schmerztherapie 1/2008 - Deutsche Gesellschaft für

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schmerztherapie 1/2008 - Deutsche Gesellschaft für
SCHMERZTHERAPIE
Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie e. V. – DGS
24. Jahrgang 2008
1I2008
Ehemals StK
Inhalt
Editorial
Schmerztherapie –
ein Kostentreiber?.......................... 2
Pharmakotherapie
Einerlei oder Zweierlei – Generika
und Originalprodukte in der
Therapie.......................................... 4
Serie Rückenschmerz
Rückenschmerzen – eine interdisziplinäre Herausforderung......... 7
Schmerz im Krankenhaus
Perioperative Schmerztherapie
beim opioidgewöhnten
Patienten......................................... 9
DGS-Veranstaltungen................ 11
Schmerzforschung
Frauen und Schmerzen:
Mythen und Fakten...................... 12
Zur Diskussion
Abdominelle Migräne?................. 14
Der Deutsche Schmerztag 2008
Psychologie: Achtsamkeit und
Akzeptanz..................................... 15
Medizin und Recht
Anforderungen an die Genehmigung einer Zweigpraxis................ 19
Berufspolitik
EBM 2008 – ein „Meilenstein
für die Zukunft“............................. 21
Dokumentation
Therapeutisches Muss, kein
bürokratischer Unsinn.................. 25
Kasuistik
Tumorschmerzen.......................... 27
Das bringt der neue EBM 2008
für Schmerztherapeuten
www.dgschmerztherapie.de
ISSN 1613-9968
Editorial
Schmerztherapie – ein Kostentreiber?
„… Allerdings ist das Prinzip der Schmerztherapie nicht überzeugend, was zum Beispiel
die Medikamentenbehandlung anbelangt. So werden Patienten immer häufiger mit
starken Medikamenten behandelt, wodurch nie mehr eine weniger beeinträchtigende
Schmerzbehandlung vorgenommen werden kann“, schreibt der Zulassungsausschuss einer
Kassenärztlichen Vereinigung als Begründung für die Ablehnung einer Sonderbedarfs­
ermächtigung. Diese Aussage dokumentiert nicht nur fatale Vorurteile gegenüber der
medikamentösen Schmerztherapie, sondern gleichzeitig auch fatale Unkenntnis, die eines
allgemeinärztlichen Gutachters unwürdig ist.
Irrtum Nummer 1
Irrtum Nummer 2
„Alle stark wirksamen Schmerzmittel haben
ein gleiches Nebenwirkungsprofil und beeinträchtigen deshalb die Patienten.“
In letzter Konsequenz führt diese Fehleinschätzung dazu, generisches Morphin als
Leitsubstanz und primär einzusetzendes Opioid zu fordern. Völlig unbeachtet bleibt hierbei,
dass verschiedene Opioide nicht nur ein verschiedenes Wirkspektrum (Rezeptorenspezifität) haben, sondern unterschiedlich metabolisiert werden und deshalb in Abhängigkeit von
Leber- und Nierenfunktion völlig unterschiedliche Wirkungen entfalten können. Dass darüber hinaus neue Galenik und sinnvolle Kombinationen – z. B. von Oxycodon mit Naloxon
– Nebenwirkungsprofile deutlich verbessern
und gleichzeitig effiziente Schmerztherapie
zulassen kann, wird ebenfalls ignoriert.
Cartoon: Liebermann
„Starke Schmerzmedikamente stellen eine
beeinträchtigende Schmerzbehandlung dar.“
In letzter Konsequenz bedeutet diese
Aussage, dass Ärzte, die so denken, ihren
Patienten lieber stark wirksame Analgetika
vorenthalten und sie Schmerzen leiden lassen, als sie „durch Medikamente zu beeinträchtigen“. Derartige Aussagen kann nur jemand treffen, für den die Differenzialtherapie
mit Opioiden ein Buch mit sieben Siegeln ist.
Zahlreiche Untersuchungen haben die gute
Verträglichkeit sinnvoll retardierter Opioide
in sinnvollen Kombinationen nachgewiesen.
So ist zum Beispiel ein Arzt nach 17 Stunden Bereitschaftsdienst ein größeres Risiko
im Autoverkehr als ein Patient, der auf eine
konstante Dosis eines retardierten Opioids
eingestellt ist. Ohne Zweifel besteht die Kunst
allerdings darin, die richtige medikamentöse
Therapie für den individuellen Patienten zu finden (siehe Kasuistik Seite 27). Dies erfordert
allerdings Fortbildung über pharmakologische
Neuentwicklungen und neue Kombinationen.
Gerhard H. H. MüllerSchwefe, Göppingen
Irrtum Nummer 3
„Wer einmal stark wirksame Analgetika nimmt,
ist für andere Verfahren der Schmerztherapie
verloren.“
Nicht nur erfahrene Schmerztherapeuten,
sondern auch Allgemeinärzte und Fachärzte
wissen, dass stark wirksame Analgetika immer im Gesamtkonzept einer multimodalen
Schmerztherapie eingesetzt werden sollen
und häufig andere Therapieverfahren erst
ermöglichen.
Irrtum Nummer 4
Die Aussage „Patienten werden immer häufiger mit starken Medikamenten behandelt,
wodurch nie mehr eine weniger beeinträchtigende Schmerzbehandlung vorgenommen
werden kann“, suggeriert, dass diese Patienten durch die Schmerztherapie süchtig
oder zumindest abhängig gemacht werden,
sodass andere Therapieverfahren nicht mehr
möglich sind.
Das Gegenteil ist der Fall: Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass die Gefahr
von Dosiseskalation und Abhängigkeit durch
die zögerliche Gabe nicht retardierter Opioide
entsteht und nicht durch den sinnvollen Einsatz ausreichend lang retardierter Opioide in
sinnvoller Kombination.
Kennen Sie Reserveopioide?
Die ganze Scheinheiligkeit dieser Argumentation, die das Wohl der Patienten vorschiebt, in
Wirklichkeit aber die Kassenlage der Krankenversicherungen im Blickfeld hat, wird
durch die Prägung eines neuen Begriffs in
Arzneimittelregressen deutlich: „Reserveopioide“ ist die neue Wortschöpfung, die sich in
keinem Lexikon der Welt (übrigens auch nicht
in Google als Suchbegriff) finden lässt, aber
in überraschender Einigkeit von verschiedenen Prüfgremien in Bescheiden für Arzneimittelregresse wiederfindet. Hier wird festge-
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Editorial
stellt „… Eine unwirtschaftliche Verordnungsweise … ergab sich vor allem auch aus dem
unwirtschaftlichen Verhältnis zwischen den
eingesetzten Reserveopioiden (Durogesic,
Oxygesic, Palladon ret. und Transtec) gegenüber der Leitsubstanz retardiertes Morphin.“
Dies stellt eine einmalige neue Klassifikation der Opioide dar, die in keiner wissenschaftlichen Studie untersucht oder belegt ist
und ein einziges Ziel hat, nämlich Ärzte, die
differenzialtherapeutisch arbeiten und ihre
Pharmakologie gelernt haben, einzuschüchtern und zur Umstellung auf die angebliche
Leitsubstanz retardiertes Morphin zu bewegen. Unverholen wird festgestellt, dass die
Umstellung ausschließlich aus Kostengründen zu erfolgen gehabt hätte, Verträglichkeit
und Compliance werden vollständig ignoriert,
notwendige Begleitmedikation, häufigere Arztbesuche aufgrund von Nebenwirkungen und
Wechselwirkungen gehen ja ohnedies zulasten des sein Budget überschreitenden Arztes
und pharmakologische Eigenheiten der einzelnen Substanzen werden bewusst ignoriert.
Gerade bei Patienten, bei denen eine stabile
Einstellung mit einem stark wirksamen Opioid oft das Ergebnis einer langwierigen Titrationsphase bis zur individuellen Einstellung
der verträglichen Therapie beinhaltet, stellt
der willkürliche Wechsel auf andere Präparate
im Rahmen der Substitution durch Apotheker
aufgrund von Rabattverträgen nicht nur eine
inakzeptable Belastung der Patienten dar,
sondern auch ein hohes Risiko.
Schmerztherapie im EBM –
wird nun alles gut?
Mit der Einführung einer schmerztherapeutischen Grundpauschale (GOP Nr. 30 700
EBM 2008) wurde in der vertragsärztlichen
Versorgung eine Grundpauschale für Patienten im Rahmen der Versorgung nach Qualitätssicherungsvereinbarung zur schmerztherapeutischen Versorgung chronisch schmerzkranker Patienten nach § 135 Abs. 2 SGB V
eingeführt (siehe Beitrag von Dietrich Jungck,
Seite 21). Mit einer Bewertung von 685 Punkten für diese „schwierigste unter allen Patientengruppen“ bei gleichzeitigem Ausschluss
der Chronikerpauschale fällt die Vergütung
allerdings mager aus. Gravierender erscheint
mir, dass allgemeine Schmerztherapie in der
hausärztlichen Vergütung nach wie vor nicht
erscheint.
Unter zehn „besonders förderungswürdigen
Einzelleistungen und Leistungskomplexen“
wie beispielsweise hausärztlich geriatrisches
Basisassesment (03 240), computergestützte
Auswertung eines kontinuierlich aufgezeichneten Langzeit-EKGs (03 241), Testverfahren
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Kooperation mit Landesärztekammer Hessen
In einem offenen und konstruktiven Gespräch
haben die Hessische Landesärztekammer, vertre­
ten durch deren Präsidentin Frau Dr. med. Ursula
Stüwe, sowie die Deutsche Gesellschaft für
Schmerztherapie, vertreten durch Dr. med. Ger­
hard H. H. Müller-Schwefe und Dr. Thomas Nolte,
die Frage der Vergabe der Qualifikation Zusatz­
bezeichnung Spezielle Schmerztherapie in Hes­
sen erörtert und dabei Folgendes festgestellt:
Die hohe Zahl der Schmerztherapeuten im
Landesärztekammerbereich Hessen erklärt sich
durch die dreijährige Übergangsfrist, in der die
Mehrzahl der vergebenen Zertifikate erworben
wurde. Die Hessische Landesärztekammer stellt
ebenso wie die Deutsche Gesellschaft für
Schmerztherapie hohe Anforderungen an die
Qualitätsstandards der speziellen Schmerzthera­
pie. Beide Seiten stellen ausdrücklich fest, dass
der Vorwurf von Gefälligkeitsgutachten nicht auf
die Hessische Landesärztekammer zutrifft.
Die Hessische Landesärztekammer und die
Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie wol­
len in Zukunft eng kooperieren in dem Bemü­
hen, die Qualität der schmerztherapeutischen
Ausbildung und Versorgung mit hohen Stan­
dards zu füllen.
bei Demenzverdacht (03 242), BelastungsEKG (03 321), Langzeit-EKG (03 322), Langzeit-Blutdruckmessung (03 324), spirografische Untersuchung (03 330) und weiteren
fehlt leider nach wie vor die Abklärung einer
beginnenden oder bestehenden Schmerzchronifizierung und die Einleitung therapeutischer Maßnahmen.
Angesichts eines Heeres von 15 Millionen Patienten mit chronischen Schmerzen in
Deutschland kommt dem „Gatekeeper Hausarzt“ hier besondere Bedeutung zu. Nur gute
schmerztherapeutische Kenntnisse von Allgemeinärzten erlauben, dass Schmerzkarrieren
in Zukunft erst gar nicht beginnen, sondern
von Anfang an verhindert werden. Da Vergütungsregelungen wesentliche Anreize für die
Steuerung der Versorgung darstellen, besteht
hier dringender Handlungsbedarf.
weiten Vergleich sind dies nur 35%), 87%
sind auch nach sechs Monaten keinen Tag
wegen Rückenschmerzen arbeitsunfähig
gewesen.
Die eingesparten Lohnfortzahlungskosten finanzieren nicht nur das komplette
Programm, sondern lassen den beteiligten
Kassen für jeden Patienten auch noch Geld
übrig. Ohne Zweifel muss in diesen Programmen der nächste Schritt sein, dass Hausärzte
und Fachärzte mit schmerztherapeutischer
Qualifikation hier frühzeitig diagnostizieren
und steuern.
Adäquate Vergütung
heißt deshalb nicht nur „Schmerztherapeuten
brauchen mehr Geld“, sondern eben auch:
„Hausärzte müssen schmerztherapeutische
Qualifikation und Zeiteinsatz für Schmerzpatienten adäquat vergütet bekommen“.
Wie wichtig hier gerade bei Rückenschmerzpatienten z. B. die ersten 14 Tage
sind, schildert Michael Pfingsten in seinem
Beitrag auf Seite 7.
Weiter auf alten Pfaden?
Wie effizient neue Versorgungswege sein
können, zeigt gerade der zwischen der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie, GAF
IV und Techniker Kasse, Gmünder Ersatzkasse und weiteren Krankenkassen seit 1,5 Jahren gelebte Vertrag zur integrierten Versorgung von Rückenschmerzpatienten.
Frühintervention und intensive multimodale Therapie lassen in diesem Projekt
nach vier bis acht Therapiewochen 92%
der Rückenschmerzpatienten, die zuvor vier
Wochen oder länger arbeitsunfähig waren,
wieder zur Arbeit zurückkehren (im bundes-
Schmerztherapie für alle
ist die logische Konsequenz aus dieser Einsicht. Nur wenn schmerztherapeutische Kenntnisse für Hausärzte wie für Fachärzte eine anerkannte, vergütete und gelebte Qualifikation
darstellen, werden wir es schaffen, das Heer
der 15 Millionen Schmerzkranken in Deutschland zu verringern. Von Unkenntnis geprägte,
zynische Zitate wie das eingangs geschilderte
werden dann hoffentlich der Vergangenheit
angehören.
Der Deutsche Schmerztag 2008, der vom
6. bis 8. März unter dem Motto „Multimodale
Schmerztherapie und Palliativversorgung in
Wissenschaft, Politik und Ökonomie“ in Frankfurt am Main stattfindet, will hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Dieser Kongress vermittelt praxistaugliches schmerztherapeutisches
Wissen für alle Ärzte und stellt den Bezug zur
aktuellen Grundlagenforschung her. Hierzu
lade ich Sie herzlich ein und freue mich heute
schon, Sie in Frankfurt zu sehen.
❏
Herzlichst
Ihr
Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe
Präsident, Deutsche Gesellschaft für
Schmerztherapie e. V.
Pharmakotherapie
Einerlei oder zweierlei? – Generika und
Originalprodukte in der Therapie
Im Rahmen der Gesundheitsreform 2007 spielt die wirtschaftliche Verordnungsweise von
Arzneimitteln aus Sicht des Bundesgesundheitsministeriums und seiner Experten zur
Erreichung der angestrebten Kosteneinsparungen eine zentrale Rolle. Um dies zu gewährleisten, sollen Ärzte für jeden Behandlungs-/Verordnungsfall das preisgünstigste wirksame
Medikament verordnen bzw. im Falle chronisch Kranker laufende Therapien auf das
preisgünstigste Medikament – meist ein sogenanntes Generikum – umstellen. Was dieses
Vorgehen für die Schmerztherapeuten bedeutet, erläutert Priv.-Doz. Dr. med. Michael
Überall, Vizepräsident DGS, Nürnberg.
E
s stellt sich immer wieder die Frage, ob
Generika und Originalpräparate in ihrer
Wirkung wirklich identisch sind oder nicht.
Fakt ist, dass bei beiden (meist) nur der Wirkstoff identisch ist. Trotz identischem Wirkstoffgehalt können Original und Generikum aber
eine unterschiedliche therapeutische Wirksamkeit und Verträglichkeit besitzen, die bei
aller Euphorie um das Einsparpotenzial im
jeweiligen Behandlungsfall und insbesondere
bei Langzeittherapien chronisch Kranker berücksichtigt werden müssen.
Original oder Nachahmer –
was sind Generika?
Unter einem Generikum versteht man ein Fertigarzneimittel, das den gleichen Wirkstoff
enthält wie das Originalprodukt. Während das
Original den ursprünglich vom Hersteller
durch Forschung und Entwicklung gefundenen Wirkstoff enthält, soll ein Generikum
einen dem Originalprodukt gleichwertigen
therapeutischen Effekt erzielen, dessen
Nachweis aus Kostengründen als Analogieschluss auf der Grundlage laborchemischer
Untersuchungen (Überprüfung der sog. „Bioäquivalenz“) erfolgt.
Möglich wird die Vermarktung eines Generikums dadurch, dass der vom Gesetzgeber
gewährte Patentschutz auf das Originalprodukt nach einigen Jahren abläuft. Danach
kann jeder andere pharmazeutische Hersteller den Wirkstoff unter einem anderen Namen
auf den Markt bringen.
Das Generika-Konzept: Zulassung
von Original und Generikum
Der Gesetzgeber schreibt aus Gründen der
Arzneimittelsicherheit sehr umfangreiche Prüfungen vor, wenn ein neues Präparat auf den
Markt kommen soll. Die Untersuchungen beginnen mit einer isolierten Substanz und ihrer
Wirkung auf andere Moleküle (körpereigene
Enzyme usw.). Die Entdeckung unerwünschter
Wirkungen bedeutet oft das „Aus“ für eine
Weiterentwicklung.
Wenn sich keine negativen Substanzeigenschaften gezeigt haben, folgen die klinischen
Studien der Phasen I–III. Hier werden Verträglichkeit, Wirksamkeit und Sicherheit ausführlich untersucht.
Erst ganz zum Schluss wird das Präparat an einer größeren Gruppe von Patienten
erprobt. Bis zu diesem Zeitpunkt sind schon
viele mögliche Risiken ausgeschlossen und
die Studien haben das Ziel, die sog. therapeutische Wirksamkeit des Produkts im praktischen Alltag nachzuweisen.
Begriffsdefinitionen
Generika
Als Generika gelten Arzneimittel, die sich bezüglich ihres Wirkstoffes, ihrer Darreichungsform und ihrer Dosierung an ein bereits zugelassenes Originalpräparat anlehnen.
Therapeutische Äquivalenz
Unter therapeutischer Äquivalenz versteht
man ein innerhalb gewisser Grenzen identisches Wirksamkeits- und Nebenwirkungsprofil zweier Präparate. Der Nachweis der
therapeutischen Äquivalenz ist aufwendig
und wird seitens der Originalprodukte in
Form eines umfangreichen, meist mehrjährigen klinischen Studienprogramms erbracht. Aufgrund dieses sehr großen – aus
Sicht der Generikahersteller unzumutbaren
Aufwands – wird der Nachweis der scheinbar vergleichbaren Wirkung für Generika in
der Regel indirekt durch den Nachweis der
sog. Bio­äquivalenz geführt.
Bioäquivalenz
Unter Bioäquivalenz werden innerhalb gewisser, nach anerkannten Methoden ermittelten Grenzen deckungsgleich verlaufende
Plasmaspiegelkurven zweier Präparate verstanden.
Michael Überall,
Nürnberg
Der erfolgreiche Abschluss all dieser Studien ist die Voraussetzung für die gesetzliche
Zulassung eines neuen Arzneimittels (= Originalprodukt). Dieser Weg bis zur Zulassung
dauert oft Jahre. Die Kosten dafür sind hoch
und können wirtschaftlich nur dann aufgebracht werden, wenn sie über die anschließende Vermarktung des Produkts wieder
erwirtschaftet werden.
Im Gegensatz zum Originalprodukt wird
ein Generikum durch den Nachweis der sog.
Bioäquivalenz zugelassen. Dieser Nachweis
beruht im Prinzip auf einer Vergleichsgabe
von Original und Generikum an eine begrenzte Zahl gesunder Probanden (meist
12–25) und der nachfolgenden Analyse der
Arzneistoffkonzentration in verschiedenen
Blutproben. Verglichen mit dem kostenträchtigen und zeitaufwendigen Zulassungsverfahren für Originalprodukte ist dieses Verfahren
vergleichsweise unaufwendig und preiswert.
Bioäquivalenz statt
„therapeutischer Äquivalenz“
Wenn von zwei Präparaten, die den identischen Wirkstoff enthalten, die Plasmakonzentrations-Zeit-Kurven den gleichen Verlauf
zeigen, kann davon ausgegangen werden,
dass der Ort und die Geschwindigkeit der
Freisetzung des Wirkstoffes im Rahmen der
zu erwartenden biologischen Streuung identisch sind. Die Präparate werden dann als
bioäquivalent betrachtet.
Unter der Annahme, dass die Konzentration des Wirkstoffs am Wirkort für die eigentliche Wirkung verantwortlich ist, kann davon
ausgegangen werden, dass bei gleichem
zeitlichem Verlauf der Wirkstoffkonzentration
die gleiche therapeutische Wirkung wie mit
dem Originalpräparat zustande kommt und
somit auch die therapeutische Äquivalenz
gegeben ist. Der Gesetzgeber akzeptiert
demzufolge, dass, wenn der Hersteller eines
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Pharmakotherapie
Drüber, drunter oder genau? –
Was bedeutet der
90%-Vertrauensbereich?
Dass Originalprodukte und Generika nicht
identisch im ursprünglichen Sinn des Wortes
sind, ergibt sich aufgrund der gesetzlichen
Vorgaben zur Zulassung der Generika. Die
Pharmakokinetik einer Wirksubstanz in einer
bestimmten Formulierung ist nicht nur von
Mensch zu Mensch (interindividuell) verschieden, sie unterliegt auch bei ein und demselben Menschen (intraindividuell) großen
Schwankungen. Es ist folglich nicht zu erwarten, dass alle individuellen Plasmakonzentrations-Zeit-Kurven von zwei Präparaten in einer Gruppe von Versuchspersonen deckungsgleich verlaufen.
Die Behörden verlangen deshalb, dass der
90%-Vertrauensbereich (das sog. 90%-Konfidenzintervall) für das Verhältnis kritischer
pharmakokinetischer Größen (d.h. die maximal erreichte Wirkstoffkonzentration im Blut
Cmax, die Zeit bis zum Erreichen dieser Konzentration Tmax und die Fläche unter der sog.
Plasmakonzentrations-Zeit-Kurve (die Area
Under the Curve, AUC; siehe Abb. 1) von Generikum und Originalpräparat zwischen 0,8
und 1,25 liegt.
Ein Generikum kann also eine bis zu 20%
niedrigere und bis zu 25% höhere Plasmakonzentration hervorrufen als das Referenzpräparat, ohne dass dies nennenswerte Auswirkungen auf seine Zulassung hat.
Austauschbarkeit von Original­
präparaten durch Generika und
umgekehrt?
Die beliebige Substitution (d.h. der Ersatz
oder der Austausch) eines Originalpräparats
durch ein Generikum bzw. die Substitution
eines Generikums mit einem anderen Generikum kann aus ökonomischer/wirtschaftlicher
Sicht sinnvoll und erstrebenswert, aus medizinischen Gründen jedoch mitunter problematisch sein.
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Irrungen und Wirrungen oder
Verwechslung ausgeschlossen?
Grundsätzlich gilt es, bei jeder Medikamentenverordnung der Patientensicherheit Beachtung zu schenken. Wenn viele Generika
und ein Original auf dem Markt sind, hat nicht
nur jedes Präparat einen anderen Fantasienamen und eine andere Verpackung, auch
die Tabletten unterscheiden sich in Farbe,
Form und Größe. Unter diesen Umständen
ist, vor allem wenn der Patient mehrere Medikamente nehmen muss und stets hin und
her substituiert wird, die Gefahr der Verwechslung groß. Der Patient und Personen,
die seine Medikamente herrichten, werden
verunsichert, die Compliance (d.h. die zur
Erzielung eines optimalen Behandlungserfolges notwendige regelmäßige und konstante Medikamenteneinnahme) wird gefährdet
und somit der Behandlungserfolg infrage gestellt.
Eine beliebige Substitution eines Originalpräparats durch ein Generikum oder zwischen verschiedenen Generika sollte vermieden werden, da diese wegen dem
Wirrwarr von Markennamen, Tablettenformen und -farben die Patienten verunsichert und damit den Behandlungserfolg
und die Patientensicherheit gefährdet.
Abbildung 1: Bioäquivalenzkriterien
Konzentrations-Zeit-Kurve [% des Maximalwertes]
Nachahmerpräparates Bioäquivalenz mit dem
Originalpräparat zeigen kann, auch die therapeutische Äquivalenz grundsätzlich gegeben
ist und somit keine neuen klinischen Studien
durchgeführt werden müssen.
Kritisch anzumerken ist, dass die Bioäquivalenz weder die Aufnahme des Wirkstoffs in
das Zielgewebe (Organ) noch die Gewebegängigkeit untersucht. Auch besteht zwischen
dem Wirkstoffgehalt des Blutes (und nur das
wird beim Nachweis der Bioäquivalenz gemessen) und dem Wirkstoffgehalt des Organs,
welches zu behandeln ist, nicht zwangsläufig
ein Zusammenhang.
Dauer bis zum Erreichen der maximalen Spitzenkonzentration (Tmax)
maximale
Spitzenkonzentration
(Cmax)
100
90
80
70
60
50
Fläche unter der
Konzentrations-Zeit-Kurve
(area under curve = AUC)
40
30
20
10
0
0
2
4
6
8
Zeit [Stunden]
10
12
Die Abbildung zeigt die drei kritischen Größen zur Beurteilung der sog. Bioäquivalenz,
von Originalprodukten und Generika. Generika müssen für alle drei Parameter, d.h.
die maximal gemessenen Wirkstoffkonzentrationen im Blut (Cmax), die Dauer bis zum
Erreichen dieser Konzentrationswerte (Tmax)
und die Fläche unter der KonzentrationsZeit-Kurve (sog. Area Under Curve = AUC),
Werte innerhalb eines Bereichs zwischen
80% und 125% des Originalprodukts aufweisen, um zugelassen zu werden.
Mehr oder weniger? Welche Konse­
quenzen haben Plasmakonzentra­
tionen zwischen –20% und +25%?
Trotz des Nachweises der Bioäquivalenz
stimmt die Bioverfügbarkeit eines Generikums
(d.h. das Ausmaß, in dem es am Wirkort verfügbar ist) nur innerhalb gewisser Grenzen
mit derjenigen des Originals überein. Darüber
hinaus können verschiedene Generika – trotz
ihrer pharmakologischen „Vergleichbarkeit“
mit dem Originalprodukt – untereinander erhebliche Unterschiede aufweisen. So kann
z.B. das eine zu einer 20% niedrigeren und
das andere zu einer 25% höheren Plasmakonzentration als das Original führen. Daraus
können sich zwischen den beiden genannten
Generika Wirkstoffkonzentrationsunterschiede von bis zu 45% ergeben (Abb. 2).
Diese aus pharmakologischer Sicht akzeptablen systematischen Abweichungen
zwischen Original und Generikum können
somit bei Medikamenten mit einer geringen
therapeutischen Breite klinisch außerordentlich relevant sein und im Falle eines Präparatewechsels mit einem Wirkverlust oder mit
arzneimittelbedingten unerwünschten Nebenwirkungen einhergehen.
Das Gleiche ist nicht unbedingt
immer dasselbe!
Weder die gleiche Wirkstoffzusammensetzung noch der zeitlich ähnliche Verlauf der
Konzentrationskurve im Plasma ist ein wirklicher Beweis dafür, dass ein Generikum dieselbe Wirksamkeit wie das Originalprodukt
besitzt. Denn die therapeutische Wirksamkeit
eines Arzneimittels wird auch durch andere
Faktoren wie z.B. seine Konzentration am
Wirkort sowie seine Metabolisierung und Elimination bestimmt.
Wenn man ein Arzneimittel – zum Beispiel
eine Tablette – schluckt, so gelangt diese über
die Speiseröhre in den Magen und von dort
in den Dünndarm. Dort strömt der Wirkstoff
genauso wie die Nahrungsbestandteile durch
die Zellmembranen der Dünndarmzellen
und Blutgefäße hindurch ins Blut hinein. Wie
schnell und wie vollständig diese Aufnahme
(Resorption) erfolgt, hängt unter anderem
von der Molekülgröße und Fettlöslichkeit des
Wirkstoffs ab.
Für die Wirkung eines Medikaments ist
es entscheidend, ob es den Weg aus dem
Darm über die Leber in den Blutkreislauf bis
zu seinem Wirkort unbeschadet übersteht
oder nicht. Die Konzentration am Wirkort wird
von der Geschwindigkeit und dem Ausmaß
bestimmt, mit der der Arzneistoff aus der
Arzneiform freigesetzt, in die Blutbahn aufgenommen, im Körper verteilt und letztlich auch
Pharmakotherapie
vom Körper wieder abgebaut und ausgeschieden wird. Bei Medikamenten bestimmt – unabhängig vom eigentlichen Wirkstoff – auch
noch seine „Verpackung“ (Galenik), wie lange
das Medikament wirkt und wie der Wirkstoff
freigesetzt wird.
Für Patienten mit anhaltenden Schmerzen
ist es wichtig, dass das Schmerzmittel gleichmäßig und anhaltend wirkt. Ändert sich die
„Verpackung“ des Wirkstoffs, können sich
auch die besonderen Eigenschaften eines
Präparats ändern. In der Praxis heißt das,
dass ein anderes Medikament dann möglicherweise nicht ausreichend wirkt oder nicht
in gleichem Maß verträglich ist.
Einfach oder komplex – Ein Medikament ist mehr als sein Wirkstoff!
Weitere Probleme bzgl. des Wechsels von Originalpräparaten auf Generika bzw. von einem
Aufgrund der mitunter deutlichen Unterschiede in der Wirkstofffreisetzung verschiedener Generika hat der Bundesverband für Gesundheitsinformation und Verbraucherschutz bereits 2002 seine grundsätzlichen Bedenken bezüglich des Austauschs von Generika untereinander geäußert. Dringend abgeraten wird von einem
abrupten Wechsel sog. „Critical-Dose-Medikamente“, d.h. von Medikamenten, bei
denen bereits geringe Änderungen der
Wirkstoffkonzentration zu schwerwiegenden Änderungen des Krankheitsverlaufs führen können.
Generikum auf ein anderes ergeben sich
durch den Umstand, dass die verschiedenen
infrage kommenden Alternativen sich meist
bzgl. der sog. pharmazeutischen Hilfsstoffe
deutlich voneinander unterscheiden. Diese
Hilfsstoffe erfüllen unterschiedliche Funk­
tionen: Beeinflussung von Freisetzungsmenge, -geschwindigkeit und Aufnahme des Wirkstoffs, Beeinflussung von Zeitpunkt und Dauer
des Wirkungseintritts, Beeinflussung von Dauer und Intensität der Wirkung, Erhöhung der
Haltbarkeit, Verbesserung der Verträglichkeit
problematischer Wirkstoffe, Verbesserung im
Gebrauch, Verbesserung der Mischbarkeit von
öligen und wässrigen Bestandteilen des Medikamentes, Füll- und Bindemittel, Fließregulierungsmittel, Aromastoffe, Farbstoffe, Lösungsvermittler, Zerfallsbeschleuniger etc.
Die pharmazeutischen Hilfsstoffe können
somit für unterschiedliche (Neben-)Wirkungen
von Generikum und Originalmedikament verantwortlich sein.
Zusammenfassung
Die Generikadiskussion ist im Bereich der
Humanmedizin vor dem Hintergrund der steigenden Kosten im Gesundheitswesen zu sehen. Generika sind aufgrund der viel geringeren Forschungs-, Entwicklungs- und Nachbeobachtungskosten deutlich preiswerter als
die ihnen zugrunde liegenden Originalprodukte und bieten Perspektiven für eine Senkung der Arzneimittelkosten.
Bei Auswahl und Wechsel zwischen wirkstoffgleichen Medikamenten müssen Si-
cherheit und Wohlergehen des Patienten im
Vordergrund stehen. Diese Kriterien haben
Vorrang vor einer vordergründigen Kostenminimierung: Wird ein Austausch von unzureichenden Kriterien oder Unwissen geleitet, so
kann sich das Ziel der Kostenoptimierung ins
Gegenteil verkehren.
Trotz nachgewiesener durchschnittlicher
(Gruppen-)Bioäquivalenz (d.h. laborchemischer Ähnlichkeit), kann die therapeutische
Vergleichbarkeit zwischen Originalprodukten
und Generika für den einzelnen individuellen Patienten wegen der großen zwischenmenschlichen Unterschiede hinsichtlich Wirkstoffaufnahme, -verteilung und -abbau nicht in
jedem Fall als gegeben betrachtet werden.
Insbesondere bei chronisch kranken Patienten und stabilen Langzeittherapien sollten
deshalb medizinisch unnötige Präparatewechsel vermieden werden.
Ist eine Umstellung von einem Originalpräparat auf ein Generikum bzw. von einem
Generikum auf ein anderes medizinisch indiziert, bzw. wird eine Umstellung aus nicht
medizinischen Gründen erzwungen, muss
nicht nur der Behandlungsverlauf engmaschig überwacht, sondern sollten auch Therapieerfolg und Verträglichkeit in jedem Einzelfall evaluiert werden, um behandlungsbedingte Änderungen rechtzeitig erkennen zu
können.
❏
Michael Überall, Nürnberg
125%
100%
80%
Originalpräparat
Generikum #1
Generikum #2
0
2
4
6
8
Zeit [Stunden]
10
12
160
150
140
130
120
110
100
90
80
70
60
50
40
30
20
10
0
156%
Plasmakonzentration [% des Generikums #2]
130
120
110
100
90
80
70
60
50
40
30
20
10
0
Plasmakonzentration [% des Generikums #1]
Plasmakonzentration [% des Originalproduktes]
Abbildung 2: Unterschiedliche Plasmakonzentrations-Zeit-Kurven bei Originalpräparat und zwei Generika (Beispiele)
100%
Generikum #1
Generikum #2
0
2
4
6
8
Zeit [Stunden]
10
12
100
100%
90
80
70
64%
60
50
40
Generikum #1
Generikum #2
30
20
10
0
0
2
4
6
8
Zeit [Stunden]
10
12
Die Abbildung zeigt die hypothetischen mittleren Plasmakonzentrations-Zeit-Kurven für ein Originalprodukt und zwei Generikapräparate
(Mittelwerte und 95%-Vertrauensintervall). Bzgl. des zeitlichen Verlaufs der Wirkstoffkonzentrationen im Körper erfüllen beide Generika
die gesetzlichen Anforderung der Bioäquivalenz im Vergleich zum Originalprodukt (linke Grafik), unterscheiden sich jedoch untereinander
deutlich und wären zueinander nicht bioäquivalent! So zeigt Generikum #2 verglichen mit Generikum #1 um bis zu 56% höhere (mittlere
Grafik) und Generikum #1 verglichen mit Generikum #2 um bis zu 36% niedrigere Spitzenkonzentrationen.
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Serie Rückenschmerz
Rückenschmerzen – eine
interdisziplinäre Herausforderung
Epidemiologie und sozioökonomische Bedeutung
Rückenschmerzen gehören zu den am häufigsten angegebenen körperlichen Beschwerden. In Deutschland berichteten nach den
Daten des Bundes-Gesundheitssurveys von
1998 39% der Frauen und 31% der Männer
(18–80 Jahre) darüber, während der letzten 7
Tage Kreuzschmerz gehabt zu haben. Frauen
und Männer zwischen 50 und 59 Jahren sind
mit einer Prävalenz von 44% bzw. 39% am
häufigsten betroffen. In einer großen neuen
bevölkerungsbasierten Studie aus Deutschland (postalische Befragung von insgesamt
9263 Personen) betrug die Punktprävalenz
von Rückenschmerzen 37%, die 1-JahresPrävalenz 76% und die Lebenszeit-Prävalenz
86% [8]. 80% der Betroffenen wiesen lediglich
einen geringen Schweregrad auf, während
starke Schmerzen mit erheblicher Beeinträchtigung 12% der Fälle ausmachten.
Rückenschmerzen gehören zu den teuersten Erkrankungen in allen industrialisierten Ländern. In Deutschland verursachten
sie nach Angaben der Gesundheitsberichterstattung des Bundes aus dem Jahr 2006 direkte Kosten in Höhe von 8,4 Milliarden Euro
pro Jahr. Nach internationalen Schätzungen
gehen etwa 85% der Gesamtkosten auf das
Konto des durch Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit bedingten Produktivitätsausfalls (indirekte Kosten), nur rund 15% werden für
die medizinische Behandlung aufgewendet.
Rückenschmerzen führen seit Jahren auch
die Statistiken von Arbeitsunfähigkeit, medizinischer Rehabilitation und vorzeitiger Berentung an.
Klassifikationen
Rückenschmerzen können zunächst nach
Dauer, Schweregrad und Chronifizierungsstadium klassifiziert werden. Bezüglich des zeitlichen Verlaufs unterscheidet man in akute/
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
subakute und chronisch/chronisch rezidivierende Verläufe. Unter akuten/subakuten Rückenschmerzen versteht man Schmerzen, die
weniger als 6 Wochen anhalten. Schmerzepisoden, die länger als 6 Wochen bestehen,
werden subakut genannt. Wenn die Symp­
tome schon länger als 12 Wochen bestehen,
spricht man von chronischen bzw. chronisch
rezidivierenden Rückenschmerzen.
Die Einteilung der Schwere der Rückenschmerzen erfolgt anhand der Graduierung
chronischer Schmerzen nach v. Korff et al.[9],
wobei sich durch Ausmaß der Schmerzintensität und der schmerzbedingten Beeinträchtigung der täglichen Aktivitäten fünf Schweregrade unterscheiden lassen. Zur Bestimmung
des Chronifizierungsstadiums wird in Deutschland üblicherweise das Mainzer Stadienmodell der Schmerzchronifizierung (MPSS)
angewendet, wobei die Patienten gemäß den
Ergebnissen einer strukturierten Schmerzanamnese (Zeitverlauf, Schmerzlokalisation,
Medikamenteneinnahme, Inanspruchnahme
des Gesundheitswesens) einem von drei
Stadien zugeteilt werden können []11.
Verlauf
Bezüglich der Prognose und des Verlaufes
von Rückenschmerzen ist es zunächst einmal
wichtig festzuhalten, dass die Beschwerden
üblicherweise selbstbegrenzend sind. (Die
Genesungsrate akuter Rückenschmerzen in
sechs Wochen beträgt ca. 90%.) Allerdings
wird ein großer Teil dieser Betroffenen nicht
schmerzfrei, und sie haben ein erhöhtes Risiko, eine erneute Rückenepisode zu erleiden
[4]. Obwohl vom Stadium der Chronizität nur
wenige Patienten betroffen sind (ca. 10%),
verursacht diese Gruppe die höchsten gesundheitsbezogenen Kosten. Es ist demnach
von entscheidender Bedeutung, diese Risikogruppe möglichst frühzeitig zu identifizieren
und der Chronifizierung entgegenzuwirken.
Michael Pfingsten,
Göttingen
Die ersten Wochen stellen auch in gesundheitsökonomischer Hinsicht einen kritischen
Zeitraum dar, da danach die Wahrscheinlichkeit der Betroffenen, jemals an ihren Arbeitsplatz zurückkehren zu können, dramatisch
absinkt [10].
Pathogenese – Chronifizierung
Es ist eines der wesentlichen Merkmale von
Rückenschmerzen, dass sich bei der überwiegenden Mehrzahl aller Betroffenen (> 80%)
keine eindeutige körperliche Pathologie als
Ursache der Schmerzen feststellen lässt. Als
Bezeichnung dafür wird der Begriff „nicht spezifischer Rückenschmerz“ verwendet, der in
Deutschland trotz international breiter Anerkennung immer noch kritisch diskutiert wird.
Diese Bezeichnung hat jedoch den entscheidenden Vorteil, dass sie die Aufmerksamkeit
von der ausschließlichen Betrachtung struktureller bzw. funktioneller Veränderungen zu
DAK
Rückenschmerzen gehören zu den am häufigsten angegebenen körperlichen Beschwerden und sind zudem von erheblicher sozioökonomischer
Bedeutung. An der Chronifizierung sind sowohl somatische („neurogene
Plastizität“) als auch verschiedene kognitive, emotionale und psychosoziale
Faktoren beteiligt. Diese werden in einem verhaltensmedizinischen Modell
der Schmerzchronifizierung zusammengefasst, wie Prof. Dipl.-Psych.
Dr. Michael Pfingsten, Schwerpunkt Algesiologie, Zentrum für Anästhesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin der Univ. Göttingen schildert.
Rückenschmerzen: in über 80% keine eindeutige Pathologie.
Serie Rückenschmerz
einem Verständnis einer multifaktoriellen Genese von Rückenschmerzen lenkt.
Rückenschmerzen aufgrund spezifischer
Ursachen (z.B. Infektion, Tumor, Osteoporose, Fraktur, Bandscheibenvorfall) lassen
sich (meist allein aufgrund der körperlichen
Untersuchung) in der Regel leicht identifizieren und einer entsprechenden Behandlung
zuführen. Schwieriger wird es bei den nicht
spezifischen Rückenschmerzen, bei denen
neben somatischen (z.B. Prädisposition,
Funktionsfähigkeit) auch psychische (z.B.
psychosozialer Distress, Krankheitsbewältigung, Krankheitsverhalten) und soziale Faktoren (z.B. Arbeitsplatz) bei der Krankheitsentstehung und dem Verlauf berücksichtigt
werden müssen.
Bei dem Versuch, Ätiologie und Pathogenese chronischer Schmerzen zu verstehen,
hat sich der Schwerpunkt interdisziplinärer
Forschungsarbeiten in den vergangenen 20
Jahren zunehmend auf den Prozess einer
allmählich sich entwickelnden Chronifizierung verlagert. Damit wird die Phase des
Übergangs („transition“) von einem akuten
zu einem chronisch persistierenden oder
chronisch rezidivierenden Schmerz gekennzeichnet.
In einem verhaltensmedizinischen Modell wird davon ausgegangen, dass in den
meisten Fällen somatische Faktoren am Anfang der Kausalkette stehen. Diese verlieren
aufgrund multipler Beeinflussung durch psychosoziale Faktoren jedoch zunehmend an
Bedeutung.
Chronischer Rückenschmerz:
eigenständiges Krankheitsbild
Es ist schließlich von einem eigenständigen
Krankheitsbild auszugehen, das geprägt ist
durch Auswirkungen auf der körperlichen
Ebene (z. B. körperliche Dekonditionierung,
zusätzliche sekundäre Symptome), psychische Beeinträchtigungen (z. B. Angst,
Depressivität), Veränderungen im Verhalten
(z. B. Schon- und Vermeidungsverhalten,
„Schmerzmanagement“-Aktivitäten), inadäquate Krankheitsbewältigung sowie soziale
Auswirkungen (z. B. Arbeitsplatzverlust, so­
ziale Isolation) [3].
Zusammenwirken somatischer
und psychischer Faktoren
Bei diesem Chronifizierungsprozess sind vielfältige Verursachungs- und Aufrechterhaltungsbedingungen (individuell komplex) miteinander konfundiert. In diesen Vorgang wirken neben vorrangig somatischen Chronifizierungsprozessen (z. B. „neurogene Plastizität“)
Faktoren der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, der kognitiven Bewertung und der
emotionalen Befindlichkeit verhaltenssteuernd ein. Persönlichkeitsdispositionen und
Lernerfahrungen können dabei sowohl Wahrnehmungsorientierungen und Bewertungen
beeinflussen wie auch bestimmte Verhaltenspräferenzen nach sich ziehen (s. Abb. 1).
Iatrogene Verursachung
Darüber hinaus kann auch das medizinische
System selbst als sog. iatrogener Faktor einen negativen Einfluss nehmen, indem betroffene Patienten z.B. durch unnötige diagnostische und therapeutische Maßnahmen (Bildgebung, Blockade-Serien) in ihrer somatischen Fixierung bestärkt werden und damit
ein adäquater interdisziplinärer Ansatz verhindert wird [7].
Risikofaktoren
Die Mehrzahl der in den letzten Jahren durchgeführten prospektiven Studien hat gezeigt,
Abbildung 1: Verhaltensmedizinisches Erklärungsmodell der Schmerzchronifizierung
Persönlichkeit / Disposition / Biografie
Akuter Schmerz
Chronischer Schmerz
Lernprozesse
Physiologische Reaktionen
(Muskelspannung, neurogene
Plastizität, sympath. NS)
Verhalten
(Rückzug, Schonung,
Inanspruchnahme)
Kognitive Bewertung
(z.B. Katastrophisieren,
Angst-/Vermeidungskognitionen)
Emotionale Lage
(z.B. Depression, Angst)
Gesundheitssystem (inkl. Ärzte)
Wahrnehmung
(Aufmerksamkeitslenkung)
dass diese psychosozialen Faktoren für den
Krankheitsverlauf von (nicht spezifischen) Rückenschmerzen größere Bedeutung haben
als körperliche Faktoren (radiologische Befunde, Leistungsparameter) [1]. Eine Level-AEvidenz liegt demnach für folgende Merkmale
(sog. „yellow flags“) vor [5, 6]:
■ D epressivität, Angst, Distress (vor allem
arbeitsbezogen)
■ S chmerzbezogene Kognitionen (im Sinne
automatischer Gedanken): z.B. Katastrophisieren, Hilf-/Hoffnungslosigkeit
■ Meta-Kognitionen wie z.B. Fear-AvoidanceBeliefs (Angst-/Vermeidungsüberzeugungen)
■ Passives Schmerzverhalten (z.B. Vermeidungsverhalten)
■ Subjektive Wahrnehmung stark beeinträchtigter Gesundheit
Kritische Zeitspanne:
die ersten 14 Tage
Zur Verhinderung von chronischen Verläufen
ist es sinnvoll, diese Risikofaktoren möglichst
frühzeitig (möglichst innerhalb der ersten 14
Tage ab Beginn der akuten Phase) zu erfassen. Ein späterer Zeitpunkt hätte den erheblichen Nachteil, dass die Akzeptanz psychologischer Zusammenhänge für die betroffenen Patienten mit zunehmendem Fortschreiten eines vorrangig somatisch ausgerichteten
Ansatzes schwieriger wird. Zur Erfassung der
Risikofaktoren ist eine aufwendige Exploration
in den meisten Fällen nicht durchführbar und
auch insgesamt wenig ökonomisch, sodass
der Einsatz kurzer Fragebogen-Verfahren sinnvoll erscheint [2]. Es stehen hierfür bereits einige entsprechende Verfahren zur Verfügung, die
jedoch alle mit unterschiedlichen Nachteilen
behaftet sind.
In einer im Frühjahr 2008 anlaufenden
multizentrischen, BMBF-geförderten Studie
(Greifswald, Berlin, Erlangen, Göttingen) wird
ein kurzes und prospektiv valides Verfahren
(ca. 10 Items) entwickelt, dessen Einsatz
sowohl in Arztpraxen als auch in physiotherapeutischen Einrichtungen praktikabel und
ökonomisch durchführbar ist. Aus dem Fragebogen soll unmittelbar eine 3-stufige Risikodifferenzierung abgeleitet werden können
(kein, leichtes, starkes Chronifizierungsrisiko), das direkt nach dessen Auswertung ein
risikoadaptiertes, problemfokussiertes Vorgehen ermöglicht. Es wird erwartet, dass die
Entwicklung chronischer Verläufe durch den
frühzeitigen Einsatz dieses diagnostischen
Instrumentes und den daraus abgeleiteten
zusätzlichen, aber noch geringen therapeutischen Aufwand erheblich reduziert werden
kann.
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Schmerz im Krankenhaus
Fazit
Rückenschmerzen sind einerseits banal, andererseits ein komplexes Phänomen, bei dem
möglichst frühzeitig psychosoziale Risikofaktoren beachtet werden sollten. Nach Ausschluss spezifischer Ursachen („red flags“)
reichen im unkomplizierten Fall einfache Methoden wie kurzfristige Medikation, Beratung
und Aktivierung aus. Im komplizierten Fall, d. h.
insbesondere beim Vorliegen von psychosozialen Risikofaktoren („yellow flags“) ist eine Behandlung ohne die Berücksichtigung dieser
Einflüsse wenig erfolgversprechend. Es liegen
mittlerweile mehrere Behandlungsleitlinien vor,
in denen die unterschiedlichen Vorgehensweisen detailliert beschrieben sind.
❏
Michael Pfingsten, Göttingen
Literatur
6. Pincus T, Burton AK, Vogel S, Field AP: A systematic review of psychological factors as
predictors of chronicity/disability in low back
pain. Spine 2002;27:109–120.
7. Pfingsten M, Schöps P: Chronische Rückenschmerzen – Vom Symptom zur Krankheit.
Z Orthop 2004;142:146–152.
8. Schmidt CO, Raspe H, Pfingsten M, Hasenbring M, Basler HD, Eich W, Kohlmann T: Back
Pain in the German Adult Population. Spine
2007;32:2005–2011.
9. V.Korff M, Ormel J, Keefe FJ, Dworkin SF:
Grading the severity of chronic pain. Pain
1992;50:133–49.
10.Waddell G: The Back Pain revolution. Churchill Livingstone Edinburgh 1992.
11.Wurmthaler C, Gerbershagen HU, Dietz G,
Korb J, Nilges P, Schilling S: Chronifizierung
und psychologische Merkmale. Z Gesundheitspsych 1996;4:113–136.
1. Airaksinen O, Brox JI, Cedraschi C, Hildebrandt J,
Klaber-Moffett J, Kovacs F, Mannion AF, Reis S,
Staal JB, Ursin H, Zanoli: Guidelines for Chronic
Low Back Pain. Eur Spine J 2006;15:192–300.
2. Boersma K, Linton S: Psychological processes
underlying the development of a chronic pain
problem. Clin J Pain 2006;22:160–166.
3. Hasenbring M, Pfingsten M: Psychologische Mechanismen der Chronifizierung. In: Kröner-Herwig B, Frettlöh J, Klinger R, Nilges P (Hrsg.):
Psychologische Schmerztherapie, Springer Heidelberg 2007, 6. Aufl., S. 103–122.
4. Hestbaek L, Leboeuf-Yde C, Manniche C: Low
back pain: What is the long-term course? A review of studies of general patient populations.
Eur Spine J 2003;12:149–165.
5. Linton SJ: A review of psychological risk factors
in back and neck pain. Spine 2000;25:
1148–1156.
In der Therapie perioperativer Schmerzen spielen schnell wirksame Opioide
eine wichtige Rolle. Sowohl beim Opiatabhängigen als auch beim chronischen Schmerzpatienten unter Therapie mit Opioiden kommt der präoperativen Anamnese eine zentrale Rolle zu, um einen eventuell bestehenden
Substanzmissbrauch zu eruieren. Bei beiden Patientengruppen muss perioperativ ein meist deutlich erhöhter Opioidbedarf einkalkuliert werden.
Die Besonderheiten der perioperativen Schmerztherapie bei opioidgewöhnten Patienten beschreiben Dr. med. Uwe Junker, Thomas Marx und
Christoph Rasch vom Sanaklinikum Remscheid.
Prinzipien und besondere
Ausgangssituation
Sowohl der Opiatabhängige als auch der
chronische Schmerzpatient unter Opioidtherapie haben selbstverständlich ein Recht auf
suffiziente perioperative Schmerztherapie.
Die perioperative Phase ist weder zum Opiat­
entzug noch zur Opioidentwöhnung bei einem
eventuell nicht opioidsensitiven Basisschmerz
geeignet. Die Substitutionsdosis des Abhängigen bzw. die Opioiddosis des chronischen
Schmerzpatienten sind als feste Größen anzusehen, die in der akuten Phase nicht geändert werden sollten. Die Akutschmerztherapie
im Rahmen eines operativen Eingriffs muss
„Add on“ erfolgen.
Beide Patientengruppen befinden sich in
aller Regel im Zustand „opioidinduzierter Hyperalgesie“, der eine Senkung von Schmerzschwelle und -toleranz mit sich bringt. Dafür ursächlich sind pronozizeptive Prozesse, die ein
chronischer Opioidgebrauch in Gang setzt:
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
■ Aktivierung
des NMDA-(N-Methyl-DiAspartat-)Rezeptors,
■ Steigerung der spinalen Dynorphinkonzentration mit Freisetzung erregender Transmitter,
■Erregung absteigender aktivierender Bahnen.
Nach heutigem Wissenstand lässt sich nur die
Sensibilisierung des NMDA-Rezeptors pharmakologisch mit Ketamin beeinflussen.
Anzeichen für missbräuchliches
Verhalten
Mögliche Hinweise auf missbräuchliches Verhalten sind in Tabelle 1 zusammengefasst.
Opiatsüchtige im engeren Sinne beklagen z. B.
oft den Verlust von Opioidrezepten. In der Anamnese chronischer Schmerzpatienten – insbesondere solcher, bei denen die Indikation für
die Opioidtherapie eines Nichttumorschmerzes
fragwürdig erscheint – finden sich häufig Hinweise auf einen starken Widerstand gegen das
Ausschleichen einer solchen Therapie.
Bildarchiv Junker
Perioperative Schmerztherapie
beim opioidgewöhnten Patienten
Die Autoren v. l. n. r.: Thomas Marx, Uwe
Junker, Christoph Rasch im Aufwachraum.
Vor dem Hintergrund des Vioxx®-Skandals
sind die potenziellen Risiken und organtoxischen Nebenwirkungen der traditionellen
NSAR und der Coxibe stärker ins Bewusstsein
gerückt. Dies hat zu einem breiteren, scheinbar oft auch unkritischen Einsatz von Opioiden bei Nichttumorschmerzen geführt. So
kommt eine aktuelle Studie zu dem Schluss,
dass 24% der dort eingeschlossenen Rückenschmerzpatienten einen Opioidmissbrauch
betrieben.
Praktisches Vorgehen im Rahmen
der Akutschmerztherapie
Beide Patientengruppen erhalten entweder ihr
Substitut oder ihre retardierte Basismedikation
perioperativ weiter. Für die zusätzlich erforderliche Therapie der akuten Schmerzen sollten
je nach Art und Größe des operativen Eingriffs
Schmerz im Krankenhaus
Tabelle 1: Anzeichen für missbräuchliches Verhalten
Abbildung 1: Stufenschema Schmerz bei Opioidgewöhnung
Häufiger Verlust von Opioidrezepten
Rezeptfälschungen
■ Bezug durch primär nicht genannte
weitere Ärzte
■ Dosiseskalation ohne Rücksprache
■ Wunsch nach unretardierter Galenik
■ Widerstand gegen Ausschleichen der
Therapie trotz fehlender Opioidsensitivität
■ Beigebrauch nicht verordneter Opioide
■ Injektion oraler/transdermaler Applika­
tionsformen
■
Opioide
+
S-Ketamin
■
Regionaltechniken und/oder potente NichtOpioidanalgetika bevorzugt werden. Maximaldosierungen und Anwendungsbeschränkungen der Letztgenannten sind in Tabelle 2
zusammengefasst. Ist der perioperative Einsatz schnell wirkender Opioide notwendig,
sollten diese wegen der eingangs geschilderten Probleme – Toleranz und Hyperalgesie – in Kombination mit Ketamin verab­reicht
werden. Die Injektion kann entweder in Form
von Boli (Dosierung 0,5 mg/kg Körpergewicht)
oder kontinuierlich in einer Dosis von 2 µg/kg/
min nach Gabe eines Initialbolus erfolgen. SKetamin sollte dabei gegenüber dem Racemat
den Vorzug erhalten, da diese linksdrehende
Variante wesentlich seltener unangenehme
Träume und Aufwachreaktionen verursacht.
Fazit
Die perioperative Schmerztherapie bei Opioidgewöhnten erfordert eine sorgfältige prä­
operative Anamnese, die die Einnahmegewohnheiten hinsichtlich der Opioid- und Begleitmedikation subtil erfragt. Wann immer
möglich sollten Regionalanästhesie bzw.
-analgesieverfahren eingesetzt werden, um
Regionale Verfahren
Parecoxib
Paracetamol i. v.
Metamizol
NSARs
Substitution bzw. Prophylaxe von Entzug
Tabelle 2: Nichtopioidanalgetika
Substanz Vorsicht bei
Tagesdosis
Paracetamol i.v.
Leberinsuffizienz
4x1g
Parecoxib i.v.
Kardiovaskuläre Vorerkrankungen,
Niereninsuffizienz
2 x 40 mg
Metamizol
Hypovolämie,
allergische Disposition
5 g kontinuierlich
4 x 1 g Bolus
Diclofenac
Kardiovaskuläre Vorerkrankungen,
Niereninsuffizienz
ASS-induziertes Asthma
2 x 75 mg
die Schmerztherapie zu optimieren. Bestehen
Kontraindikationen hinsichtlich dieser Techniken, kann eine balancierte Anästhesie bzw.
Analgesie unter Einschluss des NMDA-Antagonisten S-Ketamin und potenter Nichtopioide
den erhöhten Opioidbedarf senken und die
Analgesiequalität optimieren. Eine effiziente
Schmerztherapie ist möglich, sie kann nach
dem in Abbildung 1 gezeigten Stufenschema
erfolgen.
❏
Uwe Junker, Remscheid
Literatur
1. Jaksch W. Opiatabhängigkeit und Schmerztherapie. In: Beubler E, Haltmayer H (Hrsg.) Opi­atabhängigkeit. Springer, 2006.
2. Junker U. Perioperative Schmerztherapie beim
opioidgewöhnten Patienten. Vortrag auf dem V.
Symposium „Akuter Schmerz im chirurgischen
Alltag“, Köln, 12. Dezember 2007.
3. Martell BA, O’Connor PG, Kerns RD, et al. Systematic review: opioid treatment for chronic back
pain: prevalence, efficacy, and association with
addiction. Ann Intern Med 2007; 146:116–127.
Weitere Literatur beim korrespondierenden Autor.
I n fotelegramm
Mit TNF-Alpha-Antikörper gegen das
CRPS
Eine intravenöse Regionalblockade mit dem Tumor-Nekrose-Faktor-alpha-Antikörper Infliximab lindert nach der ersten Erfahrung von
M. Bernateck et al. an einem Patienten mit den
typischen klinischen Symptomen eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms vom Typ 1
(mäßiger Schmerz, Ödem, Hyperhidrosis, erhöhte Hauttemperatur verglichen mit der kontralateralen Seite) alle klinischen Parameter innerhalb von 24 Stunden. Innerhalb von acht
Wochen kam es fast zur vollständigen Remis­
10
sion und nur die sensorischen Zeichen verbesserten sich erst innerhalb von sechs Monaten.
Nebenwirkungen dieser Therapie wurden in
diesem Einzelfall nicht beobachtet.
delt, ergab eine aktuelle niederländische Umfrage der Universität Maastricht (Pain, 2007,
Epub ahead of print).
M. Bernateck et al.: Successful intravenous regional
block with low-dose tumor necrosis factor alpha
antibody infliximab for treatment of compex regional pain syndrome 1. Anesth. Analg. 105, 2007,
1148-1151.
Intrathekales Morphin bei osteoporotischen Wirbelbrüchen
Für Patienten, die die orale Einnahme von Opioiden nicht vertragen, stellt die kontinuierliche
intrathekale Applikation von Morphin bei Wirbelfrakturen wegen Osteoporose eine wertvolle
Alternative dar, empfehlen A. Shaladie et al.
nach ihre Erfahrungen an 24 derartigen Patienten (Clin. J. Pain 23, 2007, 511–517).
Krebsschmerzen nach wie vor häufig
42% der Patienten mit Krebs leiden an Schmerzen und sind analgetisch unzureichend behan-
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
DGS-Veranstaltungen
Weitere Informationen zu den Seminaren erhalten Sie über die
Geschäftsstelle des DGS Oberursel: Tel.: 06171/286060,
Fax: 06171/286069, E-Mail: [email protected].
Die aktuellsten Informationen zu den ­Veranstaltungen und den
Details finden Sie im Internet unter www.dgschmerztherapie.de
mit der Möglichkeit der Onlineanmeldung.
Februar 2008
Wermelskirchener Dialog, Der Gefäßkranke
Beinamputierte – eine Standortbestimmung
22.02.– 23.02.2008 Bürgerzentrum, Wermelskirchen
Curriculum Algesiologische Fachassistenz –
Einführungsveranstaltung
08.03.2008 in Frankfurt/Main; Geschäftsstelle DGS
März 2008
Curriculum Akupunktur 200 Stunden DGS/DAfNA –
Vollausbildung zur Zusatzbezeichnung Aku-5
01.03.– 02.03.2008 in Bad Bergzabern; Regionales
Schmerzzentrum DGS-Ludwigshafen
Botulinumtoxin in der Schmerztherapie
12.03.2008 in München; Regionales Schmerzzentrum
DGS-München
Schmerztherapieführer 2007

Schmerztherapeuten in Deutschland sind immer noch
rar. Interessierte Hausärzte finden jedoch im Schmerztherapieführer 2007 alle qualifizierten Ärzte und Ambulanzen.
Neue Informationen über die schmerztherapeutische
»Landschaft« der Bundesrepublik mit rund 4000 Anschriften
gibt das aktuelle Mitgliederverzeichnis der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie e.V., der „Schmerztherapieführer Deutschland 2007“. Dieses Nachschlagewerk der
größten europäischen Schmerzfachgesellschaft ist ein seit
Jahren wichtiges Standardwerk, das von Ärzten, ärztlichen
Vereinigungen und Verbänden, Krankenkassen und anderen
Institutionen des Gesundheitswesens bei der Geschäftsstelle unentgeltlich angefordert werden kann (siehe oben). Der
Schmerztherapieführer der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie e.V. informiert über
die Mitglieder der Fachgesellschaft, hauptsächlich schmerztherapeutisch fortgebildete Ärzte,
Schmerztherapeuten und Psychologen. Ebenfalls aufgeführt sind die regionalen SchmerzzenStK
tren der DGS, die interdisziplinäre Schmerzkonferenzen veranstalten. Aktueller Fortbildungskalender 2008
 Die Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie e.V. bietet mit über 200 regionalen Praxis-Seminaren und Curricula
in etwa 120 regionalen Schmerzzentren ein umfangreiches
Fort- und Weiterbildungsprogramm für Ärzte, Psychologen
und medizinische Assistenzberufe. Die verbandsinternen
Qualifikationen Algesiologie, Schwerpunkt Schmerztherapie
und Schwerpunkt Palliativmedizin spielen bei Vergütungsregelungen eine Rolle. Erforderlich sind diese für die Teilnahme
an der Qualitätssicherungs-Vereinbarung und sie sind Voraussetzung für die Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“. Hierzu werden die von allen Landesärztekammern
anerkannten Seminarreihen Curriculum Spezielle Schmerztherapie 1 und 2 angeboten.
Der Kalender mit den Fortbildungsveranstaltungen 2008
informiert umfassend über dieses Angebot. Enthalten ist
auch eine aktuelle Übersicht über die regionalen Schmerzzentren der Deutschen Gesellschaft
für Schmerztherapie e. V. Der Kalender kann bei der Geschäftsstelle angefordert werden. StK
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Spezielle Schmerztherapie, Klinik von Kompartment-Syndromen myofaszialer Genese
05.03.2008 in Köln; Regionales Schmerzzentrum DGSKöln
Theorie und Praxis der Low-Level-Lasertherapie
06.03.2008 in Bad Pyrmont; Regionales Schmerzzentrum DGS-Schieder Bad Pyrmont
Systematik der Injektionstechniken - Seminar 3
08.03.– 09.03.2008 in Randersacker; Regionales
Schmerzzentrum DGS-Würzburg
Chronisches regionales Schmerzsyndrom
13.03.2008 in Tübingen; Regionales Schmerzzentrum
DGS-Tübingen
Schmerzen aus dem Bewegungssystem –
Diagnostik, Therapie
15.03.2008 in Bernau; Regionales Schmerzzentrum
DGS-Bernau
Schmerzmanagement durch Selbstbewusstsein:
Sscheres Auftreten mit der Wing-wave-Methode
15.03.2008 in Düsseldorf; Regionales Schmerzzentrum
DGS-Düsseldorf
Besonderheiten der Schmerztherapie im Alter
19.03.2008 in Gießen; Regionales Schmerzzentrum
DGS-Gießen
April 2008
Multiprofessioneller Gesprächskreis Qualitätszirkel Palliativmedizin Siegen
02.04.2008 Regionales Schmerzzentrum DGSSiegen
Neuraltherapie – Störfeldbehandlung und urogynäkologische Erkrankungen
04.04.– 05.04.2008 in Dresden; Regionales
Schmerzzentrum DGS-Dresden
Qualifikanten
Anette Schmitz, Lübeck, Algesiologe
Dr. med. Rüdiger Knoche, Remagen
Qualifikation Schwerpunkt Palliativmedizin
Dr. med H.-G. Grobbel, Schmallenberg
Qualifikation Schwerpunkt Schmerztherapie
Hans-Gerald H. Forg, Mainz,
Qualifikation Schwerpunkt Schmerztherapie
Dr. med. Michael Said, Nonnenborn,
Qualifikation Schwerpunkt Schmerztherapie
Dr. med. Jürgen Rapin, Lingen, Algesiologe
11
Schmerzforschung
Frauen und Schmerzen: Mythen und Fakten
Unterscheiden sich Männer und Frauen in ihrem Schmerzempfinden?
In der Tat leiden Frauen häufiger unter Schmerzen und scheinen auch eine
niedrigere Schmerzschwelle zu haben. Diese und andere wissenschaftlich
belegte Daten hinter den Mythen über den Unterschied zwischen den bei­
den Geschlechtern schildert Prof. Dr. Hartmut Göbel, Schmerzklinik Kiel.
Frau sein tut mehr weh
Schmerzen sind mit Abstand die am weitesten
verbreiteten Gesundheitsstörungen im Alltag.
Frauen sind häufiger als Männer betroffen.
Von den im Jahr 1998 im BundesgesundheitsSurvey befragten Bundesbürgern gaben nur
6% der Frauen und 12% der Männer an, im
vergangenen Jahr keine Schmerzen erlitten
zu haben. Frau zu sein hat schon immer mehr
wehgetan, als Mann zu sein. Weiblichkeit und
Schmerz gehören in vielen Kulturen eng zusammen. In China wickelte man die Füße von
Mädchen in straffe Lappen, damit sie klein
bleiben. Auch das Schuhwerk und die Kleidung in unserer Gesellschaft führen bei
Frauen häufig zu Schmerzen. Das Gehen und
Stehen in ungesunden Schuhen tut weh. Das
Funktionieren in der Doppelbelastung von
Familie und Beruf muss mit Kopfschmerzen
erkauft werden.
Archiv Urban & Vogel
Guter und böser Schmerz
Schmerzen warnen uns vor Schädigungen.
Sie weisen darauf hin, dass wir unseren Körper überlasten. Das zu lange Arbeiten am
Computer oder das zu lange Sitzen auf ungeeigneten Möbeln führen zu Rücken- und
Schulterschmerzen. Der Schmerz lehrt,
dieses Verhalten zu ändern. Dieser positive
Frauen leiden z. B. häufiger unter Migräne.
12
Aspekt von Schmerzen führt dazu, dass unser Körper geschützt und vor Schaden bewahrt wird. Es ist wichtig, diese akuten
Schmerzen möglichst schnell zu behandeln,
damit einer Chronifizierung vorgebeugt werden kann. Die häufigsten Schmerzen im Alltag
sind Kopf-, Nacken-, Rücken- und Muskelschmerzen.
Häufigkeitsunterschiede beim
chronischen Schmerz
Treten Schmerzen immer wieder auf und werden chronisch, verlieren sie ihre Warnfunktion
und können selbst schädigen. Solche Alltagsschmerzen können bei Männern und Frauen
ganz unterschiedlich auftreten. 36,2% der
Frauen und 21,5% der Männer, die im Bundesgesundheits-Survey 1998 befragt wurden,
gaben an, in den letzten sieben Tagen an
Kopfschmerzen gelitten zu haben (Tab. 1). Der
Kopfschmerz vom Spannungstyp tritt bei rund
38% der deutschen Bevölkerung episodisch
und bei rund 3% chronisch auf. Geschlechtsunterschiede gibt es für diese Kopfschmerzform nicht. Dagegen tritt die Migräne bei
Frauen dreimal häufiger auf als bei Männern.
Auch in der Krankenhausstatistik zeigt
sich, dass Frauen häufiger an Migräne leiden
als Männer. In stationäre Behandlung müssen sich doppelt so viele Frauen wie Männer
wegen Migräne begeben. Auch bei den Aufnahmen in die Schmerzklinik Kiel zeigt sich
ein deutlicher Geschlechtsunterschied. Rund
70% der Behandelten sind Frauen und nur
30% Männer.
Auch leiden Frauen häufiger und stärker an
Kreuz- und Rückenschmerzen. Der Altersgipfel von Rückenschmerzen liegt im Alter zwischen 50 – 59 Jahren. Rund 45% der Frauen
und rund 35% der Männer geben an, in den
letzten sieben Tagen an Rückenschmerzen
gelitten zu haben. Beruflicher oder familiärer
Stress, Störungen des seelischen Gleichgewichts, Angst und Depressivität wirken sich
bei Frauen deutlich stärker auf die Schmerzen aus als bei Männern. Die psychosozialen
Folgen von Schmerzen sind bei Frauen deutlich ausgeprägter als bei Männern.
Frauen erleiden somit nahezu doppelt so
viele Schmerzen wie Männer. Frauen bekla-
gen auch intensivere und länger andauernde
Schmerzen und mehr Körperareale sind betroffen.
Frauen sind bessere Schmerzexperten
Schmerzbewältigungsmechanismen werden
bei Männern und Frauen unterschiedlich eingesetzt. Frauen konzentrieren sich mehr auf
emotionale und interpersonale Aspekte von
Schmerzen. Männer verfolgen im Gegensatz
dazu problemlösende und instrumentelle
Strategien. Bei der Bewältigung von Schmerzen steht Frauen eine größere Palette von
Möglichkeiten zur Verfügung. Sie lassen sich
eher helfen, suchen eine umfangreichere soziale Unterstützung, nehmen eher Medikamente ein und gehen früher zum Arzt.
Männer dagegen ignorieren den Schmerz
häufiger und interpretieren die Ursachen
um. Sie versuchen, das Problem selbst zu
lösen. Folgen können dabei eine schnellere
Chronifizierung, die vergebliche Warnung vor
möglichen Schäden und Überlastung sein.
Andererseits finden sich Begleiterkrankungen
von Schmerzen bei Frauen häufiger als bei
Männern. So treten Ängste und Depressionen
sowie Schlafstörungen im Zusammenhang
mit Schmerzen bei Frauen öfter auf als bei
Männern.
In experimentellen Untersuchungen ist
es Männern peinlich, Schmerzen zu zeigen.
Frauen dagegen berichten früher über Angst
und Irritation und kommunizieren dies auch
ihrer Umwelt. Männliche Probanden teilen
attraktiven weiblichen Versuchsleiterinnen
signifikant weniger Schmerzen im Experiment mit. Dagegen kommunizieren weibliche
Probandinnen attraktiven männlichen Versuchsleitern mehr und intensiver Schmerzen als den jeweils gleichgeschlechtlichen
Versuchsleiterinnen. Umgekehrt wird Frauen
und Männern in der Schmerztherapie unterschiedlich begegnet. Frauen erhalten eine
weniger intensive medizinische Abklärung,
die schmerztherapeutische Versorgung bei
Frauen ist geringer als bei Männern.
Männer und Frauen haben eine unterschiedliche Kommunikation bezüglich
Schmerzen. Es gibt deutliche geschlechtstypische Unterschiede im sprachlichen Ausdruck. Sprachlich stufen Frauen Schmerzen
zurück, während Männer die Schmerzen intensiver vermitteln. Frauen fokussieren mehr
auf das soziale Umfeld, wenn sie Schmerzen
kommunizieren: „Ich kann für meine Familie
nicht mehr einkaufen gehen, weil durch die
Schulterschmerzen die Taschen zu schwer
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Hartmut Göbel,
Kiel
sind.“ Männer dagegen wollen als eigene
Experten die Ursachen der Schmerzen analysieren: „Ich habe Schulterschmerzen, es
liegt wohl an den Bandscheiben.“ Männer
schildern Schmerzen symptomorientierter,
während Frauen ihr Verhalten skizzieren.
Das weibliche Gehirn färbt
Schmerzen mit mehr Gefühl
In Untersuchungen zeigte sich, dass die
Wahrnehmung und Verarbeitung von Schmerzen bei Männern und Frauen unterschiedlich
organisiert ist. In psychophysischen Experimenten zeigen sich Frauen nahezu doppelt so
empfindlich auf Schmerzreize wie Männer.
Sie zeigen auch größere Unterschiede in der
Lateralisation der Schmerzempfindlichkeit
zwischen der linken und rechten Körperhälfte
und die zirkadiane Rhythmik der Schmerzwahrnehmung ist bei Frauen und Männern unterschiedlich.
Gehirnscans mittels Positronen-Emissions-Tomographie (PET) zeigen, dass das
männliche und weibliche Gehirn bei gleichen
Schmerzreizen unterschiedlich reagiert. Bei
Frauen wird das limbische System, das für
die gefühlsmäßige Tönung von Schmerzen
verantwortlich ist, stärker aktiviert als bei
Männern. Frauen verspüren daher die affektive und die emotionale Komponente von
Schmerzen intensiver als Männer. Im Gegensatz zu Frauen zeigt das männliche Gehirn
bei Schmerzreizen eine stärkere Aktivität in
den kognitiven und analytischen Bereichen
der Wahrnehmung.
Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede können entwicklungsgeschichtlich
erklärt werden. So müssen die kognitiven Bereiche des männlichen Gehirns im Rahmen
der Verteidigung nach außen bei Schmerz
und Stress stärker aktiviert werden. Die Aktivierung der limbischen Gehirnareale führt
dagegen zu einem verstärkten Schutz der Familie nach innen mit Bindung der Frau an die
Familie und Sorge für den Zusammenhalt.
Auch Hormone können die Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung beeinflussen.
Frauen, die sich im Rahmen einer Geschlechtsumwandlung mit dem männlichen
Hormon Testosteron behandeln ließen, sagen
aus, dass sie nunmehr als Männer weniger
starke Schmerzen empfinden als vorher. Tes­
tosteron scheint die Schmerzempfindlichkeit
zu reduzieren, dagegen scheinen Östrogene
die Schmerzhemmmechanismen zu bremsen
und die Schmerzempfindlichkeit ansteigen
zu lassen. Dabei scheint nicht der absolute
Hormonspiegel relevant zu sein, sondern vielmehr Hormonschwankungen.
Frauen benötigen besondere
Aufmerksamkeit
Bei Alltagsschmerzen ist es insbesondere für
Frauen wichtig, eine schnelle und verträgliche
Behandlungsstrategie nutzen zu können.
Kopf-, Rücken-, Muskel-, Gelenk- und Sehnenschmerzen treten im Alltag häufig auf und
können mit einfachen Mitteln präventiv oder
therapeutisch behandelt werden. Die frühe
und effektive Vorbeugung und Therapie ist
notwendig, damit Schmerzen im Alltag nicht
chronifizieren. Folgende Maßnahmen können
dabei helfen:
1. Stressabbau: Die persönlichen Stressoren sollten identifiziert und möglichst ausgeschaltet werden. Tagesplanung, Pausen
und ein selbstbestimmter Tagesablauf sind
gerade für Frauen wichtige Maßnahmen,
um Stress vorzubeugen. Nein zu sagen und
den Tagesrhythmus selbst zu bestimmen,
sind ebenfalls wesentliche Maßnahmen zur
Stressreduktion. Entspannungstechniken wie
die progressive Muskelrelaxation nach Jacob-
Tabelle 1: Unterschiede in der Häufigkeit von Schmerzen bei Frauen und
Männern (Bundesgesundheits-Survey 1998)
Schmerzart
Frauen
Männer
Kopfschmerz
Nackenschmerz
Schulter
Brust
Rücken
Bauch
Hüften
Unterleib
Beine
Füße
70%
53%
46%
13%
62%
32%
20%
25%
33%
23%
52%
35%
32%
15%
56%
21%
15%
5%
31%
15%
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Archiv Urban & Vogel
Schmerzforschung
Männer versuchen öfter, das Problem allein
zu lösen.
son und Atementspannungsmaßnahmen sind
ebenfalls gut geeignet und bewährt. Solche
Entspannungsmethoden können auch selbst
mit CD-Programmen erlernt werden (www.
neuro-media.de).
2. Bewegung: Wann immer möglich sollte
man einseitige körperliche Tätigkeiten vermeiden. Das lange monotone Sitzen auf Stühlen
mit fester Lehne sollte gänzlich aufgegeben
werden. Die Treppe sollte anstatt des Aufzuges benutzt werden. Kleine Botengänge
sollte man selbst erledigen, um körperlich
aktiv zu bleiben. Regelmäßig sollte man einen
Ausdauersport wie Schwimmen, Radfahren
oder Walken betreiben. Lockerungsübungen,
Gymnastik und leichtes Muskeltraining können Verspannungen lösen sowie Gelenke und
Wirbelsäule entlasten.
3. Heben und Tragen: Um etwas hochzuheben, sollte man bei geradem Rücken in die
Hocke gehen. Schwere Lasten sollten durch
zwei Personen getragen werden. Frauen
sollten nicht mehr als 10 kg und Männer nicht
mehr als 20 kg allein heben.
4. Ernährung: Gegen Schmerzen hat sich
eine kohlenhydratreiche und fettarme Kost
bewährt. Es sollte mehrmals am Tag hauptsächlich frisches Obst und Gemüse verzehrt
werden. Täglich sollten mindestens 2 bis 3
Liter getrunken werden.
5. Schmerzmittel: Wenn im Alltag Schmerzen auftreten, denen durch die beschriebenen
Vermeidungsstrategien nicht vorgebeugt werden konnte, sollten Schmerzmittel eingenommen werden. Diese schützen das Nervensystem vor übermäßiger Schmerzstimulation
und Stress. Schmerzen auszuhalten ist keine
Tugend: Unbehandelter Schmerz macht noch
13
mehr Schmerz. Durch eine effektive Schmerzbehandlung können chronische Schmerzen
vermieden werden. Bei der Selbstmedikation
mit Schmerzmitteln im Alltag sollten wichtige
Regeln eingehalten werden:
■ Es sollten ausschließlich Schmerzmittel mit
nur einer einzigen Wirksubstanz verwendet
werden. Auf ausreichende Dosis und rechtzeitigen Einsatz ist zu achten. Das Medikament der ersten Wahl ist dabei die Acetyl­
salicylsäure. Dieser Wirkstoff kann sowohl
die Schmerzempfindlichkeit reduzieren,
Schmerzabwehrmechanismen aktivieren
als auch gleichzeitig entzündungshemmend
wirken und Schmerzbotenstoffe stoppen.
■ S chmerzmittelmischpräparate sollten vermieden werden. Wesentlicher Grund ist,
dass diese mit einem erhöhten Risiko einer
Schmerzchronifizierung belastet sind. So
zeigen Analysen von Patienten mit Kopf-
schmerzen bei Medikamentenübergebrauch, dass in der Regel fixe Arzneimittelkombinationen für deren Entstehung ursächlich sind. Darüber hinaus ist aufgrund
der erhöhten Einnahme dieser Medikamente die Gefahr von Magen-, Nieren- und
Leberschädigungen gegeben. Die Verträglichkeit und die Sicherheit von Kombinationspräparaten im Langzeiteinsatz müssen
weiterhin kritisch bewertet werden.
■ Im Bereich der Kopfschmerztherapie sollten
Schmerzmittel maximal an zehn Tagen pro
Monat eingenommen werden. Ein besonderes Risiko zur Entstehung von Kopfschmerzen bei Schmerzmittelübergebrauch
ist bei Kombinationspräparaten gegeben.
Die Internationale Kopfschmerzgesellschaft
hat daher für Schmerzmittelmischpräparate
eine deutlich niedrigere Grenzschwelle als
für Monopräparate angesetzt.
Foto: Archiv
Zur Dikussion
Viel Gemüse und frisches Obst sind auch
für Schmerzpatienten empfehlenswert.
■ S chmerzen,
deren Ursache ungeklärt ist,
die nicht abklingen oder die immer wieder
auftreten, müssen durch ärztliche Untersuchungen diagnostisch geklärt werden. ❏
Hartmut Göbel, Kiel
Literatur beim Verfasser
Abdominelle Migräne?
Nicht immer sind Bauchschmerzen beim Internisten optimal versorgt, schil­
dert Dr. med. Thomas Nolte, Vizepräsident und DGS-Leiter, Wiesbaden, an­
hand einer eindruckvollen Kasuistik aus dem Schmerzzentrum Wiesbaden,
Regionales Schmerzzentrum – DGS,Facharztzentrum Medicum.
Schmerzproblematik
Frau B., 37 Jahre alt, sucht wegen vernichtender krampfartiger Abdominalbeschwerden
auf Empfehlung eines gastroenterologischen
Facharztes unsere schmerztherapeutische
Praxis auf. Die Schmerzen strahlen attackenartig in den gesamten Unterbauch aus und
sind in der letzten Zeit erheblich häufiger und
intensiver geworden. Ihr Auftreten ist nicht
vorhersehbar. Die Patientin muss wegen der
Intensität und dem schnellen Auftreten ihre
Alltagsaktivitäten unterbrechen, wenn diese
ohne Vorboten unvermittelt auftreten. Übelkeit
und Erbrechen fehlen. Mehrfach hat sie bereits den Notarzt rufen müssen!
Sie selbst hält Stress und Wetterwechsel
möglicherweise als Schmerzauslöser für mit
verantwortlich. Die Attackenfrequenz beträgt
aktuell alle zwei Wochen.
Bildarchiv Urban & Vogel
Anamnese
Problemrelevant ist, dass ihre Schmerzattacken nach einer radikalen Unterleibsoperation
wegen Plattenepithelkarzinom der Portio mit
Darm- und Blaseninfiltration 1999 und anschließender Bestrahlungstherapie, Anus
praeter und Neoblase aufgetreten sind. Ihre
Schwester leidet unter Migräne.
Heftige Bauchschmerzen, die kaum auf eine
andere Behandlung, aber gut auf Triptane
ansprechen ...
14
Sozialanamnese
Frau B. ist verheiratet und arbeitet halbtags
als Juristin.
Seit einem Jahr hat das Ehepaar ein Kind
Thomas Nolte,
Wiesbaden
adoptiert. Eine weitere Adoption wird erwogen.
Bisherige Therapie
Alle bisherigen therapeutischen Maßnahmen wie Wärme, Akupunktur und Verhaltenstherapie helfen nur unzureichend oder gar
nicht. Auch alle bisher eingesetzten Medikamente wie Butylscopolamin, Metamizol, Tramadol, Buprenorphin und NSAR sind wenig
effektiv.
Schmerztherapie
Unter der Hypothese einer abdominellen Migräne und unter Berücksichtigung aller anderen bisher gescheiterten Therapieversuche
leiten wir zunächst den Versuch einer
Schmerzattackenbehandlung mit einem Triptan ex juvantibus ein. Frau Blum berichtet bei
einem Folgetermin drei Monate später, dass
ihr das verordnete Triptan als Sublingualtablette sicher, sehr schnell und auch lang
anhaltend geholfen hat. Eine erneute Einnahme während der Attacke ist nicht notwendig
gewesen.
❏
Thomas Nolte, Wiesbaden
[email protected]
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Psychologie
Achtsamkeit und Akzeptanz –
Erfolgsfaktoren in der Schmerztherapie?
Ein Schmerz, der bleibt, kann auch und gerade beim sehr kooperativen
und motivierten Patienten in eine Sackgasse von Erschöpfung und
Verzweiflung führen. Die mitunter desolate Ausgangssituation und wie hier
mit dem verhaltensmedizinischen Verfahren ACT (Acceptance & Commitment Therapy) neue Wege aus der Schmerzfalle gefunden werden können,
schildert Herr Dipl.-Psych. Gideon Franck, Institut für Gesundheit, Fulda.
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
aber vermeide ich meinen eigenen Körper bei
Schmerzen? Wer kann ihn reparieren? Im Ex­
tremfall findet die Kontrolle und Vermeidung
von Leid ihren Höhepunkt darin, dass ich den
Körper wegwerfe, ihn entsorge, Suizid bege­
he – eine Diskussion, die gerade in Bezug auf
Palliativpatienten heiß geführt wird.
Das Problem liegt darin, dass Kontrollstra­
tegien, die in der Außenwelt hervorragend
funktionieren, in Bezug auf unser inneres Er­
leben schlichtweg unfunktional sind. Da wir sie
aber so gut und automatisiert beherrschen,
wenden wir sie, meist ohne es uns bewusst zu
machen, immer wieder an. Aus diesem Kampf
um Kontrolle entsteht zusätzliches Leiden,
welches für viele der psychopathologischen
Symptome bei chronischen Schmerzen, aber
auch für einen Teil der Chronifizierung ver­
antwortlich ist [2]. Vermeidung von erneutem
oder weiterem Schmerz (z. B. im Konzept der
Fear-Avoidance enthalten) und die damit ge­
koppelten Handlungen sind eine solche Kon­
trollstrategie.
Erschöpfung im Kampf gegen
den Schmerz
Der Schmerz wird als Eindringling, Übeltäter
und Gefahr gesehen, der mit allen Mitteln be­
kämpft werden muss. Wie ein Fremdkörper
soll er unterdrückt, vielleicht sogar ausgetrie­
ben werden. Ein Bild, welches wir als Behand­
ler gerne bedienen. Aber dieser Kampf bringt
oft hohe Kosten mit sich. Denn aus dem ur­
sprünglichen Leiden durch den Schmerz ent­
steht erneutes, zusätzliches Leiden, welches
sich durch misslungene Kontrollversuche er­
gibt. Typische Kosten sind Energielosigkeit,
Unruhe, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit,
Angst, Selbstzweifel, aber auch Subs­
tanzmissbrauch. Wie mit diesen Folgen um­
gehen?
Oftmals wirken sie schmerzaufrechter­
haltend. Viele, auch psychotherapeutische
Ansätze zeigen bei Weitem noch nicht die
gewünschten Wirkungen, wenn auch die
kognitive Verhaltenstherapie dabei recht gut
abschneidet.
Im hier vorgestellten Verfahren handelt
es sich um die Acceptance & Commitment
Therapy, ACT (als ein Wort gesprochen) [1],
eine relativ neue Richtung innerhalb der Ver­
haltenstherapie, welche bisher gute Erfolge
auch im Bereich der chronischen Schmerzen
aufweisen konnte. Vor allem erweist sie sich
als sinnvoll im Hinblick auf die Steigerung der
Aktivität und Lebensqualität der Patienten.
Wenn Kontrolle zum Problem wird
Ein grundlegendes Problem hängt damit zu­
sammen, dass wir die Tendenz haben, aver­
sive Zustände, egal ob innerlich oder in der
Außenwelt, kontrollieren zu wollen. Bezogen
auf die äußere Welt funktioniert das meist
sehr gut. Vom Beginn unseres Lebens an ler­
nen wir die Umwelt so zu formen, dass wir
angemessen damit zurechtkommen. Ein ka­
puttes Gerät reparieren wir oder werfen es
weg, eine stärkere, unliebsame Person oder
gefährliche Situation vermeiden wir usw. Wie
Archiv Urban & Vogel
H
err M. kam im Rollstuhl in die Praxis.
Nach einem schweren Autounfall vor
drei Jahren querschnittsgelähmt leidet er un­
ter starken Deafferenzierungsschmerzen im
unteren Bereich der BWS. Dieser neuropa­
thische Schmerz zeigte sich bisher therapie­
resistent. Versuche mit Gabapentin, Pregaba­
lin, Opioiden (verschieden verabreicht, inkl.
zweier Schmerzpumpen, die ungefüllt im
Bauch verweilen) und vielem anderen mehr
scheiterten aufgrund der Nebenwirkungen
oder einer gänzlich fehlenden Wirkung.
Herr M. beschrieb seine Situation folgen­
dermaßen: Er versuche, den Schmerz nicht
zum Zuge kommen zu lassen, und beschäf­
tige sich den ganzen Tag mit etwas. Er ver­
suche sich abzulenken, wo immer es gehe.
Er gehe schwimmen, sei politisch aktiv, gehe
im Winter seiner Leidenschaft, dem Skifahren,
nach und versuche, sein Leben so reichhaltig
wie möglich zu gestalten, um dem Schmerz
so wenig Raum wie möglich zu lassen. So­
weit schien dies ein Patient mit optimalen
Bewältigungsstrategien zu sein, jemand, der
sich nach einem schweren Schicksalsschlag
mutig aufgerappelt und das Beste daraus ge­
macht hat.
Nachdem all dies anfangs erwähnt wurde,
berichtete der Patient, dass er am Ende sei,
dass er nicht mehr könne. All seine Kraft sei
im Kampf gegen den Schmerz aufgebraucht.
Mit der Behinderung fertig zu werden, sei
letztendlich leichter gewesen, als andauernd
und meist erfolglos gegen den Schmerz vor­
zugehen. Er habe Angst, dass es irgendwann
so weit komme, dass er nicht mehr leben wol­
le, einfach weil er keine Kraft mehr habe.
Trotz eines positiven Ansatzes und des
starken Willens, das Leben zurückzuero­
bern, reibt sich der Patient im Kampf gegen
den Schmerz bis zur andauernden Erschöp­
fung auf. Ein Bild, das sich im Umgang mit
Schmerzpatienten häufig bietet. Oft zeigt sich
dazu noch früher oder später die Abgabe der
Kontrolle an die meist ärztlichen Behandler.
Gideon Franck,
Fulda
Bewältigungsstrategien von Schmerzpatienten können in eine Sackgasse führen.
15
Psychologie
Ähnlich verhält es sich mit Ablenkungsstra­
tegien, die auch eine Form von Vermeidung
darstellen. Obwohl in der Literatur immer
wieder als effektiv gegen Schmerz gepriesen
funktionieren sie besser bei akutem und bei
Weitem nicht immer bei chronischem Schmerz
(wie viele Patienten bezeugen können).
Das Dilemma der kurzfristig
erfolgreichen Strategien
Der anfangs vorgestellte Patient Herr M. ver­
suchte sich meisterlich abzulenken. Manch­
mal funktionierte es auch, und dieser kurzfristige Erfolg war Wasser auf die Mühlen, es nur
noch öfter und „besser“ zu probieren. Das ist
das Verführerische bei kurzfristig wirksamen
Strategien. Letztlich ging er arbeiten, um sich
abzulenken, schwamm, um sich abzulenken,
hörte Musik, um sich abzulenken, fuhr Auto,
um sich abzulenken – er war nur noch mit Ab­
lenken beschäftigt. Er war ständig auf der
Flucht vor sich selbst.
Das ist nicht nur extrem anstrengend,
sondern frustrierend und absolut aussichts­
los. Denn alles, was er tat, um nicht mit dem
Schmerz in Kontakt zu sein, zwang ihn auto­
matisch, sich mit ihm zu beschäftigen. Jeder
Schwimmbadbesuch, nahezu jede Autofahrt
war für Herrn M. eine Erinnerung an das,
wovon er weg wollte. Jede Kontrollstrategie
bezieht sich immer irgendwie auf das, was
kontrolliert werden soll. Damit ist der Schmerz
immer präsent.
zug auf ihre kurzfristige und vor allem langfristige Wirksamkeit, mit dem Schmerz umzuge­
hen, untersucht. Letztlich zeigte sich, dass alle
Versuche, den Schmerz zu kontrollieren, lang­
fristig gescheitert waren. Dies vor Augen ge­
führt zu bekommen, war für den Patienten
verwirrend, gleichzeitig aber befreiend, da er
sich in seiner Erfahrung der letzten Jahre be­
stätigt fühlte und ahnte, dass es da etwas gibt,
woran er bisher keineswegs gedacht hatte.
„Kreative Hoffnungslosigkeit“
Der erste Schritt, dies zu unterminieren und so
die Gewohnheit der Kontrolle oder Vermeidung
zu lockern, ist in ACT das Herstellen einer
„kreativen Hoffnungslosigkeit“. Die Bezeich­
nung Hoffnungslosigkeit bezieht sich hier auf
die bisher verwendeten Strategien, nicht auf
die Person an sich oder einen emotionalen
Zustand. Kreativ ist sie, weil dieser Moment
die Möglichkeit gibt, einen neuen Weg zu be­
schreiten – den der Akzeptanz. Mit Herrn M.
wurden seine Strategien immer wieder in Be­
Akzeptanz als Ausweg
Das Gegenteil von Kontrolle und Vermeidung
ist Akzeptanz. Akzeptanz bedeutet die Bereit­
schaft, auch die unangenehmen Dinge im
Leben zu erleben. Es geht nicht darum, sie
passiv über sich ergehen zu lassen, sondern
ihnen aktiv akzeptierend zu begegnen. Viele
Patienten mögen dabei das Bild: dem Tiger
ins Auge schauen. Akzeptanz ist somit etwas
ganz anderes als Resignation. Es funktioniert
aber nur, wenn die Intervention genügend gut
vorbereitet wurde und die Patienten Techniken
Der Deutsche Schmerz- und Palliativtag 2008 – 05.03.– 08.03.2008 − Congress Center Messe Frankfurt
Im Fokus: Multimodale Schmerztherapie und Palliativversorgung in Wissenschaft, Politik und Ökonomie
Mittwoch
05.03.08
Donnerstag 06.03.08
Freitag 07.03.08
7:00
8:00
Auftaktvortrag
Sterbehilfe/Euthanasie:
Wie können wir das konfliktträchtige Spannungsfeld zwischen Medizin,
Ethik, Recht und Politik überwinden? Eine kritische Bilanz
Harmonie, 08.15–08.30 Uhr
9:00
Plenum
Schmerz: ein KörperSeele-Problem
Harmonie
08.30–10.00 Uhr
10:00
Plenum
Paradigmenwechsel in der Schmerztherapie – das WHO-Stufenschema
– didaktisches Instrument oder
klinische Realität?
Harmonie, 10.30–12.00 Uhr
11:00
12:00
Lunchseminar
Interdisziplinäre Schmerztherapie
in der Onkologie
Illusion 1 + 2
12.10–13.30 Uhr
13:00
14:00
Juristische
Beratung
für
DGSMitglieder
15:00
16:00
Lunchseminar
Der chronische Rückenschmerz:
Mechanismen und Behandlungsoptionen
Conclusio 1 + 2, 12.10–13.30 Uhr
Harmonie, 13.45–15.15 Uhr
Spektrum 1, 13.45–15.15 Uhr
Plenum
Alltag in der Rückenschmerztherapie – Rollenspiel in
2 Akten
Harmonie
15.45–17.15 Uhr
Plenum
Zukunftsarbeit Schmerz
Mitgliederversammlung
Fantasie 1 + 2
18.00–19.30 Uhr
16
Lunchseminar
Medikamentöse Behandlung
von Bewegungsschmerz –
Strategien und Evidenzen
Fantasie 1 + 2, 12.10–13.30 Uhr
HOW
(begrenzte Teilnehmerzahl)
Standardisierte Dokumentation
für Algesiologie (Teil 1)
Mitgliederversammlung GGMM
Conclusio 1 + 2
16.30–17.15 Uhr
18:00
19:00
Illusion 3
10.30–12.00 Uhr
Harmonie
17.30–19 Uhr
HOW
Illusion 3
08.30–10.00 Uhr
Freie Vorträge
Session II
Illusion 1 + 2
7-8.20 Uhr
Illusion 3
7-8.20 Uhr
HOW
Integrierte Versorgung –
Erfolgsmodelle der Schmerztherapie
und Palliativmedizin
Illusion 1 + 2
10.30–12.00 Uhr
Plenum
Palliativmedizin bei Tumorschmerz:
Synergien durch mehrdimensionales
Zusammenspiel
VIP-Lounge
14.00–17.00
Uhr
17:00
HOW
Die Versorgung von Patienten
mit Schmerzpumpen
HOW
Illusion 1 + 2
08.30–10.00 Uhr
Freie Vorträge
Session I
Lunchseminar
Sektorenübergreifende
Versorgung in Schmerztherapie
und Palliativmedizin
Illusion 3, 12.10–13.30 Uhr
InternetCafé
HOW
(begrenzte Teilnehmerzahl)
Gefäßerkrankungen als Differenzialdiagnose
für Schmerzen bei orthopädischer und
neurologischer Mitbeteiligung
Illusion 1 + 2, 13.45–15.15 Uhr
HOW
(begrenzte Teilnehmerzahl)
Offene Schmerzkonferenz –
darf’s ein bisschen mehr sein?
Illusion 1 + 2
15.45–17.15 Uhr
Mitgliederversammlung VDÄA
Fantasie 1
17.30–18.30 Uhr
InternetCafé
Spektrum 1
11–18 Uhr
HOW
(begrenzte Teilnehmerzahl)
Moderationstechniken
Arbeit der
Schmerztherapiekommissionen
Illusion 3
15.45–17.15 Uhr
Fantasie 1 + 2
15.45–17.15 Uhr
Vorbesprechung und
Prüfungen Algesiologische Fachassistenz
HOW
(begrenzte Teilnehmerzahl)
HOW
Idee
16.30– ca. 18.00 Uhr
Illusion 1 + 2
17.30–19 Uhr
Illusion 3
17.30–19 Uhr
Lunchseminar
F.A.S.T. – ein neuer Meilenstein in der Therapie von
Durchbruchschmerzen
Conclusio 1 + 2
12.10–13.30 Uhr
Spektrum 1
10–18 Uhr
Juristische
Beratung
für DGSMitglieder
VIP-Lounge
14.00–17.00 Uhr
Abendsymposium
Diabetische Neuropathie neu
abgeschmeckt
Marriott Hotel, 19.30 Uhr
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Psychologie
an die Hand bekommen, um die Bereitschaft
hierfür aufzubringen. Die einfache Aussage
„Akzeptieren sie es! Sie müssen damit le­
ben.“, die die Patienten allzu oft hören, wird
fast ausschließlich als eine Aufforderung zur
Selbstaufgabe verstanden und daher ver­
ständlicherweise nicht befolgt.
Für den Patienten ist wichtig zu wissen,
dass die Schmerzen durch Akzeptanz nicht
notwendigerweise weniger werden. Es berich­
ten aber die meisten, dass sie über die Zeit als
nicht mehr so einschränkend und vor allem als
nicht mehr alles bestimmend erlebt werden.
Akzeptanz macht aber nur Sinn, wenn sich
daraus ein Vorteil im Leben ergibt. Als Selbst­
zweck ist es reine Quälerei. In ACT wird sie im­
mer daran gekoppelt, ein reicheres, vitaleres
Leben führen zu können und dafür Schmerz
in Kauf zu nehmen. Nur mit einer sinnvollen
Perspektive werden die Patienten bereit sein,
Akzeptanz für Schmerz zu entwickeln.
Eine gute Übung hierfür ist die Schmerz­
fokussierung, welche bei Seemann [3] sehr
Gedanken wie Wolken ziehen lassen ...
schön beschrieben ist. Der Patient wird ange­
leitet, sich auf den Schmerz zu konzentrieren,
ihn genau zu untersuchen und ihn in andere
Sinnesmodalitäten zu überführen.
Verhaltenstherapeutisch gesehen han­
delt es sich hierbei um eine Expositionsübung. Der Patient setzt sich willentlich dem
Schmerzerleben aus, betrachtet es aber
anders und kann so ein neues Verhältnis zu
der Symptomatik entwickeln. Typischerweise
wird der Schmerz nicht stärker empfunden,
sondern eher schwächer. Gleichzeitig wird die
Erfahrung gemacht, sich mit dem Schmerz
beschäftigen zu können, ohne überwältigt zu
werden. In einer eindrücklichen Studie zeigten
McCracken und Eccleston [4], wie positiv und
stark der Einfluss von Akzeptanz der Schmer­
zen auf Variablen wie Schmerzintensität, Ar­
beitsstatus, Depression, Angst oder die Zeit
ist, die die Patienten tagsüber auf den Beinen
sind.
Auch spätere Arbeiten zeigen den starken
Einfluss von Akzeptanz auf Schmerz [5, 6].
Kratz et al. fanden beispielsweise Akzeptanz
als Moderator zwischen Schmerz und nega­
tivem Affekt bei Frauen mit Fibromyalgie und
Arthritis [7].
Ein an Werten ausgerichtetes Leben
Die meisten Schmerzpatienten haben große
Teile ihres Lebens dem Schmerz und dessen
Bekämpfung geopfert. Bei fast jedem Pati­
Der Deutsche Schmerz- und Palliativtag 2008 – 05.03.– 08.03.2008 − Congress Center Messe Frankfurt
Im Fokus: Multimodale Schmerztherapie und Palliativversorgung in Wissenschaft, Politik und Ökonomie
Freitag 07.03.08
7:00
8:00
9:00
10:00
11:00
12:00
13:00
Frühstücksseminar
Aktuelle Aspekte in der Rückenschmerztherapie:
Moderne Schmerztherapie bestimmt durch
neurophysiologische Mechanismen
Frühstücksseminar
Paradigmenwechsel in der Therapie mit
NSAR – ist die Zukunft wirklich immer
selektiver?
Fantasie 1 + 2, 7.00–8.20 Uhr
Conclusio 1 + 2, 7.00–8.20 Uhr
Plenum
Versatis: eine neue Therapieoption
zur Behandlung lokaler neuropathischer Schmerzen
Harmonie
8.30–10 Uhr
HOW
IGEL-Leistungen und
Privatliquidation in der
Schmerztherapie
Illusion 1 + 2
10.30–12.00 Uhr
Lunchseminar
Herpes zoster: Schicksal –
oder können wir uns schützen?
15:00
16:00
17:00
18:00
19:00
Plenum
Therapie von Rückenschmerzen – nichts
Neues?
Harmonie
13.45–15.15 Uhr
Plenum
Präzise und flexibel: Akutund Supportivtherapie von
Schmerzpatienten
Harmonie
15.45–17.15 Uhr
Plenum
Jede Minute zählt – warum
wir über Durchbruchschmerzen sprechen müssen
Harmonie
17.30–19 Uhr
Illusion 1 + 2
8.30–10 Uhr
HOW (begrenzte
Teilnehmerzahl)
1 1/2 Jahre
Ziconotid in
Deutschland Rückblick und
Zukunftsperspektiven
Illusion 1 + 2
15.45–ca. 19.00 Uhr
Fantasie 1 + 2, 7.30–8.50 Uhr
Plenum
Multimodale Therapie
neuropathischer
Schmerzen
Harmonie
9–10.30 Uhr
Illusion 3
8.30–10 Uhr
Plenum
Rückenschmerzen wirksam, rational, ökonomisch behandeln
Harmonie
10.30–12.00 Uhr
Conclusio 1 + 2
10.30–12.00 Uhr
Von der
Grundlagenforschung
bis zur
Therapie
Maritim
HOW
Achtsamkeitstraining
zur Schmerztherapie und
Schmerzbewältigung
Illusion 1 + 2
13.45–15.15 Uhr
ALFA-Seminar
Conclusio 1 + 2
13.45–14.45 Uhr
Conclusio 1 + 2
7.30–8.50 Uhr
HOW
HOW
Posterpräsentation
und -diskussion
HOW
Fortsetzung
Ziconotid-Workshop
Illusion 3
17.30–19 Uhr
Illusion 1 + 2
17.30–19 Uhr
Freie Vorträge
Session III
Freie Vorträge
Session IV
Illusion 1 + 2
7.30–8.50 Uhr
Illusion 3
7.30–8.50 Uhr
HOW
(begrenzte Teilnehmerzahl)
Somatoforme Störungen – Vorurteile
erschweren die Behandlung
Illusion 1 + 2
9–10.30 Uhr
ganztags
InternetCafé
Spektrum 1
10–16 Uhr
ALFASeminar
Curriculum
Algesiologische
Fachassistenz
HOW
Die Versorgung von
Patien­ten mit
Schmerzpumpen
Illusion 3
9–10.30 Uhr
10–15 Uhr
Plenum
Aktuelle Herausforderungen der
differenzierten Therapie starker
Schmerzen
Harmonie
11.00–13.00 Uhr
Lunchseminar
10 Jahre Rizatriptan in
Deutschland – Gegenwart
und Ausblick
Fantasie 1 + 2
13.10–14.30 Uhr
Plenum
Schmerztherapie bei
chronischen Schmerzen:
evidenz- oder eminenzbasiert?
Harmonie, 14.45–16.15 Uhr
Conclusio 1 + 2
15.45-17.15 Uhr
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Frühstücksseminar
Ökonomie in der Praxis
– praxisnahe Beratung
vor Ort
ALFA-Seminar
Conclusio 1 + 2
10–11 Uhr
ALFASeminar
HOW/LS
Rückenschmerz aus schmerztherapeutischer, rheumatologischer und
ganzheitlich-funktionaler Sicht –
ein interdisziplinärer Workshop
Illusion 1 + 2, 12.10–13.30 Uhr
HOW
Standardisierte
Dokumentation
für Algesiologie
Spektrum 1
13.45–15.15 Uhr
Frühstücksseminar
Über die Funktion zur Struktur:
Manuelle Diagnostik und Therapie
von Rückenschmerzen
HOW
Die Versorgung von Patienten mit
Schmerzpumpen
HOW
Nordic Walking
HOW
Biofeedback bei
Kopf- und Rückenschmerzen
Illusion 3
10.30–12.00 Uhr
Fantasie 1 + 2, 12.10–13.30 Uhr
14:00
Samstag 08.03.08
LS/HOW
Dronabinol in der
Schmerztherapie – a
never ending (love)story
Illusion 1+ 2
13.10–14.30 Uhr
HOW
(begrenzte Teilnehmerzahl)
Fantasie 1+ 2
14.45–16.15 Uhr
Lunchseminar
Ganzheitliche und naturheilkundliche Verfahren
in der Schmerztherapie
Conclusio 1+ 2
13.10–14.30 Uhr
HOW
Illusion 3
14.45–16.15 Uhr
HOW
Illusion 3
13.10–14.30
Uhr
Tag der
Öffentlichkeit
MARITIM I–III
14.00–16.00 Uhr
Gesundheitspolitisches Forum
Ein Jahr Gesundheitsreform
– wo bleiben chronisch Schmerzkranke?
Harmonie
16.30–18.00 Uhr
17
Archiv Urban & Vogel
Psychologie
Schmerzakzeptanz und Achtsamkeit für die
kleinen Dinge.
enten besteht der Wunsch, sich sein Leben
wieder zurückzuerobern. In diesem Teil der
Therapie geht es darum, sich innerlich an
dem zu orientieren, was einem im Leben
wichtig ist, und diese Qualitäten zu verfolgen.
So wird hier große Sorgfalt darauf verwendet
einen Überblick der persönlichen Werte und
wertgeschätzten Handlungen in mehreren
Bereichen des Lebens zu erstellen (z.B. Part­
nerschaft, Familie, Freizeit, Beruf, Spiritualität
etc.). Eine gute Anleitung hierfür findet sich in
Dahl et al. [2]. Diese Liste wird immer wieder
als Referenz genommen, ob sich die Pati­
enten in Richtung ihrer wertgeschätzten Le­
bensinhalte bewegen. Es werden auch kon­
krete Handlungen mit dem Patienten geplant,
um dies zu bewerkstelligen. Bei Herrn M. ging
es hauptsächlich darum, den Dingen, die er
früher tat und gern mochte, wieder etwas Po­
sitives abzugewinnen und sie genießen zu
können.
Gedanken als das sehen,
was sie sind – Defusion
Wird Schmerz erlebt, so setzt dies meist eine
Reihe von Kognitionen und Handlungen in
Gang, die wie automatisch mit dem Schmerz
verbunden scheinen. Sie sind geradezu ver­
schmolzen mit ihm. Beispiele von Herrn M.
sind: „Reicht es nicht, dass ich gelähmt bin,
warum muss ich auch noch mit dem Schmerz
bestraft werden?“ oder: „Ein wirklicher Krüp­
pel bin ich wegen der Schmerzen, nicht we­
gen des Rollstuhls.“
Im Sinne von ACT geht es nicht darum, die
Gedanken zu kontrollieren oder zu verändern,
wie dies in der klassischen kognitiven Verhal­
tenstherapie der Fall ist. Es geht viel mehr
18
darum, dass die Probleme erst entstehen,
wenn wir uns die Gedanken abkaufen, sie
als Fakt nehmen. In dem Moment sind wir mit
ihnen „verschmolzen“. So werden sie emo­
tionsauslösend und handlungsleitend. Alle
Menschen haben irgendwann einmal merk­
würdige, negative, verschrobene oder kin­
dische Gedanken. Das heißt aber lange noch
nicht, dass wir ihnen eine größere Bedeutung
beimessen. Sie verschwinden auch einfach
wieder von selbst – wie alle Gedanken, die
die Chance dazu bekommen.
So gibt es in ACT einen großen Fundus an
Übungen, um Vorgänge auf Gefühlsebene und
als Kognitionen zu bemerken und dann Ab­
stand zu ihnen zu gewinnen. Eine Möglichkeit
ist u. a. die Schmerzfokussierung. Eine andere
ist, sich vorzustellen, man setzt die Gedanken
auf Blätter, die auf einem Fluss an uns vorbei­
treiben. Man kann sie betrachten, muss ihnen
aber nicht folgen. Nicht um die Gedanken zu
verdrängen, sondern um sich darin zu üben,
immer wieder innerlich Abstand von ihnen zu
nehmen und nicht der Aufforderung zum Grü­
beln nachzugeben. Es wird geübt, dass es eine
willentliche Entscheidung sein kann, einem
Gedanken zu folgen oder eben auch nicht. Ge­
nauso kann mit Gefühlen verfahren werden. Es
geht nicht darum zu sagen, dass bestimmte
Gedanken gut oder schlecht seien. Es geht viel
mehr darum, auf sie schauen zu können, statt
von ihnen aus in die Welt zu blicken.
Herr M. kam mit vielen festen Überzeu­
gungen wie „Mein Schmerz ist unvorstellbar
schlimm!“. Vielleicht stimmt das sogar, subjek­
tiv sicherlich. Doch jetzt? Wie sehr hilft das, ein
vitaleres, wertgeschätztes Leben zu führen?
Die Übungen wurden immer wieder durchge­
führt und – wie viele Patienten – war Herr M.
erstaunt darüber, dass auch so schwerwie­
gende Gedanken sehr flüchtig sein können,
wenn man gelernt hat, sie zu beobachten und
Abstand zu nehmen. Gleiches wurde auch mit
dem Schmerz geübt – sich immer wieder lösen
zu können, ohne ihn weghaben zu wollen.
Achtsamkeit als Weg – präsent sein
Um Obiges tun zu können, ist es wichtig,
achtsam zu sein. Achtsam sein heißt, sich
dessen gewahr zu werden, was gerade jetzt
im Moment passiert – möglichst ohne zu be­
urteilen. Wir sind innerlich immer beschäftigt
und die Aufmerksamkeit liegt selten dort, wo
wir uns momentan physisch befinden. Solan­
ge wir uns nicht mit größeren Problemen be­
fassen müssen, ist das nicht weiter schlimm.
Anders ist es jedoch, wenn wir uns schlecht
fühlen. Unser Verstand ist leidenschaftslos,
will Probleme lösen (das ist sein Job), hat
aber nicht die passenden Werkzeuge parat.
So produziert er eine Unmenge an Gedan­
ken, Gründen, Vorschlägen, in die wir uns
immer weiter verstricken.
Gerade bei Schmerzkranken liegt die Auf­
merksamkeit nur noch auf dem Schmerz und
den damit verbundenen Kognitionen. Das
restliche Leben tritt in den Hintergrund. In der
Achtsamkeit geht es aber darum, aufmerksam
in der Gegenwart zu sein. Dies erfordert die
Fertigkeit der Defusion und die Entscheidung
zur Akzeptanz. Diese Entscheidung ist radikal,
denn es geht nicht, ein bisschen achtsam zu
sein. Wenn ich es wirklich bin, dann nehme ich
das an, was dieser Moment zu bieten hat. Ich
muss es nicht mögen, aber ich akzeptiere es.
Hayes et al. [1] schreiben, dass es nicht nur
darum geht, sich besser zu fühlen, sondern
eher besser zu fühlen. Es geht darum, das
Leben in all seinen Facetten wahrzunehmen
und so reichhaltiger zu machen. Wird dies vom
Patienten erfolgreich umgesetzt, ändert sich
das subjektive Erleben hierdurch enorm.
Achtsamkeit kann bei jeder kleinsten Aktivi­
tät ausgeübt werden (Essen, Händewaschen,
Gehen ...). Sie wird aber auch zur Intensivie­
rung der Erfahrung und zum Üben der Fertig­
keit in Form von Meditationen unterrichtet.
In den Achtzigerjahren des letzten Jahr­
hunderts hat Jon Kabat-Zinn die ursprünglich
buddhistische Methode für therapeutische
Belange aufbereitet. Sie wurde von ihm als
Gruppentherapie für Schmerzpatienten mit
guten Ergebnissen überprüft [8, 9]. Auch
neuere Forschung unterstreicht ihren Stel­
lenwert in der Schmerztherapie [10]. Seitdem
hält das Konzept der Achtsamkeit immer stär­
ker Einzug in die Psychotherapie. Sie ist ein
grundlegender Baustein der Dialektisch Beha­
vioralen Therapie der Borderline-Störung (M.
Linehan) und wird bei Ängsten, Depres­sion
sowie verschiedenen körperlichen Erkran­
kungen als Therapiebaustein angewendet. In
ACT ist sie auf eine sehr gewinnbringende Art
in das Gesamtkonzept eingebettet.
Für Herrn M. war Achtsamkeit der wich­
tigste Schritt in der Therapie. Er lernte für
sich wieder, schwimmen zu gehen um des
Schwimmens willens, Musik zu hören, einfach
nur um Musik zu hören. Vor allem lernte er die
kleinen Momente wieder zu schätzen, die ihm
zuvor in seinem Leben nicht mehr aufgefallen
waren.
Resümee
Viele Schmerzpatienten können mit den der­
zeit verfügbaren Behandlungsmethoden nicht
schmerzfrei werden. Oft reiben sie sich beim
Versuch auf, den Schmerz irgendwie in den
Griff zu bekommen. Angst, Depression und
starke Einschränkungen in der Lebensqualität
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Medizin und Recht
sind die Folge. Die Acceptance and Commit­
ment Therapy (ACT) als eine Art der kogni­
tiven Verhaltenstherapie bietet durch die Bau­
steine der Akzeptanz, der wertegerichteten
Lebensweise, der Defusion und der Achtsam­
keit eine vielversprechende Basis zur Psycho­
therapie von Schmerzpatienten.
Herr M. lebt weiterhin mit seinen Schmer­
zen, sie dirigieren aber nicht mehr, in welche
Richtung sein Leben geht. Er sieht sein Leben
wieder als sinnerfüllt und lebenswert an, und
er tut nun viele Dinge trotz der Schmerzen,
nicht mehr nur, um ihnen zu entfliehen. ❏
Gideon Franck, Fulda
Literatur
1. Hayes SC, Strohsal KD, Wilson KG: Akzeptanz und
Commitment Therapie. CIP-Medien München 2004.
2. Dahl JC, Wilson KG, Luciano C, Hayes SC:
Acceptance and commitment therapy for
chronic pain. Context Press Reno 2005.
3. Seemann H: Freundschaft mit dem eigenen Körper
schließen. Über den Umgang mit psychosomatischen
Schmerzen. 5. Aufl. Pfeiffer bei Klett-Cotta, München
2005.
4. McCracken LM, Ecclestone C: Coping or
acceptance: what to do about chronic pain?
Pain 2003;105:197–204.
5. McCracken LM and Eccleston C: A prospective study
of acceptance of pain and patient functioning with
chronic pain. Pain. 2005; 118:164–169.
6. Vowles KE, McNeil DW, Gross RT et al.: Effects of
pain acceptance and pain control strategies on physi-
cal impairment in individuals with chronic low back
pain. Behavior Therapy 2007;38:412–425.
7. Kratz AL, Davis MC, Zautra A.: Pain acceptance
moderates the relation between pain and negative
affect in female osteoarthritis and fibromyalgia
patients. Ann Behav Med. 2007;33:291–301.
8. Kabat-Zinn J: An outpatient program in behavioral
medicine for chronic pain patients based on the practice of mindfulness meditation: theoretical considerations and preliminary results. Gen Hosp Psychiatry
1982;4:33–47.
9. Kabat-Zinn J, Lipworth Land Burney R: The
clinical use of mindfulness meditation for the self-regulation of chronic pain. J Behav Med. 1985;8:163–90.
10.Morone NE., Greco CM, Weiner DK: Mindfulness meditation for the treatment of chronic low back pain
in older adults: A randomized controlled pilot study.
Pain. 2007 June 1 [Epub ahead of print].
Anforderungen an die Genehmigung
einer Zweigpraxis
In § 24 Abs. 3 Ärzte-/Zahnärzte-ZV wurden durch das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz die Voraussetzungen für den Betrieb von Zweigpraxen
erstmals gesetzlich normiert, und dabei gleichzeitig die Anforderungen
gelockert. Mittlerweile sind die ersten gerichtlichen Entscheidungen dazu
ergangen, so jüngst eine Entscheidung des LSG Hessen, denen sich erste
Anhaltspunkte für eine Konkretisierung der Voraussetzungen entnehmen
lassen. Was dies konkret für den vertragsärztlichen Bereich einer Schmerzpraxis bedeutet, schildert Dr. Ralf Clement von der Kanzlei Rechtsanwälte
Ratajczak & Partner, Sindelfingen.
Die gesetzliche Regelung
Nach § 15a Abs. 1 S. 2 BMV-Ä/EKV a. F. durfte
die Genehmigung für den Betrieb einer Zweig­
praxis von den Kassenärztlichen Vereinigungen
nur erteilt werden, wenn die Zweigpraxis zur
Sicherung einer ausreichenden vertragsärzt­
lichen Versorgung notwendig war. § 24 Abs. 3
Ärzte-/Zahnärzte-ZV eröffnet nunmehr die
Möglichkeit, vertragsärztliche Tätigkeiten au­
ßerhalb des Vertragsarztsitzes an weiteren
Orten auszuüben, wenn und soweit die Versor­
gung der Versicherten an den weiteren Orten
verbessert und die ordnungs­gemäße Versor­
gung der Versicherten am Ort des Vertragsarzt­
sitzes nicht beeinträchtigt wird.
lichen Bereich allerdings noch nicht gesche­
hen ist. Ein erster Interpretationsansatz findet
sich in den Bundesmantelverträgen für Zahn­
ärzte: „Eine Verbesserung der Versorgung der
Versicherten an den weiteren Orten im Sinne
von Satz 1 liegt insbesondere dann vor, wenn
in dem betreffenden Planungsbereich eine
bedarfsplanungsrechtliche Unterversorgung
vorliegt.
Eine Verbesserung ist in der Regel auch
dann anzunehmen, wenn unabhängig vom
Versorgungsgrad in dem betreffenden Pla­
nungsbereich regional bzw. lokal nicht oder
nicht im erforderlichen Umfange angebotene
Leistungen im Rahmen der Zweigpraxis er­
bracht werden und die Versorgung auch nicht
durch andere Vertragszahnärzte sichergestellt
werden kann, die räumlich und zeitlich von den
Versicherten mit zumutbaren Aufwendungen
in Anspruch genommen werden können.
Definitionen
Der Begriff der Versorgungsverbesserung ist
im Gesetz nicht näher definiert, und auch den
Gesetzesmaterialien zum VÄndG lassen sich
keine konkretisierenden Hinweise für seine
Auslegung entnehmen. Der Gesetzgeber hat
vielmehr den Partnern der Bundesmantelver­
träge die Möglichkeit gegeben, die Rege­
lungen näher auszugestalten, was im ärzt­
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
19
Medizin und Recht
Dies gilt auch, wenn in der Zweigpraxis
spezielle Untersuchungs- und Behandlungs­
methoden angeboten werden, die im Pla­
nungsbereich nicht im erforderlichen Umfang
angeboten werden“ (§ 6 Abs. 6 S. 4 ff. BMV-Z,
§ 8a Abs. 1 S. 4 ff. EKV-Z).
Interpretation in praxi
Die Kassenärztlichen Vereinigungen handha­
ben die Anwendung von § 24 Abs. 3 Ärzte-/
Zahnärzte-ZV bislang sehr unterschiedlich.
Um die ordnungsgemäße Versorgung der
Versicherten am Ort des Vertragsarztsitzes
nicht zu beeinträchtigen, muss der Vertrags­
arzt an seinem Vertragsarztsitz persönlich
mindestens 20 Stunden wöchentlich in Form
von Sprechstunden zur Verfügung stehen.
Die Tätigkeit am Vertragsarztsitz muss die
Tätigkeiten außerhalb des Vertragsarztsitzes
zeitlich überwiegen (§ 17 Abs. 1a BMV-Ä, §
13 Abs. 7a EKV).
Erste Urteile
Das SG Marburg hat in zwei erstinstanzlichen
Entscheidungen vom 7.3.2007 – S 12 KA
701/06 – und 27.8.2007 – S 12 KA 374/07 ER
–, bei denen es zum einen um eine hausärzt­
liche Zweigpraxis in einem überversorgten
großstädtischen Planungsbereich und zum
anderen um eine zahnärztliche Zweigpraxis
mit dem Tätigkeitsschwerpunkt Kinderzahn­
heilkunde ging, die Anträge auf Erteilung ei­
ner Zweigpraxisgenehmigung jeweils zurück­
gewiesen.
Nach Auffassung des SG Marburg setze
der Begriff der Verbesserung der vertragsärz­
tlichen Versorgung eine Bedarfslücke voraus,
bezüglich der die Zweigpraxis zu einer nach­
haltigen Verbesserung des Angebots oder der
Erreichbarkeit führe. Eine Versorgungsverbes­
serung könne daher nur eintreten, wenn die
bereits vorhandenen ärztlichen Leistungser­
bringer das Leistungsangebot des Zweigpra­
xisbewerbers nicht oder nicht im erwünschten
Umfang erbringen könnten. Nach der Absicht
des Gesetzgebers könne nicht jede Eröffnung
einer weiteren Praxis bzw. Zweigpraxis unter
dem Gesichtspunkt der freien Arztwahl zur
Versorgungsverbesserung in diesem Sinne
führen, da es sonst einer besonderen Rege­
lung nicht bedurft hätte.
In überversorgten großstädtischen Pla­
nungsbereichen sei jedenfalls für den haus­
ärztlichen Bereich von einer grundsätzlich
ausreichenden Versorgung auszugehen. Das
SG hat auch in der Spezialisierung auf den
Tätigkeitsschwerpunkt Kinderzahnheilkunde
keine im Sinne des § 24 Abs. 3 Ärzte-/Zahn­
ärzte-ZV ausreichende Verbesserung der ver­
tragsärztlichen Versorgung gesehen.
20
Der Beschluss des LSG Hessen
Das LSG Hessen hat die Entscheidung des
SG Marburg vom 27.8.2007 nunmehr durch
Beschluss vom 29.11.2007 – L 4 KA 56/07 ER
– aufgehoben und die KZV im Wege des
einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet,
dem Vertragszahnarzt bis zur Entscheidung
im Hauptsacheverfahren die Tätigkeit am
Zweigpraxisstandort zu gestatten.
Der Senat hat seine Entscheidung damit
begründet, dass nach seiner Auffassung unter
dem Gesichtspunkt der qualitativen Verbesse­
rung der Versorgung bei einem Vertragszahn­
arzt, der den Tätigkeitsschwerpunkt Kinder­
zahnheilkunde führe, davon auszugehen sei,
dass er auf diesem Gebiet über vertiefende
Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt, die ein
Vertragszahnarzt ohne diesen Tätigkeits­
schwerpunkt zumindest nicht in gleichem Um­
fang besitzt, auch wenn die Kinderzahnheilkun­
de grundsätzlich Gegenstand der Ausbildung
aller Zahnärzte sei. Er hat es offen gelassen,
ob entgegen der Ansicht des SG Marburg ne­
ben zusätzlichen qualitativen Tätigkeiten auch
lediglich zusätzliche quantitative Tätigkeiten als
Verbesserung der Versorgung der Versicherten
angesehen werden können.
Die Bedeutung der Entscheidung
Die der Entscheidung zugrundeliegende Situation entspricht der von Vertragsärzten, die
in Planungsbereichen tätig sind, in denen kei­
ne Zulassungsbeschränkungen für ihr Fach­
gebiet bestehen, da Vertragszahnärzte seit
dem 1.4.2007 nicht mehr der Bedarfsplanung
unterliegen.
Das LSG hat in seiner Entscheidung aus­
drücklich klargestellt, dass bei der Entschei­
dung über eine Zweigpraxisgenehmigung
auch bedarfsplanungsrechtliche Gesichts­
punkte und Differenzierungen relevant sein
können, ohne dies jedoch näher zu präzisie­
ren. Es ist daher zu befürchten, dass in ge­
sperrten Planungsbereichen die Vorausset­
zungen für eine Zweigpraxis auch weiterhin
nur ausnahmsweise bejaht werden, wenn
entweder in Teilen eines Planungsbereichs
ein lokaler quantitativer Versorgungsbedarf,
oder ein spezielle Kenntnisse erfordernder
qualitativer Versorgungsbedarf besteht.
Ausblick
Die Entscheidung des LSG Hessen zeigt,
dass § 24 Abs. 3 Ärzte-ZV für schmerzthera­
peutisch tätige Vertragsärzte trotz des teilwei­
se bestehenden grundsätzlichen Widerstands
der Kassenärztlichen Vereinigungen bei der
Erteilung von Zweigpraxisgenehmigungen
durchaus Chancen bergen kann.
Die Anforderungen, die das LSG in seiner
Ralf Clement,
Sindelfingen
Entscheidung an die erforderliche qualitative
Verbesserung der vertragsärztlichen Versor­
gung für Fachgebiete, die keiner Zulassungs­
beschränkung unterliegen, gestellt hat, sind
vergleichsweise gering. Es spricht viel dafür,
dass unter Berücksichtigung dieser Grundsät­
ze auch ein (zusätzliches) Angebot spezieller
schmerztherapeutischer Leistungen grund­
sätzlich geeignet ist, die vertragsärztliche Ver­
sorgung im Sinne des § 24 Abs. 3 Ärzte-ZV je
nach Versorgungslage qualitativ entscheidend
zu verbessern. Dies gilt jedenfalls in nicht ge­
sperrten Planungsbereichen; je nach den
konkreten Umständen des Einzelfalls aber
möglicherweise auch darüber hinaus.
Wie die Gerichte die Anforderungen für
gesperrte Planungsbereiche im Einzelnen
ausgestalten, bleibt abzuwarten. Zu beach­
ten ist allerdings, dass die Eröffnung einer
Zweigpraxis das Budget der Praxis nicht
erhöht. Dies wäre lediglich durch einen an­
gestellten Arzt, soweit für dessen Fachgebiet
keine Zulassungsbeschränkungen bestehen,
zu erreichen.
❏
Ralf Clement, Sindelfingen
Infotelegramm
Postherniotomieschmerzen ernst
nehmen
Schmerzen bei der Ejakulation treten nach einer Leistenhernienoperation bei fast 2,5% der
Männer auf und sind keineswegs psychisch
bedingt. Wie eine Studie mit der quantitativen sensorischen Testung an 20 Betroffenen
zeigte scheint dieses Beschwerdebild durch
eine Verletzung der Nerven oder des Vas deferens zu entstehen und sollte als Neuropathie
konservativ behandelt werden oder/und erfordert evtl. einen erneuten operativen Eingriff
(Anesthesiology 2007;107:298–04).
Rückenschmerz und Depressionen
Bei über 65-Jährigen mit Rückenschmerzen finden sich häufig auch depressive Symptome, ergab eine prospektive Studie an über 55 690
Teilnehmern aus Lübeck. Wer depressive Symp­
tome zeigt verschlechtert sich auch zunehmend
in seinem Rückenschmerz unabhängig von seinem soziodemographischen Status, den medizinischen oder funktionellen Befunden. Daher
folgern T. Meyer et al., dass diesen beiden Erkrankungen gemeinsame pathogene Mechanismen zugrunde liegen könnten (Spine 2007;
32:2380–2386).
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Berufspolitik
EBM 2008 – ein „Meilenstein für die Zukunft“
auch für Algesiologen
Für Vertragsärzte wird es im Jahr 2008 nicht mehr Geld geben. Das soll
aber so für Algesiologen in schmerztherapeutischen Zentren nicht ganz
gelten. Die KBV hat anerkannt, dass unsere Vorhersagen bezüglich der
Auswirkungen des EBM 2000plus für überwiegend oder ausschließlich
algesiologisch tätige Ärzte zutreffend gewesen sind. Dr. Dietrich Jungck,
DGS-Leiter in Hamburg und Präsident des VDÄA, der die Verhandlungen
mit der KBV geführt hat, stellt die erreichten Änderungen dar.
I
n den Jahren 2006 und 2007 hat es mehrere Gespräche und Verhandlungen des
Verbandes Deutscher Ärzte für Algesiologie
– Berufsverband Deutscher Schmerztherapeuten e. V. (VDÄA) mit Herrn Dr. Andreas
Köhler, Vorstandsvorsitzender der KBV, und
Herrn Dr. Bernhard Rochell, Leiter des Dezernats Gebührenordnung und Vergütung, gegeben. Ergebnis ist, dass Schmerzpraxen entsprechend ihrem Versorgungsauftrag gefördert werden sollen.
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Neues für die Schmerztherapie
Im EBM 2008 ist die Schmerztherapie nach
diesen intensiven Vorarbeiten, aus denen sich
die Schmerz-Fachgesellschaften herausgehalten haben, neu gefasst. Neu sind:
■ Änderungen in der Präambel zum Kapitel
30.7 Schmerztherapie,
■ die eigenständige Grundpauschale 30700
dieses Kapitels,
■ die Zusammenfassung der bisherigen Positionen 30700 (Zuschlag zum Ordinationskomplex für die Basisabklärung und umfassende schmerztherapeutische Versorgung
chronisch schmerzkranker Patienten ...)
und 30701 (Zuschlag zum Ordinationskomplex für die Fortführung einer schmerztherapeutischen Versorgung ...) zu einer gemeinsamen Zusatzpauschale 30702,
■ der Zuschlag 30704 für die Erbringung der
Zusatzpauschale 30702 in schmerztherapeutischen Einrichtungen gemäß Anlage 1
der Qualitätssicherungsvereinbarung
Schmerztherapie und Erfüllung der Voraussetzungen gemäß Präambel Nr. 5,
■ die Position 30706 für die Teilnahme an einer
schmerztherapeutischen „Fallkonferenz“,
■ die Position 30708 Beratung und Erörterung und/oder Abklärung im Rahmen der
Schmerztherapie,
■ leicht angehobene Punktbewertungen der
Positionen im Kapitel 30.7.2 Andere
schmerztherapeutische Behandlungen.
Bildarchiv Jungck
Zustandekommen des Kapitels
Schmerztherapie
Der EBM 2000plus hatte gerade für Schmerztherapeuten in Schmerzpraxen gravierende
Verschlechterungen mit sich gebracht, sodass sich einige von der Schmerztherapie
abwenden mussten. Unsere Beteiligung bei
den Ärzteprotesten in Berlin hat eindringlich
auf die Nöte der Schmerzpatienten und
-ärzte hingewiesen. (Außer dem VDÄA waren keine schmerzbezogenen Verbände oder
Gesellschaften dabei.) Nachdem die im Auftrag der KBV erstellten Analysen die Schwächung der Schmerzzentren bestätigt hatten
(Dr. Köhler: „Das Gegenteil war beabsich­
tigt“), konnten Gespräche über die Neuordnung des Kapitels Schmerztherapie aufgenommen werden.
Diese neuen Verhandlungen ab November
2006 kamen auf dankenswerte Vermittlung
von Herrn Dieter Bollmann, dem Vorstandsvorsitzender der KV Hamburg, zustande und
waren von Anfang an durch eine diesmal
vertrauensvolle Zusammenarbeit und den
Willen zur positiven Veränderung gekennzeichnet.
Die verschiedenen neueren und neuen Berufsverbände hatten keine einheitlichen Positionen zu den anstehenden Fragekomplexen.
Unsere bekannte Position war, dass wir
besondere Patienten mit hohem Betreuungs- und Zeitaufwand und maximaler Problemschwere zu betreuen haben, deren Ver-
sorgung in algesiologischen Spezialpraxen
besondere Aus- und Weiterbildung, auf diese
Patienten ausgerichtete Praxisstrukturen und
das dafür notwendige Geld erfordert.
Unsere Vorstellungen und die der Kassenärztlichen Bundesvereinigung waren anfangs
nicht kongruent. Sie näherten sich im Verlauf der
konstruktiven Gespräche jedoch an, bis Herr Dr.
Köhler mir auch öffentlich versicherte: „Die versprochenen Verbesserungen werden kommen.
Darauf können Sie sich verlassen.“
Die Vorstellungen der Krankenkassen
waren anfangs von weitgehender Unkenntnis über die Problemschwere chronisch
Schmerzkranker geprägt, obwohl sie von uns
mit entsprechenden Informationen versorgt
worden waren. Wegen des Wechsels der
handelnden Personen, auch aufgrund der
geänderten gesetzlichen Vorgaben, waren
noch bis zum Vorabend der letzten Entscheidung des Arbeitsausschusses am 31. Oktober
2007 eingehende Gespräche mit den neuen
Verhandlungspartnern und schriftliche Aufklärungen notwendig, um deren Zustimmung
zum neuen Konzept der KBV zu erhalten.
Dietrich Jungck,
Hamburg
Teilnahme des VDÄA an den Ärzteprotesten 2006 in Berlin.
21
Berufspolitik
Im Einzelnen:
Die Präambel stellt klar, dass die Positionen
30700 und 30702 an die Genehmigung der
KV für die Teilnahme an der Qualitätssicherungsvereinbarung Schmerztherapie und an
den Nachweis von Schmerzkonferenzen gebunden sind.
Die fachlich nicht sinnvollen Ausführungen
zur Erwägung psychiatrischer bzw. psychotherapeutischer Mitbehandlungen sind leider
geblieben, ebenso die problemwidrige Begrenzung der Behandlungsdauer chronisch
Schmerzkranker auf zwei Jahre.
Die sinnvolle Begrenzung der Patientenzahl auf 300 ist geblieben.
Zur Berechnungsfähigkeit der Nr. 30704
listet die Präambel unter den Nrn. 4, 5 und 6
die Bedingungen auf.
Die Ausführungen über die Berechtigung
zur Erbringung der Leistungen nach den Nrn.
30790 und 30791 stehen bereits seit Juni
2007 in dieser Präambel.
Eigene, versorgungs- und tätigkeitsbezogene Grundpauschale
Mit der GOP 30700 gibt es endlich eine
eigenständige Grundpauschale für die Behandlung von Patienten im Rahmen der Qualitätssicherungsvereinbarung Schmerztherapie. Mit der Einführung dieser Leistung werden ab sofort gleiche schmerztherapeutische
Grundleistungen gleich vergütet; es kommt nicht
mehr darauf an, welchem (früheren) Fachgebiet
der Schmerztherapeut angehört. Damit sind
endlich unsere Forderungen nach Eigenständigkeit in der Gebührenordnung erfüllt.
Allerdings ist die Bewertung mit 685
Punkten, obwohl deutlich besser als die der
bisherigen Ordinationskomplexe, noch nicht
ausreichend. In dieser Gebührenordnungsposition sollen nun auch Briefe und alle Konsultationen des Quartals enthalten sein (Einzelheiten im Verzeichnis der nicht gesondert
berechnungsfähigen Leistungen, Anhang 1
des EBM). Diese Nr. ist mit einer Quartalsprüfzeit von 20 Minuten versehen.
Zusatzpauschale für die algesio­
logische Versorgung
Die GOP 30702 ersetzt die bisherigen Nrn.
30700 und 30701. Historisch haben diese
Leistungen im EBM die früheren Schmerztherapievereinbarungen abgelöst, die seit 1991
(in Hamburg) und 1994 (bundesweit für Angehörige der Ersatzkassen) auf Initiative des
VDÄA die Versorgung Schmerzkranker außerhalb des EBM geregelt hatten.
Die Vergütung nach dieser Position 30702
deckt sowohl die Erstaufnahme von Schmerzkranken als auch deren Weiterbetreuung ab.
22
Es wird den betreuenden Schmerztherapeuten leichter gemacht, die notwendige Versorgung auch nach der Erstdiagnostik selbst
weiterzuführen. Es ist nicht mehr lukrativer,
Patienten nach dem abgerechneten Erstkontakt weiterzuverweisen.
Die Leistungen der Nr. 30702 werden zum
großen Teil ohne Patientenkontakt erbracht;
die Zeitprüfung (Kalkulationszeit 40, Prüfzeit
32 Minuten) erfolgt deshalb nur im Quartalsprofil. Wird die Nr. 30702 jedoch im zeitlichen Zusammenhang mit der Erörterungsziffer 30708 abgerechnet, verlängert sich die
Prüfzeit für beide auf mindestens 70 Minuten
an diesem Tag, was nicht verständlich ist.
Förderung von Schmerzzentren
Mit der GOP 30704 soll der besondere Aufwand in Schmerzzentren abgedeckt werden.
Wer mindestens 75% seiner Patienten nach
der Qualitätssicherungsvereinbarung Schmerztherapie und mindestens 150 dieser Schmerzkranken betreut, außerdem zehn Schmerzkonferenzen im Jahr nachweisen kann, darf diese
Position abrechnen. Voraussetzung ist jedoch,
dass der notwendige Antrag von der KV positiv
beschieden worden ist. Deshalb haben wir unseren Mitgliedern rechtzeitig geraten, noch vor
dem 1. Januar den Antrag auf Anerkennung als
schmerztherapeutisches Zentrum zu stellen
(Einzelheiten s. Tab. 1).
Diese Förderung ist als Konsequenz aus
der Benachteiligung solcher Praxen durch
den EBM 2000plus eingeführt worden. Ob
die Bewertung ausreicht, um die Unterversorgung zu beenden, muss sich zeigen.
Die GOP 30702 und 30704 werden extrabudgetär vergütet. Die Bundesempfehlung
aus dem Jahr 2005, die für die früheren Nrn.
30700 und 30701 abgeschlossen worden war,
wurde den neuen Gegebenheiten angepasst
und fortgeschrieben. Der jeweilige Punktwert
ist regional zwischen der KV und den Krankenkassen vertraglich zu vereinbaren.
Die neue GOP 30706 ist sehr zwiespältig
zu sehen. Einerseits ist es erfreulich, dass
eine Position zur Abgeltung der notwendigen
und obligatorischen Schmerzkonferenzen
eingeführt wurde, zum anderen sind Bezeichnung und Bewertung eine Herabsetzung der Schmerztherapie. Die „Schmerztherapeutische Fallkonferenz“ ist keinesfalls
Tabelle 1: Bedingungen für die Anerkennung als schmerztherapeutisches
Zentrum (für die Abrechnung der Nr. 30704):
■ Das
Behandlungsspektrum des schmerztherapeutischen Zentrums umfasst mindestens
folgende Schmerzkrankheiten:
■ Chronische muskuloskelettale Schmerzen
■ Chronische Kopfschmerzen
■ Gesichtsschmerzen
■ Ischämieschmerzen
■ Medikamenteninduzierte Schmerzen
■ Neuropathische Schmerzen
■ Sympathische Reflexdystrophien
■ Somatoforme Schmerzstörungen
■ Tumorschmerzen
■ Es
sind sämtliche der unter § 6 Abs. 1 und mindestens drei der in § 6 Abs. 2 der Qualitätssicherungsvereinbarung Schmerztherapie genannten Verfahren eigenständig vorzuhalten.
■ Der
Vertragsarzt hat an mindestens zehn interdisziplinären Schmerzkonferenzen mit Patientenvorstellung im Kalenderjahr teilzunehmen (Nachweis auf Verlangen der KV), außerdem
■ an
mindestens 30 Stunden algesiologischer Fortbildung pro Kalenderjahr (Nachweis auf Verlangen der KV).
■ Es
werden ausschließlich bzw. weit überwiegend chronisch schmerzkranke Patienten entsprechend der Definition der Präambel und des § 1 Abs. 1 der Qualitätssicherungsvereinbarung
Schmerztherapie behandelt – mindestens 75% der Patienten.
■ Es
sind regelmäßig mindestens 150 chronisch schmerzkranke Patienten im Quartal zu betreuen.
■ Es
werden an vier Tagen pro Woche mindestens je vier Stunden schmerztherapeutische Sprechstunden abgehalten, in denen ausschließlich Patienten mit chronischen Schmerzkrankheiten
behandelt werden.
■ Die
Gesamtzahl der schmerztherapeutisch betreuten Patienten darf die Höchstzahl von 300 Behandlungsfällen pro Vertragsarzt pro Quartal nicht überschreiten (Ausnahmen nach Genehmigung durch die KV).
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Berufspolitik
Tabelle 2: Sehr deutlich fällt die Bevorzugung der Akupunktur auf
GOP 30790 Akupunktur-Eingangs- 1135 P
und Abschlussuntersuchung*
GOP 30702 Schmerztherapie- Zusatzpauschale** 1060 P
GOP 30791 Körperakupunktur-
510 P
Sitzung
GOP 30720 Analgesie
eines Hirnnerven
265 P
*Zusätzlich zur fachspezifischen **Nicht neben einer anderen Grundbzw. Versichertenpauschale, wenn
GOP 30700 abgerechnet wurde
Grund- bzw. Versichertenpauschale
Vor- und Nachbereitungszeit). Eine solche
Missachtung unserer Tätigkeit können wir so
nicht hinnehmen. Dass die Krankenkassen
in den EBM-Verhandlungen bei der Bewertung so krass von dem abweichen, was sie
im Rahmen des ISK-Vertrages („Vertrag zur
Etablierung und Erprobung interdisziplinärer
Schmerzkonferenzen“) an Vergütung vereinbarten, kann nur bedeuten, dass wir die
Patienten von an der ISK-Vereinbarung teilnehmenden Kassen bei den Schmerzkonferenzen vorziehen sollen. Die Nr. 30706 wird
darum wohl sehr selten in den Abrechnungen
auftauchen.
Leider kommt der Vorschlag zu dieser Legende mit zugehöriger Bewertung aus den
Reihen der Schmerztherapeuten selbst; hier
wird wieder einmal deutlich, dass man mit
Naivität und ohne den notwendigen Sachverstand Unheil anrichten kann.
Eigene Beratungsleistung
Auch mit der GOP 30708 Beratung und Erörterung und/oder Abklärung im Rahmen
der Schmerztherapie wurde eine unserer
wesentlichen Forderungen erfüllt und von der
KBV gegenüber den Kassen durchgesetzt.
Wir haben endlich eine versorgungsspezifische Erörterungs- und Abklärungsposition,
die ausschließlich im Rahmen der Schmerztherapie nach der Qualitätssicherungsverein-
barung Schmerztherapie berechenbar ist. Die
Bewertung lässt mit 255 Punkten pro 10 Minuten noch zu wünschen übrig. Wir streben
eine dem Schwierigkeitsgrad und der Problemschwere angemessene Honorierung
analog zum psychiatrischen Gespräch (Nr.
21220 – 385 Punkte) an, was uns in einzelnen
KV-Bereichen bisher zugestanden wird.
Andere schmerztherapeutische
Behandlungen
Die weiteren Leistungslegenden unter 30.7.2
Andere schmerztherapeutische Behandlungen sind weitgehend unverändert geblieben. Es ist lediglich eine leichte Anhebung der
„Bepunktung“ zu verzeichnen – wie bei anderen Leistungen im übrigen EBM auch. Bezüglich Änderungen haben sich die Krankenkassen bisher Vorschlägen, die auch sicherheitsrelevant und qualitätsverbessernd sind, ablehnend gezeigt. Es besteht noch keine Bereitschaft, für Sicherheit und Qualität mehr
Geld auszugeben. Auch die Notwendigkeit
der Einführung „neuer“ Leistungen, die in
Schmerzzentren selbstverständlich sind, wird
noch nicht anerkannt.
Kritik
Nachholbedarf für die Krankenkassen
Die Kassen wollen zwar eine „kostenneutrale“
Lösung, können aber so einen Versorgungs-
Bildarchiv Jungck
eine Schmerzkonferenz nach § 5 Abs. 3 der
Qualitätssicherungsvereinbarung.
„Der Arzt muss mindestens achtmal im
Jahr an einer interdisziplinären Schmerzkonferenz teilnehmen. Folgende Anforderungen
müssen von einer interdisziplinären Schmerzkonferenz erfüllt werden:
■ Die Konferenzen müssen mindestens achtmal im Jahr stattfinden.
■ Ort, Daten und Uhrzeit der Schmerzkonferenzen stehen fest, so dass sich die Ärzte
auf die regelmäßige Teilnahme einrichten
können.
■ Die Konferenzleiter müssen die Voraussetzungen zur Teilnahme an der Schmerztherapie-Vereinbarung erfüllen.
■ Vertreter mehrerer Fachgebiete sollen an
den Sitzungen teilnehmen (können).
■ Ausgewählte Patienten sollen in den Sitzungen vorgestellt werden und anwesend
sein.
■ Die Schmerzkonferenzen sind zu dokumentieren (Datum, Teilnehmer, vorgestellte Patienten mit Diagnosen und weiterem Vor­
gehen)“.
Die in der Legende herangezogene Definition nach Anlage 1 Nr. 4 Qualitätssicherungsvereinbarung Schmerztherapie stimmt ebenfalls nicht mit der „Fallkonferenz“ überein;
sie lautet: „Es müssen mindestens zwölfmal
im Jahr nach außen offene, interdisziplinäre
Schmerzkonferenzen mit Patientenvorstellung
durchgeführt werden. Thema und Teilnehmer
sind zu dokumentieren, die Patienten werden
persönlich vorgestellt, die Teilnehmer unterliegen der Schweigepflicht, Ort, Daten und
Uhrzeit dieser Konferenzen stehen fest.“
Die „Bewertung“ mit 130 Punkten ist grob
unangemessen; als Kalkulationszeit ist eine
Zeit von 5 Minuten angegeben – bei einer tatsächlichen Konferenzdauer von mindestens
60 Minuten pro Patient (ohne die notwendige
Engagiert bei den Ärzteprotesten auch Dr. Thomas Flöter, Dr. Erika Höhne, Dr. Bruno Kniesel ...
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
23
Berufspolitik
bereich, der kaum zu 20% gedeckt ist, nicht
aus den roten (Versorgungs-)Zahlen holen.
Auf Kassenseite besteht noch erheblicher
Nachholbedarf in Kenntnissen über Patienten
mit chronischen Schmerzkrankheiten. Es ist
nur rudimentäres Verständnis für die Problemschwere dieser Patientengruppe vorhanden.
Das liegt sicher auch daran, dass sie diese
nach den ICD-Ziffern kaum identifizieren können. (Was nicht kodierbar ist, gibt es nicht.) Es
fehlt nach wie vor eine eindeutige Kodierung
nach Chronifizierungsstadium (nach Gerbershagen). Wenn sich die Vertreter der Rentenversicherung dieser Kodierung nicht verwehrt
hätten, wäre auch dieses Problem längst gelöst. Dass die KBV und der Spitzenverband
der Krankenkassen die Kennzeichnung der
Chronifizierungsstadien im Rahmen der ICDKodierung unterstützen, sei nur am Rande
erwähnt. Dann wäre der Weg frei zu von uns
seit Jahren vorgeschlagenen qualitätsgesicherten Gebührenordnungspositionen, die
an den Schweregrad der Schmerzkrankheit
gekoppelt sind.
Schmerzärzte sind sich dieses Problems
kaum bewusst. Wir sollten deshalb alle unsere chronisch Schmerzkranken mit der Verschlüsselung F62.80 („Andauernde Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerzsyndrom“) nach ICD 10-G kennzeichnen. Dies
ist für Kassen und KVen bisher die einzige
Möglichkeit, chronisch Schmerzkranke zu
identifizieren.
Die KBV hatte in die Verhandlungen mit den
Krankenkassen deutlich höhere Bewertungsvorschläge eingebracht, die sich fast mit den
von uns vorgeschlagenen deckten; die Kassen haben sich diesen notwendigen Bewertungen bisher leider verweigert; es fehlt noch
die Einsicht, dass eine der Problemschwere
und den Anforderungen an Schmerzärzte angemessene Vergütung für eine Beendigung
der Unterversorgung unabdingbar ist.
Die Diskrepanzen in manchen Bewertungen sind offensichtlich. Für Akupunktur
wird z. B. weit mehr bezahlt als für die qualifizierte algesiologische Versorgung (Tab. 2).
Hinzu kommt noch, dass zusätzlich zu den
außerbudgetär abzurechnenden Gebühren
der „Kassenakupunktur“ auch die Versicherten- und Grundpauschalen des jeweiligen
Faches anzuschreiben sind. Neben der algesiologischen Grundpauschale nach Nr. 30700
hingegen ist keine andere Grund- oder Versichertenpauschale möglich.
24
Positiv zu bewerten:
Der VDÄA konnte fast das maximal Mögliche
für Algesiologen und die Versorgung chronisch Schmerzkranker erreichen. Damit ist
wieder ein Meilenstein auf dem Weg der Geschichte der Schmerztherapie errichtet.
Über die Grundpauschalen und Zuschläge
sind jetzt pro Jahr 9520 Punkte abrechenbar –
gegenüber 4940 bisher. Auch Ärzte, die nicht
die Zuschläge nach Nr. 30704 abrechnen können oder wollen, können mit 6980 Punkten
ein deutliches Plus verzeichnen.
Über die noch offenen Punkte laufen die
Gespräche, auch über den EBM 2009, der
den jetzigen ablösen wird.
Jetzt „nur noch“ die gleichen
Probleme wie andere Arztgruppen
Wir sind jetzt im EBM den anderen Arztgruppen gleichgestellt. Die Probleme, die wir jetzt
noch haben, entsprechen denen anderer
Fach- und Versorgungsbereiche. Die Unterfinanzierung des Gesundheitswesens, das der
ärztlichen Versorgung immer mehr Geld ent-
Tabelle 3: Mit dem EBM 2008 wurde
für Algesiologen erreicht:
■ Eigenständige
Grundpauschale für die
algesiologische Versorgung (30 700)
■ Zusatzpauschale
Schmerztherapie ohne
Differenzierung nach Erst- und Folgequartal (30 702)
■ Zuschlag für die Versorgung in Schmerzzentren (30 704)
■ „Schmerztherapeutische Fallkonferenz“ –
nicht: „Schmerzkonferenz“ (30706)
■ Eigene schmerztherapeutische Erörterungsleistung (30708)
■ Leichte Höherbewertung der anderen
schmerztherapeutischen Behandlungen
■ Erstmals eine wirtschaftliche Basis
für algesiologische Tätigkeit
zieht und in andere Kanäle lenkt, wird sich
zunehmend bemerkbar machen und zu einer
Zunahme der Rationierung führen.
Auch wenn der VDÄA nur seinen Mitgliedern verantwortlich ist, werden sich – wie in
den vergangenen 20 Jahren – auch andere
an den Früchten unserer Arbeit freuen. Es ist
auch nicht auszuschließen, dass sich andere wieder diese Verdienste an die Fahnen zu
heften versuchen.
Wir sind mit dem zurzeit Erreichten recht
zufrieden (Tab. 3). Nach den 20 Jahren, in
denen unser Anliegen keine Priorität hatte,
freuen wir uns, dass bei den jetzigen Verhandlungen die Änderung der Vergütung der
Schmerztherapie als einziger Versorgungsbereich auf der Prioritätenliste der KBV für das
Jahr 2007 ganz oben stand.
Wieder ein Meilenstein auf unserem Weg,
aber noch nicht der letzte ...
❏
Dietrich Jungck, Hamburg
Bildarchiv Jungck
Regelleistungsvolumina
Die Berechnungsgrundlagen für Regelleis­
tungsvolumina haben sich durch das neu gestaltete Kapitel Schmerztherapie und die
Einführung neuer Positionen grundlegend geändert. Diese neuen Grundlagen erfordern,
dass die Regelleistungsvolumina den neuen
Gegebenheiten angepasst werden. Sonst
wird weiterhin schon beim Ersttermin das
Punktekontingent überschritten, sodass die
weiteren Behandlungen umsonst erbracht
werden müssen.
Es wäre nicht solide, höher bewertete und
neue Leistungspositionen einzuführen, dies
aber bei den Regelleistungsvolumina nicht
zu berücksichtigen und durch die Hintertür
wieder einzukassieren.
Jetzt kommt es darauf an, mit welchem
medizinischen Sachverstand und ethischen
Wollen die einzelnen KVen die Umsetzung
betreiben ...
Schmerzpatienten und Schmerzärzte protestieren gemeinsam in Berlin.
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Dokumentation
Dokumentation: Therapeutisches Muss,
kein bürokratischer Unsinn!
D
ie Verwendung standardisierter Dokumentationsinstrumente ist eine der
Voraussetzungen zur Teilnahme an der
Qualitätssicherungsvereinbarung Spezielle
Schmerztherapie. Als standardisierte Instrumente wurde seitens DGS und DGSS hierfür
eine Reihe validierter Fragebogen in Form
des sog. Deutschen Schmerzfragebogens
(DSF) zusammengefasst, der – ergänzt durch
das Deutsche Schmerztagebuch (DST), eine
Zwischendokumentation und ein Datenblatt
zur Dokumentation veranlasster Maßnahmen
– seit nunmehr über zwei Jahren von der Geschäftsstelle der Deutschen Gesellschaft für
Schmerztherapie in Oberursel bezogen werden kann.
Kontinuierlich und zeitnah
Obwohl bereits der Einsatz derartiger Standards den gesetzlichen Anforderungen grundsätzlich genügt, entfaltet erst die kontinuierliche und zeitnahe elektronische Aufbereitung
der dokumentierten Daten das wahre Potenzial dieser Instrumente für die tägliche Arbeit in Praxis und Klinik. Hierfür empfiehlt die
Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie
ein spezielles Softwaresystem (PainSoft),
über welches die dokumentierten Daten zügig elektronisch erfasst, analysiert, aufbereitet und insbesondere für therapeutische
Ent­scheidungen optimal genutzt werden
können.
Erfassungstool
Im praktischen Alltag erweist sich PainSoft
nicht nur als ideales Erfassungs- und Bearbeitungstool für die DGS-Version des Deut­
PainSoft® DGS
Ihre Software zur vollständigen und
schnellen Erfassung schmerztherapeutisch
relevanter Patienteneingaben
■
■
■
im Deutschen Schmerzfragebogen
im Schmerztagebuch
in der Zwischendokumentation
Ihr Nutzen mit PainSoft DGS
■ Daten verbleiben nur in Ihrer Praxis
■ kein externer Zugriff auf Daten möglich
■ enorm schnelle Erfassung und Speicherung
■ standardisierte Verlaufsdokumentation auf Knopfdruck
■ zusätzlicher Fragenkomplex zu Neuropathischen Schmerzen
■ Übersichtliche grafische Aufbereitung der Daten zur besseren Therapiekontrolle
Wir gewähren 5% Rabatt bei Abnahme von mindestens 10 Software-Paketen.
Nutzen Sie die Möglichkeit einer Sammelbestellung.
Informieren Sie sich unter: http://www.deutscher-schmerzfragebogen.de
schen Schmerzfragebogens, sondern auch als
umfangreiches Instrumentarium zur Entwicklung eigener oder zur Erfassung be­reits
vorhandener Fragebogeninstrumente. Dabei
sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt
und die Erstellung und elektronische Erfassung eigener Dokumentationsinstrumente
bereits nach kurzer Einarbeitung problemlos
möglich, wodurch sich beständig neue Perspek­
tiven für die alltägliche Nutzung ergeben.
Praxistauglich
Umfangreiche wissenschaftliche Untersu­
chungen und kontinuierliche Evaluationen im
Rahmen verschiedenster Versorgungsprojekte belegen nicht nur die Praxistauglichkeit des Systems und eine entsprechende
Prozessoptimierung im klinischen Alltag,
sondern zeigen darüber hinaus insbesondere
auch, dass durch die Verwendung standardisierter DGS-Dokumentationsinstrumente in
Verbindung mit dem zugehörigen Softwaresystem PainSoft die Ergebnisqualität in der
Behandlung chronisch schmerzkranker Menschen entscheidend verbessert werden kann.
❏
Michael Überall, Nürnberg
Deutscher Schmerzpreis 2007 für den Schmerzforscher Toni Yaksh
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Foto E. Andonovic
Mit dem Deutschen Schmerzpreis 2007 wurde der
amerikanische Schmerzforscher Prof. Dr. Toni
Yaksh, San Diego, USA, ausgezeichnet, dessen
Arbeiten u. a. wegbereitend waren für die spinale
oder epidurale Analgesie und die Aufklärung der
Pathomechanismen von Tumorschmerzen. Bei der
Preisverleihung im Rahmen des Innovationsforums
in Köln sehen Sie (v. l. n. r.): Harry Kletzko, Deutsche Schmerzliga; Thomas Nolte, Vizepräsident
DGS; Birgit Steinhauer, Mundipharma; Toni Yaksh,
San Diego, Deutscher Schmerzpreisträger 2007;
Gerhard Müller-Schwefe, Präsident DGS, und Michael Überall, Vizepräsident DGS.
25
Bücherecke
Essen als Abenteuer
 Dieser Ernährungsratgeber für die Familie erläutert anschaulich und
gut bebildert, wie gesunde Ernährung in der Familie umgesetzt werden
kann. Das Buch enthält viele alltagstaugliche Tipps für die ganze Familie
und beantwortet Fragen wie: Was ist Genfood? Wie kann ich meine Kinder von Anfang an für gesunde Ernährung begeistern? Geschichten wie
die von den Zuckerzwergen und Knochenriesen bereiten Spaß und zeigen spielerisch auf, welche Auswirkungen Zucker auf die Knochenbildung hat. Der Ratgeber von der Barmer Krankenkasse vermittelt in zehn
liebevoll illustrierten Kapiteln Wissenswertes, Neues und Spannendes
rund um das brisante Thema „Ernährung“. Er kann im Buchhandel und
direkt über den Verlag Mehr Zeit für Kinder e.V., Verlag, Frankfurt/Main
StK
069/156896-0, www.mzfk.de. bezogen werden. „Essen – ein Abenteuer?!“ 128 S., ISBN 978-9811056-3-6M Hardcover; 14,80 Euro; Mehr Zeit für
Kinder e.V., Verlag, Frankfurt/Main.
Arztschicksal zum Nachdenken
 In diesem autobiografischen Werk schildert der Arzt und Schriftsteller Mathias Schröder das Leben des Münchener Arztes Marin, begonnen
von der Kriegskindheit 1943 bis zur Jahrtausendwende. Teil 1 der Trilogie
,„Der Krähenbaum“, schildert eine Kindheit mitten im Naziterror, der die
gesamte Familie mit ihren jüdischen Freunden bedroht, und ist tragisch
überschattet durch den Bombenteppich der letzen Kriegstage. Im zweiten Teil „Lampedusa“ schildert er ein modernes Eheschicksal. Die erste
Ehe des Romanhelden Marin ist gerade gescheitert und er flüchtet, um
Abstand zu gewinnen, nach Lampedusa, die südlichste Insel Europas.
Der dritte Teil „Sinai“ schildert die zweite harmonische Ehe des Münchener Arztes, die jedoch später unter dem Burn-out der Ehefrau
schwieriger wird. Schließlich erleidet die Ehefrau im wohlverdienten Urlaub auf dem Sinai einen schweren Schlaganfall.
Eine Lektüre, die sich spannend wie ein Krimi liest und dessen erster Teil bereits für das
ZDF verfilmt wurde, eignet sich speziell für Hausärzte, da sie vielfach den altbekannten Alltag
StK
eindrucksvoll vor Augen führt.
Mathias Schröder: Marin. Romantrilogie. 424 S., 12,90 €, ISBN 3-9809144-4-5, 2004, Verlag edition
Rester, Utting am Ammersee.
Wenn das Knie schmerzt
 Verletzungen und degenerative Erkrankungen im Kniegelenk zählen
zu den häufigsten Beschwerden, die die Betroffenen zu Orthopäden und
vielfach dann auch zu Schmerztherapeuten führen. Eine Rückkehr zum
Sport nach sporttraumatologischen Befunden gelingt meist nur, wenn
Diagnostiker, Operateur und Physiotherapeuten eng zusammenarbeiten.
Dieses moderne Übersichtswerk rund um alle Knieverletzungen soll Profi-, Amateursportlern und auch Nichtsportlern mit schmerzhaften Knien
dazu dienen, die medizinischen Grundbegriffe sowie die diagnostischen
und therapeutischen Maßnahmen verständlich zu erklären.
Die DVD erläutert mit Kurzfilmen den Hergang von Verletzungen,
verschiedene Operationstechniken und illustriert, wie die optimale KnieRehabilitation nach einer Kreuzbandplastik auszusehen hat. Dass dies
in praxi funktioniert, schreiben Weltmeister im Nachwort, die ihre Rückkehr auf die Sportarena
dem Wiener Sporttraumatologen verdanken.
Ein durch und durch gelungenes Werk, das sich bei der Aufklärung für Knieoperationen
StK
hervorragend nutzen lässt und eigene anatomische Defizite schließt.
Rudolf Schabus, Elisabeth Bosina: Das Knie. Diagnostik – Therapie – Rehabilitation. 164 S., Mit DVD. Geb.
Eur 99,95, 2007. ISBN 978-3-211-29686-8. Springer Verlag, Wien, New York.
26
Impressum
Organ der Deutschen Gesellschaft für
Schmerztherapie
Herausgeber
Gerhard H. H. Müller-Schwefe,
Schillerplatz 8/1, D-73033 Göppingen
Tel. 07161/976476 · Fax 07161/976477
E-Mail: [email protected]
Schriftleitung
Thomas ­Flöter, Frankfurt; Olaf Günther, Magdeburg;
Dietrich Jungck, Hamburg; Uwe Junker, Remscheid;
Stephanie Kraus (verantw.), ­Stephans­kirchen, Tel.:
08036/1031; Thomas Nolte, Wiesbaden; Michael
­Überall, Nürnberg
Beirat
Joachim Barthels, Bad Salzungen; Christoph Baerwald,
Leipzig; Wolfgang Bartel, Halberstadt; Heinz-Dieter ­Basler,
Marburg; Günter Baust, Halle/ Saale; Klaus Borchert,
Greifswald; Burkhard Bromm, Hamburg; Kay ­Brune,
Erlangen; ­Thomas Cegla, Wuppertal; Mathias ­Dunkel,
Wiesbaden; Oliver Emrich, Ludwigs­hafen; Gerd Geiss­linger,
Frankfurt; Hartmut Göbel, Kiel; Henning Harke, Krefeld;
Ulrich Hankemeier, Bielefeld; Winfried Hoerster,
Gießen; Stein Husebø, Bergen; Klaus Jork, Frankfurt;
Uwe Kern, Wiesbaden; Edwin Klaus, ­Würzburg;
Eberhard Klaschik, Bonn; Lothar ­Klimpel, Ludwigs­hafen;
Bruno Kniesel, Hamburg; Marianne Koch, Tutzing;
Bernd Koßmann, Wangen; Peter Lotz, Bad Lippspringe;
Eberhard A. Lux, Lünen; Christoph Müller-Busch, Berlin;
Robert ­Reining, Passau; Robert F. Schmidt, Würzburg;
Günter ­Schütze, Iserlohn; Hanne ­Seemann, ­Heidelberg;
Ralph Spintge, Lüdenscheid; Birgit Steinhauer, Limburg;
­Georgi Tontschev, Bernau; Roland Wörz, Bad Schönborn; Henning Zeidler, Hannover; Walter Zieglgänsberger, München; Manfred Zimmermann, Heidelberg
In Zusammenarbeit mit: Deutsche Gesellschaft für
Algesiologie – Deutsche Gesellschaft für Schmerzforschung und Schmerztherapie; Deutsche Akademie
für Algesiologie – Institut für schmerztherapeutische
Fort- und Weiterbildung; Deutsche Gesellschaft für
interdisziplinäre Palliativversorgung e. V.; Deutsche
Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e.V. (DGSS);
Deutsche Schmerzliga e.V. (DSL); Gesellschaft für algesiologische Fortbildung mbH (gaf mbH); Gesamtdeutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin e.V. (GGMM);
Institut für Qualitätssicherung in Schmerztherapie und
Palliativmedizin (IQUISP); Verband Deutscher Ärzte für
Algesiologie – Berufsverband Deutscher Schmerztherapeuten e.V.
Mit der Annahme eines Beitrags zur Veröffent­lichung
erwirbt der Verlag vom Autor alle Rechte, insbesondere
das Recht der weiteren Vervielfältigung zu gewerblichen Zwecken mithilfe fotomechanischer oder anderer
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­einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt.
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Bezugspreis: Einzelheft 12,– Euro; Abonnement für
4 Ausgaben pro Jahr 40,– Euro (zzgl. Versand, inkl.
MwSt.). Der Mitgliedsbeitrag der DGS schließt den
Bezugspreis der Zeitschrift mit ein. Die Zeitschrift erscheint im 24. Jahrgang.
Verlag: © ­URBAN & VOGEL GmbH, München,
Februar 2008
Leitung Medical Communication:
Ulrich Huber (verantw.)
Schlussredaktion: Dr. Brigitte Schalhorn
Herstellung/Layout: Maren Krapp
Druck: Vogel Druck und Medienservice GmbH & Co.
KG, Höchberg
Titelbild: Portfolio Borstelmann
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Der Schmerzfall aus der Praxis
Tumorschmerzen
Gastrointestinale Nebenwirkungen von Opioiden wie Übelkeit, Völlegefühl,
Obstipation und saures Aufstoßen wie auch Darmkrämpfe limitieren für
viele Patienten mit opioidpflichtigen Schmerzen eine eigentlich wirksame
Therapie. Die frühzeitige Gabe von retardiertem Oxycodon mit Naloxon
eröffnet für diese Patienten neue Perspektiven für eine nebenwirkungsarme
und effektive Schmerztherapie, schildert Dr. med. Gerhard Müller-Schwefe,
Göppingen, anhand einer Patientin mit starken Tumorschmerzen.
m Montagmorgen ruft der aufgelöste
Ehemann einer Patientin an, das Wochenende sei schrecklich gewesen, der ärztliche Notdienst habe viermal kommen und
Morphium spritzen müssen, da die Tumorschmerzen unerträglich gewesen seinen. Der
Notdienst habe ihm geraten, schmerztherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Im Gespräch stellt sich heraus, dass die
38-jährige Ehefrau wie auch er selbst völlig
verzweifelt und hoffnungslos sind, nachdem
eine Schmerztherapie für die Patientin nach
ihren Erfahrungen nicht verfügbar ist. Noch
am gleichen Tag wird die Patientin liegend in
unser Schmerzzentrum gebracht.
Anamnese und Vortherapie: Bei der 39-jährigen Mutter einer 12-jährigen Tochter war im
Februar 2005 ein Mammakarzinom diagnostiziert worden. Nach zunächst brust-erhaltender Tumorresektion im März 2006 Ablatio
mammae. Im August 2007 traten zunehmend
atemabhängige Schmerzen auf, als deren
Ursache sich Pleurametastasen herausstellten. Da die Patientin nach jeder operativen
Maßnahme unter einem massiven Kräfteund Energieverlust litt, beschloss sie, keine
weiteren Operationen mehr zuzulassen. Dauerschmerzen bestünden vor allem zwischen
den Schulterblättern mit Ausstrahlung in den
gesamten Rücken.
In den folgenden Wochen seien alle möglichen entzündungshemmenden Schmerzmittel versucht worden, ohne den Schmerz
auch nur einigermaßen erträglich zu machen.
Daher sei nach sechs Wochen auf transdermales Fentanyl umgestellt worden. Bei Gabe
von 25 µg/Stunde kam es immer wieder zu
massiven Durchbruchschmerzen. Metamizol
als Escape-Medikation war völlig unwirksam.
Erst nachdem von der Brückenpflege
nicht retardierte Morphinsulfat­tabletten als
Notfallmedikation empfohlen worden waren,
Besserung der Schmerzsituation bei einem
Verbrauch von täglich 8 Tabletten à 20 mg.
Deshalb wurde die Fentanyldosis auf 50 µg/
Stunde verdoppelt. Hierunter kam es von Anfang an zu starker Übelkeit, Inappetenz und
massivster Obstipation, die auch unter La-
SCHMERZTHERAPIE Nr. 1/2008 (24. Jg.)
Foto Archiv
A
Mit Targin zurück ins Leben.
xanzien wie Macrogol nicht zu beherrschen
war. In den folgenden zwei Monaten seien
die Schmerzen zwar erträglicher gewesen,
aufgrund von Übelkeit, Erbrechen und Obstipation jedoch Gewichtsverlust von 20 kg, was
einherging mit einem weiteren Kräfte- und
Energieverlust. Deshalb erfolgte in Eigenregie
Reduktion der Opiatdosis.
Bei der Erstvorstellung im Schmerzzentrum berichtet die Patientin, dass die Therapie bis vor zwei Tagen aus Fentanyl-Pflaster
25 µg/Stunde betragen habe. Sie sei dann
zurückgegangen auf 2 x 30 mg Morphinsulfat­
tabletten retardiert, unter denen sie jedoch die
gleichen quälenden Magen-Darm-Symptome
habe wie unter der Pflastertherapie. Die Aussicht, ihr Leben nun qualvoll zu Ende bringen
zu müssen, lässt sie verzweifeln.
Befund
Dies spiegelt sich wider in der Auswertung
des Deutschen Schmerzfragebogens, in dem
nicht nur eine hohe Schmerzintensität (90 auf
der VAS 100) auffällt bei Erträglichkeitsniveau
20, sondern vor allem auch eine ausgeprägte
Angststörung (HADS Dimension Angst) und
eine massive Einschränkung der globalen Lebensqualität durch Schmerzen (QLIP).
Bei der körperlichen Untersuchung fand sich
bei der 175 cm großen, 53 kg schweren Patientin ein prall gefülltes Abdomen mit spärlichen Darmgeräuschen, teilweise prall gefüllte Darmschlingen tastbar. Ausgeprägte
Dyspnoe bei Zwerchfellhochstand.
Therapie und Verlauf
Angesichts der hervorragenden analgetischen
Wirksamkeit von Opioiden bei dieser Patientin
kam nur eine besser verträgliche Opioidtherapie in Betracht. Die Patientin erhielt deshalb
Oxycodon in Verbindung mit Naloxon (Targin®)
2 x täglich 20 mg. Als Antiemetikum wurden
Haloperidol-Tropfen gegeben.
Am Abend des ersten Tages stellt die Patientin eine deutliche Schmerzreduktion fest.
Zwei Tage darauf berichtet sie überglücklich,
sie habe heute zum ersten Mal seit zwei Monaten spontan Stuhlgang gehabt und fühle
sich wesentlich besser.
In den nun folgenden sechs Wochen
bleibt unter derselben Dosierung von Targin® die gute Analgesie erhalten (VAS 100
zwischen 0 und 10 bei individuellem Behandlungsziel [IBZ] 20). Bei Durchbruchschmerzen nimmt die Patientin selten
10 mg Sevredol. In diesen sechs Wochen
verzeichnet sie nicht nur eine Gewichtszunahme von 15 kg, sondern auch ein Mehr an
Energie und Lebensfreude.
Diskussion
Pleurametastasen eines metastasierenden
Mammakarzinoms verursachen bei der 39jährigen Patientin massivste Schmerzen, die
auf NSAR überhaupt nicht ansprechen, mit
Opioiden jedoch sehr effektiv zu beherrschen
sind. Sowohl orale als auch transdermale Opio­
ide verursachen jedoch so starke gastrointestinale Nebenwirkungen, dass sie als Therapie
für diese Patientin nicht verfügbar scheinen.
Durch die Umstellung auf Oxycodon mit
Naloxon (Targin®) lässt sich innerhalb von drei
Tagen die gestörte Magen-Darm-Funktion
vollständig wiederherstellen bei gleichzeitig
hervorragender Analgesie. Bemerkenswert
bei dieser Patientin ist, dass – wie auch in
großen Untersuchungen nachgewiesen – die
transdermale Applikation von Opioiden keineswegs eine bessere gastrointestinale Verträglichkeit gewährleistet. Erst die Gabe des
oralen Opioids Oxycodon in Kombination mit
dem ausschließlich peripher und prähepatisch
wirksamen Naloxon, das im First-Pass-Effekt
in der Leber eliminiert wird, ermöglicht eine
wirksame und nebenwirkungsfreie Schmerztherapie mit einem Opioid.
❏
Gerhard H. H. Müller-Schwefe, Göppingen
27

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