Michael Cunningham In die Nacht hinein
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Michael Cunningham In die Nacht hinein
Nr. 10 | 28. November 2010 Marilyn Monroe Tapfer lieben | Michael Cunningham In die Nacht hinein | Peter Handke Immer noch Sturm | Neue Bücher zum Thema Offline leben | Bruno Kreisky Die Biografie | Amartya Sen im Interview | Kinder- und Jugendbuch Tipps zum Schenken | Weitere Rezensionen zu Alina Bronsky, Jörg Fisch, Malcolm Gladwell und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Hier werden Wünsche wahr Geschenkempfehlungen von buch.ch Für Träumer ab 5 Jahre CHF 26.80 Für Lebenshungrige CHF 28.90 Für Feinschmecker CHF 98.00 Für Geniesser CHF 69.00 <wm>10CAsNsjY0MDAx1QWSZkbGAFwb_X8PAAAA</wm> <wm>10CEXKIQ6AMBBE0RN1M7PttsBKKKpBAOEEBM39FQSD-E_91twEX2Nd9ro6gWThNWt06020ZO9UBak4qaogBhaNRKT5f4dxChswAwco93k9gIMjgl0AAAA=</wm> Für Entdecker CHF 189.00 Stöbern Sie in einer Riesenauswahl an Büchern, Filmen, Musik und den besten Seiten der Schweiz. Bestellen Sie bequem online – wir liefern schnell und zuverlässig. Einfach vielseitig: www.buch.ch Inhalt Wenn sich drei Kinder um eine Flöte streiten Nr. 10 | 28. November 2010 Marilyn Monroe Tapfer lieben | Michael Cunningham In die Nacht hinein | Peter Handke Immer noch Sturm | Neue Bücher zum Thema Offline leben | Bruno Kreisky Die Biografie | Amartya Sen im Interview | Kinder- und Jugendbuch Tipps zum Schenken | Weitere Rezensionen zu Alina Bronsky, Jörg Fisch, Malcolm Gladwell und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Marilyn Monroe (Seite 23). Illustration von André Carrilho Judy Blundell: Die Lügen, die wir erzählen Sachbuch Peter Handke: Immer noch Sturm Peter Handke: Ein Jahr aus der Nacht gesprochen K. A. Nuzum: Hundewinter 20 Alex Rühle: Ohne Netz Christoph Koch: Ich bin dann mal offline Th. Montasser: Weil die Erde keine Google ist Alina Bronsky: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche Von Andrea Lüthi 22 Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker Von Sabine Sütterlin 23 Marilyn Monroe: Tapfer lieben Von Verena Hoenig Von Hans ten Doornkaat Belletristik 4 6 7 9 Stellen Sie sich vor, Sie müssten entscheiden, welches der drei Kinder Anna, Bob und Carla die Flöte haben soll, um die sie sich streiten. Anna verlangt das Instrument für sich, da sie als Einzige der drei Flöte spielen kann. Bob will die Flöte, weil er als Einziger so arm ist, dass er keine eigenen Spielzeuge besitzt. Clara hat monatelang fleissig gearbeitet, um die Flöte zu bauen, die die beiden anderen ihr streitig machen. Welche Zuteilung ist gerecht? Egalitarier, Libertäre und Utilitaristen würden ganz unterschiedlich urteilen – jede Gruppe mit gutem Recht. Mit diesem Gleichnis eröffnet Nobelpreisträger Amartya Sen sein neues Buch «Die Idee der Gerechtigkeit». Unsere Mitarbeiterin Kirsten Voigt lotet in einem Interview seine Philosophie aus (Seite 16). Ganz anders stehen Kinder auf der Doppelseite 14/15 im Mittelpunkt: Hier finden Sie, liebe Eltern, Göttis und Grossmamis, Weihnachtstipps – empfehlenswerten Lesestoff für 5- bis 14-Jährige. Für Menschen, die dem Teenageralter entwachsen sind, sich aber eine kindliche Wissbegierde bewahrt haben, stellen wir in über 30 weiteren Rezensionen eine Fülle spannender Romane, Krimis, Biografien und Sachbücher vor. Namen wie Peter Handke, Marilyn Monroe, Bruno Kreisky, George W. Bush, Erika Mann und Ingrid Betancourt mögen die Themenbreite illustrieren. Wir freuen uns, Sie auch im neuen Jahr wieder überraschen zu dürfen – erstmals am 30. Januar 2011. Urs Rauber Von Karl Wagner Von Sandra Leis Christine Wunnicke: Nagasaki, ca. 1642 Von Angelika Overath Tommy Wieringa: Der verlorene Sohn Von Annette Mingels Von Christine Knödler Von Andrea Lüthi Peter Van Olmen: Odessa und die geheime Welt der Bücher 15 Georg Rüschemeyer: Menschen und andere Tiere Alexandra Maxeiner, Anke Kuhl: Alles Familie! Von Stefana Sabin Quentin Blake, John Cassidy: Zeichnen für verkannte Künstler Von Klara Obermüller Axel Brüggemann: Wie Krach zu Musik wird 10 Dan Lungu: Wie man eine Frau vergisst Vanessa F. Fogel: Sag es mir 11 Hélène Bessette: Ida oder Das Delirium Von Stefan Zweifel Thomas Kramer: New York auf Postkarten Von Gerhard Mack Von Regula Freuler Annette Mingels: Tontauben Von Regula Freuler Didier Queloz: Extrasolare Planeten Von Sabine Sütterlin Reden über Recht Von Kirsten Voigt Kolumne 19 Charles Lewinsky Das Zitat von Gottfried Keller Roman Graf: Zur Irrfahrt verführt Kurzkritiken Sachbuch Ermanno Cavazzoni: Das kleine Buch der Riesen 19 Ursula von Arx: Ein gutes Leben Von Manfred Papst Von Manfred Papst Kinder- und Jugendbuch 14 Gunnel Linde: Mit Jasper im Gepäck 24 Malcolm Gladwell: Was der Hund sah Von Urs Rauber 26 Ingrid Betancourt: Kein Schweigen, das nicht endet 16 Amartya Sen, Philosoph und Ökonom 13 Christine Brand: Das Geheimnis der Söhne Otmar Bucher: Kopfwelten Von Andrea Lüthi 13 Markus A. Will: Bad Banker Kurzkritiken Belletristik Von Martin Walder 25 Stefan Klein: Der Sinn des Gebens Interview Von Christoph Plate Von Urs Bitterli Von Verena Hoenig 12 Michael Cunningham: In die Nacht hinein Von Simone von Büren Von Regula Freuler Von Regula Freuler René Holenstein: Wer langsam geht, kommt weit Von Urs Rauber Marlis Pörtner: Alte Bäume wachsen noch. Erfahrungen in späten Lebensjahren Von Thomas Köster Von Victor Merten Urs Kälin: Hundert Jahre Volkshaus Zürich Von Monika Burri 27 Wolfgang Petritsch: Bruno Kreisky Von Fritz Trümpi 28 Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache Von Sieglinde Geisel Michael Hagner: Der Hauslehrer Von Kathrin Meier-Rust 29 Signe von Scanzoni: Als ich noch lebte Von Andreas Tobler 30 Gerhard Hotz u. a.: Theo der Pfeifenraucher Von Geneviève Lüscher Das amerikanische Buch George W. Bush: Decision Points Von Andreas Mink Agenda 31 A Star Is Born. Fotografie und Rock seit Elvis Von Manfred Papst Bestseller November 2010 Von Verena Hoenig Von Kathrin Meier-Rust Belletristik und Sachbuch Von Christine Knödler Von Geneviève Lüscher Veranstaltungshinweise Christian Tielmann: Spürst du die Angst? Dieter Vieweger: Streit um das Heilige Land Agenda Dezember 2010 Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Monika Werth (Layout), Bettina Keller, Rita Pescatore, Benno Ziegler (Korrektorat) Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected] 28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Familiengeschichten Peter Handke hat ein neues Theaterstück und Gedanken-Notizen publiziert – beides hat miteinander zu tun Tanz der Trauer Peter Handke: Immer noch Sturm. Suhrkamp, Berlin 2010. 166 Seiten, Fr. 24.50. Peter Handke: Ein Jahr aus der Nacht gesprochen. Jung und Jung, Salzburg 2010. 216 Seiten, Fr. 30.50. Von Karl Wagner In seiner Dankesrede für das Ehrendoktorat der Universität Klagenfurt empfahl Peter Handke vor nun bald zehn Jahren Bücher von Kärntner Slowenen, die von ihrem Leben und ihren Erfahrungen als Partisanen im Widerstand gegen das Hitlerreich berichten. Die «Zeugnisse» von Karel Prušnik, Lipej Kolenik und Andrej Kokot stellte er bewusst in Verbindung mit dem Werk des französischen Dichters René Char und der Feier des Widerstands in Frankreich – im Unterschied zu Österreich und vor allem zu seinem «andersschönen» Kärnten. Am Ende seines neuen Stücks «Immer noch Sturm» kehrt diese Empfehlung mit zum Teil anderen Namen wieder. Der Figur des einäugigen Gregor, der als einziger lebend aus dem Krieg zurückkommt, in dem er 1942 zu den Partisanen überlief, gerät diese Empfehlung aber zur bitteren Klage: «All die Geschichten, die jeden angehen – von wem gelesen? Ach, die Bücher alle von uns Gemsen auf der Lawine, von uns Kleinen Leuten auf Grossem Weg. Ach, Karel Prušnik, ach Lipej Kolenik, ach Tone Jelen, ach, Anton Haderlap, ach, Helena Kuchar-Jelka …» Handkes literarische Forschungsreise zu seinen slowenischen Vorfahren reicht indes noch weiter zurück. Sie beginnt schon mit seinem Erstling «Die Hornissen» und ist seit dem «Wunschlosen Unglück» in immer neuen Versuchen und Umstellungen erweitert und verfeinert worden – aber nie zur Ruhe gekommen. So ist es keine Überraschung, dass sein Stück, dessen Uraufführung nächstes Jahr bei den Salzburger Festspielen erfolgen soll, eine weitere Expedition seines epischen Gangs zu den (mütterlichen) Vorfahren darstellt. Niemals zuvor aber hat sich Handke so nahe an den «Klartext» der Geschichte herangewagt; für das «Ich» dieses Stücks verwirrt er sich jedoch immer wieder neu, und manchmal versinkt es darob in Müdigkeit. Wenn da irgendwer helfen kann, dann Shakespeare – Schutzpatron aller, die 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010 am Problem der Darstellbarkeit von Geschichte zweifeln. «Storm still» ist denn auch eine wiederkehrende Bühnenanweisung aus dem dritten Akt der Tragödie «König Lear», in dem der alte, wahnsinnig gewordene König mit dem Narren auf der sturmumtobten Heide die Welt verflucht und dabei die Elemente zu Hilfe ruft. Mit Shakespeare und Faulkner, der mit «Absalom, Absalom» ins Spiel kommt, wird Geschichte über den Umweg einer unkonventionellen Familiengeschichte erzählbar. Trotz der vielen autobiografischen Einzelheiten ist diese Familiengeschichte aber als ein Wunschbild zu lesen, ein Wunschbild vor allem der Widerständigkeit gegen den Albtraum der realen Geschichte. Es ist nur konsequent, dass «Immer noch Sturm» sich keiner Gattungsnorm fügt, sondern Episches, Dramatisches und Lyrisches aufbietet, um diese aus der Nacht und dem Traum kommende filigrane Gegengeschichte, die schlussendlich in die Klage über deren Ausgelöschtwerden mündet, darstellen zu können. In einem geradezu ritualisierten «Innehalten» und sich wiederholenden Verknüpfungsformeln des «und wieder» entfaltet sich das Kopftheater des schwermütigen Nachfahren Handke. Hass auf die Geschichte Insofern nimmt es nicht wunder, dass die andere Neuerscheinung von Handke, «Ein Jahr aus der Nacht gesprochen», die auf den ersten Blick so gar nichts mit dem Stück zu tun hat, in mehreren Selbstzitaten dort wiederkehrt. Etwa in dieser: «Dort wirbelt, schau, eine Kinderschaukel, das zweite Seil ausgerissen, der Sitz kopfunter» (im Stück auf zwei Stimmen verteilt). Die Phantasie, die bekanntlich nicht vergisst, ist bei Handke immer auch darauf verwiesen, sich all ihrer Formen zu vergewissern, vom Halbschlafbild, über das unwillkürliche Selbstgespräch und anderen Formen der «Abwesenheit» bis hin zu eben jenen ersten Sätzen, die nach dem Erwachen in der Nacht durch den Kopf schiessen. Daraus entstehen zum Glück keine «Aphorismen zur Lebensweisheit», sondern im Glücksfall herrlich skurrile und hintersinnige bis absurde Sätze. Die Kluft zwischen dem Ästhetischen und der Historie treibt Handke seit langem um; seit den Jugoslawien-Texten und der Klagenfurter Rede von 2002 allerdings mit neuer Dringlichkeit. An Handkes Geschichtshass hat sich indes nichts geändert. Nach der Lektüre von «Immer noch Sturm» ist das besser denn je zu verstehen. Im Kopf des «Ich», auf einer Sitzbank auf der Heidesteppe des Südkärntner Jaunfelds, entspringen buchstäblich die Figuren seiner Vorfahren und seiner selbst: 1942 wird das «Ich» als «Bankert» (ein Kind der Liebe, gezeugt von einem deutschen Wehrmachtsoldaten, also einem «Feind») zur Welt gebracht. Bald darauf werden sich zwei der Geschwister der verfemten Mutter, Gregor und Ursula, den Partisanen anschliessen. Zwei weitere Brüder, der Frauenheld Valentin (der sich gegen das Slowenische und für den Westen entschieden hat) und Benjamin, sterben für «Fira und Fattaland»; die Schwester Ursula wird umgebracht. Es ist an Gregor, im Jahr 1945 den Jubel über den Sieg und den «frischen Frieden» zu verkünden. Der Jubel ist nur kurz und kippt alsbald in die Ordnungen des Kalten Kriegs: Die Engländer, eben noch, für einen Moment, die Verbündeten der Slowenen, paktieren mit den Feinden von gestern. Der Widerstand der Partisanen gegen Hitler war nach 1945 wegen der Forde- Peter Handke hat mit seinem neuen Theaterstück einen der wichtigsten Texte der Nachkriegszeit geschrieben. Hier der Autor 2008 in seiner Pariser Wohnung. 800 Seiten mit 126 Abbildungen. Leinen sFr 53,90(UVP) / € 38,– Fixpunkte christlicher Erinnerung in 42 glänzenden Essays. <wm>10CAsNsjY0MDAx0jUwMDQwNAQA2Oh2xw8AAAA=</wm> PATRICK ZACHMANN / MAGNUM <wm>10CEXKIQ6AMBBE0RN1M7N0actKKKpBAOEEBM39FQSD-Or91twEX2Nd9ro6gagBIEinmRT0nrIJS3JSVV8amLTTojn6f4dxChswAwco93k9S4FRb10AAAA=</wm> rung der Moskauer Deklaration von 1943, wonach Widerstand gegen das NSReich zur Bedingung gemacht wurde für «eine Anerkennung der österreichischen Selbständigkeit nach dem Krieg», sehr kostbar. Nur wenige deutschsprachige Landsleute hatten sich den slowenischen Partisanenverbänden in Kärnten angeschlossen. Bitter wird vermerkt: «Die Angehörigen der, wie sagt man, einheimischen Oberschicht, die, wie sagt man, Gebildeten, fehlten all die Zeit des grossen und einzigen Widerstands hierzuland, und sie fehlten bis zuletzt.» Sobald der Kampf der slowenischen Kärntner seine Schuldigkeit getan hatte, also mit Abzug der fremden Truppen 1955, wird nicht nur dieser Widerstand vergessen; bis heute werden den Slowenen Kärntens damals zugesicherte Rechte vorenthalten. Literarisches Wortdenkmal Das Stück, das keine Tragödie sein will, endet mit der Verfluchung der Geschichte als Weltgericht: Nur die Zeichen, die sich die paar Versprengten und Vereinzelten noch geben, mildern die Verzweiflung; dass der «Weltverdruss- walzer» fortan als Polka gespielt werden möge, ist nur als ein sarkastischer Kommentar zur «Zukunftsmusik» zu verstehen. Schon gegen Ende des «Wunschlosen Unglücks» stand ja zu lesen: «In allen Musikboxen der Gegend gab es eine Platte mit dem Titel WELTVERDRUSS-POLKA.» Überhaupt werden die mit Handkes Werk Vertrauten viele Wiedererkennungserlebnisse haben, die ihnen der Autor, dergestalt auch ein Zeichen gebend, augenzwinkernd bereitet. Wer solche Zeichen aber nicht erkennt, ist deshalb nicht ausgeschlossen, sondern nimmt dennoch Teil an einem der – zumindest für Österreich – wichtigsten Texte seit dem Ende des Weltkriegs. Mit seiner grossen Klage hat Handke dem einzigen Widerstand, den es zur Zeit der NS-Herrschaft auf deren Territorium gab, ein literarisches Wortdenkmal gesetzt – ein Denkmal also, das dauerhafter ist und sein wird als jedes (geschändete) Denkmal aus Stein auf Kärntner Boden. l Karl Wagner ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich. 683 Seiten mit 111 Abbildungen und 5 Karten. Leinen sFr 53,90(UVP) / € 38,– Von Menschen und Mythen – ein hervorragendes Geschichts- und Geschichtenbuch der griechischen Antike. C.H.BECK www.chbeck.de 28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Sachbuch Belletristik Roman Die Deutschrussin Alina Bronsky räumt in ihrem Zweitling mit der duldsamen Babuschka auf Herrschsüchtige Matriarchin disch. Aber es stimmte schon, es drehte einem das Herz in der Brust um», kommentiert die Grossmutter den Sieg der Enkelin. Eine Erfolgsgeschichte, die ins Kitschige kippen würde, wäre da nicht der Umstand, dass die geliebte Enkelin längst mit der tyrannischen Grossmutter gebrochen hat. Die lebenstüchtige Rosalinda wusste bereits Jahre zuvor, als Stiefvater Nummer zwei mit Aminat nach Israel auswandern wollte: «Ohne Aminat war ich einsam, und mein Leben war sinnlos.» Damals konnte sie das Schlimmste verhindern und setzte auf Stiefvater Nummer drei, einen deutschen Journalisten, der sich weniger für Aminats kranke Mutter als für das junge Mädchen interessierte und schliesslich auf Geheiss der Grossmutter alle drei Frauen nach Deutschland einlud. Während Grossmutter und Enkelin sich durchschlagen, bleibt die Mutter auf der Strecke: «( … ) eine Blume im Wind. Spuckte man sie an, hielt sie es für frischen Regen und streckte sich dem entgegen.» Alina Bronsky: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 320 Seiten, Fr. 31.90. Von Sandra Leis Selbstherrlich, durchtrieben, schlitzohrig und clever: Das können Frauen genauso gut sein wie Männer. Doch wenn es von jemandem heisst, er strotze nur so vor Selbstbewusstsein, so ist in aller Regel von einem Mann die Rede. Nicht so im Roman «Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche» von Alina Bronsky: Hier ist es eine Frau, der auch das fetteste Eigenlob nicht die Schamesröte ins Gesicht treibt. Der Zweck heiligt die Mittel, und wenn eine wie Rosalinda nach Europa will, so tischt sie einem potenziellen Fluchthelfer, der ein Buch über die tatarische Küche schreiben will, sämtliche kulinarischen Geheimrezepte auf, obwohl sie nicht den leisesten Schimmer hat. Sie ist zwar Tatarin, doch als Vollwaise wuchs sie in einem Kinderheim auf, wo es hauptsächlich Graupensuppe zu essen gab. Rezepte sind noch das Wenigste. Rosalinda, die in einer russischen Kleinstadt lebt, will vor allem eines: ein besseres Leben. Da weder Ehemann noch Tochter dahingehende Ambitionen hegen, obliegt es ihr, die Familie voranzubringen. Sie beschafft Lebensmittel, Ehemänner und Ausreisepapiere und treibt hemmungslos ab. Als sie auch die Schwangerschaft ihrer Tochter unterbinden will, kann sie nur einen Teilerfolg verbuchen: Einer der beiden Zwillinge überlebt trotz Attacken mit der Stricknadel. «Ich ahnte schon die ganze Zeit, dass es ein Kind werden würde, das grundsätzlich und rücksichtslos alles überlebte. Es war ein ungewöhnliches Kind, das von Anfang an sehr laut schrie», sagt die Grossmutter. Frech bis abgrundtief böse Eine Castingshow in Deutschland macht die Enkelin der russischen Romanprotagonistin zur Berühmtheit. In Alina Bronskys Erstling störte auf Dauer der Zwang zur Pointe. Im Zweitling plappert Rosalinda gelegentlich allzu unbeschwert und selbstverliebt daher. Gegen ihre Logorrhö ist kein Kraut gewachsen; allerdings legt der literarische Kunstgriff der Rollenprosa schonungslos die Kehrseite dieser Kämpferin für ein besseres Leben offen: Zum einen hat Rosalinda Ego und Chuzpe, zum an- dernleidetsieunterSelbstüberschätzung und merkt nicht auf Anhieb, dass die Spielregeln im Westen andere sind. Sie ist studierte Pädagogin und muss in Deutschland zunächst illegal als Putzfrau arbeiten. Hochkant fliegt sie aus einem Spital, als sie ihre Kompetenzen überschreitet. Schliesslich bleibt sie ermattet im Bett liegen und wird von einem britischen Gentleman liebevoll umsorgt. «John schnitt Rosen, beobachtete Wolken und kochte Tee.» Keiner also, der ihr ungebührlich auf die Pelle rückt, sondern ein Herr mit Stil. Castingshows allerdings hält er für «Quatsch», bis er merkt, wie bedeutsam Aminats Erfolg für Rosalinda ist. Zum ersten Mal keimt in der Grossmutter die Hoffnung, die Enkelin eines Tages wiederzusehen. Bronskys Roman ist frech, rabiat, manchmal abgrundtief böse und traurig und trotzdem komisch. Er handelt vom Verlust der Familie, von Kindesvernachlässigung, illegalem Leben, Neuanfang und Alter in der Fremde und ist trotzdem heiter. Warum? Erstens will Alina Bronsky unterhalten und setzt zu diesem Behuf gekonnt auf literarischen Slapstick, Tempo, harte Schnitte und messerscharfe Argumente. Zweitens räumt sie auf mit der gütigen und duldsamen Babuschka und rückt stattdessen eine Frau ins Zentrum, die auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist und selbst dann den Kopf oben behält, wenn sie untendurch muss. Selbstbewusst, stolz und schick – das sind die Eigenschaften, die sie auszeichnen und trotz mancher Grausamkeit liebenswert machen. l Das Mädchen heisst Aminat und wird zum Augapfel seiner Grossmutter und zur monologisierenden Heldin des Romans. Bronsky, 1978 in Jekaterinburg geboren und in Deutschland aufgewachsen, setzt dem Typus der osteuropäischen Stehauffrau ein Denkmal. Während die Autorin in ihrem heftig gepriesenen Erstling «Scherbenpark» (2008) zeigte, wie sich eine blitzgescheite 17-Jährige die Seele aus dem Leib kotzt und dem Russenghetto entkommt, schreibt Bronsky jetzt einen abenteuerlichen Familienroman über drei Jahrzehnte aus der Sicht einer Matriarchin. Der Roman setzt ein mit Aminats Geburt 1978 und hört auf mit dem Triumph, dass die mittlerweile 30-Jährige in einer Castingshow zur besten jungen Sängerin Deutschlands gekürt wird und der Fernsehwelt vorgaukelt, sie sei erst 19. «Ich fand nicht, dass Aminat schön sang. (…) Es war nicht kraftvoll, nicht melo6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010 HERMANN J: KNIPPERTZ / AP Aufstieg zur Sängerin Novelle Eine spannungsreiche Geschichte über Krieg, Verrat und Treue in Japan Christine Wunnicke: Nagasaki, ca. 1642. Edition Epoca, Bern 2010. 112 Seiten, Fr. 24.90. Von Angelika Overath Der Titel könnte an ein Stillleben erinnern: «Nagasaki, ca. 1642». In kräftigen Farben illuminiert die 1966 geborene Christine Wunnicke ein Tableau aus Begehren, Verrat und Treue im alten Japan des 17. Jahrhunderts. Held ist Seki Keijiro, ein einst berühmter Krieger, der seit der Belagerung von Osaka vor 26 Jahren nichts mehr zu tun hat und sich nun auf dem Lande im Schoss seiner Familie gepflegt der Faulheit hingibt. Manchmal lässt er einen Enkel auf sich herumkrabbeln, oder er webt an einem Band mit Schildkrötenmuster. Doch was niemand ahnt: In Seki glimmt noch etwas. Es gibt da eine «offene Sache», die – was immer das sein mag im alten Japan – mit Liebe zu tun hat. Und als Seki hört, dass ein Schiff der «Orlandesen» vor Nagasaki erwartet werde, kommt Bewegung in den alten Samurai. Er lässt sich seit zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder die Haare schneiden, montiert ein besonderes Schwert und bewirbt sich für den Posten des Inspektors für Deshima, jene in der Bucht von Nagasaki aufgeschüttete Insel, den einzigen Ort, an dem Japan mit dem Rest der Welt Handel trieb. Auf dem Schiff der Niederländischen Ostindienkompanie reist als Dolmetscher Abel van Reenen, der kaum 20-jährige Sohn eines Gesellschafters der Kompanie. Er ist ein Mann «von luftigem Temperament», der gerne mit dem Schiffsaffen in der Takelage hängt und sonst alle nervt, weil er immer zu viel spricht. Aus BruNo Spoerri (Hg.) MUSIK AUS DEM NICHTS Langeweile hat er auch etwas Japanisch gelernt. Zwischen dem jungen «Dolmetsch» und dem alten Krieger entwickelt sich eine gegenseitige Anziehung, die von Seiten Sekis nicht zweckfrei ist. Seki will, dass Abel herausfindet, wem das Schiff «Refuti» gehört hat. Von einer Kanone, die dieses Schiff brachte, wurde vor 42 Jahren sein grosser Lehrer, Beschützer und Liebhaber, der schöne, grüngerüstete Krieger Yuudai, vor Sekis Augen zerfetzt. Abel, der mit den Silben des Wortes spielt, entdeckt sehr schnell, dass Sekis «Refuti» das holländische Schiff mit Namen «Liefde», zu Deutsch Liebe, ist. Es hat zur Flotte seines Grossvaters gehört, und demnach ist für Seki nun Abel das Zentrum «der offenen Sache», die nichts mit christlicher Gottesliebe zu tun hat, sondern japanisch mit einem Wesen, das sich berühren lässt, oder auch damit, den Geist des Geliebten zu rächen. Der junge Abel wird Schüler und Geliebter des 57-jährigen Seki und wiederholt damit, was Seki einst für Yuudai war. Abel lernt das sichere Stehen des Samurai («Er sitzt in seinem Beckenknochen wie in einem Lehnstuhl. Wie macht er das? Das möchte ich auch können»), und er lernt «sechs japonesische Wörter für die Liebe und acht für die Unzucht, und erstere passten alle nicht, und letztere passten alle». Die kleine, gut recherchierte, detailgenaue Novelle aus einem vergangenen Japan, in der pointensicher auch Fantasy-Elemente nicht fehlen, ist getränkt mit Spannung, Gewalt und Erotik. Christine Wunnicke erzählt atmosphärisch dicht, im schnellen Wechsel von komischen und drastischen Szenen. Sie beherrscht ein fein kalkuliertes Repertoire der Anspielungen und evoziert, Von der zAuBerei zur AllgegenwArt wie die elektro AkustisChe Musik die welt eroBerte Andrea Blunschi Die Frau des Dorfarztes und der Wehrmachtoffizier Eine Spurensuche THE ART ARCHIVE / ALAMY Alter Samurai liebt jungen Dolmetscher Ein Samurai sucht an seine früheren Taten anzuknüpfen. ohne je peinlich zu sein, die körperliche Liebe zwischen Abel und einer Japonica-Hure im schönen Teehaus, die nach einem hinreissenden, verspielt-scheuen Beieinandersitzen schliesslich doch variantenreich nur vollzogen wird, weil Abel auf einmal bemerkt, dass Seki zusieht. Souverän zeigt sie den gelingenden geschlechtlichen Zweikampf zwischen Seki und Abel, zunächst in heissen Schwefelquellen, dann auf einem Stein, den wiederum der Geist Yuudais genau beobachtet. Immer grenzt in diesem Kosmos körperliche Lust, «die Feine Sache», an den Schmerz, und konsequenterweise ist die Liebe nur der Anfang des Sterbens. Am Ende der intensiven Novelle mustert Seki Keijiro seine erstmals zu langsame Hand. l Aus den Fugen ein BuCh üBer eine eigenwillige FrAu und eine sChweiz Aus Anderer zeit Chronos seit 25 Jahren Bücher zur Zeit <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0tDA2MgEAS02GHw8AAAA=</wm> <wm>10CEXKIQ6AMBBE0RN1M7PtUspKKKpBAOEEBM39FQSD-Hnmt-Ym-BrrstfVCSQLZB81uRUTzZ2zqGR7paqCGJg1ohii_3cYp7ABM3CAcp_XA82QKfhdAAAA</wm> die geScHicHte der elektroakuStiScHeN MuSik iN der ScHweiz Bruno Spoerri (Hg.) Musik aus dem nichts Die Geschichte der elektroakustischen Musik in der Schweiz Andrea Blunschi die Frau des dorfarztes und der wehrmachtoffizier Eine Spurensuche 2010. 416 S. 104 Abb. Geb. CHF 58 2010. 224 S. 70 Abb. Geb. CHF 32 Chronos Verlag Eisengasse 9 8008 Zürich www.chronos-verlag.ch [email protected] 28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 ISE E R P E T M HÄ UNVERSC DEN IE MACHEN S PREISDIREKTEN H AUF VERGLEIC ch . d l r o w y r www.sto TIEFPREISE GARANTIERT – DAUERHAFT Der neue Online-Buchshop: schnell und portofrei <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MjYyMwYACortdA8AAAA=</wm> <wm>10CEXKKw6AMBAFwBO1eW_b7YeVpagGAYQTEDT3VyQYxLgZw9Tj0_p69M0IRHWUICmYVvWSkxURj5iNZBUQE4tUImi2f7s2ux1YgBP0z3W_0ah2K10AAAA=</wm> 19.90 17.90 22.90 9.90 TT A B A R – . 10 RE WEIHNACHTSJohn Katzenbach Der Professor Unheimlicher Psychothriller 16.90 Sophie Kinsella Roger Willemsen Sila Sönmez Eine romantische Komödie um Schnuller und Shoppingtüten Ein ungewöhnlicher Reiseroman jenseits touristischer Ziele Eine junge Türkin und ihr wildes Leben Mini Shopaholic 17.90 Pedro Lenz Regine Stroner Schweizer Literatur von Weltformat Ein kulinarischer Adventskalender Der Goalie bin ig Bald ist Weihnachten Die Enden der Welt 39.90 Jean-Pierre Brunschwiler Orte der Kraft in der Schweiz Der Bildband zeigt ihre Energie und Schönheit Das GhettoSex-Tagebuch AUF IH LUNG BIS ZUM BESTEL 010 20.12. 2 wer t 40.– estell eih421 Mindestb in-Code: swnzzw he Ihr Gutsc h r y world.c to w w w.s Belletristik Roman Eine Mutter im Pornobusiness, ein verrückter Vater in Panama – der Niederländer Tommy Wieringa mutet seiner Hauptfigur einiges zu Der kleine Caesarion kommt nicht von seiner Mutter los teilt, wie ihr Vater dies tat: «‹Wie konntest du nur?› ‹Ich bin nicht mein Körper, Ludwig, er ist nur ein Vehikel … Du darfst mich deswegen nicht hassen.›» Nicht Hass, aber eine Hassliebe ist es, die den Sohn fortan an seine Mutter bindet. Als Barpianist reist er seiner Mutter immer wieder hinterher, begleitet ihr Comeback – schlecht gelaunt, ein personifizierter Vorwurf. Gibt seine erste ernsthafte Beziehung auf, um bei seiner Mutter zu bleiben, die das alles nicht wünscht, aber sich auch nur halbherzig dagegen wehrt. Nur bekehren lassen will sie sich nicht, auch dann nicht, als sie schliesslich an Brustkrebs erkrankt und diesen so lange mit Misteleinläufen und Wunderpillen behandelt, bis er sie dahinrafft. Den Vater, einen Performancekünstler, der im Hochland von Panama als negatives Kunstkonzept Berge in die Luft sprengt, lässt das alles kalt: Als ihn sein Sohn nach zwanzig Jahren und einem überaus gefährlichen Trip aufspürt, kommt es zu einem Showdown, der wohl nicht zufällig an den Kampf zwischen Kronos und Uranos erinnert. Tommy Wieringa: Der verlorene Sohn. Aus dem Niederländischen von Bettina Bach. Hanser, München 2010. 333 Seiten, Fr. 32.90. Von Annette Mingels Krude Sexszenen «Caesarion» – so der Originaltitel des Buches – wurde im Deutschen zu «Der verlorene Sohn». Das impliziert erstens eine inhaltliche Umdeutung und zweitens einen Diskurswechsel von der antiken zur christlichen Legende. Beides tut dem Buch nicht gut. Nicht nur ist der Sohn in dieser Geschichte keineswegs verloren, sondern vielmehr die einzige Konstante im desolaten Familienverband, auch das Spiel mit antiken Mythen und Legenden nimmt im Roman eine wesentliche Rolle ein: Sei es, dass das Verhältnis von Mutter und Sohn ödipalerotische Züge trägt, seien es der Schauplatz Alexandria oder die zahlreichen Verweise auf antike Figuren. «Der verlorene Sohn» ist ein disparates Buch – die 330 Seiten sind vollgestopft mit Geschichten und Erlebnissen, mit psychologisch genauen Beobachtungen und kruden Sexszenen, mit gelungenen und weniger gelungenen Sät- Pralle Handlung PATRICK POST / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF Ludwig hat’s schwer. Auch wenn er der gehätschelte Sohn einer schönen, jungen Mutter ist. Oder vielmehr gerade deshalb. Schwer ist es für ihn, seiner alleinerziehenden Mutter alles zu sein: Sohn, Beschützer, Gefährte. Schwer ist es, neben der eigenen Lebensgeschichte die der Mutter zu akzeptieren. Schwer, sich zu lösen. Und ebenso schwer, sich wieder anzunähern. Zunächst jedoch scheint alles ganz einfach. Mit seiner Mutter lebt der Junge in einem prächtigen Haus in Alexandria. Der Vater, ein Künstler, hat seine Familie zurückgelassen, um in der Abgeschiedenheit seinen Visionen nachzujagen. Manchmal fehlt er Ludwig, meist nicht: «Er braucht gar nicht wiederzukommen, mein Vater, ich bin ein angemalter kleiner Prinz, zusammen mit der Königin lebe ich in einem Schloss.» Die Mutter, eine Meisterin des Müssiggangs, liebt es, das Kind zu verwöhnen, es zu schminken und zu schmücken, ihm beim Klavierspiel zuzuschauen, es mit in den Teesalon zu nehmen, wo sie bei Kaffee und Zigaretten von Europa träumt. «Sie nannte mich Caesarion, kleiner Caesar. Caesarion war der Titel des Stücks, das wir zusammen aufführten – ich als Wunderkind und sie als die Mutter, die das goldene Ei ausgebrütet hatte.» zen. Tommy Wieringa lässt seine Figuren so ziemlich alles erleben, was möglich ist, auch wenn es unmöglich erscheint. Von Alexandria ziehen Mutter und Sohn nach England, in ein wurmstichiges Haus an der Küste, die Jahr um Jahr näher rückt. «Hier bricht langsam alles zusammen», warnt Warren, der ihnen das Haus verkauft. Er soll im doppelten Sinne recht behalten: Nicht nur das Haus wird schliesslich vom Meer verschlungen, auch manch andere Fassade bricht ein. So muss der halbwüchsige Ludwig feststellen, dass seine Mutter ein Leben vor ihm hatte. Eines, in dem sie als Pornodarstellerin Karriere machte; eines, das sie aus Geldnot, aber auch aus Langeweile wieder aufzunehmen gedenkt. Sie, die «verlorene Tochter» par excellence, sieht sich nun einem Sohn gegenüber, der sie moralisch ebenso verur- Der niederländische Autor Tommy Wieringa, 43, garniert Unterhaltung mit mythologischen und kunsttheoretischen Exkursen. «Der verlorene Sohn» ist das fünfte Buch Tommy Wieringas, der derzeit an der Freien Universität Berlin als Writer in Residence logiert. Wieringa schreibt eine Coming-of-Age-Geschichte: Dem jungen Ludwig stossen diese Abenteuer aufgrund seiner Familiensituation allerdings eher zu, als dass er sie sucht. Anders als im gefeierten Roman «Joe Speedboat» (2006) begnügt sich Wieringa in seinem neuen Buch nicht damit, sehr gute Unterhaltungsliteratur zu liefern. In die pralle Handlung fügt er immer wieder mythologische und kunsttheoretische Exkurse ein, die etwas angelesen wirken. Auch an den Metaphern verhebt er sich manchmal («es regnete Himmel»), und zuweilen lässt er Ludwig plötzlich in einen altväterlichen Ton gleiten, der wohl zur Umkehrung der Rollen von Mutter und Sohn, nicht aber zu Ludwig passt: «Sollte sie doch ihren sündigen Weg gehen.» Doch das sind am Ende Kleinigkeiten. Schwerer wiegt, dass der gesamte Plot mit seiner Häufung von Unwahrscheinlichem und seinem offensiven Spiel mit dem Klischee vom Absturz in die Kolportage bedroht ist. So ist es am Ende am Leser zu entscheiden, ob er Wieringa auf seinem rasanten Parcours durch die Kontinente und die bewegten Leben seiner Protagonisten folgen will. Tut er das, kann er was erleben. Und das ist ja wohl nicht das Schlechteste, was Literatur bieten kann. l 28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Der rumänische Schriftsteller Dan Lungu parodiert den Alltag Geruch von Bratkartoffeln Dan Lungu: Wie man eine Frau vergisst. Aus dem Rumänischen von Jan Cornelius. Residenz, Salzburg 2010. 283 Seiten, Fr. 36.50. Dies ist kein Selbsthilfebuch, das unglücklich Liebenden den Weg zur Heilung erklärt, kein Buch darüber, «wie man eine Frau vergisst». Die Liebesgeschichte, die der Titel erwarten lässt, endet schon auf der zweiten Seite. Denn auf dem Zettel, den die Geliebte ihrem Andi hinterlassen hat, steht: «Ich bin weg.» Betäubt vom Geruch von Bratkartoffeln, der durch den ganzen Wohnblock zieht, denkt er zuerst, sie wolle ihm einen Streich spielen und sehen, was er sozusagen hinter ihrem Rücken treiben würde; erst allmählich begreift er, dass sie ihn tatsächlich verlassen hat. So ist Andi schon ziemlich schlecht gelaunt, als er zu dem Treffen einer baptistischen Gruppe geht, über die er, der Aufklärungsjournalist, berichten soll. Und als er dann auch noch die Wohnung räumen muss, weil er die Miete nicht mehr bezahlen kann, und nirgends mehr Zuflucht findet ausser bei jenem Prediger, den er berufsbedingt beobachtet hat, erreicht Andis Stimmung einen existenziellen Tiefpunkt. Zwischen ihm, dem sarkastischen Ungläubigen, und dem religiösen Eiferer entsteht eine merkwürdige Freundschaft, die dem Roman, in dem er als Hauptfigur auftritt, als narratives Gerüst dient. Denn der rumänische Schriftsteller Dan Lungu, 1969 in Botos˛ani geboren und Soziologiedozent an der Universität in Ias˛i, hat sich als scharfer Beobachter BRUNO AMSELLEM / LAIF Von Stefana Sabin Dan Lungu erzählt von einem jungen Rumänen auf Reise. der sozialen Verhältnisse einen Namen gemacht und in Erzählungen und Romanen die Alltagsrealität mit ebenso viel parodistischer Energie wie sprachlicher Kraft dargestellt. In seinem neuen Roman beschreibt er eine religiöse Erweckungsbewegung und zeichnet das Bild einer gestörten Gesellschaft, in der weder die Religion noch die Politik einen sicheren Platz haben. Dabei stehen die alltagsrelevante Wahrheitssuche des Aufklärungsjournalismus, also Andi, und der absolute Wahrheitsanspruch des Religiösen, also der Prediger, für Versuche, sowohl der postkommunistischen Armut als auch dem spätkapitalis- tischen Reichtum mit einem Bewusstseinswandel zu begegnen. Sofern er in diesem Roman eine mikrosoziologische Darstellung praktiziert, bleibt Lungu der neorealistischen Erzählhaltung treu, die zu seinem Markenzeichen geworden ist. Indem er die Handlung jedoch in einzelne, lose zusammenhängende Episoden auflöst und die Psyche des Protagonisten zum Zentrum des Geschehens macht, versucht er, dem Roman auch eine psychologische Dimension zu verleihen. So fungiert die Liebesgeschichte als narrativer Zoom, der eine Bewegung zwischen Totale und Naheinstellungen, nämlich zwischen gelassenem Überblick und angestrengter Introspektion, erlaubt. Dieser Technik entspricht der Perspektivenwechsel zwischen der «objektiven» Erzählung in der dritten Person und der «subjektiven» Ich-Erzählung des Protagonisten. Bei allen narrativen Bemühungen gelingt es Dan Lungu allerdings nicht, dem Protagonisten charakterliche Kontur und der Handlung eine glaubhafte Entwicklung zu geben. Andi versucht, seine Verhaltensweisen zu überdenken, aber bekehren lässt er sich nicht. Rauchend und trinkend bewegt er sich wie ziellos durch eine fast immer regennasse Stadt und durch seine Erinnerungen. Er findet nicht zur Selbstreflexion. Deshalb kennt die Handlung weder dramatische noch ironische Wendungen und auch keine Auflösung. Aber der heimatliche Geruch von Bratkartoffeln, den Lungu immer wieder sprachmächtig evoziert, sorgt – nicht zuletzt dank der geschickten Übersetzung – für ein charmantes pseudofolkloristisches Lokalkolorit. l Débutroman Wenn die Enkelin ihre Grosseltern nach dem Holocaust fragt Reisen an den Ursprungsort der Familie Vanessa F. Fogel: Sag es mir. Aus dem Amerikanischen von Katharina Böhmer. Weissbooks, Frankfurt a. M. 2010. 334 Seiten, Fr. 30.50. Von Klara Obermüller Es sind nicht mehr viele da, die Zeugnis vom Überleben des Holocaust ablegen können. Und die wenigen, die dazu noch in der Lage sind, haben oft bis heute geschwiegen. Umso dringlicher mag es ihnen jetzt, am Ende ihres Lebens, erscheinen, dieses Schweigen zu brechen und von ihren Erfahrungen zu berichten – nicht den Söhnen und Töchtern allerdings, sondern den Enkelkindern, die unbefangener mit der Vergangenheit umzugehen vermögen als ihre Eltern und Grosseltern. 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010 In ihrem Erstlingsroman «Sag es mir» erzählt die 29-jährige Amerikanerin Vanessa F. Fogel eine solche Geschichte, ihre eigene vermutlich, doch das ist ohne Belang. Wichtiger: Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die in Deutschland geboren, in Israel und den Vereinigten Staaten gross geworden ist und jetzt, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, mit ihrem Grossvater eine Polenreise unternimmt, die sie an die Stätten der Vernichtung wie auch an die Ursprungsorte ihrer Familie führen soll. Die Reise mit dem Grossvater wird für die junge Fela zu einer Art Initiation. Sie lernt dabei nicht nur ihre Familiengeschichte als Teil der Leidensgeschichte des jüdischen Volkes kennen, sondern wird auch noch einmal mit den Neurosen der Eltern sowie den eigenen Ängsten und Sehnsüchten konfrontiert. In ständigem Wechsel von Erinnerung und Reflexion tastet sie sich an bisher tabuisierte Bereiche ihrer Kindheit in Deutschland und Israel heran, entdeckt, wem eigentlich ihre Liebe gehört, und findet in schmerzlicher Selbstbefragung schliesslich zu sich selbst. Als Entwicklungsroman der «Third Generation» wird das Buch im Klappentext des Verlages angekündigt. Das ist er in der Tat: ein höchst lesbarer überdies, der das Kunststück fertigbringt, mit Leichtigkeit und liebevoller Selbstironie auch über die dunkelsten Seiten des menschlichen Lebens zu schreiben. Gleichzeitig aber ist «Sag es mir» auch eine ebenso zarte wie tieftraurige Liebesgeschichte, die einmal mehr vor Augen führt, dass der Tragik jüdischer Existenz, zumal in Israel, noch immer nicht zu entkommen ist. l Roman Warum uns die vergessene französische Autorin Hélène Bessette mit ihren poetischen Formulierungen fasziniert Materna magica Hélène Bessette: Ida oder Das Delirium. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Secession, Zürich/Berlin 2010. 128 Seiten, Fr. 33.90. Von Stefan Zweifel In letzter Zeit hatte sie mit ihrem Sohn in einem Hotel gewohnt. In einem Zimmer. Denn ihren Mann hatte sie verlassen. Das war 1949. Drei Jahre war sie mit dem protestantischen Missionar in Neukaledonien und hatte dort selbst eine Zeitschrift herausgegeben: «L’Evangile». Immer stärker aber drängten in die Spalten ihre eigenen Phantasien, ihre Geschichten – der erste von rund fünfzig Romanen. Vierzehn davon hat sie publiziert, und doch kennt keiner ihren Namen: Hélène Bessette. «Die Literatur gewordene Natur, die lebendige Literatur, das verkörpert für mich zurzeit niemand so sehr in Frank- reich wie Hélène Bessette.» So lobte Marguerite Duras einst die einsame Gefährtin aus den Randzonen des Nouveau Roman. Dabei geht Bessette seit ihrem Zweitling «maternA» mit einer neuen Art von poetischer Prosa schwanger und leuchtet mit ihrer Materna magica unerkundete Seelenlandschaften aus. Am trostlosesten in «Suite Suisse»: Ausgestossen, an den Rand der Prostitution gedrängt, sitzt sie in Tearooms, die die unendliche Traurigkeit einer Aufführung von Christoph Marthaler ausstrahlen, und trinkt tapfer eine Ovomaltine. Einsam, allein, bis heute vergessen: In sämtlichen Bibliotheken der Schweiz findet man nur gerade drei einzelne Exemplare von «La Tour», «Garance Rose» und «Suite Suisse» – alle drei mit dem Vermerk: «Der Museumsgesellschaft geschenkt von Herrn Dr. G. Schlocker, Zürich, den 22. April 1965.» Wer weiss, wer dieser Doktor war, jedenfalls einer der ganz wenigen Leser New York Gründungsmythos als Postkarte von Hélène Bessette. Aber was für Leser waren das! Simone de Beauvoir etwa oder eben Marguerite Duras, die 1969 einige Auszüge am Rundfunk vorliest. Mit der preziösen Diktion, die Duras’ eigenes Werk auszeichnet, dem dasjenige von Bessette in vielem verwandt ist. Frau von ganz unten So kreisen Duras’ erste Versuche um eine gehässige Putzfrau, die voll Hass und Neid im Kehricht und in Gerüchten wühlt. Eine solche Frau von ganz unten zeigt auch Hélène Bessette in ihrem von Gertrude Stein inspirierten, letzten publizierten Roman: «Ida oder Das Delirium». Im französischen Titel versteckt sich im Wahn des «dé-lire» auch «lire». Denn das «Lesen» selbst muss Wahn werden, will man Bessette gerecht werden. Art brut? Jedenfalls verehrte Jean Dubuffet ihr Werk und «die fünf stummen e in Ihrem Namen». Stumm sind auch die weissen Flecken im Text, wenn die Sätze im poetischen Zeilensprung abbrechen und wir stockenden Herzens in die Leere des Prekariats stürzen, um im freien Fall aus der gesicherten Existenz und dem abgesicherten Lesen die innere Ida zu entdecken. Selbst wenn man vom Anblick des Reichtums in Strassen und Restaurants gedemütigt wird, trägt doch jeder von uns ein kleines Etwas mit sich: ein «IdaBündel» vielleicht, ein «Ida-Ding». Verarmt und vergessen Grosse Dinge beginnen manchmal unscheinbar. Im Mai 1626 kam Peter Minuit, der Gouverneur der Kolonie Nieuw-Nederland, in ein Dorf auf der Südspitze Manhattans und kaufte den Indianern die Insel für Güter im Wert von 60 Gulden ab. Anscheinend handelte es sich grossteils um billigen Tand. Wie es sich damals gehörte, wurde der Handel mit einer Friedenspfeife besiegelt. Die holländischen Kolonialgesellschaften konnten den Handelsplatz ausbauen, bevor sie knapp vierzig Jahre später von den Engländern vertrieben wurden und Nieuw Amsterdam zu New York wurde. Als ein unbekannter Maler um 1909 die Gründungsszene für eine Postkartenserie malte, war die Stadt am Hudson dabei, die Metropole des 20. Jahrhunderts zu werden. Die Betrachter konnten zufrieden auf die primitiven Eingeborenen zurückschauen. Solche Geschichten über Kultur und Bauten New Yorks erzählen die gut 900 Postkarten, die der Architekt Andreas Adam aus seiner reichen Sammlung für dieses wunderbare Buch ausgewählt hat. Wir betrachten ihre Abbildungen und erfahren, wie die Menschen ihre Stadt zu verschiedenen Zeiten gesehen haben. Gerhard Mack Thomas Kramer (Hrsg.): New York auf Postkarten 1880–1980. Die Sammlung Andreas Adam. Scheidegger & Spiess, Zürich 2010. 560 Seiten, 948 Farbabbildungen, Fr. 79.–. Dieses Ida-Ding hat keine 300 000 Franken für eine Ferienwohnung, aber eine kleine Leidenschaft. Die kann ihr keiner nehmen. Denn sie sitzt in den Spitzen ihrer Füsse. Ihrer riesigen Füsse. Auf ihnen irrt sie durch die Strassen, lässt nur die blankpolierten Spitzen in ihr Auge blitzen und keine Auslage in den Geschäften, keine Waren der Spektakelgesellschaft. Sie ist sich selbst Schauspiel. Ganz Fuss. Und Selbst-Kuss: Sie liebkost sich so mit jedem Schritt. Bis sie von einem Auto erfasst und zerschmettert wird. Ida endet wie die Autorin: Als arme Autodidaktin und Aussenseiterin von Raymond Queneau und Le Clézio mehrfach für den Prix Goncourt vorgeschlagen und immerhin mit dem Prix Lipp bedacht, starb die 82-jährige Hélène Bessette im Oktober 2000 vollkommen verarmt und vergessen. Und verhöhnt: Denn auch Bessette war verliebt, in ihre Versfüsse – die verschmutzen ihre Prosa, verletzen alle Regeln des Romans. Doch genau dies ist die Aufgabe des Autors: «Gegen alle Regeln schreien!», schrieb Bessette 1959 im «Manifeste GRP». Diese «Groupe pour le Roman Poétique» hatte nur ein Mitglied: sie selbst. Und jetzt: uns. l Stefan Zweifel lebt als Publizist in Zürich und ist Mitglied des Literaturclubs des Schweizer Fernsehen. 28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Belletristik Roman US-Autor Michael Cunningham nimmt die New Yorker Kunstelite aufs Korn Schicke Welt gerät ins Wanken Michael Cunningham: In die Nacht hinein. Aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt. Luchterhand, München 2010. 320 Seiten, Fr. 33.90. Am Broadway ist ein Kutschenpferd von einem Auto erfasst worden und blockiert den Verkehr. Peter und Rebecca Harris kommen deshalb zu spät zu einer Party der illustren New Yorker Kunstelite, als deren stolze Mitglieder sie sich verstehen. Der Galerist und die Kunstjournalistin sind Mitte vierzig, seit zwanzig Jahren verheiratet und wohlhabend. Der Entscheid ihrer Tochter, in Boston ihr Studium abzubrechen, stellt bisher das einzige kleine Ärgernis in der Musterbiografie des Paares dar. Doch das tote Pferd steht am Anfang einer Serie aufwühlender Ereignisse, welche die sorgfältig konstruierte Welt der Harris ins Wanken bringen. Eine Freundin der beiden erkrankt an Brustkrebs. Sie vererbt Peter ihren erfolgreichsten Künstler, dessen monumentale, mit Obszönitäten und Kraftausdrücken bekritzelte Vasen seiner Galerie den grossen Durchbruch zu bringen versprechen. Peter beginnt an immer stärkeren Magenschmerzen zu leiden; Rebeccas Zeitschrift droht der Bankrott, und dann zieht auch noch Missy, ihr Nachzügler-Bruder, bei ihnen ein. Missy, so genannt nach dem «Missgeschick», das seine Existenz begründete, ist abwechslungsweise Genie und Sorgenkind, er nahm Drogen, meditierte in Japan und will nun in New York «irgendetwas mit Kunst» machen. Er stellt Peters Leben in Kürze auf den Kopf. Denn er verkörpert in den Augen seines 43-jährigen Schwagers nicht nur dessen verflossene Jugend, sondern eine «Reinkarnation» der jungen Rebecca und seines früh an Aids verstorbenen Bruders, der viel mit den verwirrenden Gefühlen zu tun hat, die Peter für Missy zu entwickeln beginnt. Verwirrendes Innenleben Wie in seinen bisherigen Romanen interessiert sich Michael Cunningham auch in seinem neuen Buch mehr für das Innenleben seiner Figuren als für äussere Handlungsverläufe. «In die Nacht hinein» ist mit einem einzigen Erzählstrang jedoch dramaturgisch einfacher gebaut als seine Vorgänger. Ein Erzähler stellt Peter abwechslungsweise von aussen und im Zwiegespräch mit sich selbst dar, bewegt sich nah an seiner Perspektive, ohne sie je ganz einzunehmen. Mittels einer Stream-of-Consciousness-Technik mischt er dabei Empfindungen und Gesprächsfetzen, Erinnertes und Gegenwärtiges, Gedachtes und Gesagtes durcheinander. Man mag diese stellenweise irritierend unordentliche Erzählweise wohlwollend als Versuch ausle12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010 LARRY FINK / GALLERY STOCK Von Simone von Büren Das neue Buch des Pulitzer-Preisträgers Michael Cunningham spielt im glamourösen Künstlermilieu New Yorks. gen, Peters wachsende Identitätsverwirrung zum Ausdruck zu bringen. Weit schwerer zu rechtfertigen ist der Mangel an Differenziertheit in der Beschreibung von Peters Zuständen und Wahrnehmungen. Er langweilt uns leider, dieser äusserst selbstbezogene Protagonist mit seinen Schlafproblemen, lauen Beziehungen und oberflächlichen Meditationen über Leben und Tod. Und aus seiner Perspektive bleibt auch Rebecca bloss das Klischee der unattraktiv gewordenen, geschäftigen Ehefrau und Missy eine reine Projektionsfläche für schwer einzuordnende Sehnsüchte. Es wird ein Geheimnis um die Figuren herum aufgebaut, das sie nicht haben: wie um die verpackten Kunstwerke in Peters Galerie, die sich – wo die Verpackung versehentlich aufgerissen wird – als «Studentenarbeiten, nachgemacht und unbeholfen» erweisen. Statt Figuren und Dinge zu beschreiben, überhäuft der Erzähler sie mit Projektionen aus der Kunst und mit literarischen Zitaten von «Jane Eyre» und Arthur Millers «Handlungsreisendem». Er vergleicht Rebecca aufgrund ihrer «kleinen Bekundungen weiblicher Gewissheit» mit den Heldinnen von Henry James und George Eliot und spricht von der «athenehaften Ebenmässigkeit» ihrer Brauen. Er entwirft Missy als bronzene Rodin-Figur und den von Magenschmerzen geschwächten Peter als den hinfälligen «Geist von Hamlets Vater». Das Problem dabei ist, dass man weder die eindimensional beschriebene Rebecca mit einer George-Eliot-Figur in Verbindung bringt noch Peter abnimmt, dass er diesen Bezug herstellt. Man sieht stattdessen den offensichtlich belesenen Autor an seinen Figuren vorbeischreiben und hat dabei oft den Eindruck, eine Menge Material sei da noch gar nicht fertig verarbeitet worden. Literarische Verweise Dass der 58-jährige Cunningham zu grösserer Differenziertheit und Sorgfalt fähig ist, hat er mit seinem pulitzerpreisgekrönten, erfolgreich verfilmten Roman «Die Stunden» bewiesen, einem Rewriting von Virginia Woolfs «Mrs Dalloway». Auch dem neuen Roman bieten zwei grosse Werke der Weltliteratur einen mächtigen, wenn auch bei weitem nicht ausgeschöpften Resonanzraum: Thomas Manns «Tod in Venedig» und Oscar Wildes «Dorian Gray». Wie Aschenbach und Gray sehnt Peter sich nach Jugend und Schönheit und wird gleichzeitig mit der Tatsache der Vergänglichkeit konfrontiert. In diesen grosszügigeren intertextuellen Verweisen wird Cunninghams blasser Protagonist für Momente lebendig und fassbarer in seinen Gefühlen für Missy, der im 21. Jahrhundert seinen Platz nicht findet. In der Begegnung mit ihm – und da hätte es interessant werden können – spiegelt sich Peter als ein Suchender, ein ewig Pubertärer, der um eine verlorene Welt trauert und im modernen New York unter die Räder kommt wie das Kutschenpferd am Broadway. l Thriller Für alle, die wissen wollen, wie es bei den Bankern während der Krise zuging One-Night-Stand und Hedge Funds Kurzkritiken Belletristik Christine Brand: Das Geheimnis der Söhne. Kriminalroman. Landverlag, Trubschachen 2010. 298 Seiten, Fr. 38.–. Annette Mingels: Tontauben. Roman. Dumont, Köln 2010. 176 Seiten, Fr. 28.90. Bereits ein Jahr nach «Todesstrich» legt Christine Brand ihren Krimi-Zweitling vor. Wie schon im Erstling kann die «NZZ am Sonntag»-Redaktorin in «Das Geheimnis der Söhne» auf ihren Erfahrungsschatz als Gerichtsreporterin zurückgreifen. Man trifft auf alte Bekannte wie die Kommissarin Lisa Kunz und deren Mitarbeiter Sandro Bandini. Erneut spielt das Buch in Bern. Diesmal geht es um Todesstrafe und späte Rache, und Hauptfigur ist eine hartnäckige, attraktive Fernsehjournalistin mit dem exotischen Namen Milla Nova. Die Mittdreissigerin recherchiert mit Vorliebe auf riskantem Terrain, zum Beispiel in der Neonazi-Szene. Bei einer Reportage über einen Altersheim-Knast stösst sie auf die Geschichte eines der letzten in der Schweiz offiziell Hingerichteten. Sie gerät selbst in Lebensgefahr. Spannend erzählt, mit klarer politischer Botschaft. Regula Freuler In Annette Mingels viertem Roman geht es um Schuld in zwei fatalen Erscheinungsformen: Seitensprung und Fahrerflucht. Dabei verwebt die 39-jährige Schriftstellerin und Kulturjournalistin raffiniert mehrere Zeitebenen, ein «Danach» und ein «Davor»: Das Buch setzt ein Jahr und zwei Tage nach dem Unfalltod der 13-jährigen Yola ein und springt dann zurück zu den Tagen vor dem Geschehen. Im ersten Teil begleitet man Yolas Eltern und Schwester, die mit einem Leben ringen, das «auf dem Punkt verharre». Im zweiten Teil bestraft sich ein ehebrecherisches Duo gegenseitig durch emotionale Grausamkeit. Spannungsvoll fügt die Autorin die Teile zu einem Ganzen, dennoch bleibt eine Leerstelle. Als Leserin weiss man zwar nun mehr als die Protagonisten, doch die Sinnlosigkeit, die das Leben haben kann, klingt nach. Regula Freuler Roman Graf: Zur Irrfahrt verführt. Gedichte. Limmat, Zürich 2010. 87 Seiten, Fr. 26.50. Ermanno Cavazzoni: Das kleine Buch der Riesen. Wagenbach, Berlin 2010. 144 Seiten, Fr. 24.50. Im Jahr 2009 überraschte Roman Graf mit seinem Début «Herr Blanc»: Der melancholische und doch geheimnisvoll heitere kleine Roman in der Tradition Robert Walsers erzählt von einem Sonderling, den man zunächst belächelt, dann aber immer ernster nimmt. Nun legt der 1978 in Winterthur geborene Autor, der zurzeit in Berlin lebt und in Leipzig studiert, seinen ersten Gedichtband vor. Leser der Literaturzeitschriften «Akzente» und «Entwürfe» kennen Roman Graf freilich schon als sensiblen, formbewussten Lyriker. Er versteht sich auf die Umsetzung kleinster Wahrnehmungen in eine dichte, poetische Sprache ebenso wie auf den Umgang mit der Tradition: Seine Sappho-Nachdichtungen beweisen es. Für eilige, flüchtige Textkonsumenten sind diese enigmatischen Texte nichts; neugierige, geneigte Leser dagegen werden reich beschenkt. Manfred Papst Der 1947 in Reggio Emilia geborene Ermanno Cavazzoni zählt wie Gianni Celati und Luigi Malerba zu den «matti padani», den Verrückten der Poebene. Immer wieder verführt er uns mit neuen Einfällen. Nun beschäftigt er sich mit der Welt der Riesen. Er eruiert ihre Grösse und ihr spezifisches Gewicht, ihre sexuelle Anziehungskraft und ihre Kriegswilligkeit. Er diskutiert ihre Ernährung und ihre Familienverhältnisse, ihre Missbildungen und Psychosen, ihre strategische Unbesonnenheit und ihr unterirdisches Hämmern. Er erörtert, inwiefern sie überhaupt rechtmässig sind und ob sie als Leitern verwendet werden können. Cavazzoni erinnert in diesem Buch an Buster Keaton: Er verzieht keine Miene und gibt sich als akribischer Buchhalter, während der Leser sich krümmt vor Lachen. Das an Borges erinnernde Konzept der absurden Ordnung ist hier höchst originell umgesetzt. Manfred Papst Markus A. Will: Bad Banker. Friedrich Reinhardt, Basel 2010. 736 S., Fr. 34.80. CHRISTOF SONDEREGGER Von Christoph Plate Manchmal gibt es Zufälle, die gibt es gar nicht: So etwa, wenn der miese Schurke von Investmentbanker, der den Frauen 15 000 Dollar die Nacht bezahlt, von seinen Boni eine Insel kauft und obendrein vor Mord nicht zurückschreckt, Lehman heisst. Mit einem n, wohlgemerkt, ganz so wie die zugrunde gegangene Bank. Mitch Lehman, übergewichtig und mit schäumendem Selbstbewusstsein, fliegt im eigenen Jet und stillt seinen unersättlichen Hunger auf die schnelle Nummer auch schon einmal im Fonds eines RollsRoyce. Dabei kommt der Sohn eines Pfarrers und einer Bardame eigentlich aus der Gosse in Los Angeles. Lehman hat das Zeug zum Hassobjekt für alle geprellten Kleinanleger. So ganz versteht auch der neureiche Aufsteiger nicht, was es mit den verschachtelten und komplizierten Fonds auf sich hat, die ihm seine hörigen Mitarbeiter in den Büros der Carolina Bank in London und New York zurechtzimmern. Ist ihm eigentlich egal, solange es die Bank reich macht und ihm fette Boni einbringt. Immer wieder fragt jemand in diesem Krimi aus den Jahren der Krise von 2006 bis 2008, ob nicht jemand erklären könne, warum alles so gekommen ist. Der Autor hat selbst Jahre bei Merrill Lynch und anderen in London gearbeitet und hält uns den Spiegel vor: Es ist die Gier in den meisten von uns, die eine unmoralische Clique von Zockern damit beauftragte, unser Geld in immer riskantere Objekte zu stecken. Warum welche Versicherung welchen Fonds mit hineinriss, warum rein technisch alles so kam, wie es kommen musste, das weiss der lesende Laie auch nach der Lektüre nicht bis ins Detail. Aber dafür gewährt uns Will erschreckende wie amüsante Einblicke in die Dekadenz und Egomanie vieler Banker, die sich um Stresstests, Quickies und Deals dreht, um die Hybris, mit der Gestalten wie Lehman die Welt an den Rand des Abgrunds getrieben haben. Natürlich gibt es in diesem Krimi auch die Guten. Der Schweizer Bankier Carl Bensien ist so einer. Und die britische Finanzjournalistin Carla Bell. Was sie in New York, London, Genf und dem Maiensäss in Zermatt erleben, gibt uns nicht unbedingt den Glauben an die Bankiers zurück. Aber es verschafft zumindest Gewissheit, dass nicht alle Bankleute Verbrecher sind. l 28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Kinder- und Jugendbuch Kurzkritiken Gunnel Linde, Susanne Göhlich (Ill.): Mit Jasper im Gepäck. Gerstenberg, Hildesheim 2010. 160 Seiten, Fr. 22.50 (ab 8 Jahren). Fantasy Im Roman von Peter Van Olmen spielen Autoren und ihre Figuren mit Christian Tielmann: Spürst du die Angst? Thienemann, Stuttgart 2010. 160 Seiten, Fr. 18.90 (ab 13 Jahren). Bücher leben Peter Van Olmen: Odessa und die geheime Welt der Bücher. Cecilie Dressler, Hamburg 2010. 544 Seiten, Fr. 33.50 (ab 12 Jahren). Jasper ist das struppigste Zwergpony der Welt und «mindestens so süss wie tausend Kätzchen, Eichhörnchen und Marzipantorten, alles gleichzeitig». Anneli und Nicklas haben ihn bei einer Lotterie im Zoo gewonnen. Vor Tante Tinne aber, die mit ihnen Urlaub in Kopenhagen macht, halten die Geschwister ihr Glück geheim. Nicht auszudenken, wenn sie sich von ihrem neuen Freund wieder trennen müssten! Sie beschliessen, Jasper im Hotel zu verstecken und dann unbemerkt nach Hause zu schaffen – wäre er nur nicht so dickköpfig … Wie die Tante von den Kindern an der Nase herumgeführt wird, ist hinreissend komisch. Die 1924 geborene, vielfach ausgezeichnete schwedische Schriftstellerin Gunnel Linde zeigt in ihren mehr als 40 Büchern das eigenständige Handeln der Kleinen immer als etwas Grosses. Verena Hoenig Als Amelie nicht zum Date erscheint, ahnt Nils das Schlimmste. Zu Recht. Sie ist entführt worden, und er, der später Journalist werden will, stellt Nachforschungen an. Eine Spur führt zu ihrem Vater; einem, der immer obenauf schwimmt: Vor 1989 war er Stasi-Offizier, heute versucht er als Pressechef eines Kraftwerks einen Umweltskandal zu vertuschen. Seine Tochter durchleidet nun, was er als Vernehmer vor Jahren anderen angetan hat. «Spürst du die Angst?» ist nicht einfach eine Wendegeschichte. Der Krimi stellt grundsätzliche Fragen: nach der persönlichen Verantwortung und nach Werten unabhängig vom politischen System. Erlaubt Rache alles? Wie kann Entschuldigung aussehen? Was ist Gerechtigkeit? Tielmann gibt keine eindeutigen Antworten, sein Roman regt zum Nachdenken an. Christine Knödler Judy Blundell: Die Lügen, die wir erzählen. Ravensburger Verlag, Ravensburg 2010. 288 Seiten, Fr. 32.70 (ab 14 Jahren). K. A. Nuzum: Hundewinter. Carlsen, Hamburg 2010. 208 Seiten, Fr. 20.90 (ab 10 Jahren). Müssen Geburten schwer sein? Die Antwort in diesem Jugendbuch heisst Ja. Doch das ist längst nicht alles. Die wunderschöne Mutter, der verehrte Stiefvater, Evies erste Liebe Peter: Menschen sind nicht, was sie scheinen. Evie, 15, muss sich zurechtfinden zwischen Doppelleben, Doppelmoral und (Selbst-) Täuschungen der Erwachsenen. Die Folgen sind fatal, alte Verbrechen ziehen neue nach sich, der Kriegsgewinnler von gestern plant heute neue Geschäfte, doch ein Tornado legt nicht nur die Stadt, sondern alle Zukunftspläne in Schutt. Was ist die ganze Wahrheit? Die Frage bleibt offen, aber Evie entscheidet sich. Die Essenz dieses klugen, mitreissenden Romans, der in den fünfziger Jahren in Amerika spielt, lautet: «Ich würde nie mehr so sein, wie ein anderer mich haben will.» Davon zu lesen, lohnt sich. Christine Knödler Die Veranda ist die Grenze; weiter hinaus traut sich die elfjährige Dessa nicht mehr, und manchmal überfällt sie der Schneealbtraum auch tagsüber. Vor einem Monat musste sie miterleben, wie ihre Mutter erfror. Als Dessas Vater – ein Pelzjäger – wieder einmal unterwegs ist, steht ein verletzter Hund vor der einsamen Hütte. Dessa füttert ihn. Der Hund fasst Vertrauen, und Dessa mag das Gefühl, gebraucht zu werden. Als der Hund sie vor einem Bären rettet und in Lebensgefahr schwebt, überwindet Dessa ihre Angst vor dem Schnee und wagt sich hinaus. Drei Figuren auf engstem Raum; doch das Buch ist kein Kammerstück, sondern eine packende Lektüre über Trauern, Ängste und die Annäherung zwischen Dessa und dem Hund und zwischen Tochter und Vater, die neu zusammenfinden müssen. Andrea Lüthi 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010 Von Andrea Lüthi Auf einem nächtlichen Streifzug entdeckt die zwölfjährige Odessa ein leuchtendes Buch und nimmt es mit. Sogleich folgen ihr unheimliche Kapuzengestalten, und ihre Mutter wird von schweineähnlichen Monstern entführt. Aber in Mutters Bibliothek trifft sie einen blasierten, Zigarren rauchenden Kanarienvogel, dessen respektlose Kommentare einen schmunzeln lassen. Er hilft Odessa, in die fantastische Stadt Scribopolis zu gelangen. Dort leben Schriftsteller wie Shakespeare, Flaubert und Kafka zusammen mit Romangestalten, die sie mit Hilfe von Musenpulver aus den Büchern holen. Odessa erfährt, dass ihre Mutter eine Muse ist, und ihr Vater, den sie nie kennenlernte, ein berühmter Schriftsteller. Aber welcher? Und wer ist «der Wahre», der als Einziger in das Buch der Bücher schreiben kann? Was man da hineinschreibt, geht in Erfüllung – so lässt sich die Welt lenken. Darum sucht ein abtrünniger Schriftsteller fieberhaft nach dem Buch. Er hat auch den Mörser für das Musenpulver gestohlen; den sollen die drei Mutigsten zurückholen. Odessa besteht die Tapferkeitsprüfungen nicht, weil Dostojewski sabotiert, aber dank den Brontë-Schwestern nimmt sie heimlich an der Reise teil. Neu ist die Idee, in ein Buch zu steigen oder Romanfiguren zu beleben, nicht. In Michael Endes «Unendliche Geschichte» oder Cornelia Funkes «Tintenherz» steht sie im Zentrum. Peter Van Olmen geht einen Schritt weiter. Er regt an, über die Macht der Schreibenden und die Wirkung von Büchern nachzudenken. Dürfen Schriftsteller die Welt verbessern, oder müssten sie nicht die Phantasie wecken, damit jeder selber fähig ist zu handeln? Und was würde es bedeuten, selber ins Buch der Bücher schreiben zu können? Mit Figuren von Lancelot bis Hercule Poirot und mit Motiven aus Mythen und Weltliteratur richtet sich der Roman auch an Erwachsene. Da wird etwa «der Wahre» daran erkannt, dass er die Feder aus dem Stein ziehen kann; und die «Gnorks» entstanden beim missglückten Versuch, Orks aus «Herr der Ringe» zu holen. Auch wenn das Buch gespickt ist mit Anspielungen, die packende Handlung trägt einen leicht durch den action- und einfallsreichen Roman. l Kommunikation Tiersprachen im Visier Wau! Miau? Kurzkritiken Alexandra Maxeiner, Anke Kuhl (Illustration): Alles Familie! Klett, Leipzig 2010. 32 Seiten, Fr. 22.90 (ab 5 Jahren). Quentin Blake, John Cassidy: Zeichnen für verkannte Künstler. Antje Kunstmann, München 2010. 106 S., Fr. 23.50 (ab 7 Jahren). Vater, Mutter, Tochter, Sohn – das ist Bens Familie. Ganz klassisch. Viele Familien sehen heute aber anders aus: Das eine Kind lebt nur mit seiner Mutter zusammen, ein anderes hat Halb- beziehungsweise Stiefgeschwister. Doch egal, ob man Tochter oder Sohn in einer Adoptiv-, einer Regenbogen- oder einer Patchworkfamilie ist: Jeder gehört zu einer Familie und die ist einzigartig. Das gilt auch für die Kosenamen. So sagen manche Kinder zu ihren Eltern «Mamsko», «Mummelchen» und «Pabbo». Im Sachbilderbuch «Alles Familie!» illustrieren Anke Kuhls unvergleichlich komische Cartoons die Beziehungsverflechtungen, die Alexandra Maxeiner klug beobachtet und aufgeschrieben hat. Ein spannendes Thema, das auf unangestrengte Weise erstmalig und umfassend für Kinder dargestellt wird. Verena Hoenig Wie zeichnet man Augen, Nasen und wie einen Hund oder einen Hasen beim Mittagessen? Fröhlich nimmt Englands populärster Cartoonist und Illustrator Quentin Blake alle an die Hand, die besser zeichnen lernen wollen. Seine genialen Kritzeleien, seine Ideen und Tipps kitzeln schlummernde Talente wach. Jedes Exemplar des Buches wird darüber hinaus zum Unikat, weil es Platz bietet, die neu erworbenen Kenntnisse gleich anzuwenden. Der Nachwuchskünstler folgt amüsiert den Anweisungen und lernt, beim Zeichnen den Kern einer Sache zu treffen. Den Radiergummi braucht man hier nicht, wohl aber zwei bis drei gute Stifte – und Spucke auf dem Zeigefinger, um zum Beispiel gerade aufs Papier gebrachte Linien effektvoll verwischen zu können. Inspirierend, innovativ und einfach grossartig! Verena Hoenig Axel Brüggemann: Wie Krach zu Musik wird. Beltz & Gelberg, Weinheim 2010. 224 Seiten, Fr. 27.50 (ab 12 Jahren). Didier Queloz: Extrasolare Planeten. SJW, Zürich 2010. 52 Seiten, Fr. 13.– (ab 12 Jahren). Wie starb der Lieblingskomponist des Sonnenkönigs? Er rammte sich einen Taktstock in den Fuss und starb an der Infektion. Axel Brüggemann kennt viele Anekdoten. Vor allem aber erzählt er anschaulich vom Alltag der Menschen und ihren Gefühlen – ab der Antike bis zur Moderne. In diese Bilder bettet der Musikwissenschafter und Journalist die Musik ein und schafft Bezüge zu anderen Kunstformen und zur Politik. Er stellt Fragen, regt zu einfachen Übungen an, etwa um das Geheimnis des Rhythmus zu verstehen. Auch was eine Fuge ist, was ein Dirigent macht, wie man komponiert oder was sich ein Sänger beim Interpretieren eines Liedes überlegt, erfährt man in dem kurzweiligen Buch – konkret auch in persönlichen Beiträgen von Künstlern wie Nikolaus Harnoncourt, Cecilia Bartoli oder Sting. Andrea Lüthi Nein, grüne Männchen werden nicht bemüht. Obwohl das grossformatige SJWHeft mit dem etwas sperrigen Titel von der Suche nach Himmelskörpern handelt, auf denen ausserirdisches Leben prinzipiell möglich wäre. Die Astrophysiker Miguel Mayor und Didier Queloz von der Universität Genf meldeten 1995 die Entdeckung des ersten Planeten ausserhalb unseres Sonnensystems. «51 Pegasi b» ist so gross wie Jupiter, seinem Stern jedoch hundert Mal näher als dieser der Sonne. Queloz schildert nüchtern, wie er, damals Doktorand, ganz allein die sensationelle Beobachtung machte, wie der Fund die bisherigen Theorien zur Planetenbildung über den Haufen warf und wie die Suche nach ausserirdischem Leben weitergeht. Geballtes Wissen, knapp, aber verständlich aufbereitet und grosszügig bebildert. Sabine Sütterlin Georg Rüschemeyer: Menschen und andere Tiere. Vom Wunsch, einander zu verstehen. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2010. 180 Seiten, Fr. 30.50 (ab 12 Jahren). ANKE KUHL Von Sabine Sütterlin «Vor langer Zeit, als die Tiere noch sprechen konnten …», beginnen manche Märchen. Diesen paradiesischen Zustand (wieder) herzustellen, ist ein alter Menschheitstraum. Der studierte Biologe und Wissenschaftsjournalist Georg Rüschemeyer hat darüber ein wunderbares Werk geschrieben. Es sollte ursprünglich von Wolfskindern handeln. Den Anstoss gab, dass 2008 die Geschichte eines Menschen, der angeblich unter Tieren aufgewachsen war, als Erfindung entlarvt wurde. Rüschemeyers Recherchen führten ihn zu weiteren Fragen: Können sich Mensch und Tier überhaupt gegenseitig verstehen? Wie unterscheiden sich die beiden in ihrer Art zu denken und zu fühlen? Daraus ist ein packendes Panorama des aktuellen Kenntnisstandes zur Kommunikation zwischen Lebewesen geworden. Selbst Pflanzen «reden» mit Hilfe chemischer Signale. Tiere übermitteln sich nicht nur Botschaften über Futter oder Feindwarnungen. Auch Musikalität, Mathematik und Spielverhalten sind keine Errungenschaften des Homo sapiens. Dennoch sind alle bisherigen Versuche des Menschen, sich mit Tieren sozusagen auf Augenhöhe zu verständigen, gescheitert – auch wenn trainierte Schimpansen in Taubstummensprache nach Bananen verlangen oder wilde Bären, Menschenaffen oder Geparden zeitweilig Menschen unter sich geduldet haben. Mit beeindruckender Sachkenntnis schildert der Autor Beobachtungen und Experimente. Er beleuchtet kritisch Schwachstellen in Versuchsanordnungen oder Lücken in der Beweisführung, erledigt manchen Mythos und macht deutlich, wo die Wissenschaft noch im Dunkeln stochert. Ohne philosophisches Gründeln, aber auch ohne nervende Sentimentalität schildert er uns das Wesen der Kreaturen, die wir einerseits als «Nutztiere» verbrauchen, andererseits aber mit sinnlosem Luxus verhätscheln. Zu den inneren Vorzügen dieses Buches gesellt sich ein äusserlicher: Mit Leineneinband, Pappschuber und Lesebändchen müsste es eigentlich auch bei Jugendlichen heftige Bibliophilie auslösen. Wenn nicht: Auch nicht mehr ganz Junge führen es sich mit Gewinn zu Gemüte. Schade eigentlich, dass Tiere nicht lesen können. l 28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Interview Der indische Ökonom und Philosoph Amartya Sen gehört heute zu den einflussreichsten Denkern. In seinem aktuellen Buch entwickelt er eine neue Idee von Gerechtigkeit. Kirsten Voigt hat mit ihm gesprochen Reden über Recht Bücher am Sonntag: Herr Professor Sen, in Ihrem neuen Buch «Die Idee der Gerechtigkeit» plädieren Sie für einen Abschied von Konzepten einer absoluten, stark reglementierten Gerechtigkeit, die von Institutionen verwirklicht werden soll. Welche Konzepte sollten das, was Sie «transzendentalen Institutionalismus» nennen, in der zeitgenössischen praktischen Philosophie oder Ethik ablösen? Amartya Sen: Ich argumentiere für eine Idee von Gerechtigkeit, die Raum lässt für Meinungsverschiedenheiten innerhalb einer konsistenten Theorie. Wir müssen nicht darin übereinstimmen, wie eine perfekt gerechte Welt aussehen würde. Gewiss müssen wir sehr wohl in Bezug auf viele Elemente Einigkeit erzielen – zum Beispiel über die Bedeutung persönlicher Freiheit und Gleichheit, über die Absicht ökonomische, politische und soziale Ungleichheit abzuschaffen, über die Bedeutung der Demokratie und unsere Fähigkeiten, frei am politischen Leben teilzunehmen, über das Recht auf freie Meinungsäusserung. All diese Elemente sind wichtig, stehen aber unter Umständen sogar in Konflikt miteinander. Sie verehren John Rawls, haben ihm Ihr Buch gewidmet. Gleichwohl vertreten Sie grundlegend andere Positionen als Rawls in seiner 1971 erschienenen «Theorie der Gerechtigkeit». Worin besteht der Hauptunterschied? John Rawls ist vermutlich der bedeutendste politische Philosoph unserer Zeit. Für ihn spielt die Freiheit eine sehr spezielle und wichtige Rolle – und nichts weiter. Meine Theorie der Gerechtigkeit ist stärker angepasst an die realen Verhältnisse – kompromisslos allerdings in der Forderung, dass unsere Übereinkünfte vernunftbegründet sein müssen. Das ist die starke Behauptung meiner Theorie: die tragende Amartya Sen Amartya Sen wurde 1933 in Indien geboren. Er lehrt als Professor für Wirtschaftswissenschaft und Philosophie an der Harvard University in Cambridge (Massachusetts) und erhielt 1998 den Nobelpreis für Ökonomie. Sen studierte in Kalkutta und am Trinity College Cambridge, unterrichtete am MIT, in Stanford, Berkley, an der London School of Economics und in Oxford. Weltweit wird er auch als Berater in Politik und Wirtschaft konsultiert: Auf seine Initiative geht der jährlich von der Uno publizierte «Human Development Index» zurück. Sein neustes Werk «Die Idee der Gerechtigkeit» ist soeben bei C. H. Beck (München 2010, 493 Seiten, Fr. 43.50) auf Deutsch erschienen. 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010 «Meine Idee der Gerechtigkeit besteht sehr wohl auf öffentlichem Vernunftgebrauch, aber sie beharrt nicht auf präzise bestimmten Grenzen.» Wichtigkeit menschlicher Rationalität generell und öffentlichen Argumentierens im Besonderen. Ich behaupte aber nicht, dass uns unsere Ratio eine exakte Hierarchie der für die Verwirklichung von Gerechtigkeit wichtigsten und weniger wichtigen Faktoren liefern könnte – unser rationales Argumentieren kann uns nur zu einem breiten Verständnis der Bedeutung dieser Faktoren, der Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Würde führen. Sie lehnen scharfe normative Trennungen ab? Ich bin uneins mit John Rawls und Ronald Dworkin über den Grad der Differenziertheit, der nötig ist für eine Theorie der Gerechtigkeit. Meine Idee der Gerechtigkeit lässt mehr zu. Sie besteht sehr wohl auf öffentlichem Vernunftgebrauch, aber sie beharrt nicht darauf, dass dies zu präzise bestimmten Grenzverläufen führen kann. Ein Beispiel: Es existieren Zweifel darüber, wo genau China beginnt und Indien endet. Tatsächlich wurde aus diesem Grund 1962 ein Krieg geführt. Hätte man – vergleichbar mit der Theorie der Gerechtigkeit – eine Theorie über nationale Identitäten, die exakte Grenzen erfordert, dann müsste man sagen, man habe keine Theorie von Indien und China – weil wir eben nicht wissen, wo die Grenze verläuft. Ich würde aber sagen, dass die Begriffe, die wir von China und Indien haben, durchaus gültig und sehr brauchbar sind. Derart fixiert auf Grenzen zu blicken, unterminiert die Wichtigkeit der Idee, die man eigentlich betrachten will. Die Frage der Gerechtigkeit ist eine ökonomische wie philosophische. Muss die Philosophie Probleme lösen, die die Ökonomie erzeugt? (Lacht) Damit bin ich nicht einverstanden. Die Ökonomie erzeugt Probleme – und sie muss sie auch selbst lösen. Man kann nicht den schwarzen Peter an andere weitergeben. Philosophie befasst sich mit grundlegenden begrifflichen Problemen, die natürlich Einfluss auf die Ökonomie haben sollten. Umgekehrt sollte die Philosophie der Relevanz empirischer und analytischer Ergebnisse Rechnung tragen, die in den Sozialwissenschaften, der Wirtschaftswissenschaft, der Soziologie, der Politikwissenschaft und Psychologie erarbeitet werden. Welchen Stellenwert messen Sie der Empirie für Ihre «Idee der Gerechtigkeit» bei? Das Buch ist natürlich beeinflusst durch mein empirisches Verständnis. Aber ist es eine primär empirische Theorie? Ich weiss es nicht. Viele meiner Punkte sind analytisch – einer ist es komplett: Und zwar die Idee, dass die Annahme fehlerhaft ist, man könne keine vergleichenden Aussagen über ein Mehr oder Weniger an Gerechtigkeit machen, ohne zuvor die Definition einer perfekt gerechten Welt geliefert zu haben. Dies ist ein mathematischer Irrtum. Man muss nicht das Maximum kennen, um etwas verbessern zu können. Stellen Sie sich vor, zwei Menschen streiten um die Rangfolge von A, B und C oder A, C und B. Sie stimmen darin überein, dass der perfekte Punkt A ist – das sagt aber nicht, dass sie über die Rangfolge von B und C übereinstimmen. Es ist weder nötig noch hinreichend, eine einstimmige Idee von perfekter Gerechtigkeit zu definieren, um relative Gerechtigkeit zu bestimmen. Ist ein Philosoph, dessen Biografie in Indien begann, dafür prädestiniert, sich mit dem Thema der Gerechtigkeit zu befassen? Sie meinen, weil es so viel Ungerechtigkeit und Elend in Indien gibt? Vielleicht ja. Andererseits haben wir keinen Mangel an Ungerechtigkeit im Westen. Ich denke, dass uns unsere konkreten Erfahrungen prägen, dass wir aber in deren Verarbeitung zu verallgemeinerbaren Schlüssen kommen müssen. Nehmen Sie etwa Nelson Mandela. Er schildert in seinem Buch «A Walk to Freedom», wie sich sein Verständnis von Demokratie herausgebildet hat – nicht durch das, was er in Pretoria und der südafrikanischen Politik wahrgenommen hat, die dominiert wurde von Apartheid und Rassismus, sondern durch das, was er in seiner unmittelbaren Dorfgemeinschaft erfuhr, in der jeder eine Stimme in der Diskussion hatte. In diesem Sinne ist eine empirische Erfahrung sehr wichtig für den Einzelnen. Unsere Fragen können sehr wohl von Erfahrungen geprägt sein … Ja, unsere Antworten aber müssen Universalität haben. Ich hoffe, meiner Theorie ist eine solche Universalität eigen, obschon natürlich Vieles darin von der Erfahrung von Elend, Armut und Ungleichheit in Indien geprägt ist – und im Übrigen natürlich auch vom Reichtum der indischen Ethik und Literatur. Können Sie einige für Ihr Denken über Gerechtigkeit wesentliche indische Wurzeln benennen? Ja. Ich glaube, es sind gar keine spezifisch indischen Ideen, aber sie wurden in Indien in den letzten 3000 Jahren besonders stark diskutiert. In Sanskrit gibt es etwa zwanzig Wörter für «Gerechtigkeit». Aber zwei von ihnen sind prinzipiell: «Niti» und «Naya». «Niti» bezeichnet Gerechtigkeit, wie sie durch Institutionen praktiziert, durch gerechte Verhaltensmuster verwirklicht wird. «Niti» befasst sich nicht damit, wie das Leben der Menschen tatsächlich als Resultat des Wirkens dieser Institutionen NICK CUNARD / EYEVINE / DUKAS «In Sanskrit gibt es zwanzig Wörter für Gerechtigkeit», sagt Amartya Sen, Philosoph mit indischen Wurzeln und Nobelpreisträger. 28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Interview Sie zitieren in Ihrem Buch auch Gautama Buddha, der darlegt, dass Macht oder Möglichkeiten Verpflichtungen nach sich ziehen. Könnten Sie dies bitte erläutern? Gefragt wird hier, wieso eine Mutter die Verpflichtung hat, für ihr Kind zu sorgen. Der Hauptgrund liegt nicht etwa in dem Umstand, dass die Mutter das Kind geboren hat, er liegt in dem Umstand, dass die Mutter vieles für das Kind tun kann, das dieses nicht selbst für sich tun kann. Es kommt auf die Fähigkeit an. Sie weist der Mutter eine einseitige Verpflichtung zu. Diese Idee der unilateralen Verpflichtung der Mächtigen ist ein sehr starkes Konzept buddhistischer Philosophie. Weihnachten? Im Unterschied zu westlicher Philosophie? Theorien der Gerechtigkeit im Westen basieren zumeist auf dem Prinzip des Sozialvertrags – Hobbes, Rousseau, Locke, Kant bis hin zu Rawls stützen ihre Theorien auf die Prinzipien von Wechselseitigkeit und Kooperation: Ich sollte dies für dich tun, weil ich von dir erwarte, dass du es für mich tust. Die Idee unilateraler Verantwortung geht in Indien auf das 6. vorchristliche Jahrhundert zurück, sie kann aber aus manchen Passagen des Neuen Testaments gelesen werden: Der gute Samariter hilft dem Verletzten nicht, weil er etwas von ihm erwartet. Unsere technischen Möglichkeiten für das, was John Stuart Mill «government by discussion» nennt, sind heute eigentlich so global nutzbar wie nie zuvor. Dennoch scheinen weder ungerechte Kriege noch die Ausbeutung natürlicher und menschlicher Ressourcen, noch die Zerstörung des Klimas verhinderbar. Sind Sie deshalb skeptisch gegenüber der Idee einer globalen Regierung durch Diskussion? «Eine Mutter hat die Pflicht, für ihr Kind zu sorgen. Nicht weil sie es geboren hat, sondern weil sie fähig ist, vieles zu tun, was das Kind noch nicht kann.» Ich glaube an Demokratie, die von Diskussion beherrscht wird. Ich glaube nicht an eine Weltregierung. Ich glaube daran, dass wir den Standard der weltweiten Gerechtigkeit durch eine Reduzierung der Ungerechtigkeit erhöhen können – und zwar durch öffentliche Diskurse. Aber wie soll eine solche globale Diskussion konkret stattfinden? So wie wir dies jetzt tun. Wir treffen uns – Sie kommen aus Europa, ich bin in Indien geboren und lebe in Amerika. Wir unterhalten uns, Sie Woran denken Sie? Zum Beispiel an Terroristen: Sie sind keine Individualisten. Sie folgen dem Ruf ihrer Religion, der ein sozialer Ruf ist. Jeder von uns hat mehrere Identitäten und viele von ihnen sind sozial bestimmt. Das Individuum ist problemlos in der Lage, sich mit anderen in vielen verschiedenen Gruppen zu identifizieren. Ich spreche mich gegen die Idee aus, es gäbe eine primordiale, also eine ursprüngliche Kategorie, über die sich das Individuum definieren sollte – sei es über Religion, woraus heute sehr viel Gewalt resultiert, sei es über seine Nationalität, ein Prinzip auf dessen Grundlage etwa der Erste Weltkrieg seine Opfer forderte. Viele solcher Identitäten haben Gewalt-Potenziale. Hier korreliert mein Denken mit jenem von Karl Marx, wenn er analysiert, was wir in Bezug auf die Entstehung von Kriegen vermeiden müssen: Es ist die Abstraktion des Individuums von der Gesellschaft, denn das Individuum wird sozial generiert und bleibt sozial verbunden. Man findet verwandte Gedanken übrigens auch in Indien. Aber wiederum handelt es sich dabei nicht um eine speziell deutsche oder eine speziell indische Frage, sondern eben um eine humane Frage. l <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MLWwNAQAg35HTw8AAAA=</wm> <wm>10CEXKsQ5AQBBF0S_ayXvDGGtKVrVRIL5A1P6_Ehq5Od2tNUzwGcuylzUItJYI6zPDsol6F8wqbh6kqoIY6Nq8efx3Gqe0ATNwgHKf1wMylT4qXQAAAA==</wm> Soie pirate Geschichte und Stoffkreationen der Firma Abraham New York auf Postkarten 1880–1980 Die Sammlung Andreas Adam Margrit & Ernst Baumann. Die Welt sehen Fotoreportagen 1945–2000 Chandigarh 1956 Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Jane B. Drew, E. Maxwell Fry 2 Bände, total 424 S., 556 farb. und 88 sw Abb., 24 x 32,5 cm ISBN 978-3-85881-311-4 sFr. 99.– | E 79.– 560 S., 948 farb. Abb., 22 x 27 cm ISBN 978-3-85881-211-7 sFr. 79.– | E 59.– 288 S., 129 farb. und 283 sw Abb., DVD, 23 x 28,5 cm ISBN 978-3-85881-302-2 sFr. 99.– | E 69.– 272 S., 145 farb. und 132 sw Abb., 26 x 27 cm ISBN 978-3-85881-222-3 sFr. 79.– | E 55.– 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010 www.scheidegger-spiess.ch und Verfahrensweisen verläuft. «Naya» fragt hingegen danach, wie das menschliche Leben sich gestaltet, wenn Ungerechtigkeit herrscht. Ein wesentlicher Unterschied! Kunst I Fotografie I Architektur Nelson Mandelas Verständnis von Demokratie speist sich aus den Erfahrungen der Dorfgemeinschaft (Foto 11.2.1990). Insofern spielt offenbar das Individuum für Ihr Denken eine eminente Rolle. Ganz sicher. Der Begriff des Individuums hat sich im zeitgenössischen Denken leider völlig falsch entwickelt. Derzeitige Theorien separieren das Individuum nach meiner Meinung von anderen in einer Art, die höchst merkwürdig ist. Wir leben in einer Welt, die von unseren sozialen Beziehungen dominiert wird – diese Beziehungen sind Teil unserer Individualität. Ich bin weit davon entfernt, die Idee des Individuums aufzugeben, was manch anderer tut und was ich für einen grossen Fehler halte. Schliesslich bin ich eine Person, Sie sind eine Person, und wir haben zu bedenken und zu entscheiden, was wir tun. Aber was ich tun sollte, ist nicht lediglich durch meine Eigeninteressen bestimmt. Ich muss keineswegs hoch moralisch oder extrem gut sein, um an andere zu denken. Entsetzliche Dinge geschehen im Gegenteil gerade, weil sich Menschen mit anderen identifizieren. Scheidegger & Spiess GREG ENGLISH / KEYSONE publizieren unser Gespräch, andere werden es lesen. Diese Diskussion kann nicht anders organisiert werden. Sie organisiert sich, wie Gesellschaft sich organisiert. Jürgen Habermas’ Philosophie offeriert hierzu viel – auch wenn mir seine Vorstellungen etwas zu organisiert erscheinen, kommen sie meiner Idee von öffentlicher Kommunikation sehr nahe. Kolumne Charles Lewinskys Zitatenlese GAËTAN BALLY / KEYSTONE Du Narr, als ob unsereiner das selber wüsste. Charles Lewinsky, 64, ist Schriftsteller, Radio- und TV-Autor und lebt in Frankreich. Seine Adventsparodie «Der Teufel in der Weihnachtsnacht» ist bei Nagel & Kimche neu aufgelegt worden. Kurzkritiken Sachbuch Ursula von Arx: Ein gutes Leben. 20 Begegnungen mit dem Glück. Kein & Aber, Zürich 2010. 223 Seiten, Fr. 28.90. René Holenstein: Wer langsam geht, kommt weit. Schweizer Entwicklungshilfe. Chronos, Zürich 2010. 293 Seiten, Fr. 38.–. Zwei Dinge fragt man sich nach der Lektüre: Ob Ursula von Arx’ vorletzter Chef inzwischen seinen Fehler eingesehen hat, eine der besten Schweizer PorträtJournalistinnen entlassen zu haben (das Erlebnis war Auslöser für dieses Buch)? Und: Verfügt die Autorin über keinen Selbstschutzmechanismus? In «Ein gutes Leben» porträtiert sie unter anderem ihre Mutter und einen Ex-Freund auf so intime Weise, dass man erschrickt, als hätte man aus Versehen eine besetzte WC-Kabine betreten. Dass das alles dennoch nicht befremdend wirkt, liegt an von Arx’ feinfühliger Wortwahl und ihrer grandios präzisen Beobachtungsgabe. Was ist Glück?, fragte sie ihre Gesprächspartner. Margarete Mitscherlich, Tomi Ungerer, Daniel Cohn-Bendit, aber auch ein Gebäudereiniger, eine 15-Jährige, ein Grafiker antworteten. Eine so beglückende wie auch bereichernde Lektüre. Regula Freuler Der Startschuss für die Schweizer Entwicklungshilfe fiel 1961: mit der Schaffung eines Delegierten des Bundesrats für technische Zusammenarbeit. Vor dem 50. Geburtstag der heutigen Direktion für Entwicklungszusammenarbeit zieht Deza-Mitarbeiter René Holenstein differenziert Bilanz über das letzte halbe Jahrhundert und zeichnet die künftigen Herausforderungen. Dazwischen flicht er ein Dutzend interessante Porträts von schweizerischen Entwicklungshelfern, so von Ruth Dreifuss und Walter Fust. Die spektakulärsten Erkenntnisse sind indes in der Einleitung versteckt: Den meisten Menschen auf der Welt gehe es heute besser als früher. «1990 lebte noch ein Drittel der Menschheit in extremer Armut – heute ist es ein Sechstel.» Die Lebenserwartung sei durchschnittlich um 20 Jahre gestiegen, und die Zahl der Hungernden habe sich von 1970 bis 2007 halbiert. Das sind doch «good news»! Urs Rauber Marlis Pörtner: Alte Bäume wachsen noch. Erfahrungen in späten Lebensjahren. Klett Cotta, Stuttgart 2010. 168 S., Fr. 28.90. Dieter Vieweger: Streit um das Heilige Land. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2010. 288 Seiten, Fr. 33.90. Eine ältere Frau zieht um. Aus ihrem geliebten Haus in Zürich, in dem sie viele Jahre gelebt hat, in eine Wohnung im Dorf, in dem auch ihre Tochter lebt – ein Akt der Vernunft. Schlichter könnte ein Vorgang kaum sein. Doch der 75-jährigen Psychologin Marlis Pörtner gelingt es, in dieser simplen Geschichte den Erfahrungsprozess eines alternden Menschen zu schildern: minutiös, traurig manchmal, immer quicklebendig und ohne Larmoyanz. Ein neuer Hausarzt oder Steuerberater, die Beschwerden und kleinen Demütigungen des Alterns, der Gegensatz von Stadt und Agglomeration – alles, was sie bewegt, wird ausgelotet in seiner Ambivalenz. Die Aufmerksamkeit dieser klugen Frau gilt immer beidem, den Frustrationen, die der Zwang zur Neuorientierung beschert, ebenso wie den neuen Erfahrungen, die im Alter möglich sind. Kathrin Meier-Rust Wer eine fundierte Übersicht über die Geschichte des Nahostkonflikts sucht, greife zum Buch des Archäologen und früheren Pfarrers Dieter Vieweger. Der Leiter des Deutschen evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft in Jerusalem und Amman gräbt seit Jahren in der Region. Mit seinem Handbuch zeigt er Nichtspezialisten, welche Fakten hinter den Schlagzeilen stecken. Er beginnt mit den geografischen Grundlagen, lässt jüdische wie muslimische Mythen und Traditionen folgen und beschreibt die heiligen Stätten. Die Geschichte ab 1882 mit den ersten jüdischen Einwanderern und die Gegenwart bilden den Kern des Buches. Kurzporträts wichtiger Akteure und Politikerzitate liefern Hintergrundwissen. Vieweger ist nie Partei und versucht, die verworrene Situation fair auszuleuchten. Sein nüchternes Fazit lässt leider wenig Raum für Hoffnung. Geneviève Lüscher Gottfried Keller, auf die Bitte eines Freundes, ihm eines seiner Gedichte zu erklären Auf den Lesereisen, die zum Bücherschreiben nun mal so unvermeidlich gehören wie der Muskelkater zum Bergsteigen, werden mir oft meine eigenen Romane erklärt. Immer mal wieder sitzt da ein Moderator neben mir am Tisch, hat ein paar Seiten mit Notizen voll geschrieben und ist felsenfest davon überzeugt, den Stammbaum meiner Arbeit bis zu den tiefsten Wurzeln zurückverfolgt zu haben. Irgendwann, das habe ich mir fest vorgenommen, werde ich all die Bücher tatsächlich lesen, von denen man mir schon erzählte, sie hätten mich beeinflusst. Ich mag solche Moderatoren. Ja, wirklich. Auch wenn sie ab und zu mit heftig gerecktem Zeigefinger Deutungen präsentieren, die mich zweifeln lassen, ob wir vom selben Buch reden. Oder ob sie im Internet den richtigen Autor gegoogelt haben. Ihre Alleswisserei hat nämlich einen unschätzbaren Vorteil: Da sie fest davon überzeugt sind, alle Antworten schon zu kennen, stellen sie mir keine Fragen. Also auch nicht diejenigen, auf die man als Schreiber nur mit Schulterzucken reagieren kann. Oder mit ein paar inhaltsfreien Phrasen. Weil es nämlich auf Fragen wie «Was haben Sie sich dabei gedacht?» keine vernünftige Antwort gibt. Genauso wenig wie auf «Wie ist Ihnen das nur eingefallen?». Wir wissen es nicht. Wir haben keine Ahnung. Wir wollen es auch gar nicht wissen. Wenn ein Autor nämlich nur hinschreibt, was er sich gedacht hat, dann merkt man das seinem Text an. Weil dann nur ein verkopftes Etwas herauskommt, bei dem der Leser wie Torquato Tasso die Absicht fühlt und entsprechend verstimmt ist. Und wo die Ideen herkommen, das wollen wir noch viel weniger wissen. Wir haben viel zu viel Angst, dass der Prozess nicht mehr funktionieren könnte, wenn wir ihn allzu genau analysieren wollten. Dass es uns sonst geht wie dem Tausendfüssler, dem man die Frage stellte: «In welcher Reihenfolge bewegen Sie Ihre Beine?» Seit er darüber nachdenkt, fällt er nur noch auf die Schnauze. Und darum sind mir bei Lesungen die superklugen Leute lieber, die sich nicht lange mit Fragen aufhalten, sondern gleich mit den Antworten loslegen. Wahrscheinlich verstehen sie meine Bücher wirklich besser als ich selber. Denn unsereiner, wie der Herr Staatsschreiber sogar dann wusste, wenn er ausnahmsweise nüchtern war, unsereiner hat da keine Ahnung. 28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Internet Immer öfter müssen wir uns eingestehen, dass wir von Internet, SMS, Twitter und Co. überfordert sind. Zwei Selbstversuche und eine Polemik zeigen die Ernüchterung nach der «iPhorie» Und plötzlich diese Stille Alex Rühle: Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline. Klett-Cotta, Stuttgart 2010. 224 Seiten, Fr. 27.50. Christoph Koch: Ich bin dann mal offline. Ein Selbstversuch. Leben ohne Internet und Handy. Blanvalet, München 2010. 271 Seiten, Fr. 22.90. Thomas Montasser: Weil die Erde keine Google ist. Lob des analogen Lebens. Heyne, München 2010. 239 Seiten, Fr. 29.90. Von Regula Freuler Frank Schirrmacher begann sein Buch «Payback» mit einem Geständnis: «Mein Kopf kommt nicht mehr mit.» Natürlich wollte der debattenfindige FAZ-Herausgeber damit kein Mitleid heischen, sondern die in den USA vor längerem erwachte internetkritische Bewegung adaptieren. «Is Google Making Us Stupid?», fragte bereits 2008 ein Artikel im Magazin «The Atlantic», in dem es um den negativen Einfluss des Internets auf unsere Wahrnehmung ging. SMS, E-Mail, Twitter, Apps, Facebook, Google, Newsticker – Aufmerksamkeitsatomisierung hat viele Namen. Das haben auch die deutschen Journalisten Alex Rühle und Christoph Koch festgestellt. Worauf sie sich eine «digitale Fastenkur» beziehungsweise eine «Nulldiät» verordnet haben. Rühle, Feuilleton-Redaktor der «Süddeutschen Zeitung», nahm sich ein halbes Jahr offline, ein Handy (kein Smartphone!) erlaubte er sich nur auf Dienstreisen. Koch, Redaktor bei «Neon», verzichtete sechs Wochen nicht nur aufs Internet, sondern auch auf sein Mobiltelefon. Sprachlich zwar sehr unterschiedlich, ähneln sich die Bücher in Fragestellung und Erkenntnis frappant. Das beginnt bei der Idee: Beide fühlten sich im digitalen Alltag verzettelt, unkonzentriert. Und sie fühlten sich süchtig – nach der 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010 totalen Vernetzung und der ständigen Informationsversorgung. Alex Rühle bringt es in «Ohne Netz» mit einem witzigen Vergleich auf den Punkt, indem er einen vorangehenden Satz wiederholt und ausgeschrieben einfügt, durch welche Websites er sich während des Schreibens dieses Satzes hätte ablenken lassen, wäre er online gewesen: «Das wahrscheinlich Schlimmste spiegel.de/ panorama an der Sucht war die Aufmerksamkeitszerstäubung climatedebatedaily.org, nyt.com, die Schwierigwebmail. sued-data.dekeit, konsistent webmail. sued-data.de, vimeo.com über lange Strecken google.de, google.com/attentiondeficit an ein und derselben … Dingenskirchen, na wo war ich, egal, schau ich halt irgendwas auf youtube.com.» Auch Christoph Koch erkennt nach Ablauf des Experiments in «Ich bin dann mal offline» die Fatalität des Online-Multitaskings, während er zwei Telefonate führt: «Vor sechs Wochen hätte ich mir während dieses Doppelgesprächs noch ein Spiegelei gebraten und auf Twitter live davon berichtet – heute bringt es mich an den Rand des Nervenzusammenbruchs.» Angst vor der Einsamkeit Selbst ihre Erfahrungen im Alltag sind weitgehend dieselben: Beide spüren anfangs ein Phantomvibrieren in der Hosentasche, wo sonst das Handy seinen Platz hat. Gehen in ein Reisebüro und finden, bei der telefonischen Auskunft einen Rabatt verdient zu haben. Verweisen auf Henry David Thoreaus Einsamkeitsklassiker «Walden» sowie auf den Facebook-Test der Schweizer Kommunikationsagentur ROD («Facebookless. Mein Monat ohne Facebook»). Und beide sinnieren über die psychologische Bedeutung des ständigen Vernetztseins, die freudige Erregtheit bei jedem Pling, das eine Mail oder SMS verkündet. Damit einher gehen die Be- Was wäre, wenn es das weltweite Netz nicht mehr gäbe? fürchtungen, während des Selbstversuchs zu vereinsamen. Bestätigt werden sie keineswegs. Im Gegenteil, Rühle und Koch sind nun disziplinierter: kein Zuspätkommen mehr, keine kurzfristigen Absagen per SMS. Offline zu leben, stimuliert die alte Tugend Höflichkeit. Etwas enttäuscht sind die Journalisten dagegen in Bezug auf den erhofften Konzentrationseffekt. Zwar fühlen sie sich ruhiger, konzentrierter ohne Internet, doch Superhirne verleihen ihnen ihre digitalen Diätprogramme keine. Während Rühle in erster Linie ein Internet-Surfer ist, steckt Koch tief im digitalen Leben drin, ist bei Facebook, bloggt und twittert. Sein Buch ist ein gut vorbereitetes Survival-Projekt, für das er ein halbes Jahr vorher zu recherchieren anfing. Er besuchte einen Rabbiner, eine Gemeinde von Amish People in JOHNER IMAGES / ALAMY Missouri, interviewte einen Anthropologen und den «digitalen Bohémien» Sascha Lobo. Er sammelte Zahlen über den Verlust, den die Wirtschaft wegen Spams und überflüssigem E-Mailen erleidet, und wälzte einen Berg Sekundärliteratur, die im Anhang aufgelistet ist. So wirken seine Kapitel über weite Strecken weniger wie Tagebucheinträge als vielmehr wie stimmig geordnete Unterlagen eines Journalisten, der über das Thema Offline einen mehrseitigen Artikel schreiben muss. Symbiotische Liebe Auch Rühle hat sich auf die Off-Zeit vorbereitet, einen längeren Urlaub eingereicht und eine zeitweilige Schreibklause organisiert. Doch grundsätzlich schöpft er aus einem anderen Topf: seiner Belesenheit. Und seiner Gabe, aufmerksam zu beobachten und das Beobachtete in so kluge wie leichtfüssige, durchaus auch selbstkritische Sätze zu kleiden. Während Rühle stark mit Metaphern arbeitet («Youtube ist das digitale Bounty unserer Zeit»), bemüht Koch eine jugendlich-coole Ausdrucksweise und das Stilmittel der Übertreibung («Ich morscher alter Mann»). Zudem spielen sich Rühles Recherchen zum Thema weitgehend während des Experiments selbst ab. Er besuchte unter anderem einen verurteilten Steuerhinterzieher, der den Blackberry-Entzug als schlimmer empfindet als den Freiheitsentzug, und einen Soziologen. Das Wohltuende und Gewinnende beider Bücher: Der 40-jährige Alex Rühle und der 35-jährige Christoph Koch stimmen keineswegs ein ins «Netzgeschimpfe» des «Diskursimperators und Angstmoguls Frank Schirrmacher», wie Rühle schreibt. Mit dem Internet verbindet sie geradezu eine symbiotische Liebe, denn nicht zuletzt ist es «Journalistenbesteck». Sie wägen nicht Vor- und Nachteile gegeneinander ab, es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern darum, sich bewusst zu werden, wie sich das Leben in den letzten zehn Jahren geändert hat. Wie vergreist wirkt dagegen das Buch von Thomas Montasser «Weil die Erde keine Google ist». Man googelt schnell nach: Der Mann ist erst 44 Jahre alt. Kein Fall von Vergreisung also, sondern von Frühvergreisung. Der Münchner Autor von Kinder- und Jugendbüchern stilisiert sich als Technikphobiker, der zweihundert Jahre zu spät geboren wurde. Aber vermutlich hätte er vor zweihundert Jahren einfach die Erfindung der Dampfmaschine und die Entdeckung Australiens gegeisselt. Montasser ist ein Kulturpessimist. Jugendlichen Musikhörern unterstellt er ein «völlig erweichtes Gehirn», nimmt es als Konsens, dass im Internet «jeder Schwachkopf mitmischen möchte», und verbreitet Thesen wie: «Die Verkäufer in Elektronikfachmärkten bilden selten mehr als Dreiwortsätze.» Passwörter, die Anglisierung der Sprache, Spam-Mails, GPS, Digitalfotografie, Kreditkarten – das alles überfordert ihn. Anders als Alex Rühle und Christoph Koch hat Thomas Montasser nicht recherchiert, seine Aussagen sind alle «vermutlich» und «schätzungsweise», und öfters fällt der Satz: «Ich will es auch gar nicht wissen.» Er fürchtet um das Wohlergehen der Kinder, die heute alle nur fernsehen und sich in Videogames wie «World of Warcraft» verlieren, statt Scrabble zu spielen, auf Bäume zu klettern oder sich «live» zu prügeln. Thomas Montassers Buch ist das Gegenteil eines Selbstversuches – es ist eine Polemik aus nahezu totaler Unwissenheit und Überforderung. Nicht nur verflucht der Autor technische Prozesse, die er überhaupt nicht verstanden hat. Zum Beispiel hält er die Icons auf dem Desktop für ein Unordnung schaffendes Übermass an Programmen – dabei handelt es sich ja nur um Verknüpfungen, die sich einfach löschen liessen. Er verwechselt auch Begriffe oder verwendet sie falsch. Allein in einem kann man Thomas Montasser Recht geben: Das Internet zerstückelt unser Leben. Aber war es denn früher besser? Alex Rühle schreibt in seinem Buch: «Die Welt war immer schon eine permanente Anpassungszumutung.» Wer diese Zumutung nicht wenigstens zu bewältigen versucht, wäre in jedem Jahrhundert überfordert. l Staatsbankrott – das geht uns alle an! Die Fülle der Informationen, die Wittmann bietet, ist erstaunlich. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MjSxMAYAvRPqRA8AAAA=</wm> <wm>10CEXKIQ6AMBBE0RN1M7NlW8pKKKpBAOEEBM39FQSD-Hnmt-Ym-BrrstfVCXQWqOz66FZMNCdnUcn2SlUFMTBrZCrJ_znUKWzADByg3Of1AIUcfhlcAAAA</wm> Süddeutsche Zeitung www.ofv.ch ISBN 978-3-280-05374-4, Fr. 39.90 192 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag 28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Geschichte Historiker Jörg Fisch legt eine kritische Analyse des Selbstbestimmungsrechts der Völker vor Eine schöne Idee, die mehr Probleme schafft als löst Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. C. H. Beck, München 2010. 384 Seiten, Fr. 37.90. Geschichtliche Vorgänge sind immer begleitet von rechtlichen Überlegungen, die sie zu rechtfertigen und ihre Ergebnisse dauerhaft festzuhalten suchen. Diese Zusammenhänge zwischen Recht und Geschichte haben im wissenschaftlichen Schaffen von Jörg Fisch, Professor für neuere Geschichte an der Universität Zürich, seit je einen wichtigen Schwerpunkt gebildet. Vor über zwanzig Jahren verfasste er das Standardwerk «Die europäische Expansion und das Völkerrecht», das die Überseekolonisation seit ihren Anfängen verfolgte und die von den Kolonisatoren geschaffenen Rechtsgrundlagen prüfte. Heute legt der Historiker wiederum ein Werk vor, in dem es um die konfliktreiche Beziehung zwischen Recht und Macht, zwischen Theorie und Wirklichkeit geht. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker erhebt den Anspruch, die internationalen Beziehungen auf eine herrschaftsfreie Grundlage zu stellen. Es ist ein moderner Begriff, der erst 1966 in den internationalen Menschenrechtspakten der Uno kodifiziert worden ist. Danach steht jedem Volk das Recht zu, einen unabhängigen und souveränen Staat zu bilden. In einem ersten Teil seines Buches befasst sich Fisch mit Fragen der Definition. Im Gegensatz zum individuellen demokratischen Freiheitsbegriff bleibt die Formel des kollektiven Selbstbestimmungsrechts unscharf und widersprüchlich. Allein schon der Begriff des Volkes ist, wie Fisch zeigt, vielfältig definierbar. Ein weiteres Problem besteht darin, dass das Sezessionsrecht, das zwingend zum Selbstbestimmungsrecht der Völker gehört, von der Uno nirgends in vergleichbarer Form erwähnt wird. Bei solchen begrifflichen Unzulänglichkeiten sind politische Konflikte programmiert. Verfechter und Verächter Im zweiten Teil seines Buches zeigt Fisch an einer grossen Zahl geschichtlicher Beispiele, wo, mit welcher Absicht und mit welchen Folgen das Recht auf Selbstbestimmung geltend gemacht worden ist. Als die nordamerikanischen Kolonien vom Mutterland abfielen, war vom Selbstbestimmungsrecht noch nicht die Rede. Die rebellischen Siedler stellten nicht das Herrschaftsrecht der Krone in Frage, wohl aber dessen als unrechtmässig empfundene Ausübung. Damit stützten sie sich auf das in Europa 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010 NARENDRA SHRESTHA / EPA Von Urs Bitterli Exiltibeter fordern die Selbstbestimmung ihres Landes. Hier verhaftete Aktivisten in einem Polizeiwagen in Kathmandu (Nepal) am 10. März 2010. ins Mittelalter zurückgehende Widerstandsrecht. Anders lagen die Dinge, als sich im Amerikanischen Bürgerkrieg die Südstaaten aus der Union lösen wollten. Nun waren es die Nordstaaten, die einst den Abfall vom Mutterland betrieben hatten, die den Südstaaten das Recht auf Selbstbestimmung verweigerten. Mit der Ausbildung der Nationalstaaten und der fortschreitenden Demokratisierung gewann im Europa des 19. Jahrhunderts die Idee der Volkssouveränität verstärktes Gewicht, ohne dass die Forderung nach Selbstbestimmung allgemein geworden wäre. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es – eine sonderbare Ironie der Geschichte – ausgerechnet Lenin, der dem Recht der kollektiven Selbstbestimmung zu weltweiter Popularität verhalf. Wie fragwürdig das Selbstbestimmungsrecht freilich als Instrument zur Konfliktvermeidung war, zeigte sich schon in den Friedensregelungen von 1918, wo es mit dem althergebrachten Siegerrecht in Widerspruch geriet und nachträglichen revisionistischen Forderungen Nahrung gab. Hitler, ein zynischer Verächter des Selbstbestimmungsrechts, verstand es dann meisterhaft, dieses, wo es ihm nützlich schien, für seine Expansionspläne einzusetzen; Fisch spricht von der «Pervertierung eines grossen Versprechens». Mit dem nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Dekolonisationsprozess gewann der Begriff seine grösste Wirkungskraft, erwies aber zugleich erneut seine Fragwürdigkeit: Im Zeichen des Selbstbestimmungsrechts lösten sich die Kolonien vom Mutterland, versagten dieses Selbstbestimmungsrecht aber den innerhalb der beibehaltenen kolonialen Landesgrenzen lebenden ethnischen Gruppen, die es mit demselben Recht hätten fordern können. Innenpolitische Instabilität, durch die Rivalität der Supermächte im Kalten Krieg noch verstärkt, war der Preis für die gewonnene Unabhängigkeit. Mit Genuss zu lesen Jörg Fisch hat sich mit seinem neuen Buch, das noch die Auflösung Jugoslawiens und des kommunistischen Ostblocks nach 1989 berücksichtigt, eine sehr anspruchsvolle Aufgabe gestellt. Er vermag zu zeigen, wie die prestigeträchtige, von höchster Warte sanktionierte Forderung nach Selbstbestimmung der Völker im Kontakt mit der geschichtlichen Wirklichkeit ihren Nimbus einbüsst und eher Probleme schafft als löst. Fisch verfügt über ein souveränes historisches Wissen, seine Argumentation ist transparent und nachvollziehbar, und er formuliert auch komplexe Zusammenhänge so klar, dass die Lektüre zum intellektuellen Genuss wird. Das Buch wird ergänzt durch einen kommentierten Literaturüberblick, eine Bibliografie, Kartenillustrationen und eine Liste der zitierten Rechtstexte. ● Urs Bitterli ist emeritierter Professor für neuere Geschichte an der Uni Zürich. Aufzeichnungen Intimes aus der Feder von Marilyn Monroe – aufbereitet als Preziose Sie verkörperte Sex und Verlorenheit Ihre persönlichen Aufzeichnungen, Gedichte und Briefe. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2010. 272 Seiten, Fr. 37.90. Von Martin Walder Wer will dieses Buch kaufen? Die Antwort in einer Zürcher Buchhandlung kommt prompt: «Fast niemand». Dabei haben wir es bei den Gedichten, Briefen und Notizen mit einem dieser erregenden Kartonschachtelfunde aus dem Nachlass einer Jahrhundertikone zu tun: MM, Marilyn Monroe! Nach dem Tod der Schauspielerin am 5. August 1962 im Besitz ihres Freundes, Lehrers und Mentors Lee Strasberg (Gründer und Leiter von Amerikas berühmtester Schauspielschule, dem New Yorker Actors Studio), wurden sie von dessen Witwe Anna vor drei Jahren beim Aufräumen gefunden und zur erlesenen Publikation freigegeben. Und wieder einmal darf Marilyn auferstehen. Sie, an der so vieles Geheimnis war und bleiben wird. Ein Geheimnis, dem die vorliegenden Texte nichts nähmen, versichern die Herausgeber doppeldeutig, eher würden sie ihm Substanz verleihen. Auf gut Deutsch: Nichts Neues unter Marilyns dunkler Sonne, aber dies als Preziose dargereicht. Das vorliegende, wirklich sehr schön aufgemachte Buch mit einem delirierenden Vorwort von Antonio Tabucchi tut alles dafür. Es beglaubigt das wilde, von Orthografie wenig belastete Gekritzel der Schauspielerin auf Notizpapier und Hotelbriefbögen sowie die ordentlichen Typoskripte als fotografisches Faksimile und arrangiert und kommentiert sie auf der gegenüberliegenden Seite als edierten und gleichzeitig ins Deutsche übersetzten Text. Fürwahr keine leichte Aufgabe: Zu verfolgen ist ein auch in der Übersetzung nicht immer überzeugendes Surfen auf den schäumenden Wogen von vermutlich Gemeintem. Nicht bei Marilyns Einladungslisten natürlich, die sie als skrupulöse Gastgeberin ausweisen, nicht beim notierten Medici-Stammbaum in Florenz, der ihren Bildungshunger dokumentiert. Schwierig wird’s dort, wo diese sehr wache Seele direkt spricht oder stammelt, assoziiert, sich zu artikulieren sucht. Wo alles in den «Spektralfarben aus Verlorenheit, Strahlkraft und Sehnsucht» schillert, wie Lee Strasberg Marilyns Erscheinung in seiner Trauerrede schön auf den Punkt brachte. Vielleicht muss man irgendjemandem immer noch sagen, dass diese hochtalentierte, aber ihrer seelischen und körperlichen Direktheit (was nicht Hemmungslosigkeit ist) ausgesetzte Frau nicht mit ihrem Pin-up-Klischee zu verwechseln sei, das sie als Schauspielerin so hinreissend zu bedienen wusste. Aber solche Menschen werden Keine Intellektuelle, doch wache Seele: Marilyn Monroe (1926–1962) las ab und zu ein Buch. dieses Buch ohnehin nicht zur Hand nehmen. Ebenso wenig braucht man aber aus Marilyn eine halbe Intellektuelle zu machen, weil sie sich mit «Ulysses» & Co. auf den Knien ablichten liess. Jedenfalls streunen wir etwas geniert durch die Aufzeichnungen für die MM-Spezialisten, mit dem Gefühl des Voyeurs vor einem sehr unvergorenen und fragmentarischen Rohstoff ihres Lebens, der uns, so, eigentlich nicht viel angeht. Da und dort hält man trotzdem inne: wenn die Monroe ihrem Psychiater den Horror einer Klinikeinweisung schildert, wenn sie vor dem schlafenden Arthur Miller zärtlich ihre Liebe artikuliert, wenn sie zukunftstrotzig gleich alle Strasbergs ins Schiff einer eigenen Firma zu nehmen sucht. Und dann sind da die wuchernden poetischen Fingereien, die aus ihr keine Dichterin machen. Aber eine Frau zeigen mit Gespür für Bilder. Die tapfer nicht aufhört, ihre schrecklichen Ängste, nicht zu genügen, zu bannen. l INTERTOPICS Marilyn Monroe: Tapfer lieben. Psychologie Der Erfinder des Schülermagazins «Spick» erklärt, wie bildliche Realität entsteht So nehmen wir die Wirklichkeit wahr Otmar Bucher: Kopfwelten. Was ist wahr an unserer Wahrnehmung? NZZ Libro, Zürich 2010. 192 Seiten, Fr. 40.–. Von Hans ten Doornkaat «Ich bin mir sicher, dass das Leben falsch ist, weil es zu visuell geworden ist», so beklagte D. H. Lawrence 1920 die Dominanz des Sehens. Und heute? Wie viele Bilder haben Sie heute schon gelesen? «Ich habe es gesehen» gilt nach wie vor als Wahrheitsbeweis. Dabei verkünden Neurologie und Erkenntnispsychologie regelmässig neue Erkenntnisse zur Bedingtheit des Sehens. Der Grafiker und Art-Director Otmar Bucher geht einerseits fasziniert und an- dererseits ganz praktisch an Wahrnehmungsfragen heran: Er zeigt eine Tasse voll schwarzer Flüssigkeit, aus der ein Löffelstiel herausragt. Wir sehen also eine Kaffeetasse! Umblättern: Da liegt eine Gabel, und zähflüssig tropft Wacholderlatwerge auf die Untertasse. Wir haben eben nicht nur gesehen, sondern das Geschaute mit unserem Erfahrungshintergrund bewertet. Das heisst, wir lernen sehen und unser Hintergrund beeinflusst unsere Interpretation von Bildern. Ein Europäer deutet das Rechteck über dem Kopf einer Frau als Fenster im Hintergrund. Ein Afrikaner liest es als Kanister, den sie auf ihrem Kopf trägt. Aber schon Linien, Flächen und Farben nicht primär als Material zu sehen, sondern als spezifischen Inhalt, ist das Re- sultat einer Konditionierung, die auch Betrachtenden, von vom Geschlecht der Betrachtenden, Stereotypen und Glaubensvorstellungen mitgeformt wird. Buchers «Kopfwelten» ist keine trockene Theorie, sondern ein Bilder- und Lesebuch, spielerisch wie Denksportseiten. Weil viele Erwachsene von heute die «Spick»-Leser von einst waren, ist dieser Band zudem eine Möglichkeit, Teile der eigenen Medienbiografie zu ergründen. Buchers Art, zu denken und zu gestalten, machte «Das schlaue Schüler-Magazin» – das er zusammen mit seiner Frau Angelika Waldis lange prägte – zu einer Kinderuniversität avant la lettre. Und diese Aufklärung bestimmt auch das Sachbuch des leidenschaftlichen Bildermachers. l 28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Wissenschaftsjournalismus Mit seinen Artikeln verändert der amerikanische Sachbuchautor Malcolm Gladwell die Sicht auf unseren Alltag und uns selbst CLAUDIUS THIRIET / BIOSPHOTO Wer die Perspektive wechselt, erlebt die Welt neu Malcolm Gladwell beglückt uns mit brillanten Geschichten über die Verhaltensweisen von Mensch und Tier. Malcolm Gladwell: Was der Hund sah und andere Abenteuer aus der Welt, in der wir leben. Campus, Frankfurt 2010. 368 Seiten, Fr. 33.50. Von Urs Rauber Malcom Gladwell, 47, gehört zu den populärsten Sachbuchautoren der USA. Der in Kanada aufgewachsene Engländer ist Historiker und arbeitete unter anderem für die «Washington Post». Seine Bücher, in denen er Alltagsphänomene aus Wirtschaft, Wissenschaft und Medizin beschreibt, sind internationale Bestseller. Der Frankfurter Campus-Verlag hat zwei davon auf Deutsch herausgebracht: «Blink!» (2005) und «Überflieger» (2009). Sein neustes Werk «Was der Hund sah» versammelt 19 Essays, die zwischen 1996 und 2008 im Magazin «New Yorker» erschienen sind: brillant erzählte Geschichten über Menschen und Verhaltensweisen, geschrieben mit dem Blick für das Aussergewöhnliche. «Aha!», wundert man sich nach einem Kapitel – und freut sich auf das nächste. In «Blink!» befasste sich Gladwell mit der Rolle der Intuition bei der Entscheidungsfindung, in «Überflieger» mit der Frage, warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht. Im neuen Buch präsentiert er drei Gruppen von 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010 Storys. Ein halbes Dutzend Texte handelt von Menschen, die Gladwell «kleine Genies» nennt. Etwa die Geschichte des Libanesen Nassim Taleb, verfasst im Frühjahr 2002, als noch kaum jemand den später erfolgreichen Börsenhändler kannte. Dieser war damals ein Aussenseiter der Wall Street, der im Erfolg von Investoren wie Warren Buffett und George Soros nicht Kalkül, sondern das Produkt glücklicher Zufälle sah. Taleb ging von der Unvermeidlichkeit des Scheiterns im Börsengeschäft aus und verlegte sich auf Optionen: Wetten auf Aktien und Wertpapiere. Seine Firma Empirica Capital setzte stets auf beides: auf grosse Kurssprünge nach oben wie unten. Meister der Dramaturgie Gladwell schildert, wie die meisten Menschen bei Investitionen eher dann Risiken eingehen, wenn Verluste drohen, während sie risikoscheu handeln, wenn es um Gewinne geht. Taleb verfolgte die entgegengesetzte Strategie: «Bei Empirica birgt jeder Tag die kleine, aber sehr reale Aussicht auf einen riesigen Gewinn, kein Risiko eines Totalverlusts und eine sehr grosse Wahrscheinlichkeit, eine kleine Summe zu verlieren.» Taleb wurde berühmt und verdiente auch in den Krisenjahren 2008 und 2009 gewaltige Summen. Er handelte nach der Erkenntnis über den schwarzen Schwan: «Solange wir auch weisse Schwäne beobachten – wir können daraus nicht schliessen, dass alle Schwäne weiss sind. Die Beobachtung eines einzigen schwarzen Schwans reicht aus, um diese Schlussfolgerung zu widerlegen.» Der schwarze Schwan – das war für Taleb ein zufälliges und unerwartetes Ereignis wie etwa der 11. September, das die Märkte erschütterte. Der zweite Teil des Buches umfasst sieben Features, die Erfahrungen einordnen. Zum Beispiel den Unterschied zwischen Geheimnis und Rätsel erklären. Oder die gegensätzlichen Ursachen von Versagen beschreiben: Manche Menschen blockieren, andere geraten in Panik. Gladwells Schlussfolgerungen sind leicht nachvollziehbar, weil er sie immer an bekannten Ereignissen abhandelt. Im Falle des Versagens an der tschechischen Tennisspielerin Jana Novotna im Wimbledon-Final 1993, als sie im dritten und entscheidenden Satz 4 : 1 führte und bei 40 : 30 Aufschlag hatte, also kurz vor dem Gewinn der begehrtesten Trophäe der Tenniswelt stand – und verlor (klassische Blockade). John F. Kennedy jr. hingegen, der im Juli 1999 im Privatflugzeug abstürzte, war höchstwahrscheinlich in Panik geraten (der Artikel erschien im August 2000). Gladwell ist ein Meister der Dramaturgie: Er verpackt wissenschaftliche Erkenntnisse in überraschende Geschichten und Anekdoten, die sein Pub- likum verschlingt und die man als Leser gerne am Esstisch oder beim Small Talk weitererzählt. Im dritten Teil des Buches geht es darum, wie wir über andere Menschen urteilen. Müssen Genies immer Wunderkinder sein, oder gibt es darunter auch Spätzünder? Wen stellen wir nach einem Bewerbungsgespräch ein? Was können Profiler aus einem Verbrechen destillieren? Die einzelnen Beiträge wimmeln von Sätzen, die man unterstreichen möchte. Dass etwa die hektische Suche nach menschlichen und technischen Fehlern nach Grosskatastrophen oft nichts mehr als «Selbstbetrug und Selbstberuhigung» darstellt – wer will das schon bestreiten? Kühne Gedankensprünge Gladwell zeichnet das Talent aus, auch in der Entwicklung eines Haarfärbemittels oder einer neuen Senfsorte eine überraschende Geschichte zu entdecken. Und er sieht im Speziellen das Allgemeine: In der Geschichte über einen Hundetrainer, die dem Buch den Titel gab, schildert er, wie man einem Hund nicht nur Bewegung und Zuneigung, sondern auch Regeln geben müsse. Ein Hundeflüsterer denkt sich in das Tier hinein, reagiert auf es, gibt Anweisungen. Es sei dieselbe Aufgabe, so Gladwell, die Menschen auch befähige, eine Schulklasse zu bändigen, ein Unternehmen zu führen oder eine Armee zu befehligen. Solch kühne Gedankenbrücken lassen einen die Welt neu sehen. Kurz: ein erfrischender Lesestoff. l Erhältlich in den Buchhandlungen: Lüthy Stocker Balmer Orell Füssli Thalia Bücher Stauffacher, Bern Meissner, Aarau Bider + Tanner, Basel Barth, Zürich Benziger, Einsiedeln Bodan, Kreuzlingen Bücher Schoch, Schaffhausen Krebser, Thun Lüdin, Liesthal Nievergelt, Zürich Schreiber, Olten Schuler Bücher, Chur Untertor, Sursee ZAP, Brig … und überall, wo es Bücher gibt! Glücksforschung Plädoyer gegen Egoismus Altruismus als Quelle der Seligkeit Stefan Klein: Der Sinn des Gebens. Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egoismus nicht weiterkommen. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2010. 336 Seiten, Fr. 28.90. Von Thomas Köster Geld macht glücklich – wenn man es denn verschenkt. Das ist das Ergebnis einer aufsehenerregenden Studie der kanadischen Psychologin Elizabeth Dunn, die der Münchner Wissenschaftsjournalist Stefan Klein in diesem Buch zitiert. Dunn hatte ihren Probanden Geldumschläge überreicht und jeweils die Hälfte von ihnen angewiesen, das Geld für sich bzw. für andere auszugeben. Überraschenderweise fühlten sich die Verschenker danach weitaus erfüllter. «Wer freiwillig etwas für andere tut», so Kleins Fazit, «steigert langfristig seine Lebenszufriedenheit.» Bekannt wurde Klein mit dem Buch «Die Glücksformel», das den guten Gefühlen auf den Grund gehen wollte. In gewisser Weise ist «Der Sinn des Gebens» dessen Fortsetzung – insofern, als es im Altruismus eine Quelle der Seligkeit auszumachen glaubt. Aber es will auch belegen, dass Selbstlosigkeit die Menschheit als Ganzes in Krisenzeiten retten kann. Das klingt teils etwas märchenhaft – aber eben auch nicht märchenhafter als das Ergebnis der Studie Elizabeth Dunns. So gesehen ist es allenfalls erstaunlich, mit wie vielen zoologischen und anthropologischen Beispielen, psychologischen und soziologischen Experimenten, biologischen und neurologischen Erkenntnissen Klein seine Grundthesen belegen kann. Am Ende steht das Bild von den Vorteilen der Grossherzigkeit. Der Homo oeconomicus macht einfach die «schlechteren Geschäfte». In diesem Sinn ist Kleins Buch kein Plädoyer für die im Titel werbewirksam placierte Selbstlosigkeit. Vielmehr verweist es auf jenen egoistischen Kern, der den meisten unserer altruistischen Aktionen eigen ist. Schliesslich ist Glück nicht der schlechteste Nutzen, den man aus der Nächstenliebe ziehen kann. Egal: Kleins Buch ist mit Gewinn zu lesen – und dies nicht nur für jene, denen Altruismus tatsächlich gute Gefühle verschafft. Ob man zu dieser Gruppe gehört, lässt sich ja leicht ergründen – vielleicht sogar dadurch, dass man einem Unbekannten zur Weihnachtszeit völlig selbstlos ein Exemplar vom «Sinn des Gebens» schenkt. l In einer kleinen Schweizer Stadt ist der los! Teufel Und er zeigt sich von seiner besten Seite … Der neue Roman des Schweizer Autors Andreas Sommer. Teuflisch gut.* * Die ideale Lektüre vor Weihnachten, während Weihnachten – oder vielleicht doch lieber erst nach Weihnachten? Gewinnen Sie 10 Bücher mit persönlicher Widmung des Autors! Mehr auf www.langen-mueller-verlag.de Der Drache am Himmel 352 S., 29,90 CHF (UVP), ISBN 978-3-7844-3214-4 LangenMüller 28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Guerilla Ingrid Betancourt beschreibt in einem bewegenden Report ihre sechsjährige Geiselhaft Im Dschungel des Verbrechens Ingrid Betancourt: Kein Schweigen, das nicht endet. Sechs Jahre in der Gewalt der Guerilla. Droemer, München 2010. 735 Seiten, Fr. 34.90. Von Victor Merten Ingrid Betancourt (rechts) mit ihrer Mutter in Bogotá, unmittelbar nach ihrer Freilassung am 2. Juli 2008. WILLIAM FERNANDO MARTINEZ / AP Gebannt hat die Welt am 2. Juli 2008 auf Kolumbien geschaut. Dank einer kühnen Kriegslist der Armee war Ingrid Betancourt zusammen mit vierzehn weiteren Geiseln aus den Händen der Guerilla befreit worden – nach sechseinhalb Jahren Gefangenschaft. Die einstige grüne Präsidentschaftskandidatin, 2002 im Wahlkampf zusammen mit ihrer Wahlkampfleiterin Clara Rojas von FarcKämpfern verschleppt, wurde endgültig zum Inbild. Seither hat der Glanz Kratzer bekommen. Betancourt zog sich aus der Politik zurück und lebt heute in Paris und New York. Dies trug ihr den Vorwurf ein, die kolumbianischen Geiseln vergessen zu haben. Frühere Mitgefangene beschrieben ihr Verhalten in der Geiselhaft als selbstsüchtig und überheblich. Und eine Schadenersatzforderung von 6,8 Millionen Dollar an Kolumbien wegen ihrer Verschleppung löste einen Sturm der Entrüstung aus. Umso gespannter nimmt man die Schilderung der Geiselhaft in die Hand, die die 48-Jährige nun geschrieben hat. Betancourt liegt in der Tat daran, sich zu rechtfertigen. Den Umständen ihrer Verschleppung gibt sie viel Raum, dem Verhältnis unter den Geiseln fast zu viel, doch ihre Sicht überzeugt. Vor allem erinnert sie eindringlich an das Schicksal, das gegen 700 Entführte immer noch zu erdulden haben. Ihr Bericht ist erschütternd. Was die Farc oder Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens tun, um gefan- gene Genossen freizupressen, sind schlimmste Verbrechen. Das Geringste ist der äusserst beschwerliche Alltag von Betancourt und Clara, zu denen bald fünf Volksvertreter, drei US-Agenten sowie mehrere Soldaten und Polizisten stossen. Die Guerilleros halten die Gefangenen im Dschungel in einfachsten Lagern, wo Hitze, Regen und Ungeziefer ihnen zusetzen, Soldaten und Polizisten aneinandergekettet. Lange Märsche auf der Flucht vor der Armee sind an der Tagesordnung, Hunger und Entkräftung die Folge. Die Geiseln müssen stets befürchten, bei einer Befreiungsaktion getötet zu werden. Schlimmer ist jedoch der Hass, den die Politikerin aus der Oberschicht von vielen ihrer Lagerkommandanten und Bewacher zu spüren bekommt. Sie ist ständigen Demütigungen und Niederträchtigkeiten ausgesetzt wie offener Schadenfreude über den Tod ihres geliebten Vaters. Kranken wird ärztliche Hilfe verweigert, die schwangere Clara bringt ihr Kind im Wald zur Welt. Besondere Grausamkeit ziehen die Fluchtversuche nach sich, die Betancourt unternimmt. Nach dem dritten muss sie über zwei Jahre an der Kette leben und darf mit niemandem sprechen. Auch die Geiseln machen einander das Leben schwer. Die Entbehrungen, die Enge der Gefängnisse, in die sie in einigen Lagern gesteckt werden, bringen ungeahnte Schattenseiten zum Vorschein, genüsslich geschürt von den Bewachern. Betancourt schliesst sich hier selbst nicht aus und zeigt Verständnis für das Verhalten ihrer Mitgefangenen. In der zermürbenden Gefangenschaft gelangt Betancourt an gefährliche gesundheitliche und psychische Tiefpunkte. Ihre Würde lässt sie sich indes nicht nehmen. Dass sie überlebt, verdankt sie ihrer Willenskraft, ihrem Glauben. Hoffnung geben ihr die mit ihrer Hilfe gelungene Flucht eines Polizeileutnants und erste Freilassungen. Doch am meisten helfen ihr die Menschen, die ihr nahestehen. Allen voran ihre Mutter, die täglich am Radio zu ihr spricht, die Erinnerung an ihren Vater und ihre Kinder, ihr Senatskollege Luis Eladio Pérez. Betancourt kann ihr Glück nicht fassen, als ihre Geiselgruppe vermeintlich im Helikopter einer humanitären Mission zum Chef der Farc überstellt, aber tatsächlich von einer Spezialeinheit der Armee befreit wird. Plötzlich ist der Albtraum zu Ende. Hunderte weitere Opfer warten im Urwald immer noch auf diesen Augenblick. l Geschichte Das Zürcher Volkshaus, 1910 gegründet von Abstinenzlern, ist heute urbaner In-Place Klassenkampf-Zentrale hat sich gewandelt Urs Kälin u. a. (Hrsg.): Hundert Jahre Volkshaus Zürich. Hier + Jetzt, Baden 2010. 125 Seiten, Fr. 38.–. Von Monika Burri Der Anstoss für das Zürcher Volkshaus kam von bürgerlicher Seite. Sozialreformer, Pfarrer und wohltätige Damen schlossen sich 1893 zu einem Komitee zusammen, um dem «grassierenden Alkoholismus» und weiteren Missständen im Zürcher Arbeiterquartier Einhalt zu gebieten. Nach Vorbild des Londoner People’s Palace sollte ein Bollwerk der Bildung, Hygiene und der kultivierten Geselligkeit entstehen. Mit der Aussicht auf Gewerkschaftsbüros und Versamm26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010 lungsräume konnten schliesslich auch Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung für das Projekt gewonnen werden. 1910 wurde der behäbige HeimatstilPalast am Helvetiaplatz eröffnet, mit einem gesunden Restaurant, öffentlichen Bade- und Duschgelegenheiten, Bibliotheken und Gemeinschaftssälen, alles alkoholfrei. In einem bilder- und geschichtenreichen Jubiläumsbuch lässt die VolkshausStiftung ihr 100-jähriges Bestehen Revue passieren. Informative wie überraschende Recherchen, Porträts und Anekdoten beleuchten das multifunktionale Begegnungszentrum als Brennpunkt von Lokal-, Sozial- und Konsumgeschichte und heben insbesondere die vielfältigen Nutzungen der berüchtigten Klassen- kampf-Zentrale hervor. Mit Boxwettkämpfen, bunten Abenden von Migrantinnen und Migranten, Reklamevorführungen, denkwürdigen Literaturgesprächen und spirituellen Sessionen empfahl sich das Volkshaus stets auch als neutrale Gaststätte für Veranstaltungen. Hausinterne Differenzen verschärften sich in der jugendbewegten Nachkriegszeit: Während im Saalbau Jazzgrössen wie Monk und Coltrane gastiergrössen ten, verfocht der Zürcher Frauenverein immer noch vehement sein Abstinenzregime. Seit den 1980er Jahren wurden juristische und unternehmerische Anpassungen vorgenommen, und heute präsentiert sich das Zürcher Volkshaus wieder als urbaner In-Place mit einem zeitgemässen Freizeitangebot. l Zeitgeschichte Der Diplomat Wolfgang Petritsch zeichnet Leben und Persönlichkeit des früheren österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky nach Schillernder Machtpolitiker Wolfgang Petritsch: Bruno Kreisky. Die Biografie. Residenz, St. Pölten 2010. 420 Seiten, Fr. 39.90. «Schau, schau, da geht der Jude Kreisky!» Solche Sätze bekam der nachmalige österreichische Bundeskanzler öfters zu hören, nachdem er aus dem schwedischen Exil im Mai 1946 nach Österreich zurückgekehrt war. Sein Biograf Wolfgang Petritsch nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er das junge Nachkriegsösterreich als eine von diktatorischer Herrschaft geprägte Gesellschaft mit beträchtlichem antisemitischem Bodensatz beschreibt. Besonders die österreichische Sozialdemokratie bemühte sich aktiv darum, nach 1945 nicht mehr als «Judenpartei» zu gelten. Kreisky kam seine Exilerfahrung zugute, um in der Partei trotz vorherrschender antisemitischer Ressentiments wieder Fuss zu fassen. Der 1911 geborene Kreisky war in der österreichischen Sozialdemokratie bei seiner Rückkehr kein Unbekannter. Obschon aus bürgerlichem Hause, engagierte er sich ab 1929 in sozialistischen Bewegungen. Nachdem das DollfussRegime die Sozialdemokratie 1934 verbot, folgten illegale politische Aktivitäten, für die er ein Jahr lang ins Gefängnis wanderte. Nach dem «Anschluss» emigrierte Kreisky 1938 nach Schweden, wo er zahlreiche Kontakte zur dortigen Sozialdemokratie knüpfte und unter anderem den aus Deutschland emigrierten Willy Brandt kennenlernte, der ihm zeitlebens zum Freund werden sollte. Vor allem aufgrund dieser internationalen Vernetzung zog Kreisky bei seiner Rückkehr nach Wien das Interesse der österreichischen Sozialdemokratie auf sich. Er machte rasch Karriere in der Aussenpolitik und war zwischen 1959 und 1966 Aussenminister. Als solcher entwickelte er aussenpolitische Initiati- INTERTOPICS Von Fritz Trümpi Bundeskanzler Bruno Kreisky (rechts) scheute sich nicht, auch Libyens Diktator Ghadhafi in Österreich zu empfangen (10. September 1982). ven, die sich der Befestigung der Neutralität, der Südtirol-Frage, der Entwicklungszusammenarbeit mit der «Dritten Welt» oder dem Nahostkonflikt widmeten. Um letzteren entspannen sich heftige Kontroversen: Kreisky pflegte enge Kontakte zu arabischen Ländern und tat sich als Kritiker des Zionismus hervor, was zu argen innen- und aussenpolitischen Verstimmungen führte. Kreisky wurde in der Folge des «jüdischen Selbsthasses» bezichtigt. Daran knüpfte sich ein anhaltender innenpolitischer Konflikt, als Kreisky nach mehreren Jahren als Oppositionsführer 1970 zum Bundeskanzler gewählt wurde: Eine Reihe seiner Minister wiesen eine NS-Vergangenheit auf, was Simon Wiesenthal publik machte. Kreisky stellte sich schützend vor sein Kabinett, beschimpfte Wiesenthal als «jüdischen Faschisten» und trat eine heftige Kampagne gegen diesen los. Es war ein hoher Preis, den Kreisky zu zahlen hatte, um zum erfolgreichsten und beliebtesten österreichischen Nach- kriegspolitiker aufzusteigen: Im mitunter antisemitisch geprägten Nachkriegsösterreich musste er bis zu einem gewissen Grad auf Distanz zu seiner jüdischen Herkunft gehen. Die Verdienste indes, die der schillernde Machtpolitiker in seiner 13 Jahre währenden Kanzlerschaft durch Reformen im Schul- und Universitätswesen, in der Sozial-, Wirtschaftssowie in der Kulturpolitik für sich beanspruchen darf, sind gross. Der einstige Sekretär Kreiskys und Diplomat Wolfgang Petritsch – er war unter anderem Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina – widmet solchen Konflikten zwar Aufmerksamkeit, sein hauptsächlicher Blick gilt jedoch den unbestrittenen Leistungen von Kreiskys Politik. Es ist denn auch weniger das Buch eines urteilsfreudigen Historikers als das eines abwägenden Diplomaten, das informativ und unterhaltsam das Leben eines österreichischen Ausnahmepolitikers nachzeichnet, der Anfang nächsten Jahres seinen 100. Geburtstag feiern könnte. l 28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Sachbuch Linguistik Prägt das Reden unser Denken? Ja, meint Guy Deutscher in seinem neuen Buch Sprache entlarvt Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht. C. H. Beck, München 2010. 320 Seiten, Fr. 34.90. Von Sieglinde Geisel Die Antike sah den Menschen als «das Tier, das Sprache hat». Der Mensch sei «das Säugetier, das das Futurum des Verbs sein gebraucht» – so George Steiner 1981 in seinem Buch «Nach Babel»: Erst mit der Entwicklung des Futurs sei dem Menschen die Zukunft aufgegangen und damit die Fähigkeit zur Hoffnung, so seine These. Der aus Israel stammende und in Oxford lehrende Sprachwissenschafter Guy Deutscher zitiert Steiners These in seinem neuen Buch – doch nur, um sie gleich als Mythos ad acta zu legen, wie übrigens fast alle geläufigen Aussagen darüber, wie die Sprache unser Denken forme. Die auffällige Armseligkeit von Homers Farbwortschatz etwa führte im 19. Jahrhundert zu erregten Spekulationen über einen fehlenden biologischen Farbsinn der alten Griechen. Anderthalb Jahrhunderte später behauptet auch die Sapir-Whorf-These, dass die Sprache das Bewusstsein spiegle: Die Hopi-Sprache kenne keine Zeitbegriffe, und dies zeige, dass die HopiIndianer ausserhalb der Zeit lebten. Mit Noam Chomskys Theorie einer universalen Grammatik wechselte das Pendel in den 1970er Jahren dann die Richtung: Da jeder Mensch jede Sprache lernen kann, müssten in der Tiefenstruktur der Grammatik jeder Sprache die gleichen Prinzipien gelten. Die Behauptung, alle Sprachen seien gleich komplex, ist das jüngste Dogma, von dem Deutscher sich verabschiedet – eine politisch korrekte Abbitte für die eurozentrische Annahme, die Sprachen von Eingeborenen seien «primitiv». Dabei sind es gerade diese kleinen, isolierten Sprachgemeinschaften, die Aufschluss über die fundamentale Verschiedenheit der Sprachen geben könnten – allerdings nur, wenn es uns gelingt, sie noch aufzuzeichnen. Bis in zwanzig Jahren wird die Hälfte der heute 6000 Sprachen ausgestorben sein. Grundsätzlich lasse sich jeder Gedanken in jeder Sprache ausdrücken, davon ist Guy Deutscher überzeugt. Wichtiger als die Frage, welche Aussagen eine Sprache uns gestatte, sei die Frage, zu welchen Aussagen sie uns zwinge. Im Deutschen beispielsweise müssen wir das Geschlecht bei Wörtern wie «Freund», «Nachbar» usw. nennen, während im Englischen diese Personenbezeichnungen neutral sind. Die Sprache präge das Denken vor allem durch Gewohnheiten. In der Aborigine-Sprache der Guugu Yimithirr etwa werden Ortsbezeichnungen durch Himmelsrichtungen angegeben, ein grammatisches Geografie-Training, das im Bewusstsein Spuren hinterlasse. Ähnlich verhält es sich mit den Farben: Jene Farben, für die es in Australische Aborigines sprechen eine komplizierte Sprache. ihrer Sprache Wörter gibt, erkennen Testpersonen schneller als unbenannte Farbtöne – dies bedeute jedoch keinesfalls, dass Völker, die etwa für Grün und Blau nur ein einziges Wort haben, diese Farben nicht sehen können. Farben, Raum, Genus – auf diese drei eng eingegrenzten Beispiele stützt sich Deutscher in seinen Überlegungen. Ist die Weiblichkeit des Worts «die Brücke» im Deutschen eine blosse grammatische Konvention, oder schreiben wir dem Wort Brücke unbewusst tatsächlich Schwarze Pädagogik Schüler wird von Lehrer zu Tode geprügelt – so war der Zeitgeist vor 100 Jahren Züchtigungen und kalte Duschen Michael Hagner: Der Hauslehrer. Die Geschichte eines Kriminalfalls. Suhrkamp, Berlin 2010. 280 Seiten, Fr. 30.50. Von Kathrin Meier-Rust Im Sommer 1902 stellt das vermögende Berliner Bankier-Ehepaar Koch den 23-jährigen Jura-Studenten Andreas Dippold als Hauslehrer für die beiden jüngsten Söhne ein: Der dickliche, gutmütige Heinz, 13, und der kränkliche Joachim, 11, waren schlechte Schüler und galten als faul und geistig träge. Als auch Dippold keine Fortschritte erreicht, will er seine Schüler von jeder Zerstreuung entfernen. Auf dem Familiengut im Harz, später in einer abgelegenen Hütte, soll nun modernste Reformpädagogik die verwöhnten Knaben stärken und bessern: früh aufstehen, kalt duschen, nackt schwimmen – und bald auch Züchtigungen gehören zum Erziehungspro28 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010 gramm. Denn, so entdeckt der Hauslehrer, die beiden Knaben onanieren! Die verängstigte Mutter schreibt mahnende Briefe, der beschäftigte Vater verlangt erfolgreiche Söhne, der selbstgewiss auftretende Lehrer scheint die letzte Rettung. Einzig ein Gärtner protestiert gegen die Misshandlung der Kinder. Der Nervenarzt Oskar Vogt dagegen, den die Mutter daraufhin entsendet, findet nichts Ungewöhnliches; er verschreibt ein Schlafmittel, um das Masturbieren zu bekämpfen. Bald informiert ihn der Hauslehrer, dass die Knaben besser schliefen, seit er das Bett mit ihnen teile. Dass er sie an Händen und Füssen fesselte, wird erst im Obduktionsbericht festgehalten. Im März 1903 war Heinz gestorben: Tiefe Verletzungen übersäten seinen Körper. Wie hatte es dazu kommen können – elterliche Verantwortungslosigkeit, wahnhafte Pädagogik, Perversion eines Lehrers? Sachlich, geradezu lakonisch, erzählt der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner zunächst die Geschichte dieses Kriminalfalls, um dann mit grösster Akribie die Diskussion auszubreiten, die dieser Fall nicht nur in einer empörten Öffentlichkeit, sondern vor allem in den Wissenschaften auslöste: Pädagogen, Mediziner, Psychiater, Kriminal-, Sozialund Sexualwissenschafter fühlten sich berufen, gelehrte Positionen zu markieren – zur Prügelstrafe (unverzichtbar) und Onanie (schädigend und gefährlich), zu angeborenem Verbrechertum, Sadismus und sexueller Perversion des Hauslehrers. Ansichten, die sich oft auf nicht viel mehr stützten als Presseberichte und Vorurteile und die uns heute nur noch unmenschlich, unwissend und grotesk erscheinen – es ist die geistige Welt, die Michael Hanekes Spielfilm «Das weisse Band» in verstörender Weise vorgeführt hat. Um diesen ebenso verworren-pompösen wie latent gewaltsamen wilhelminischen Zeitgeist zu rechtfertigen, wurde damals der Hauslehrer zur «per- Erinnerungen Signe von Scanzoni war die letzte Lebensgefährtin von Erika Mann. Nun erscheint ihr Bericht über diese schwierige Beziehung Geschichte einer Passion, die auch ein Irrtum war Ein Bericht über Erika Mann. Hrsg. Imela von der Lühe. Wallstein, Göttingen 2010. 244 Seiten, Fr. 33.50. PENNY TWEEDIE / PANOS Von Andreas Tobler «weibliche» Eigenschaften zu? Die Experimente allerdings, mit denen solche Fragen untersucht werden, sind so ausgeklügelt wie schlicht. Dies ergibt bestenfalls ein paar armselige Schlaglichter, die jedoch die geheimnisvolle Beziehung zwischen Sprache und Denken nicht grundsätzlich zu erhellen vermögen. Man hatte es geahnt – der Untertitel «Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht» verspricht mehr, als das (streckenweise nervtötend launig geschriebene) Buch hält. l versen Bestie» gestempelt. Dippoldismus wird ein Synonym für pädagogischen Sadismus. Ganz im Einklang mit der Familie Koch und dem Nervenarzt Vogt, die um ihren Ruf fürchteten und deshalb jede Mitschuld weit von sich wiesen, fanden Öffentlichkeit und Wissenschaft einen beruhigenden Konsens im Abscheu über ein krankes Individuum. Dass es die Gesellschaft war, die krankte, blieb unerkannt. Hierin liegt die subtile Beunruhigung, das dieses so unaufgeregt erzählte Lehrstück hervorruft: Wie, so fragt man sich, werden unsere heutigen humanwissenschaftlichen Erkenntnisse in hundert Jahren beurteilt? Dippold selbst fühlte sich zu jedem Zeitpunkt schuldlos, er verteidigte seine erzieherischen Massnahmen stets als wissenschaftlich, modern und gutgemeint. Dass sie bei einem offenbar biologisch minderwertigen Kind erfolglos blieben, sah er als harte Realität. Der Hauslehrer sass acht Jahre im Zuchthaus und verschwand dann in Brasilien. l «Nach drei Wochen Qual bist Du endlich in die Bewusstlosigkeit gefallen. Es dauert noch fünf Tage und vier Nächte, ehe ich Deinen letzten Atemzug höre.» Mit diesen Worten beginnt Signe von Scanzoni am 5. April 1970 das abschliessende Kapitel ihres Berichts über die letzten Monate ihrer Lebensgefährtin Erika Mann, die etwas mehr als ein halbes Jahr zuvor im Kantonsspital Zürich, dem heutigen Universitätsspital, gestorben war. «Als ich noch lebte» – so der Titel des Berichts – ist ein intimes, ein ergreifendes Dokument, in dem die zuletzt als Musikjournalistin tätige Signe von Scanzoni (1915–2002) in Form eines literarischen Briefes die letzten Monate ihrer zwölfjährigen Beziehung mit Erika Mann (1905–1969) Revue passieren lässt – und gleichzeitig Abschied nimmt. Der Briefbericht, der im vergangenen Jahr bei Signe von Scanzonis Testamentvollstrecker aufgetaucht war und nun von der Erika-Mann-Biografin Irmela von der Lühe herausgegeben, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen wurde, ist intim, weil darin von zwei Menschen mit unterschiedlichen Biografien und Lebenshaltungen erzählt wird, die versuchten, sich in vorgerücktem Alter «zu einer hilfreichen Symbiose zusammenzuschliessen». Die Bilanz dieses Lebensversuchs fällt ernüchternd aus. Der Versuch sei gescheitert, schreibt Signe von Scanzoni, deren Bericht nicht zuletzt deshalb so berührend ist, weil sie darin nichts schönt oder rückblickend verklärt. Mit der Hingabe der Freundin, dann wieder distanziert und analytisch, episodisch und assoziativ macht sich Signe von Scanzoni daran, den «ganzen Lebensfilm» ihrer eigenen Person und den ihres Gegenübers zu entwickeln. Dabei stellt sie ihre Diskussionen über das im Bericht oft zitierte Werk Thomas Manns und ihre konfliktreichen Gespräche über Erika Manns Engagement in der Emigration und Signe von Scanzonis Verbleib im NS-Regime dar. Von ihrer Faszination gegenüber Erika Manns «unbedingtem Passioniertsein» ist ebenso die Rede wie von Signe von Scanzonis verbindlichem Desinteresse, mit dem sie Erika Manns Klagen über das Dasein als Thomas Manns «Nachlasseule» anhörte. Doch auch für Signe von Scanzoni war es schwierig, hinter den «Schutzwall der preziösen, pointierten Sprache» Erika Manns zu dringen. «Deine Erzählungen, bunt, skurril oder drollig, haben textlich eine feste Form.» Erst spät bemerkte Signe von Scanzoni, dass Erika Manns Erzählungen, Geschichten und Legenden aus der Familienhistorie, letztlich nur ein Ausgleich für eine Gegenwart waren, in der sich die politisch engagierte Schauspielerin, Publizistin und Vortragsreisende aus Pflichtbewusstsein in einen «Cocon» der Familienangelegenheiten eingesponnen hatte, dessen Fäden – so Irmela von der Lühe – durch Krankheit und Klinikaufenthalte immer enger gezogen wurden. Die Befreiung aus diesem Cocon gelang nicht mehr. So nennt Signe von Scanzoni ihren Bericht denn auch die «Geschichte einer Passion und eines Irrtums». «Unser Irrtum bestand darin, dass wir glaubten, dass man zu später Lebensstunde durch Veränderungen äusserer Umstände Fehlhaltungen korrigieren kann.» Der Traum von einer gemeinsamen Zukunft in einem eigenen Haus, das als Papiermodell gefaltet wurde, konnte nicht mehr Wirklichkeit werden. Am 30. August, dem Tag der Trauerfeier für Erika Mann, «habe ich das Häuschen wieder entfaltet, klein zusammengelegt und mit ein paar Buschröschen in das Grab geworfen». l Erika Mann (1905– 1969) spielte viele Rollen: Schauspielerin, Kabarettistin, Schriftstellerin und Nachlassverwalterin (Bild aus den sechziger Jahren). KURT SCHRAUDENBACH / SÜDDEUTSCHE ZEITUNG Signe von Scanzoni: Als ich noch lebte. 28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29 Sachbuch Forscherkrimi Wie Wissenschafter und Laien einem namenlosen Skelett zu Ruhm und Ehre verhalfen Seine Zahnlücke verriet ihn Gerhard Hotz, Kaspar von Greyerz, Lucas Burkart (Hrsg.): Theo der Pfeifenraucher. Leben in Kleinbasel um 1800. Christoph Merian, Basel 2010. 236 Seiten, Fr. 39.–. Von Geneviève Lüscher Theo der Pfeifenraucher, wie das Skelett dank einer charakteristischen Zahnlücke liebevoll genannt wird, ist weit über Basel hinaus bekannt. Vor über 20 Jahren kam es in einem namenlosen Grab im Kleinbasler Gottesacker bei St. Theodor zum Vorschein. 2007 startete dann ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, das sich der Frage widmete, was heute mit Hilfe anthropologischer und historischer Methoden über eine vor 200 Jahren verstorbene Person herausgefunden werden kann. Seither berichteten die Medien regelmässig über die Fortschritte in der Iden- titätsfindung Theos. Obwohl es nicht gelungen ist herauszufinden, wer er wirklich war, konnte der Personenkreis mit vereinten Kräften auf drei Individuen eingeschränkt werden, was eine beträchtliche Leistung darstellt. Mit einer Publikation wurde das Projekt nun abgeschlossen; 31 Autoren und Autorinnen sowie 50 ehrenamtliche Mitarbeitende haben daran mitgewirkt. Dem Herausgeber Gerhard Hotz und seiner Beharrlichkeit ist es aber zu verdanken, dass die vielen Fäden nun zu einem glücklichen Ende verknüpft werden konnten. Das spannende Buch liest sich wie ein Krimi, der sich neben wissenschaftlichen Erörterungen auch grosszügige Exkurse historischer und kultureller Art erlaubt. Man erfährt etwas über DNAAnalysen, über Geschlechts- und Altersbestimmungen am Skelett, über Zahndeformationen, aber auch über die Lebensumstände der Unterschicht einer städtischen Gesellschaft zwischen 1780 und 1830. Gerade diese kulturgeschichtlichen Beiträge erschliessen Neuland: Wie lebten damals die kleinen Leute, wie gestaltete sich ihr Alltag, welche Sorgen plagten sie? Und Schritt für Schritt tritt Theo aus der Anonymität heraus, erhält ein Gesicht, ein Alter, eine Geschichte, eine Todesursache, einen Beruf. Umfangreiche Recherchen in den Archiven liefern mögliche Stammbäume. Aus all diesen Forschungen schälten sich schliesslich auf dem Indizienweg drei Topkandidaten heraus: der Glasermeister Christian Friedrich Bender, der berufslose Achilles Itin und der Kesselflicker Peter Kestenholz. Aufwendige genealogische und berufsspezifische Nachforschungen erlaubten es, die drei Lebensläufe zu rekonstruieren und die familiären Umfelder der Kandidaten näher zu umschreiben. Einer davon muss Theo gewesen sein. l Das amerikanische Buch 14 Stationen von George W. Bushs Präsidentschaft «Decision Points» ist dennoch von historischem Wert. Die zahlreichen Bibelzitate und Hinweise auf Gebete verdeutlichen die zentrale Rolle seines Christentums für Bush, der sich dank der Bibel mit 40 endlich vom Teufel Alkohol lossagen konnte. Darüber hinaus wirkt das mit Hilfe zahlreicher Assistenten flüssig geschriebene Buch trotz seines selbstherrlichen Tons wie eine Verteidigungsschrift und legt den wohl grundlegenden Konflikt in Bushs Biografie frei. Seine Entscheidungsfreude erscheint als Reflex auf eine tiefe Unsicherheit, die ebenso in 30 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010 DOUG MILLS / AP Ghraib-Gefängnis schiebt er wie schon in seiner Amtszeit auf Subalterne ab, und sein über zweijähriges Zögern vor der Entlassung des Pentagonchefs Donald Rumsfeld erklärt Bush schlicht mit dem Mangel an geeigneten Nachfolgern. Bei der Wahl seines Vizepräsidenten Dick Cheney will er dagegen allein aus eigener Überzeugung gehandelt haben, während viele Quellen dafür sprechen, dass sich Cheney mit der ihm eigenen Kaltblütigkeit selbst für dieses Amt positioniert hat. Präsident George W. Bush spricht am 11. September 2001, dem Tag der Anschläge auf das World Trade Center, zur Nation. Autor George W. Bush (unten). REUTERS Zu den überflüssigsten Ritualen der amerikanischen Politik zählen die von Präsidenten nach ihrer Amtszeit verfassten Memoiren. Diese dienen laut dem «Time Magazine»-Reporter Joe Klein vorwiegend «der langatmigen Selbstbeweihräucherung und der Vernebelung der Tatsachen». Einen Tiefpunkt dieses deprimierenden Genres stellen für Klein und die überwiegende Mehrheit seiner Kollegen die Memoiren von George W. Bush dar. In den letzten Jahren hat kaum ein politisches Buch in den USA derart schlechte Kritiken geerntet wie Decision Points (Crown, 497 Seiten). Bush lässt keine ernsthafte politische Philosophie erkennen. Stattdessen führt er den Leser durch einen Präsidentschafts-Parcours mit 14 Stationen, die jeweils spezifischen «Entscheidungen» etwa zu den Invasionen in Afghanistan und Irak, dem Hurrikan Katrina oder seiner «Freiheits-Agenda» für Nahost und den Rest der Welt gewidmet sind. Die Widerlegung seiner jeweiligen Behauptungen hat sich rasch zu einem Volkssport für die Kritik entwickelt. mangelnder Sachkenntnis oder Nachdenklichkeit fussen dürfte wie in einem Zwang zur Rechtfertigung seinen Eltern gegenüber. Mutter Barbara tritt meist als bissige Spötterin auf und wird dem Selbstbewusstsein ihres ältesten Sohnes kaum dienlich gewesen sein. Noch häufiger wird «Dad» George senior zitiert, dessen Zustimmung etwa zum Irak-Krieg Bush als schlagendes Argument für die Korrektheit dieser schlecht begründeten und noch schlechter exekutierten Entscheidung anführt. Immer wieder wirkt der Entscheidungsträger seltsam passiv. Für Missgriffe wie die zu geringe Truppenstärke in Afghanistan und im Irak macht Bush verfehlte Ratschläge seiner Militärs verantwortlich. Den Missbrauchsskandal im Abu- Generell sucht Bush Fehlentscheidungen kleinzureden, oder er blendet Zusammenhänge aus. Obwohl er vor seiner Präsidentschaft monatelang aussenpolitischen Nachhilfeunterricht von «Neocons» wie Paul Wolfowitz und Richard Perle erhielt, fehlt das Wort neokonservativ in «Decision Points». Ebenso der Hinweis auf die saudische Staatsbürgerschaft der meisten Attentäter von 9/11. Dies mag den engen Beziehungen der Bush-Sippe zu den arabischen Ölmonarchen geschuldet sein. Auch die verheerenden Konsequenzen seiner Kriegszüge für irakische und afghanische Zivilisten sind Bush nicht der Rede wert. Tragikomisch muten dagegen die Seiten zum «Friedensprozess» im Palästinakonflikt an. Da hastet Bush innert weniger Absätze vom Frühjahr 2002 zum Januar 2009, immer beschwörend, wie wichtig ihm das Thema ist. Doch am Ende kann er nichts als die platte Hoffnung vorweisen, dass in Nahost dank «visionärer Führungskraft» doch noch irgendwann Frieden und Freiheit einziehen werden. l Von Andreas Mink Agenda Agenda Dezember 10 Fotografie Ikonen der Rockmusik Basel Donnerstag, 2. Dezember, 19 Uhr Peter Wawerzinek: Rabenliebe. Lesung, Fr. 15.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. o61 261 29 50. Donnerstag, 2. Dezember, 20 Uhr Marianne Vogel Kopp: Der Spur nach. Lesung. Forum für Zeitfragen, Leonhardskirchplatz 11, Tel. 061 264 92 00. Herta Müller: Lesung und Gespräch mit der Literaturnobelpreisträgerin, Fr. 25.–. Literaturhaus, Stadtcasino, Steinenberg 14, Vorverkauf Tel. o61 206 99 96. ROBERT GHEMENT / EPA Mittwoch, 8. Dezember, 19.30 Uhr Bern Mittwoch, 1./8./15./22. Dezember, 13 Uhr Adventsgeschichten am Mittag. 15 Minuten Auszeit mit Kaffee oder Tee. Buchhandlung Haupt, Falkenplatz 14, Tel. 031 309 09 09. Rock ’n’ Roll, aber auch den Beatles und den Rolling Stones, Bob Dylan und Jimi Hendrix, Prince und Iggy Pop, Marilyn Manson und Franz Ferdinand. Die Auswahl der Bilder besticht ebenso wie die Qualität der Reproduktionen. Dass etliche Bilder über den Falz gezogen wurden, liess sich formatbedingt wohl kaum vermeiden. Manfred Papst A Star Is Born. Fotografie und Rock seit Elvis. Edition Folkwang/Steidl, Göttingen 2010. 335 Seiten, 320 Abbildungen, Fr. 43.50. Sachbuch 1 Bastei Lübbe. 1024 Seiten, Fr. 40.50. 2 Jung und Jung. 320 Seiten, Fr. 33.50. 3 Manhattan. 464 Seiten, Fr. 26.90. 4 Blanvalet. 832 Seiten, Fr. 42.90. 5 Limes. 416 Seiten, Fr. 33.90. 6 Diogenes. 240 Seiten, Fr. 32.90. 7 Heyne. 3 Bände, 2288 Seiten, Fr. 66.90. 8 Diogenes. 320 Seiten, Fr. 35.90. 9 Schwarzkopf & Schwarzkopf. 224 S., Fr. 15.90. 10 Diogenes. 320 Seiten, Fr. 38.90. 1 List. 220 Seiten, Fr. 33.90. 2 DVA. 464 Seiten, Fr. 38.90. 3 Bibliographisches Institut. 280 Seiten, Fr. 32.90. 4 Wörterseh. 302 Seiten, Fr. 39.90. 5 Droemer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 25.90. 6 Heyne. 736 Seiten, Fr. 44.90. 7 Dorling Kindersley. 288 Seiten, Fr. 42.90. 8 Giger. 221 Seiten, Fr. 36.90. 9 Piper. 432 Seiten, Fr. 30.50. 10 Goldmann. 544 Seiten, Fr. 33.90. Sophie Kinsella: Mini Shopaholic. Elizabeth George: Wer dem Tode geweiht. Tess Gerritsen: Totengrund. Hansjörg Schneider: Hunkeler und die Augen des Ödipus. Stieg Larsson: Die Millennium-Trilogie. Lukas Hartmann: Finsteres Glück. Sila Sönmez: Das Ghetto-Sex-Tagebuch. Martin Suter: Der Koch. Montag, 20. Dezember, 19 Uhr Peter Bissegger: Grosse Schweizer Kleinkunst. Foyergespräch. Das Zelt, Papiermühlestrasse 50, Tel. 0848 000 300. Dienstag, 7. Dezember, 20 Uhr Belletristik Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf. Roman Graf: Lesung und Diskussion zum Thema Literatur als Seismogramm des Zeitgeists. Universität Bern, Hochschulstrasse 4, Tel. 031 631 81 11. Zürich Bestseller November 2010 Ken Follett: Sturz der Titanen. Dienstag, 7. Dezember, 18.15 Uhr Natascha Kampusch: 3096 Tage. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Guinness World Records 2011. Nicole Dill: Leben! Wie ich ermordet wurde. Rhonda Byrne: The Power. Keith Richards: Life. Jamie Oliver: Jamies 30 Minuten Menüs. Pascal Voggenhuber: Entdecke deine Sensitivität. Ronald Reng: Robert Enke. Richard D. Precht: Die Kunst, kein Egoist zu sein. Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 16. 11. 2010. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Herta Müller im Gespräch mit Ernest Wichner, Fr. 25.–. Literaturhaus, Veranstaltung im Kongresshaus Zürich, Gartensaal, Tel. 044 254 50 00. Dienstag, 7. Dezember, 20 Uhr Andreas Thiel: Unbefleckte Sprengung. Satirische Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten, Festsaal, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77. Sonntag, 12. Dezember, 17 Uhr Ingrid Noll: Ehrenwort. Lesung, Fr. 15.–. Theater am Neumarkt, Neumarkt 5, Vorverkauf Tel. o44 267 64 64. Dienstag, 14. Dezember, 20 Uhr Bernhard Schlink: Sommerlügen. Lesung, Fr. 28.–. Kaufleuten, Festsaal (s. oben). Mittwoch, 15. Dezember, 20 Uhr Adam Thirlwell: Flüchtig. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Bücher am Sonntag Nr. 1 erscheint am 30. 1. 2011 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31 GAETAN BALLY / KEYSTONEV Für das Album «Elephant» der Garage-Rockband The White Stripes aus Detroit schoss der Fotograf Dean Chalkley eine Serie von Bildern, die alsbald Kultstatus erlangten. Die hier abgebildete Aufnahme fand denn auch Eingang in den prächtigen Bildband «A Star Is Born», der sich dem Zusammenspiel von Fotografie und Rock seit Elvis Presley widmet. Der in Zusammenhang mit einer Ausstellung im Museum Folkwang, Essen, entstandene, durch etliche Essays angereicherte Foliant widmet sich dem King of <wm>10CAsNsjY0MDAx1TWwtDA2NQcAUhLiMg8AAAA=</wm> <wm>10CEXKKw6AMBBF0RW1eW_K9MPIUlSDAMIKCJr9KwgGcc3J7d3U46u2ZW-rERjUoeSgybSolyiWRTxCNFJEQIwUFjK99N-uTm4DZuAA_X1eD7SH-3hdAAAA</wm>