Leitlinie zur Ermittlung des Patientenwillens und zum Umgang mit

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Leitlinie zur Ermittlung des Patientenwillens und zum Umgang mit
Leitlinie
zur Ermittlung des Patientenwillens
und zum Umgang
mit Patientenverfügungen
für Mitarbeiter des Universitätsklinikums Ulm,
entwickelt von der Arbeitsgruppe Patientenverfügung
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1. Einleitung/Präambel1
Für Patienten stellt die Beachtung ihres Willens ein essentielles Recht dar und ist für
die Behandelnden eine menschliche und gesetzliche Pflicht. Diesem Recht des
Patienten entspricht die Pflicht des Behandlers, sich eine umfassende Kenntnis vom
Inhalt der Patientenverfügung zu verschaffen. Patientenverfügungen dienen dazu,
der Selbstbestimmung auch dann zur Wirksamkeit zu verhelfen, wenn Patienten sich
nicht mehr zur Behandlung äußern können.
Die vorliegende Leitlinie soll den Behandelnden helfen, praktische Fragen zur
Ermittlung des Patientenwillens und zum Umgang mit Patientenverfügungen zu
klären.
2. Rechtliche Grundlagen
Seit 2009 ist der Status einer Patientenverfügung im Betreuungsrecht verbindlich
geregelt (§§ 1901ff. BGB) und durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
sowie die Grundsätze und Empfehlungen der Bundesärztekammer definiert. Diese
Leitlinie entspricht der aktuellen Gesetzeslage nach dem 3. Gesetz zur Änderung
des Betreuungsrechts vom 29. Juli 2009.
2.1. Einwilligungsfähige volljährige Patienten:
Bei einwilligungsfähigen volljährigen Patienten hat für jede ärztliche und
pflegerische Maßnahme eine hinreichende Aufklärung zur erfolgen. Der
Patientenwille ist vorrangig in einem Gespräch zu ermitteln. Eine Durchführung
oder auch Unterlassung indizierter Maßnahmen ist nur mit Zustimmung des
Patienten nach angemessener Bedenkzeit möglich.
2.2. Nicht einwilligungsfähige volljährige Patienten:
Der aufklärende Arzt muss die Einwilligungsfähigkeit des Patienten jeweils
aktuell prüfen.
Bei einem nicht einwilligungsfähigen Patienten muss der Patientenwille indirekt
ermittelt werden. Dies kann durch einen vor der Einwilligungsunfähigkeit
erklärten Patientenwillen (Patientenverfügung) und durch Ermittlung des
mutmaßlichen Patientenwillens erfolgen.
2.2.1. Erklärter Patientenwille - Schriftlich erklärter Patientenwille:
Die Patientenverfügung.
• Die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung sieht vor, dass eine
Patientenverfügung schriftlich verfasst und durch Namensunterschrift
eigenhändig unterzeichnet werden muss (§ 1901a Absatz 1 Satz 1 i. V. m.
§ 126 Absatz 1 BGB). Die Mitwirkung eines Notars ist nicht erforderlich.
• Die Patientenverfügung kann jederzeit formlos, verbal oder nonverbal
widerrufen werden (§ 1901 Absatz 1 Satz 3 BGB).
• Es kann sinnvoll sein, die Patientenverfügung in bestimmten Zeitabständen
(z. B. jährlich) zu ergänzen und dies durch erneute Unterschrift zu
bestätigen; dies ist jedoch zu ihrer Gültigkeit nicht erforderlich.
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Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird auf eine geschlechtsneutrale Differenzierung,
z. B. Patienten/Patientinnen Männer und Frauen verzichtet. Im Sinne der Gleichbehandlung
sind jedoch grundsätzlich Männer und Frauen gleichermaßen gemeint.
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2.2.2. Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens
3.
•
Ist ein gesetzlicher Betreuer bestellt, ist er an den erklärten Willen des
Patienten gebunden und hat dessen Willen Geltung zu verschaffen. Wurde
eine Vorsorge- oder Generalvollmacht ausgestellt, gilt dies für den
Bevollmächtigten entsprechend.
•
Ist zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung niemand bevollmächtigt oder
kein Betreuer bestellt, ist durch Antrag beim Betreuungsgericht ein
Betreuungsverfahren einzuleiten, sofern zu erwarten ist, dass der Zustand
der Einwilligungsunfähigkeit anhält.
•
Entscheidungen sollen von den behandelnden Ärzten gemeinschaftlich und
im Einvernehmen mit den Bevollmächtigen/Betreuern, unter Einbeziehung
des Pflegeteams und ggf. dem Patienten nahestehender Personen,
getroffen werden. Kann das Einvernehmen nicht hergestellt werden, muss
das Betreuungsgericht angerufen werden.
•
Ist der mutmaßliche Wille im Notfall nicht zu ermitteln, entscheidet der
behandelnde Arzt nach fachlichen Kriterien im Interesse des Patienten.
Umgang mit Patientenverfügungen und anderen Willenserklärungen
Der aktuell (auch mündlich) erklärte Patientenwille hat immer Vorrang
gegenüber einem zuvor verfügten Patientenwillen.
3.1. Die schriftliche Patientenverfügung:
Liegt eine schriftliche Patientenverfügung vor, ist zunächst ihre Verbindlichkeit
zu klären. Dazu gehört die Überprüfung folgender Fragestellungen:
•
Trifft die Patientenverfügung auf die konkrete LebensBehandlungssituation sowie die indizierten Maßnahmen zu?
•
Gibt es seit der Abfassung der Patientenverfügung konkrete Anhaltspunkte
für eine Willensänderung oder gar einen Widerruf der Patientenverfügung?
und
Diese Fragen müssen mit den Personen, die die Patientenverfügung
überbringen (Angehörige, Betreuer, Bevollmächtigte) und ggf. mit weiteren
Vertrauenspersonen des Patienten geklärt werden. Bei alleinstehenden
Patienten obliegt die Prüfung oben genannter Themen dem behandelnden
Team. Ist sich das behandelnde Team uneinig, muss das Betreuungsgericht
eingeschaltet werden.
Ist auf diese Weise der Wille des Patienten geklärt, gilt die Patientenverfügung,
auch wenn sie sich nicht mit den aus ärztlicher Sicht gebotenen Maßnahmen
deckt. Bei Zweifeln an der Gültigkeit der Patientenverfügung ist das
Betreuungsgericht anzurufen.
3.2. Anderweitig erklärter Patientenwille:
Liegt ein anderweitig erklärter Patientenwille vor, zum Beispiel ein schriftlich
oder mündlich gegenüber Angehörigen, Zeugen oder Bevollmächtigten bzw.
Betreuern erklärter Wille, ist analog Ziffer 3.1. zu verfahren. Dabei muss sich
der Arzt von der Verlässlichkeit dieser Erklärung überzeugen.
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4. Umgang mit Entscheidungskonflikten
Im Umgang mit dem Patientenwillen können ethische Entscheidungskonflikte
auftreten. Dies gilt sowohl für die Patientenverfügung und andere Formen des
erklärten Patientenwillens als auch für den Umgang mit dem mutmaßlichen Willen
des Patienten.
•
Auslegungs- und Abwägungsprobleme
Zum Einen können sich Entscheidungskonflikte daraus ergeben, dass der
Patientenwille nicht eindeutig formuliert ist.
Zum Anderen besteht die Schwierigkeit, zu evaluieren, ob die in der
Patientenverfügung beschriebene Situation der aktuellen entspricht.
Darüber hinaus ist oft nicht eindeutig festzustellen, welchen Verlauf eine
Erkrankung im individuellen Fall nehmen wird und wie der Nutzen
therapeutischer Verfahren in Abwägung zu der daraus entstehenden
Belastung des Patienten zu bewerten ist. Deshalb kann es zu
unterschiedlichen Einschätzungen der Situation kommen.
In all diesen Fällen ist es für die Behandler schwierig, eine dem
Patientenwillen entsprechende Entscheidung zu treffen.
•
Klinische Ethikberatung
Aufgrund der oben beschriebenen Konflikte wird die Situation in der Praxis
häufig als sehr belastend empfunden. Im Falle schwerwiegender
Abwägungsprobleme müssen Entscheidungen besonders sorgfältig
begründet werden und sollten nach Möglichkeit einvernehmlich getroffen
werden.
Die klinische Ethikberatung kann die Entscheidungs- und Konsensfindung
sinnvoll unterstützen.
5. Dokumentation
Es ist notwendig, dass Ärzte und Pflegende Entscheidungen zum Therapieziel und
Umgang mit der Patientenverfügung sorgfältig und präzise dokumentieren.
6. Beratung bei der Erstellung einer Patientenverfügung
Der Erstellung einer Patientenverfügung sollte ein Informations- und
Meinungsbildungsprozess vorangehen. Patienten können dabei Unterstützung von
Seiten des Klinikums erhalten und über externe Beratungsangebote informiert
werden, z. B.
•
•
•
•
Gespräche mit dem Hausarzt
Beratungen durch Verbände, Beratungsstellen, Rechtsanwälte,
Notare
Informationsbroschüren
Internetseiten
Patienten, Angehörige und Klinikmitarbeiter können sich auch an die Arbeitsgruppe
Patientenverfügung wenden (s. www.<Seite muss noch eingerichtet werden>).
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7. Spezielle Situationen
7.1. Minderjährige
Es gibt keine rechtliche Grundlage für eine Patientenverfügung
Minderjähriger. Dennoch sind ihre Behandlungswünsche und ihr
mutmaßlicher Wille zu berücksichtigen. Die Einwilligungsfähigkeit hängt
nicht vom Lebensalter ab, sondern von der individuellen Reife.
7.2. Patienten mit einer psychiatrischen Diagnose oder einer dementiellen
Erkrankung
Bei Hinweisen auf eine fehlende Einwilligungsfähigkeit, zum Beispiel bei
Vorliegen einer psychiatrischen Diagnose oder einer dementiellen
Erkrankung, ist die Einwilligungsfähigkeit besonders sorgfältig zu prüfen.
Aktuelle Wünsche und Verhaltensäußerungen sind zu berücksichtigen, es
sei denn, die Patientenverfügung regelt ausdrücklich etwas Anderes.
7.3. Organspende und Patientenverfügung
Die Ablehnung bestimmter lebensverlängernder Maßnahmen in einer
Patientenverfügung und die Zustimmung zu einer Organspende müssen
keinen
Widerspruch
bilden.
In
Patientenverfügungen
kann
intensivmedizinischen Maßnahmen ausdrücklich zugestimmt werden, um
eine Organspende zu ermöglichen. Diese Zustimmung kann auch durch die
Angehörigen erteilt werden.
8. Quellen:
Die Leitlinie zur Ermittlung des Patientenwillens und zum Umgang mit
Patientenverfügungen für Mitarbeiter des Universitätsklinikums Ulm wurde in
Anlehnung an folgende Quellen erstellt:
•
Leitlinie zur Ermittlung des Patientenwillens und zum Umgang mit
Patientenverfügungen von Volljährigen für die Universitätsmedizin der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz (2010).
•
Leitlinie zur Frage der Therapieziel-Änderung bei schwerstkranken Patienten
und zum Umgang mit Patientenverfügungen: AK Patientenverfügungen am
Klinikum der Universität München, Langfassung, 2. Version (2010).
•
Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission
bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und
Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis (2010).
•
Informationen des Bundesministeriums für Justiz - Patientenverfügung (2012)
•
Umgang mit Patientenverfügungen, Leitlinie der DRK Kliniken Berlin,
(September 2009)
•
Deutsches Krankenhaus Institut, Karl Blum. Inhousekoordination bei
Organspenden. Abschlussbericht. Forschungsgutachten im Auftrag der
Deutschen Stiftung Organtransplantation DSO 2012: 12-3
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9. Autoren
Die Mitglieder der Arbeitsgruppe Patientenverfügung:
Branislav Babic, PD Dr. Armin Imhof, Dr. Christiane Imhof, Prof. Dr. Frieder Keller,
Dr. Cornelia Kropf-Sanchen, Dorothee Laufenberg, Elisabeth McAvinue, Rudolf
Michel-Glöckler, Varinia Popek, Rosemarie Rau, Prof. Dr. Karl Träger.