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Heft 140 PLACEBOANWENDUNG – DIE ETHISCHEN PERSPEKTIVEN Frank P. Meyer März 2003 1 Prof. Dr. Frank P. Meyer ist emeritierter ordentlicher Professor für Klinische Pharmakologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und war Direktor des Institutes für Klinische Pharmakologie. Er ist Mitglied der Ethik-Kommissionen der Universität und der Ärztekammer Sachsen-Anhalt. Anschrift: Magdeburger Str. 29, D-39167 Groß Rodensleben. Gliederung 1. 2. 3. 4. 5. Seite Placebo Domino in regione vivorum Das Placebo in der klinischen Forschung Das Placebo in der Therapie Zusammenfassung/ Abstract Literatur 1 6 21 29 32 Herausgeber: Prof. Dr. med. Burkard May Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass Prof. Dr. med. Herbert Viefhues Zentrum für Medizinische Ethik Bochum Ruhr-Universität Gebäude GA 3/53 44780 Bochum TEL (0234) 32-22749/50 FAX +49 234 3214-598 Email: [email protected] Internet: http://www.medizinethik-bochum.de Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des ZENTRUMS FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren verantwortet. Das Copyright liegt beim Autor. © Frank P. Meyer Dieser Beitrag ist eine erweiterte und modifizierte Fassung eines im Ärzteblatt SachsenAnhalt 2003; 14 (Heft 2) gedruckten Artikels zum Thema Placebo. Schutzgebühr: Bankverbindung: € 6,00 Sparkasse Bochum Kto.Nr. 133 189 035 BLZ: 430 500 01 ISBN 3-931993-21-3 2 PLACEBOANWENDUNG – DIE ETHISCHEN PERSPEKTIVEN Frank P. Meyer 1. PLACEBO DOMINO IN REGIONE VIVORUM “Nachdem 1858 die 14-jährige Bernadette eine strahlende Vision der Jungfrau Maria hatte, wurde Lourdes (in den französischen Pyrenäen gelegen) zu einem der berühmtesten Wallfahrtsorte“ [Engelhardt 2002], aufgesucht von Patienten, denen die damalige Medizin nicht helfen konnte, von Patienten, die die Mühsal langer und beschwerlicher Wege durch Europa auf sich nahmen im unerschütterlichen Glauben an die Heilkraft der »Mutter Gottes«. Von der Macht des Placebos war noch nicht die Rede. Das Placeboproblem beschäftigt uns bis heute, seine schillernden Facetten halten uns in Bann – nihilum album? Powerful placebo? Power of suggestion? Die heilende Lüge? Die namenlose Pille? Das universelle Medikament? Powerless placebo? Ein unverzichtbares Therapieprinzip? Placebophänomen? Nachfolgend soll der Versuch unternommen werden, über die ethischen Aspekte der Anwendung des Placebos zu reflektieren. 1.1 Das Placebo in der klassischen Mythologie: Medea – Königstochter, Jungfrau, Zauberin, Priesterin Hier soll uns weniger das „uralte Märchen von der hilfreichen Königstochter, die den aus der Ferne kommenden Helden bei seinen gefährlichen Abenteuern unterstützt und rettet“, interessieren, auch nicht „die Tragödie einer Mädchenseele... die beim ersten Anblick des schönen Fremden in Liebe zu ihm entflammt“ [Albin Lesky: Vom Eros der Hellenen, Göttingen 1976] oder gar das »Mordsweib«, das auf der Flucht durch eine List ihren Bruder Apsyrtos opfert und später ihre eigenen Kinder umbringt. Darüber ist viel geschrieben worden – von Ovid, Seneca, Euripides, Appollonios, Rhodios, Valerius Flaccus, Pierre Corneille, Franz Grillparzer, Jean Anouilh, Hans Henny Jahnn und Heiner Müller glaubhaft, bis Christa Wolf uns die andere Sicht eröffnete. Im Mittelpunkt unserer Geschichte steht der Gemeine Wacholder (Juniperus communis L.). Trotzdem soll kurz auf die Mär eingegangen werden. Jason, Sohn des Aison, 3 erhielt von seinem Onkel Pelias, König von Iolkos, einer Region im Nordosten Griechenlands, den Auftrag, das Goldene Vlies nach Griechenland zurückzuholen, das sich jetzt im Land der Kolcher – der Kolchis – an der Ostküste des Schwarzen Meeres befand. Jason, der Anspruch auf den Thron seines Oheims erhob, durchschaute dessen Plan nicht, ihn auf diese Weise zu vernichten. Ihn und seine Gefährten lockte das Abenteuer. Zunächst musste aber unter der Anleitung der Göttin Athene ein seetüchtiges Schiff gebaut werden, mit dem eine Fahrt über das offene Meer möglich wurde. Es wurde nach seinem Erbauer Argos benannt. Damit konnte die Sage der Argonauten, der Argoschiffer, beginnen – etwa eine Generation vor dem Krieg um Troia. Die Fahrt von Iolkos durch das Ägäische Meer, an Troia vorbei, durch die Dardanellen, das Marmara-Meer, den Bosporus und das Schwarze Meer zur Kolchis (Georgien) war lang und gefahrvoll. Auf die einzelnen Abenteuer kann im Detail nicht eingegangen werden. In den „Sagen des klassischen Altertums“ hob Gustav Schwab besonders den Kampf des Pollux gegen Amykos, den König der Bebryken, den Kampf der Boreassöhne gegen die Harpyien, die Raubvögel des Zeus, die dem König Phineus das Leben schwer machten, hervor. Eine echte Herausforderung war die Überwindung der Symplegaden, zweier steiler Felseninseln am Bosporus, die regelmäßig gegeneinander trieben und in der Lage waren, Schiffe mit Mann und Maus zu zerquetschen. Schließlich erreichten die Helden ihr Ziel, das Goldland Aia, die Mündung des Flusses Phasis, zur Linken den hohen Kaukasus und Kytäa, die Hauptstadt der Kolcher, zur Rechten das Feld und den heiligen Hain des Gottes Ares, wo ein schrecklicher Drache das Goldene Vlies, das an den Ästen einer hohen Eiche hing, mit scharfen Augen bewachte. Für sein Vorhaben versicherte sich Jason der Hilfe Medeas, der Tochter des Kolcherkönigs Aiëtes und Priesterin im Tempel der Hekate, der Göttin der Unterwelt, da nicht zu erwarten war, dass der König dem Vlies freiwillig entsagen würde. „Ein bisher wenig geschätzter Besitz werde einem ja plötzlich kostbar, wenn ein anderer ihn begehre, nicht wahr...“, so Christa Wolf 1996 in „Medea – Stimmen“. Den Raub des Goldenen Vlieses beschrieb Gustav Schwab: „Jason und die Jungfrau Medea gingen über den Pfad einer Wiese dem Haine zu. Dort suchten sie den hohen Eichbaum, an dem das Goldene Vlies strahlend hing. Gegenüber aber reckte der schlaflose Drache seinen langen Hals den Herannahenden entgegen und zischte fürchterlich, dass die Ufer des Flusses und der ganze große Hain widerhallten. Wie über einen angezündeten Wald die Flammen sich hinwälzen, so rollte das Untier mit leuchtenden Schuppen in unzähligen Krümmungen daher. Die Jungfrau aber ging ihm keck entgegen, sie rief mit süßer Stimme den 4 Schlaf, Hypnos, den mächtigsten der Götter an, das Ungeheuer einzulullen; sie rief zur mächtigen Königin der Unterwelt, ihr Vorhaben zu segnen; nicht ohne Furcht folgte ihr Jason. Aber schon durch den Zaubergesang der Jungfrau eingeschläfert, senkte der Drache die Wölbung des Rückens und sein geringelter Leib dehnte sich der Länge nach aus, nur mit dem grässlichen Kopfe stand er noch aufrecht und drohte die beiden mit seinem aufgesperrten Rachen zu fassen. Da sprengte Medea ihm mit einem Wacholderstengel unter Beschwörungsformeln einen Zaubertrank in die Augen, dessen Duft ihn mit Schlummer übergoss; jetzt schloss sich sein Rachen und schlafend dehnte sich der Drache mit seinem ganzen Leibe durch den Wald hin. Auf ihre Ermahnung zog nun Jason das Vlies von der Eiche...“. Christa Wolf ließ Medea in der Schlüsselszene unserer Geschichte den Drachen einschläfern, in dem diese ihm „ den Saft frisch geschnittener Wacholderzweige auf die Augen träufeln konnte“. Seit dieser sagenhaften Zeit galten Wacholderzubereitungen als Sedativa. In der DDR gab es das Präparat Brojunival®, ein Beruhigungs- und Schlafmittel, zusammengesetzt aus Bromiden, Juniperus (Wacholder) und Valeriana (Baldrian). Es hat mehrere Tausend Jahre gedauert, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass Juniperus keine sedierende Wirkung aufwies. »Brojunival« wurde später ohne Wacholder angeboten. Der klangvolle Name mit den vier Vokalen blieb allerdings erhalten. Juniperus communis als das erste beschriebene Placebo? Allerdings treffen wir in der Argonautensage nicht nur auf das Placebo »Juniperus«, sondern wir erleben auch insgesamt eine Placebosituation, ein geheimnisvolles Ritual, ein förderliches Umfeld für eine starke Erwartungshaltung. Es ist Nacht – womöglich Vollmond – eine Jungfrau, Priesterin, Zauberin, Königstochter singend, summend, betend, murmelnd, den furchtsamen Helden überzeugend, ein Fläschchen mit Saft benutzend und der Erfolg gab ihr Recht! – Powerful placebo? Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung? 1.2 Placebo Domino in regione vivorum Die Geschichte des Wortes Placebo (lat. placere: gefallen, gefällig sein, Beifall finden; placebo = 1.Pers. Sg. Fut .I: ich werde gefallen) beginnt in der Bibel im 116. Psalm (Der Dank für Rettung aus Todesnot), Vers 9: Placebo Domino in regione vivorum. In heutiger Übersetzung: So gehe ich meinen Weg vor dem Herrn/ im Land der Lebenden. Dieser Psalm wurde nach dem Breviarium Romanum zu Beginn der Totenvesper gesungen. Im 13. 5 Jahrhundert wurde die Totenvesper dann volkstümlich als Placebo bezeichnet. Die Totensänger – Priester, Mönche – haben mit Eifer gegen Bezahlung Gesänge angestimmt und waren auf diese Weise den Hinterbliebenen gefällig. Das gedankenlose Singen wurde bald zum scheinheiligen Singen. Aus der lateinischen Predigtliteratur des Mittelalters gelangte das Wort Placebo dann in den profanen Sprachschatz in der ironischen Redewendung »Placebo singen«, wenn jemandem nach dem Munde geredet wurde. Im Englischen z.B. »to sing a placebo« oder »to play placebo«, im Deutschen »Wer das Placebo domino nicht wohl singen kann, der bleibe vom Hofe« oder »Wo man das Placebo singt, da muss die Wahrheit zurückstehen«. Placebo stand im Mittelalter für Schmeichler, Schmarotzer, Intriganten. In der Medizin taucht der Begriff 1811 auf als eine Medizin, die den Menschen mehr gefällt als nützt [Shorter Oxford Dictionary] – das Placebo als Ausdruck für eine positive Wende, weg von der abenteuerlichen Arzneitherapie früherer Jahrtausende. In Zeiten, in denen echte und unechte Arzneimittel nicht zu differenzieren waren, in denen Zauber und Magie als selbstverständliche Heilverfahren anerkannt waren, bedurfte es des Placebos nicht. Etwa ab 1890 verliert der Begriff sein negatives Image und nähert sich dem heutigen Verständnis, z.B. eine harmlose Substanz, eine indifferente Substanz, ein inertes Medikament, eine Medizin ohne pharmakologischen Effekt. 1.3 Placebo – ein Begriff mit Wohlklang und wissenschaftlichem Kolorit 1945 definierte Pepper das Placebo als eine Substanz ohne pharmakologische Wirkung. Der Name des Präparates müsse so unbekannt, ausgefallen oder klangvoll sein, dass der Patient an die Wirkung glauben müsse. 1946 differenzierte Du Bois zwischen reinen Placebos (Milchzucker, Brotpillen), unreinen Placebos (Leberschutzpräparate, »Herzmittel« der alten Art) und dem Placebo-Phänomen (Ritual des Rezeptes, Zubereitung der Substanzen in der Apotheke in alten Zeiten). Martini sprach in seiner „Methodenlehre der klinischtherapeutischen Forschung“ [Springer, Heidelberg 1953] von Leer- oder Scheintabletten. Gaddum schlug 1954 die Bezeichnungen »dummies« oder »dummy tablets« vor. Aber das Wort Placebo hat sich – in einer noch weniger anglophonen Zeit – behaupten können. 1955 schrieb Beecher in JAMA seinen berühmten Artikel » The powerful placebo« mit dem Schlüsselsatz: „It is evident that placebos have a high degree of therapeutic effectiveness in treating subjective responses, decided improvement, interpreted under the 6 unknowns technique as a real therapeutic effect, being produced in 35.2 ± 2.2 % of cases”. Beecher hatte eine Meta-Analyse von 15 Arbeiten mit 1082 Patienten durchgeführt. Die immer wieder zitierten 35.2 % » Placebo-Reaktoren « sind ein – vielleicht irreführender – Mittelwert. Die Streuung in den einzelnen Studien war sehr groß, sie reichte von 15 % bis 87 %. Aber immerhin – ein Placeboeffekt war unbestritten. Knapp ein halbes Jahrhundert später versuchten die Dänen Hróbjartsson und Gøtzsche [2001] mit der Arbeit „Is the placebo powerless?“ den Mythos zu entzaubern: „We found little evidence in general that placebos had powerful clinical effects. Although placebos had no significant effects on objective or binary outcomes, they had possible small benefits in studies with continuous subjective outcomes and for the treatment of pain. Outside the setting of clinical trials, there is no justification for the use of placebos”. Vor allem für »Komplementärmediziner«, die sich mit der Wirkung der Psyche auf die Gesundheit auseinandersetzen, dürfte die Arbeit desillusionierend wirken. Die Dänen bieten eine Erklärung für die bisherige Überschätzung des Placebos an. Sie meinen, dass an Studien vor allem Patienten teilnehmen, denen es gerade recht schlecht geht. Wir wissen aber, dass selbst bei unheilbaren oder chronischen Erkrankungen bessere und schlechtere Phasen wechseln. So ist zu erwarten, dass im Verlauf von klinischen Studien nicht nur die Verumsondern auch die Placebo-Patienten einen vorübergehenden Benefit haben. Dieser »PendelEffekt« ist seit langem bekannt und wird in analoger Weise von allen Vertretern gläubiger Verfahren (Homöopathie usw.) bewusst oder unbewusst ausgenutzt. Aus der Arbeit der Dänen sollte man also nicht folgern, dass die Psyche keinen Einfluss auf den Therapieeffekt hat. Man muss auch einschränken, dass die Dänen das »Placebo-Phänomen« sensu Du Bois – die Arzt-Patienten-Beziehung, die Atmosphäre in der Arztpraxis, die Erwartungshaltung der Patienten – nicht berücksichtigt haben. Statt Placebo-Phänomen wird heute auch der Begriff »Kontext-Effekt« verwendet. Aber immerhin – vielleicht ist der Placebo-Effekt in der klinischen Medizin doch geringer als wir bislang vermutet haben. Die Vertreter einer wissenschaftlichen Medizin dürfte das nicht stören. Das Placebo bleibt ein spannendes Thema! Durchaus ernst gemeint hatte es McMahon [1994]: „Long live the placebo.“ Zur Abrundung sei gesagt, dass der Placebobegriff bald auch in der Politik eine Rolle spielen könnte. So formulierte der Heidelberger Jura-Professor P. Kirchhof auf die Frage eines Journalisten, ob sich der Einwohnerrückgang in Deutschland durch mehr Einwanderer stoppen ließe, so: „Einwanderung ist ein Placebo. Selbst wenn wir jährlich eine halbe Million 7 Einwanderer nach Deutschland ließen und hier bestens integrierten, würde Deutschland vergreisen...“ [Volksstimme Magdeburg, 05.08.2002]. So steht der Begriff Placebo jetzt plötzlich für erfolgloses Handeln in der Politik, wodurch er wohl seine Unschuld für immer verlieren wird. 2. DAS PLACEBO IN DER KLINISCHEN FORSCHUNG Sogenannte atypische Neuroleptika (Amisulprid, Clozapin, Olanzapin, Quetiapin, Risperidon) stellen zweifellos eine Bereicherung der medikamentösen Therapie bei Patienten mit Schizophrenie, schizoaffektiven Psychosen usw. dar. Wie groß der therapeutische Benefit gegenüber den klassischen Neuroleptika tatsächlich ist, etwa Haloperidol, erfährt man allerdings nur selten. In welchem Ausmaß sich die verschiedenen atypischen Neuroleptika voneinander unterscheiden, bleibt bislang verborgen. Ursache für diese den Arzt unbefriedigende und den Patienten belastende Situation sind fehlende adäquate klinische Studien. Die Vielzahl rein Marketing-orientierter Untersuchungen zum Risperidon beispielsweise, mit denen Deutschland seit einiger Zeit überschwemmt wird und die offenbar bei manchen Ärzten sehr beliebt sind, tragen zur Klärung der Situation nicht bei. Ihre Aussagen sind nicht valid, die Patienten werden durch überzogene Darstellungen in den Patienteninformationen häufig getäuscht. In summa sind solche »Studien« unethisch [Emanuel et al. 2000]. Daran ändern auch die positiven Voten der meisten EthikKommissionen nichts. 2.1 Die Prinzipien der klinischen Prüfung am Menschen 2.1.1 Phasen I bis IV Nachdem in der Präklinik (Tierversuche, Zellkulturen usw.) ein Wirkstoff eine positive Nutzen-Risiko-Bilanz erbracht hat, erfolgt in der Regel die klinische Prüfung am Menschen, die in vier Phasen abläuft. Phase I: Erste Anwendung am Menschen, an (10-50) gesunden Probanden, in Ausnahmefällen Patienten, unter der Verantwortung des Klinischen Pharmakologen. Fragestellungen: Verträglichkeit, Pharmakokinetik einschließlich Biotransformation, erste Hinweise zur Dosierung, gegebenenfalls pharmakodynamisches Profil. Bei Unbedenklichkeit Übergang in Phase II. 8 Phase II: Erste Anwendung an (100-500) stationären Patienten in ausgewählten Kliniken. Fragestellungen: Wirksamkeit möglichst bei Monotherapie, Dosierung, Darreichungsformen, Nebenwirkungen, gegebenenfalls Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln. Bei Unbedenklichkeit Übergang in Phase III. Phase III: Prüfung an (1000-5000) stationären und ambulanten Patienten in Kliniken und ausgewählten Arztpraxen. Fragestellungen: wie in Phase II, aber breitere Absicherung von Wirksamkeit, Sicherheit und Unbedenklichkeit, Wechselwirkungen. Bei positiver Nutzen-Risiko-Relation Zulassung für die geprüfte Indikation und Markteinführung. Übergang in Phase IV zur Überwachung nach der Zulassung. Phase IV: Breite Anwendung bei Patienten unter den Alltagsbedingungen einer Arztpraxis oder Klinik. Fragestellungen: Langzeitanwendung zur Beobachtung von Wirkungen, Nebenwirkungen, Wechselwirkungen, gegebenenfalls Indikationserweiterung, dann als Schleife zurück nach II in IV oder nach III in IV. 2.1.2 Studien-Design In der Praxis gibt es ein sehr unterschiedliches methodisches Herangehen, wenn es um die Lösung klinischer Fragestellungen geht. Am Anfang stehen häufig (zufällige) Einzelbeobachtungen (case reports). Erinnert sei an die zufällige Entdeckung der blutzuckersenkenden Wirkung von Sulfonamid-Diuretika. Anwendungsbeobachtungen (case series) sind ein beliebtes Marketing-Instrument der pharmazeutischen Industrie. Der Nutzen aus diesen »Studien« ist vergleichsweise gering. Sie dienen im Wesentlichen dazu, dass Ärzte und Patienten die Präparate- Namen verinnerlichen und schreiben bzw. lesen lernen. Fall-Kontroll-Studien (case control study) und Kohorten-Studien (cohort study) haben nur eine geringe Beweiskraft, vor allem ist es nicht möglich, auf Kausalzusammenhänge zu schließen. Um Hypothesen zu generieren, sind sie aber gut geeignet. Nicht randomisierte, offene Studien (observational clinical study) sind bei der PharmaIndustrie und bei manchen Klinikern ebenfalls beliebt. Sie garantieren mit relativ wenig Aufwand nahezu immer die gewünschten positiven Ergebnisse. Die deutschlandweit laufende PHARAO-Studie ist dafür ein typisches Beispiel. Manchmal bieten die Studienautoren Scheinlösungen an, z.B. den Vergleich gegen eine »unbehandelte« Kontrollgruppe oder einen sog. »historischen« Vergleich, bei dem die Ergebnisse früherer Versuche »reanimiert« und 9 mit den aktuellen Daten verglichen werden. Wenn keine früheren Versuche existieren, werden auch schon einmal die Routine-Krankenblätter historisierend aufgearbeitet. Wem das alles zu aufwendig ist, der offeriert einfach einen Prä-Post-Vergleich, in dem die Daten zu Studienbeginn mit den Daten vom Studienende verglichen werden. Biasfaktoren (siehe 2.1.3) und daraus resultierende Fehlinterpretationen sind vorprogrammiert. Goldstandard ist die prospektive, kontrollierte, randomisierte klinische Studie (controlled clinical study), um Therapieeffekte mit höchstmöglicher Evidenz zu erfassen. Diese Studien erfolgen prospektiv, in der Regel multizentrisch-international, randomisiert, doppelblind und kontrolliert, d.h. vergleichend (siehe 2.1.4). Niemand bestreitet, dass auch bei diesem optimalen Design Fehlinterpretationen vorkommen können. Jeder weiß, dass im Kampf um Marktanteile auch vor offenkundig unethischem Vorgehen und bewusster Fehlinformation nicht zurückgeschreckt wird [Meyer 2002 a]. Trotzdem bleibt der kontrollierte Versuch unabdingbar. 2.1.3 Biasfaktoren im Prä-Post-Prüfdesign Die Probleme, die bei einem Vor-Nach-Prüfdesign auftreten können, wurden häufig genug beschrieben. Sie sollen hier nur noch einmal kurz subsummiert werden: – Spontanheilungen, wellenförmige Verläufe, – Milieuwechsel, – Diätwechsel, veränderte Essgewohnheiten, – veränderte Komedikation, – Placebo-Wirkung, – Selektion durch Ausfall von Patienten (drop-out), – Änderungen der Beobachtungsmethoden (Diagnostik), – Trainingseffekte, – Non-Compliance, – Erwartungshaltung, – Zuwendung des Arztes, Pflegepersonals usw., – Wetterveränderungen, – Regression-zur Mitte-Phänomen. Ein ausgeführtes Beispiel soll genügen. Wenn die Testung eines Psychopharmakons, eines Antidepressivums, sechs Monate dauert, dann ist es plausibel, dass die Ergebnisse einer 10 Versuchsperiode von Mai (Prä) bis November (Post) nicht mit den Ergebnissen der Versuchsperiode von November (Prä) bis Mai (Post) vergleichbar sein werden. Es werden „Hausnummern“ produziert, die von unkritischen Interpreten für bare Münze genommen werden. 2.1.4 Der kontrollierte Versuch In einer kontrollierten (= vergleichenden) Studie werden die Patienten entweder einer Kontrollgruppe oder einer Interventionsgruppe zugeordnet. Diese Zuordnung muss randomisiert ( = streng zufällig) erfolgen. Die Interventionsgruppe erhält das zu prüfende (neue) Medikament, die Testsubstanz (= Verum). Die Kontrollgruppe erhält entweder die bisher bekannte bestmögliche Therapie (=Goldstandard) oder – falls es keine Standardtherapie gibt – ein Placebo. Hinsichtlich der Goldstandardtherapie sind komparative (Goldstandard versus Testsubstanz) oder add onVarianten (Goldstandard plus Placebo versus Goldstandard plus Testsubstanz) möglich. Auch »dreiarmige« Vergleiche können empfehlenswert sein, z.B. Testsubstanz versus Goldstandard versus Placebo. Existiert ein Goldstandard nicht und gibt es ethische Bedenken gegen ein Placebo, dann lassen sich auch verschiedene Dosen, z.B. Dosis 1 versus Dosis 2 versus Dosis 4 der Testsubstanz miteinander vergleichen, da interpretierbare dosisabhängige Wirkungen und Nebenwirkungen zu erwarten sind. Auch unbehandelte Kontrollgruppen sind denkbar, dann ist aber eine Verblindung nicht mehr möglich, so dass als Störgröße (= Confounder) die unterschiedlichen Erwartungshaltungen der behandelten und unbehandelten Patienten eine Rolle spielen könnten, was zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen kann (Research Bias). Auch die Ärzte sind nicht mehr »blind«. Wenn ein »reines« Placebo vom Patienten identifiziert werden könnte, etwa bei der Prüfung von Knoblauchpillen als Lipidsenker, dann ist auch ein »unreines« Placebo denkbar, dem nur 10% der im Verum vorhandenen Knoblauchmenge zugesetzt wird, um wenigstens die typischen Geschmacks- und Geruchswahrnehmungen zu erzeugen. Eine heitere Variante lieferten kürzlich Evans et al. [2002], die die Wirksamkeit von Azithromycin (Makrolidantibiotikum) bei akuter Bronchitis doppelblind und randomisiert gegen Vitamin C testeten. Die Experten können sich nun streiten, ob Ascorbinsäure ein 11 Superplacebo ist oder eine heilende Lüge. Auf jeden Fall war Azithromycin so wirksam wie Vitamin C. Wer hätte bei einem viralen Infekt etwas anderes erwartet? Andere Vergleichsmöglichkeiten wären etwa »sofortiger Therapiebeginn« versus »verzögerter Therapiebeginn«, was für onkologische Studien von Bedeutung wäre. Es wäre auch denkbar, die Wirkung einer Testsubstanz (Verum) bei verschiedenen Krankheitsentitäten zu testen, etwa die Wirkung von Antidementiva bei primär degenerativer Demenz vom Alzheimer-Typ versus Multiinfarktdemenz. An einem historischen Beispiel sei die überragende Bedeutung des Vergleichs demonstriert: James Lind behandelte 1758 12 skorbutkranke Matrosen konsequent über drei Wochen. Je zwei Kranke erhielten entweder 1. ¼ l Apfelwein/Tag oder 2. »Vitriol« als Getränk und zum Gurgeln oder 3. Weinessig als Getränk und zum Gurgeln oder 4. Trinken von Seewasser und Seewasserbäder oder 5. 2 Orangen und 1 Zitrone/Tag oder 6. Einnahme einer Mischung aus Knoblauch, Senf und Perubalsam. Das Ergebnis war eindeutig. Ein Patient aus Gruppe 5 war nach sechs Tagen wieder dienstfähig, der andere wurde als Krankenpfleger bei den restlichen 10 Patienten eingesetzt. Durch ein korrektes (=Vergleich), nahezu phantastisches (sechs Arme) Versuchsdesign gelang es, eine der ältesten bekannten Avitaminosen definitiv zu heilen. Das Ergebnis gilt noch heute. Vor mehr als 130 Jahren formulierte der französische Physiologe Claude Bernard: „Eine vergleichende Untersuchung muß, um aussagekräftig zu sein, zur gleichen Zeit an möglichst gut vergleichbaren Kranken durchgeführt werden. Selbst dann steckt der Vergleich noch immer voller Schwierigkeiten, die der Arzt zu verringern versuchen muß. Der vergleichende Versuch ist eine conditio sine qua non für die experimentelle und wissenschaftliche Medizin, anderenfalls bewegt sich der Arzt auf schwankendem Boden und wird zum Spielball der Illusionen.“ Es ist immer wieder verblüffend zu erleben, in welchem Ausmaß sich manche Mitarbeiter der pharmazeutischen Industrie, Universitätsprofessoren und Ärzte von solchen ethikrelevanten Standards entfernen. 12 2.2 Die Ethik des Placebo-kontrollierten Versuches In der Neufassung der Deklaration von Helsinki [1964] des Weltärztebundes vom Oktober 2000 (Edinburgh, Schottland) heißt es unter Abschnitt 29: „Die Vorteile, Risiken, Belastungen und Wirksamkeit eines neuen Verfahrens sollten gegen diejenigen des derzeit besten prophylaktischen, diagnostischen und therapeutischen Verfahrens abgewogen werden. Das schließt den Gebrauch von Placebos ebenso wenig aus wie das Unterlassen einer Behandlung, sofern kein erprobtes prophylaktisches, diagnostisches oder therapeutisches Verfahren existiert.“ Taupitz [2000] kommentiert: „Vergleichsobjekt der Forschung soll nunmehr das beste verfügbare Verfahren sein; offen bleibt, ob dieses konkret oder abstrakt z.B. in anderen Kliniken/Ländern verfügbar sein muss.“ Auch in der „Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.April 2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln“ [Amtsblatt Nr. L 121 vom 01/05/2001 S. 0034-0044] wird das »Prüfpräparat« definiert als „eine pharmazeutische Form eines Wirkstoffs oder Placebos, die in einer klinischen Prüfung getestet oder als Referenzsubstanz verwendet wird...“. 2.2.1 Das ethische Placebo In der Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden zur Behandlung der Angina pectoris eine Vielzahl von Möglichkeiten propagiert, die Anwendung von Methylxanthinen (Aminophyllin, Theobromin), von Vitamin E oder Khellin, die Ligatur der Arteria mammaria interna und ihre Implantation in das Myocard. Alle diese Behandlungen sind heute nicht mehr aktuell, weil sie sich als unwirksam erwiesen haben. Auslösend waren Untersuchungen von Gold et al. [1937], die die Wirksamkeit von Aminophyllin/Theobromin auf Herzschmerzen bei Angina pectorisPatienten im Vergleich zu Placebo (Milchzucker) überprüft hatten. Dabei wurde die Doppelblindtechnik angewendet. Die Autoren stellten fest, dass die Schmerzen durch Milchzucker in 25 % der Fälle und durch Theobromin in 22 % der Fälle beseitigt wurden. 13 Der erste Placebo-kontrollierte Versuch wurde wahrscheinlich 1931 durchgeführt, als Sanocrysin zur Behandlung der Tuberkulose gegen destilliertes Wasser verglichen wurde [Emanuel und Miller 2001]. Ein anderes Beispiel lieferte die 1991 publizierte CAST (Cardiac Arrhythmia Suppression Trial)-Studie [Echt et al. 1991]. Über viele Jahre wurde davon ausgegangen, dass die erfolgreiche Beseitigung potentiell lebensbedrohlicher ventrikulärer Arrhythmien nach einem Herzinfarkt die Prognose des Patienten verbessern müsste. Als nach einer Zwischenauswertung von CAST festgestellt wurde, dass in der Placebogruppe nur 3.5 % der Patienten verstarben, unter Encainid oder Flecainid dagegen 10.2 % bzw. 5,9 % der Patienten an der proarrhythmischen Wirkung der Substanzen verstarben, wurde der Versuch abgebrochen. Die lebensverkürzende Wirkung vieler anderer Antiarrhythmika wurde in der Folge wiederholt bestätigt. Nur wenige Jahre später – 1997 – stellte die Digitalis Investigation Group fest, dass bei Patienten mit Herzinsuffizienz (NYHA I bis IV) durch Digoxin die Mortalität im Vergleich zu Placebo nicht vermindert wurde. Der NNT-Wert betrug 333, was bedeutet, dass 333 Patienten länger als 4 Jahre mit Digoxin behandelt werden müssten, damit ein Todesfall verhindert (besser: hinausgezögert) wird. Selbstverständlich hatten alle Patienten die sonst übliche Herzinsuffizienztherapie erhalten – mit Ausnahme von Digoxin (vgl. 2.1.4 die »add on«-Variante). Ganz anders die Situation bei der Behandlung der Herzinsuffizienz mit BetaRezeptorenblockern. Innerhalb von sieben Jahren – von 1994 bis 2001 – hat sich die Situation total verändert. Galten Beta-Blocker am Anfang bei Herzinsuffizienz als kontraindiziert, so gehören sie heute unabdingbar zur Therapie. Das war aber nur möglich mit prospektiven, randomisierten, verblindeten, Placebo-kontrollierten Studien ( CIBIS 1994, U.S. Carvedilol Heart Failure Study 1996, CIBIS II 1999, MERIT-HF 1999, CAPRICORN 2001 und COPERNICUS 2001). Natürlich erhielten die Patienten in allen Fällen auch die etablierte Basistherapie. Aktuelles Beispiel ist die durch die Pharma-Industrie und ihre abhängigen professoralen Meinungsbildner propagierte Hormonersatztherapie bei möglichst allen Frauen in der Postmenopause. Zu diesem Problem wurden 2002 zwei Placebo-kontrollierte Studien publiziert, in denen die Hormonkombination »konjugierte Estrogene (0.625 mg/d) plus Medroxyprogesteron (2.5 mg/d)« , die dem Präparat Climopax® entspricht, im Rahmen einer Sekundär- und einer Primärpräventionstudie untersucht wurde. 14 HERS II (Heart and Estrogen/Progestin Replacement Follow-up) zeigte, dass bei postmenopausalen Frauen mit koronarer Herzkrankheit (KHK) eine Hormonersatztherapie nichts verbessert. Es wurden weder weitere kardiovaskuläre Ereignisse noch nicht kardiovaskuläre Ereignisse (thromboembolische Ereignisse, Krebsfälle, Frakturen) im Vergleich zu Placebo verhindert [Grady et al. 2002, Hulley et al. 2002]. Die WHI (Women’s Health Initiative)-Studie wurde vorzeitig abgebrochen, weil in der Hormongruppe die Zahl der Erkrankungen an invasivem Brustkrebs die vorher festgelegte Sicherheitsgrenze überschritt. Außerdem war die gesamte »Nutzen-Schaden-Bilanz« (= Globalindex) negativ. Konsequenz: Eine Hormonersatztherapie ist weder bei »gesunden« postmenopausalen Frauen im Rahmen einer Primärprävention noch bei KHK-Patientinnen im Rahmen einer Sekundärprävention indiziert [Meyer 2002 c,e]. Ethisch vertretbar sind Placebo-kontrollierte Versuche immer dann, wenn eine wirksame Therapie noch nicht bekannt ist oder wenn – meist durch Konsensuskonferenzen – tradierte therapeutische Optionen zweifelhaft erscheinen. In diesen Fällen wird den »PlaceboPatienten« nichts vorenthalten. Wie die Beispiele zeigen, können sie sogar einen Benefit haben. Um mögliche Probleme zu minimieren, sollten bei längeren Studien Zwischenauswertungen vorgenommen werden, die dann gegebenenfalls zu einem vorzeitigen Studienabbruch führen müssen (vgl. CAST und WHI), wenn erkennbar wird, dass eine Studiengruppe benachteiligt ist. Schließlich muss man auch bedenken, dass reine Placebogruppen sowieso selten resultieren, weil in der Regel ja nur eine Komponente eines umfassenden Therapieprogramms geprüft wird. Von einer Unterversorgung der Placebo-Patienten kann also keine Rede sein. Wo es hinführt, wenn aus pseudoethischen Gründen auf Placeboarme verzichtet wird, zeigt uns die gesamte onkologische Pharmakotherapie der Vergangenheit [Abel 1995], bei der durch unkontrollierte »Therapieoptimierungsstudien« in den letzten Jahren die Therapie zu einem Wildwuchs eskalierte, der jetzt nur schwer zu bremsen ist. Nur außerordentlich vorsichtig wagt sich die eine oder andere Arbeitsgruppe an deeskalierende Studien. Diese »Therapieoptimierungsstudien« waren zutiefst unethisch, obwohl ihre Autoren immer wieder das Gegenteil behaupteten unter dem Motto, dass bei Krebs keine Zeit zu verlieren sei. Die einzigen Nutznießer dieses Vorgehens waren die Pharma-Industrie und ihre Meinungsbildner. Zu diesem Komplex kann noch ein aktuelles Beispiel angeführt werden. Seit langem wird angenommen, dass Estrogene die Entwicklung von Brustkrebs fördern. In der Konse15 quenz sollten Antiestrogene, z.B. Tamoxifen, geeignet sein, die Entwicklung von Brustkrebs zu verhindern. In diesem Kontext wurde die Studie IBIS-I durchgeführt, an der sich 7139 Risiko-Patientinnen beteiligten (Tabelle 1). Tabelle 1: International Breast cancer Intervention Study, IBIS-I [2002] 7139 Frauen (35 – 70 Jahre) mit erhöhtem Risiko eines Brustkrebses (Familienanamnese, atypische Hyperplasie usw.) wurden randomisiert : Tamoxifen (20 mg/d) versus Placebo. Primärer Endpunkt: Brustkrebs. Mittlere Beobachtungsdauer: 4.2 Jahre. Ereignis Placebo Tamoxifen Ereignis- NNT NNH NNK % n n n 0.99* 101 – – reduktion % (n = 3566) (n = 3573) Brustkrebs 2.83 1.84 GesamtMortalität 0.31 0.70 - 0.39 – – 256 Venöse Thromboembolie 0.48 1.20 - 0.72 – 139 – Thrombophlebitis 0.25 0.76 - 0.51 – 196 – NNT = Number needed to treat, NNH = Number needed to harm, NNK = Number needed to kill * Die Autoren bevorzugen die Angabe: risk reduction 32 %, p = 0.013 Der Vergleich von Tamoxifen gegen Placebo war völlig korrekt. Das Ergebnis spricht für sich. Durch Tamoxifen wird das Ereignis, einen Brustkrebs zu entwickeln, im Vergleich zu Placebo um 0.99 % gesenkt. Der daraus resultierende NNT-Wert von 101 bedeutet, dass 101 gefährdete Frauen über 4 Jahre mit Tamoxifen behandelt werden müssten, um die Entwicklung eines Brustkrebses zu verzögern. Der Effekt ist zwar statistisch signifikant (p = 0.013), klinisch aber völlig bedeutungslos. Wenn die Studienautoren argumentieren: “Prophylactic tamoxifen reduces the risk of breast cancer by about a third “, so haben sie zwar formal Recht, zutiefst 16 unethisch ist die Aussage aber doch, weil suggeriert wird, dass jeder dritten Patientin geholfen werden kann. Tatsächlich betrifft es nur jede 101. Patientin! Da die Gesamtmortalität leicht erhöht wird, ist eine Prophylaxe mit Tamoxifen bei Risiko-Patientinnen nicht indiziert, bei Frauen mit thromboembolischen Erkrankungen wegen der Nebenwirkungen (venöse Thromboembolie und Thrombophlebitis) kontraindiziert. 2.2.2 Das unethische Placebo Placebo-kontrollierte Versuche sind nicht vertretbar, wenn wirksame Substanzen in der Indikationsgruppe oder in vergleichbaren Gruppen bekannt sind. Umgekehrt bedeutet das, dass bei einer Indikationserweiterung Placebos durchaus wieder angezeigt sein können. In den 1990er Jahren wurde international über den unverantwortlichen Placeboeinsatz in klinischen Studien am Beispiel von Ondansetron (Zofran®) diskutiert [Übersicht bei Emanuel und Miller 2001]. Ondansetron wurde in einer Vielzahl von Placebo-kontrollierten Studien bei Patienten untersucht, die durch eine Chemotherapie unter Brechreiz/Erbrechen litten. Ein einziger Basisversuch hätte völlig ausgereicht, da bereits 1981 die klinische Wirkung von Metoclopramid gegen Placebo bei Chemotherapie-induziertem Erbrechen demonstriert werden konnte. In der Folge hätte Ondansetron gegen Metoclopramid getestet werden müssen mit den Fragestellungen: Besser wirksam? Weniger Nebenwirkungen? Preiswerter bei therapeutischer Äquivalenz? Im Sommer 1992 wurde Ondansetron in Großbritannien zur Behandlung von Übelkeit und Erbrechen nach Operationen eingeführt. Daraufhin folgte ein Anzeigenkampagne zur Markteinführung. Trotzdem wurden anschließend noch 18 Placebokontrollierte Studien zur Prophylaxe und Therapie veröffentlicht: Etwa 2180 von 8806 Patienten erhielten Placebo als Prophylaxe und 440 als Therapie. Das war zutiefst unethisch. Im Jahr 2001 erschienen drei Studien, in denen die nephroprotektive Wirkung von Sartanen (Angiotensin-AT1-Rezeptorantagonisten) geprüft wurde [Übersichten bei Meyer 2002a,b]. In IDNT (Irbesartan Diabetic Nephropathy Trial) prüften Lewis et al. [2001]die Wirkung von Irbesartan und Amlodipin versus Placebo bei Patienten mit Diabetes Typ II. Auf den ersten Blick ist das anscheinend ein optimales Versuchsdesign. Beim näheren Hinsehen werden allerdings die Schwächen deutlich. Lewis hatte schon 1993 den nephroprotektiven Effekt von Captopril bei Diabetes Typ I im Vergleich zu Placebo gezeigt. Ethisch wäre es 17 also gewesen, Irbesartan gegen Captopril zu vergleichen. Rein formal hätte man vielleicht noch einen Placeboarm akzeptieren können, da Diabetes Typ I eben nicht Diabetes Typ II ist. Aber, wenn es um die Nephroprotektion geht, gilt diese Unterscheidung kaum noch. Insofern ist IDNT doch eher eine Marketing-Studie, da die Auftraggeber Sanofi-Synthelabo und der Autor Lewis wohl der Meinung waren, dass Irbesartan kaum besser ist als Captopril, ein Vergleich sich also nicht »rechnet«. In RENAAL (Reduction of Endpoints in NIDDM with the Angiotensin II Antagonist Losartan) wurde Losartan gegen Placebo verglichen [Brenner et al. 2001]. Auch hier hätte über Captopril statt Placebo nachgedacht werden müssen, da die positiven Ergebnisse von Lewis et al. [1993] gewiss nicht verborgen geblieben waren. Ganz besonders dramatisch war aber, dass den Patienten notwendige ACE-Hemmer entweder vorenthalten oder versuchsbedingt sogar abgesetzt wurden. Die Studie wurde deshalb vorzeitig abgebrochen. Sie hätte eigentlich gar nicht begonnen werden dürfen. Hier haben auch alle involvierten EthikKommissionen versagt. Problematisch ist auch die LIPS-Studie, die 2002 publiziert wurde (Tabelle 2). Tabelle 2: Lescol Intervention Prevention Study , LIPS [Serruys et al.2002] 1677 Patienten (18 – 80 Jahre, 84 % Männer) mit stabiler, instabiler Angina pectoris oder stummer Ischämie und perkutaner koronarer Intervention (Ballondilatation 34.5 %, Stent 63 %). Komedikation: ASS 97 %, Beta-Blocker 70 %, Calciumantagonisten 58 %, Nitrate 56 %, ACE-Hemmer 38 %, Diuretika 19 %. Cholesterol: 135 – 270 mg/d (3.5 – 7.0 mmol/L) wurden randomisiert: Fluvastatin (80 mg/d) versus Placebo (Therapiebeginn im Mittel 2 Tage nach PCI). Primäre Zielgröße: Überlebenszeit frei von großen kardialen Ereignissen (kardialer Tod, Herzinfarkt, Reintervention). Beobachtungsdauer: 3.9 Jahre. Ereignis Placebo Fluvastatin Ereignisreduktion % (n = 833) (n = 844) % n Primäre Zielgröße 26.7 21.4 5.3 19 Kardialer Tod 2.9 1.5 1.4 71 Nicht tödlicher Herzinfarkt 4.6 3.6 1.0 100 18 NNT Reintervention 23.2 19.8 3.4 29 Gesamtmortalität 5.9 4.3 1.6 62 ___________________________________________________________________________ NNT = Number needed to treat 1677 Patienten mit erfolgreicher perkutaner koronarer Intervention (PCI) wurden nach der Entlassung aus der Klinik drei bis vier Jahre mit Fluvastatin (2mal 40 mg täglich) oder mit Placebo behandelt. Es ist zu erkennen, dass der Benefit nur sehr marginal war. Die Differenz bezog sich vor allem auf die Reinterventionen (NNT = 29). Kardiale Sterblichkeit, Herzinfarkthäufigkeit und Gesamtmortalität unterschieden sich in den beiden Gruppen nicht. Diesen geringen Effekt hatten sich die Studienleitung und der Sponsor vorher sicher nicht vorstellen können. Damit beginnt aber auch das ethische Problem. Bereits 1994 und 1996 wurden die Ergebnisse der 4 S (Scandinavian Simvastatin Survival Study)-Studie bzw. die CARE (Cholesterol And Recurrent Events trial)-Studie publiziert, die im Rahmen der Sekundärprävention für Simvastatin bzw. Pravastatin im Vergleich zu Placebo einen geringen Nutzen erbrachten. 1998 folgte die LIPID (Long-term Intervention with Pravastatin in Ischaemic Disease)-Studie mit einem geringen Vorteil von Pravastatin gegenüber Placebo. Das Placebo in der LIPS-Studie war deshalb sehr fragwürdig. Der Hälfte der Patienten wurde bewusst eine möglicherweise wirksame Therapie vorenthalten. Ethisch akzeptabel, wissenschaftlich sinnvoll und klinisch relevant wäre ein Vergleich von Fluvastatin mit Simvastatin oder Pravastatin gewesen. 2.2.3 Das umstrittene Placebo Ende der 1990er Jahre überraschten Kirsch und Sapirstein [1999] Ärzte und Patienten mit der durch eine Meta-Analyse gestützten Botschaft, dass Antidepressiva nur 25 % wirksamer seien als Placebo. Auch diese 25% wurden noch hinterfragt, da die Patienten durch die Nebenwirkungen der Antidepressiva die Verblindung relativ rasch decodieren können. Die aktive Therapie wird erraten, die Heilserwartungen steigen – also eine Art sich selbst erfüllender Prophezeiung [Übersicht bei Meyer 2001b]. Dagegen berechneten Walsh et al. [2002] nach der Durchsicht von 75 Studien, dass tricyclische Antidepressiva und selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer etwa 50 % wirksamer seien als Placebo. Die PlaceboReaktionen betrugen aber zwischen 12.5 % und 51.8 %! Auf die Geschlechtsabhängigkeit der 19 Placeboreaktionen bei Depressionen machten Bialik et al. [1995] aufmerksam: 67 % bei Frauen und 30 % bei Männern. Bei dieser Unsicherheit können dreiarmige Versuche durchaus angezeigt sein: Standardsubstanz versus Testsubstanz versus Placebo. Dieses – aus meiner Sicht – vorbildliche Design ist aber durchaus umstritten. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen in den USA sehen Placebo-kontrollierte Studien bei der Prüfung psychiatrischer Arzneimittel vor. In Deutschland ist das nicht die Regel. Das ist insofern bedauerlich, weil die Placebo- effekte eben relativ groß sein können. Eine Meta-Analyse von 42 000 Patienten hat ergaben, dass in den Placebogruppen nicht mehr Selbstmorde beobachtet wurden als in den Verumgruppen [DMW 2000; 125/43: A 9]. Wahrscheinlich sind eine Reihe von Antidepressiva, die mehr versprechen als halten, auf diese Weise auf den Markt gekommen. Das ist natürlich auch nicht besonders ethisch. Aus meiner Sicht ist es viel unethischer, dass die Studien in der Regel zu kurz angelegt sind. Sie sollten mindestens 20 Wochen dauern, da erst dann mit reliablen und validen Ergebnissen zu rechnen ist. Bei Schizophrenie ist mit Placebo-Reaktionen zwischen 30 und 40 % zu rechnen [Hyman und Shore 2000]. Bei Angsterkrankungen werden Placebo-Responseraten von 7 bis 134 % (!) beschrieben [Piercy et al. 1996]. Zunehmend häufiger sprechen sich deshalb Autoren für Placebo-kontrollierte Versuche in der psychiatrischen Forschung aus [z.B. Keck et al. 2000, Leber 2000, Miller 2000, Schatzberg und Kraemer 2000, Temple und Ellenberg 2000]. Die Verantwortung für das Versuchsdesign ( mit oder ohne Placebo) liegt einzig und allein beim Leiter der klinischen Prüfung (LKP). Dieser muss notfalls den Wünschen der pharmazeutischen Industrie widerstehen. Es ist selbstverständlich, dass der rekrutierte Patient seine freiwillige Zustimmung nach vollkommener Aufklärung (informed consent) geben muss. Das entbindet den LKP und die Prüfärzte aber nicht von ihrer alleinigen Verantwortung gegenüber den Patienten. Die in der Psychiatrie zunehmend favorisierten offenen Studien ohne Kontrollgruppen sind keine Alternative. Sie sind reine Marketing-Studien. Jeder Arzt, der sich an solchen »Studien« beteiligt, sollte wissen, dass er seinen Patienten gegenüber unethisch handelt. 2.2.4 Das missbrauchte Placebo 20 Manche klinische Studien werden über mehrere Wochen mit einer einfach verblindeten Placebo-run-in-Phase eingeleitet. Dafür gibt es vielfältige (Schein-) Begründungen, z.B. Ausschluss von Patienten, die sich nicht compliant verhalten, Ausschluss von sogenannten Placebo-Responders, Einschluss möglichst stabiler Patienten, Auswaschphase für vorhergehende Behandlungen, Periode zur Messung von Ausgangswerten usw. [Senn 1997]. An zwei Beispielen sollen die praktischen Konsequenzen erläutert werden: In die 4 S (Scandinavian Simvastatin Survival Study)-Studie, eine Sekundärpräventionsuntersuchung zum Nutzen von Statinen bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit, wurden 7027 Patienten rekrutiert. Nach 8 Wochen Diät- und 2 Wochen Placeborun-in-Phase wurden dann schließlich nur noch 4444 Patienten randomisiert. Damit wurden 36.8 % der Patienten (vorwiegend wegen mangelhafter Compliance und Nichtansprechen der Diät) vom Versuch ausgeschlossen. Damit waren alle »Problempatienten« eliminiert. In der PROSPER (PROspective Study of Pravastatin in the Elderly at Risk)-Studie wurden 7056 Patienten über 4 Wochen einer einfach blinden Placebo-run-in-Phase unterworfen [Shepherd et al. 2002]. Patienten, die mehr als 120 % oder weniger als 75 % der Placebo-Medikation einnahmen, wurden wegen Non-Compliance ausgeschlossen. Das betraf immerhin 1252 Patienten ( = 18 %)! In beiden Studien wurden also ganz bewusst nur hochmotivierte Patienten einbezogen. Die damit erhaltenen Resultate, die mager genug sind, lassen sich demzufolge auf die Praxis des niedergelassenen Arztes nicht übertragen, der es häufig mit eher weniger motivierten Patienten zu tun hat. Diesen Placebomissbrauch, durch den Studienergebnisse geschönt werden, halte ich nicht für besonders ethisch. 2.3 Der gesunde Proband und das Placebo Seit 1945 der erste Artikel über das Placebo von Pepper erschien, wurden Tausende von Texten über dieses Thema veröffentlicht, merkwürdigerweise aber nur sehr wenige über das Placebo bei gesunden Probanden. Die Frage resultiert letztlich, ob auch in klinischen Studien der Phase I ein Placeboarm notwendig oder wenigstens nützlich sein könnte. Rosenzweig et al. [1993] bewerteten 109 doppelblinde, Placebo-kontrollierte Studien mit insgesamt 1228 Probanden. Die Häufigkeit von Nebenwirkungen betrug insgesamt 19 %. 21 Sie war erwartungsgemäß bei wiederholten Dosen und bei älteren Menschen höher, 28 bzw. 26 %. Am häufigsten wurde über Kopfschmerzen (7 %), Schläfrigkeit (5 %) und Asthenie (4 %) geklagt. Später [1995] kamen dieselben Autoren nach weiteren Untersuchungen, die auch die Herzfrequenz, die Schlafsituation u.a. einschlossen, zu dem Schluss, dass auch in Phase I Studien mit gesunden Probanden Placeboversuche angezeigt sein könnten. Wir haben in einer ausführlichen Studie die Zuverlässigkeit der Angaben von Beschwerden durch gesunde Probanden untersucht, die über mehrere Zeitperioden mit Placebo behandelt wurden [Meyer et al. 2000]. Dabei mussten 78 gesunde Medizinstudenten in vier Versuchsperioden (1 medikamentenfreie Kontrolle, 3 Placebo-Perioden, aber mit der Suggestion, randomisiert Placebo oder Sedativum oder Stimulans erhalten zu haben) auf einem Nebenwirkungsfragebogen die Symptome ankreuzen, die sie jeweils in den vorangegangenen 72 Stunden erlebt hatten (adverse nondrug reactions). In der Kontrollperiode waren nur 14 Probanden (18 %) ohne Symptome. Im Verlauf von vier Wochen haben 30 Probanden (38 %) keine Beschwerden mehr angegeben, z.B. Müdigkeit, Kopfschmerzen, Muskel- und Gelenkschmerzen usw. Diese Entwicklung ist insofern klinisch relevant, da in Phase I-Studien die Befindlichkeit der Probanden häufig über längere Zeit erfasst wird und gegebenenfalls mit einem nachlassenden Interesse, nachlassender Motivation oder mit einer Adaption der Probanden an die Versuchssituation zu rechnen ist. Da die Häufigkeit der geklagten Symptome auch von der Persönlichkeitsstruktur der Probanden modifiziert wird [Meyer et al. 1996], sollten die Probanden aber zumindest psychologisch charakterisiert werden. In vielen Fällen dürfte es sich als optimal erweisen, sog. symptomatische Probanden für Phase IStudien zu rekrutieren [Meyer 2001 a]. Placebo-kontrollierte Versuche bleiben in dieser frühen Phase eher die Ausnahme. 2.4 Die Placebo-Chirurgie Aus pharmakologischer Sicht spielt die Placebo-Chirurgie eher eine untergeordnete Rolle. Aus chirurgischer Sicht ist sie wohl wenig angebracht. Jedenfalls hat man das Gefühl, dass chirurgische Verfahren im Wesentlichen ohne strenge und schlüssige Evaluation in die Praxis eingeführt werden. Eine aktuelle Publikation zu diesem Thema war jedoch Anlass, auch auf diesen Aspekt wenigstens hinzuweisen. Moseley et al. [2002] konnten an 180 Männern mittleren Alters mit mittelgradiger fortgeschrittener Osteoarthritis (Röntgenkontrolle) des Kniegelenks zeigen, dass nach randomisierter Zuordnung zu drei Behandlungsarmen zwei Jahre nach dem Eingriff keine 22 Unterschiede zwischen den Schmerz-Scores und den Scores für die Beweglichkeit des Knies erhoben werden konnten. Zwei Gruppen wurden konventionell arthroskopiert und entweder nur gespült (Lavage) oder abgetragen (Débridement). In der Placebogruppe erfolgte nur ein kleiner Hautschnitt, die Gesamtoperation wurde dem Patienten jedoch über einen Monitor vorgetäuscht. Ridgway und Darzi loben in einem Editorial [2002]: „This is an important example, not only for people with osteoarthritis, but for the surgical community in general, who perform such operations without any controlled data to suggest efficacy”. In demselben Kontext verweisen Horng und Miller [2002] auf die Tatsache, dass 43 Jahre früher schon einmal eine Placebo-kontrollerte chirurgische Studie veröffentlicht wurde: „In 1959, the ..... published the results of a placebo-controlled trial of ligation of the internal thoracic artery for the treatment of angina”. In der Zwischenzeit geschah relativ wenig [Johnson 1994]. Es ist wohl nicht zu erwarten, dass Placebo-kontrollierte Studien die Chirurgie eines Tages so dominieren werden wie gegenwärtig die konservativen Fächer. Trotzdem gibt es sicher eine Reihe chirurgischer Optionen, die nur im Vergleich zu bewerten sind, etwa die Parkinson-Chirurgie, die Inkontinenz-Chirurgie, viele Varianten der Krebs-Chirurgie bis zur prophylaktischen Mastektomie. Chirurgen würden sicher noch andere Verfahren einfallen. Im weitesten Sinne könnte auch die Akupunktur in diesem Kapitel abgehandelt werden, da es sich bei jeder Nadelung um einen invasiven Eingriff handelt. Schein(Sham-)Akupunktur und Placebo-Akupunktur sind prinzipiell möglich. Das gegenwärtig durch die Krankenkassen initiierte »Wettrüsten der Modellversuche« [ KBV-Klartext, Januar 2001] dient allerdings nicht dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, sondern bemäntelt eine Massenanwendung. Unethisch ist dieses Vorgehen auf alle Fälle. 3. DAS PLACEBO IN DER THERAPIE In den 1970er und 80er Jahren wurde der praktischen Anwendung von Placebos große Aufmerksamkeit gewidmet. Der Mainzer Pharmakologe G. Kuschinsky hatte bestimmte Voraussetzungen für die Therapie mit Placebos zusammengefasst: - Diagnose so weit wie möglich geklärt, - pharmakologisch wirksame Mittel mit besserer Aussicht auf Erfolg stehen nicht zur Verfügung, - die Zeitdauer der Behandlung wird nicht unnötig verzögert, 23 - es werden nur »unschädliche« Stoffe verordnet, - es soll ein »soziotroper Effekt« erzielt werden ( = ut aliquid fiat). Im Hinblick auf den letzten Aspekt hatte Findley bereits 1821 formuliert: „Der Mensch in der Not verlangt aktives Handeln – rationales Handeln, wenn möglich – irrationales, wenn nötig eher als gar keines!“. Daraus resultierten dann (heftig umstrittene) Indikationen für die Placebo-Anwendung [Übersicht bei Kroneberg 1986]: - Beruhigung ängstlicher Patienten zur Vermeidung von Symptomverschlimmerung, - Behandlung funktioneller Störungen (Neurosen), - Opiateinsparung, - Medikamentenentzug bei Arzneimittelmissbrauch. Im Folgenden wird auf einzelne Probleme eingegangen werden. 3.1 Das reine Placebo Milchzucker (Lactose) oder Stärke (Amylum) als Pulver, zu Tabletten gepresst oder dragiert und dann gefärbt oder in Gelatinekapseln gefüllt, Kochsalzlösung (NaCl 0.9%) als Injektionslösung, Suppositorienmasse ohne Inhaltsstoffe als Zäpfchen – das ist das Spektrum. Salbengrundlagen ohne Wirkstoffe lassen sich kaum als reine Placebos bezeichnen. In den 1960er Jahren wurden für viele Indikationen hohe Raten subjektiver und objektiver Besserungen unter Placebo veröffentlicht [Zusammenfassung bei Walther und Meyer 1990]: Schlafstörungen 0 – 10 %, Heuschnupfen 0 – 20 %, Obstipation und Angsttremor 0 – 30 %, Neurosen, Angina pectoris, Hypertonie 0 – 60 %, Schmerzen, Psychosen, multiple Sklerose 0 – 70 %, Morbus Parkinson 10 – 20 %, Alkoholismus 10 – 50 %, Dysmenorrhoe 10 – 60 %, chronische Arthritis 10 – 80 %, Migräne, Magen-DarmStörungen 20 – 60 %, Husten 35 – 45 %, Erkältungen 35 – 60 %, Kinetosen 50 – 60 %, Kopfschmerzen, Gastritis, Ulcus ventriculi et duodeni 50 – 90 %. Natürlich kennen wir auch Placebo-Nebenwirkungen, z. B. Gefühlsstörungen 50 %, Kopfschmerzen 25 %, Ermüdung, Schweregefühl 20 %, Konzentrationsschwäche 15 %, Schläfrigkeit, Übelkeit, Mundtrockenheit 10 %. Das war das »powerful placebo« sensu Beecher [1955]. Trotz dieser nachweislichen pharmakodynamischen Effekte würde ich die Anwendung eines reinen Placebos als pharmakotherapeutische Option im Allgemeinen ablehnen – selbst dann, wenn der Patient über die inerte Substanz informiert wurde. Ich halte die Anwendung 24 einer Leersubstanz für unethisch. Ihre »Wirkungen« sind beim einzelnen Patienten noch viel weniger vorhersagbar, absehbar, reproduzierbar als bei einer Therapie mit einem Verum. Das betrifft auch die Therapie postoperativer Schmerzen durch die Injektion von physiologischer Kochsalzlösung, um Opioide zu sparen – aus welchen Gründen auch immer. Daran kann m. E. auch der kürzlich erhobene Befund nichts ändern, dass bei gesunden Probanden, die schmerzhaften Hitzereizen ausgesetzt wurden, nach der Gabe des Opioidanalgetikums Remifentanyl die gleichen Hirnregionen (rostraler anteriorer cingulärer Cortex, rACC) reagierten wie nach Placebo. Bei Patienten ohne Medikament (Kontroll- gruppe) blieb dieses Areal dagegen inaktiv. Probanden, deren rACC besonders massiv auf das Verum ansprach, reagierten auch gegenüber Placebo besonders sensitiv [Petrovic et al. 2002]. Von dem Heidelberger Internisten A. Kussmaul (1822 – 1902) ist der Satz überliefert: „Das rechte Wort zur rechten Zeit aus dem Munde eines erfahrenen human gebildeten Arztes tut oft größere Wunder als Arzneien und Wasserkuren.“ Also eine »sprechende« Medizin, Empathie, Hinwendung, Zuwendung anstelle eines echten Placebos, wenn der Arzt ein Medikament für überflüssig halten sollte. Es war Rufus von Ephesos, der uns mit seiner Schrift „Die Fragen des Arztes an den Kranken“ auf die Bedeutung der heute oft vernachlässigten Anamnese hinwies. Das war vor etwa 1900 Jahren! Selbst das uns so modern dünkende Wort »Psychopharmakon« wurde schon am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit einschlägig benutzt. Der hessische Landadlige Reinhardus Lorichius aus Hadamar verfasste eine Sammlung von Trost- und Sterbegebeten unter dem Titel „Psychopharmakon, hoc est: medicina animae“. Psychopharmakon auch hier als geistige Medizin, als verbale Interaktion im Sinne von Moliére, für den Arzneimittel nur Vehikel waren für eine sprechende Medizin im Sinne eines „medicus curat, natura sanat“. 3.2 Das unreine Placebo Der überwiegende Teil der medikamentösen Maßnahmen seit Urzeiten war eine Placebotherapie. Selbst die wenigen wirksamen Drogen aus der Volksmedizin, z. B. Belladonna, Rauwolfia, Digitalis, Opium, Chinarinde, lassen sich als unreine Placebos bezeichnen, da sie häufig bei »falschen« Indikationen und/oder mit falscher Dosierung angewandt wurden. Oder denken wir an die Jahrzehnte übliche »Rollkur« bei einem Ulcus ventriculi: Ausgehend von der naiven – aber anschaulichen – Vorstellung, dass man eine leicht schleimhautätzende organische Silberverbindung, etwa Targesin® (Argentum diacetylotannicum 25 albuminatum) oder andere entzündungshemmende Substanzen, z. B. Kamillenextrakt, Kamillentinktur oder Succus Liquiritiae, durch Lageveränderung des Körpers möglichst homogen auf die Magenmukosa verteilen könne. Aber der Patient war » beschäftigt «. Er drehte frühmorgens sich nach den Anweisungen des Arztes oder der Schwester gewissenhaft alle fünf Minuten auf eine andere Seite und glaubte an den Nutzen dieser Übung, die ihm verständlich war. Wesentlich war wohl , dass er den Tag nicht gleich mit einer Zigarette beginnen konnte und im Allgemeinen auch auf Alkohol verzichtete. Häufig handelt es sich bei einer Therapie mit unreinen Placebos um Arzneimittel, an die der Therapeut selbst glaubt, mit denen er seine eigenen, persönlichen Erfahrungen gesammelt hat. Auf die Gefahren, die aus dieser Haltung resultieren können, wies der Internist C. A. Wunderlich in seiner Antrittsvorlesung am 12.März 1851 in Leipzig hin (also bereits vor 150 Jahren), als er den Lehrstuhl für Innere Medizin übernahm: „Die gewöhnlich einzige Gewähr für den Erfolg einer Behandlungsmethode sind die Versicherungen aus den Reminiszenzen der Praxis. Es ist schon schlimm genug, wenn die therapeutische Erfahrung des einzelnen auf nichts als auf Reminiszenzen des Selbsterlebten aufgebaut ist; denn man weiß, wie trügerisch diese Erinnerungen sind, wie gerade die auffallenden, exzeptionellen Fälle am meisten sich einprägen, wie gern die Fälle im Gehirn sich mit der Zeit verdoppeln und verdreifachen, und wie es auf die subjektive Stimmung ankommt, ob man die Erfahrung häufig oder selten gemacht zu haben glaubt. Was dem Vorsichtigen manchmal heißt, das ist für den Sanguiniker oft oder immer, für den Zweifler selten oder niemals. Beispielhaft seien einige Medikamentengruppen aufgeführt, bei denen der unreine Placebocharakter besonders deutlich wird. So gibt es an die 60 Cholagoga und Gallentherapeutika, mindestens ebenso viele Hepatika oder sog. Leberschutzstoffe, etwa 20 »Arteriosklerosemittel«, etwa 60 durchblutungsfördernde Mittel, ein gutes Dutzend »Geriatrika«, eine Vielzahl von »Immunmodulatoren« mit dem Flaggschiff Echinacea (Sonnenhut), Kardiaka mit Crataegus (Weißdorn), Viscum album (Mistel) und viele andere, insgesamt nochmals mehr als 150 Präparate, Neuraltherapeutika, Magen-Darm-Mittel, Umstimmungsmittel, Rheumasalben usw. Die „Rote Liste®“ bietet allen Interessierten viel Stoff zum Amüsement. Dabei handelt es sich um Substanzen, sog. Altlasten, auch als »umstrittene Arzneimittel« bekannt – Relikte aus alten Zeiten! Arzneimittel, die (in der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland) vor dem 2. September 1976 in den Verkehr gebracht wurden, 26 mussten nicht auf Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit geprüft werden. Die Ablauffrist für derartige Präparate wurde mehrfach verschoben, zuletzt auf den 31.12. 2004/1.1.2005. So konnten viele ungeprüfte Arzneimittel »legal« 28 Jahre angeboten, verordnet, verschrieben, verkauft und gekauft werden. Der Gesetzgeber hat der Pharma-Lobby die Zeitspanne von einer Generation eingeräumt, um gesunde und kranke Bundesbürger mit Arzneimittelmüll zu belasten. Zu solchen politischen Entscheidungen gehört viel Patientenverachtung. Es ist kaum vorstellbar, dass alle Parlamentarier industrieunabhängige Entscheidungen getroffen haben. In diese Kategorie des unreinen Placebos gehören auch die Arzneimittel der »besonderen Therapierichtungen«, die seit 1978 eine Nische im bundesdeutschen Arzneimittelrecht gefunden haben: Phytotherapie, Homöopathie (= Superplacebo?) und anthroposophische Medizin. Das Besondere an diesen Therapierichtungen ist, dass sie sich einem Wirksamkeitsnachweis entziehen können. Die Sozialgesetzgebung gestattet deren Vertretern sogar, die Gültigkeit ihrer Leitsätze durch »Binnenanerkennung« festzulegen. Die Beliebtheit dieser Verfahren bei Teilen der Bevölkerung steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Wirksamkeit. Jeder Arzt muss letztlich für sich entscheiden, wie ethisch es ist, (nahezu) unwirksame Substanzen bei der Behandlung seiner Patienten anzuwenden. Natürlich sind auch hochwirksame Substanzen unreine Placebos, wenn sie bewusst oder unbewusst mit falscher Indikation angewendet werden, z. B. wenn virale Infektionskrankheiten mit Sulfanilamiden oder Antibiotika behandelt werden. 3.3 Das Pseudoplacebo Die Differenzierung zwischen dem unreinen Placebo und dem Pseudoplacebo wird sicher nicht von jedem akzeptiert, sondern als allzu formal verworfen werden. Vor allem aus didaktischen Gründen halte ich sie aber für vertretbar. Während das unreine Placebo im wesentlichen den »Arzneimittelmüll« umfasste, also Substanzen, die nur selten auf ihre Wirksamkeit geprüft wurden, möchte ich unter das Pseudoplacebo jene Wirkstoffe einordnen, deren prinzipielle Wirksamkeit pathobiochemisch, molekularpharmakologisch, tier- experimentell und humanpharmakologisch zwar nachgewiesen wurde, deren vermutliche oder erhoffte Wirkung in den großen klinischen Studien der letzten 10 bis 15 Jahre aber trotz aller Bemühungen bislang nicht bestätigt werden konnte. Es handelt sich auch nicht um Substanzen, die prinzipiell und offenkundig mit falscher Indikation eingesetzt werden, wie 27 Antibiotika bei Virusinfektionen, sondern es handelt sich um Therapieoptionen aufgrund o. a. präklinischer Experimente, aufgrund epidemiologischer Befunde und aufgrund klinischer Studien, in denen aber aus unterschiedlicher Motivation lediglich »Surrogatparameter« getestet wurden. Letztlich interessiert uns aber nicht, ob der Blutdruck bei einem Patienten gesenkt wird oder ob Cholesterolwerte verändert werden oder ob Hämoglobin A1c gesenkt wird. Derartige Surrogatparameter gibt es zu Hunderten. Den Arzt und vor allem den Patienten interessiert, ob sich durch eine Therapie die Lebensqualität verbessert, ob die Morbidität reduziert oder aber die Mortalität gesenkt wird. Ob sich ein Wirkstoff nach jahrzehntelanger Anwendung am Ende als Pseudoplacebo herausstellt, können wir erst aufgrund der großen prospektiven, Placebo-kontrollierten, randomisierten, verblindeten, multizentrischen Studien der letzten Jahre beurteilen. Auf einige typische Beispiele für solche Pseudo-Placebos, die teilweise an anderer Stelle ausführlich beschrieben werden (vergleiche auch Abschnitt 2.2.1), soll eingegangen werden: – Antiarrhythmika bei postinfarciellen Rhythmusstörungen [CAST-Studie, Echt et al. 1991], – Digoxin (Digitoxin?) bei Herzinsuffizienz [DIG-Trial, 1997], – Hormonersatztherapie bei postmenopausalen Frauen im Rahmen der Primärprävention [WHI, 2002] und im Rahmen der Sekundärprävention [HERS II, Grady et al. 2002, Hulley et al. 2002], – ein Beleg für die Wirksamkeit einer intravenösen/oralen Therapie mit Alpha-Liponsäure bei irgendeiner Form der diabetischen Polyneuropathie wurde bislang nicht erbracht [ALADIN III, Alpha-Lipoic Acid in Diabetic Neuropathy, Ziegler et al. 1999], – über Jahre haben Pathobiochemiker versucht, uns vom Nutzen antioxidativer Vitamine zu überzeugen. Nachdem durch klinische Studien wiederholt der Stachel des Zweifels an diesem Gedankengebäude kratzte, wurde 2002 die Heart Protection Study (HPS) veröffentlicht: 20536 Engländer (40 – 80 Jahre) mit koronarer Herzkrankheit, ischämischem Schlaganfall, transitorischen ischämischen Attacken, Claudicatio intermittens, Diabetes mellitus oder behandelter Hypertonie beteiligten sich an einer Sekundärpräventionsstudie. Über 5 Jahre wurden antioxidative Vitamine (600 mg Vitamin E plus 250 mg Vitamin C plus 20 mg β-Carotin pro Tag) gegen Placebo verglichen. Die Vitamine vermochten weder die Gesamtmortalität, noch tödliche oder nicht tödliche vaskuläre Ereignisse zu vermindern. Im 28 Gegenteil, unter den Vitaminkombinationen traten alle tödlichen Ereignisse geringfügig häufiger auf als unter Placebo. Raucher oder Ex-Raucher hatten gegenüber Nichtrauchern keine Vorteile! Auch die Krebsinzidenz wurde durch den Vitamincocktail nicht verändert. – In derselben Studie HPS wurde auch die Cholesterol-Legende endgültig zu Grabe getragen. Der geringfügige Nutzen der Statine im Rahmen der Sekundärprävention ist vermutlich auf ihre antiinflammatorische Wirkung zurückzuführen. Dazu würden natürlich auch Aspirin oder ASS ratiopharm – niedrig dosiert, d. h. < 100 mg/d – ausreichen [Meyer 2002d]. Manche dieser heute als nutzlos oder sogar als riskant eingestuften Therapieverfahren waren lediglich das Ergebnis von »Konsensuskonferenzen« und »Konsensuspapieren«, auf denen industrieabhängige Meinungsbildner mit oder ohne Professorentitel die Interessen ihrer »Auftraggeber« wahrnahmen, ohne ihrer Verantwortung gegenüber den Patienten gerecht zu werden [vergleiche auch Meyer 2002]. Über Jahrzehnte hinweg wurden Motivationsparadigmata, z.B.: erhöhtes Cholesterol führt zu Herzinfarkt oder Schlaganfall, wider besseres Wissen über alle Medien verbreitet und in Lehrbüchern als »Standardwissen« unreflektiert weitergegeben. Damit wurde viel Geld verdient. Der Patient interessiert nur als Konsument. Mein Hannoveraner Kollege Prof. Frölich pflegt in diesem Kontext immer einmal wieder die »Szene vor dem Tor« aus Goethes »Faust« zu zitieren: „Faust: Hier war die Arznei, die Patienten starben, Und niemand fragte: wer genas? So haben wir mit höllischen Latwergen In diesen Tälern, diesen Bergen Weit schlimmer als die Pest getobt. Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben, Sie welkten hin, ich muss erleben, Dass man die frechen Mörder lobt. Wagner: Wie könnt Ihr Euch darum betrüben! Tut nicht ein braver Mann genug, die Kunst, die man ihm übertrug, Gewissenhaft und pünktlich auszuüben? 29 Faust: O glücklich, wer noch hoffen kann, Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!“ Wir alle müssen in der Zukunft die Frage „Wer genas?“ mit größerer Dringlichkeit stellen. Es ist offenbar zu wenig, wenn der Brave die Kunst, die man ihm übertrug, nur gewissenhaft und pünktlich ausübt. Ich gehe davon aus, dass wir auch in Zukunft erleben werden, dass hochgelobte und massiv beworbene Substanzen sich als Flops erweisen könnten. Verschiedene Formen der immunmodulatorischen Stufentherapie bei multipler Sklerose, besonders die Anwendung von Betaferon® bei sekundär-progressiver MS, müssen immer wieder hinterfragt werden. Äußerst fatal ist die intensiv propagierte Anwendung von Glitazonen bei Diabetes mellitus trotz eines ausgeprägt schlechten Nutzen-Risiko-Verhältnisses. Troglitazon wurde wegen schwerer Leberschäden endlich vom Markt genommen. Die Nachfolgepräparate Rosiglitazon (Avandia®) und Pioglitazon (Actos®) zeigen jetzt ähnliche Probleme. Wiederholt wurden schwere Leberschäden beschrieben. Da es bislang keinen Beleg dafür gibt, dass Glitazone den Krankheitsverlauf bei Typ-2-Diabetes günstig beeinflussen, d.h. die Morbidität oder die Mortalität senken, halte ich ihre Anwendung für ethisch fragwürdig. Acarbose (Glucobay®) senkt bei Patienten mit gestörter Glucosetoleranz nach einem Glucosebelastungstest zwar geringfügig den Blutzucker, ein Einfluss auf den Nüchternblutzucker und den HbA1c-Wert wurde aber nicht festgestellt. Auch hier wurde die Frage: „Wer genas?“ weder gestellt noch beantwortet. Vielleicht liegt das daran, dass einige der Autoren der STOP-NIDDM (Study TO Prevent Non-Insulin Dependent Diabetes Mellitus)Studie der Firma Bayer mehr als vertretbar verpflichtet sind. Leider wurden diese Interessenkonflikte in Lancet nicht angegeben (Chiasson et al. 2002). Auch am Nutzen der neuen Basalinsuline kann gezweifelt werden. Die durchschnittlichen klinischen Effekte der oralen Asthmamittel aus der Gruppe der Leukotrien-Antagonisten, z.B. Montelukast (Singulair®), sind gering und werden von den einzelnen Patienten kaum wahrgenommen. Der positive Effekt der Cholinesterasehemmer auf den Krankheitsverlauf bei Altersdemenz ist nur äußerst gering. Unter Rivastigmin (Exelon®) werden immer wieder deutliche Verschlechterungen des Krankheitsbildes gesehen: Unruhe, Agitation, Aggressivität, kognitive Störungen, Verhaltensauffälligkeiten. 30 Die Reihe ließe sich endlos fortsetzen. 3.4 Iatroplacebogenese Nach allem, was bisher formuliert wurde, wird deutlich, dass das Arzt-PatientenVerhältnis eine entscheidende Rolle für den Therapieerfolg haben kann. Wobei der eine Patient den dominanten »Halbgott in Weiß« bevorzugt, der andere den nüchtern-sachlichemotionslosen Technokraten, der dritte den einfühlsam-führenden Doktor mit viel Empathie. Wie auch immer, die Persönlichkeit des Arztes und die Persönlichkeit des Patienten – der Wille des Kranken, seine Beschwerden zu verlieren, der Glaube an die Heilkraft der verordneten Mittel, die Besonderheit der augenblicklichen Situation – sind wichtige Aspekte für eine Placebowirkung neben dem eigentlichen pharmakodynamischen Effekt, der verbessert, aber auch abgeschwächt werden kann. 1963/64 haben wir durch den US-amerikanischen Experimentalpsychologen R. Rosenthal erfahren, dass selbst in der klassischen tierexperimentellen Pharmakologie die Erwartungshaltung des Untersuchers die Tierversuchsergebnisse positiv oder negativ beeinflussen kann. Diese – später als Rosenthal-Effekt – bezeichnete Erwartungshaltung des Arztes und des Patienten geht natürlich auch in die Therapieergebnisse ein. Weshalb ein vom kurzangebundenen Kassenarzt enttäuschter Patient beim Homöopathen oder Heilpraktiker mit menschlicher Wärme und Ausstrahlung (auf der Basis von cash) durchaus gut aufgehoben sein kann. Balint [1957] sprach von der »Droge Arzt«. Shapiro [1969] hat diesen Einfluss des Arztes und seiner Tätigkeit auf die Reaktion gegenüber Placebos treffend als »Iatroplacebogenese« bezeichnet. Man muss aber zugeben, dass Arzt-Patienten-Interaktionen gegenwärtig nur sehr unzureichend untersucht worden sind. Kleijnen et al. [2001] stellten in einer Meta-Analyse fest, dass vor allem Ärzte, die emotionales Einfühlungsvermögen mit verständlicher Information verbanden, die besseren Therapieerfolge hatten im Vergleich zu jenen, die eher unbeteiligt und verschlossen auftraten. Das ist aber fast banal. 4. ZUSAMMENFASSUNG/ ABSTRACT Wenn überhaupt eine Zusammenfassung gewagt werden soll , dann so: Das Placebo begleitet uns seit Jahrtausenden durch die gesamte Medizin. Einer besonderen Hervorhebung dieses wichtigen Teiles der therapeutischen Gesamtwirklichkeit bedurfte es erst, nachdem tatsächlich wirksame Medikamente auf den Markt kamen. Eine solche Zäsur bietet das Jahr 31 1630, als die Herzogin von Chinon, Vizekönigin von Peru, durch die Jesuiten in Lima wirksam mit Chinarinde gegen Malaria behandelt werden konnte. Wir haben erkennen müssen, dass die eingangs der Arbeit formulierten Fragen nicht eindeutig beantwortet werden können. Das Placebo behält seine schillernden Facetten – es ist die namenlose Pille ebenso wie die heilende Lüge, das nihilum album und das powerful placebo, die machtvolle Droge oder das powerless placebo. Auf jeden Fall ein unverzichtbares Therapieprinzip. In der klinischen Forschung ist der Placeboarm unabdingbar und ethisch vertretbar, wenn es keinen Goldstandard der Behandlung gibt: Das ethische Placebo! – Häufig genug wird dem Patienten der Goldstandard vorenthalten und aus Marketinggründen ein Placebo appliziert: Das unethische Placebo!“ In manchen Fällen mag die Entscheidung umstritten sein. Nicht selten wird in sogenannten Run-in-Phasen das Placebo missbraucht, um »ungeeignete« Patienten aus klinischen Prüfungen auszuschließen. In der Therapie dürfte das reine Placebo in der Regel unethisch sein, unreine Placebos werden unbeabsichtigt viel zu häufig angewendet. Ihre bewusste Nutzung kann im Einzelfall jedoch akzeptabel sein (ut aliquid fiat). Ob eine Substanz Pseudoplacebo ist oder nicht, kann nur im Placebo-kontrollierten klinischen Versuch entschieden werden. Da es um Milliarden-Umsätze geht, besteht leicht die Gefahr, dass »Evidence Based Medicine« zu »Money Based Medicine« verkommt. Damit wird die Anwendung von Pseudoplacebos zunehmend zu einer ethischen Kategorie, erinnert sei nur an die in der Vergangenheit viel geübte Hormonersatztherapie in der Postmenopause. Als Ärzte sollten wir uns immer dafür offen halten, dass sich vielleicht manche heute noch »wirksame« Therapie in der Zukunft als Placebo herausstellen und dass sich eventuell manches scheinbare Placebo in der Praxis der Zukunft als nachweisbar wirksame Substanz entpuppen könnte, gegebenenfalls begleitet von einem Paradigmenwechsel in der entsprechenden Fachrichtung. Wahrscheinlich sind solche Einsichten aber eher selten zu erwarten – erinnert sei nur an die Cholesterollegende – wenn man an die Feststellung von Max Planck denkt: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit siegt nicht, indem sie ihre Gegner überzeugt und ihnen zur Einsicht verhilft, sondern vielmehr, weil ihre Gegner irgendwann sterben und eine neue Generation heranwächst, die mit ihr vertraut ist“. Dieser Satz wurde von K. H. Beecher, Boston [1984] zitiert und war somit direkt placebobezogen. Application of Placebo – The Ethical Perspectives If a summary should at all be attempted then only in the following way: The placebo has accompanied us throughout medicine over millennia. Special emphasis of this important 32 part of therapeutic reality in its entirety only became necessary when really effective medications came onto the market. The year 1620 lends itself as such a caesura, when the Duchess of Chinon, the vice-queen of Peru, was effectively treated for malaria with Peruvian bark by the Jesuits of Lima. We have had to recognise that the questions posed at the beginning of the paper cannot be answered unambiguously. The placebo does not lose its gleaming facets – it is the nameless pill just as much as the lie that heals, the nihilum album and the powerful placebo, the mighty drug or the powerless placebo. In any case it is a principle of therapy that cannot be dispensed with. In clinical research the placebo side is indispensable and ethical as long as there is no gold standard of treatment: The ethical placebo! – Often enough the gold standard is withheld from patients and only placebo applied for marketing reasons: The unethical placebo! In many cases the decision may well be controversial. The placebo is quite often misused in socalled run-in phases in order to exclude “unsuitable” patients from clinical tests. Treatment with pure placebo should as a rule be considered as being unethical and impure placebos are unintentionally applied much too frequently. Conscious use of the same may however be acceptable in individual cases (ut aliquid fiat). The question whether a substance is a pseudoplacebo or not can only be answered in a placebo-controlled clinical test. As this involves turnovers of billions, the danger is very likely to arise that “Evidence Based Medicine” degenerates into “Money Based Medicine”. Thus the application of pseudo-placebos increasingly becomes an ethical category; the postmenopause hormone replacement therapy often practised in the past should be called to mind. As physicians, we should always remain open to the fact that many a treatment that is still “effective” today may prove to be a placebo in the future and that many an apparent placebo may reveal itself in practice to be a provably effective substance, possibly accompanied by a shift in paradigms in the corresponding specialist area. Such insights are probably only rare – let us recall the cholesterol legend – if one thinks of the conclusion made by Max Planck: “A new scientific truth does not conquer by convincing its opponents and aiding them to understanding but, moreover, because its opponents eventually die and a new generation comes on that is familiar with it”. This sentence was cited by K. H. Beecher, Boston [1984] and thus refers directly to placebo. 33 5. 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Heft 129: Godel-Ehrhardt, Petra; May, Arnd T.: Kommunikation und Qualitätssicherung im Betreuungsrecht – Ergebnisse einer Befragung zur Mailingliste [email protected]. März 2001. Heft 130: Dabrock, Peter; Klinnert, Lars: Würde für verwaiste Embryonen? Ein Beitrag zur ethischen Debatte um embryonale Stammzellen. Juli 2001. Heft 131: Meyer, Frank P.: Ethik der Verantwortung. Verkommt »Evidence Based Medicine« zu »Money Based Medicine«? März 2002. Heft 132: Sass, Hans-Martin: Menschliche Ethik im Streit der Kulturen. 2. Auflage Januar 2003. Heft 133: Knoepffler, Nikolaus: Menschenwürde als Konsensprinzip für bioethische Konfliktfälle in einer pluralistischen Gesellschaft. März 2002. Heft 134: Quante, Michael: Präimplantationsdiagnostik, Stammzellforschung und Menschenwürde. März 2002. Heft 135: Köchy, Kristian: Philosophische Grundlagenreflexion in der Bioethik. März 2002. 38 Heft 136: Hengelbrock, Jürgen: Ideengeschichtliche Anmerkungen zu einer Ethik des Sterbens. Juli 2002. 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Meyer diskutiert ethische Aspekte des Placebogebrauchs in der klinischen Forschung und untersucht und bewertet unterschiedliche Formen von Missbrauch und sinnvoller Anwendung. Es wird unterschieden zwischen ethischem und unethischem Gebrauch, umstrittenem Gebrauch und Missbrauch, ebenfalls in der Therapie zwischen reinem und unreinem Placebo und Pseudoplacebo. Die Untersuchung gewinnt insbesondere auch durch die breite forschungsgeschichtliche Perspektive, in der die Thematik abgehandelt wird. ABSTRACT Frank P. Meyer discusses ethical perspectives of use of placebos in clinical trials and analyses and evaluates different forms of use and abuse. Differencies are made between ethical and unethical use, controversial use, abuse, also in therapeutical use between pure placebo, nonpure placebo, and pseudo placebo. The wide historical perspective broadens the scope of his ethical reflections in pharmacology and clinical research. ISBN 3-931993-21-3 40