwa jeder sechste Einwohner. Im Krisenland Zypern nur 14,5 Prozent. In Deutschland lag die Armutsschwelle für einen Single 2010 bei einem Jahreseinkommen von 11.426 Euro, beziehungsweise 952 Euro im Monat. In Rumänien liegt sie bei 105 Euro im Monat für einen Alleinlebenden. Die EU-Statistiker ermittelten zudem das Ausmaß der Einkommensungleichheit eines Landes im Jahr 2010. In Deutschland hatte das obere Fünftel der Bevölkerung 4,5-mal so viel Einkommen (aus Erwerbsarbeit, Vermögen oder Alterseinkünften) wie das untere Fünftel zur Verfügung. Damit ging die Einkommensschere nicht so weit auseinander wie im EU-Durchschnitt, der bei einem Wert von 5,1 lag. Die größten Unterschiede wurden erneut in Spanien (6,8), Lettland (6,6), Bulgarien (6,5) registriert. Die geringsten in Slowenien (3,5), Schweden (3,6), Slowakei (3,8), Niederland (3,8) und Österreich (3,8). Müssen die ‚starken Schultern‘ zukünftig also mehr tragen und die ‚schwachen Schultern‘ entlasten? 459 B.IV.4.4 Zwischenruf: Ist die Armutsdefinition richtig? Als armutsgefährdet gilt in Deutschland, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens zum Leben zur Verfügung hat. Konkret heißt das laut Studie: 2011 lag die Armutsschwelle eines Singles bei 848 Euro. Der Hartz IV-Satz betrug jedoch 374 Euro. Rechnet man Sätze für Miete und anderes hinzu, liegt der Satz immerhin bei 690 Euro – doch immer noch weit unter der Armuts-schwelle. Das gleiche gilt für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren. Dort liegt die Armutsgrenze bei 1.781 Euro. Der Hartz IV-Satz für die vierköpfige Familie liegt bei 1.213 Euro beziehungsweise bei 1.691 Euro. Wer auf die Stütze des Staates angewiesen ist, ist also auto-matisch arm. Die obige Armutsdefinition ist ‚genial‘(!?) Sie ‚garantiert‘ immer Armut! Wieso? Ein kurzes Gedankenspiel: Nehmen wir mal hypothetisch an, morgen würde die Politik eine Einkommensgarantie für jedermann – ob Arbeitnehmer, Arbeitsloser oder Rentner von 1.000 Euro monatlich einführen. Was würde passieren? Eine neue Berechnung der Armutsgefährung nach obiger Definition kommt wiederum zu dem Schluss, dass die Armut in Deutschland weiter gestiegen ist. So die Schlagzeile. Im weiteren Text taucht dann allerdings der Hinweis auf, dass nun das durchschnittliche Einkommen deutlich gestiegen ist. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass diese Definition vom Tisch muss, wenn wir uns ernsthaft mit dem Thema ‚Armut‘ auseinandersetzen wollen und müssen. Diese Definition hilft nicht den Armen, sondern den Interessen der Hilfsindustrie und deren politische Vertreter. Doch Vorsicht vor zu schnellen Schlüssen. Schauen wir genauer hin! Reiche leben länger 460 Die Schere zwischen Arm und Reich geht nicht nur beim Kontostand immer weiter auseinander, sondern auch bei der Lebenserwartung. Das sagt der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Forscher des DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) und des RobertKoch-Instituts kommen zu dem Ergebnis, dass Wohlhabende eine deutlich größere Chance auf ein langes Leben haben als Arme. Die Forscher um Martin Kroh verwendeten Daten des so genannten ‚Sozio-ökonomischen Panels‘. Das ist die größte Langzeitstudie Deutschlands. Hierbei wurden Daten von 65-jährigen Bürgern aus-gewertet. Während bei Frauen der Unterschied in der Lebens-erwartung zwischen Arm und Reich ‚nur‘ 3,5 Jahre ausmacht, sind es die besser gestellten Männer, die im Schnitt 5 Jahre länger leben als ihre Geschlechtsgenossen. Wer über mehr als 150% des mittleren Einkommens verfügt, wurde unter ‚wohlhabend‘ eingestuft. Wer weniger als 60% des mittleren Einkommens hat, als von Armut bedroht. Doch was sind die Faktoren, die zu einem längeren Leben führen, und inwiefern hängen sie mit einem besseren Einkommen zusammen? Als nicht erheblich für die Lebenserwartung erwies sich: • ‚Wessi‘ oder ‚Ossi‘: Trotz vieler Unterschiede im Arbeitsleben, den Gesundheitssystemen oder der gesellschaftlichen Struk-turen in den zwei verschiedenen deutschen Staaten fand sich kein signifikanter Unterschied in der Lebenserwartung inner-halb der Gruppe der Wohlhabenden und der Habenichtse in Ost und West. • Wohnort: Ob Stadt oder Land spielt kaum eine Rolle. • Elternhaus: Auch hier lassen sich kaum signifikante Einflussfaktoren finden. Auch Kinder aus gutem Hause sterben früher, wenn sie arm sind. Und Gutverdiener aus einfachen 461 Verhältnissen können es in Puncto Lebenserwartung mit den Sprösslingen der Reichen aufnehmen. • Gesundheitszustand: Alle Gesunden leben länger als Kranke. In allen Schichten. Während die Lebenserwartung im Allgemeinen ständig steigt, sinkt sie bei männlichen Arbeitnehmern mit geringem Einkommen deutlich. Konnten sich Arme noch 2001 im Durchschnitt 12,5 Jahre an ihrer Rente erfreuen, waren es 2010 nur noch 10,5 Jahre. Damit wird zum ersten Mal nachgewiesen, dass die Lebenserwartung der Armen nicht nur kürzer ist als die der Reichen. Sie sinkt sogar, während sie bei den Wohlhabenden weiter ansteigt. Die Gründe für ein kürzeres Leben sind vielschichtig. Bei Männern gibt es ein ganzes Bündel von Faktoren, die die Lebenserwartung bestimmen: • Bildung: Männer mit Abitur leben im Schnitt 5 Jahre länger als solche mit Hauptschulabschluss. • Gesundheitsversorgung: Kassenpatienten müssen mit längeren Wartezeiten rechnen. Sie werden schneller abgefertigt, haben keine freie Arztwahl, bekommen nicht jede mögliche Therapie zur Auswahl angeboten, als Privatpatienten aus den oberen Einkommensschichten. Praxisgebühren und Medikamenten-zuzahlungen halten Geringverdiener vom Arztbesuch ab. • Größere Gesundheitsrisiken: Einfache Arbeiter und Niedrig-löhner fangen in der Regel früher an, zu arbeiten. Sie leisten oft körperlich anstrengendere Arbeiten und sind höherem Verschleiß ausgesetzt. Am Arbeitsplatz sind sie oft gesund-heitsschädlichen Faktoren ausgesetzt (Lärm, 462 Chemikalien, eintönigen Bewegungsabläufen, Schmutz, Witterungs-einflüssen, Hitze, Kälte, Staub, Gewichte heben?) • Gesundheitsschädliche Lebensführung: In den niederen Ein-kommensschichten neigen Männer zu ungesunder Ernährung, Alkoholkonsum, Rauchen und Übergewicht. Gebildete Männer aus höheren Einkommensschichten achten mehr auf Fitness, Figur, gesunde Ernährung und harmonische Partnerschaften. Sie stehen Drogenkonsum einschließlich Alkohol und Tabak eher kritisch gegenüber. Arme rauchen um 35% häufiger als Wohlhabende. • Die Männer des ‚Prekariats‘ neigen auch eher zu ‚Macho‘-Verhaltensweisen, die es ihnen verbieten, körperliche und seelische Probleme zu beachten und sich darum zu kümmern. Ehe- und Partnerschaftsprobleme werden eher verdrängt als gelöst. • Arbeitslosigkeit, unsichere Beschäftigungsverhältnisse: Sie sind die schlimmsten Risikofaktoren. Das RKI wies nach, dass Arbeitslose wesentlich häufiger krank sind und deutlich früher sterben. Besonders die psychische Gesundheit wird durch Jobverlust und schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse stark beeinträchtigt. Je häufiger und länger ein Mann arbeitslos ist, umso höher sein Risiko, schwer zu erkranken. Herzinfarkte sind heute typisch für unterprivilegierte Männer. Der radikale Statusverlust lässt insbesondere Männer irrational handeln und vollkommen abrutschen – bis in die Obdachlosigkeit. Interessant: ein gesundheitsschädlicher Lebensstil bricht sich meistens bei einem sozialen Absturz erst richtig Bahn. • Ehe/Partnerschaft: Eine Ehe oder Partnerschaft wirkt sich bei Männern deutlich lebensverlängernd aus, insbesondere im Alter. 463 Frauen haben weniger Risikofaktoren: Die Umstände, die die weib-liche Lebenserwartung bestimmen, sind laut der Studie ganz anders gelagert, als die der Männer. Das erklärt auch die erstaunliche Tat-sache, dass die Unterschiede zwischen wohlhabenden Frauen und armen Frauen deutlich geringer ausfallen. • Arbeitslosigkeit: Frauen leiden weit weniger darunter als Männer. Sie fühlen sich nicht wertlos oder minderwertig, weil die traditionelle Rolle des Ernährers der Familie immer noch mehr beim Mann liegt. Besonders in den unteren Schichten. • Unsicheres Beschäftigungsverhältnis: Dafür leiden Frauen aber deutlich mehr unter materieller Unsicherheit. Frauen in so genannten ‚prekären Beschäftigungsverhältnissen‘ leiden an 35% mehr Tagen unter körperlichen Beschwerden als ihre gut verdienenden Altersgenossinnen. Aber auch hier können sich Frauen eher aus der Lage befreien, als Männer: Sie suchen sich einen neuen Partner, der ihnen ein besseres Leben bietet. • Zufriedenheit mit dem verfügbaren Einkommen: Sind Frauen mit dem Einkommen oder der finanziellen Ausstattung zufrieden, sind kaum noch Unterschiede zwischen Arm und Reich feststellbar. Dies ist den Studien zufolge ein rein psychischer Effekt. Unzufriedenheit mit der Einkommenslage und Existenzangst setzt ihnen sehr viel stärker zu als Männern und führt oft zu depressiven Erkrankungen. • Ehe/Partnerschaft, soziale Netzwerke: Frauen sind, im Gegen-satz zu den Männern, gerade im Alter wenig auf eine Partnerschaft angewiesen. Für sie sind soziale Netzwerke von weit höherer Bedeutung. Mit Freunden auszugehen und mit Mitmenschen zusammen zu arbeiten und zu kommunizieren hat für die Frauen und ihre Lebenserwartung einen positiven Effekt. Frauen pflegen auch - eher als Männer - ihre familiären Kontakte, die ihnen Sicherheit und Unterstützung bieten. 464 • Bildung: Frauen definieren ihr Selbstwertgefühl weniger über ihre Bildung und Karriere. Sie entwickeln hier seltener Minderwertigkeitsgefühle und Depressionen als Männer. Sie überfordern sich nicht so sehr wie Männer, um Respekt und Anerkennung zu erlangen. • Physische Belastung: Erstaunlicherweise wächst die Lebens-erwartung bei Frauen, die körperlich belastende Berufe gewählt haben – ganz im Gegensatz zu den Männern. • Gesündere Lebensführung: Frauen achten im Allgemeinen eher auf eine gesündere Lebensführung und sind weniger anfällig für übermäßigen Genuss von Alkohol und Tabak. Sie stehen auch weniger unter dem Druck, sich beweisen zu müssen, als die Männer. Weibliche Senioren scheuen Arztbesuche weniger. Sie sind eher bereit, ärztliche Ratschläge anzunehmen und ihre Lebensführung daran auszurichten. Welche Lösungen gibt es? Im Gegensatz zu den Wohlfahrtsstaats-Befürwortern hält Thomas Lampert vom Robert-Koch-Institut einen Ausbau der sozialen Fürsorge oder des Gesundheitswesens nicht für wirkungsvoll. Das würde seiner Meinung nach das Leben der Armen nicht verlängern. Nicht den Staat, sondern den Arbeitsmarkt sieht er hier gefordert. Die Menschen in den unteren Einkommensschichten brauchen sichere Beschäftigungsverhältnisse. Ebenso angemessene Löhne, Arbeitszeitmodelle, die familiengerecht und altersangepasst sind und eine größere Durchlässigkeit zwischen den Gesellschaftsschichten. Das seien die Voraussetzungen für ein gesünderes, erfüllteres und längeres Leben. B.IV.4.5 Problembereich: Unterschicht 465 In der Nachkriegszeit war die Unterschicht zunächst vergessen. Zum Gründungsmythos des neuen Deutschland gehörten Trümmerfrauen und hemdsärmelige Männer, keine Verlierer. Verloren hatte man ja bereits den Krieg. Man war so sehr mit dem Wirtschaftswunder beschäftigt, dass die Armut verdrängt wurde. Soziologen sprachen von einer ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft‘, in der alle gleich waren – mit der gleichen Chance zum Aufstieg. Dieses Versprechen gilt weiterhin. Nur nicht für die Unterschicht. Die packt das nicht. Warum? Weil sie es in Wahrheit nicht will. Sagt die Mittelschicht. Sie trinken zu viel, arbeiten zu wenig und lassen sich dabei von RTL2 filmen – so denkt die Mittelschicht über die Unter-schicht. Dabei könnte sie von ihr einiges lernen. Wie schön, dass die Agenda 2010 zu neuen Ehren kommt. Seit es in Europa fast allen schlechter geht als den Deutschen, gilt Gerhard Schröders Sozialreform als Motor unseres ökonomischen Erfolgs. Eines wird dabei gern vergessen: Mit der Agenda wollte Schröders Regierung den Bürgern mitteilen, dass sie sich endlich richtig reinhängen müssen, wenn sie den Anschluss an die Globalisierung nicht verlieren wollen. Gemeint waren damit alle Deutschen. Gesagt wurde es aber nur den Ärmsten. Zum Beispiel am 14. März 2003 in Schröders Regierungserklärung: „Niemandem (...) wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt, (...) der wird mit Sanktionen rechnen müssen.“ Die Unterschicht wurde angeschrien, damit alle anderen es hörten. Plötzlich fragte sich die Nation: Wer zum Teufel sind diese nichts-nutzigen Typen? Diese fünf Millionen Arbeitslose, die einfach nicht verschwinden wollen aus der Statistik, im Land von Siemens und Mercedes, dem Land der Dichter und Denker, der Disziplin und Pünktlichkeit? Die Antwort war schnell gefunden: Schnorrer, die dem Sozialstaat auf der Tasche liegen, den ganzen Tag auf der Couch abhängen, den Fernseher anstarren, Fertiggerichte essen und die Bude nur verlassen, wenn sie Bier und Zigaretten brauchen. Die bei RTL2 466 Einblick in ihre Wohnungen und Leben gewähren, die sie nicht im Griff haben. Die geschmacklose Klamotten tragen, viel Sex mit vielen Menschen haben und davon erzählen. Die mehr Geld für ihre Hunde, Katzen oder Schlangen ausgeben als für ihre Kinder. Diese Faulen hatten kein Recht, die Fleißigen mit nach unten zu ziehen. Es gibt eine treffende Wendung im Englischen für das, was der Unterschicht seit Jahren widerfährt: blaming the victim, dem Opfer die Schuld zuschieben. Die Unterschicht selbst sei es doch, die die Faulen hervorbringe, das System gefährde, Verrat an der Gesellschaft begehe! Die Agenda mag ihre Rehabilitierung verdient haben. Nur die Unter-schicht wurde nie rehabilitiert. Niemand hat sich entschuldigt bei den Menschen ganz unten. Sie wurden nicht noch einmal neu angesehen. So können sie nicht mit Würde leben. So können sie nichts von der Gesellschaft lernen. Und die Gesellschaft nichts von ihnen. B.IV.4.6 Die soziale Mitte schrumpft Die Einkommensverteilung und Chancengerechtigkeit in Deutschland entwickeln sich negativ. Das zeigen neue Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), das zusammen mit der Bertelsmann-Stiftung eine Studie zur Situation der Mittelschicht vorgelegt hat. Das Fazit der Forscher: Deutschlands soziale Mitte schrumpft – und hat mäßige Zukunftsaussichten. Eine eindeutige Definierung des Begriffes ‚Mittelschicht‘ gibt es nicht. Nur so viel: Ihr gehören Architekten, Computerexperten und Ver-waltungsangestellte ebenso an, wie Künstler, Ärzte, Lehrer und der Facharbeiter. Eine vierköpfige Familie gehört dann zur Mittelschicht, wenn ihr ein Einkommen zwischen 2.400 und 5.000 € monatlich zur Verfügung steht. Hierzulande gehören rund 58,5% zu dieser 467 Be-völkerungsgruppe. Laut einer aktuellen Studie der Universität Bremen und des deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW) waren es noch 1997 ganze 65% gewesen. Statusangst: Dieses Wort hat längst seinen Weg gebahnt vom Soziologendeutsch in den Grundwortschatz vieler Bundesbürger. Was man hat, das hat man – ist aber nicht sicher, ob dies auch für die Zukunft gilt. Eine Sorge, die Kauffrauen im Einzelhandel ebenso umtreibt wie Mechaniker, Erzieherinnen und gar Ärzte. Früher, noch bis weit in die achtziger Jahre hinein, galt die Zukunft noch als Gegenwart mit anderen Mitteln. Mit mehr Mitteln. „Wohlstand für alle“ gab Ludwig Ehrhard jene Parole in den Fünfzigern aus, die schnell zum Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland werde sollte. Von Deutschland als „nivellierter Mittelstandsgesellschaft“ sprachen damals die Soziologen und schlugen zur Illustration dieses grundzufriedenen Gemeinschaftsbildes eine dickbäuchige Zwiebel vor: Oben, wo die wenigen Reichen thronten, läuft sie spitz zu, unten wo die paar Armen ihr Dasein fristeten, auch. Aber die Zwiebel hat sich in den vergangenen zehn Jahren mächtig verschlankt. Entfesselte Kapitalmärkte, die einigen wenigen Reichtum verschaffen, und ein liberalisierter Arbeitsmarkt, der zwischen Festangestellten und pre-kärer Beschäftigung – unterbrochen durch Phasen der Arbeitslosigkeit – keinen Puffer mehr kennt, haben den Mittelschichtsbauch schrumpfen lassen. Die Steuerbelastung der Mittelschicht ist in den letzten beiden Jahrzenten deutlich gestiegen. Besonders diejenigen, die jährlich zwischen 29.000 € und 112.000 € verdienen, sind stark benachteiligt. Diese Einkommensgruppe hat prozentual gesehen, einiges mehr an staatlichen Abzügen zu stemmen, als es noch im Jahr 1990 der Fall gewesen ist. Hingegen haben Geringverdiener, die jährlich nur etwa 12.000 € versteuern müssen, heute gut 50% weniger zu zahlen, als damals. 468 Die Mittelschicht wird auch in Zukunft weiter unter Druck geraten. Der DIW-Studie zufolge wird die Ungleichheit sowohl beim Ein-kommen als auch beim Vermögen der Deutschen noch zunehmen. Das Schrumpfen Mittelschicht hat ihren bisherigen Tiefpunkt im Jahr 2010 erreicht. Ihr Anteil hat sich seit 1997 um 5,5% verringert. Als Ursache geben die Wissenschaftler unter anderem folgende Gründe an: • Die Zunahme der Haushalte von Singles und Alleinerziehenden • Die Zuwanderung von ‚bildungsfernen Personen‘ • Die Senkung des Spitzensteuersatzes • Die mangelhafte Angleichung von Sozialleistungen an die Inflation an. Die Untersuchung des DIW kritisiert neben der wachsenden Ungleich-heit aber auch die sinkende Chancengleichheit für Einkommens-schwächere. Für sie wird es immer schwieriger gesellschaftlich aufzu-steigen. „Eine soziale Durchmischung findet immer weniger statt“, so die Autoren der Studie. Nur eine kleine Gruppe in der Gesellschaft, ‚Elite‘ genannt, konnte in den vergangenen Jahren ihren Wohlstand steigern. Doch nur wenige schaffen den Schritt aus der Mittelschicht in die Oberschicht. Politiker, Soziologen und Unternehmer sind sich einig: Die Mittelschicht ist eine wichtige Stütze der Wohlstandsgesellschaft und des Sozialstaates. Hier befinden sich die Leistungsträger, die mit anpacken um die Wirtschaft und somit die ‚Lokomotive Europas‘ in Schwung halten. Besonders diese Schicht der Bevölkerung sollte als Garant des Sozialstaates und des Wohlstands von der Regierung unterstützt werden. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Die Lohnerhöhungen der letzten Jahre haben die Inflation bei Weitem nicht ausgeglichen. Es kam sogar 469 zu spürbaren Reallohnverlusten. Und zu allem Überdruss ist aus-gerechnet die Mittelschicht auch noch mit der höchsten Steuer-belastung bestraft. Die Leistungsträger unserer Gesellschaft bluten langsam aus, indem sie immer mehr Geld für die gleichen Lebens-bedingungen aufbringen müssen. Zerstört der Staat seine beste Einkommensquelle? Ausgerechnet die Bevölkerungsgruppe, die am meisten erwirtschaftet, wird durch immer höhere Steuern und Abgaben zerdrückt. Wer Leistung erbringt und anpackt wird hierzulande systematisch ausgepresst und zur Kasse gebeten. Das ist mehr als paradox. Zwei Entwicklungen bestimmen laut Studie dabei die Dynamik der gesellschaftlichen Mitte: Der Aufstieg in die Mittelschicht gelingt immer seltener und die Mitte wächst nicht mehr durch einen Zustrom aus unteren Einkommensschichten. Darüber hinaus nehmen Ver-harrungstendenzen zu. Auf der anderen Seite verfügt die Mittelschicht aber über zunehmend bessere Bildung und höhere berufliche Positionen. Aus der Mitte heraus bestehen also Aufstiegschancen nach oben; Menschen verlassen also die Mittelschicht, die dadurch kleiner wird. Obwohl die Einkommensmobilität insgesamt eher gering ist, sind die unteren Einkommen der Mittelschicht gefährdet, in einkommens-schwache Bereiche abzurutschen - es überwiegt die Abstiegs- gegenüber der Aufstiegsmobilität. Die Studie zeigt jedoch, dass es weniger Bewegung zwischen den Einkommensschichten gibt. Nach dem Abstieg einer Person aus der Mittelschicht, fällt es heute schwerer, wieder in höhere Einkommensschichten aufzusteigen. 70 Prozent der unteren Einkommen finden sich nach drei Jahren immer noch in der gleichen Schicht wieder. Es hat sich also auch das Risiko, eine hohe Einkommensschicht wieder zu verlassen, in den ver-gangenen Jahren verringert. Jeder Vierte, so die Studie, hat die latente Sorge, seinen Status zu verlieren. Denn „selbst eine gute Ausbildung ist heute kein Garant mehr für ein Leben in gesichertem Wohlstand“. Ursächlich für diese Entwicklung sind für die Wissenschaftler mehrere Faktoren: So seien 470 zum einen vor allem „bildungsferne Personen“ zugewandert. Zum anderen hätten die Single- und Alleinerziehenden-Haushalte zugenommen. Diese führten zu größerer Einkommensungleichheit, „da keine Ersparnisse durch gemeinsames Wirtschaften wie in größeren Haushalten erzielt werden“. Besonders ausgeprägt ist dieses Problem in der unteren Hälfte der Einkommensmittelschichten. Der Anteil der Menschen in den unteren und untersten Einkommensschichten ist um knapp vier Millionen Menschen gewachsen. Arbeitsmarktreformen und der Rückgang normaler Arbeitsverhältnisse seien eine weitere Ursache. „Die entstandenen atypischen Be-schäftigungsverhältnisse sind in der Regel durch eine unter-durchschnittliche Entlohnung gezeichnet“, heißt es in der Studie, die auch der Steuerpolitik eine Mitschuld gibt. Von den seit Mitte der 1990er Jahren durchgeführten Steuerreformen, etwa von der Senkung des Spitzensteuersatzes, hätten nämlich vor allem Reiche profitiert. „Die Mittelschicht wurde dagegen deutlich weniger von den ge-änderten Steuertarifen entlastet.“ Als Folge all dessen resümieren die Forscher: „Die Ungleichheit sowohl beim Einkommen als auch beim Vermögen hat weiter zugenommen“. Von den zusätzlichen Wohlstandsgewinnen habe in den vergangenen Jahren nur „eine Elite in der Gesellschaft“ profitiert. Ist zu befürchten, dass in Zukunft die sozialen Kosten weiter ansteigen werden? Im Ausland spottet man schon über ein Wiederaufleben der ‚German Angst‘ – über die angeblich typisch deutsche Verzagtheit ohne triftigen Grund. Denn hierzulande brennen keine Vorstädte, und rechte Parteien, wie sie seit Krisenanbruch in sämtlichen Nachbar-ländern rings um Deutschland auftrumpfen, sind ebenfalls nicht in Sicht. Wie also verschafft es sich Luft, dieses ständige Gefühl von Unsicherheit? Oder ist alles bloß Einbildung? „Die Angst vor dem Abstieg ist real“, sagt Bernhard Weßels vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), „und sie ist nicht unbegründet“. 471 Da bröckelt etwas: die Mittelschicht und mit ihr das Grundvertrauen einer Gesellschaft in ihre Zukunft. Wer Angst vor dem Morgen hat, der schmiedet keine Pläne, er ist nicht erfinderisch, er ist gelähmt. Den Kindern wird es einmal besser gehen: das war in der Bundesrepublik einmal eine Art Grundüberzeugung. Ja den Kindern ist es immer besser gegangen: aus den Ruinen des Zweiten Weltkrieges haben die Mütter und Väter das Wirtschafts-wunder geschaffen. Von dem Erbe - materieller Wohlstand gepaart mit immer mehr Sozialleistungen - haben ihre Kinder profitiert. Es sind vor allem ihre Enkel, die heute von der Statusangst befallen werden. An dieser Stelle sollte uns auch der zweite berühmte Satz von Ehrhard in Erinnerung gerufen werden: Schon Ende der Sechziger sprach er vom Maßhalten! Doch darauf wollte niemand hören, stattdessen schickte man ihn als Bundeskanzler recht schnell in die Wüste. Haben wir Kinder, zu denen ich ja auch gehöre, nicht unsere Möglich-keiten in den letzten 30 Jahren überzogen? B.R.-Kommentar: Die obige typische Rhetorik des Herrn Gabriel ist wenig hilfreich. So einfach kann man es sich nicht machen, wenn man das Wohl aller Bürger im Auge hat. Wie stellt sich die Lage zurzeit dar? Auffällig sind zwei scheinbar widersprechende Tatbestände: Einerseits schrumpft die soziale Mitte in Deutschland. Das Grund-vertrauen junger Menschen in die Zukunft bröckelt. Andererseits beträgt der Haushalt 2013 für Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit 119 Milliarden Euro nahezu 40 Prozent des Bundes-haushaltes. B.IV.4.7 Selektion statt Inklusion – die deutsche H 472 Eine der zentralen Aufgaben des Sozialstaates ist es, die Chancen der Benachteiligten auf Teilhabe zu verbessern. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob der Sozialstaat noch Helfer in der Not ist oder sich längst verselbständigt hat. 1962 machten die Sozialausgaben knapp zwanzig Prozent des Bundeshaushalts aus. 2012 waren sie auf fünfzig Prozent angewachsen. 2014 dürften sie strukturell noch weiter steigen, weil dann der Bund den Anteil der Kommunen für die Grundsicherung im Alter komplett übernimmt. 126,5 Milliarden Euro wurden im ver-gangenen Jahr für das Ressort ‚Arbeit und Soziales‘ ausgegeben. Zum Vergleich dazu: Für Forschung und Bildung standen lediglich 12,9 Milliarden zur Verfügung. Erreicht der Staat mit seinen Bemühungen und seinen Milliarden für das Hilfssystem in Deutschland eher das Gegenteil dessen, was gewollt ist? Wer sind die Benachteiligten? Wer nimmt sich ihrer an? Welche Interessen hat die deutsche Hilfsindustrie? Wer steuert eigentlich, was mit den 119 Milliarden geschieht, die der Sozialstaat jährlich an die Hilfsindustrie zahlt? Walter Wüllenweber hat in seinem Buch Die Asozialen – Wie Oberund Unterschicht unser Land ruinieren – und wer davon profitiert den Sachverhalt fundiert aufgezeigt: • • • • Die Hilfsindustrie ist die größte Branche der gesamten deutschen Volkswirtschaft. Deutschlands Unternehmen mit den meisten Mitarbeitern heißt nicht Siemens oder Daimler oder Deutsche Telekom, sondern Caritas mit einer halben Million Mitarbeitern; mit 453.000 folgt auf Platz zwei die evangelische Konkurrenz, das Diakonische Werk. Beim Umsatz halten sich die Wohlfahrtsverbände bedeckt; der geschätzte Umsatz liegt etwa bei 115 bis 140 Milliarden Euro. Woher kommen die Milliarden? Vom Staat. Die Helfer werden aus öffentlichen Mitteln bezahlt. Jeder sechste, womöglich sogar jeder fünfte Euro, den Deutschlands Steuerzahler an das Finanzamt überweisen, wird am Ende auf einem Konto eines 473 • • • • • • • • • • Wohlfahrtsunternehmens gutgeschrieben – mit steigender Tendenz. Allein die großen Wohlfahrtsverbände bieten ihre Dienste in über 100.000 Einrichtungen an. Das Diakonische Werk rechnet damit, dass 95 Prozent der Menschen in Deutschland mindestens ein Mal im Leben ‚Kunden‘ der Wohlfahrtsverbände werden. Aus Sicht der Sozialunternehmen sind die Deutschen ein Volk von Hilfsbedürftigen. Das Wachstum der Hilfsindustrie ist in den letzten Jahrzehnten sieben Mal schneller gewachsen als jene der Wirtschaft. Wachstumsmarkt Altenhilfe Wachstumsmarkt Kinder- und Jugendhilfe Wachstumsmarkt Behindertenhilfe: Die Zahl der Empfänger der ‚Eingliederungshilfe‘ hat sich zwischen 1994 und 2010 verdoppelt. Alle körperlich behinderten Menschen machen zusammen nur rund 10 Prozent aller Kinder mit Förderbedarf aus. Die Krankheitsbilder, die früher als ‚geistig behindert‘ zusammengefasst wurden, treffen auf 16 Prozent der Förder-fälle zu. Fast die Hälfte aller Kinder mit Förderbedarf gelten als ‚lernbehindert‘. Die typischen Lernbehinderten kommen vor allem aus der Unterschicht. Grund: Schulversagen. Soziale Herkunft ist der wichtigste Grund für Schulversagen. Anstatt die benachteiligten Kinder in das Regelsystem zu integrieren werden sie in ein Parallelsystem abgeschoben. Selektion statt Inklusion! 84,3 Prozent aller Kinder mit Förderbedarf besuchen eine spezielle Förderschule. Ergebnis: 76 Prozent verlassen die Förderschule ohne Hauptschulabschluss, also ohne die Mindestvoraussetzung für Teilhabe am Arbeitsleben. Diejenigen, die sich gegen Inklusion wehren, das ist die Wohlfahrtsmafia. 474 Im Bildungssystem gilt: einmal draußen, immer draußen. Maik Nothnagel erklärt, wie daraus eine Verwertungskette der guten Taten geschmiedet wird: „Von der Förderschule rein in die Behinderten-werkstatt. Dazu betreutes Wohnen und am Ende das Pflegeheim. Wenn die einen einmal haben, geben sie einen nicht mehr her. Als Behinderter bist du lebenslang ein Werkstück, mit dem Geld gemacht wird.“ Hier kann das zentrale Ungleichgewicht der gesellschaftlichen Grundstruktur Leistung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit im Sozialbereich mit der Frage „Woher kommen die vielen zusätzlichen Kunden der Wohlfahrtsbranche? beantwortet werden. Wüllenweber: „Die ‚lernbehinderten‘ Kinder sind der Nachwuchs überforderter und bildungsarmer Eltern. Das Wachstum in der Kinder- und Jugendhilfe wird von denselben Familien verursacht. Langzeitarbeitslosigkeit wurde in den vergangenen Jahren immer stärker zu einem Merkmal des Lebensstils der Unterschicht. In den ‚Maßnahmen‘ der Arbeitslosigkeitsindustrie wächst daher fortwährend der Anteil der Menschen ohne Berufsausbildung und ohne Schulabschluss. Und der Armutsbegriff beschert der Branche stetig neue Betätigungsmöglichkeiten in eben diesem Milieu. Das ‚Wirtschaftswunder Sozialmarkt‘ stützt sich also insgesamt auf die Existenz der neuen Unterschicht. Die Hilfsindustrie bekämpft den Lebensstil der Unterschicht nicht. Sie lebt davon.“ Behinderte ohne Schulabschluss haben keine Chance auf einen Job im ersten Arbeitsmarkt. Und wenn sie ‚Glück‘ haben, verdingen sie sich im Niedriglohnbereich. B.III.4.8 Vollzeitbeschäftigte mit Berufsausbildung im Niedriglohnsektor – der differenzierte Mindestlohn muss 2014 kommen Deutschland war lange Zeit für seine relativ ausgeglichene Einkommensverteilung bekannt. Doch in den letzten 10 – 20 Jahren hat sich die Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt deutlich erhöht. Dies gilt sowohl für die Stabilität und Qualität der Arbeit wie die 475 Verdienstmöglichkeiten. Immer mehr Menschen müssen für wenig Geld arbeiten. In diesem wachsenden Niedriglohnsektor sind ins-besondere atypisch und prekär Beschäftigte tätig. In 2010 waren insgesamt 4,66 Mio. Vollzeitbeschäftigte im Niedrig-lohn beschäftigt. Damit zählten insgesamt 22,8 Prozent der Vollzeit-beschäftigen – die Auszubildenden nicht mitgezählt – zu den Gering-verdienern. Die bundesweite Niedriglohnschwelle für diese Vollzeit-beschäftigten lag Ende 2010 bei einem Bruttoentgelt von 1.802 Euro pro Monat (das entspricht einem Bruttostundenlohn von 9,15 Euro); Sonderzahlungen wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld sind darin bereits berücksichtigt. Anknüpfend an internationale Analysen wird hier die Niedriglohnschwelle von 2/3 des nationalen Medianlohns zugrunde gelegt. Zwischen Ost und West zeigten sich deutliche Unterschiede. Misst man ihr Gewicht am unterschiedlichen Beschäftigungsniveau in beiden Landesteilen, so ist der Niedriglohnanteil im Osten gut doppelt so hoch wie im Westen. Bei einer bundeseinheitlichen Niedriglohnschwelle lagen 2010 im Westen knapp 20 Prozent der Vollzeitbeschäftigten unter dieser Schwelle gegenüber 40 Prozent im Osten. Verwendet man hingegen für beide Landesteile getrennte Schwellen, ergeben sich deutlich abweichende Grenzwerte. Damit wird dem Lohngefälle von West nach Ost und dem jeweiligen Preisniveau besser Rechnung getragen. Unterhalb von zwei Dritteln des westdeutschen Medians lagen dann 2010 im Westen Bruttolöhne von 1.890 Euro monatlich bzw. von 1.379 Euro im Osten. Betrachtet wird folglich nur das Lohn-gefälle innerhalb der beiden Landesteile und nicht mehr das gesamtdeutsche Gefälle insgesamt. Der Niedriglohnanteil liegt im Osten dann (mit 21,1 %) deutlich niedriger, aber immer noch leicht über dem westdeutschen Wert mit 20,8 %. Das Qualifikationsniveau hat einen großen Einfluss auf die Verdienstchancen und die Wahrscheinlichkeit, im Niedriglohnsektor beschäftigt zu sein. Besonders hoch ist das Niedriglohnrisiko für Beschäftigte ohne Berufsabschluss und sinkt mit steigendem 476 Bildungsgrad. Bei bundeseinheitlicher Niedriglohnschwelle zählten in den neuen Ländern 2010 gut die Hälfte (53,4 %) aller Vollzeit-beschäftigten ohne Berufsausbildung zu den Geringverdienern und 30 % in den alten Ländern; bei jenen mit Fach- und Hochschulausbildung lag die Quote bei 7,9 % (Ost) bzw. 3,5 % (West); absolut waren dies aber gut 100.000 Akademiker, die im Niedriglohnsektor tätig waren. Differenziert man stärker zwischen Ost und West und legt die jeweils landesspezifischen Niedriglohnschwellen zugrunde, zeigt sich folgendes Bild: Im Westen zählen dann 16,0 % aller sozialversicherten Vollzeitbeschäftigten mit Berufsausbildung zu den Niedriglohn-beschäftigten, die monatlich weniger als 1.890 Euro brutto verdienten. Im Osten lag die Niedriglohnschwelle demgegenüber bei 1.379 Euro im Monat; immerhin 19,2 % der ostdeutschen Beschäftigten mit Berufsausbildung fielen unter diese Niedriglohnschwelle. Zehn Jahre zuvor war das Niedriglohnrisiko in beiden Landesteilen noch deutlich niedriger. Im Westen lag die Quote 1999 bei 13,4 % und bei 17,3 % in den neuen Ländern; die Quote hat sich im Westen noch etwas stärker erhöht als im Osten und folglich die Unterschiede leicht verringert. Berufliche Qualifikation ist zwar ein wichtiger Faktor, der die Ver-diensthöhe positiv beeinflussen kann. Je höher die Qualifikation, desto niedriger ist grundsätzlich auch die Wahrscheinlichkeit, auf eine schlechte Bezahlung verwiesen zu sein. Niedrigentlohnung für Vollzeitbeschäftigte mit Berufsabschluss ist aber keinesfalls eine Seltenheit mehr. Auch in den alten Bundesländern ist ein Siebtel der Vollzeitbeschäftigten mit Berufsausbildung im Niedriglohnsektor tätig; im Vergleich zu jenen ohne Berufsabschluss ist das Niedriglohnrisiko aber nur etwa halb so hoch. Für die Vollzeitbeschäftigten mit Berufsausbildung zeigen zu-gleich starke geschlechtsspezifische Unterschiede. Frauen Berufs-abschluss haben ein deutlich höheres Risiko, nur Niedrig-lohnbeschäftigung zu finden, als Männer. Auffallend ist 477 sich mit eine aber ebenso, dass bei den Männern ein deutlich stärkerer Anstieg in den letzten zehn Jahren zu verzeichnen ist. Der Anteil der im Niedriglohnsektor beschäftigten Männer mit Berufsausbildung ist innerhalb von zehn Jahren doppelt so stark gestiegen wie bei den Frauen. Die Wahrscheinlichkeit, ein Entgelt unterhalb der jeweiligen Niedrig-lohnschwelle zu erhalten, steht in engem Zusammenhang mit der ausgeübten Tätigkeit und der Branche, wo man arbeitet. So ist das Niedriglohnrisiko in den Dienstleistungsberufen überdurchschnittlich hoch. Vergleicht man beide Landesteile, so ist das Phänomen des Niedriglohnsektors im westdeutschen Dienstleistungssektor noch von etwas größerer Bedeutung als im Osten. 23,5 % aller den Dienst-leistungsberufen zugeordneten Vollzeitbeschäftigten lagen mit ihrem Bruttoverdienst unterhalb der westdeutschen Niedriglohnschwelle; absolut waren dies gut 2,3 Mio. Vollzeitbeschäftigte. Der Struktur-wandel hin zu den Dienstleistungsberufen trägt folglich unmittelbar zur Ausbreitung des Niedriglohnsektors bei. Im produzierenden Gewerbe liegt die Niedriglohnquote deutlich niedriger und zwar bei 10,4 % im Westen und 12,5 % im Osten. Das Niedriglohnrisiko in diesem Wirtschaftszweig ist damit nicht einmal halb so hoch wie im dienstleistungsorientierten Handel, Gast- und Verkehrssektor. Für die Befürworter des Niedriglohnsektors sind Niedriglöhne Ein-stiegslöhne, die Beschäftigungschancen für Geringqualifizierte eröf-fnen. Tatsächlich jedoch hat die Mehrzahl der Niedriglohnempfänger eine abgeschlossene Berufsausbildung. Zudem sind die Arbeits-verhältnisse im unteren Entlohnungsbereich häufig instabil und das Risiko der Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch; dies fördert keinesfalls eine längerfristige und aufstiegsorientierte Eingliederung. Auch innerhalb des Niedriglohnsektors streuen die Erwerbs-einkommen und es zeigt sich eine deutliche Lohnspreizung. Gut eine Million sozialversicherte Vollzeitbeschäftigte erzielten sogar 478 nur ein Bruttomonatsentgelt von bis zu 1.000 €. Dies entspricht einem Anteil von fünf Prozent aller Vollzeitbeschäftigten, wobei Auszubildende erneut nicht einbezogen sind. Etwa ebenso viele Beschäftigte kamen lediglich auf einen Bruttoverdienst von 1.000 € – 1.300 € monatlich. In der Einkommensklasse bis 1.300 € brutto waren folglich gut zwei Mio. bzw. 10,3 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten tätig. Armutsgefährdung trotz Vollerwerbstätigkeit ist keinesfalls eine zu vernachlässigende Größe. Ein Bruttoerwerbseinkommen von 1.000 € brutto im Monat unter Berücksichtigung aller anteiligen Sonderzahlungen verteilt auf 12 Monate entspricht bei einer 38,5 Std./Woche einem Stundenlohn von nur etwa sechs Euro brutto die Stunde; bei einem Bruttoerwerbs-einkommen von durchschnittlich 1.300 € liegt der Stundenlohn bei 7,85 €, von dem noch Sozialabgaben und evtl. noch Steuern gezahlt werden müssen. Der differenzierte Mindestlohn muss 2014 kommen Die Qualität des gesellschaftlichen Zusammenlebens verändert sich, wenn sich die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen weiter verschärft und viele im Niedriglohnsektor ‚gefangen‘ bleiben. Deshalb muss der Mindestlohn 2014 kommen – egal welche Regierungs-koalition regiert. Zwei Konzepte stehen sich derzeit gegenüber: SPD und Grüne fordern einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde. Die Union favorisiert einen differenzierten Mindest-lohn, der von den Tarifparteien definiert wird. Derzeit haben wir bereits Festlegungen für 12 Branchentariflöhne in 2013. Dabei liegen die Stundenlöhne zwischen 7,50 €/Std. im Sicherheitsdienst (Niedersachsen) und 13,70 (Fachwerker) im Bau-gewerbe in Westdeutschland. B.R.-Kommentar: In Abwägung von Vor- und Nachteilen trete ich für einen differenzierten, von den Tarifpartnern festgelegten Mindestlohn ein. Die bisherigen Unterschiede in Ost- und Westdeutschland müssen 479 aufgehoben werden. Für jene Branchen, in denen nur ein geringer Organisationsgrad der Tarifparteien vorhanden ist, wird ein paritätisch besetzter Lohnfindungsrat eingesetzt. B.IV.9 Arbeit, Arbeit, Arbeit … - Arbeit ist die beste soziale Medizin „Sozial ist, wer Arbeit schafft!“ Haben Sie gedacht, dass mit diesem populären und allseits verkündeten Spruch neues Denken und Modernität bei deutschen Eliten Einzug gehalten hat? Dem ist nicht so. Denn die Propaganda „Sozial ist, wer Arbeit schafft“, ist ein alter Hut. Sie stammt von Alfred Hugenberg, der im Auftrag und mit dem Geld der Schwerindustrie einen Medienkonzern gegründet hat, „dessen publizistische Organe Hugenbergs national-konservative bis reaktionär-antirepublikanische Auffassungen formulierten und ihm großen Einfluss auf die öffentliche Meinung sicherten." (Brockhaus-CD, 2002). Alfred Hugenberg und Adolf Hitler haben zusammen mit anderen die sogenannte Harzburger Front gebildet, die sich den bedingungslosen Kampf gegen die Weimarer Republik auf die Fahnen geschrieben hat. „Unsozial ist es, wenn arbeitswillige Menschen, keinen Arbeitsplatz finden!“ Beide Aussagen sind plakativ: Sie haben einen wahren Kern und müssen doch kritisch bewertet werden. Meldung vom 30. Januar 2013: Zum Jahresauftakt hat die Zahl der Arbeitslosen nach Einschätzung von Experten wieder die psycho-logisch wichtige Drei-Millionen-Marke überschritten. Insgesamt seien im Januar 3,18 Millionen Männer und Frauen ohne Arbeit gewesen. Dies wären rund 340.000 mehr als im Dezember und knapp 100.000 mehr als vor einem Jahr, berichteten Volkswirte in einer Umfrage der Nachrichtenagentur dpa. Hauptgrund für die starke Zunahme sei vor allem der frostige Winter. Bei Schnee und Eis ruhe auf vielen Baustellen, vor allem aber in 480 Gärtnereien und beim Landschaftsbau die Arbeit und zwinge Firmen zum vorübergehenden Stellenabbau. Auch in der Gastronomie werde ohne das Biergarten- und Terrassengeschäft zumeist weniger Personal gebraucht. Hinzukomme dass zum Jahreswechsel viele befristete Jobs endeten; die Betroffenen würden sich daher im Januar erst einmal arbeitslos melden, bis sie eine neue Stelle gefunden haben, geben einige Fachleute zu bedenken. Aber auch ohne diesen alljährlich wiederkehrenden Saisoneffekt sei die Arbeitslosigkeit zum Jahresbeginn gestiegen - und zwar zwischen 10.000 bis 15.000, schätzen die von dpa befragten Volkswirte. Der saisonbereinigte Anstieg macht nach Einschätzung von Commerzbank-Volkswirt Eckart Tuchtfeld deutlich, „dass das konjunkturelle Umfeld im Moment noch schwierig ist“. Auch Allianz-Volkswirt Rolf Schneider sieht den Arbeitsmarkt derzeit „in einem Tal mit seit Monaten steigender Arbeitslosenzahl“. Ebenso wie seine Kollegen geht auch Christian Reicherter von der DZ-Bank davon aus, dass der Arbeitsmarkt vor ein paar schwierigen Monaten steht. Alle Fachleute rechnen allerdings bis zur Jahresmitte mit einer Besserung. Frühindikatoren wie der Einkaufsmanager-Index sig-nalisierten bereits für Frühjahr wieder eine Konjunkturbelebung. „Im Verlauf des zweiten Quartals dürfte diese positive Entwicklung dann auch auf dem Arbeitsmarkt ankommen“, gibt Tuchtfeld zu bedenken. Bis dahin werde die Arbeitslosigkeit - selbst nach Abzug saisonaler Faktoren - zunächst noch weiter steigen. Von einer Krise könne aber angesichts der historisch niedrigen Arbeitslosigkeit keine Rede sein. Eher sollte man von einer ‚Delle‘ sprechen. Meldung vom 12 Februar 2013: Eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich fordert ein Bündnis aus Wissenschaftlern, Politikern Gewerkschaftern und Publizisten. Angesichts der hohen Arbeits-losigkeit in Europa soll damit eine Debatte über kürzere Arbeitszeiten wieder in Gang gebracht werden. „Ein Überangebot an den Arbeits-märkten führt zu Lohnverfall“, heißt es in einem offenen 481 Brief des Bündnisses an Parteispitzen, Gewerkschaftsvorstände und Kirchen. Die Unterzeichner verstehen ihr Projekt Arbeitszeitverkürzung in Europa ausdrücklich auch als deutsche Aufgabe. „Neben den offiziell etwas über drei Millionen Arbeitslosen haben wir über drei Millionen Teilzeitbeschäftigte, die im Schnitt 14,7 Stunden in der Woche ar-beiten und denen das nicht reicht“, sagt der Mitinitiator und Wirtschaftsrechtler Hein Josef Bontrup. „Notwendig ist eine faire Verteilung der Arbeit durch eine Arbeitszeitverkürzung“, heißt es in dem Brief. Die Idee einer Arbeitszeitverkürzung ist nicht neu, die Debatte ist in diesen Tagen jedoch neu entfacht. Ökonomen und Politiker kritisierten die Idee. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands würde geschwächt. Arbeit könne nicht einfach umverteilt werden, hieß es aus dem Bundesarbeitsministerium. „Die Kosten für den Faktor Arbeit würden explodieren“, schreibt FAZ.NET-Leser Thomas Gaugen. Stark steigende Lohnstückkosten könne keine Wirtschaft verkraften. Ronald Schlimm schlägt vor, „nicht immer gleich in den Extremen zu denken“. Ansätze, die „irgendwo in der Mitte“ zwischen keinem und vollem Lohnausgleich liegen, hält er für realistischer. Nach Ansicht von Eberhard Knapp ist eine Verkürzung der Arbeitszeit, bei der die Qualifikation der Arbeitnehmer außer Acht gelassen wird, „irrwitzig“. In seinem Kommentar bezweifelt er, dass hochqualifizierte Arbeits-kräfte, die „zum Teil heute bereits fehlen“, durch minder- oder unqualifizierte Arbeitnehmer ersetzt werden können. „Der Verlust an hochqualifiziertem Arbeitsvolumen würde den Wirtschaftsstandort Deutschland an seiner Basis angreifen.“ Facebook-Nutzer Manfred Baumert befürchtet, dass die heimische Wirtschaft „international nicht mehr wettbewerbsfähig“ wäre. Fachkräfte müssten nicht weniger, sondern mehr arbeiten, befindet Peter Reisse in seinem Beitrag. Qualifizierte Mitarbeiter würden händeringend gesucht und man spricht „allen Ernstes davon, generell alle nach 30 Stunden ins Wochenende zu schicken. Dabei müssten gerade die Fachleute stärker herangezogen und die 38-Stunden-Woche für diese gestrichen werden.“ Statt die Zeit am Arbeitsplatz direkt auf 30 Stunden zu verkürzen, empfiehlt Leserin Andrea Müller eine schrittweise 482 Reduzierung. „Dank technischen Fortschritts sind wir so produktiv wie nie bei gleich bleibender Arbeitszeit.“ Von der gewonnenen Zeit-ersparnis müssten die Arbeitnehmer durch mehr Freizeit profitieren. Dadurch könnten ihrer Ansicht nach auch die Zahl von Burnouts verringert werden. Produktivität und Organisation bei der Arbeit sind entscheidend, nicht die Anzahl der geleisteten Stunden. Diese Ansicht vertritt Helga Mueller auf Facebook. „Der eine ist umständlich und langsam. Der andere arbeitet zügig und geht pünktlich.“ Arbeitgeber müssten ihre Mitarbeiter richtig einsetzen und fördern. Jedes Argument hat etwas für sich – widersprechen sich aber teilweise. Deshalb kann die geforderte Arbeitszeitverkürzung nur in einem größeren Zusammenhang eingebunden werden. Arbeit ist die beste soziale Maßnahme! Die zentrale Frage ist also: Wie schaffen wir in unserem System genügend Arbeitsplätze, die den Men-schen zumindest ein menschenwürdiges Auskommen garantieren? Wie ist der Stand heute? 1. Es zwar genügend Arbeit, aber nicht genügend Arbeitsplätze und 2. zudem gibt es Arbeitsplätze, die ein menschenwürdiges Auskommen nicht ermöglichen. Was muss getan werden, damit beide Problembereiche nachhaltig unter Berücksichtigung der drei Säulen „Leistung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ gelöst werden können? Dazu habe ich in meinem Buch „Nur der Zwei-Wege-Prozess führt zu Vollbeschäftigung – Ergänzung eines innovativen Ersten Arbeits-marktes durch Bürgerarbeit“ ausführlich Stellung genommen. Zusam-menfassend können wir an dieser Stelle generell festhalten: Zukunft beginnt in den Köpfen. Sie bringt die Welt in Bewegung und fordert zum Dialog auf. Die Bürgergesellschaft setzt heute mehr denn je die selbstbewusste aktive Gestaltung des Lebens in unseren Gemeinden, in unserem Staat voraus – in Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Stärkung erfährt die solidarische 483 Lebensgemeinschaft durch die Teilhabe im Zwei-Wege-Prozess. Durch Teilhabe aller am Erwerbsleben, ob im innovativen Ersten Arbeitsmarkt oder/und der ergänzenden Bürgerarbeit schaffen wir Vollbeschäftigung und für jeden, je nach Qualifikation, ein angemessenes, lebensfähiges Einkommen. Die soziale Marktwirtschaft wandelt sich von einem kapitalistischen Wirtschaftssystem und einem inaktiven Sozialstaat zu einer hoch effektiven, innovativen Wirtschaft mit integrierter, aktiver Bürgerarbeit in einem steuernden, aktiven Staat. Leistungseinkommen statt Hartz IV. Was bedeutet das aber für Veränderungen in unserem Sozialsystem? Als Maßnahmen, welche die Beschäftigung fördern und dadurch die Grundlagen für das Funktionieren des Sozialstaats erhalten können, werden in der öffentlichen Diskussion in Deutschland oft angeführt: • niedrige Belastung der Beschäftigungsverhältnisse durch lohn-bezogene Sozialabgaben, Finanzierung der Sicherungssysteme in hohem Maße mit steuerlichen oder steuerähnlichen Elementen. • Finanzierung der Sicherungssysteme in gleichgewichtigerer Mischung von Deckungsverfahren: Zur üblichen Umlage-finanzierung stärkere Beimischung von Kapitaldeckungs-komponenten, „insbesondere in der Alterssicherung“, dadurch würden Stabilitätsvorteile erreicht. • Begünstigung von Menschen mit niedrigem Einkommen in der sozialen Sicherung „in Hinblick auf Finanzierungsbeiträge und/oder die Absicherung“, dadurch Förderung von Teilzeit-arbeit und höhere Differenzierung des Arbeitsmarktes. Auch Förderung der Beschäftigung von älteren Erwerbstätigen. • Hohe Investitionen in Bildung und Weiterbildung durch Staat und Unternehmen. Nachhaltiges Wirtschaften verlangt neue Kompetenzen. • Vergleichbare Behandlung unterschiedlicher Erwerbsformen in Bezug auf die sozialen Sicherungssysteme, z. B. 484 unselbst-ständige und selbstständige Arbeit, niedrige Schwellen zwischen den Beschäftigungsformen. • Erleichterung der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und privatem Leben, z. B. durch kostengünstige Möglichkeiten der Kinderbetreuung. Ein Beispiel: Eine exponierte Gruppen stellen die jungen, allein-erziehenden Mütter außerhalb der Berufs- und Wirtschaftswelt dar. Sie sorgen einerseits mit ihrem Kind für den Fortbestand der Gesellschaft, andererseits erhalten sie in der Summe hohe Sozialleistungen. Allein-erziehend zu sein ist in Deutschland längst keine Seltenheit mehr. 2,2 Millionen Single-Mütter ziehen ihre Kinder ohne Partner auf. Jede fünfte Familie mit Kindern besteht aus nur einem Elternteil, zu 87 Prozent Frauen. Seit 1996 ist die Zahl der Alleinerziehenden in Westdeutschland um 25 Prozent gestiegen. Fast allen ist etwas ge-meinsam: Sie haben viele Probleme - und sie werden mit ihren Problemen allein gelassen. Dass Frauen heutzutage auch im Beruf „ihren Mann stehen", ist eine Selbstverständlichkeit - eine Vorstandsposition, gleiches Gehalt bei gleicher Qualifikation oder der problemlose Wiedereinstieg nach einer Babypause jedoch nicht. Was können wir also tun, damit die Kinder liebevoll umsorgt werden und die jungen Mütter andererseits die persönlichen Voraussetzungen mitbringen, um erfolgreich sein zu können? Die gesellschaftliche Unterstützung für Familien spielt für Allein-erziehende eine wesentliche Rolle. Dies betrifft einerseits finanzielle Unterstützung, andererseits Beratungsund Qualifizierungsangebote und Maßnahmen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ins-besondere verlässliche, flexible und qualitativ hochwertige Kinder-betreuung und eine Arbeitsorganisation, die Arbeitnehmern Flexibilität ermöglicht. 485 B.IV.4.10 Ökonomen streiten über Einkommensverteilung Die Einkommensungleichheit destabilisiert die Volkswirtschaften, sind immer mehr Ökonomen überzeugt. Viele von ihnen sehen in der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich auch die Ursache für die weltweite Finanzkrise. Der Klassenkampf war lange verschwunden aus dem Vokabular der Ökonomen. Die meisten Forscher interessierten sich nicht mehr für die Unterschiede zwischen den einzelnen Schichten der Gesellschaft, zwischen Armen und Reichen, Arbeitenden und Vermögenden. Die Stoßrichtung gab Nobelpreisträger Robert Lucas vor: Ökonomen sollten sich nicht von der gefährlichen Versuchung verführen lassen, sich mit Verteilungsfragen zu beschäftigen, schrieb er vor gut zehn Jahren. Wer den Wohlstand mehren wolle, der solle nicht umverteilen, sondern für Wachstum sorgen. Inzwischen aber findet in der ökonomischen Zunft ein Umdenken statt - immer mehr Volkswirte nehmen auch Verteilungsfragen wieder ernst, wie eine Konferenz des ‚Forschungsnetzwerks Makroökonomie‘ zeigt, die im Januar 2013 in Berlin stattfand. Auf Einladung der Hans-Böckler-Stiftung diskutierten mehr als 300 Volkswirte über die Zukunft der makroökonomischen Forschung. Die Einkommens-verteilung war dabei eines der zentralen Themen. Schließlich ist die Kluft zwischen Arm und Reich während der Krise massiv gewachsen - vor allem in den USA, aber auch in vielen anderen Industrieländern. Wenn die Ungleichheit in einer Volkswirtschaft zu groß wird, wird diese instabil, darauf verwies Michael Kumhof, Vizeabteilungsleiter beim Internationalen Währungsfonds (IWF). Zusammen mit Kollegen hat er ein makroökonomisches Standard-Modell um Verteilungsfragen erweitert. Anstelle von homogenen Haushalten, die einheitliche Interessen haben, gibt es in diesem Modell Arbeiter und Vermögende. 486 B.IVI.4.11 Warum ein anderes Steuersystem? Die Schulden heute und zukünftigen Verpflichtungen werden die Steuerzahler auf vielfältige Art treffen. Wer erhöht am kräftigsten die Steuern? Gehörte es in früheren Wahlkämpfen zum guten Ton, Steuer-erleichterungen oder Abgabesenkungen in Aussicht zu stellen, wetteifern die Parteien nun um das Gegenteil. Mit Ausnahme der FDP wollen alle Parteien nach der Bundestagswahl die Steuerschraube anziehen. Zu spüren sollen es die Gut- und Besserverdiener. Die Steuerpolitik ist ein zentrales Wahlkampfthema für Steinbrück & Trittin. Dietmar Neuerer stellt am 6. Februar 2013 auf Handelsblatt Online die Frage: „Trifft der ‚Angriff auf Reiche‘ auch die Mittel-schicht - und könnte der Wirtschaft schwerer Schaden zugefügt werden?“ Als Finanzminister der großen Koalition galt der gelernte Ökonom Peer Steinbrück der Kanzlerin ebenbürtig. Nicht zuletzt aufgrund seiner Wirtschaftskompetenz ist er SPD-Kanzlerkandidat geworden. Doch ein Steinbrück, der aus wahltaktischen Gründen und entgegen früheren Überzeugungen plötzlich für Steuererhöhungen eintritt, stößt nicht nur bei Führungskräften auf Ablehnung. Auch der Bund der Steuerzahler kann den Plänen der SPD nicht viel abgewinnen. Nicht anders verhält es sich mit den Vorstellungen der Grünen, die sich teilweise mit denen der Sozialdemokraten decken. Beide Lager wollen im Herbst wieder an die Regierung. Unterm Strich könnte dieses Bündnis aus steuerpolitischer Sicht eine teure Angelegenheit werden. Selbst die CDU startet im März 2013 einen Versuchsballon: Saarlands Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer empfahl einen Spitzensteuersatz von 53 Prozent (Niveau der neunziger Jahre; Rot-Grün hatte den Wert auf 42 Prozent gesenkt). Das hatten bisher nur die Linken gewagt. Der Steuerzahlerbund macht die bösen Vorahnungen konkret und unterlegt sie in einer Analyse unter der Überschrift „Aktuelle und 487 drohende Belastungen“ mit Zahlen. Indem die Experten die Wirkungsweise der diversen Oppositionskonzepte schonungslos offenlegen, wird für jeden Bürger offenkundig, was ihn erwartet, wenn Deutschland künftig von einer rot-grünen Bundesregierung regiert werden sollte. Die Ergebnisse sind ernüchternd, wie der folgende Überblick zeigt: Einkommensteuererhöhungen: Nach geltendem Steuerrecht wird in Deutschland der Spitzensteuersatz von 42 Prozent ab einem zu versteuerndem Jahreseinkommen von 52.882 Euro fällig. Ab 250.000 Euro springt er auf 45 Prozent. Hier setzt die von der Großen Koalition ein geführte ‚Reichensteuer‘ ein. Den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer will die SPD etwa für Single-Einkommen ab 100.000 Euro (Verheiratete: 200 000 Euro) auf 49 Prozent anheben und den Tarifverlauf ändern. Wer als Single weniger als 64.000 verdiene, werde davon nicht betroffen sein. „Bei einem Verdienst von 70.000 Euro sind das 34 Euro, davon sind zehn Prozent der steuerpflichtigen betroffen“, rechnete Gabriel vor. Bei 80.000 Euro seien 248 Euro zu zahlen – dies betreffe nur sieben Prozent der Steuerzahler. Um überhaupt so viele Steuern zu zahlen, müsse man mindestens 6.000 Euro verdienen. Der Durchschnitts-verdienst liege in Deutschland aber bei 2.358 Euro im Monat. Die Grünen wollen denselben Spitzensteuersatz bereits bei einem Einkommen von 80.000 Euro beginnen lassen. Ab 60.000 Euro soll ein Satz von 45 Prozent greifen. Gleichzeitig will die Partei das steuerfreie Existenzminimum um 570 Euro auf 8.700 Euro anheben, wovon alle Steuerzahler profitieren würden. Der Steuerzahlerbund kritisiert, dass nicht nur Mehrverdiener bei beiden Varianten künftig weniger netto hätten, weil durch die Verschiebung des Tarifverlaufs höhere Steuersätze bereits für diejenigen griffen, die mehr als 64.000 Euro (SPD) bzw. 54.000 Euro 488 (Grüne) jährlich verdienen. „Das würde die Steuerzahler 5 bis 6 Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr kosten“, rechnen die Experten vor. Verbandspräsident Holznagel fordert daher, auf Einkommensteuer-verschärfungen zu verzichten, „um Wachstum und Beschäftigung nicht zu drosseln“. Der Staat solle besser „sparen statt Rekordeinnahmen weiter ausbauen“. Vermögensteuer: Rot-Grün will eine Vermögensteuer von jährlich einem Prozent auf Privatvermögen von über zwei Millionen Euro (Ehepaare: vier Millionen Euro) erheben. Auch Betriebsvermögen sollen der Besteuerung unterliegen. Das Vermögenssteueraufkommen wird auf 11,5 Milliarden Euro jährlich prognostiziert. Der Steuerzahlerbund hält von diesem Vorhaben nichts und listet Argumente auf, die vielmehr dafür sprechen, diese Steuerart aus dem Grundgesetz zu streichen. Der Hauptkritikpunkt ist, dass von der Steuer ganz überwiegend Betriebs- und Immobilienvermögen be-troffen wären. „Damit droht eine Überwälzung der Steuerlast, so dass am Ende vor allem Mieter, Angestellte und Konsumenten die Leid-tragenden wären“, warnen die Experten. Außerdem hält der Verband die Steuer für wirtschaftsfeindlich. Werde eine Steuer auf Vermögenswerte erhoben, verfüge die besteuerte Person nicht automatisch über die für die Steuerzahlung nötige Liquidität, wie dies etwa bei der Besteuerung laufender Einkommen der Fall ist, geben die Experten zu bedenken. „Dies kann eine Teil-liquidierung von Vermögenswerten erzwingen und damit auf Unter-nehmensebene die Substanz des Betriebsvermögens schmälern.“ Das hemme das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigungsdynamik. Der SPD ist das Problem bewusst und erwägt, dass Unternehmen nur dann die Vermögensteuer zahlen müssen, wenn sie im betreffenden Jahr auch einen Gewinn erzielen, aus dem die Steuerlast finanziert werden könnte. Das findet immerhin die Zustimmung des Steuer-zahlerbund. „Falls es politische Mehrheiten für eine 489 Vermögens-steuereinführung geben sollte, ist zumindest darauf zu achten, dass eine Substanzbesteuerung tatsächlich verhindert wird“, schreiben die Experten. Kindergeld-Konzept: Nach dem Kindergeld-Konzept der SPD sollen Eltern mit geringem oder mittlerem Einkommen einen Zuschlag erhalten. Dafür will sie den Freibetrag für den Betreuungs-, Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf (BEA) streichen, von dem besserverdienende Eltern profitieren. Laut Steuerzahlerbund wären Familien mit einem zu versteuernden Einkommen von über 65.000 Euro betroffen. Der BEA beträgt derzeit 2.640 Euro. Eine Kürzung oder Abschaffung hält der Verband für verfassungsrechtlich bedenklich. Ehegattensplitting: Das Ehegattensplitting ist ein heikles Thema. Die SPD begibt sich damit in einen Konflikt mit Schwarz-Gelb – und möglicherweise auch den Grünen. Denn die Sozialdemokraten setzen auf eine gänzliche Abschaffung des Ehegattensplittings für künftige Ehen. So soll jeder seine Einkommensteuer zahlen, als sei er Single. Eine Erweiterung des derzeitigen Splittings auf Familien mit Kindern, wie es die Union bevorzugt, lehnt die SPD dagegen ab. Die Abschmelzung des Ehegattensplittings ist ein wichtiges Vorhaben der Grünen. Bis auf einen steuerlich absetzbaren gesetzlichen Grund-freibetrag von derzeit rund 8.000 Euro wird die Individualbesteuerung eingeführt. Noch offen ist, wie langjährige Ehepaare besteuert werden sollen. Möglich ist, dass sie den Splittingvorteil bei maximal 1.300 Euro deckeln. Die Steuermehreinnahmen durch die Individualbesteuerung sollen wiederum den Einstieg in die Kindergrundsicherung oder arbeitsmarktpolitische Instrumente zur Reform der Minijobs finanzieren. 490 Auch hier hält der Steuerzahlerbund dagegen und warnt vor Belastungen. „Eine ersatzlose Streichung des Ehegattensplittings hätte zur Folge, dass zahlreiche Familien mit mittleren Einkommen eine enorme zusätzliche Steuerbelastung tragen müssten, wenn sie sich nicht an die Lebensweise der Musterehe anpassen wollen oder können“, heißt es im verbandseigenen Magazin ‚Der Steuerzahler‘. So würden all jene Ehen, bei denen ein Ehepartner beispielsweise aufgrund eines höheren Bildungsabschlusses besser verdient als der andere, steuerlich bestraft, wenn beide Eheleute arbeiten. Je nach Konstellation eines 50.000-Euro-Paarjahreseinkommens drohen nach Berechnungen der Experten Steuererhöhungen zwischen 8.662 und 13.553 Euro. Steuerlich unberührt blieben lediglich Ehepaare, bei denen beide Ehepartner genau gleich viel verdienten. Der Steuerzahlerbund hält das für gesellschaftspolitisch fragwürdig und für verfassungsrechtlich problematisch, zumal die Ehe aus gutem Grund ein verfassungsrechtlich zu schützendes Gut sei. Die Verbands-Empfehlung an Rot-Grün lautet daher: „Hände weg vom Splitting!“ Abgeltungsteuer: Das Thema haben SPD und Grüne fest im Blick. Beide Lager sehen hier Regelungsbedarf, um die Reichen stärker zur Kasse zu bitten. Rückendeckung erhalten die Oppositionsparteien dabei von Stefan Bach, Steuerexperte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). „Bei kleinen und mittelständischen Unternehmen sollten Liquidität und Selbstfinanzierung geschont werden. Hohe Kapitaleinkommen von Privatanlegern könnte man aber durchaus wieder stärker belasten als mit 25 Prozent Abgeltungsteuer plus Soli“, schreibt Bach in einem Gastbeitrag für Handelsblatt Online. „So könnte man den Ab-geltungssteuersatz anheben, die Kapitaleinkünfte wieder progressiv besteuern oder eine moderate Vermögensteuer oder -abgabe ein-führen.“ Zudem schlägt Bach vor, die „überzogenen 491 Vergünstigungen“ für Betriebsvermögen bei der Erbschaftsteuer zu reduzieren. Die SPD will die Abgeltungsteuer auf 32 Prozent anheben. „Neben Subventionsabbau basiert unser Konzept auch auf der Erhöhung von Steuern für große Einkommen und Vermögen, denn diese Menschen müssen und können einen stärkeren Beitrag zur Finanzierung unseres Gemeinwesens leisten“, sagte der Chefhaushälter der Sozial-demokraten, Carsten Schneider, Handelsblatt Online. Außerdem hätten die hohen Einkommens- und Vermögensbesitzer von der Stabilisierung des Finanzsektors durch den Staat in der Krise profitiert. „Ohne diese Stabilisierung wären diese Vermögen zu großen Teilen vernichtet worden“, sagte Schneider. „Es ist deshalb gerecht, dass sie einen entsprechenden Anteil an den Kosten der Krise tragen.“ Die Grünen-Haushälterin Priska Hinz zeigte sich erfreut über den Vorstoß des DIW. „Die Abgeltungssteuer war ein Flop“, sagte Hinz Handelsblatt Online. Sie habe nicht nur zu mehr Steuerungerechtigkeit geführt, sondern auch die Einnahmen des Staates gesenkt. „Wir Grüne wollen die Abgeltungssteuer abschaffen, damit nicht nur die normalen Beschäftigten, sondern auch Vermögende die Aufgaben des Staates mit tragen“, sagte die Grünen-Expertin. „Kapitalerträge dürfen dann nicht mehr gegenüber Einkommen aus Erwerbsarbeit bessergestellt werden.“ Das Aufkommen aus der Abgeltungsteuer ist tatsächlich seit ihrer Einführung im Jahr 2009 kontinuierlich zurückgegangen, wie aus Statistiken des Bundesfinanzministeriums hervorgeht. Mit der Steuer werden Zinserträge und Veräußerungsgewinne unabhängig von den sonstigen persönlichen Einkommensverhältnissen mit 25 Prozent belastet, Solidaritätszuschlag und gegebenenfalls Kirchensteuer kommen noch hinzu. Wie Schneider betonte auch Hinz, dass von der Bankenrettung und der Krisenpolitik Vermögende in besonderem Maße profitiert hätten, weshalb es gerecht sei, wenn sie sich auch stärker an den Kosten 492 beteiligten. Die Vermögensabgabe sei dazu der richtige Weg. „Das Eigenheim oder das Betriebsvermögen von kleinen und mittleren Unternehmen müssen natürlich verschont werden“, sagte Hinz. Dazu seien entsprechende Freibeträge erforderlich. Harsche Kritik von Union und FDP: Finanzpolitiker von Union und FDP reagierten dagegen mit scharfer Kritik auf den DIW-Vorschlag, Vermögende in Deutschland höher zu besteuern. Eine Erhöhung der Abgeltungsteuer, wie von dem Institut vorgeschlagen, stehe nicht zur Debatte. „SPD und Grüne werden sich beim DIW für die Wahlkampf-hilfe bedanken“, sagte der finanzpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Klaus-Peter Flosbach (CDU), Handelsblatt Online. „Mit wissenschaftlicher Analyse hat das nichts zu tun.“ B.R.-Kommentar: Das derzeitige Steuersystem ist nicht nur ungerecht, es leistet auch der Verschwendung und Ineffizienz Vorschub! Eine umfassende Steuerrechtsänderung muss auf den drei Grundkriterien ‚Leistung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit‘ aufbauen. Wir brauchen eine gerechtere Lastenverteilung für das Gemeinwohl, für Bildung, Infrastruktur. Heute tragen die Zahler von Einkommens- und Mehrwertsteuer 80 Prozent der Gemeinwohllasten und die Empfänger von Kapital- und Vermögenseinkünften nur noch 12 Prozent. Wir machen die Arbeit immer teurer und die Menschen haben nichts davon. Das muss in eine vernünftige Balance gebracht werden. Das heißt für mich das Steuersystem nach folgenden Grundsätzen auszurichten: 1. Das gesamte Steuersystem muss einfacher und durchsichtiger 2. 3. 4. 5. werden. Ausnahmebestände drastisch reduzieren. Steuerschlupflöcher austrocknen. Unter dem Strich braucht der Staat 100 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen (im Vergleich zu 2012). Davon müssen die Kommunen den Hauptanteil bekommen. 493 6. Trotz der Mehreinnahmen sollen die Leistungsträger (Unter-nehmer und Arbeitnehmer) unter dem Strich beim Einkommen günstiger gestellt werden. 7. Die 1 Prozent Superreichen müssen die Hauptlast der Mehr-steuereinnahmen über Vermögens- und Erbschaftssteuer tragen. 8. Dazu muss beispielsweise die Abgeltungssteuer wieder abgeschafft werden; Kapitalerträge werden zusammen mit den übrigen Einkommen versteuert. 9. Die Leistung der Leistungsträger muss honoriert werden – Abschaffung der ‚kalten Progression‘. B.V. Ein anderes Europa-Modell Europa ein Sanierungsfall? Günther Oettinger hat sich viel Ärger eingehandelt, als er völlig unverblümt Europa im Mai/Juni 2013 einen Sanierungsfall nannte. Es war vor allem die Drastik seiner Zustands-beschreibung, die aufhorchen ließ, zumal nur wenige Tage zuvor EU-Kommissionschef José Manuel Barroso eine ganze andere Botschaft verkündete: „Die existenzielle Krise des Euro ist vorbei“, sagte der Portugiese auf einem WDR Europaforum. Und der frühere Euro-Gruppenchef Jean-Claude Juncker sekundierte: „Wir sind noch nicht über den Berg, aber die Existenz des Euro wird inzwischen nicht mehr in Frage gestellt.“ Wo stehen wir in dieser Krisenzeit also? Haben uns die Länder- und Bankenrettungsaktionen der vergangenen Jahre weiter gebracht oder sind die Rettungspolitiker in Wahrheit mit ihrem Latein schon längst am Ende und können im Grunde nur den dauerhaften Euro-Mangel verwalten? Liegt also Oettinger mit seiner harten Europa-Schelte näher an der Wahrheit als die Polit-Hochkaräter Barroso und Juncker? 494 Fakt ist: Europa kommt nicht aus der Krise. Die Menschen in Europa befinden sich in der Mitte eines verlorenen Jahrzehnts. Mit jedem Jahr seit Krisenbeginn verschlechtern sich die Nachrichten. Um die Krise zu bewältigen, brauchen wir nach einer verbreiteten Auffassung mehr Europa. Dieses Mehr an Europa findet aber immer weniger Zustimmung in den Gesellschaften der Mitgliedsstaaten. Ulrich Beck fragt in seinem Buch Das deutsche Europa: Ist eine Vollendung der politischen Union unter diesen Voraussetzungen überhaupt denkbar? Eine gemeinsame Steuer-, Wirtschafts- und Sozialpolitik? Oder hat man im Zuge der politischen Einigung die entscheidende Frage, die nach einer europäischen Gesellschaft, zulange ausgeblendet und damit die Rechnung ohne den Souverän gemacht, den Bürgern? Die intellektuelle Energie der Europadiskurse ist gegenwärtig im Bannkreis des Geldes und Euro-Währung verhaftet. Für die große Mehrheit der politischen Eliten und der Bürger hängt das Schicksal Europas am Euro, andere glauben umgekehrt, dass Europa nur ohne den Euro überleben wird. In Umfragen kommt die Alternative für Deutschland zwei Wochen nach ihrer Gründung im April 2013 auf drei Prozent Wählerzuspruch: Ganz schön mickrig, sagen die einen. Nicht schlecht für eine gerade erst gegründete Partei, finden die anderen. Soziologen weisen daraufhin, dass die Reduzierung Europas auf die ökonomischen Fragen die europäische Idee in ihren Grundfesten bedroht. Dem stimme ich zu. Aber: Die jahrzehntelange Ignoranz ökonomischen Handelns hat uns jetzt an die Grenzen geführt. Misstrauen gegen Europa ist natürlich keine Alternative für Deutsch-land. Eine Alternative wäre ein besseres Europa. Die EU darf den Menschen nicht ihre nationale Heimat und Sicherheit wegnehmen; das ist Anti-Europa-Politik. Die EU muss ihnen eine neue, zweite Heimat geben - Europa. Das wäre Europa-Politik. Weil sie fehlt, gibt es so viele Anti-Europa-Parteien in Europa; nun auch in Deutschland. 495 Die gegenwärtige Krise ist eine gewaltige Herausforderung für die nationale und europäische Politik. In vielen Mitgliedsstaaten stehen umfassende Reformen an, und die Statik der Währungsunion muss tragfähiger werden. Die Politik in Europa steht im dritten Jahr der Staatsschuldenkrise noch immer vor zwei Herausforderungen: Sie muss erstens die aktuelle Krise lösen. Und sie muss zweitens die Statik der Währungsunion tragfähiger machen. Diese beiden Heraus-forderungen hängen natürlich zusammen, denn die kurzfristigen Maß-nahmen zur Lösung der Krise dürfen nicht im Gegensatz stehen zu dem, was langfristig für die Stabilität der Währungsunion wichtig ist. In diesem Sinn brauchen wir tatsächlich eine sinnvolle „Gleich-zeitigkeit von Krisenmanagement und Ordnungspolitik“ (Weidmann). Die Krise zwingt Europa zu mehr Koordinierung und mehr gegen-seitiger Rücksichtnahme, als man es in Verträgen je hätte festschreiben können. Die Haftungsgemeinschaft, die Europa im Verborgenen immer schon war, wird so nicht nur offenkundig – es gibt auch die dazu passende Politik. Wir müssen wieder lernen, dass bei aller Not-wendigkeit ökonomischen Handelns, die menschlichen Zwecke nicht aus dem Blick geraten dürfen. Eine europäische Gesellschaft bedarf einer neuen Verantwortungsethik für das Gemeinwesen Europa. Eine Vertiefung der Europäischen Union muss eine Stärkung der Demokratie und das Wohlergehen aller Menschen in Europa zur Voraussetzung haben. Und wieder bin ich an dem Punkt, in dem ich für den Euro-Raum große Chancen sehe. Europa hat so viel zu bieten, wenn es lernt, eine Zusammengehörigkeit zu entwickeln. Erste, zarte Schritte gibt es ja bereits. Zuhause gehen wir wohl alle gerne zum Griechen, Italiener oder Franzosen essen. Wir alle sind gefordert, die teilweise noch tiefen Gräben zwischen den Nationen zu begradigen - vor allem die Medien. Doch auch hier gibt es Fortschritte. Die englische Presse verblüfft zuletzt immer mehr mit positiven Artikeln zum alten Erzrivalen. Geradezu euphorisch schrieb ganz Europa über das Champions-League-Finale zwischen zwei deutschen Teams. 496 Natürlich bleibt der Weg der Euro-Zone schwierig, doch wir sollten nicht aufgeben und immer wieder nach neuen Möglichkeiten suchen, die vielen Chancen, die sich uns allen bieten, zu nutzen. B.V.1 Zerbricht Europa trotz Friedensnobelpreis Bei der Friedensnobelpreisverleihung am 10. Dezember 2012 für die EU versicherten sich nicht gewählte Politfunktionäre reihum gegen-seitig, wie verdient man sich um den Weltfrieden gemacht habe. Bundesfinanzminister Schäuble verkündete derweil den endgültigen Sieg: Die Eurokrise sei ausgestanden, das Schlimmste liege hinter uns. Herman Van Rompuy rief Weihnachten gar den hundertjährigen Frieden aus. José Manuel Barroso erklärt aus Brüssel die Krise für offiziell und unwiderruflich beendet. Doch welchen Frieden meint man? Da mag man die triste Wirklichkeit mit noch so schönen Sprüchen garnieren, die traurigen Zahlen noch so hübsch frisieren: Die EU und mit ihr Deutschland rutscht immer tiefer in Armut, Misswirtschaft, und Schulden. Der Niedergang findet vor unserer aller Augen statt. Meldung vom 14. Mai 2013: Europäer trauen der EU nicht mehr. Die EU verliert an Zustimmung. Das ist ein Ergebnis einer Umfrage des US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center. In acht EU-Ländern, zu denen die Schwergewichte Deutschland, Frankreich, Spanien und Großbritannien gehören, sehen sich nur noch 45% der Bevölkerung als Unterstützer der EU. Noch vor einem Jahr hatte der Vergleichswert bei 60% gelegen. Besonders drastisch fällt der Stimmungsumschwung in Frankreich aus. Das sollte auf jeden Fall ein deutliches Warnsignal sein. Immerhin ist Frankreich die Nummer Zwei der Euro-Zone. Dortige Wirtschafts-probleme wirken sich immer auch stark auf den Rest der EU aus. Jetzt erwarten 90% der befragten Franzosen, dass es ihren Kindern finanziell schlechter gehen wird als ihnen selbst. Das liegt 497 deutlich über dem schon erschreckenden Durchschnitt der Umfrage von 66%. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die „anhaltende Wirtschaftskrise Zentrifugalkräfte geschaffen hat, die die öffentliche Meinung in Europa zersplittert“ und die Bevölkerungsgruppen voneinander entferne. Der Studie zufolge ist die Unterstützung für die EU vor allem in Südeuropa, dem Epizentrum der Schuldenkrise, auf einem Tiefpunkt angelangt. In Griechenland befürwortet nur noch jeder Dritte Bürger (33 Prozent) die Mitgliedschaft in der EU. In Deutschland sind es immerhin 60 Prozent. Aber trotz des schwindenden Vertrauens ist der Euro-Austritt für die Mehrheit der Befragten noch kein Thema: 60% sind aktuell noch bereit, den Euro als Gemeinschaftswährung zu behalten. Sollte die Krise aber noch länger andauern, bin ich mir sicher, dass die Zu-stimmung zum Euro schon bald weiter abbröckeln wird. Die Gefahr, dass Europa zerbricht, ist nicht von der Hand zu weisen. Ideologie füllt keine hungrigen Mägen. Wenn viele Löffel in der dünnen Suppe nach den wenigen Fleischbrocken fischen, kommt es unausweichlich zu Verteilungskämpfen. Etwa 120 Millionen Europäer leben unterhalb der Armutsgrenze. Jeder geht gegen jeden in Stellung und versucht, sich zu nehmen, was er nur kriegen kann. Die wirklich Reichen werden dabei immer reicher. Sie bringen ihre gigantischen Vermögen in Sicherheit. Der Mittelstand verarmt, weil die Staaten und Kommunen dringend Geld brauchen und abgreifen! Die Abgabenlast wird immer höher geschraubt. Die Löhne stagnieren in Deutschland seit fast 15 Jahren. Durch eine Inflation von offiziell zwischen 2-3 % (tatsächlich weit höher) sind sie in Wahrheit sogar gesunken. In den südlichen EU-Ländern sinken sie (jetzt) noch viel heftiger. Die Habenichtse am anderen Ende der Skala werden immer mehr und immer zorniger. Die Verteilungskämpfe werden unter den 498 verschiedenen Gesellschaftsklassen und unter den verschiedenen Ländern Europas ausbrechen. Der soziale Friede wird sehr wahr-scheinlich tiefe Risse bekommen. Der Direktor des Internationalen Komitees von Roten Kreuz, Yves Daccord, sagte kürzlich in einem Interview mit der dänischen Zeitung Politiken, die Hilfsorganisation sehe sich durch die Wirtschaftskrise in Europa vor großen Herausforderungen. Harte Zeiten würden in Europa vor uns liegen. Die nächsten Jahre werden nach seiner Einschätzung schlimm, besonders in Südeuropa. Dort seien die Menschen durch die radikalen Sparmaßnahmen in bittere Armut getrieben worden. Viele in Griechenland und Spanien würden vom Roten Kreuz als „extrem bedürftig“ eingestuft. Daccord warnt wörtlich vor „gewalttätigen Aufständen, Verzweiflung und Hunger“. Während die Südschiene in bitterer Armut versinkt, können sich die Nordländer noch einiger-maßen gut halten. Die Kluft wird von Monat zu Monat tiefer, und im selben Maß nehmen Wut und Neid zu. Aber Hauptsache die EU hat den Friedensnobelpreis erhalten. A.V.1.1 Die Gefahr sozialer Unruhen nimmt zu Für die EU steigt die Gefahr von sozialen Unruhen weiter an. Das ist ein Ergebnis des Weltarbeitsberichts 2013 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, der im Mai vorgestellt wurde. Die Lage in der EU wird in dem Bericht als angespannt bezeichnet. Das liegt sicherlich zunächst einmal an der schwierigen wirtschaft-lichen Lage innerhalb der EU: Immerhin befindet sich dieser Wirt-schaftsraum seit dem dritten Quartal 2011 in der Rezession. Und in der Folge ist die Arbeitslosenquote innerhalb der EU auf ein Rekordniveau von durchschnittlich 12% angestiegen. 499 Laut ILO ergibt sich das Konfliktpotenzial vor allem auf Grund der massiven Sparprogramme in vielen EU-Ländern. Diese Sparpro-gramme lassen die sozialen Ungleichgewichte ansteigen – die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Und damit wächst der Unmut der Benachteiligten und offensichtlichen Verlierer dieser Entwicklung in den Krisenländern. Wie schnell eben auch die Stimmung in der EU umschlagen kann, haben die gewalttätigen Auseinandersetzungen in Griechenland schon vor mehr als einem Jahr gezeigt. Damals ging es um Proteste gegen das harte Sparregime der Troika gegenüber dem griechischen Staat. Das Sparen in Griechenland hat bis jetzt nicht viel gebracht. Die Wirtschaftsleistung geht weiter zurück und die Arbeitslosigkeit steigt. In der Folge wächst damit auch der soziale Unmut weiter an. Spannend ist der ILO-Bericht vor allem bezüglich des Social Unrest Index. Dieser Index gibt an, wie groß die Wahrscheinlichkeit von sozialen Unruhen in bestimmten Ländern oder Wirtschaftsräumen ist. Das erschreckende Ergebnis: In Europa hat der Index im Zeitraum von 2006/07 bis 2011/12 von 34 auf immerhin 46% zugenommen. Die größten Gefahrenherde macht die ILO weiterhin in Griechenland oder auch Italien und Portugal aus. In diesen Index fließen ver-schiedene Kriterien wie u.a. das Wirtschaftswachstum, die Arbeits-losenquote, die Staatsverschuldung aber auch die Einkommens-verteilung mit ein. Wir sehen, dass eine solche Maßzahl schon einen interessanten Einblick in den Zustand eines Landes gibt. Immerhin ist die Gefahr solcher Unruhen in Deutschland in diesem Zeitraum sogar zurück-gegangen. Doch was nützt diese isolierte Betrachtung Deutschlands, wenn es um uns herum zu sozialen Unruhen kommen sollte. 500 Dann steigt natürlich auch in Deutschland die Gefahr wieder an – vor allem auch dann, wenn der Euro als jetzt noch existierendes Bindeglied in der Zukunft einmal wegfallen sollte. B.V.2 Solide Staatsfinanzen für eine stabile Währungsunion An dieser Stelle des Buches zitiere ich eine Rede von Dr. Jens Weidmann, Präsident der Deutschen Bundesbank, die er beim Institute for Law and Finance am 12.12.2012 in Auszügen: (…) Warum stellt eine aus dem Ruder laufende Staatsverschuldung die Geldpolitik vor Probleme? Auf den ersten Blick scheint dies auch nicht offensichtlich, schließlich ist die Geldpolitik zumindest in den Industrieländern in der Regel unabhängig und mit dem eindeutigen Auftrag ausgestattet, den Geldwert zu sichern. Man könnte daher zu dem Fehlschluss kommen, dass unsolide Staatsfinanzen für die Geldpolitik nicht von Bedeutung sind. Ein näherer Blick zeigt jedoch, dass die Geldpolitik bei der Sicherung der Preisstabilität auf die Finanzpolitik angewiesen ist. Ufert die Staatsschuld immer weiter aus, steigen letztlich auch die Preise. Aber selbst im Vorfeld einer solchen Spirale ergeben sich aus einer steigenden Staatsverschuldung Gefahren für die Preisstabilität. Zudem legen vielfältige empirische Untersuchungen nahe, dass eine hohe Staatsverschuldung langfristig negative Auswirkungen auf das Wachstum hat. Insofern könnte man in der Lage, in der sich der Euro-Raum, aber auch andere Industrieländer wie die USA und Japan derzeit befinden, eigentlich einen breiten Konsens für eine zügige und entschlossene Rückführung der Haushaltsdefizite erwarten. Aber gegen die eben angeführten Argumente erheben Kritiker mehrere Einwände: Zum einen gelten Gefahren für Preisstabilität im derzeitigen Umfeld als wenig akut, die Inflationsraten seien niedrig und die Inflationserwartungen weiter fest verankert. Zum anderen wird der Vorwurf erhoben, dass zügige Konsolidierung bei den betroffenen Ländern eine konjunkturelle Abwärtsspirale in Gang setze, die Länder würden also sich quasi „kaputtsparen“. 501 Ich möchte daher im Folgenden drei Aspekte etwas näher beleuchten: Erstens die Bedeutung solider Staatsfinanzen für die Geldwertstabilität; zweitens die Voraus-setzungen für solide Staatsfinanzen in der Währungsunion; und drittens die konjunkturellen Auswirkungen fiskalischer Konsolidierung. Lassen Sie uns zunächst der Frage nachgehen, warum die Geldpolitik langfristig nur dann erfolgreich sein kann, wenn die Staatsfinanzen gesund sind. Die Bedeutung solider Staatsfinanzen für die Geldpolitik Eine hohe Staatsverschuldung erschwert auf verschiedene Weise die Wahrung der Preisstabilität. Wie bereits angedeutet, lässt ein zu hohes Schuldenniveau langfristig die Wachstumskräfte erlahmen. Denn der gestiegene Kapitalbedarf des Staates erhöht die Zinsen, was Investitionen verteuert und damit das Wachstum verringert. Erkennt die Notenbank eine solche Abschwächung des Wachstums nicht rechtzeitig, wird ihre Geldpolitik zu expansiv sein und damit letztlich Inflationsrisiken herauf-beschwören. Aber selbst wenn die Wachstumsabschwächung als solche erkannt wird, könnte der Druck auf die Notenbank steigen, durch eine übermäßig expansive Geld-politik die Konjunktur zu stimulieren und so die gewohnten Wachstumsraten aufrechtzuerhalten. Je länger dann die Zentralbank versucht, die strukturelle Wachstumsschwäche mit geldpolitischen Mitteln zu übertünchen, desto unglaub-würdiger wird sie in Bezug auf das Preisstabilitätsziel. Dies kann dann zu steigenden Inflationserwartungen und schließlich zu Inflation führen. Die strukturelle Verringerung der Wachstumsaussichten ist jedoch nicht das einzige Problem, das eine übermäßige Staatsverschuldung für die Geldpolitik birgt. Wenn Staaten sich bereits in guten Zeiten stark verschulden, kann die Finanzpolitik im Falle einer Krise ihre Pufferfunktion nicht mehr wahrnehmen. Im Normalfall kann die Finanzpolitik in einer konjunkturellen Schwächephase die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stabilisieren, beispielsweise durch die Unterstützung von Erwerbslosen oder eine automatisch sinkende Steuerbelastung. Dieser Weg ist versperrt, wenn solche finanzpolitischen Maßnahmen die Solvenz des Staates in Zweifel ziehen. Das gilt zum einen für die eben skizzierten klassischen antizyklischen Konjunktur-maßnahmen. Es gilt zum anderen dann, wenn die Krise das Bankensystem erfasst hat und eine staatliche Stützung der Institute unumgänglich wird, um einen Kollaps zu vermeiden. Unterbleibt diese Stützung durch die Finanzpolitik, kann sich im Notfall die Zentralbank genötigt sehen, das Bankensystem zu stützen. Diese Maßnahmen erhöhen die Bilanzrisiken der 502 Zentralbank erheblich und können so die Glaub-würdigkeit der Geldpolitik beschädigen. Eine hohe Staatsverschuldung kann nicht nur den Druck auf die Geldpolitik erhöhen, die Konjunktur zu stimulieren oder in der Krise in die Bresche zu springen. Sie kann natürlich auch den Druck auf die Geldpolitik erhöhen, generell die Finanzierung des Staates zu erleichtern. Dabei reicht die Bandbreite möglicher Maßnahmen von Zinssenkungen über Anleihekäufe bis zur direkten Finanzierung des Staates durch die Zentralbank. Die Zinsausgaben des Staates hängen nicht zuletzt vom Zinsniveau und damit von der Geldpolitik ab. Wenn ein Land nur langsam wächst, aber bereits hohe Defizite und Schuldenstände aufweist, dürfen die Zinskosten ein bestimmtes Niveau nicht überschreiten, sonst explodiert die staatliche Schuldenquote. Wenn nun der Staat zur Sicherung seiner Zahlungsfähigkeit bei der Zentralbank einen niedrigeren Zins durchsetzt als es die Preisstabilität verlangt, steigt die Nachfrage zu schnell, und dies führt letztlich zu Inflation. Ökonomen sprechen in diesem Fall von einem Regime der fiskalpolitischen Dominanz: Die Zinsen richten sich nicht mehr nach den Erfordernissen der Preisstabilität. Sondern sie richten sich nach dem Bedürfnis des Staates, seine Finanzierungskosten zu senken. Stimulierung der Konjunktur, Übernahme finanzpolitischer Aufgaben im Krisenfall, Finanzierung des Staates: Der Druck, der von unsoliden Staatsfinanzen auf die Geldpolitik ausgeht, ist vielfältig. Um diesen Einflüssen widerstehen zu können, hat man die Zentralbanken mit einem hohen Grad an Unabhängigkeit ausgestattet. Dies war unter anderem eine Reaktion auf die Erfahrungen der 1970er und 1980er Jahre. Diese Zeit der Ölpreisschocks war für die Geldpolitik eine große Herausforderung. Dabei hatte sich gezeigt, dass Länder mit unabhängigen Zentralbanken deutlich niedrigere Inflationsraten hatten als Länder mit weisungsgebundenen Notenbanken – und das bei gleichem oder sogar höherem Wachstum. Wir haben damals gelernt: Preisstabilität steht nicht im Gegensatz zu wirt-schaftlicher Prosperität, sondern ergänzt sie. Diese Erkenntnis hat sich als eine der zentralen wirtschaftspolitischen Lehren der vergangenen dreißig Jahre erwiesen. Die Entscheidung, Zentralbanken von Weisungen der Politik unabhängig zu machen, war von durchschlagendem Erfolg bei der Bekämpfung der Inflation gekrönt. Und zumindest in den Industrieländern scheint auch die Höhe der Staatsverschuldung in den vergangenen Jahrzehnten keinen Einfluss mehr auf die Inflation gehabt zu haben. 503 Doch daraus zu schließen, dass eine unabhängige Geldpolitik bereits eine hin-reichende Bedingung für stabiles Geld ist, wäre aus meiner Sicht voreilig, wenn nicht gar naiv. Denn wenn sich ein Staat so stark verschuldet, dass seine Schuldenlast bald nicht mehr tragfähig ist, nimmt der Druck auf die Zentralbank stark zu. Dies kann Zweifel an ihrer tatsächlichen Unabhängigkeit aufkommen lassen und ihre Glaubwürdigkeit untergraben, und das selbst dann, wenn die Geldpolitik noch gar keinen Kurswechsel vollzogen hat. Bestehen erst einmal Zweifel an der Fähigkeit der Geldpolitik, ihre Unabhängigkeit auch durchzusetzen, läuft sie Gefahr, die Kontrolle über die Inflationserwartungen und damit über die Inflation zu verlieren. An dieser Stelle wird von Skeptikern gerne eingewendet, dass höhere Inflations-erwartungen nicht zwangsläufig einen Anstieg der Inflation bedeuten. Dem liegt die Vorstellung zu Grunde, dass Inflation nur entstehen kann, wenn sich die Nachfrage ausweitet. Aber Inflation steigt bereits dann, wenn sich die Inflationserwartungen erhöhen, auch wenn per se kein Nachfrageanstieg vorliegt. Dieser Mechanismus lässt sich gut am Beispiel der Festsetzung von Löhnen nach-vollziehen. Löhne können in der Regel nicht beliebig zu jedem Zeitpunkt geändert werden, sondern werden zu einem Stichtag für einen bestimmten Zeitraum festgelegt. Daher berücksichtigen die Arbeitnehmer bei ihren Lohnverhandlungen die erwartete Preisentwicklung. Sie wollen vermeiden, dass ihre Löhne in der Zeit, in der sie keine Preisänderungen durchführen können, zu stark vom dann angemessenen Niveau abweichen. Überschätzen sie die Preisentwicklung, wäre ihr Lohn zu hoch und sie damit nicht konkurrenzfähig. Unterschätzen sie die Preisentwicklung, verlieren sie an realem Einkommen und damit an Kaufkraft. Deshalb fließt die erwartete Preisentwicklung bereits in die heutigen Löhne und damit in die heutigen Preise ein. Eine Entankerung der Inflationserwartungen kann somit direkt zu höherer Inflation führen. Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass im Fall einer bis dato glaubwürdigen Zentralbank eine gewisse Zeit vergehen kann, bis ihre Glaub-würdigkeit verlorengeht. Dieser Zeitraum kann sich durchaus über mehrere Jahre erstrecken. Ist die Glaubwürdigkeit aber erst einmal verloren, können die Inflationserwartungen unter Umständen schlagartig nach oben schnellen. Und es ist dann langwierig und volkswirtschaftlich teuer, sie wieder einzufangen. Voraussetzungen für solide Staatsfinanzen 504 Solide Staatsfinanzen bleiben also weiterhin eine notwendige Voraussetzung für stabile Preise. Und in der Währungsunion stellt sich die Frage nach der Sicherung solider Staatsfinanzen noch einmal verschärft. Denn ein grundlegendes Problem in einer Währungsunion mit dezentraler Haushaltspolitik ist, dass die Mitglieder einen höheren Anreiz haben, sich zu verschulden: Wenn die Staatsverschuldung in einem Land steigt, so werden die Folgen über den gesamten Währungsraum hinweg verteilt und quasi verdünnt – zum Beispiel über steigende Zinsen für alle Mitgliedsländer. Für jedes einzelne Land werden höhere Defizite damit attraktiver. Um diesem Fehlanreiz entgegenzuwirken, wurde die Europäische Währungsunion bei ihrer Gründung auf ein stabilitätsorientiertes Fundament gestellt. Dieses bestand neben dem gesetzlichen Verbot, Staatsschulden über die Notenpresse zu finanzieren, aus den strikten Defizitregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts sowie dem gegenseitigen Haftungsausschluss zwischen den Mitgliedsländern. Soweit dieser Haftungsausschluss glaubwürdig ist, sendet er ein wichtiges Signal an die Finanzmärkte. Weil deshalb die Anleger damit rechnen müssen, selbst für mögliche Verluste zu haften, würden sie, so die Erwartung, für höhere Risiken auch höhere Zinsen verlangen. Das Leitmotiv der Währungsunion war damit die Eigenverantwortung: die der Mitgliedsländer für die Folgen ihrer Politik und die der Finanzmarktakteure für die Folgen ihrer Anlageentscheidungen. Aber trotz dieser Regeln ist es nach Einführung des Euro nicht gelungen, die Verschuldung in den Mitgliedstaaten wirksam einzudämmen – ganz im Gegenteil. Mit Blick auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt wurden die Regeln nicht nur umgangen, sondern aktiv gebeugt. Eine entscheidende Schwäche war, dass eine Mehrheit aller Mitgliedsländer nötig war, um Länder zu sanktionieren, die die Defizitgrenze verletzt hatten. Außerdem hat die Disziplinierung über die Finanzmärkte nicht wie erhofft gewirkt. Anleger haben das finanz- und wirtschaftspolitische Fehlverhalten einiger Mitgliedsländer viel zu lange toleriert: sei es, weil sie die steigenden Risiken übersahen, sei es, weil sie dem Haftungsausschluss nicht glaubten. Fakt ist jedenfalls, dass beim Haftungsausschluss ein wichtiger Punkt unterschätzt wurde: die Ansteckungseffekte über die Finanzsysteme der Mitgliedstaaten. Der Euro hat zu einer stärkeren Verflechtung der Finanzmärkte geführt. Die Krise hat gezeigt, dass das nicht immer ein Segen sein muss, denn auf eng verflochtenen Finanzmärkten nimmt die Wahrscheinlichkeit für Ansteckungseffekte erheblich zu. Im Krisenfall kann es dann sehr teuer werden, nicht zu helfen. Eine finanzielle Stützung 505 scheint zumindest kurzfristig das kleinere Übel, vor allem dann, wenn die Banken aufgrund früherer Versäumnisse und durch die Finanz- und Wirtschaftskrise ohnehin geschwächt sind. Trotzdem: Viele Überlegungen, die die Konstruktion der Währungsunion Ende der 1990er Jahre geleitet haben, bleiben im Grundsatz weiter gültig. Fiskalregeln können durchaus eine wichtige Rolle bei der Eindämmung des Verschuldungs-anreizes spielen – zumindest dann, wenn die Akteure auch tatsächlich an sie gebunden sind. Seit Ausbruch der Krise wurde einiges getan, um die Regeln zu verbessern. Mit der Reform des Stabilitätspakts ist es deutlich schwieriger geworden, die Defizitregeln auszuhebeln. Und der Fiskalpakt stärkt das Defizitverfahren zusätzlich und verankert die Regeln für solide Haushaltsführung auf nationaler Ebene. Nun bleibt abzuwarten, wie die neuen Regeln auch in der Praxis mit Leben gefüllt werden. Denn, auch das zeigt die Erfahrung, Stabilitätsorientierung braucht neben Regeln einen Grundkonsens in Politik und Bevölkerung, der diese Regeln trägt und schützt. Es steht zudem zu befürchten, dass der bereits angesprochene Verschuldungsanreiz durch die Krisen-maßnahmen tendenziell noch verstärkt wird. Denn während im Zuge der Krisenbekämpfung weitgehende Risiken vergemeinschaftet wurden, verbleibt die Kontrolle über die Finanzpolitik vor allem in nationaler Hand. Dieses Auseinanderfallen von Haftung und Kontrolle macht es noch leichter, die Folgen unsolider Haushaltspolitik auf andere zu überwälzen. Prinzipiell sind zwei Wege denkbar, Haftung und Kontrolle wieder auszubalancieren und so eine stabile Währungsunion zu schaffen: Entweder wagt man den Sprung zu einer echten Fiskalunion mit einer weitgehenden Übertragung der Haushalts-politischen Souveränität auf die europäische Ebene. Oder man versucht, der Eigenverantwortung als Grundlage der Maastricht-Verträge auch in der Praxis wieder Geltung zu verschaffen. Um die offenen Flanken der Währungsunion zu schließen, bedürfte es dann ebenfalls weiterer Integrationsschritte, die aber bescheidener ausfielen als in einer umfassenden Fiskalunion. Nüchtern betrachtet muss man aber leider sagen: Derzeit wird keiner der beiden Wege entschlossen verfolgt. Für eine Fiskalunion wäre ein substanzieller Verzicht auf Souveränität erforderlich. In vielen Mitgliedsstaaten hat ein solches deutliches Mehr an Integration jedoch keine Mehrheit. Ich stelle sogar fest, dass gerade von denjenigen, die am vehementesten für eine Gemeinschaftshaftung eintreten, genauso vehement die Übertragung von nationalen Entscheidungsrechten abgelehnt wird. 506 Der zweite Weg, die Rückkehr zu einem System fiskalischer Eigenverantwortung, setzt zwingend voraus, dass Solvenzrisiken nicht umfassend vergemeinschaftet werden und dass Finanzmarktakteure die Risiken ihrer Anlageentscheidung tragen. Der sogenannten Disziplinierung durch die Finanzmärkte kommt dann eine noch größere Rolle zu. Mit Blick auf einen künftigen, stabilen Ordnungsrahmen ist es jedoch nicht hilfreich, dass Entscheidungen getroffen wurden, die diese Dis-ziplinierung schwächen. Unabhängig davon, welchen Weg die Währungsunion nimmt, muss künftig sichergestellt werden, dass Haushaltsschieflagen eines Staates nicht automatisch die Finanzstabilität bedrohen. Anderenfalls werden sich andere Staaten genötigt sehen, die Insolvenz eines Staates aus Gründen der Finanzstabilität mit allen Mitteln zu verhindern, und eine Disziplinierung der Fiskalpolitik wäre schon im Vorfeld nicht zu erwarten. Auch aus diesem Grund ist ein widerstandsfähiges Finanzsystem zentral für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik und eine funktionierende Währungsunion. Eine richtig ausgestaltete Bankenunion, die die problematische Verbindung von Staaten und Banken durchtrennt, kann hier einen wichtigen Beitrag leisten. Aber über das Thema Bankenunion lässt sich problemlos eine weitere halbe Stunde sprechen. Daher will ich darauf an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Lassen sie mich stattdessen wie folgt zusammenfassen: Geldwertstabilität benötigt solide Staatsfinanzen, und solide Staatsfinanzen erfordern einen konsistenten Rahmen der Währungsunion. Aber die Frage nach der Ausgestaltung des Rahmens löst noch nicht das Problem der heutigen Defizite. Konsolidierung vs. Wachstum Seit dem Ausbruch der Staatsschuldenkrise sind in einer Reihe von Euroländern Schritte zur Konsolidierung der Staatshaushalte ein-geleitet worden. Kritiker wie der amerikanische Ökonom Paul Krugman warnen, dass diese Politik in der derzeitigen Lage mehr schade als nütze. Aber um das Defizit zu verringern, müsse man entweder die Staatsausgaben senken oder die Steuern erhöhen. Beide Maßnahmen seien angesichts der gegenwärtigen Konjunkturschwäche das falsche Rezept, da sie die ohnehin schon schwache gesamt-wirtschaftliche Nachfrage noch weiter reduzierten und so eine Abwärtsspirale in Gang setzten. Zusätzlich an Fahrt gewonnen hat die Debatte durch die Untersuchung des IWF zur Höhe der Fiskalmultiplikatoren in der Krise. Dieser Multiplikator gibt an, wie stark 507 das Wirtschaftswachstum auf eine Änderung der Haushaltspolitik reagiert. Die Studie des IWF kommt zum Ergebnis, dass der Multiplikator höher sei als ursprünglich angenommen und ungefähr 1,7 betrage. Dies würde bedeuten, dass der Wachstumsverlust deutlich stärker wäre als die staatlichen Einsparungen. In diesem Fall würde staatliche Konsolidierung tatsächlich eine Abwärtsspirale in Gang setzen. In der Wissenschaft sind die Ergebnisse des IWF jedoch umstritten. Kritikpunkte sind zum einen die geringe Anzahl an Beobachtungen, zum anderen die starke Abhängigkeit der Ergebnisse von der Auswahl der Länder für die Stichprobe. Zudem dürfte die Lage in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich sein. Dem wird in der Querschnittsanalyse des IWF ungenügend Rechnung getragen. Unstrittig ist, dass Sparmaßnahmen kurzfristig das Wachstum dämpfen können. Aber genauso unstrittig ist, dass die Schuldensituation in den betroffenen Ländern schlicht nicht tragfähig ist. Aus meiner Sicht führt daher an einer entschlossenen Konsolidierung kein Weg vorbei. Denn die Krise ist in ihrem Kern eine Vertrauenskrise. Und um das Vertrauen in die Staatsfinanzen wieder herzustellen, muss die Finanzpolitik jetzt zeigen, dass sie fähig und willens ist, die Haushaltslage strukturell zu verbessern. Ein Sparkurs ist zwar hart, aber in einer Schuldenkrise unvermeidlich – wenn die notwendigen Maßnahmen immer weiter aufgeschoben werden, vergrößert sich die Unsicherheit nur und dämpft so das ebenfalls das Wachstum. Und auch die politische Unterstützung dürfte bei einer in die Länge gezogenen Sanierung der Staatsfinanzen nicht gerade steigen. Die Art und Weise der Konsolidierung spielt im Übrigen eine nicht unerhebliche Rolle bei der Frage, wie schnell ein Land zu gesunden Wachstumsraten zurückkehrt. Untersuchungen zeigen, dass Länder, die ihr Defizit über Einsparungen bei den Staatsausgaben statt über Steuererhöhungen zurückführen, deutlich geringere Wachstumseinbußen in Kauf nehmen müssen. Denn viele Maßnahmen wie die Verschlankung der Verwaltung oder die Privatisierung von Staatsunternehmen bergen nicht nur Einsparpotential für die öffentliche Hand, sondern können auch die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft insgesamt erhöhen. Meine Damen und Herren, die hohe Staatsverschuldung ist eine der größten, wenn nicht sogar die größte, wirtschaftspolitische Herausforderung unserer Zeit. Dies gilt auch und gerade für die Geldpolitik. Denn solide Staatsfinanzen sind eine Voraus-setzung für eine stabile Währung, eine Voraussetzung, die die Geldpolitik selbst nicht schaffen kann. 508 Um langfristig gesunde Staatsfinanzen im Euro-Raum zu sichern, muss die Architektur der Währungsunion schlüssig weiterentwickelt werden. Dabei ist besonders darauf zu achten, dass Haftung und Kontrolle in einer ausgewogenen Balance bleiben. Und entscheidend ist, dass eine solche Stabilitätskultur von Politik und Bevölkerung auch tatsächlich gelebt wird. Konsolidierung und Wachstum stehen nicht im Gegensatz zueinander. Sondern das eine ist die Bedingung für das andere. Um es mit den Worten des amerikanischen Ökonomen Paul Romer zu sagen: A crisis is a terrible thing to waste. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Wenn Europa die notwendigen Reformen entschlossen angeht, wird die Währungsunion eine stärkere sein, dessen bin ich mir sicher. B.R.-Kommentar: an-schließen. Ich kann mich diesen Ausführungen nur B.V.3 EU-Haushalt auf neue Füße stellen Die EU-Chefs hatten Anfang Februar 2013 eine Einigung darüber erzielt, dass die Ausgabenobergrenze für die EU-28 für den Zeitraum 2014 bis 2020 959.988 Millionen Euro an Mitteln für Verpflichtungen beträgt. Das entspricht 1,00 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) der EU. Die genehmigten Mittel für Zahlungen werden im Zeitraum 2014 bis 2020 allerdings 908.400 Millionen Euro betragen. Das entspricht 0,95 Prozent des BNE der EU. Alle Zahlen sind auf der Grundlage konstanter Preise von 2011 ausgedrückt. Vorgesehen sind automatische jährliche technische Inflationsanpassungen. Damit würde das künftige EU-Budget (2014-2020) erstmals in der Geschichte der Europäischen Union im Vergleich zum Vorgängerhaushalt (2007-2013) gekürzt. Dieses Ergebnis stößt allerdings auf den Widerstand des Europäischen Parlamentes. Das Europäische Parlament kehrt im Mai 2013 an den Verhandlungstisch über das EU-Budget 2014 bis 2020 zurück. Nach harten Verhandlungen hat das Europäische Parlament Anfang Juli 2013 509 einer Kompromissentschließung mit Mehrheit zugestimmt. Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses Alain Lamassoure (EVP) nannte folgende Verhandlungserfolge für das Europäische Parlament: • Der EU-Fonds für Bedürftige wird um 1 Milliarde Euro auf nun 3,5 Milliarden Euro für die Zeit von 2014 bis 2020 aufgestockt; • Für den Bereich Forschung werden für die Jahre 2014 bis 2015 zusätzlich 200 Millionen eingeplant; • Für das Programm Erasmus werden für die Jahre 2014 bis 2015 zusätzlich 150 Millionen Euro eingeplant; • Für das Programm für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und für KMU (COSME) werden zusätzlich 50 Millionen Euro eingeplant; • Sicherstellung der Jugendbeschäftigungs-initiative Haushaltszeitraum 2014 bis 2020. Finanzierung über den der gesamten Damit hat man zwar der bisherigen Ausgabenwut einen kleinen Riegel vorgeschoben, aber prinzipiell macht man so weiter wie bisher. Und damit eröffnet der kommende Haushalt der zukünftigen Entwicklung Europas keine neuen Chancen. Was wir brauchen ist eine völlig neue Förderstruktur. Das heißt im gleichen Atemzug: Die bisherigen Umverteilungsgewinnler, wie beispielweise die europäischen (Groß-)Bauern, müssen sich ganz neuen Herausforderungen stellen. Natürlich ist das nicht einfach und schon gar nicht auf Knopfdruck möglich. Letztlich stehen dahinter auch gewaltige nationale und damit Wählerinteressen. B.V.4 Reform der EU-Institutionen Meldung vom 27. Dezember 2012: Die CSU-Landesgruppe im Bundestag fordert grundlegende institutionelle Reformen auf 510 EU-Ebene. In einem Positionspapier wird unter anderem aus Spargründen eine Halbierung der EU-Kommission gefordert. „Die EU-Kommission sollte zahlenmäßig verringert werden und künftig nur noch aus zwölf Mitgliedern zuzüglich ihres Präsidenten sowie der Hohen Vertreterin für gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bestehen“, heißt es in dem Papier. Derzeit gibt es 27 EU-Kommissare, je einen pro Mit-gliedsland. Die CSU tritt auch dafür ein, die Verwaltungsausgaben der EU drastisch zu senken. Alle sechs Monate leistet sich die Europäische Union ihr wohl überflüssigste Ritual: den Wechsel der Ratspräsidentschaft. Nach Zypern sind ab 1. Januar 2013 die Iren dran. Bei aller Sympathie für Irland, das einstige Krisenland, das sich gerade erfolgreich aus dem eigenen Schuldensumpf befreien musste, wird die Union kaum voranbringen können. Nicht nur die abgelaufene zypriotische Präsidentschaft hat gezeigt: Angesichts der gewaltigen Heraus-forderungen braucht dies EU gewichtige und machtvolle Akteure, die Perspektiven eröffnen und Visionen formulieren. Die Zersplitterung in der Führung der EU hat sich selten zuvor so deutlich gezeigt wie bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises. Dabei geht es um weit mehr als um Symbolik. Wer Europa in Ver-handlungen mit Russland oder den Vereinigten Staaten, mit China oder mit den Führungspersönlichkeiten der aufstrebenden Länder Süd-amerikas vertritt, darf kein ‚Zwerg‘ sein. Der Euro-Raum hat nicht einmal einen mit Kompetenzen ausgestatteten Vorsitzenden, der Gespräche mit Vertretern anderer Staaten führen darf, ohne sich ständig rückversichern zu müssen. Der Bedeutungsverlust auf der höchsten politischen Ebene vollzieht sich seit Jahren. Das ist für eine Gemeinschaft, die international, sei es bei den Themen Klima, Rohstoffe, Finanzen, etc. nicht hinnehmbar. Europa braucht eine Stimme. Mit den bisherigen Reformen - als man den ständigen Ratspräsidenten mit den Aufgaben eines Geschäftsführers für den EU-Gipfel erfand – hat man nur einen halben Schritt gemacht. Die Aufwertung des Europäischen Parlaments bleibt bis jetzt auch unvollendet. Eine 511 zersplitterte Führung, die dann auch noch durch einen schwachen Präsidenten aus einem kleinen Mitgliedsland ergänzt wird, kann nicht wirken. Ein in seinen Befugnissen beschnittener Chef der Euro-Zone macht das Durcheinander komplett. Wenn die EU-Staaten 2013 über „mehr Europa“ sprechen, werden sie auch ihre Führungsstruktur klären müssen. Es geht um ein klares Profil dieser Union, das dieser Gemeinschaft jenes Gesicht verleiht, die sie unzweifelhaft hat. Meldung am 22. Mai 2013: Auf ihrem Gipfel werden die 27 Regierungschefs in aller Stille eine Reform beerdigen, die unter großer Aufmerksamkeit vor einigen Jahren im Lissabonner Vertag fest-geschrieben worden war: die Verkleinerung der Kommission auf zwei Drittel der heutigen Besetzung ab 2014. Statt derzeit 27 Kommissare wird es ab dem 1. Juli sogar 28 geben. Im Parlament kocht die Wut hoch. Ein falsches Signal! Die Kom-missare kosten nicht nur viel Geld – pro Jahr summieren sich deren Gehälter sowie die des siebenköpfigen Kabinetts plus Fahrer auf rund 1,5 Millionen Euro je Kommissar. Immer häufiger hat Präsident Barroso auch Probleme, für die neuen Mitglieder seines Teams entsprechende Ressorts zu finden. Das EU-Parlament fürchtet zudem, das weitreichende andere Re-formentwürfe unmöglich werden. Im Herbst wird die Straßburger Volksvertretung einen neuen Vorstoß präsentieren, dessen Ziel im Ausbau der Kommission zu einer europäischen Regierung besteht. Damit würde das Europäische Parlament auch zu einem Parlament mit einem glaubhaften Vertretungsanspruch für die europäischen Bürger. B.V.4.1 Die Brüsseler-Bürokratie-Krake stutzen Die EU verwandelt sich zunehmend in eine nicht demokratisch legitimierte Krake, die sich auch in Ihre kleinsten Angelegenheiten einmischen will. 512 Dafür gab es im Laufe der vergangenen Jahre zahlreiche Beispiele. Mal ging es um den Verkaufsstopp von Glühbirnen. Hier hat die Bürokratie klar gesiegt. Am Ende freut sich die Lobby der Hersteller von Energiesparlampen. Die verbrauchen zwar deutlich weniger Energie. Im Endeffekt sind diese Lampen aber extrem teuer in der Entsorgung, wegen der hohen Giftigkeit der darin enthaltenen Stoffe. Schon seit Jahren gibt es auch detaillierte Bestimmungen im Nahrungsmittelsektor. Klassische deutsche Apfelsorten entsprechen nicht mehr der EU-Norm. Auch hier greifen die Brüsseler Bürokraten massiv ein – zum Nachteil der traditionellen Obstbauern. Im Mai 2013 machte eine neue EU-Posse die Runde. So wurde nun beispielsweise beschlossen, dass ab 2014 Kännchen mit Olivenöl in Restaurants verboten werden. Als Grund wird genannt, dass nur Original-Flaschen verwendet werden dürften, auf denen auch auf dem Etikett angegeben sei, ob das Öl kaltgepresst sei oder nicht. Zwar wurde die Vorschrift nach massivem Protest sehr schnell wieder zurückgenommen, aber an diesem Beispiel sehen Sie, mit welchen unsinnigen Dingen sich dieses bürokratische Monster befasst. Auch wird daran deutlich, wie offen hier Lobbyismus betrieben wird: Die größten Hersteller von Olivenöl aus Südeuropa in der EU hatten explizit dieses Verbot gefordert, damit Restaurants in Zukunft bei ihnen einkaufen müssen. Ich bleibe dabei: Bürokraten waren noch nie in der Lage, Probleme zu lösen. Mittlerweile werden jedes Jahr Milliarden Euro für die Lobbyarbeit in Brüssel ausgegeben. Und was denken Sie wohl welche Interessen dort vertreten werden? Wir als Verbraucher stehen da auf jeden Fall nicht im Fokus der Bestrebungen. Solange die EU aber bei der Bewältigung der Probleme weiter auf die Kraft der Bürokratie setzt, so lange werden die wirklich großen Probleme auch nicht gelöst. Und wenn Bestimmungen über Öl-kännchen in Restaurants die Kanäle innerhalb der EU blockieren, 513 werden eben auch die wirklich großen Probleme gar nicht erst angegangen. B.R.-Kommentar: Deshalb meine Forderung: Halbierung des Personalstandes – das heißt: Neustrukturierung und Besinnung auf das Wesentliche! B.V.5 Ein demokratisches Europa Demokratie ist in Zeiten der Euro-Krise ein schwieriges Geschäft. Als tiefster Punkt der politischen Gratwanderung zwischen demokratischer Legitimation und effektiver Krisenbeherrschung konnte jene Woche im Herbst 2011 gelten, als der damalige griechische Ministerpräsident Papandreou ein Referendum über den Verbleib seines Landes im Euro-Raum ankündigte – und es unter Druck der überrumpelten Partner nur wenige Tage später wieder abblies. Auch die zyprische Demokratie-Darbietung im März 2013 ist genauso geeignet, das Vertrauen der Europäer in die Grundordnung ihrer Staaten zu untergraben. Wer aus Ohnmacht von Volk und Volks-vertretern aber schließt, eine finstere Brüssler, Frankfurter oder gar Berliner Macht habe die Demokratie durch eine Art Troikratie ersetzt, greift zu kurz. Es ist nicht das Wesen der Demokratie, alle Zu-mutungen per Mehrheitsbeschluss abwehren zu können. Das offene und öffentliche Ringen um die beste Lösung, das die Volksherrschaft kennzeichnen sollte, stößt allerdings in der Schuldenkrise an Grenzen. Die Materie ist derart komplex, dass die meisten Abgeordneten weder die Folgen ihres Tuns und Lassens abzuschätzen noch dem Volk gut erklären können, was eigentlich vor sich geht. Die Bürger wiederum haben vielfach bewiesen, dass sie Ehrlichkeit von Politikern selten honorieren, wenn die Wahrheit bitter ist. Befragt man heute die Völker Europas, müsste man in dieser hektischen Zeit, das Schlimmste befürchten: das Auseinanderdriften der europäischen Länder. Dabei ist die Einigung Europas eine der großen politischen Leistungen des letzten halben Jahrhunderts. 514 Dennoch breitet sich in vielen Mitgliedsstaaten eine europaskeptische Stimmung aus – und das nicht erst seit der Euro-Krise. Gerade der Erfolg der Integration beinhaltet ein Gefährdungspotenzial, weil die demokratisch legitimierten nationalen Regierungen immer weniger Spielraum haben. Ein Blick auf die Wahlbeteiligung bei der Europawahl seit 1970 zeigt, dass in jedem Jahrzehnt weniger Bürgerinnen und Bürger wählen. Zwar sind alle Wahlen von diesem Rückgang betroffen, doch das Ausmaß unterscheidet sich. Als Gründe für die niedrige Wahl-beteiligung werden Bürgerferne, überbordende Bürokratie oder Re-gulierungsdrang der Europäischen Union genannt. Eine niedrige Wahlbeteiligung ist immer eine sozial ungleiche Wahl-beteiligung. Einkommensschwache Menschen mit niedrigem Bil-dungsstand haben eine geringere Partizipationsneigung und sind somit die ersten, die sich der Stimme verweigern. Selbst wenn in allen Schichten die Wahlbeteiligung sinkt, wird sie am stärksten bei sozial Schwachen zurückgehen. Im Vergleich zu anderen Formen politischen Engagements ist der Aufwand für die Beteiligung an einer Wahl eher gering. Die Mitarbeit in einer Bürgerbewegung oder der direkte Kontakt zu Abgeordneten sind dagegen anspruchsvoller. Gerade ihre verhältnismäßig niedrigen Hürden machen Wahlen zu einer egalitären Beteiligungsform, die Menschen mit geringen Ressourcen offenstehen. Mehr als andere politische Aktivitäten haben Wahlen bislang formale Rechte in gleiche Teilhabe übersetzt. Die rückläufige Wahlbeteiligung löst diesen Zusammenhang auf. Die offizielle Entwicklungsgeschichte der europäischen Vertragswerke ist bisher das Produkt der politischen Eliten gewesen. Natürlich sind sie auch die natürlichen Ansprechpartner, um Vertragsänderungen zu bewerkstelligen, die eine transnationale Demokratie ermöglichen. B.R.-Kommentar: Nur mit der aktiven Einbeziehung der europäischen Bürger kann ein lebendiges, nachhaltiges Europa entstehen. Eine Ver-tiefung der Europäischen Union muss eine Stärkung der 515 Demokratie und das Wohlergehen aller Menschen in Europa zur Voraussetzung haben. B.V.6 Ein arbeitendes Europa Die absoluten Zahlen sind schon schockierend: In der Euro-Zone haben laut der offiziellen Zahlen der EU-Statistikbehörde Eurostat mehr als 19 Millionen Menschen keinen Job. Damit ist die Zahl innerhalb eines Jahres um 1,7 Millionen gestiegen. In einigen Krisen-ländern liegt die Arbeitslosenquote noch deutlich darüber. Ein krasses Beispiel ist Spanien. Dort hat die Arbeitslosenzahl jetzt die Marke von sechs Millionen überschritten. Das ist ein unglaublich hoher Wert. Es ist sogar ein Rekordhoch seit der Erhebung der Daten im Jahr 1976. Damit ist die Arbeitslosenquote jetzt auf 27,1% angestiegen. In Spanien und Griechenland beträgt die Arbeitslosenquote unter Jugend-lichen bereits fast 60 Prozent. In den meisten Ländern sinken seit Jahren die Reallöhne. Massenarbeitslosigkeit wie sie sich gegenwärtig in Europa, ins-besondere Südeuropa, zeigt ist kein rein technisch zu lösendes Problem; für eine Zivilgesellschaft berührt sie Fragen der Kultur, der Moral und der Verantwortungsethik. Arbeitslosigkeit ist ein Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität, auf die Unver-sehrtheit der davon betroffenen Menschen. „Was in der gegenwärtigen Finanzkrise sichtbar wird, ist die völlige Abkopplung der ursprünglich medial begrenzten Welt des Geldes vom gesellschaftlichen Lebensund Produktionsprozess; die Wert-schöpfung der Arbeitsgesellschaft wird hier enteignet und damit den arbeitenden Menschen entzogen“, führt Oskar Negt in seinem Buch Gesellschaftsentwurf Europa aus. Weiter: „Drei Billionen Geschäftsakte gibt es täglich an den Devisen- und Finanzinstitutionen, nur drei Prozent dieser drei Billionen sind auf Aktivitäten der gesellschaftlichen Produktion bezogen, also zurückgekommen in die Produktionssphäre der Gesellschaft. (…) Der größte Teil des gesell-schaftlichen Reichtums geht uns verloren, wenn wir diese 516 Strukturen nicht verändern. Sparen, sparen und sparen, es wird nichts nützen, wenn dieser abgekoppelte Realitätszusammenhang nicht in die Gesellschaft zurückgebracht wird. “ Strukturen verändern bedeutet u.a. • eine europäische Umverteilung des Reichtums durch faire Einkommen und höhere Gewinn- und Vermögensbesteuerung, • Beendigung der Lohnsenkungspirale • und damit Abbau der riesigen Ungleichgewichte (enorme Leistungsbilanzüberschüsse bzw. weniger Länder auf Kosten von -defiziten anderer Landes) zwischen den Ländern innerhalb der Währungsunion, • Vereinbarungen zur Verringerung der Erwerbsarbeitslosigkeit in allen EU-Staaten, • ein europäisches Investitionsprogramm zum Ausbau der Infrastruktur und zum ökologischen Umbau sowie • ein Ausbau der Gemeinwesenarbeit in Europa. Was können wir unter Gemeinwesenarbeit verstehen? Gemeinwesenarbeit ist ein prozessorientiertes, partizipatives und inter-disziplinäres Arbeitsprinzip der Sozialen Arbeit, das darauf abzielt, gemeinsam mit den Menschen in Stadtteilen nachhaltige Ver-besserungen ihrer Lebenssituation zu erreichen. Die Prinzipien der Gemeinwesenarbeit (GWA) sind: • • GWA orientiert sich an den Bedürfnissen und Interessen der in einem Stadtteil lebenden Menschen und fördert die Teilhabe der Menschen am ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Leben. Dabei setzt die GWA bei der Selbstorganisation und den Selbsthilfekräften der BürgerInnen an. D.h. die Menschen 517 • • • werden dabei unterstützt, selbst aktiv zu werden, um ihre Bedürfnisse und Interessen öffentlich zu machen und sich für ihre Anliegen selbst einzusetzen. GWA arbeitet sowohl zielgruppenals auch ressortüber-greifend (Wohnen, Gesundheit, Arbeit, Freizeit, Bildung, Kultur, etc.), um die komplexen Aufgabenstellungen bewäl-tigen zu können. GWA hat eine intermediäre Funktion, d.h. sie ist Bindeglied zwischen den Interessen und Aktivitäten der Menschen und den Ressourcen der Stadt und gestaltet Aushandlungsprozesse zwischen EntscheidungsträgerInnen aus Verwaltung und Politik einerseits und BürgerInnen andererseits. Eine wichtige Aufgabe ist die Vernetzung und Kooperation zwischen den Menschen der verschiedenen Einrichtungen und den Menschen/AkteurInnen im Stadtteil. Dabei wird vor allem auf die Stärken geachtet, es werden vorhandene Ressourcen und Potenziale im Stadtteil aktiviert, miteinander verknüpft und soziale Netzwerke geschaffen bzw. gestärkt. B.R.-Kommentar: Mir geht es dabei nicht um überpropfende, einmalige Programme aus Brüssel oder Berlin, sondern um einen kontinuierlichen Prozess an der Basis des Gemeinwesens. Ein wichtiger Teil der Gemeinwesenarbeit ist die Mobilisierung der Bürgerinnen und Bürger, damit sie sich selbst für die Verbesserung ihrer Lebensqualität einsetzen. Nur dadurch entsteht auch ein MehrWert. B.V.6.1 Hoffnung für Europas Jugend? Europas Regierungschefs haben ein neues, dringliches Thema gefunden: die Jugendarbeitslosigkeit. Der Kampf gegen die Jugend-arbeitslosigkeit in Europa wird zur Chefsache. Die 28 EU-Staaten wollen im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit in 518 Europa stärker zusammenarbeiten: Was hilft gegen Jugendarbeitslosigkeit, was gibt Wachstumsimpulse, welche Strukturen müssen geändert werden? Hier geht es inzwischen nicht mehr allein um ein ökonomisches Problem, sondern um den Zusammenhalt ganzer Gesellschaften. Wie soll man junge Leute in Griechenland, Italien oder Spanien für Europa begeistern, für die Demokratie und für offene Märkte, wenn sie seit ihrem Abgang von der Schule nie etwas anderes erlebt haben als Arbeitslosigkeit? Die Finanzkrise/Schuldenkrise in der Europäischen Union hat in fast allen Ländern zu Rezessionen oder Stagnationen geführt. In vielen Ländern stieg die Anzahl der Jobsuchenden deutlich. Insbesondere die hohe Jugendarbeitslosigkeit löst große Sorgen unter den europäischen Regierungschefs aus. Nachdem sie Ende Juni 2013 die Finanz-grundlage für die Hilfen beschlossen hatten, sollten auf einer Konferenz in Berlin am 3. Juli 2013 erste konkrete Schritte ausgelotet werden, um die Jugendarbeitslosigkeit zu verringern. „Es ist so, dass ja sehr viel über die Geldsummen diskutiert wird“, sagte Merkel. „Ich glaube, das Geld ist im Augenblick einmal nicht das Problem.“ Es gehe darum, wie man jungen Menschen eine Chance geben könne. In den kommenden zwei Jahren wollen sie acht Milliarden Euro zusätzlich dafür ausgeben. Das Geld soll Regionen zu gute kommen, in denen die Jugend-arbeitslosigkeit mehr als 25 Prozent beträgt. Die davon profitierenden Mitgliedstaaten sollen „bis zum Jahresende einen Plan verabschieden, der die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, auch mittels Umsetzung der 'Jugendgarantie' nach dem Vorbild Österreichs, zum Inhalt hat“. Die Jugendgarantie sagt jungen Leuten zu, dass sie innerhalb von vier Monaten nach ihrem Schulabschluss oder der Arbeitslosmeldung eine Ausbildung, eine Qualifizierung oder eine Beschäftigung haben sollen. Die Europäische Investitionsbank (EIB) will zudem sechs Milliarden Euro für zinsgünstige Kredite für kleine Unternehmen zur Beschäftigung junger Leute und zur Berufsausbildung aufwenden. 519 Jede Menge praktische Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit, Jobsorgen und Selbstzweifeln haben in Europa viele junge Erwachsene. Nach den jüngsten Zahlen des europäischen Statistikamts Eurostat lag die Arbeitslosenquote bei Jugendlichen im Alter von 15 und 24 Jahren in der Euro-Zone bei 23,8 Prozent. Fallen die Werte in Deutschland, Österreich oder den Niederlanden niedrig aus, sind sie in den südeuropäischen Krisenländern erschreckend hoch. Griechenland meldete zuletzt 60 Prozent. Auch in Spanien (56,5 Prozent), Portugal (42,1 Prozent) und Italien (38,5 Prozent) sind die Zahlen alarmierend hoch. In 19 der 27 EU-Mitgliedsländern liegt die Quote der job-suchenden jungen Menschen über 25 Prozent. Wie schnell und effizient wirken die Hilfen? Oder ist das Ganze etwa nur eine Wahlkampfshow? Welche Erwartungen haben junge Europäer an die Konferenz? Hier einige Aussagen stellvertretend für viel andere, die ich hier in Auszügen aus einem Interview von Handelsblatt online vom 3. Juli 2013 widergebe: Theodora Matziropoulou, 25, Griechenland: (…) Um es mit den Worten Max Webers zu beschreiben: In meinen Augen hat der griechische Staat das ‚Monopol auf Vetternwirtschaft‘ und das ‚Monopol auf Bevorteilung‘. Liebe Frau Merkel, wären auch Sie 25 Jahre alt und Griechin, so wie ich, Sie hätten die gleichen Probleme, in der nebligen politischen Landschaft Griechenlands die Vision vom notwendigen Wandel zu erkennen. Es ist unglaublich schwer, das politische und soziale System zu verändern, das einen hervorgebracht hat. Es hat diejenigen geformt, die jetzt versuchen, es zu ändern. In anderen Worten: Jene, die das Problem sind, sollen es jetzt lösen. Unser auf Klientelpolitik beruhender Sozialvertrag ist gescheitert und die wirtschaftliche Krise wurde zu einer systemischen. (…) Estefanía Almenta López, 29, Spanien: (…) Wenn ich von den Jugendprogrammen und dem ,New Deal’ höre, mit denen man gegen die Jugendarbeitslosigkeit angeht, erscheint mir dies wie ein kleiner Hoffnungsschimmer. Doch ich frage mich nach wie vor: Ist das genug? Diese Programme befassen sich mit den Problemen von jungen Menschen unter 25, die weder eine Arbeitsstelle haben noch eine Ausbildung oder Schulung durchlaufen haben (so genannte NEETs), aber was ist mit uns, hoch qualifizierten jungen Erwachsenen im besten erwerbsfähigen Alter? Jeder hat anscheinend nur eine Lösung für uns: „umziehen“. Offenbar reduziert sich alles 520 darauf, flexibel und mobil zu sein. Wenn man hoch qualifiziert ist und dort, wo man wohnt, keine Arbeit findet, zieht man woanders hin. Oberflächlich gesehen, ergibt dies einen Sinn, aber man sollte sich nicht durch den äußeren Anschein täuschen lassen. Ich wünsche mir wahrhaftig, dass es so einfach wäre. (…) Was ist dann noch zu tun? Frau Merkel, ich möchte Sie auf einen Punkt aufmerksam machen: Wir müssen unsere Volkswirtschaften nicht reformieren, sondern sie transformieren. Reformen zielen darauf ab, Verbesserungen vorzunehmen, ohne an den Kern des Systems zu rühren. Transformationen hingegen ändern die gesamte Struktur und verwandeln sie in etwas völlig anderes. Ich habe in letzter Zeit viele Reformen beobachtet, aber überhaupt keine Transformationen. Wenn Spanien beabsichtigt, zusammen mit anderen europäischen Ländern dauer-hafte Wettbewerbsfähigkeit zu erlangen, muss die EU mehr in Forschung, Entwicklung und Innovation investieren, statt sich so stark darauf auszurichten, die herkömmlichen dominanten Sektoren ihrer Wirtschaft zu reaktivieren, wie Tourismus, Landwirtschaft und Baugewerbe. Andernfalls könnte sich die Wirtschaft zwar erholen, aber sie würde absolut abhängig und instabil bleiben, wodurch sie gegenüber Schwankungen auf den Weltmärkten besonders anfällig wäre. Noora Lampinen, 25, Finnland: Bildung ist heute kein Garant mehr gegen Arbeitslosigkeit. In der Vergangenheit sicherten eine gute Bildung und ein Uni-Abschluss den zukünftigen Berufsweg. Heute bekommen viele Absolventen nach ihrem Abschluss Absagen oder müssen sogar Arbeitslosengeld beantragen. Dazu kommt oft ein riesiger Schuldenberg, den viele zur Finanzierung des eigenen Studiums aufgenommen hatten. Diese Schilderung beschreibt leider die Realität in Europa: Die Zahl der hochausgebildeten Uniabsolventen steigt in alarmierende Höhen an. Immer wieder werden finnische Schulen in der PISA-Studie für ihre exzellenten Resultate ausgezeichnet. Die Qualität des finnischen Bildungssystems gilt als eine der besten im internationalen Vergleich. Dennoch: Immer mehr Menschen streben ein höheres Bildungsniveau an, während auf der anderen Seite Stellen abgebaut werden. Die Konsequenz ist, dass die Arbeitslosigkeit hochqualifizierter Uniabsolventen sehr schnell steigt. In Finnland waren zu Beginn dieses Jahres rund 33.000 Akademiker ohne Job. Das sind rund 27 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Lücke zwischen hoch und geringer qualifizierten Menschen außerhalb des Arbeitsmarktes wird immer kleiner. Welche Anreize gibt es dann, noch fünf Jahre lang zu studieren, um letztlich doch keinen Job zu finden, der den persönlichen Qualifikationen entspricht? Sind wir etwa „über-gebildet“? Eine Karriere über eine Ausbildung anzustreben wird generell als weniger ambitioniert und weniger wertvoll angesehen, obwohl traditionelle Berufe wie etwa 521 Schreiner oder Klempner meist lukrativer sind. Mehr junge Menschen sollten diesen Weg wählen und direkt in Unternehmen ausgebildet werden. Ausbildung und die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes zusammenzubringen ist von hoher Bedeutung. Daher ist es an der Zeit, dass Bildungseinrichtungen der Realität ins Gesicht schauen und ihre Aufgabe darin sehen, junge Menschen auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten und ihnen das richtige Handwerkszeug zu geben. Mit der geringen Arbeitslosenquote und seinem Ausbildungssystem kann Deutschland ein Vorbild für den Rest Europas sein. Gefühle der Gleichgültigkeit und der Hoffnungslosigkeit sind mit das Schlimmste für die Zukunft junger Menschen. Daher brauchen wir Sie, Frau Merkel, um hinter der europäischen Idee zu stehen. Dies soll keinesfalls heißen, dass Deutschland oder andere Nettozahler der Union die Rechnung alleine begleichen sollten. Aber es muss gezeigt werden, dass es eine Zukunft der Europäischen Union gibt, mit Solidarität und Verantwortung. Wie schnell wirken die Hilfen? Die obigen Aussagen machen schnell deutlich, dass der ‚Schub aus Berlin‘ die Jugendarbeitslosigkeit nicht in den nächsten 24 Monaten auf ein erträgliches Maß reduzieren kann. Die ‚Versprechen‘ der Regierungschef verstehe ich eher als ein Signal an die europäische Jugend: Ihr seid nicht vergessen. Angesichts der Rezession in weiten Teilen Europas dämpfen die Chefs der nationalen Arbeitsagenturen Hoffnungen auf eine rasch sinkende Jugendarbeitslosigkeit. Arbeitsmarktpolitik könne „in Zeiten einer Wirtschaftskrise mit schwacher Arbeitskräftenachfrage nur einen kleinen Beitrag“ leisten. B.R.-Kommentar: Die Kernfrage lautet: Wie gut ist das Aus-bildungssystem und wie gut ist es mit den Bedürfnissen der Wirtschaft verzahnt? Da liegt noch einiges im Argen, gerade in den Südländern. Dort war es bislang üblich, dass viele Jugendliche entweder eine ungelernte Arbeit hatten oder - diejenigen aus wohlhabenderen Familien - auf die Universität gingen. Dazwischen gab es nichts, zumindest nichts Solides, was das duale System verspricht. So etwas zu schaffen ist sehr, sehr schwer und langwierig. Wer jetzt neue europäische Hilfsprogramme in Anspruch nimmt, muss auch seinerseits Anstrengungen bringen. Sinnlos wäre es, 522 Krisen-erscheinungen durch staatliche Programme nur kurzfristig zu ver-schleiern. Südeuropa und auch Frankreich werden nicht umhin-kommen, bestimmte ungeliebte Themen zu bearbeiten, die sie schon allzu lange vor sich herschieben. Die internationale Wettbewerbs-fähigkeit muss steigen, der Aufwand für den öffentlichen Sektor und die Bürokratie muss sinken. B.V.6.2 Europas Weg zu mehr Wettbewerbsfähigkeit In einer Rede hat Dr. Andreas Dombret, Mitglied des Vorstandes der Deutschen Bundesbank anlässlich der Barclays Outlook Conference, in Frankfurt am Main, am 15. Mai 2013 folgendes (in Auszügen) ausgeführt: (…) Inzwischen herrscht in der Euro-Zone weitgehend Einigkeit darüber, dass die immer noch andauernden Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsländer zu den grundlegenden Ursachen der gegenwärtigen Krise zählen. Dies anzuerkennen ist bereits Fortschritt. Doch während sich in der Frage, wie die Krise entstanden ist, offenbar ein Konsens gebildet hat, gehen die Meinungen nach wie vor weit auseinander, wie die Krise zu lösen ist. (…) Einerseits geht es darum, wie der Wachstumsmotor der Währungsunion repariert werden soll und wie er künftig zuverlässiger funktionieren kann. Andererseits geht es darum, wer für die Kosten aufkommt – und zwar für die vergangene und für die künftige Belastung gleichermaßen. (…) Ich möchte betonen, dass Forderungen nach mehr Verteilungsgerechtigkeit und Umverteilung ohne eine Stärkung der Wachstumskräfte ins Leere laufen – weil es nämlich viel weniger zum verteilen geben wird, wenn die Währungsunion kein solides Fundament erhält, um in Zukunft besser funktionieren zu können. Der Zielkonflikt zwischen Gerechtigkeit und Effizienz steht im Zentrum der Debatte auf nationaler Ebene. (…) Der Konflikt liegt auch der Diskussion auf europäischer Ebene zugrunde. Einerseits sollen Anreize und Kontrollen verstärkt werden, um die Risiken zu begrenzen. Andererseits gibt es das Bestreben, die großen 523 wirt-schaftlichen, sozialen und politischer Lasten durch eine Vergemeinschaftung der Risiken zu verteilen. (…) Ein weiteres Beispiel für dieses Tauziehen zwischen soliden Anreizen und Lasten-verteilung ist die Diskussion über die Rolle Deutschlands bei der Neuausrichtung der Euro-Raums. Kommentatoren wie Martin Wolf und Wissenschaftler wie Paul Krugman haben vorgeschlagen, Deutschland solle einen Beitrag zur gesamt-wirtschaftlichen Anpassung leisten, indem wir unsere Wettbewerbsfähigkeit verringern – etwa durch kräftige Lohnanstiege, die oberhalb des Wachstums der Produktivität liegen. Dahinter verbirgt sich der Gedanke, dass Wettbewerbsfähigkeit relativ ist: Der Verlust des einen Landes ist der Gewinn des anderen. Berechnungen der Bundesbank zufolge wären das Ergebnis einer solchen Politik jedoch vermutlich enttäuschend. (…) Beim Abbau makroökonomischer Ungleich-gewichte wäre eine Lastenteilung durch Lohnerhöhungen in Deutschland wahrlich nicht zielführend. Ebenso wenig zielführend wären neue Konjunkturprogramme. In einer globalisierten Wirtschaft ist jeder Versuch, ein europäisches Land vor Wettbewerb zu schützen, indem man die Wettbewerbsfähigkeit eines anderen Landes mindert, zum Scheitern verurteilt. Eine dauerhafte Lösung der Krise ist nur möglich, wenn man sich die Marktkräfte zunutze macht, nicht, indem man sie ausschaltet. Dies gilt nicht nur für den Euro-Raum, sondern für die Europäische Union insgesamt. Die Marktkräfte zum Wohle Europas einzusetzen bedeutet konkret, aus dem wichtigsten Katalysator von Wettbewerb und Wachstum das Beste herauszuholen. Die durch den Binnenmarkt bereits erzielten Vorteile könnten sogar noch übertroffen werden, wenn der gemeinsame Markt stärker an den Erfordernissen des digitalen Zeitalters angepasst und auf die gesamte Palette der in der Europäischen Union verfügbaren Dienstleistungen ausgedehnt würde. (…) Weitere Vorteile würden sich aus einer Verringerung der Vielzahl von Ausnahmeregelungen im Binnenmarkt für Dienstleistungen ergeben. (…) Reformen auf diesem Gebiet könnten auch der Währungsunion einen dringend benötigten Schub verleihen. (…) 524 Die Kräfte des Marktes durch Strukturreformen zu nutzen ist die richtige Strategie, um die Wettbewerbsfähigkeit auf nationaler Ebene wiederzuerlangen. Entsprechend bin ich davon überzeugt, dass eine Wiederherstellung der Marktmechanismen, soweit sie im bisherigen Verlauf beeinträchtigt worden sind, von entscheidender Bedeutung ist, um den institutionellen Rahmen des Euro-Raums zu stärken. (…) Um den Euro-Raum stabiler zu machen, kommt es daher entscheidend darauf an, an die Verflechtungen zwischen Banken und Staaten deutlich zu lockern. Eine Banken-union kann ein großer Schritt in diese Richtung sein. (…) B.R.-Kommentar: Die Verteilung finanzieller Ressourcen von Land A nach Land B verschafft B vielleicht kurzfristig Luft, nur der Einsatz dieser Gelder für strukturelle Veränderungen - also in die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit – macht Sinn und eröffnet B neue Zukunfts-chancen! B.V.6.3 Europa sucht die Supertechnik Intelligente Roboter, biegbare Smartphones und extrem schnelle Computer: Mit kühnen Ideen und einer milliardenschweren Forschungsinitiative will die EU Europas Industrie gegen Asien und die USA in Stellung bringen. Es gibt Ereignisse, die stoßen das Tor zu neuen fantastischen Welten und Möglichkeiten auf. Die erste Mondlandung am 21. Juli 1969 hatte eine solche Dimension – und die Entschlüsselung des menschlichen Genoms: Zehn Jahre brauchten weltweit knapp 1.000 Forscher, darunter der US-Biologe Francis Collins und der US-Unternehmer Craig Venter, bis sie das letzte Schnipsel unseres Erbguts entziffert hatten. Mehr als zwei Milliarden Euro flossen in das Projekt. Dann, im Juni 2000, war es so weit. Bei einem Empfang im Weißen Haus konnte der damalige US-Präsident Bill Clinton verkünden: „Die heutige Veröffentlichung des menschlichen Genoms ist ein epochaler Triumph der Wissenschaft.“ 525 Statt wieder nur aus der Ferne zu applaudieren, soll Europa den nächsten Paukenschlag selber setzen. So plant es jedenfalls die Europäische Kommission: Unter Leitung von Vizepräsidentin Neelie Kroes sucht die EU wie bei einer Castingshow Europas Superforscher. Dafür hat die Niederländerin die Latte hoch gehängt. Die Wissen-schaftler sollen europaweit kooperieren, die großen Probleme der Gesellschaft angehen, viel riskieren, und ihre Projekte sollen einen hohen wirtschaftlichen Ertrag abwerfen. Um das große Ziel zu erreichen und Europas Forschung im Wettlauf mit den USA und Asien an die Spitze zu katapultieren, macht die Kommission einen so gigantischen Berg Forschungsgeld locker wie noch nie. Die beiden Siegerprojekte erhalten in den nächsten zehn Jahren jeweils eine Milliarde Euro Förderung. Bisher flossen im Durchschnitt 12 bis 15 Millionen Euro in solche Kooperationen. Doch mit Kleckerbeträgen, so die Überzeugung der Brüsseler Bürokraten, lassen sich wissenschaftliche Durchbrüche heute kaum mehr realisieren. Zumal weltweit der Wettbewerb um die Spitzenposition bei Inno-vationen zunimmt. Das belegt die Entwicklung der Forschungs-ausgaben. Da hat selbst China inzwischen Deutschland überholt, das industrielle Kernland des Alten Kontinents. Jeweils die Hälfte der Förderung für die Sieger der neuen Forschungs-initiative stammt aus dem EU-Haushalt; die andere Hälfte finanzieren die Mitgliedstaaten sowie Dutzende Unternehmen, darunter Nokia und Airbus. Die EU will die Unternehmen intensiv in das gesamte Projekt einbinden, deshalb waren auch Forscher aus der Wirtschaft in der 25-köpfigen Auswahljury dabei. Diese Zusammenarbeit soll sicherstellen, dass die Projekte Europas Industrie Zukunftsmärkte eröffnen – und gut bezahlte Arbeitsplätze entstehen lassen. Sechs Großforschungsteams sind an den Start gegangen. Die EU-Kommission sammelte für die erste Runde ihrer sogenannten 526 Flagg-schiff-Initiative vor allem Ideen, in denen Informations- und Kom-munikationstechniken eine tragende Rolle spielen. Gerade dort verliert Europa seit Jahren an Boden: Ob Halbleiter, Internet oder Unterhaltungselektronik – nur wenig davon wird noch hier hergestellt oder entwickelt. Das große EU-Forschungsvorhaben soll das Blatt nun wenden – und zugleich drängende Probleme der Menschheit lösen. Und tatsächlich hat jedes Projekt für sich das Zeug, ein neues Technikzeitalter einzuläuten. Etwa jenes Wundermaterial, aus dem Europas Forscher extrem schnelle Computerchips produzieren wollen und Smartphones, die sich zusammenrollen und hinter das Ohr stecken lassen. Oder Roboter, die sich allein in Fabriken, Wohnungen und auf der Straße zurechtfinden und uns in fast allen Lebenslagen zur Hand gehen. Eine andere Gruppe will das menschliche Gehirn im Computer nachbauen – sogar ein Bewusstsein soll unser Maschinen-Pendant entwickeln können. B.V.6.4 Neue Potenziale nutzen - Beispiel Griechenland – Erneuerbare Energien für Griechenland Doch bei den obigen Bemühungen dürfen wir es nicht belassen. Wir müssen die Potenziale derjenigen Länder wecken, die besonders von dem derzeitig notwendigen Strukturwandel betroffen sind. Beispiel Griechenland: Am 23.-24. November trafen sich in Athen Parlamentarier aus allen 27 EU-Staaten und dem EU-Parlament, um mit griechischen Parlamentariern über Erneuerbare Energien zu sprechen. Bei dem Treffen zum Thema „Renewable Energy and Energy Efficiency – Ways out of the economic crisis!“ stand der Ausbau der Erneuerbaren Energien und der Effizienztechnologien als Wirtschaftsmotor für Griechenland im Vordergrund. 527 Bislang hängt die Energieversorgung des Landes an Erdöl-, Kohle- und Gasimporten aus Russland, dem Iran und Saudi-Arabien. Das Erneuerbare Energien und das Effizienz Potential des Landes wird trotz eines Erneuerbaren-Energien Gesetzes kaum ausgeschöpft. Das liegt unter anderem daran, dass die Fremdfinanzierung kaum funktioniert. Bankkredite sind nur noch für kleinere Projekte bis 10kW in einer vernünftigen Zeit zu bekommen. Bei einem 100 kWp Projekt warten die Kunden vom Antrag des Kredits bis zur Ausschüttung des Geldes teilweise 2,5 Jahre. Problematisch ist dabei auch, dass deutsche und andere europäische Banken die Bankgarantien einer griechischen Bank nicht mehr an-erkennen. Aber auch, dass die Energieversorger die Antragstellung verzögern, bei kleinen Anlagen bis 10kW dauert dies nicht selten auch mal ein halbes Jahr, bei 100kW sind 1-2 Jahre üblich. Die Zahlungen der Einspeisevergütungen vom Energieversorger an die Endverbraucher für 10kW Projekte sind in der Regel noch pünktlich. Bei 100kW oder mehr werden die Zahlungen durch den griechischen Staatskonzern PPC seit Anfang 2012 nicht oder sehr verspätet bezahlt. Da aber die finanzierende Bank ihre Rate pünktlich bekommen will, wird nach der 3. Mahnung das Projekt enteignet. Dies führt zunehmend dazu, dass getätigte Investitionen wegen unverschuldetem Zahlungsverzug bei den Vergütungen in Konkurs gehen. Erschwert wird dies noch dadurch, dass die griechische Regierung nun über zwei Jahre rückwirkende Besteuerung von Vergütungseinnahmen beschlossen hat, die viele Wind- und Solarunternehmen zusätzlich in finanzielle Nöte bringt. Statt dass die griechische Regierung Investitionen in Erneuerbare Energien als Chance zur wirtschaftlichen Gesundung begreift, setzt sie aktuell vor allem mittelständische Unternehmen zunehmend unter Druck. Und statt ausschließlich mit Sparauflagen die griechischen Finanzen zu sanieren, muss die EU zusammen mit Griechenland endlich ein funktionierendes Wirtschaftsprogramm auflegen – Erneuerbare 528 Energien und Energieeffizienz gehören Schwerpunkte in ein solches Programm. als unverzichtbare An diesem Beispiel zeigt sich, dass sich die griechische Regierung gemeinsam mit ihren Bürgern mit Hilfe der europäischen Partner „von den Füßen auf den Kopf stellen muss“, um aus Potenzialen auch Erträge zu erwirtschaften! B.V.7 Ein Europäischer (Gesellschafts-)Vertrag „Bewegen wir uns auf ein posteuropäisches Zeitalter zu, ein paradoxes Wiederaufleben der Kleinstaaterei im Zeitalter der Globalisierung? Oder beginnt mit dem Schock, der uns erfasst, wenn wir realisieren, dass die Europäische Union untergehen könnte vielleicht die historische Wende von der nationalstaatlich dominierten in die trans-nationale Politik und Gesellschaft Europas?“ fragt Ulrich Beck in seinem Buch Das deutsche Europa. Welche politische Gestalt muss ein Europa annehmen, das sich in den Augen der Bürger vom Schreckgespenst zum Herzensanliegen ver-wandelt? Was heißt Europa für die einzelnen Menschen, und welche Prinzipien für einen neuen Gesellschaftsvertrag für Europa lassen sich daraus entwickeln? Was muss in einem solchen Gesellschaftsvertrag festgeschrieben werden und wie sollte er durchgesetzt werden? Als zentrale Bausteine eines solchen Gesellschaftsvertrages gelten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Tatkraft und Selbstbeschränkung. Im Einzelnen gelten folgende Ansätze: • Beschleunigung der Integration Kernelemente europäischer Politikbereiche wie Außen- und Sicherheitspolitik, Budget- und Steuerpolitik, der Zukunftsinvestitionen sowie der Rechts-politik 529 • bei gleichzeitiger Rückverlagerung der Kompetenzen wie Kulturpolitik, bestimmte Bereiche der Agrarpolitik; ebenso Bereiche der Struktur-, Sozial- und Gesundheitspolitik. • Überarbeitung des Maastrichtvertrages • Stärkung des Europäischen Parlaments • Stärkung des Mitbestimmungsrechts der Bürger Ende Mai 2014 wird das Europäische Parlament neu gewählt – es wird mächtiger werden, die Abgeordneten rühriger, ehrgeiziger und jünger denn je. Die neuen Europäer müssen die Probleme ungeschminkt beim Namen nennen. Und sie müssen sich auf neue Ziele einigen: pragmatisch, konkret und auf kommende Dinge bezogen. So muss Europa den Chinesen zeigen, dass auch Demokratien wett-bewerbsfähig sein können. Hier geht es um nichts Geringeres als die Zukunft freier Gesellschaften auf dieser Erde. B.VI. Den Wandel gestalten - Ideen konkret machen Welches sind die Voraussetzungen für die Zukunftssicherung des Innovationsstandortes Deutschland und Europa? Wie werden durch Innovationen Nachhaltigkeit und Ressourcen-Effizienz gefördert? Und wie werden eigentlich Menschen zu Erfindern? Welche Ideen wollen und können wir konkret machen? An welchen Zukunftsbildern sollten wir uns orientieren und damit in eine aktive Zukunftsgestaltung einfließen und den Alltag prägen? Ich verweise hier auf die Zukunfts-bilder von Werner Mittelstaedt: Nachhaltige Energiezukünfte: Für die nähere Zukunft muss eine nachhaltige Strom-erzeugung aus möglichst zu ein hundert Prozent regenerativen Energiequellen angestrebt werden. Zu großen Teilen ist dafür eine dezentrale Stromerzeugung erforderlich. Auch zentralisierte Stromerzeugung sollte möglichst zu ein hundert Prozent aus regenerativen Quellen stammen (z.B. Wüstenstrom, solar-thermische 530 Kraftwerke und Solarfarmkraftwerke) und primär nur für die öffentlichen Infrastrukturen und zum Teil für die Industrien erforderlich sein. Klimavorsorge: Um das Leben und Überleben im Kontext der globalen Erwärmung zu sichern sind mehrere Maßnahmen erforderlich: Vorsorgliche Erhöhung von Deichen als Schutz an Fluss- und Meeresufern. Anpassungen von Dämmen und Flüssen und Renaturierung von Flussbetten. Massive Qualitätssteigerungen an bestehenden Deichen und Dämmen. Vorsorge bedeutet auch den Aufbau einer nachhaltigen Tourismusbranche, also den Rückbau von sog. Ferienparadiesen und nachhaltigen Umbau von Ferienanlagen. Die Menschen der Zukunft favorisieren sanften Tourismus mit geringen Entfernungen zu Urlaubszielen, die Flugreisen weniger erforderlich machen. Vorsorge bedeutet auch groß angelegte Aufforstungs-programme und besten Schutz für Wälder und Regenwälder. Erhalt der Biodiversität: Das Verursacherprinzip ist Zielvorgabe und Richtschnur zum Schutz der Umwelt und wird durch strengste gesetzliche Regelungen wirksam angewendet. Dazu werden eine möglichst vollständige Technikfolgeabschätzung angestrebt und vollständige Ökobilanzen für alle Produkte (Waren und Dienst-leistungen) zur Pflicht. Enorm wichtig ist der Ausbau eines global verbindlichen Naturschutzgebietssystems. Individuelle Mobilität: Mögliche Konzepte hierfür sind etwa stark sinkende Mobilitätsanforderungen zur Ausübung der Berufe, zum Beispiel durch verstärkte Telearbeit und der Übergang zu Mobilitätskonzepten, die den Besitz eigener Automobile drastisch reduzieren und das Verkehrsaufkommen drastisch senken. Neue Nutzungskonzepte für Produkte: Möglichst viele Produkte sollten häufig und länger genutzt werden (z.B. Fernsehgeräte, Elektrogeräte, Fahrräder, Handys, Möbel, etc.). Die Geräte werden für eine bestimmte Zeit genutzt (gemietet) und vom Hersteller zurückgenommen. Die Nutzer zahlen eine relativ große Zusatzsumme auf die Nutzungskosten, die sie bei der Rückgabe zurückerhalten (eine Art Pfand). Verbesserung der Lebensverhältnisse in armen Ländern: Konzepte mit dem Ziel der Hilfe zur Selbstentwicklung enthalten folgende Maßnahmen: • • • Aufbau von lokalen und regionalen Agrarmärkten in den armen Ländern des Südens. Das Ziel ist eine vollständige Selbstversorgung. Verbot der Nutzung der Ackerflächen für Nutzpflanzen zur Energie-erzeugung. Größte Anstrengungen, die Geburtenrate an die Sterbensrate anzupassen (Bildungsprogramme, Ausbau der Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen, Verminderung ungewollter Schwangerschaften durch Verhütung und 531 • Familienplanung. Anhebung des Lebensstandards als Entwicklungsziele mit höchster Priorität). Wesentlich mehr Anstrengungen aller Länder der Erde um die acht Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen bis zum Jahr 2015 zu verwirklichen. Alternative Ressourcenkonzepte: Den unnötigen Energie- und Rohstoffverbrauch zu reduzieren wird in Wissenschaft, Technologie, Industrie und Wirtschaft zum Wettbewerbsvorteil und bringt im Privatleben Prestigegewinn. Politische Förderungen sorgen für Effizienzsteigerungen bei der Nutzung von Energie und Rohstoffen als Triebkraft in Wissenschaft, Technologie, Industrie und Wirtschaft. Die Langlebigkeit von Produkten (Reparaturgesellschaft / Kreislaufwirtschaft) wird zum Qualitätsmerkmal. Nachhaltige Lebensstile und Konsummuster: Folgende vier Wertorientierungen würden den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft stärken, wären sie viel mehr verbreitet: 1. Aus dem dominierenden big, biggest wird ein small, smaller smallest werden, wo immer nur möglich. 2. Der zunehmenden Beschleunigung in unserer Zivilisation wird eine Tendenz zur Entschleunigung entgegengesetzt (Langsamkeit als Tugend, mehr Zeit zum Nachdenken). 3. Statt Quantität steht Qualität im Vordergrund. 4. Das Denken und Handeln bezieht lange Zeiträume und die Lebens-bedingungen kommender Generationen ein. Friedliche Welt: Friedenspädagogik wird ein fester Bestandteil im Bildungswesen. Lernen für eine nachhaltige Entwicklung: Dafür könnte das Grundwissen der nachhaltigen Entwicklung als Pflichtfach an den Schulen eingeführt werden, Darüber hinaus wird Detailwissen über Nachhaltigkeit in allen Bereichen der Wirtschaft in Theorie und Praxis erworben. B.R.-Kommentar: Die obigen Zukunftsbilder bilden einen ersten Ansatz der Verwirklichung. Die Ausgestaltung der jeweiligen Zu-kunftsbilder kann und muss noch weit über die obigen Ausführungen hinausgehen. B.VI.1 Die Natur hat ihren Preis 532 Die Biodiversität trägt nicht nur zum menschlichen Wohlbefinden bei, sie liefert auch Medikamente, Nahrungsmittel und Rohstoffe. Bislang sind diese Naturgüter kostenlos. Nach Ansicht von Experten muss sich das in Zukunft ändern. Denn der Verlust der Biodiversität steigt dramatisch an. Insbesondere Unternehmen profitieren von den kosten-losen Dienstleistungen unserer Ökosysteme. Die 3.000 größten Aktien-gesellschaften verursachen 2,2 Billionen US-Dollar Umweltschäden. Einige Unternehmen investieren bereits in die Berechnung, Erfassung und Bilanzierung von Umwelteinflüssen. Doch das ist erst der Anfang. Nach Ansicht von Umweltorganisationen, wie dem Global Nature Fund, reichen freiwillige unternehmerische Absichtserklärungen nicht aus, um den Verlust der biologischen Vielfalt einzudämmen. Es wird eine Einführung einer verpflichtenden ökologischen Gewinn- und Verlustrechnung für wesentliche Umweltaspekte wie Landverbrauch, Wasser oder CO2 gefordert, da aus einer Verpflichtung weitere Lenkungselemente wie Steuern auf den Verbrauch von Naturkapital eingeführt werden können. Umweltschädliche Güter würden somit teurer und die Hersteller müssten für die verursachten Schäden aufkommen – letztlich natürlich der Verbraucher. Fehlende politische Reglementierungen sollen Unternehmen jedoch nicht davon abhalten selbst tätig zu werden. Im Gegenteil: Unter-nehmen, die sich frühzeitig mit ihren Umweltauswirkungen beschäftigen, sichern die Lieferkette ab, bauen die Beziehung zu Stakeholdern aus, ziehen sozial verantwortliche Investoren an, verbessern die Arbeitsproduktivität, und nehmen gleichzeitig recht-liche Anforderungen vorweg. Neben diesen Chancen, die der Biodiversitätsschutz mit sich bringt, müssen Unternehmen auch die vielfältigen direkten und indirekten unternehmerischen Risiken aus dem Biodiversitätsverlust berücksichtigen. B.VI.2 Wachstumsmärkte von morgen 533 Das chinesische Wirtschaftswachstum wird gemeinhin als der Motor der Weltwirtschaft dargestellt. Zudem wird Asien und insbesondere China immer als ‚Place to be‘ für die Wirtschaft genannt – doch bei der deutschen Wirtschaft scheint das nur bedingt angekommen zu sein. Laut Berechnungen von Handelsblatt und der auf Schwellenländer spezialisierten Unternehmensberatung EAC erwirtschafteten die 30 Dax-Konzerne im vergangenen Jahr 2012 lediglich 18 Prozent ihres Umsatzes in Asien. Im schwächelnden europäischen Heimatmarkt erzielten die 30 Riesen dagegen 55 Prozent bzw. stolze 734 Mrd. Euro. Schaut man sich die Asienzahlen etwas genauer an, fällt das Ergebnis ernüchternd aus. Der Anteil Chinas am Gesamtumsatz betrug 2012 lediglich 11 Prozent bzw. 115 Mrd. Euro. Bereinigt man diesen Wert nun noch um den Umsatzriesen VW, so fallen 50 Mrd. Euro weg und die Summe der restlichen 29 Konzerne sinkt auf rund 65 Mrd. Euro. Der Wolfsburger Autobauer ist bekanntermaßen seit 35 Jahren im Reich der Mitte aktiv und hat sein Engagement dort seither kontinuierlich ausgeweitet. Doch von den anderen Dax-Konzernen ist mehrheitlich nicht viel zu hören. Von daher besteht noch jede Menge Potenzial, um in China präsent zu sein und von der dortigen Wirtschaftsentwicklung zu profitieren. Doch nicht nur China bietet der deutschen Wirtschaft noch große Potenziale, auch aufstrebende Länder wie Indonesien oder die Türkei werden immer wichtiger. Ein Ranking der besten neun aus 50 Wachstumsmärkten weltweit: Platz 1: Nigeria - Mit nur 2,6 Dollar weist Nigeria die niedrigsten Arbeitskosten der 50 untersuchten Märkte auf. Das macht es als Beschaffungsmarkt äußerst interessant, ebenso wie sein Rohstoffvolumen im Wert von 92 Milliarden US-Dollar. Platz 2: Indonesien - Indonesien verfügt über förderbare Ressourcen im Wert von 101 Milliarden US-Dollar und damit über das höchste Volumen der neun kommenden Absatzmärkte. Mit 240 Millionen Einwohnern ist Indonesien das viertgrößte Land der Welt. Diese zwei Kriterien - neben immer noch verhältnismäßig geringen 534 Lohnkosten und der stabilen innenpolitischen Lage- machen Indonesien zu einem der aussichtsreichsten Wachstumsmärkte. Platz 3: Südkorea – 1.723 Dollar pro Kopf steckte Südkorea im Jahr 2011 in Forschung und Entwicklung - und damit mehr als alle anderen untersuchten Ländern. Als Beschaffungsmarkt belegt Südkorea den vierten Platz. Als Absatzmarkt überzeugt der asiatische Staat, weil er bereits im Jahr 2011 Importe im Wert von 525 Milliarden Euro einführte. Platz 4: Mexiko - Bereits 328 Milliarden Dollar Direktinvestitionen flossen 2011 nach Mexiko - der höchste Wert im Ranking. Dazu locken 112 Millionen Einwohnern. Diese Kombination macht Mexiko zum zweitbesten Absatzmarkt der Welt für die deutsche Wirtschaft - so die Experten von Valuneer. Als Beschaf-fungsmarkt kann das Land weniger überzeugen: Platz 11. Insgesamt reicht es für Rang vier. Platz 5: Türkei - Im Ranking der besten Absatzmärkte erreicht die Türkei mit einer durchschnittlich kaufkräftigen, aber dafür umso größeren Bevölkerung von 75 Millionen Einwohnern einen guten dritten Platz. Im Jahr 2011 wuchs das BIP um satte 8,5 Prozent. Als Beschaffungsmarkt ist das Land dafür weniger attraktiv (Platz 10 von 50). Insgesamt: Platz fünf. Platz 6: Algerien - Das Land erreicht in keiner Kategorie Bestwerte, kann aber als Beschaffungsmarkt überzeugen (Platz 2). Einkaufsmanager sehen viel Potenzial, außerdem verfügt das Land über immense Rohstoff-Ressourcen im Wert von 72 Milliarden Dollar. Die Arbeitskosten sind mit 7,3 Dollar noch deutlich geringer als z.B. in der Türkei (14,5 Dollar) oder Mexiko (14,6 Dollar). Damit erreicht Algerien insgesamt Platz sechs. Platz 7: Polen - Das Land punktet bei deutschen Investoren vor allem durch seine räumliche Nähe als günstiger Beschaffungsmarkt. Die politische Lage ist stabil. 39 Millionen Einwohner freuen sich über ausländische Waren. 2011 gingen immerhin Importe im Wert von 170 Milliarden Dollar ins Land. Auch wenn die Lohnkosten verhältnismäßig hoch sind - Polen bleibt ein attraktiver Markt. Platz 8: Ghana - Das afrikanische Land kann mit seinem starken Wachstum punkten. 2011 stieg das BIP um 13,5 Prozent. Kein anderer der 50 betrachteten Wachstumsmärkte wies solche Steigerungsraten auf. Dazu lockt Ghana mit günstigen Arbeitskosten. Allerdings gilt das westafrikanische Land nach wie vor als wenig sicher und sehr korrupt. 535 Platz 9: Malaysia - Mit einer verhältnismäßig kleinen Bevölkerung von 28 Millionen Einwohnern kann Malaysia kaum punkten. Auch die verhältnismäßig hohen Arbeitskosten von 15,6 Dollar (absolutes BIP geteilt durch BIP pro Person) machen das Land nicht außergewöhnlich attraktiv. Spannend ist Malaysia vielmehr als Beschaffungsmarkt. Die Befragten der Studie von Valuneer und ICC zu Trends internationaler Einkaufsmanager bewerteten den Markt überaus positiv. Wachstumsmärkte von morgen – wie oben aufgeführt – sind für Ex-portnationen wie Deutschland von enormer Wichtigkeit. Auf deren Bedürfnisse gilt es sich einzustellen. Beispiel Automobilbranche: Das Absatzwachstum der deutschen Autohersteller in China hält an. Zuwachsraten von 40% und mehr gehören aber der Vergangenheit an. BMW strebt dieses Jahr 10% an, Audi 15% und VW will das Marktwachstum von konservativ geschätzt 6% übertreffen. Insgesamt könnten im laufenden Jahr 14 Mio. Pkws in China verkauft werden. Seit 2009 stieg der Marktanteil deutscher Hersteller von 17,4 auf 21,4%. Gleichzeitig hat sich der Absatz auf 2,84 Mio. Fahrzeuge verdoppelt. In der Premiumklasse liegt der Marktanteil sogar bei 80%. In diesem Segment wird das Absatzwachstum im laufenden Jahr auf 10 bis 15% geschätzt. Um der boomenden Nachfrage nachzukommen, bauen alle deutschen Hersteller ihre Kapazitäten vor Ort aus. Besonders Daimler hat Nachholbedarf. Als einziger deutscher Her-steller mussten die Schwaben zuletzt über Einbußen in China berichten. Am stärksten aber ist der Peugeot-Konzern ins Hintertreffen geraten und hat das Jahr mit einem Rekordverlust von 5 Mrd € abgeschlossen. Die Franzosen investieren nur zögerlich in Wachs-tumsmärkte wie China und erzielen nur 29% ihres Umsatzes außerhalb Europas. In Europa haben dagegen alle Hersteller große Probleme. In der EU ist die Zahl der Neuzulassungen im März zum 18. Mal in Folge geschrumpft, nämlich um 10,2% auf 1,3 Mio. Fahrzeuge. Im gesamten 536 1. Quartal 2013 betrug der Rückgang 9,8% auf 3 Mio. Fahrzeuge. Und ein Ende des Abwärtstrends ist nicht in Sicht. Besonders hart trifft es Peugeot, Renault und Fiat, die hauptsächlich für den europäischen Markt produzieren und daher vom Wachstum in Übersee so gut wie gar nicht profitieren. Immerhin stiegen die Verkäufe im 1. Quartal in China um 25% auf 3,9 Mio. Fahrzeuge und in den USA um 6,3% auf 3,7 Mio. Fahrzeuge. Leichte Zuwächse meldeten auch Brasilien und Russland. Ein Grund, dass die deutschen Autokonzerne international ver-gleichsweise gut dastehen, ist deren hohe Innovationskraft. 39% aller Innovationen kamen im vergangenen Jahr aus Deutschland – Tendenz steigend. Auf den Plätzen 2 und 3 folgen mit großem Abstand Japan mit 23% und die USA mit 15%. Fahrerassistenz-Systeme und Spritverbrauch senkende Technologien werden besonders für die zahlungskräftigen älteren Kunden immer wichtiger und in allen Fahrzeugklassen angeboten. In Zeiten hohen Preisdrucks gelingt es VW am besten, mit Inno-vationen auch die Rendite zu verbessern. Das Baukastensystem erlaubt es, neue Techniken ohne größere Anpassungen in unterschiedliche Modelle einzubauen – ein entscheidender Wettbewerbsvorteil gegen-über anderen europäischen Massenherstellern. B.VI.3 Mehr Menschen in die Selbstständigkeit Die Gründung neuer Unternehmen ist für die Wirtschaft von großer Bedeutung. Doch in Deutschland ist die Gründerstimmung verflogen: Den Sprung in die Selbständigkeit wagten 2012 so wenige Menschen wie schon lange nicht mehr. 537 Die Konjunkturaussichten sind mau, zugleich sinkt die Arbeits-losigkeit: Diese Wirtschaftslage ist Gift für Firmengründer. Denn die einen haben einen sicheren Job und müssen nicht, andere trauen sich wegen fehlender Konjunkturimpulse nicht, ihr eigener Chef zu werden. Die Folge: In Deutschland wagen immer weniger Menschen den Schritt in die Selbständigkeit. Im vergangenen Jahr gründeten nur 775.000 Menschen eine Firma im Voll- oder Nebenerwerb - sieben Prozent weniger als 2011 und so wenige wie nie seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2000, wie die staatliche Förderbank KfW mit-teilte. „Der Rückgang der Gründungstätigkeit ist besorgniserregend, denn Gründer helfen unsere Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und Arbeits-plätze zu schaffen“, sagte KfW-Chefvolkswirt Jörg Zeuner. Die KfW betont: Durch Konkurrenz zu bestehenden Unternehmen fördern Existenzgründer Innovationen und Strukturwandel. Verschläft Deutschland seine Zukunft? Es gibt aber auch positive Beispiele: Tirol /Österreich. Immer mehr Menschen wagen den Weg in die Selbstständigkeit. Die Motive hinter diesem Schritt: „Ich will etwas verändern.“ „Ich wollte immer schon selbstständig sein.“ „Ich wollte ein zweites Standbein haben.“ Diese Aussagen stammen aus einer Befragung von Unternehmensgründern im Auftrag des Gründerservice der WKÖ und zeigen, wie vielfältig die Motive sind, die hinter diesem Schritt stecken. In Tirol entstanden im ersten Halbjahr 2013 1.335 neue Unternehmen, im Vergleichszeitraum 2012 waren es 1.251. Österreichweit wagten von Jänner bis Juni 2013 – ohne den Berufszweig der selbstständigen Personenbetreuer – 14.798 Neugründer den Schritt in die Selbstständigkeit, was ein Plus von 2,3 Prozent und 398 Gründungen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum bedeutet. Als wichtigstes Motiv für die Gründung eines Unternehmens geben 64 Prozent der insgesamt 1.489 Befragten an, in ihrer Zeit- und Lebensgestaltung flexibler sein zu wollen. 61,5 Prozent wollen die Verantwortung, die sie als Angestellte zu tragen hatten, im eigenen Unternehmen einbringen und für 59 Prozent war es ausschlag-gebend, „der eigene Chef“ sein zu können. „Ich wollte immer schon selbstständig sein“ gaben 57 Prozent an, „in meinem Alter bietet die Selbstständigkeit eine neue Berufsperspektive“ rund 57 und „ich wollte mein Einkommen steigern“ knapp 52 Prozent. 538 Die meisten Unternehmensgründer sind zwischen 36 und 45 Jahre alt und haben einen Universitätsabschluss (19 Prozent) oder eine Lehrabschlussprüfung (19 Prozent). Rund 90 Prozent der Betriebe werden neu gegründet, nur knapp 5 Prozent übernommen und ein Drittel der Selbstständigen startet im Nebenberuf. Was haben die Selbstständigen vorher gemacht? 33 Prozent waren in der Privatwirtschaft angestellt, 25 Prozent leitende Angestellte in der Privatwirtschaft und knapp sechs Prozent kommen aus der Arbeitslosigkeit. B.R.-Kommentar: Die Unternehmensgründer kurbeln das Wirtschafts-wachstum an, was gerade in unsicheren Zeiten ein unschätzbar wichtiger Impuls und ein ermutigendes Signal ist. Es wird mehr investiert und es entstehen Arbeitsplätze. Dadurch wird die Kaufkraft gestärkt und der Wohlstand erhöht. B.VI.4 Innovationen (Neugier, Gemeinsinn, …) Der Weg in die Selbstständigkeit wird im Idealfall durch eine Inno-vation geebnet. Selten ist es eine Einzelperson, die eine Innovation auch umsetzen kann. Die Regel ist, dass sich mehrere Personen zusam-menfinden, um die Idee auch in ein tragfähiges Produkt oder auch eine Dienstleistung umsetzen. Gelegentlich kann dabei Großes entstehen, wie der nachfolgende Taz-Bericht „Graphen, ein Wunderstoff mit Tücken“ vom 10.04.2013 zeigt: Durchsichtig, biegsam, leitfähig, reißfest: Das Maschendrahtmolekül Graphen gilt als Material der Zukunft. Die EU fördert jetzt ein Großprojekt zu dem ‚Wunderstoff‘. Doch noch ist unklar, ob er im Großen hält, was er theoretisch verspricht. Es ist eines der großen Forschungsvorhaben in Europa. ‚Graphene-CA‘ hat zum Ziel, den Stoff Graphen in anwendungsreife Produkte umzusetzen. Bis zu einer Milliarde Euro Fördergeld will die Europäische Kommission dafür bereitstellen. Eine durchaus mutige Entscheidung, denn noch ist nicht klar, ob sich die theoretischen Möglichkeiten des ‚Wunderstoffs‘ großtechnisch realisieren lassen. Das Geld fließt im Rahmen der ‚Future and Emerging Technologies Flagship Initiative‘. Forschergruppen und Unternehmen in mehreren europäischen Ländern beteiligen sich an dem Vorhaben. Koordiniert wird es von dem Physiker Jari Kinaret, der an der Chalmers-Universität Göteborg arbeitet. Graphen hat viele Eigenschaften, die 539 aufhorchen lassen. Es leitet elektrischen Strom weit besser als herkömmliche Halbleiter. Es ist durchsichtig und eignet sich daher für Bildschirme und Solarzellen. Und es hat eine hervorragende Wärmeleitfähigkeit. Obendrein ist der Wunderstoff enorm fest und weckt damit Hoffnungen auf stabile Verbundwerkstoffe in Autos und Flugzeugen. Graphen ist eine besondere Form von Kohlenstoff. Sein Aufbau ähnelt einem Maschendrahtzaun. Die Kohlenstoffatome liegen in einer Ebene und sind unter-einander verbunden, wobei sie ein Netz aus sechseckigen Waben bilden, eine Art Folie aus nur einer Atomlage. Das Material ist biegsam und zugleich reißfester als Stahl. Elektrische Ladungen bewegen sich in Graphen theoretisch 100-mal schneller als in Silizium, dem Grundmaterial integrierter Schaltungen in heutigen Computern. Vor allem diese Eigenschaft macht das Graphen zum Gegenstand kühner Visionen. Die wichtigsten Bauelemente des Computers sind Transistoren. Sie schalten und verstärken die elektrischen Signale in der Maschine. Meist bestehen sie aus einem Stück Halbleiter mit drei elektrischen Anschlüssen. Zwischen zweien davon fließt ein Strom. Wie stark er ist, hängt von der elektrischen Spannung am dritten Anschluss ab. Indem man sie verändert, kann man den Transistor schwach oder stark leitend machen, also zwischen ‚Null‘ und ‚Eins‘ umschalten. Die Rechenleistung eines Computers hängt davon ab, wie schnell sich die elektrischen Ladungen durch seine Transistoren bewegen. Um dieses Tempo zu erhöhen, macht man die Transistoren immer kleiner, so dass die Ladungen kürzere Strecken zurückzulegen haben. Mittlerweile ist es aber kaum noch möglich, die Bauelemente weiter zu schrumpfen. Die Grenze ist anscheinend bald erreicht. Hier kommt das Graphen ins Spiel. Weil es elektrische Signale viel schneller leitet als Silizium, lassen sich aus ihm schnellere Schaltelemente konstruieren. Allerdings lässt sich das extrem dünne Graphen nur schwer handhaben. Und um es überhaupt in industrielle Prozesse einzubinden, muss man es in großen Mengen fertigen. „Es gibt viele Methoden, um Graphen herzustellen“, sagt Klaus Müllen, Direktor am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz. „Man kann es aus der Kohlenstoff-Form Graphit gewinnen, indem man Schicht um Schicht davon abpellt; jedoch sind Ergebnisse nicht besonders gut reproduzierbar. Ein anderes Verfahren sei die chemische Dampfabscheidung, die Zersetzung eines kohlenstoffhaltigen Gases an einer Oberfläche, wobei sich Graphen als Festkörperfilm abscheidet. Das gelingt bisher aber nur auf Metallflächen. Um den Wunderstoff zu elektronischen Bauelementen weiterzuverarbeiten, muss man ihn vom Metall auf einen Isolator übertragen, wobei er deutlich an Qualität einbüßt. 540 „Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Graphen aus einzelnen Bausteinen zusammenwachsen zu lassen“, sagt Müllen. Dazu kann man beispielsweise viele Benzolringe aneinanderfügen und so den molekularen Maschendrahtzaun Wabe um Wabe erweitern. Das Verfahren ist allerdings aufwendig und teuer. Auch lassen sich damit nicht beliebig große Graphenstücke herstellen, denn mit wachsender Ausdehnung gehen sie immer schlechter in Lösungsmittel über. Das erschwert es, die entstandenen Graphenstücke als dünne Filme abzuscheiden, wie man sie für elektronische Schaltungen braucht. Zwar haben Chemiker mittlerweile Wege gefunden, maßgeschneiderte Graphenmoleküle mit genau definierter Form, Größe und Zusammensetzung herzustellen. Doch größere Mengen lassen sich damit noch nicht synthetisieren. Indem man Siliziumkarbid, eine Verbindung aus Silizium und Kohlenstoff, auf mehr als 1.000 Grad erhitzt und kohlenstoffhaltige Gase darüber leitet, kann man Graphen auf einen Kristall aufwachsen lassen. Das Verfahren erlaubt es, Graphenfilme mit einigen Zentimetern Ausdehnung herzustellen. Leider binden sie jedoch an den Kristallträger und büßen dabei ihre Elektronenbeweglichkeit ein. Zusätzliche Schwierigkeiten tun sich auf. In Graphen müssen die Elektronen nur eine kleine Energiedifferenz überwinden, um ihre Atome zu verlassen und frei durchs Material zu wandern. Infolgedessen lässt sich der Strom, der durch einen Transistor aus Graphen fließt, nicht vollständig abschalten. Das macht ihn für digitale Schaltkreise nur bedingt geeignet. „Man kann die Eigenschaften des Materials diesbezüglich verbessern, indem man lange Streifen daraus herstellt oder Fremdatome darin einbringt“, sagt Müllen. Trotzdem sehen manche Forscher das Graphen eher als Material für die Analogtechnik, etwa für analoge Hochfrequenzschaltkreise, die Signalstärken verändern, statt Signale an- und auszuschalten. Ohnehin rücken noch andere Bereiche als die digitale Elektronik in den Blick, wenn es um neue Möglichkeiten des Graphens geht. So eigne sich die Kohlenstoff-Folie auch als Material für Energie-speicher, betont Müllen. Heutige Notebooks, Mobiltelefone und Digitalkameras beziehen ihren Strom oft aus Lithiumionenbatterien. Ein solcher Akku enthält typischerweise eine Elektrode aus Graphit, das aber nur in begrenztem Umfang elektrische Ladung speichern kann. Deutlich mehr Ladung speichern Metalloxide, jedoch werden sie beim Auf- und Entladen der Batterie zerstört. Umhüllt man die Metalloxid-Elektrode mit Graphen, bleibt sie über viele Lade-Entladezyklen hinweg intakt, wie Experimente gezeigt haben. Für andere Energiespeicher, die Superkondensatoren, kann man aus Graphen Elektroden herstellen, die eine viel größere Fläche haben als bisher erreichbar. Das verleiht den Kondensatoren ein größeres Speichervermögen und kürzere Ladezeiten. 541 Forscher der Universität von Kalifornien berichteten 2012, einen Superkondensator auf Basis von Graphen entwickelt zu haben. Er hält den Wissenschaftlern zufolge ebenso viel Ladung wie herkömmliche Batterien, lässt sich aber hundert- bis tausendmal so schnell auf- und entladen. B.R.-Kommentar: „Wenn du schnell gehen willst, gehe allein. Wenn du weit gehen willst, gehe gemeinsam”, heißt es in einem afrikanischen Sprichwort. Wichtig: Wie sieht das gemeinsame Gehen aus? Die Qualität im Miteinander bestimmt, wie weit wir gehen werden und auch mit wie viel Anstrengung das Gehen verbunden ist. Das gilt insbesondere beim bürgerschaftlichen Engagement. B.VI.5 Bürgerschaftliches Engagement Es gibt mittlerweile eine Berufsgruppe in Deutschland, die die Arschkarte gezogen hat: DER Politiker. Gegenüber den Politikern, der Politik und den Parteien gibt es ein rasendes Misstrauen. Das ist zu Teilen auch unglaublich ungerecht. Politiker gelten nur noch als Lobbyvertreter und haben keinen Anspruch auf Respekt. Neben den bekannten Politik-Verdrossenen (meist in den unteren Schichten) gibt es jetzt die Empörten a la Stephane Hessel. Deren Problem ist es, dass sie nicht wirklich wissen, was und wie es anders gemacht werden kann. Sie drücken Empörung aus, ohne konkrete Alternativen ins Spiel bringen zu können. Der Zerfall des Volkes in Verdrossene auf der einen und Empörte auf der anderen Seite ist für die Demokratie gefährlich. Die Alternative: tausend-fach! Bürgerschaftliches Engagement vor Ort – B.VI.5.1 Die Energiewende ist in Bürgerhand Ein wunderbares Beispiel ist das bürgerschaftliche Engagement für die Energiewende. Mehr als 80.000 Bürger sind in Deutschland 2012 schon in Energiegenossenschaften oder anderen Bürgerenergie-projekten aktiv. Das sind mehr Menschen als für den 542 größten deutschen Energieversorger E.on arbeiten. Die Energiewende ist damit längst in Bürgerhand. Ein schönes Beispiel für so ein Genossenschaftsprojekt befindet sich in der Gemeinde Grossbardorf. Die Gemeinde hatte bereits vor sieben Jahren eine Genossenschaft gegründet. Mit dem Kapital der Bürger vor Ort, haben knapp 1.000 Einwohner 15 Millionen Euro investiert und damit Biogas- und Photovoltaikanlagen und ein Nahwärmenetz ausgebaut. So produzieren sie heute über 470 Prozent des eigenen Strombedarfs und über 90 Prozent des Wärmebedarfs. Die Wertschöpfung des Projektes bleibt dabei in der Region, mit der Möglichkeit eines zusätz-lichen Verkaufs des überschüssigen Stroms. In Grossbardorf zeigt sich, dass so ein Zusammenschluss ein großes Projekt gut selbst stemmen kann und sich die Bürger in der Gemeinde so unabhängig von den Preissteigerungen der konventionellen Energien machen. Im November 2012 trafen sich auf Einladung des DGRV – Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisenverband e.V. rund 400 Vertreter von Energiegenossenschaften und anderen Bürgerenergieprojekten zum Bundeskongress „Energiewende – dezentral und genossenschaftlich“ in Berlin, um über ihre Erfahrungen mit Genossenschaften im Bereich der Erneuerbaren Energien zu diskutieren. Als Hauptredner betonte Bundesumweltminister Peter Altmaier die Aktualität des Genossenschaftsgedankens und seine Bedeutung für die Energiewende. Teilhabe und aktive Mitgestaltung seien wesentliche Elemente für den Erfolg der Energiewende, denn diese könne nur als Projekt der gesamten Gesellschaft gelingen, sagte Altmaier. Deshalb wolle er auch den Genossenschaftsgedanken von der Energie-erzeugung auf andere Bereiche der Energiewende übertragen, etwa auf die Sektoren Energieeffizienz, Wärme und Verkehr, vor allem jedoch auf den weiteren Ausbau der Netze. Genossenschaften seien eine Möglichkeit, seinen Vorschlag einer Bürgerdividende beim Netz-ausbau umzusetzen, so der Bundesumweltminister. 543 Die auf der Tagung vorgestellten Projekte zeigen, wie die dezentrale Energiewende gelebt und Wertschöpfung in der Region gehalten werden kann. „Die demokratische Grundstruktur der Genossenschaft ermöglicht die einvernehmliche Beteiligung von Bürgern, Unter-nehmen, Landwirten oder kommunalen Einrichtungen unter einem Dach. Trotz der unterschiedlichen Akteure ist hier eine konstruktive Zusammenarbeit für das gemeinsame Ziel möglich“, so Ott weiter. B.VI.5.2 Klimaschutz durch Kooperation Was soll die Kommune von morgen nicht alles sein? Unternehmerisch, sozial, lebenswert, nachhaltig, klimagerecht. Die Liste der An-forderungen ließe sich beliebig fortsetzen. All diese immer kom-plexeren Anforderungen werden an eine zunehmend schlankere Verwaltung herangetragen, denn diese arbeitet unter dem Gebot des sparsamen und transparenten Umgangs mit Steuergeldern. Doch was bedeutet das für den Klimaschutz und das Thema Energie? Im Energiebereich nehmen Städte und Gemeinden eine wichtige Rolle ein. Traditionell ist der erste Berührungspunkt mit dem Thema der eigene Energieverbrauch der Kommune auf kommunalen Liegen-schaften und in kommunalen Einrichtungen. Um hier für einen effizienten Umgang mit Energie zu sorgen, hat sich bereits seit vielen Jahren das kommunale Energiemanagement als äußerst praktisches Werkzeug erwiesen, dessen Aufbau sich in der Regel schnell bezahlt macht. Neben dem Management des Energieverbrauchs haben Kom-munen die Möglichkeit, selbst aktiv zur nachhaltigen Energie-versorgung beizutragen, zum Beispiel durch Vermietung eigener Dachflächen für Photovoltaikanlagen. Weiterhin haben Städte Gemeinden in der Stadtplanung und Bürgerberatung (z.B. durch Energieagenturen oder Energiesprechstunden) die Möglichkeit, auf den Energieverbrauch vor Ort Einfluss zu nehmen. 544 In der Kooperation liegt der Schlüssel: Bei all diesen Aufgaben und angesichts knapper Kassen bleibt nur wenig Spielraum für weiteres Engagement im Energiebereich und beim Klimaschutz. Daher sollten Städte und Gemeinden gerade hier keine Einzelkämpfermentalität an den Tag legen. Eine Zusammenarbeit mit Universitäten, Fach-hochschulen, örtlichen Firmen, Verbänden sowie lokalen Initiativen und Bürgern erweitert die Möglichkeiten und schafft Gestaltungsräume für neue und vielleicht auch bisher unkonventionelle Ideen. Öffentlich geförderte Projekte sind dabei eine lohnenswerte Möglichkeit, neue Allianzen zu schmieden und eine Anschubfinanzierung für Pilot-projekte oder ergänzende Klimaschutzmaßnahmen vor Ort zu gewin-nen. Solche Zusammenschlüsse unter Einbindung lokaler Akteure werden eine wichtige Rolle in der Stadt bzw. der Gemeinde der Zukunft einnehmen. So können und müssen sich alle Akteure die Frage stellen: „In welcher Stadt wollen wir morgen leben und was können wir dazu beitragen?" Das schafft Transparenz, stärkt die zivilgesellschaftliche Beteiligung und schont den kommunalen Haushalt. B.VI.5.3 Kann Deutschland die Pflegekrise meistern? Wer in Deutschland alt und pflegebedürftig ist, kann sich im Idealfall auf ein engmaschiges soziales Netz verlassen. Pflegeversicherung, Krankenversicherung und andere soziale Leistungen sind in Deutsch-land so gut, wie in kaum einem anderen Land. Die Absicherung sollte komfortabel sein – eigentlich. Denn immer mehr alte und kranke Deutsche werden mittlerweile zur Langzeitpflege ins Ausland abgeschoben, berichtet der britische Guardian. Grund dafür sollen die steigenden Kosten für Pflege bei immer geringeren Leistungen sein. Pflegezeit floppt gewaltig: Die zum Jahresbeginn eingeführte Pflege-zeit für Familien findet bei Unternehmen und Angestellten bislang kaum Anklang. Laut einer vorläufigen Statistik des Bundesfamilien-ministeriums haben bislang nicht einmal 200 545 Beschäftigte das Angebot zu einer Auszeit für die Pflege von Angehörigen genutzt, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet. Seit Anfang 2012 können Beschäftigte ihre Arbeitszeit für maximal zwei Jahre auf bis zu 15 Stunden pro Woche reduzieren, um nahe Angehörige zu pflegen. Um in dieser Phase finanziell abgesichert zu sein, zahlt der Arbeitgeber einen Gehaltsvorschuss – nach Ende der Pflegezeit müssen die Arbeit-nehmer dann so lange zu geringeren Bezügen arbeiten, bis dieser wieder ausgeglichen ist. Pflegesituation ist für die Gesellschaft eine tickende Zeitbombe: In Deutschland werden mehr als 1,6 Millionen Menschen von Ange-hörigen und ambulanten Diensten zu Hause gepflegt. Die allermeisten Unternehmen unterstützen pflegende Mitarbeiter jedoch in Eigenregie, ohne staatliche Hilfe – und nehmen dafür nicht selten enorme Belastungen in Kauf. Belastungen können für die Angehörigen und die Patienten selbst zu viel werden. Dann werden sie ins Ausland geschickt. Betroffen sein sollen laut dem Guardian-Bericht mittlerweile Tausende Alte und Kranke. Sie werden nach Osteuropa und Asien quasi umgesiedelt. Von Wohlfahrtsverbänden wurde diese Praxis bereits als „unmenschliche Deportation“ bezeichnet. Und die Situation könnte sich noch weiter verschärfen. Schließlich drohen die Kosten für Altenheime und Pflegeeinrichtungen immer weiter zu steigen. Gleichzeitig steigt die Zahl der bedürftigen Alten. Weil die Bevölkerung schrumpft wird auch die Pflege durch die Kinder oder andere Angehörige immer unwahrscheinlicher. Experten sehen in dieser Entwicklung bereits eine „tickende Zeitbombe“. 411.000 Pflegebedürftige mussten 2011 die staatliche Leistung „Hilfe zur Pflege“ beantragen, das sind fünf Prozent mehr als 2010. Wie die pflegerische Versorgung zukünftig für die steigende Anzahl von Hilfe- und pflegebedürftigen Menschen sichergestellt werden kann, ist eine der zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen im demografischen Wandel. Unsere Gesellschaft braucht also neue Strategien, um auch zukünftig eine qualitätsgesicherte und nachhaltige 546 Pflegeinfrastruktur zu gewährleisten und die vorhandenen (in-)formellen Pflegenetze mit professionellen Pflegekräften, Ange-hörigen, Nachbarn und Freund/innen zu stärken. Besonders brisant ist diese Frage gerade in Regionen mit niedriger Bevölkerungsdichte, hoher Bevölkerungsabwanderung, hohem Altenquotient (Anteil alter Menschen an der Bevölkerung) und zurückgehender Infrastruktur. Aber schon jetzt ist das freiwillige Engagement aus der Altenpflege nicht mehr wegzudenken. Oft haben Familienangehörige zu wenig Zeit, um sich umfassend um ihre Verwandten im Pflegeheim zu kümmern, oder sie leben an einem anderen Ort. Frühere Freunde der Bewohner sind häufig selbst pflegebedürftig oder bereits verstorben. Wenn kaum jemand – abgesehen von den Pflegekräften – für sie da ist, fühlen sich alte Menschen oft einsam und leiden darunter. Die freiwillig Engagierten bringen Farbe in das Leben der Bewohner der Altenheime. Diese freuen sich über ihre Gesellschaft, wenn sie mit ihnen zur Kirche und ins Café gehen, oder einfach nur mit ihnen reden. Vorlesen, zuhören, spazieren gehen – es gibt viele Möglichkeiten, sich im Altenpflegeheim freiwillig zu engagieren. Freiwillig Engagierte bereichern den Alltag unserer Bewohner und bereiten Lebensfreude. Sie sind ein wichtiges Bindeglied zum Leben außerhalb des Pflege-heims. Die Frage, inwiefern der Einsatz von Ehrenamtlichen in der Langzeitpflege dafür eine zukunftsträchtige und vielversprechende Strategie ist, wird aktuell viel diskutiert. Dazu müssten zukünftig deutlich mehr Ehrenamtliche für ein Engagement in der Altenpflege gewonnen und dort auch – ohne professionelle Pflege zu substituieren – systematisch und nachhaltig integriert werden. Auch wenn im letzten Jahrzehnt das gesellschaftliche Interesse an ehrenamtlichem Engagement gestiegen ist, ist aktuell das Einsatzfeld der Altenpflege gegenüber anderen Einsatzfeldern wie Sport, Freizeit, Kultur, Kinderund Jugendarbeit weniger nachgefragt. Es sind also weitere Maß-nahmen nötig, um der langen Tradition des ehrenamtlichen 547 Engagements im deutschen Gesundheits- und Pflegesystem einen zukunftsträchtigen und wachsenden Stellenwert zu sichern. B.VI.6 Mehr Sicherheit Sicherheit ist für uns Menschen ein elementares Grundbedürfnis. Sicherheit bezeichnet einen Zustand, der frei von unvertretbaren Risiken der Beeinträchtigung ist oder als gefahrenfrei angesehen wird. Mit dieser Definition ist Sicherheit sowohl auf ein einzelnes Individuum als auch auf andere Lebewesen, auf unbelebte reale Objekte oder Systeme wie auch auf abstrakte Gegenstände bezogen. B.VI.6.1 Mehr Sicherheit bei Lebensmitteln – Pferd statt Rind Frühjahr 2013 - Was in den letzten Monaten passiert ist, hat allerdings auch mir die Sprache verschlagen: Rind stand drauf und Pferd war drin. Das war nicht mehr ‚nur‘ Verbrauchertäuschung, sondern Betrug - und zwar im ganz großen Stil. Allein von November 2012 bis Januar 2013 wurden 359.722 Packungen Fertiggerichte mit einem Gewicht von 144 Tonnen nach Deutschland geliefert. Pferdefleisch in der Lasagne von Real, Metro, Kaiser's Tengelmann, Eismann, Edeka und familia Verbrauchermarkt! Ebenso in Tortellini, Cannelloni und Ravioli von Lidl, Aldi Süd, Aldi Nord, Kaufland und Nestlé. Dann die Eier: Hunderte Landwirtschaftsbetriebe in Deutschland haben systematisch die Vorschriften für die Haltung von Legehennen missachtet. Sie täuschten die Verbraucher, indem sie die Tiere auf viel engerem Raum als vorgeschrieben hielten. Die Bilder dieser be-dauernswerten Geschöpfe haben bestimmt noch viele von Ihnen vor Augen. Gleich darauf der giftige Schimmelpilz im Tierfutter: Knapp 4.500 Höfe in Niedersachsen sind damit beliefert worden. Auch hier das alte Lied: Mindestens 10.000 Tonnen des belasteten Maisfutters sind 548 bereits verfüttert! Das ist kein Kavaliersdelikt! Das Pilzgift kann sich schließlich in der Milch wiederfinden. Und es geht munter weiter: Jetzt wurden von den Niederländern 50.000 Tonnen Fleisch zurückgerufen, die auch undeklariertes Pferde-fleisch enthalten sollen. Höchstwahrscheinlich landeten davon auch einige Tonnen auf deutschen Tellern! Der eigentliche Skandal ist jedoch: Schon lange Zeit müssen die Unternehmen, der Handel und die Behörden Bescheid gewusst haben. Aber uns Verbraucher hat man wieder einmal für dumm verkauft. Die Politiker müssen jetzt endlich mal kapieren, dass sie für uns Verbraucher da sind, und nicht die eigentlichen Täter schützen dürfen. Ein Beispiel: Die großen Handelsketten Rewe, Kaisers, Aldi und Co. vertreiben Eigenmarken unter ihrem Namen, müssen aber kaum Strafen befürchten, wenn sie uns Pferd anstatt Rind andrehen. Vielmehr können sie auf ihre Zulieferbetriebe verweisen. Das ist ungefähr so, als wenn Mercedes nicht für defekte Bremsen einer Autoserie haften müsste, sondern der Bremsenhersteller! Das einzige Risiko für die Handelsketten: Sollte ein Verbraucher die Lasagne nicht schon verspeist haben, kann er sie umtauschen. Geld zurück, das war's. Einzelne schwarze Schafe sind nicht das Problem, sondern das ganze System ist faul. Die Gesetze belohnen die Betrüger und Giftmischer, aber schützen nicht die Verbraucher! Wir dürfen uns diese Zustände nicht mehr gefallen lassen! Wenn sich nichts ändert, dann werden wir auch weiterhin in schöner Regel-mäßigkeit belogen, betrogen und vergiftet. B.R.-Kommentar: Hier hat der Staat eine Pflicht gegenüber seinen Bürger durch eine Verdopplung der Lebensmittelkontrolleure für mehr Sicherheit zu sorgen. Zudem muss ein verändertes Strafgesetz dafür sorgen, dass überführte Betrüger niemals mehr in der Lebens-mittelbranche tätig sein dürfen. B.VI.6.2 Mehr Sicherheit bei Naturkatstrophen 549 Er habe nicht gedacht, dass ein Jahrhundert so schnell vergehen kann, bemerkte der Bürgermeister des Elbstädtchens Bad Schandau sarkastisch. Bereits zum vierten Mal in den vergangenen elf Jahren ist sein Kommune in der Sächsischen Schweiz von der Elbe heimgesucht worden. Wer mag da noch von ‚Jahrhundertflut‘ reden? Elbabwärts in Magdeburg hatten sie lange Zeit gehofft, glimpflicher davon zu kommen als die Städte in Sachsen und Bayern – aber diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Tatsächlich erlebt Magdeburg das schlimmste Hochwasser seiner Geschichte. Doch es hätte noch schlimmer kommen können. Unzählige freiwillige Helfer und öffentliche Organisationen einschließlich der Bundeswehr haben in diesen Tagen oft über ihre Kräfte gehend mit angepackt, Sandsäcke gefüllt und gestapelt – Solidarität und Gemeinsinn gezeigt. Hilfe als persönliche Ermutigung. Schon beinahe ‚alle Jahre wieder‘ werden wir mit einem ‚Jahrhundert-Hochwasser‘ konfrontiert. Die Betroffenheit ist immer sehr groß. Sofortmaßnahmen zur Schadensbekämpfung und Leidminderung werden eingeleitet und erforderliche Präventionsmaßnahmen gegen die nächste Naturkatastrophe seitens der Politik zugesagt und teilweise umgesetzt. Auch wenn diese Flut im Wesentlichen den deutschen Südosten getroffen hat und den Norden bedroht, ist sie eine nationale Katastrophe. Und so wird es zu einem nationalen Flutgipfel kommen und ein fairer Lastenausgleich unter allen Bundesländern gefordert. Werden wir aus den 350 geplanten und 80 fertiggestellten Maßnahmen der Flutkatastrophe 2002 lernen? Leider war das zu wenig, und durch falsche Einsparungen, aber auch Bürgereinsprüchen wurden weitere wichtige Projekte hinausgeschoben oder gar verhindert. Eigen-interessen stehen allzu oft gegen Gemeinwohl. Neue Naturkatastrophen kommen und verursachen neuerliches Leid. Mit diesem untragbaren Kreislauf muss endlich Schluss sein! Deshalb wird allgemein die rasche Freigabe der erforderlichen Mittel für Schutzbauten und -maßnahmen zur richtigen Prävention gegen die nächste Naturkatastrophe gefordert. 550 Wie diese zusätzlichen Mittel aufgebracht werden sollen, liegt auf der Hand. Die wiederkehrenden Aufbauarbeiten werden wesentlich teurer, als zusätzliche Mittel für Prävention notwendig sind, um die Bevölkerung rechtzeitig und richtig vor der nächsten Katastrophe zu schützen. So lagen die Folgekosten der sogenannten Oderflut 2002 bei 11 Milliarden Euro. Dieses Mal wird die Summe voraussichtlich eine ähnliche Größenordnung haben. Zusätzliche Mittel sind nur einmal notwendig und eine nachhaltige Zukunftsinvestition. Im Gegensatz dazu müssen immer wieder Milliarden Euro in Wiederaufbauarbeiten und Schadensbekämpfung gepumpt werden. Hier ist die Politik gefordert. Doch man kann nicht immer alles auf die Bundes- und Landespolitik schieben. Auch die Bürger in den gefährdeten Gebieten haben eine Mitverantwortung. Nicht nur dass sich Bürger gegen Schutzwälle aussprechen, weil dann der geliebte Blick auf den Fluss beeinträchtigt wird. Nein die Bürger und Ortspolitiker haben in der Vergangenheit gesündigt, indem sie Baugebiete für Wohnhäuser und Gewerbebetriebe in gefährdeten Flächen freigegeben haben. Die Folgekosten tragen nicht nur die Hausbesitzer, Gewerbetreibenden und Versicherungen sondern auch die Allgemeinheit. Flüsse brauchen Ausweichflächen, die über die letzten 100 Jahre immer mehr eingeschränkt wurden. Folge: Immense Folgekosten – eine riesige Verschwendung öffentlicher und privater Finanzmittel! Hinweis: Obige Beispiele sind einige von vielen. B.R.-Kommentar: Es müssen jetzt (kurz vor der Bundestagswahl) – wann denn sonst – alle Verantwortlichen kraftvoll nach vorne blicken und noch einmal über Wahlgeschenke nachdenken. 551 B.VII Schluss: Den Wandel gestalten Das am Ende eine komplette Implosion des Weltfinanzsystems stehen könnte, wie zum Beispiel Dr. Marc Faber vermutet, ist zwar keines-wegs ausgeschlossen. Ich bleibe aber dabei, dass es ausreichend viele – ich nenne sie ‚Kräfte der Vernunft‘ - geben wird, die es nicht zulassen werden, dass der Karren total an die Wand fährt. Es gibt diese Kräfte schon heute – wir müssen ihnen nur nacheifern. Ein Beispiel: Viele Städte und Gemeinden schrumpfen. Die Kommune, die in Westdeutschland am stärksten Einwohner verliert, ist die nordrhein-westfälische Stadt Altena. Der Bürgermeister Dr. Andreas Hollstein erklärt, wie sich der Ort den Herausforderungen des demografischen Wandels stellt und warum der Wandel eine Chance ist. In den siebziger Jahren lebten hier noch circa 32.000 Einwohner, heute sind es 18.000. Das stellt uns wie viele andere Gemeinden in Deutsch-land vor enorme Herausforderungen. Meiner Meinung nach müssen wir den Wandel so gestalten, dass wir auch mit weniger Menschen eine gute Lebensqualität erhalten. Natürlich kann man künftig mit weniger Steuereinnahmen nicht jeden Service anbieten, den wir heute haben. Aber wir können die Strukturen so anpassen, dass wir weiterhin leistungsstark und innovationsfähig sind. Zunächst einmal muss man bereit sein, auch unpopuläre Ent-scheidungen zu treffen: Wir haben ein Freibad und eine Grundschule geschlossen und in der Verwaltung Personal abgebaut, von 180 auf 135 Beschäftigte. Gleichzeitig haben wir die Zusammenarbeit mit den anliegenden Gemeinden verstärkt. So ist das Standesamt von Altena in einen Nachbarort gezogen, dafür haben wir deren Verwaltungs-aufgaben im Bereich Soziales übernommen. Und wir haben 2012 zusammen mit zwei anderen Städten die erste interkommunale Sekundarschule in Nordrhein-Westfalen an den Start gebracht. Die Mittel, die wir so sparen, stecken wir in die Modernisierung der Innenstadt von Altena, in Schulen und bürgerschaftliches Engagement. 552 B.R.-Kommentar: Solche oder ähnliche Beispiele gibt es genug. Wir müssen uns derer nur gewiss werden – und ihnen nacheifern! B.VIII Nachtrag: Und was nun Frau Merkel? 22. September 2013 – 22:53 Uhr: Der Bundeswahlleiter verkündet das vorläufige Endergebnis der Bundestagswahl. Die ‚Schlacht‘ ist geschlagen. Ist sie auch schon entschieden? Die große Frage an diesem Abend „wer mit wem“? Wie wird die neue Regierung aussehen? Wird die neue Regierungschefin die alte sein? Aber noch wichtiger: Welche Politik wird die Zukunft Deutschlands und Europas bestimmen? Merkels Herausforderer warb beim Wähler immer und immer wieder mit dem Slogan „Merkel verwaltet, ich werde gestalten“. Richtig ist, dass ohne Gestaltung Europa kein Comeback gelingen wird. Radikale Kürzungen in den öffentlichen Haushalten werden schmerzhafte Folgen haben. Umso mehr ist eine ‚Wegbeschreibung‘ der Kanzlerin erforderlich, der die Bürger folgen können. Deutschland, Europa wird diese vor uns liegende Zeit nur dann bewältigen, wenn die Bürger mitgenommen werden. Wenn sie eingebunden werden in den Gestaltungsprozess. Und dieser muss auf drei Säulen stehen: Herausforderung der Leistungsbereitschaft, einem weitverbreiteten Gefühl der Gerechtigkeit und nachhaltigen Veränderungs-maßnahmen. Literaturhinweise: Kapitel A II: • Unser Zukunft – Ein Gespräch über die Welt nach Fukushima; Klaus Töpfer & Ranga Yogeshwar; 2011; C.H. Beck 553 Kapitel A IV: • Die Billionen-Schuldenbombe: Wie die Krise begann und warum sie noch lange nicht zu Ende ist; Daniel Stelter; 2013, Wiley-VCH-Verlag Kapitel A V: • • • • Rettet unser Geld – Eie der Euro-Betrug unseren Wohlstand gefährdet; Hans-Olaf Henkel; 2012; Heyne-Verlag Wirtschaftliche Selbstverteidigung – Schützen Sie sich und Ihre Familie vor Eurokrise, Inflation und Staatsverarmung; Roland Klaus; 2011; Wiley-VCH-Verlag Tatort Euro: Bürger, schützt das Recht, die Demokratie und euer Vermögen; Joachim Starbatty; 2013, Europa-Verlag Die Milliarden Verschwender – Wie Beamte, Bürokraten und Behörden unsere Steuergelder zum Fenster hinauswerfen; Karl Heinz Däke; 2012; Heyne-Verlag Kapitel A VI: • Europa braucht den Euro nicht – Wie uns politisches Wunschdenken in die Krise führt; Thilo Sarrazin, 2012; DVA-Verlag Kapitel B II: • • • Gemeinwohl-Ökonomie – Das Wirtschaftsmodell der Zukunft; Christian Felber; 2010; Deutike Verlag Unser Wohlstand und seine Feinde; Gabor Steingart; 2013; Knaus-Verlag Die Asozialen – Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren – und wer davon profitiert; Walter Wüllenweber; 2012, Deutsche Verlags-Anstalt Kapitel B III: • • Aufbrechen – Warum wir eine Exzellenzgesellschaft werden müssen; Gunter Dueck; 2010; Eichborn-Verlag Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung; Harald Welzer & Klaus Wiegandt; 2011; Fischer Verlag 554 Kapitel B IV: • • • • • • • Wohlstand neu denken – Wie die nächste Generation leben wird; Horst W. Opaschowski; 2009; Gütersloher Verlagshaus Wohlstand ohne Wachstum – Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt; Tim Jackson; 2009; oekom-Verlag Exit – Wohlstand ohne Wachstum; Meinhard Miegel; 2010; Propyläen Abgebrannt – Unsere Zukunft nach dem Schulden-Kollaps; Hanno Beck; 2011; Hanser-Verlag Billionen Poker – Wie Banken und Staaten die Welt mit Geld überschwemmen und uns arm machen; Ulrich Fichtner & Cordt Schnibben; 2012; Spiegel Buchverlag Die Währungsreform kommt! – Über Versuche der Politiker den Euro zu retten, fehlgeleitete Finanzmärkte und wie Sie Ihr Vermögen trotzdem sichern; Ulrich Horstmann, 2011; FinanzBuch Verlag Fair Finance – Das Kapital der Zukunft; Karl-Peter Sprinkart & Franz-Theo Gottwald; 2013; Herbig-Verlag Kapitel B V: • • • • Europas unvollendete Währung: Wie geht es weiter mit dem Euro?; Thomas Mayer; 2013; Wiley-VCH-Verlag Show Down: der um Europa und unser Geld; Dirk Müller; 2013; Droemer-Verlag Gesellschaftsentwurf Europa – Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen; Oskar Negt; 2012; Steidl-Verlag Das deutsche Europa; Ulrich Beck; 2012; Suhrkamp Kapitel B VI: • Geht aus der Sonne – Die Zukunft hat begonnen; Hans Kronberger; 2011; Uranus-Verlag 555