Die Metro als Schauplatz im französischen Film.
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Die Metro als Schauplatz im französischen Film.
Universität zu Köln Philosophische Fakultät MAGISTERARBEIT Die Metro als Schauplatz im französischen Film. Verfolgungsjagden im Untergrund von Paris Vorgelegt von Franziska Bergthaller INHALTSVERZEICHNIS 1. EINLEITUNG........................................................................................................................... 3 2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN ...................................................................................... 6 2.1 DER FILMISCHE RAUM UND SEINE BEDEUTUNG FÜR DIE ERZÄHLTE HANDLUNG ................... 6 2.1.1 Zur Unterscheidung von lieu und espace ...................................................................... 7 2.1.2 Der narrative Status des Raumes ................................................................................... 8 2.1.3 Mittel der Raumkonstruktion im Film........................................................................... 9 2.2 "PRENDRE LE MÉTRO" – EIN PARISER RITUAL ..................................................................... 11 2.2.1 Die Stadt unter der Stadt.............................................................................................. 14 2.2.2 Zur Ästhetik der Metro: le style métro ........................................................................ 15 2.2.3 Mythos Metro .............................................................................................................. 17 2.2.4 Die Metro im Film....................................................................................................... 20 2.3 ZUR VERFOLGUNGSJAGD IM FILM ........................................................................................ 23 2.3.1 Die „Lust am rasenden Tempo“ .................................................................................. 24 2.3.2 Die Verfolgungsjagd als erzählerische Konvention .................................................... 25 2.3.3 Die Metro – ein ideales Setting?.................................................................................. 25 3. FILMISCHE VERFOLGUNGSJAGDEN IN DER METRO ............................................ 28 3.1 LE SAMOURAÏ von Jean-Pierre Melville........................................................................... 29 3.2 PEUR SUR LA VILLE von Henri Verneuil ......................................................................... 40 3.3 DIVA von Jean-Jacques Beineix ......................................................................................... 49 3.4 SUBWAY von Luc Besson .................................................................................................. 57 3.5 LES AMANTS DU PONT-NEUF von Leos Carax .............................................................. 64 4. ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE.................................................................... 74 LITERATURVERZEICHNIS .................................................................................................. 78 ABBILDUNGSVERZEICHNIS................................................................................................ 81 2 1. EINLEITUNG Die Pariser Metro kann zweifellos ebenso wie der Eiffelturm als ein Wahrzeichen der französischen Hauptstadt bezeichnet werden. Als beliebtes Postkartenmotiv repräsentieren ihre charakteristischen, von Hector Guimard gestalteten Art-Nouveau-Eingänge Paris in ähnlich metonymischer Weise wie die berühmte Stahlkonstruktion des Ingenieurs Gustave Eiffel. Wie kaum ein anderes Verkehrsmittel prägt die Metro nicht nur den Alltag der Pariser, sondern stellt sogar, wie der französische Ethnologe und Anthropologe Marc Augé postuliert, ein konstitutives Element ihrer kulturellen Identität dar. Zahlreiche Mythen ranken sich um diesen Ort, der seit der Einweihung der ersten Metrolinie im Jahr 1900 eine bis heute ungebrochene Faszination ausübt. So verwundert es nicht, dass die Metro auch für das französische Kino, das um die Jahrhundertwende ebenfalls noch in den Kinderschuhen steckte, fast von Beginn an eine wichtige Rolle spielte. Seit JUVE CONTRE FANTÔMAS (1913), einem der frühen sérials von Louis Feuillade, und verstärkt seit dem Ende der 30er Jahre ist die Metro als Schauplatz im französischen Film überaus präsent. Bis heute kommt kaum ein Parisfilm ohne eine Referenz auf die Pariser U-Bahn aus, und sei sie auch lediglich verbaler Art wie etwa in François Truffauts LE DERNIER MÉTRO (1980). Die Bedeutung dieses Ortes für das französische Kino findet ihren Ausdruck nicht zuletzt in der Tatsache, dass in Paris eine für die Öffentlichkeit unzugängliche „Geister-Metrostation“ existiert, die seit ihrer Schließung im Jahr 1939 ausschließlich dem Drehen von Filmaufnahmen dient („Porte des Lilas – Cinéma“). Umso erstaunlicher ist, dass es bisher kaum filmwissenschaftliche Untersuchungen gibt, die die Metro als Schauplatz in den Fokus nehmen. Ihr Status als zentrales Setting im französischen Kino wird zwar immer wieder vielsagend angedeutet1, jedoch nie näher ausgeführt oder gar im Detail untersucht. Eine Ausnahme stellt der Aufsatz „Underground Cinema: French Visions of the Metro“ von David Berry2 dar, der einen guten Überblick über die Präsenz der Metro im französischen Kino gibt. Allerdings handelt es sich auch hierbei um eine zwar aufschlussreiche, jedoch noch immer vergleichsweise oberflächliche Darstellung. Berry beschränkt sich im Rahmen seiner Untersuchung auf die knappe Analyse einiger Beispielfilme und gibt dabei interessante Deutungsansätze vor, von denen ich einige in meiner Arbeit aufgreifen und vertiefen oder ergänzen werde. Allerdings möchte ich mich auf eine besondere Fragestellung konzentrieren, die sich im Zuge meiner Recherchen zur Metro im französischen Film abzeichnete. Bei der Sichtung relevant erscheinender Filme fiel auf, dass die Metro bemerkenswert häufig zum Schauplatz einer Verfolgungsjagd wird. Aus dieser Beobachtung 1 2 So etwa bei Lise Grenier (Hrsg.): Cités-cinés, Paris: Éditions Ramsay et La Grande Halle 1987, S. 78 und 83, Günter Liehr/Olivier Faÿ: Der Untergrund von Paris: Ort der Schmuggler, Revolutionäre, Kataphilen, Berlin: Links 2000, S. 144 oder im umfangreichen Nachschlagewerk über Paris im Film von Rüdiger Dirk und Claudius Sowa (vgl. dies.: Paris im Film – Filmographie einer Stadt, München: Belleville 2003, S. 18). David Berry: „Underground Cinema: French Visions of the Metro“, in: Myrto Konstantarakos (Hrsg.): Spaces in European Cinema, Exeter [u.a.]: Intellect 2000, S. 8-22. 3 ergab sich unweigerlich die Frage, worin die offensichtliche Attraktivität dieses Ortes – für das Kino im Allgemeinen und die filmische Verfolgungsjagd im Besonderen – besteht. Spontan lässt sich dies sicher mit einem Verweis auf die charakteristische Topologie der Metro und ihrer Stationen beantworten: Ihre labyrinthische Struktur und die zahlreichen Rolltreppen, Tunnel und Gänge stellen ohne Frage eine ästhetisch ansprechende Kulisse für eine Verfolgungsjagd dar. Jedoch möchte ich im Rahmen dieser Arbeit zeigen, dass die Metro über eine rein „dekorative“ Funktion hinaus auch wichtiger Bedeutungsträger innerhalb der Handlung sein kann. Dabei werde ich meinen Überlegungen die folgenden fünf Filme zugrunde legen: LE SAMOURAÏ (Jean- Pierre Melville, 1967), PEUR SUR LA VILLE (Henri Verneuil, 1975), DIVA (Jean-Jacques Beineix, 1981), SUBWAY (Luc Besson, 1985) und LES AMANTS DU PONTNEUF (Leos Carax, 1991). Im Hauptteil meiner Arbeit werde ich jeden dieser fünf Filme im Detail untersuchen. Mein Hauptaugenmerk wird dabei auf der Frage liegen, welche Bedeutung jeweils der Verfolgungsjagd im Gesamtzusammenhang des Films zukommt und welche symbolischen und metaphorischen Implikationen mit der Wahl dieses Schauplatzes einhergehen. Da die Verfolgungsjagd zudem eine besondere Form der Raumerfahrung darstellt, lautet eine weitere Fragestellung, auf welche Weise in den Verfolgungssequenzen Raum erschlossen wird und wie die hierfür gewählten Mittel (unter anderem Schnitt, Montage und Kamerafahrten) dabei auf die Darstellung der Metro zurückwirken. Der Analyse dieser konkreten Filmbeispiele soll jedoch ein theoretischer Teil vorausgehen, in dem ich die methodischen Grundlagen meiner Untersuchung darstellen werde. Da ich von der These ausgehe, dass ein Ort – und im Speziellen die Metro – im Film nicht nur den Hintergrund oder Schauplatz einer Handlung bildet (womit er letztlich austauschbar wäre), sondern stets auch Bedeutung erzeugt, möchte ich zunächst deutlich machen, auf welche Weise dies geschieht. Zum einen werde ich unter Rückgriff auf André Gardies’ Studie zum Raum im Film3 sowie auf die Raumsemantik Jurij Lotmans darlegen, dass sich der Raum und die Figuren, die sich in ihm bewegen, in einem Verhältnis der Interdependenz zueinander befinden – dass also weder die eine noch die andere Größe für sich allein Bedeutung erzeugt. Zum anderen werde ich verschiedene Mittel der Mise-en-scène beschreiben, die zur Semantisierung eines Ortes eingesetzt werden können. So kann etwa die Montage – die für gewöhnlich zur Erzeugung eines kohärenten Raumeindrucks (cognitive map) genutzt wird – auch bewusst zur Desorientierung des Zuschauers eingesetzt werden und damit die Metro als labyrinthischen Raum ausweisen (dies ist beispielsweise in Beineix’ DIVA der Fall). Allerdings ist es nicht einmal entscheidend, ob ein Regisseur diese oder jene Wirkung tatsächlich intendiert hat. Denn schließlich bringt jeder Zuschauer ein gewisses Vorwissen, eine 3 André Gardies: L´espace au cinéma, Paris: Klincksieck 1993. 4 angelesene oder kulturell vermittelte stereotype Vorstellung von einem Ort mit – und diese wirkt unweigerlich auf die Wahrnehmung eines filmischen Ortes zurück, ganz gleich, ob dies beabsichtigt ist oder nicht. Gerade die Metro ist im kollektiven Bewusstsein in besonderer Weise mit bestimmten Assoziationen, Vorstellungen und mythischen Inhalten verknüpft, so dass sich ein weiterer Teil meiner theoretischen Ausführungen mit eben diesen beschäftigen wird. Dabei soll insbesondere nachgezeichnet werden, wie bereits in den ersten Jahren nach ihrer Eröffnung eine Ikonographie entstand, die die Metro als todbringenden, infernoähnlichen Ort zeigte und bis heute die Darstellungen der Metro entscheidend prägt (so werden wir etwa in LES AMANTS DU PONT-NEUF der geläufigen Assoziierung der Metro mit Feuer und Höllenvisionen begegnen). Des Weiteren wurde sie durch ihre unterirdische Lage seit jeher mit mythischen Vorstellungen der Unterwelt in Verbindung gebracht – und so können wir beispielsweise in LE SAMOURAÏ oder auch in SUBWAY visuelle Referenzen auf das traditionelle Motiv vom Abstieg des Orpheus in die Unterwelt entdecken. Auch die labyrinthische Anlage der Metro leistet einer mythischen Semantisierung zweifellos Vorschub; allerdings ist gerade das Labyrinth eine äußerst vielschichtige Figur, der mitunter sehr unterschiedliche Konnotate zugeordnet sein können, wie etwa „Tod“, „Vernichtung“ oder „Verbrechen“. Ebenso kann das Labyrinth zum Symbol einer Initiation, einer Entwicklung werden, die der Protagonist einer Erzählung durchläuft (so etwa in SUBWAY oder DIVA). Ein Überblick über die außerordentliche Bedeutungsfülle des LabyrinthMotivs wird verdeutlichen, dass die Metro nicht zuletzt auch deshalb einen beliebten filmischen Schauplatz darstellt: Als labyrinthischer Raum hat auch sie ein hohes Potenzial, mit unterschiedlichsten Bedeutungen und Konnotationen aufgeladen zu werden. Einen Einblick in die semantische Vielseitigkeit der Metro wird daher das Kapitel „Die Metro im Film“ geben. Mit einem kurzen Exkurs zur Funktion der Verfolgungsjagd im Film möchte ich den theoretischen Teil meiner Arbeit abschließen. Dabei soll insbesondere die Frage im Zentrum stehen, was die Metro als besonders attraktives Setting für filmische Verfolgungsjagden auszeichnet. Denn mit ihrer spezifischen Topologie, die zuweilen geradezu den Charakter eines „Hindernisparcours“ annehmen kann, befördert sie nicht nur das für Verfolgungsjagden konstitutive Element der Bewegung, sondern ebenso den Zufall – unvorhergesehene Ereignisse, die in der Metro geradezu „an der Tagesordnung“ sind, tragen dazu bei, eine Verfolgungsjagd in diesem Terrain besonders abwechslungsreich und spannend zu inszenieren. 5 2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN 2.1 DER FILMISCHE RAUM UND SEINE BEDEUTUNG FÜR DIE ERZÄHLTE HANDLUNG Unsere Gespräche über Filme handeln hauptsächlich von den Geschichten, die sie erzählen. [...] Doch ein Film besteht ebenso aus Bildern von bestimmtem Aussehen (look). Und über deren Aussehen wie über deren Gestaltung – die Art, wie sie Raum erschließen und sich in der Zeit entfalten – sprechen wir ziemlich selten.4 Lange Zeit wurde dem Raum im Film keine oder nur wenig Bedeutung beigemessen, was – wie das oben stehende Zitat David Bordwells verdeutlicht – insbesondere daran liegt, dass wir als Zuschauer dazu neigen, einen Film auf seine Handlung zu reduzieren. Wie Andreas Rost ausführt, beschränkt sich das, „[w]as wir von unserer Reise durch Raum und Zeit im Gedächtnis behalten“ zumeist auf „bestimmte Ereignisse des Plots, Höhepunkte in der Darstellung einer Handlung oder Geschichte.“5 Auf diese Weise seien Orte und Räume nicht nur im Verständnis des unbedarften Kinogängers, sondern auch in der Filmwissenschaft häufig zu bloßen Schauplätzen oder Hintergrundszenarien der Handlung herabgesetzt worden.6 Doch insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten wurde der Raum zunehmend als wichtig, ja konstitutiv für das Medium Film anerkannt – ein Umdenken, das zweifellos in Zusammenhang mit dem um 1990 im angelsächsischen Raum proklamierten spatial oder topographical turn7 zu sehen ist. So ist es auch zu erklären, dass ein Großteil der Texte, die sich ausdrücklich mit dem Raum im Film beschäftigen, aus den 90er Jahren und später datiert. Myrto Konstantarakos weist darauf hin, dass das Interesse an Räumen und Orten seitdem stetig gewachsen ist. Im Fokus standen nun etwa Fragen nach dem Gegensatz zwischen konträren Räumen wie Stadt und Land oder dem städtischen Zentrum und der Peripherie oder auch nach der Mythologie urbaner Landschaften.8 Die Bedeutung des Raumes für den Film wird nunmehr kaum noch ernsthaft in Frage gestellt, vielmehr wird er nach heutigem Standpunkt als das eigentlich Spezifische des Films begriffen, als das, was ihn insbesondere auch von der Literatur fundamental unterscheidet. So erklärt ihn Rayd Khouloki im Grunde zum sine qua non des Films wenn er sagt: „Die zeitliche Ausdehnung [einer] Handlung hat nicht auch eine räumliche Ausdehnung, sondern der Raum stellt den Urgrund oder die Voraussetzung dar, damit die zeitliche Ausdehnung einer Handlung, oder vielmehr: Handlung überhaupt stattfinden kann.“9 Zwar gilt dies zweifellos auch für den Raum 4 5 6 7 8 9 David Bordwell: „Modelle der Rauminszenierung im zeitgenössischen europäischen Kino“, in: David Bordwell/ Andreas Rost [u.a.]: Zeit, Schnitt, Raum. Herausgegeben und eingeleitet von Andreas Rost, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1997, S. 17. Andreas Rost: „Schnittstellen auf der Reise durch Raum und Zeit“, in: Bordwell/Rost: Zeit, Schnitt, Raum, S. 10. Vgl. Rost „Schnittstellen auf der Reise durch Raum und Zeit“, S. 10. Siehe hierzu das Vorwort zu Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 13f. Vgl. die Einleitung zu Konstantarakos (Hrsg.): Spaces in European Cinema, S. 1. Rayd Khouloki: Der filmische Raum. Konstruktion, Wahrnehmung, Bedeutung, Berlin: Bertz+Fischer GbR 2007, S. 14. 6 in der Literatur – während er dort jedoch häufig lediglich implizit präsent ist, wird er uns im visuellen Medium Film unablässig im wahrsten Sinne des Wortes „vor Augen geführt“. 2.1.1 Zur Unterscheidung von lieu und espace Es empfiehlt sich an dieser Stelle, zunächst die Begrifflichkeiten „Raum“ (espace) und „Ort“ (lieu) zu klären, die nicht nur im Zusammenhang mit Film oftmals synonym gebraucht werden und tatsächlich schwer voneinander abzugrenzen sind. André Gardies schlägt hierfür eine Unterscheidung nach Saussure vor, der zufolge der Raum dem übergeordneten System der langue entspreche, der Ort hingegen ihrer individuellen und konkreten Realisierung (parole).10 Laut Gardies lässt sich das Verhältnis von Ort zu Raum folgendermaßen charakterisieren: „[L]e lieu est un fragment d’espace et l’espace un ensemble de lieux.“11 Der Ort stelle demnach also eine Art Teilmenge des Raumes dar. Davon ausgehend stellt Gardies nun die These auf, dass die Kategorie des Raumes dem Film eigentlich fremd sei, dass dieser hier vielmehr ausschließlich in Form seiner konkreten Manifestationen, das heißt: der Orte präsent sei. Dass diese Definition jedoch nur bedingt praktikabel ist, wird dadurch deutlich, dass es selbst Gardies nicht gelingt, sie konsequent anzuwenden. Auch er gebraucht die Begriffe lieu und espace weiterhin – zumindest gelegentlich – synonym. Einen Ausweg aus dem terminologischen Dilemma scheint die Definition nach Michel de Certeau zu bieten. Laut Certeau sind Raum und Ort keine starren Kategorien, sondern solche, die situationsbedingt anzuwenden sind. Während ein Ort als „configuration instantanée de positions“12, also als eine momentane Konstellation von festen Punkten bestimmt werden kann, entsteht ein Raum in dem Moment, in dem man etwas mit diesem Ort macht: „En somme, l’espace est un lieu pratiqué.“13 Er stellt also gewissermaßen die aktualisierte Form eines Ortes dar und entspricht somit, um es mit Saussure zu sagen, der parole. Damit verhält es sich nach der Auffassung Certeaus also genau anders herum als bei Gardies. Der Certeausche Ansatz scheint in unserem Fall der eher einleuchtende zu sein, da sich so die Frage erübrigt, ob es sich bei der Metro im Film nun um einen Raum oder um einen Ort handelt: Als fest gefügtes Ensemble unbeweglicher, „toter“ Elemente ist sie zweifelsfrei ein lieu im Sinne Certeaus, der eben dann zum espace wird, wenn Aktivität und Bewegung hier stattfinden14 – wobei eine Verfolgungsjagd sicherlich als eine solche Aktivität par excellence aufgefasst werden darf. 10 11 12 13 14 Vgl. Gardies: L´espace au cinéma, S. 71f. Gardies: L´espace au cinéma, S. 69. Michel de Certeau: L´invention du quotidien. Vol. 1 [Arts de faire], Paris: Union Générale d´Éditions 1980, S. 208. Certeau: L´invention du quotidien, S. 208. Vgl. Certeau: L´invention du quotidien, S. 209. 7 2.1.2 Der narrative Status des Raumes Ebenfalls unter Bezugnahme auf Saussure führt Gardies einen weiteren Punkt an, der nun für unsere Filmanalyse konkret von Nutzen sein kann. Wenn man die Orte als Zeichen im übergeordneten System „Raum“ auffasst, so Gardies, so folgt daraus, dass ein Ort seine Bedeutung (im Film) nur in seiner Abgrenzung von anderen Orten erhält. Sinnstiftende Oppositionen könnten beispielsweise sein: geschlossen/offen, privat/öffentlich, weltlich/sakral etc.15 Bei dieser These stützt sich Gardies neben Saussure namentlich auf die Raumsemantik Jurij Lotmans, der postuliert, dass die räumliche Organisation einer Erzählung zumeist auf der Gegenüberstellung zweier getrennter semantischer Räume beruht. Zwischen diesen getrennten Räumen nimmt Lotman eine Grenze an, die nur für den Helden der Erzählung permeabel ist.16 Exemplarisch kann dies an einem unserer Beispielfilme, Luc Bessons SUBWAY, erläutert werden. Hier bildet die Metro eine Art Widerlager zum oberirdischen Paris, einen Gegenort, an dem sich eine Parallelgesellschaft aus Gaunern und Anarchisten eingerichtet hat. Der Protagonist Fred vollzieht mit seinem Abstieg in diese „Unterwelt“ eine bewusste Abkehr von der Gesellschaft – ebenso wie Héléna, die die gesellschaftlichen Zwänge sowie die Abhängigkeit von ihrem besitzergreifenden Ehemann nicht länger erträgt und in der Metro zum ersten Mal wieder ein Gefühl der Freiheit erfährt. Die Metro erhält ihre Bedeutung in diesem Fall also in erster Linie dadurch, dass sie im Kontrast zum oberirdischen Teil der Stadt steht. Dieses Beispiel illustriert zudem, dass ein Raum auch und vor allem durch die Personen charakterisiert wird, die sich dort aufhalten. Gardies beschreibt in diesem Zusammenhang ein Phänomen, das er als „Dornröschen-Effekt“ (l’effet „Belle au bois dormant“) bezeichnet.17 Gemeint ist die Tatsache, dass ein Ort im Film erst durch das Auftauchen einer Person „zum Leben erweckt wird“ (und zu einem Raum im Sinne Certeaus wird), also Bedeutung erhält – wie das Schloss, dessen Bewohner erst durch die Ankunft des Prinzen aus ihrem hundertjährigem Schlaf erwachen.18 Gardies’ zentrale These besagt nun, dass dem Raum im Film eine mindestens ebenso große Bedeutung zukommt wie den Figuren. Um seine These zu belegen, unternimmt Gardies zunächst den Versuch, das Aktantenmodell nach Greimas auf den Raum anzuwenden. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob auch ein Ort (beziehungsweise Raum) ähnlich wie eine Figur alle sechs der von Greimas definierten Rollen (destinateur, sujet, objet, destinataire, adjuvant und opposant) einnehmen kann. Seine Argumentation soll an dieser Stelle nicht im Detail rekapituliert werden.19 Das Entscheidende ist, dass er zu dem Schluss kommt, dass eine Anwendung des Aktantenmodells in fünf der Fälle möglich sei und lediglich die Rolle des sujet Schwierigkeiten 15 16 17 18 19 Vgl. Gardies: L´espace au cinéma, S. 82f. Vgl. Jurij Lotman: „Künstlerischer Raum, Sujet und Figur“, in: Dünne/Günzel (Hrsg.): Raumtheorie, S. 539. Vgl. Gardies: L´espace au cinéma, S. 131ff. Vgl. Gardies: L´espace au cinéma, S. 136. Siehe hierzu Gardies: L´espace au cinéma, S. 136ff. 8 bereite. Denn was ein sujet nach der Definition von Greimas ausmacht, sind die Modalitäten des Wissens, des Könnens, des Müssens und vor allem die des Wollens – Fähigkeiten, die in der Regel ausschließlich Menschen zugeschrieben werden. Denkbar sei zwar, dass ein Ort personifiziert, beziehungsweise animalisiert werde (wie etwa der Schacht „Le Voreux“ in Zolas Germinal), in diesem Fall stelle er aber allenfalls im metaphorischen Sinne ein sujet dar.20 Um dieses Problem zu lösen, zieht Gardies nun die Aktanten-Definition nach Tesnière heran. Laut Tesnière (auf dessen Dependenzgrammatik sich auch Greimas stützt) sind Aktanten folgendermaßen bestimmt: „[L]es actants sont les êtres ou les choses [...] qui, à un titre quelconque et de quelque façon que ce soit, même au titre de simples figurants et de la façon la plus passive, participent au procès.“21 Dieser Definition zufolge ist die Rolle des Raumes nunmehr eindeutig. Wie bereits anhand des Dornröschen-Effekts anschaulich wurde, muss von einer Interdependenz zwischen Figur und Raum ausgegangen werden. Der Raum stellt die notwendige Voraussetzung für das Stattfinden einer Handlung dar; die Figuren, die sich in ihm bewegen, rechtfertigen wiederum überhaupt erst seine Präsenz in der Erzählung. Damit sind laut Gardies beide Größen gleichermaßen Bedeutungsträger: „Si l’espace ne peut acquérir les diverses modalisations propres au sujet (vouloir, savoir, devoir, pouvoir), il se constitue néanmoins en être de valeurs, tout comme le sujet.“22 2.1.3 Mittel der Raumkonstruktion im Film Der Raum im Film existiert nicht a priori – er muss erst geschaffen werden. Dabei ist die Raumkonstruktion zu einem großen Teil eine Leistung des Regisseurs, dem hierzu verschiedene Mittel zur Verfügung stehen. Dieser Prozess der räumlichen Strukturierung durch den Regisseur ist für Henri Agel derart grundlegend, dass er ihn gar mit dem göttlichen Akt der Schöpfung vergleicht: „Un film n’accède à sa plénitude que dans la mesure où le metteur en scène, perpétuant et prolongeant le geste créateur de Iaweh dans la Genèse, tire un monde organisé du chaos.“23 Der Raumeindruck im Kino beruht jedoch, und das ist ganz entscheidend, im Wesentlichen auch auf einer „Konstruktionsleistung des Zuschauers“24. Eines der wichtigsten Instrumente zur Erzeugung eines kohärenten Raumeindrucks ist sicherlich die Montage, die es dem Zuschauer ermöglicht, sich ein Bild von den räumlichen Gegebenheiten zu machen. Die einzelnen Einstellungen werden (zumindest im Rahmen der klassischen Montage) nach dem so genannten Kontinuitätsprinzip dergestalt aneinander montiert, dass sich aus den gezeigten Raumausschnitten ein Gesamtbild zusammenfügt. David 20 21 22 23 24 Vgl. Gardies: L´espace au cinéma, S. 139. Lucien Tesnière: Éléments de syntaxe structurale, Paris: Klincksieck 1959, S. 102, zitiert nach Gardies: L´espace au cinéma, S. 140. Gardies: L´espace au cinéma S. 142. Henri Agel: L´espace cinématographique (Encyclopédie universitaire), Paris: Delarge 1978, S. 11. Khouloki: Der filmische Raum, S. 10. 9 Bordwell spricht hier prägnant von einer cognitive map, die sich nach und nach im Bewusstsein des Zuschauers zusammensetzt.25 Zur Konstruktion eines solchen „mentalen Lageplans“ tragen laut Rayd Khouloki in besonderem Maße aber auch die Kamerafahrten bei, die „die stärkste physiologische Raumillusion“ erzeugen und den Raum „[d]urch die illusionierte Eigenbewegung des Zuschauers [...] plastischer und intensiver erfahrbar“26 machen. Dabei spielt stets auch das Off, das hors-champ eine wichtige Rolle. Da es als Verlängerung des Bildrahmens stets vom Zuschauer mitgedacht und ergänzt wird, trägt es wesentlich zur Geschlossenheit des filmischen Raumes bei.27 Dieser Eindruck kann dabei nur durch die aktive Rezeption eines Zuschauers zustande kommen, der kontinuierlich das, was ihm präsentiert wird, mit dem Vorangegangenen abgleicht und es (bewusst oder unbewusst) auf Kohärenz und Stimmigkeit hin überprüft: „Perception becomes a process of active hypothesis-testing. The organism is tuned to pick up data from the environment. Perception tends to be anticipatory, framing more or less likely expectations about what is out there.“28 Es gibt jedoch Fälle, in denen diese Erwartung des Zuschauers absichtlich fehlgeleitet wird, indem zum Beispiel die Montage bewusst zur Desorientierung des Zuschauers eingesetzt wird. Dies ist etwa bei der Verfolgungsjagd durch die Metroschächte in DIVA der Fall. Durch eine Abfolge von Einstellungen, die zunehmend disparat erscheinen, wird das labyrinthische Moment der Metro in Szene gesetzt – auf welche Weise dies genau geschieht, werde ich im Rahmen einer detaillierten Analyse in Kapitel 3.3 behandeln. Die Erwartungshaltung des Zuschauers ist jedoch auch in anderer Hinsicht von großer Bedeutung für die Darstellung von Orten im Film. Jeder Zuschauer bringt ein gewisses Vorwissen mit – sei es durch unmittelbare Erfahrung, durch angelesene Kenntnisse oder durch eine kulturell vermittelte stereotype Vorstellung davon, wie es an einem bestimmten Ort zuzugehen habe –, welches immer unweigerlich in die Wahrnehmung eines filmischen Ortes mit hineinspielt.29 Welche Deutungen, Vorstellungen und Mythen über die Pariser Metro im kollektiven Bewusstsein verankert sind, soll daher Gegenstand des folgenden Kapitels sein. 25 26 27 28 29 Vgl. David Bordwell: Narration in the Fiction Film, Wisconsin: University of Wisconsin Press 1985, S. 117, zitiert nach Khouloki: Der filmische Raum, S. 87. Khouloki: Der filmische Raum, S. 65. Vgl. Khouloki: Der filmische Raum, S. 12. Siehe auch Tina Hedwig Kaiser: Aufnahmen der Durchquerung: Das Transitorische im Film, Bielefeld: Transcript 2008, S. 10: „Der Film existiert nur mit seinem Off, mit dem horschamp, mit dem, was er nicht zeigt. Und genau dieses Nicht-Sehen kann er gleichzeitig mit und in seinen Sichtweisen transportieren. Sie enthalten einander, das Sichtbare und das Unsichtbare, in einem maßvollen und gegenseitig bedingten Verhältnis.“ Bordwell: Narration in the Fiction Film, S. 31, zitiert nach Khouloki: Der filmische Raum, S. 36f. Vgl. Gardies: L´espace au cinéma, S. 75. 10 2.2 „PRENDRE LE MÉTRO“ – EIN PARISER RITUAL Wer das Wesen von Paris begreifen wolle, der fahre am besten ganz einfach mit der Metro – so schrieb Franz Kafka, als er im Jahr 1911 die französische Hauptstadt bereiste. Diese biete „für einen erwartungsvollen und schwächlichen Fremden [...] die beste Gelegenheit, sich den Glauben zu verschaffen, richtig und rasch im ersten Anlauf in das Wesen von Paris eingedrungen zu sein.“30 Und wenn der Anthropologe Marc Augé sagt „Je n’ai jamais cessé de prendre le métro, jamais cessé d’être un Parisien“31, so impliziert dies einen ähnlichen Gedanken, nämlich: Pariser sein, das bedeutet mit der Metro zu fahren. Marc Augé widmete der Pariser Untergrundbahn zwei Untersuchungen. Im Jahr 1986, sechs Jahre vor seinen vielbeachteten Betrachtungen über die Non-lieux, erschien der erste Band Un éthnologue dans le métro. Hierin beschrieb er die Fahrt in der Metro als einen ritualisierten Vorgang, der sich durch seinen immer gleichen Ablauf, die immer gleiche Abfolge der Stationen wie ein Gebet in das Gedächtnis des Fahrgasts einpräge. Der routinierte Metropassagier erkenne schon anhand der Geräusche eines herannahenden Zuges, wann es sich zu beeilen lohnt, er kenne die Stelle im Waggon, von der aus er am schnellsten den nächsten Bahnsteig erreicht und bewege sich auf diese Weise mit größter Virtuosität durch das ihm vertraute Terrain.32 „Métro, boulot, dodo“: In dieser geläufigen Formel, die David L. Pike als Mantra des modernen Großstädters bezeichnet33, drücken sich exemplarisch der ritualisierte Charakter des Metrofahrens und seine Bedeutung für den Alltag der Bewohner von Paris aus. Ein Großteil der Einwohner von Paris nutzt die Untergrundbahn täglich, unabhängig von sozialer Herkunft und gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Indem sie die Menschen auf diese Weise in gewisser Hinsicht „gleich macht“, uniformiert, stiftet die Metro einerseits eine Form von kollektiver Identität. Andererseits jedoch – und dies ist ein Paradox, auf dem Marc Augé besonders besteht – schafft sie Anonymität und Einsamkeit. Ihre identitäts- und kollektivitätsstiftende Funktion besteht laut Augé allerdings nicht vorrangig in ihrem vereinheitlichenden Charakter, sondern vielmehr darin, dass durch einen immerwährenden Verweis auf bedeutende Persönlichkeiten und Momente der französischen Geschichte und Kultur – insbesondere durch Metrostationen wie „Charles de Gaulle - Étoile“, „Victor Hugo“ oder „Bastille“ – eine Art Ahnenkult praktiziert werde.34 Augé spricht in diesem Zusammenhang von einer historischen „Aufladung“ der Metrostrecken („la ,charge‘ historique 30 31 32 33 34 Franz Kafka: „Reisetagebücher“, in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden (Band 12). Herausgegeben von HansGerd Koch, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1994, S. 73. Marc Augé: Le métro revisité, Paris: Éditions du Seuil 2008, S. 7. Vgl. Marc Augé: Un ethnologue dans le métro, Paris: Hachette 1986, S. 13ff. Vgl. David L Pike.: Subterranean Cities. The World beneath Paris and London, 1800-1945, Ithaca/London: Cornell University Press 2005, S. 16. „Prendre le métro, ce serait donc en quelque sorte célébrer le culte des ancêtres“, Augé: Un ethnologue dans le métro, S. 33f. 11 évidente du parcours du métro“35), die wohl auch einer der Gründe dafür sein mag, dass Kafka hier das „Wesen von Paris“ unmittelbar zu erkennen glaubte. Im Leben der Bewohner von Paris nehme die Metro zudem auch dadurch einen ganz besonderen Stellenwert ein, dass sie nicht nur mit einem kollektiven Geschichtsbewusstsein, sondern ebenso mit individuellen Erinnerungen und Erfahrungen eng verknüpft sei. Von seinen persönlichen Erfahrungen ausgehend, beschreibt Marc Augé, wie etwa bestimmte Metrolinien untrennbar mit Erinnerungen an frühere Lebensabschnitte oder an Personen verbunden sein können.36 Ebenso würden manche Wege und Stationen stets mit bestimmten Lebensbereichen assoziiert: „Chacun de ces itinéraires, à une époque donnée, a articulé quotidiennement les différents aspects de ma vie professionelle et familiale et m’a imposé ses répères et ses rhythmes.“37 Gerade dies hat nun zur Folge, dass die Fahrt in der Metro wiederum auch zu einer sehr subjektiven, persönlichen Erfahrung wird38, dass sie eben keineswegs nur Kollektivität stiftet, sondern vielmehr den einzelnen auf sich selbst verweist. Er mag täglich mit den gleichen Menschen die gleiche Strecke zur gleichen Zeit im gleichen Waggon fahren – er bleibt doch letztlich immer allein mit sich. In den oft überfüllten Zügen, in denen einem nicht selten die Nähe zu anderen Mitreisenden aufgezwungen wird, findet keine Kommunikation statt. Die meisten versenken sich in ein Buch oder Kreuzworträtsel, hören Musik oder blicken starr aus dem Fenster, als gäbe es im Dunkel der Tunnel etwas zu sehen; das Gespräch sucht hier niemand. Im Gegenteil: Je voller die Metro ist, desto eher vermeidet ein jeder, den anderen anzusehen und desto weniger erträgt man selbst die Blicke der anderen. Und so kommt der Aufenthalt in der Metro einer „solitude sans isolement“39, einer Einsamkeit inmitten der Gemeinschaft gleich. Die Metro kann auf diese Weise als eine „Großstadt im Kleinen“ beschrieben werden, verdichtet sich doch hier die moderne Großstadterfahrung eines Poeschen „man of the crowd“. Eben diese Beobachtung veranlasste Augé etwa zwanzig Jahre nach Un éthnologue dans le métro zu einer erneuten Untersuchung der Metro. In Le métro revisité (2008) betrachtet er sie nun vor dem Hintergrund seines in den 90er Jahren entwickelten Konzeptes der non-lieux.40 Nicht-Orte sind laut Marc Augé dadurch gekennzeichnet, dass sie weder Identität noch Relation, 35 36 37 38 39 40 Augé: Un ethnologue dans le métro, S. 33. Vgl. Augé: Un ethnologue dans le métro, S. 10ff. Augé: Un ethnologue dans le métro, S. 13. Vgl. Augé: Un ethnologue dans le métro, S. 54f. Augé: Un ethnologue dans le métro, S. 55. Zu den Nicht-Orten zählt Augé unter anderem Verkehrsmittel wie Flugzeuge, Eisenbahnen, Automobile, ebenso Flughäfen, Bahnhöfe und Autobahnen bis hin zu Einkaufszentren, Tankstellen, Hotelketten und Freizeitparks. Vgl. Marc Augé: Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris: Éditions du Seuil 1992, S. 48. 12 sondern vielmehr Einsamkeit und Ähnlichkeit schaffen41 – kurz: das Individuum in der Masse verschwinden lassen. Es handelt sich um Orte, die, „promis à l’individualité solitaire, au passage, au provisoire et à l’éphémère“42, meist ausschließlich auf bestimmte Zwecke ausgerichtet sind, wie etwa Verkehr, Freizeit, Handel und Konsum.43 Augé zufolge bringt nun unsere, von ihm als „Übermoderne“ beschriebene, Zeit zunehmend solche Nicht-Orte hervor, an denen sich die Menschen entfremden, identitäts- und beziehungslos erscheinen. Es liegt nahe, die Kategorie des Nicht-Ortes auf die Metro anzuwenden, stellt doch auch sie einen solchen Ort der Durchreise, der kurzen Aufenthalte und der anonymen, flüchtigen Begegnungen dar, in den nun zunehmend auch Funktionen wie Konsum und Freizeit verlegt werden.44 Dennoch ist die Klassifizierung der Metro als Nicht-Ort keineswegs so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn für Marc Augé trägt die Metro vielmehr überwiegend Züge des „anthropologischen Ortes“, den er als das Gegenstück zum Nicht-Ort definiert. Anthropologische Orte (lieux anthropologiques) sind unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass sie in symbolischer Weise die kulturelle Identität einer Gesellschaft repräsentieren und im Zuge dessen mit Sinn aufgeladen werden können45 – oder eben, wie wir es in Bezug auf die Metro bereits sagten, mit Geschichte. Indem Augé die Metro als einen Ort charakterisiert, dem die Historie und Kultur Frankreichs eingeschrieben sind und der überdies auch den einzelnen stets mit seinen individuellen Erinnerungen und Erfahrungen in Beziehung setzt (so nennt er es ein „privilège parisien que de pouvoir utiliser le plan du métro comme un aide-mémoire, un déclencheur de souvenirs“46), schreibt er ihr alle Eigenschaften des anthropologischen Ortes zu. Somit ist es nicht verwunderlich, dass er zu dem Schluss kommt: „[L]e métro n’est pas un nonlieu.“47 Allerdings, so schränkt er zugleich ein, gelte dies nur bedingt – nämlich dann, wenn man wie er persönliche Erinnerungen mit der Metro verbinde und sie als einen Teil der eigenen geographischen und sozialen Identität betrachte.48 41 42 43 44 45 46 47 48 „L´espace du non-lieu ne crée ni identité singulière, ni relation, mais solitude et similitude“, Augé: Non-lieux, S. 130. Augé: Non-lieux, S. 101. Vgl. Augé: Non-lieux, S. 18f. Man denke etwa an das am Untergrundbahnhof „Châtelet – Les Halles“ gelegene Einkaufszentrum „Forum des Halles“, das als größtes unterirdisches Kaufhaus Europas nicht nur zahlreiche Geschäfte beherbergt, sondern ebenso Möglichkeiten der Freizeitgestaltung wie etwa ein Kino, ein Schwimmbad und eine Billardhalle. Vgl. Augé: Non-lieux, S. 68f. Die Entdeckung der Symbolträchtigkeit der Metro bezeichnet Marc Augé als eine der wichtigsten Erkenntnisse aus Un éthnologue dans le métro. Er sieht in ihr eine Metapher für den Fluss des Lebens und vergleicht sie mit dem Blutkreislauf des Menschen oder dem Schlagen des Herzens. Somit ist die Metro für ihn schlussendlich eine Metapher für das (individuelle und soziale) Leben selbst. Vgl. Augé: Le métro revisité, S. 27f. Augé: Un ethnologue dans le métro, S. 8. Augé: Le métro revisité, S. 33. Vgl. Augé: Le métro revisité, S. 33f. 13 2.2.1 Die Stadt unter der Stadt Bis auf wenige oberirdische Stationen (métro aérien) erstreckt sich die Metro zum größten Teil im Untergrund von Paris. Mit seinem labyrinthischen Netz aus Tunneln, Gängen, Höhlen und Schächten erschien dieser seit jeher als die dunkle, verborgene Seite der Stadt. Bis heute erzeugt der „schreckliche Keller“49 ein leises Unbehagen, welches die Pariser allerdings gerne mit vorgetäuschtem Gleichmut zu überspielen pflegen. Dabei ist ihnen die Tatsache, dass Paris tatsächlich zu großen Teilen unterhöhlt ist, weniger geheuer als sie gemeinhin zugeben, wie Alain Schifres in seinem humoristischen Porträt über Les Parisiens zum Ausdruck bringt. Wenn sie damit kokettierten, ihre Stadt sei auf Luft gebaut, so Schifres, „[c]’est pour éviter de nommer le grand céphalopode sous [leurs] pieds.“50 Nicht zuletzt ist diese heimliche Abneigung gegen den Untergrund von Paris auch darauf zurückzuführen, dass dieser schon immer auch als Lager für „Überreste“ jeglicher Art diente. Vage weiß man, daß im Gedärm des großen Stadttieres, unter dem Asphalt, jenseits der präsentablen gut beleuchteten Zonen allerlei Funktionales stattfindet, womit der gewöhnliche Alltag nicht behelligt werden soll. Dort unten wird Störendes und Unappetitliches entsorgt, manches auch diskret abgelegt. Aber gerade was sich der Beobachtung entzieht, fordert die Phantasie heraus.51 Zu solcherlei „störenden“ und „unappetitlichen“ Dingen zählen etwa die unzähligen Leichen, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach und nach vom „Cimetière des Innocents“ in die heutigen Katakomben umgebettet wurden. Jedoch gehören die Pariser „Leichen im Keller“, ähnlich wie die Kanalisation, trotz oder gerade wegen ihres morbiden Charmes zu den meistbesuchten Attraktionen der Stadt, was David L. Pike als Symptom einer generellen Faszination für alles Unterirdische deutet: „Contemporary Western culture seems obsessed by all things underground.“52 Die sonderbare Mischung aus Unbehagen und Faszination ist es auch, die schon immer einen gewissen Reiz auf widerständische Gruppen jeglicher Art auszuüben schien. Man denke etwa an die Résistance, die sich während des Zweiten Weltkriegs im Untergrund von Paris organisierte. Aber auch die – trotz Verbot bis heute regelmäßig stattfindenden – illegalen Partys in den „Carrières“, den ehemaligen Steinbrüchen der Stadt, zeugen von der offenkundigen Attraktivität des Pariser Untergrunds. Bei aller Faszination ist und bleibt der Untergrund allerdings überwiegend negativ konnotiert und oft auch angstbesetzt – ein Phänomen, das Pike zufolge seinen Ursprung im 19. Jahrhundert hat. Mit dem fortschreitenden Bau unterirdischer Tunnel und komplexer Systeme wie den Katakomben oder der Kanalisation bildete sich in dieser Zeit allmählich eine neue Konzeptualisierung der Stadt heraus, die nunmehr als vertikaler Raum wahrgenommen wurde.53 Mit diesem neuen Konzept der „vertikalen Stadt“ verbanden und verbinden sich traditionelle, bis 49 50 51 52 53 Victor Hugo beschreibt die Kanalisation im Untergrund von Paris in Les Misérables (1862) als „cave terrible“. Alain Schifres: Les Parisiens, Paris: Éditions Jean-Claude Lattès 1990, S. 19. Liehr/Faÿ: Der Untergrund von Paris, S. 8. Pike: Subterranean Cities, S. 1. Vgl. Pike: Subterranean Cities, S. 1, sowie S. 5ff. 14 auf die Antike zurückverweisende Vorstellungen, die das Gute oben und das Böse unten lokalisieren (wie es sich etwa in Darstellungen von Himmel und Hölle widerspiegelt).54 Und so ist auch die geläufige Assoziierung von Prostituierten und Zuhältern, Drogendealern und Junkies, Mafiosi, Dieben und anderen Delinquenten mit dem Untergrund (Pike spricht bezeichnenderweise auch von „underground beings“55) ein Ergebnis dieser vertikalen Konzeptualisierung und dem damit verbundenen Antagonismus. Wenngleich sicher nicht von der Hand zu weisen ist, dass die Ansiedlung krimineller Milieus im Untergrund oftmals Realität ist – organisierter Taschendiebstahl und Drogenhandel in der Pariser Metro können hier als Beispiele angeführt werden –, so muss doch einschränkend bemerkt werden, dass konventionelle Denkweisen diesen Eindruck durchaus verstärken. So verweisen Liehr/Faÿ darauf, dass die Metro laut Statistik tatsächlich nicht gefährlicher ist als andere Orte in Paris. Jedoch werde generell das, „was unter der Erde geschieht, als doppelt bedrohlich empfunden.“56 2.2.2 Zur Ästhetik der Metro: le style métro Der Angst vor Kriminalität in der Metro begegnet man heute mit einer gezielten Imagepflege. Videoüberwachung und demonstrative Polizeipräsenz sollen ein Gefühl der Sicherheit vermitteln, ein klinisch-hygienisches Erscheinungsbild dafür sorgen, dass „[d]em schleichenden Unbehagen des Fahrgasts an seinem täglichen Zwangsaufenthalt in den unteren Zonen der Stadt [...] keine Gelegenheit zur Entfaltung gegeben“57 wird. Wird heutzutage ein modernes Erscheinungsbild also durchaus begrüßt, fürchtete man um die Jahrhundertwende, die Metro würde durch ein industrielles Aussehen das Stadtbild zerstören. So schrieb Charles Garnier, Architekt der Opéra Garnier, im Jahr 1886: Le métro, aux yeux de la plus grande partie des Parisiens, n’aura guère d’excuse que s’il repousse absolument tout caractère industriel pour devenir complètement œuvre d’art. Paris ne doit pas se transformer en usine; il doit rester un musée.58 Um also einem allzu nüchternen, technischen Erscheinungsbild der Metro entgegenzuwirken, beauftragte man den Künstler Hector Guimard mit dem Entwurf der édicules. Mit der speziellen, neuartigen Ästhetik seiner Metroeingänge machte er den Stil des Art Nouveau, lange Zeit schlicht als style métro bezeichnet, in der ganzen Welt bekannt.59 Die geschwungenen, an Formen aus der Natur angelehnten Entwürfe Guimards sollten dem Eintritt in den Untergrund der Stadt den Schrecken nehmen und den industriellen Charakter der Metro verschleiern. 54 55 56 57 58 59 Vgl. Pike: Subterranean Cities, S. 5. Wie Jean-Pierre Bayard ausführt, ist die Lokalisierung der Hölle im Untergrund eine Universalie, die selbstverständlich keineswegs nur im Christentum zu finden ist: „Il est curieux de constater que toutes les formes religieuses situent l´enfer dans le monde souterrain, qui ne peut que représenter l´état inférieur de l´homme, la terre étant l´état humain corporel“, Jean-Pierre Bayard: La symbolique du monde souterrain, Paris: Payot 1973, S. 65. Pike: Subterranean Cities, S. 1. Liehr/Faÿ: Der Untergrund von Paris, S. 141. Liehr/Faÿ: Der Untergrund von Paris, S. 140. Zitiert nach Roger Henri Guerrand: L´aventure du métropolitain, Paris: Éditions la Découverte 1986, S. 64. Vgl. Benson Bobrick: Labyrinths of Iron: A History of the World´s Subways (11981), New York: Newsweek Books 31982, S. 155 sowie S. 165. 15 Allerdings waren die Bewohner von Paris im Hinblick auf Guimards édicules durchaus geteilter Meinung. Während einige die floralen und verspielten Formen der graugrünen Eisenträger feierten, lehnte ein Großteil die édicules vehement ab. Manche fühlten sich durch die stängelartig aufragenden Eisenträger an ein Dinosaurierskelett („fragments d’un squelette d’ichtyosaure“60) erinnert, andere wiederum verglichen die Beschriftung der Emailleschilder mit Hieroglyphen und empfanden diese als schlichtweg lächerlich.61 Die Diskussionen um die Stationseingänge zogen zunächst einen Großteil der öffentlichen Aufmerksamkeit auf sich. Dass bereits innerhalb des ersten Jahres über sieben Millionen Besucher mit der Linie 1 gefahren waren – die erste Metrolinie wurde am 19. Juli 1900 eingeweiht –, war nicht unwesentlich dem Interesse an den Guimardschen édicules geschuldet und auch die Exposition Universelle trug sicherlich ihren Teil zu diesem großen Andrang bei. Allerdings gelangte die Metro bald zu eher zweifelhaftem Ruhm, als sich in den ersten Jahren nach der Inbetriebnahme Schlagzeilen über Unfälle häuften, die sich in der Metro ereigneten. Insbesondere mit der Explosionskatastrophe an der Station „Couronnes“ im August des Jahres 1903, bei der 84 Menschen in einem Metrowaggon ums Leben kamen, verkehrte sich die anfängliche Faszination schließlich in Unbehagen und Angst.62 Das Ereignis zog eine Welle von sarkastischer Kritik und angstmacherischer Berichterstattung nach sich. Hatte man schon vor Eröffnung der Metro die Angst vor unhygienischen Zuständen, Krankheiten, schädlichen Dämpfen und Bakterien, denen man im Untergrund ausgesetzt sei, geschürt63, überschlugen sich die Zeitungen nun förmlich mit mahnenden Ratschlägen.64 In einer Sonderausgabe der Zeitschrift L’Assiette au beurre vom 22. August 1903 wurden als direkte Reaktion auf die Explosionskatastrophe gleich mehrere Illustrationen abgedruckt, die die Metro als todbringenden Ort darstellten. 60 61 62 63 64 Guerrand: L´aventure du métropolitain, S. 67. Vgl. Guerrand: L´aventure du métropolitain, S. 67. Vgl. Pike: Subterranean Cities, S. 52f, sowie Michel Dansel: Paris-métro, Paris: Éditions du Dauphin 1975, S. 49ff. Das Ereignis hatte einen starken Einbruch der Beförderungszahlen zur Folge und in den kommenden Jahren sollte die Zahl der jährlich transportierten Metropassagiere nur allmählich wieder ansteigen. Größere Entwicklungssprünge waren dann insbesondere während der Weltkriege festzustellen. Im Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die Metro schließlich endgültig zum Hauptverkehrsmittel in Paris und beförderte über eine Millionen Passagiere jährlich. Damit lag sie schon knapp unter den heutigen Beförderungszahlen. Vgl. Dansel: Paris-métro, S. 51ff sowie S. 154. Vgl. Liehr/Faÿ: Der Untergrund von Paris, S. 139 sowie Bobrick: Labyrinths of Iron, S. 143. Ein Redakteur der Zeitschrift La Nature etwa warnte eindringlich vor dem Temperaturunterschied, der zwischen überirdischem und unterirdischem Terrain herrsche: „Gare aux fluxions de poitrine! [...] nous ne saurions trop recommander à ceux qui liront ces lignes d´éviter une entrée trop brusque dans les stations; il est certain qu´une personne pressée de prendre son train, qui arrive en courant et qui se précipite en nage dans cette atmosphère refroidie, s´expose aux plus graves dangers“, zitiert nach Guerrand: L´aventure du métropolitain, S. 55. 16 Abb. 1 (links): Théophile Steinlens sarkastischer Kommentar zur Explosionskatastrophe an der Station „Couronnes“: Am Ticketschalter einer Metrostation sitzt der Tod persönlich und verkauft Fahrkarten für „Le Métro-Nécro“. Abb. 2 (oben): Dimitrios Galanis zeichnete die Metro als moderne Nekropole. Das Unbehagen, das man der Metro entgegenbrachte, wandte sich nun auch zunehmend gegen die édicules von Guimard. Diese schienen nun selbst den ehemaligen Befürwortern nicht mehr den Eintritt in eine abenteuerliche, geheimnisvolle Welt zu eröffnen, sondern vielmehr die Schwelle zur Unterwelt zu symbolisieren. Ab etwa 1914 wurden die Guimardschen édicules schließlich nach und nach ersetzt, sodass heute nur noch einige wenige Stationseingänge mit den Art-Nouveau-Eisenträgern erhalten sind. 2.2.3 Mythos Metro Noch lange Zeit blieb die Ikonographie der Metro durch angstvolle Höllen- und Unterweltsvisionen geprägt, wie sie die obigen Illustrationen zeigen. Diese Darstellungen entfalten bis heute ihre Nachwirkung, wie auch eine Lithographie jüngeren Datums des Künstlers Jan Balet (1913-2009) veranschaulicht (siehe Abb. 3). Indem sie die „jenseitige Ästhetik“65 der Guimardschen Stationseingänge betont und diese als Pforten zur Hölle inszeniert, verweist diese Darstellung von Balet außerdem auf die mythische Dimension der Metro. Sie zeigt einen modernen Orpheus, der aus der Unterwelt aufsteigt. Das am Metroeingang angebrachte Schild spielt mit der Zweideutigkeit der Aufschrift, die entweder als „En fer“ oder „Enfer“ gelesen werden kann. 65 David L. Pike spricht wiederholt von der „otherworldly aesthetic“ oder dem „otherworldly character“ der édicules, die den Menschen den Übergang zu einer urbanen Unterwelt zu markieren schienen. Vgl. Pike: Subterranean Cities, S. 25 sowie S. 53. 17 Wenn sich Realität und Mythos in der gesamten Paris-Darstellung immer wieder durchdringen, so ist dies auch und in besonderer Weise bei der Metro der Fall: Die Lithographie von Balet veranschaulicht, wie eng sie im kollektiven Bewusstsein mit mythischen Inhalten verknüpft ist. Schon Walter Benjamin beschrieb die Metro in seinem Passagen-Fragment als besonders bedeutungsträchtigen Teil der „mythologischen Topographie von Paris“66: Aber [es gibt noch] ein anderes System von Galerien, die unterirdisch durch Paris sich hinziehen: die Métro, wo am Abend rot die Lichter aufglühen, die den Weg in den Hades der Namen zeigen. Combat – Elysée – Georges V – Etienne Marcel – Solférino – Invalides – Vaugirard haben die schmachvollen Ketten der rue, der place von sich abgeworfen, sind hier im blitzdurchzuckten, pfiffdurchgellten Dunkel zu ungestalten Kloakengöttern, Katakombenfeen geworden. Dies Labyrinth beherbergt in seinem Innern nicht einen sondern Dutzende blinder, rasender Stiere, in deren Rachen [...] allmorgendlich tausende bleichsüchtiger Midinetten, unausgeschlafener Kommis sich werfen müssen.67 Walter Benjamin nimmt hier auf unterschiedliche mythologische Stoffe Bezug, die immer wieder in ZAbb. 3: Die Metro als Unterwelt: Jan Balets geheimnisvoller Orpheus (was versteckt er in seinem Geigenkasten?) steigt aus dem Untergrund von Paris auf. Zusammenhang mit dem Untergrund von Paris und insbesondere der Metro gebracht werden. Zum einen spielt auch er, wenn er vom „Hades der Namen“ spricht, auf die Unterwelt, den Aufenthaltsort der Toten an68, zum anderen referiert er auf das Labyrinth, das im griechischen Mythos den Minotaurus beherbergt – beide Topoi werden uns im Rahmen der Filmanalysen beschäftigen. Insbesondere das labyrinthische Moment der Metro wird in vielen Filmen in Szene gesetzt, was mit der ausgeprägten Bedeutungsfülle zusammenhängen mag, die das Motiv des Labyrinths auszeichnet.69 Es kann zwar mitunter völlig unterschiedliche, oft widersprüchliche Semantisierungen einschließen, jedoch sind seine „semantischen und strukturellen Konstituenten [...] in unserer Kultur derart verwurzelt“70, dass seine jeweilige Bedeutung laut Manfred Schmeling in den meisten Fällen von den Rezipienten problemlos dechiffriert werden kann: Die Evokationen von labyrinthischen Höhlen, Bäuchen, Eingeweiden, unterirdischen Konstruktionen oder im engeren Sinne mythischen, inferno-ähnlichen Aufenthaltsräumen bestätigen das Vorhandensein eines 66 67 68 69 70 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Band V,1 [Das Passagen-Werk]. Herausgegeben von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 139. Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 135f. Zudem beschreibt Walter Benjamin hier – wenn auch mit einer völlig unterschiedlichen Rhetorik – im Grunde das, was Augé später als „historische Aufladung“ der Metro bezeichnen wird: Die großen Namen der französischen Geschichte scheinen in diesem „Hades der Namen“ als „Kloakengötter“ und „Katakombenfeen“ fortzuleben. Vgl. Manfred Schmeling: Der labyrinthische Diskurs: Vom Mythos zum Erzählmodell, Frankfurt a.M.: Athenäum Verlag 1987, S. 13. Schmeling: Der labyrinthische Diskurs, S. 13. 18 kulturellen, diachronisch wie synchronisch wirksamen ,sensus communis‘, eines gemeinsamen kulturellen Erfahrungshorizontes.71 Schmeling beschäftigt sich in seinem Werk Der labyrinthische Diskurs vorrangig mit der Erzählliteratur der Moderne, die häufig labyrinthische Imaginationsräume zur Aufarbeitung der unterschiedlichsten Themen entwarf. Schmeling beschreibt unter anderem anhand von Zolas Germinal, mittels welcher Metaphern und Vergleiche das Bergwerk hier als Labyrinth inszeniert wird (gleichwohl an keiner Stelle explizit von einem Labyrinth die Rede ist) und inwiefern Zola sich hierfür kulturell vermittelter und verinnerlichter Konzepte bedient.72 Beispielhaft ist insbesondere die Darstellung der Grube „Le Voreux“, die in einer Personifizierung (beziehungsweise Animalisierung) als Menschen verschlingendes Wesen in Erscheinung tritt73 und so an den Minotaurus aus dem griechischen Mythos erinnert. Bemerkenswerterweise kann man beinahe identische Schilderungen auch über die Pariser Metro finden. Henri Calet etwa nannte die Metro 1948 in Le Tout sur le tout „[une] espèce de grand serpent souterrain qui se nourrit d’hommes, de femmes et d’enfants.“74 Und noch heute spricht man von der „bouche du métro“, ein Ausdruck, der ebenfalls das Bild eines Menschen verschlingenden Ungeheuers evoziert. Genauso beschwört Zola in Bezug auf das unterirdische Bergwerk wiederholt Unterwelts- oder Höllenvisionen herauf75 – ebenfalls Konnotationen, die uns bereits im Falle der Metro begegneten. Dass sich die Schilderungen der Metro und des Schachtes „Le Voreux“ in Germinal in so auffälliger Weise ähneln, hängt damit zusammen, dass sie gleichermaßen mit dem Konzept eines „labyrinthus subterraneus“ verknüpft sind, welchem laut Schmeling unter anderem typische Konnotate wie „Tod“, „Vernichtung“ und „Verbrechen“ zugeordnet sind.76 Nach Jean-Pierre Bayard kann das unterirdische Labyrinth aber ebenso zum Symbol eines „couloir initiatique“ werden, also eines Prozesses, der den Helden einer Erzählung schließlich zur Überschreitung einer entscheidenden Schwelle in seiner persönlichen Entwicklung führen soll.77 Doch es wäre irreführend, das Motiv des Labyrinths auf einige wenige semantische Felder reduzieren zu wollen. Tatsächlich ist es so vielgestaltig und komplex, dass laut Schmeling kaum ein Thema denkbar ist, das „sich nicht – denotativ oder konnotativ – in Kategorien des ,Labyrinthischen‘ wiedergeben [ließe].“78 71 72 73 74 75 76 77 78 Schmeling: Der labyrinthische Diskurs, S. 70. Vgl. Schmeling: Der labyrinthische Diskurs, S. 69f. „Et Le Voreux, au fond de son trou, avec son tassement de bête méchante, s´écrasant d´avantage, respirait d´une haleine plus grosse et plus longue, l´air gêné par sa digestion pénible de chair humaine“, Émile Zola: Germinal, Paris: Fasquelle 1966, S. 17, zitiert nach Schmeling: Der labyrinthische Diskurs, S. 74. Zitiert nach Guerrand: L´aventure du métropolitain, S. 168. „Autant valait-il crever tout de suite que de redescendre au fond de cet enfer“; „Lorsqu´ils parlaient de cette région de la fosse, les mineurs du pays pâlissaient et baissaient la voix comme s´ils avaient parlé de l´enfer“, Zola: Germinal, S. 63 und 291, zitiert nach Schmeling: Der labyrinthische Diskurs, S. 74. Vgl. Schmeling: Der labyrinthische Diskurs, S. 75. Vgl. Bayard: La symbolique du monde souterrain, S. 103ff.. Schmeling: Der labyrinthische Diskurs, S. 15. 19 2.2.4 Die Metro im Film Die eigentliche „filmische Existenz“ der Metro im französischen Kino beginnt – abgesehen von wenigen frühen, eher unbedeutenden „Auftritten“ in Filmen des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts79 – erst im Jahr 1913. Mit JUVE CONTRE FANTÔMAS, einem der frühen sérials von Louis Feuillade, offenbart die Metro, „dass sie mit dem Kino auf eine merkwürdige Weise verwandt ist. Ebenso wie das Medium Film lebt ,das sicherste Verkehrsmittel der Welt‘ von der Lust an der Bewegung und führt kleine Dramen in abgedunkelten Räumen auf.“80 Mehr noch aber scheint sich ihre Gemeinsamkeit in der Tatsache zu offenbaren, dass beide zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine neue Art der Raumerfahrung mit sich brachten: das Kino, indem es den Zuschauer in geschlossene Erzählwelten und -räume auf der Leinwand versetzte, wobei es den Raum durch das konstituierende Prinzip der Montage fragmentierte und zu einer neuen Ordnung (dem diegetischen Raum) wieder zusammenfügte; die Metro, indem sie die Stadterfahrung in ganz ähnlicher Weise fragmentierte und ebenfalls eine neue Kontinuität schuf. Anders als zu Fuß oder mit der Tramway konnte man sich nun innerhalb kurzer Zeit unterirdisch von einem Ende der Stadt zum anderen begeben. Entfernte Orte rückten auf diese Weise in der Wahrnehmung näher zusammen und die unterirdische Fahrt in der Metro machte – dem filmischen Schnitt vergleichbar – das „Dazwischen“ unsichtbar. Trotz dieser subtilen Affinität zwischen Kino und Metro sollte es nach JUVE CONTRE FANTÔMAS noch weitere 25 Jahre dauern, bis die Pariser Untergrundbahn endgültig Einzug in den Film hielt. Seit dem Ende der 1930er Jahre ist die Metro jedoch nicht mehr aus dem französischen Kino wegzudenken: 1938 dreht Maurice Cam mit MÉTROPOLITAIN den ersten Film nach Feuillade, der die Metro wieder zum Schauplatz macht.81 In den nächsten Jahrzehnten folgen unzählige Filme, unter anderem von Regisseuren wie Marcel Carné (LES PORTES DE LA NUIT, 1946), René Clair (PORTE DES LILAS, 1957) oder Jean-Luc Godard (MASCULIN, FÉMININ: 15 FAITS PRÉCIS, 1966), um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Bis heute kommt kaum ein Parisfilm noch ohne eine kleine Bezugnahme auf die Metro aus (sei es auch, dass sie lediglich in einigen verbalen und visuellen Referenzen präsent ist wie etwa in Truffauts 79 80 81 Roger Guerrand verweist auf einen kurzen, „dokumentarisch“ anmutenden Film von Georges Mendel von 1903, für den der bereits erwähnte Unfall an der Station „Couronnes“ im Studio rekonstruiert wurde, sowie auf einen Film aus der Serie „Boireau“ von André Deed (BOIREAU MANGE DE L´AIL) von 1910. Vgl. Guerrand: L´aventure du métropolitain, S. 99f. Dirk/Sowa: Paris im Film, S. 18. Sicherlich kann nicht mit letzter Bestimmtheit ausgeschlossen werden, dass in der Zwischenzeit nicht doch der ein oder andere Film entstanden sein mag, der eine Szene in der Metro aufweist. Jedoch ist die Tatsache, dass in keiner Quelle der Sekundärliteratur ein Hinweis auf einen entsprechenden Film aus der Zeit von 1913 bis 1938 zu finden ist, trotz allem bemerkenswert – umso mehr, als die Zahl der bekannten Filme ab dem Ende der 30er Jahre so signifikant steigt. Eine Erklärung könnte die Schließung der Station „Porte des Lilas – Cinéma“ im Jahr 1939 liefern. Seit diese der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich ist und nur noch für Dreharbeiten zur Verfügung steht, ist es für Filmemacher ungleich leichter geworden, Metroszenen zu drehen, da aufwendige Nachbauten entfallen. 20 LE DERNIER MÉTRO oder Louis Malles ZAZIE DANS LE MÉTRO82), steht sie doch geradezu metonymisch für die gesamte Stadt oder, wie Kafka sagte, „das Wesen von Paris“. Ihr prototypischer Charakter und ihr Verweisen auf Pariser Monumente und die französische Kultur insgesamt sind, wie Cornelia Ruhe darlegt, auch für das cinéma beur von besonderer Bedeutung. In den Filmen dieses relativ jungen Genres, deren Regisseure der so genannten génération Beur angehören (die also maghrebinischer Herkunft, aber in Frankreich aufgewachsen sind), spielt die Metro eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung dieser zerrissenen Generation mit der französischen Kultur. Die von Augé postulierte identitätsstiftende Funktion der Metro, die in ihrer historischen und kulturellen „Aufladung“ begründet ist, wird für die Protagonisten des cinéma beur zu einer „Folie, vor der ihre Andersartigkeit besonders deutlich hervortritt: Sie fühlen sich als Fremdkörper in dieser ihnen nicht vertrauten Umgebung, zu deren musealen Repräsentationsobjekten sich für sie kein Bezug etablieren lässt.“83 In Mehdi Charefs LE THÉ AU HAREM D’ARCHIMÈDE (1985) machen die beiden Protagonisten Pat und Madjid regelmäßig Ausflüge in das Zentrum von Paris – dass sie sich in der Innenstadt befinden, verraten derweil allerdings nur die Namen der Metrostationen, die zitathaft auf das oberirdische Paris verweisen. Von der Stadt selbst bekommen wir, abgesehen vom Rotlichtviertel auf der Rue Saint-Denis, kaum einen Eindruck.84 Auf diese Weise wird deutlich, dass sich Pat und Madjid „in einem gesichtslosen Paris“85 bewegen, zu dessen Kulturdenkmälern sie keinerlei Bezug haben und das ihnen folglich fremd bleibt. In vielen Film wird die Metro auch immer wieder zu einem Ort der Begegnung stilisiert. In Carnés LES PORTES DE LA NUIT etwa fungiert sie als Schauplatz eines buchstäblich schicksalhaften Aufeinandertreffens. Der Protagonist Diego (Yves Montand) trifft zu Beginn des Films in einem überfüllten Metrowaggon auf einen rätselhaften Clochard, der sich als „le Destin“ vorstellt und ihm eine schicksalhafte Begegnung mit einer Frau voraussagt, die ihm schon bald in Gestalt von Malou (Nathalie Nattier) über den Weg laufen wird. Die Metro als Ort der Begegnung ist ein wiederkehrender Topos im französischen Film – man denke beispielsweise auch an Jean-Pierre Jeunets LE FABULEUX DESTIN D’AMÉLIE POULAIN (2001), wo die Protagonistin Amélie an der Metrostation „Abbesses“ zum ersten Mal ihrem „Seelenverwandten“ Nino Quincampoix begegnet und sich auf der Stelle in ihn verliebt. Nicht immer aber sind die filmischen Begegnungen in der Metro positiver Art. In der Eröffnungssequenz zu Bertrand Bliers Film BUFFET FROID (1979) wird die kühle, klinische Atmosphäre an der Metrostation „La Défense“ zum Hintergrund für ein alptraumhaftes 82 83 84 85 Vgl. Berry: „Underground Cinema“, S. 9. Cornelia Ruhe: Cinéma beur: Analysen zu einem neuen Genre des französischen Films, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2006, S. 82. Vgl. Ruhe: Cinéma beur, S. 82f. Ruhe: Cinéma beur, S. 82. 21 Szenario.86 An einem verlassenen Bahnsteig wird ein anonymer Buchhalter von Alphonse Tram (Gérard Dépardieu), einem ihm fremden Mann, angesprochen und gegen seinen Willen in ein zunächst absurdes, schließlich zunehmend makabres Gespräch verwickelt („Je vous demande si ça vous arrive parfois d’avoir envie de tuer quelqu’un.“ – „Qui?“ – „N’importe qui.“ – „Et pourquoi?“ – „Comme ça, sans raison. Une impulsion.“ – „Non.“ – „Jamais?“ –„Non.“ – „Même pas dans le métro?“ etc.). Schließlich zieht Tram ein Messer aus der Tasche. Als der Buchhalter ihn sichtlich beunruhigt auffordert, es wieder einzustecken, drängt Tram ihn, es als Geschenk anzunehmen. Er weigert sich, reißt es Tram schließlich aus der Hand und legt es auf die Bank hinter ihnen. Im weiteren Verlauf der Unterhaltung – Tram erzählt dem Buchhalter von seinen wiederkehrenden Alpträumen, in denen er von der Polizei wegen Mordes gesucht wird – stellen sie plötzlich fest, dass das Messer verschwunden ist. In diesem Moment trifft die Metro ein, der Buchhalter steigt eilig ein, Tram bleibt allein am Bahnsteig zurück. In der folgenden Szene sehen wir ihn den Korridor einer Metrostation entlanggehen, an dessen Rand zwei Clochards schlafend auf dem Boden liegen – und der Buchhalter, mit besagtem Messer im Bauch. In der Szene zuvor schienen Tram und er die einzigen am Bahnsteig zu sein. Doch ein genauer Blick macht erkennbar, dass vor einem Metrofahrplan, fast vollständig von einer Säule verdeckt, eine weitere Person steht. Der Film löst nicht auf, ob der mysteriöse dritte Mann der Mörder des Buchhalters ist oder ob sich Trams alptraumhafte Visionen bewahrheitet haben. Fest steht nur, dass sich der zukünftige Mörder des Buchhalters ebenfalls am Bahnsteig befunden haben muss. Bertrand Bliers BUFFET FROID, ein Film, den David Berry aufgrund seiner bizarren, mit Ungereimtheiten und logischen Brüchen gespickten Handlung als Reminiszenz an das absurde Theater eines Beckett oder Ionesco verstanden wissen will87, ist ein besonders eindrückliches, jedoch bei weitem nicht das einzige Beispiel für die filmische Inszenierung von Gewalt und Verbrechen in der Metro. In Jean-Luc Godards MASCULIN, FÉMININ: 15 FAITS PRÉCIS etwa werden die Hauptperson Paul (Jean-Pierre Léaud) und sein Freund Robert während einer Fahrt in der Metro Zeugen einer Diskussion zwischen zwei farbigen Männern und einer weißen Frau (Streitpunkt ist die Musik schwarzer Künstler), die unerwartet eskaliert, als die Frau plötzlich eine Waffe zieht und einen der Männer erschießt. In PICKPOCKET (1959) von Robert Bresson begleiten wir einen professionellen Taschendieb (Martin LaSalle) bei seinen Raubzügen durch die Metro, ähnlich wie auch in Luc Bessons SUBWAY, wo der Rollschuhfahrer Jean-Louis als Handtaschenräuber in den Gängen der Metro sein Unwesen treibt. 86 87 Wie Michel Chlastacz in seiner Untersuchung Trains du mystère: 150 ans de trains et de polars darlegt, sind Untergrundbahnen und andere Verkehrsmittel von jeher auch beliebte Schauplätze des Kriminalromans gewesen. Und so wird die Metro (genauso wie zum Beispiel die Londoner Tube), auch dort immer wieder zum Schauplatz verhängnisvoller Begegnungen: „[L]es métros, les tramways et les bus sont des lieux de brèves rencontres... même si il peut s´agir parfois de celles qui réunissent des criminels et leurs victimes!“, Michel Chlastacz: Trains du mystère: 150 ans de trains et de polars, Paris: L´Harmattan 2009, S. 241. Vgl. Berry: „Underground Cinema“, S. 12. 22 Die traditionelle Assoziation von Metro und Verbrechen (oder Illegalität im weitesten Sinne)88 spielt auch in allen in dieser Arbeit untersuchten Filmen eine Rolle. Wenngleich nicht immer eine tatsächliche Straftat in der Metro stattfindet (so handelt es sich beispielsweise in LES AMANTS DU PONT-NEUF, wenn Michèle in einem Tagtraum ihren früheren Geliebten Julien erschießt, lediglich um eine imaginierte Straftat), so ist sie doch zumindest immer ein Anlaufpunkt für Personen aus kriminellen, zwielichtigen Milieus. In DIVA sucht Jules eine Prostituierte auf, die mit ihren Kolleginnen vor einem Metroeingang auf Kundschaft wartet, in SUBWAY verdienen sich die Mitglieder der „Untergrund-Kommune“ ihren Lebensunterhalt überwiegend mit illegalen Tätigkeiten. Nicht zuletzt wird die Metro in allen der fünf Filme zum Schauplatz einer Verfolgungsjagd, die schließlich in den meisten Fällen Teil der Fahndung nach einem mutmaßlichen Verbrecher ist. In LE SAMOURAÏ etwa nutzt der Profikiller Jef Costello die Metro bewusst, um die Polizei in die Irre zu führen. Welche Funktionen die Verfolgungsjagd in einem Film einnehmen kann und welche Charakteristika einer „typischen“ Verfolgungsjagd zugrunde liegen, werde ich im nun folgenden Kapitel darlegen. 2.3 ZUR VERFOLGUNGSJAGD IM FILM Filmische Verfolgungsjagden sind so alt wie das Kino selbst. Schon die frühesten Stummfilme inszenierten Verfolgungsjagden, die nicht selten in ein „wildes Drüber und Drunter“89 mündeten und das Publikum gerne mit möglichst kuriosen Verfolgungssituationen unterhielten. So jagen etwa in COURSE DES SERGEANTS DE VILLE (1906) Polizisten einem Hund hinterher, bis sie schließlich von diesem selbst verfolgt werden; in LA COURSE AUX POTIRONS (1907) nimmt ein Gemüsehändler mitsamt seinem Esel und einigen Straßenpassanten die abenteuerliche Verfolgung einer Ladung Kürbisse auf, die sie durch die Gassen und über die Dächer der Stadt führt.90 Als eine der grundlegendsten filmischen Konventionen hat die Verfolgungsjagd heutzutage überwiegend im Kriminal- und Actionfilm sowie in verwandten Subgenres ihren Platz. Dies überrascht wenig, ist es doch geradezu „unvermeidlich, daß Detektivarbeit die Form einer Jagd annimmt.“91 Dabei stellen physische Verfolgungsjagden immer eine Verdichtung des übergreifenden Themas (Jagd auf einen Verbrecher) dar. Sie „erhöhen [...] den Reiz ihres 88 89 90 91 Die Assoziation der Metro mit Kriminalität findet sich genauso in der Literatur. So ist die Pariser Untergrundbahn ganz besonders in der zwischen 1911 und 1913 erschienenen Fantômas-Reihe von Marcel Allain und Pierre Souvestre immer wieder präsent. Hier erscheint sie vor allem als Symbol des technischen Fortschritts, der sich – in den Dienst des Verbrechens gestellt – gegen die Menschen richtet. Vgl. Chlastacz: Trains du mystère, S. 119. Für Chlastacz wird diese Liaison der Metro mit dem Vebrechen überhaupt erst durch die Abenteuer des mysteriösen Schurken etabliert: „[C]´est incontestablement Fantômas qui introduit le nouveau mode de transport parisien dans la ,geste criminelle‘“, Chlastacz: Trains du mystère, S. 247. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (11964). Vom Verfasser revidierte Übersetzung von Friedrich Walter und Ruth Zellschan. Herausgegeben von Karsten Witte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 72. Dies sind zwei besonders prominente Beispiele früher Verfolgungsjagden, die auch von Siegfried Kracauer genannt werden. Letzteren Film führt Kracauer allerdings irrtümlicherweise unter dem Titel LA COURSE DES POTIRONS an. Vgl. Kracauer: Theorie des Films, S. 72. Kracauer: Theorie des Films, S. 360. 23 filmischen Motivs“92, so Kracauer, indem sie es in die spezifische Sprache des Films, die Bewegung, übersetzen. 2.3.1 Die „Lust am rasenden Tempo“93 Frühe Verfolgungsjagden wie COURSE DES SERGEANTS DE VILLE oder LA COURSE AUX POTIRONS sollten nicht vorrangig Spannung erzeugen, sondern vielmehr das Publikum mit skurrilen Einfällen überraschen und zum Lachen bringen. Charlie Chaplin perfektionierte diese Kunst und ließ seine Verfolgungsjagden häufig in grotesk übersteigerten, „sinnlosen Kreis- und Vor-und-zurück-Bewegungen“94 kumulieren. Ein großer Teil des Reizes lag dabei schlicht darin, Bewegung abzubilden, war doch gerade dies das Neue und Einzigartige, was der Film insbesondere dem Medium der Fotografie voraushatte. Siegfried Kracauer unterscheidet in seiner Theorie des Films zwischen „registrierenden“ und „enthüllenden Funktionen“ des Films. Während die enthüllenden Funktionen stets dem Zuschauer etwas zeigen, was sich normalerweise seinem Blick entzieht – sei es, dass eine Nahaufnahme etwas sichtbar macht, was mit bloßen Auge nicht zu erkennen wäre, oder dass eine Handlung, die für die menschliche Wahrnehmung normalerweise zu schnell (etwa der Bewegungsablauf eines Pferdes im Galopp) oder zu langsam (wie das Wachsen einer Pflanze) abläuft, mittels Zeitlupe beziehungsweise Zeitraffer plötzlich nachvollziehbar wird95 –, haben die registrierenden Funktionen des Films den schlichten, aber genuin filmischen Zweck, Bewegung zu erfassen. Zu ihnen zählt Kracauer neben der Verfolgungsjagd auch den Tanz sowie die „Bewegung im Entstehen“ (gemeint ist jede Form von Bewegung, die bewusst „im Gegensatz zur Reglosigkeit“96 in Szene gesetzt wird).97 Aus diesem Grund, da sie die physische Aktion zum dramatischen Gegenstand erhebt, erscheint Alfred Hitchcock die Verfolgungsjagd als „der endgültige Ausdruck des filmischen Mediums“98 – eine Ansicht, die auch Kracauer teilt. Für ihn stellt „[d]ieser Komplex aufeinander bezogener Bewegungen [...] Bewegung im Höchstmaß dar, Bewegung an und für sich.“99 Im vorangegangenen Kapitel war bereits davon die Rede, dass Metro und Kino die „Lust an der Bewegung“ gemeinsam ist. Wenn sich diese mit der Verfolgungsjagd nun zu einer „Lust am rasenden Tempo“100 steigert, so scheint sich die Affinität von Metro und Kino genau dann am reinsten zu entfalten: wenn die Metro zum Schauplatz einer filmischen Verfolgungsjagd wird. 92 93 94 95 96 97 98 99 100 Kracauer: Theorie des Films, S. 360. Kracauer: Theorie des Films, S. 72. Georg Hoefer: Die Verfolgungsjagd im Film: Eine filmästhetische Untersuchung, Alfeld/Leine: Coppi-Verlag 1996, S. 142. Vgl. Kracauer: Theorie des Films, S. 77ff. Kracauer: Theorie des Films, S. 74. Vgl. Kracauer: Theorie des Films, S. 71ff. „Core of the Movie – the Chase“, The New York Times Magazine, 29. Oktober 1950 (ein Interview mit Alfred Hitchcock), zitiert nach Kracauer: Theorie des Films, S. 72. Kracauer: Theorie des Films, S. 72. Kracauer: Theorie des Films, S. 72. 24 2.3.2 Die Verfolgungsjagd als erzählerische Konvention Wenn es sich bei filmischen Verfolgungsjagden vorrangig um die Dramatisierung physischer Bewegung handelt, wie Kracauer postulierte, so tut sich eben hierin ein wesentliches Problem auf. Wenn Verfolgungsjagden dem Zweck dienen sollen, Spannung zu erzeugen (und dies ist, wenngleich auch die komische Verfolgungsjagd noch immer ihren Platz im Kino hat, heutzutage ihre Hauptaufgabe), so reicht das Kriterium der reinen Bewegung kaum noch aus. Tempo allein genügt längst nicht mehr, um eine Verfolgungsjagd packend zu inszenieren – zumindest dann nicht, wenn sie mehr sein soll als actionreiches Beiwerk. Diese Problematik formuliert Georg Hoefer in seiner Untersuchung Die Verfolgungsjagd im Film: „Oft wird eine Verfolgungsjagd dem Film aufgepfropft, weil sie Tempo und Action bringt. In solchen Fällen hat sie für die Handlung und die Darstellung der Charaktere kaum Bedeutung.“101 Ein zu reibungsloser Verlauf, der auf strategische Elemente gänzlich verzichtet und bei dem die Beteiligten lediglich wie ferngesteuert hintereinander herjagen, wird kaum Spannung erzeugen. Ein großer Teil konventioneller Verfolgungsjagden – meist handelt es sich um Autojagden102 – folgt einem stereotypen Schema, bei dem insbesondere Rollenklischees von großer Bedeutung sind. Meist enden sie vorhersehbar mit dem Tod des „Schurken“ (der in den meisten Fällen der Gejagte ist), während der Held, indem er das Böse aus der Welt schafft, als „Richter und Henker in einer Person“103 für die Aufrechterhaltung und Bestätigung der moralischen Ordnung sorgt. Doch auch dann, wenn sich die Jagd lediglich im Abspulen eines leeren Rituals erschöpft, wenn sie nicht Spannung erzeugt, sondern lediglich altbekannte Erzählkonventionen wiederholt, sieht der Zuschauer gerne zu – denn selbst eine „besonders schlechte Jagd [das heißt eine im oben beschriebenen Sinne sinnentleerte oder stereotype Jagd, Anm. von mir] gibt immer noch einen guten Ritus ab.“104 2.3.3 Die Metro – ein ideales Setting? Um nicht inhaltsleer und stereotyp, sondern spannend und, wie Hoefer es formuliert, „ambitioniert“ zu sein, braucht die filmische Verfolgungsjagd ein gewisses Maß an Unvorhersehbarkeit..105 Entscheidend ist zum Beispiel, dass das gejagte Individuum und der Verfolger in etwa gleiche Voraussetzungen aufweisen, was ihre körperliche, geistige und technische Ausstattung betrifft. Es muss zumindest theoretisch sowohl die Möglichkeit bestehen, 101 102 103 104 105 Hoefer: Die Verfolgungsjagd im Film, S. 50. Zur besonderen Rolle des Autos für die Verfolgungsjagd (etwa als Männlichkeitssymbol und Ausdruck von Stärke und „Erfahrung“ im buchstäblichen Sinne), siehe Hoefer: Die Verfolgungsjagd im Film, S. 127ff. Hoefer: Die Verfolgungsjagd im Film, S. 165. Hoefer: Die Verfolgungsjagd im Film, S. 141f. Hoefer spricht dann von „ambitionierten Verfolgungsjagden“, wenn diese durch die Handlung motiviert sind und zudem ein gewisses Maß an Komplexität aufweisen: wenn die Charaktere (insbesondere die Heldenfigur) also nicht starr und stereotyp, sondern differenziert sind und wenn sie taktierend vorgehen müssen, um den jeweiligen Kontrahenten zu irritieren.Vgl. Hoefer: Die Verfolgungsjagd im Film, S. 112 sowie S. 151. 25 dass „das Opfer“ entkommt als auch, dass es gefangen wird.106 Zum anderen, und damit kommen wir auf die Eignung der Metro als Schauplatz für Verfolgungsjagden zu sprechen, spielt das Element des Zufalls eine wichtige Rolle. Wie Kracauer betont, liebt der Film – und wir gehen davon aus, dass dies auch und besonders für die Verfolgungsjagd gilt, die Hitchcock zufolge ja als „der endgültige Ausdruck des filmischen Mediums“ zu betrachten ist – im Allgemeinen die Orte, an denen „das Zufällige übers Planmäßige siegt und unerwartete Zwischenfälle fast die Regel sind.“107 Daher rühre auch die Hinwendung des Kinos zu Bahnhöfen, Bars, Hotelhallen und Flughäfen. Die Metro fügt sich nun bestens in diese Prämisse, bietet sie doch die ideale Kulisse für abwechslungsreiche Szenarien und unvorhergesehene Ereignisse: So schneidet etwa in SUBWAY ein einfahrender Metrozug den Polizeibeamten plötzlich den Weg ab und verhindert so die weitere Verfolgung des Rollschuhfahrers, in DIVA schließt sich die Metrotür buchstäblich vor der Nase des verfolgenden Polizeiermittlers, sodass diesem nur noch die Möglichkeit bleibt, sich von außen an den Waggon zu klammern. In Verneuils PEUR SUR LA VILLE wird das zufällige Moment sicherlich auf die Spitze getrieben, als der Fahrer des Metrozuges, auf dessen Dach sich Kommissar Letellier befindet, unerwartet die Anweisung erhält, an den nächsten Stationen nicht anzuhalten – und sich der riskante Ritt auf dem Metrowaggon somit unverhofft um einiges verlängert. Sicherlich spielen die besonderen topologischen Gegebenheiten in der Metro eine wichtige Rolle, wenn sie als Setting für eine Verfolgungsjagd ausgewählt wird. Durch ihre labyrinthischen Gänge, ihre zahlreichen Ein- und Ausgänge, Schranken, Treppen und Rollteppiche kann sie geradezu den Charakter eines „Hindernisparcours“ annehmen – ideale Voraussetzungen also, um eine Verfolgungsjagd voller überraschender Wendungen zu inszenieren. Verfolgungsjagden in der Metro fordern den Beteiligten oft geradezu akrobatisches Geschick ab, wenn es heißt, über elektronische Eingangsschranken oder die Handläufe von Rollteppichen zu springen, Rolltreppen entgegen der Laufrichtung hinaufzuhasten oder in letzter Minute in einen Waggon hineinzuspringen. Dabei ist meist derjenige, der sich hier auskennt, deutlich im Vorteil und kann seine Kenntnis des Terrains gezielt nutzen, um seine(n) Verfolger in die Irre zu führen. So schafft es Jef Costello in LE SAMOURAÏ ausgerechnet in der Metro, die Polizei abzuschütteln – denn diese kennt er, wie der Polizeikommissar anerkennen muss, „comme sa poche“.108 In den Szenen, in denen sich die Verfolgung nicht in den Gängen einer Metrostation abspielt, sondern in (oder sogar, wie im Falle von PEUR SUR LA VILLE, auf) einem Metrozug, kommt 106 107 108 Vgl. Hoefer: Die Verfolgungsjagd im Film, S. 15 und 151. Kracauer: Theorie des Films, S. 98. Auch der Rollschuhfahrer in SUBWAY behauptet von sich, die Gänge der Metro wie seine Westentasche zu kennen („Je connais les couloirs comme ma poche“). Im Gegensatz dazu entlarvt eine Äußerung des Polizeiinspektors dessen Orientierungslosigkeit im Metrolabyrinth: „C´est grand ici; nous-même, on s´y perd des fois.“ 26 ein weiteres spannungserzeugendes Detail hinzu. Dadurch, dass der Weg für Verfolger und Gejagten vorgezeichnet ist und beide während der Fahrt (meist in unterschiedlichen Waggons) „feststecken“, ergibt sich eine Situation, die im Rahmen einer Verfolgungsjagd im Grunde absurd ist: Das, was eine Verfolgungsjagd im Allgemeinen ausmacht – dass der Gejagte einen für den Verfolger unvermuteten Weg wählen und ihn so abhängen kann –, entfällt hier gänzlich.109 Zudem schränkt eine solche Situation auch den Verfolger in seiner Handlungsfähigkeit ein; im Grunde bleibt ihm nur abzuwarten, bis der Verfolgte die Metro verlässt und die Verfolgung fortgesetzt werden kann. Es sei denn, er entscheidet sich, wie Kommissar Letellier in PEUR SUR LA VILLE, die Verfolgung in aberwitziger Weise auf dem Dach der Metro fortzuführen: Der Kommissar arbeitet sich bei voller Fahrt Stück für Stück vor, um zu dem Waggon zu gelangen, in dem sich sein Widersacher Marcucci befindet – eine Strategie, mit der der Verbrecher nicht rechnet. Auf diese Weise kann sich also die im Grunde absurde Situation der Verfolgungsjagd auf dem Gleis auch als Vorteil für einen der Beteiligten erweisen. Nicht zuletzt trägt eine Szene wie diese, die Tempo mit Strategie und Nervenkitzel verbindet, auch wesentlich zur Dramatik der Verfolgungsjagd bei. 109 Vgl. Hoefer: Die Verfolgungsjagd im Film, S. 46f. Das Kino hat einige solcher kuriosen Verfolgungsjagden hervorgebracht, wie zum Beispiel die Verfolgungsjagd in einem unterirdischen Tunnelsystem (!) mittels kleiner Loren in Spielbergs INDIANA JONES AND THE TEMPLE OF DOOM (1984) oder die berühmte Verfolgungssequenz aus Buster Keatons THE GENERAL (1926), in welcher der Protagonist Johnnie zunächst zu Fuß und schließlich auf den Gleisen die Verfolgung der feindlichen Nordstaatler aufnimmt, die seine geliebte Lok „General“ entführt haben. Vgl. Hoefer: Die Verfolgungsjagd im Film, S. 38ff. Als frühestes Beispiel für eine Verfolgungsjagd auf dem Gleis kann wohl Edwin S. Porters THE GREAT TRAIN ROBBERY (1903) angeführt werden, der als Vorläufer des Spielfilms und insbesondere des Westerns gilt. 27 3. FILMISCHE VERFOLGUNGSJAGDEN IN DER METRO Im folgenden Teil sollen nun exemplarisch die Verfolgungsjagden der Filme LE SAMOURAÏ, PEUR SUR LA VILLE, DIVA, SUBWAY und LES AMANTS DU PONT-NEUF untersucht werden, wobei die bisher besprochenen semantischen und topologischen Aspekte der Metro in die Analyse einbezogen werden. Im Fokus soll die Überprüfung der eingangs formulierten These stehen, dass die Metro in diesen Verfolgungsjagden mehr ist als nur ein optisch ansprechendes Setting. Wie in den unter 2.1 aufgeführten Kapiteln dargelegt wurde, ist der Raum, der mit den Figuren in einem Verhältnis der Interdependenz steht (siehe „Dornröschen-Effekt“), stets an der Erzeugung von Bedeutung beteiligt und nimmt daher einen mitunter ebenso wichtigen Status ein wie die Figuren; inwiefern dies auf unsere Beispielfilme zutrifft, sollen die Einzelanalysen zeigen. Da die Verfolgungsjagd zudem eine besondere Form der (buchstäblichen) Raumerfahrung darstellt, werde ich zudem untersuchen, auf welche Weise in den Verfolgungssequenzen Raum erschlossen wird und wie die hierfür gewählten Mittel (unter anderem Schnitt, Montage und Kamerafahrten) dabei auf die Darstellung der Metro zurückwirken – wobei sicherlich nicht immer klar zu trennen ist, ob hier jeweils die Wahl der filmischen Mittel auf die Wahrnehmung dieses Ortes zurückwirkt, oder ob vielmehr traditionelle Vorstellungen von der Metro die Wahl der filmischen Mittel beeinflussen. Wie wir sahen, ist die Metro wie nur wenige andere Orte in besonders hohem Maße mit kollektiven, kulturell verankerten Vorstellungen, Konnotationen und Mythen verknüpft. Da ein Zuschauer einen Film niemals „im luftleeren Raum“ sieht, sondern stets ein gewisses Vorwissen und bestimmte Erwartungen mitbringt, fließen diese unweigerlich in die Rezeption mit ein. Doch auch wenn wir davon ausgehen, dass die Metro in den ausgewählten Filmen mehr ist als „nur“ Schauplatz, soll nicht außer Acht gelassen werden, dass sie zweifelsohne auch aus ästhetischen Erwägungen als Austragungsort für Verfolgungsjagden gewählt wird. Das Kapitel zur Verfolgungsjagd im Film hat gezeigt, dass Verfolgungsjagden zu einem guten Teil auch dem Ausleben einer puren „Lust am rasenden Tempo“, wie Kracauer es ausdrückte, dienen. Auf welche Weise das so ursprüngliche Moment des Films, die Bewegung, herausgestellt wird und wie dabei die topologischen Gegebenheiten des Terrains ausgenutzt werden, soll uns daher nicht weniger beschäftigen. 28 3.1 LE SAMOURAÏ von Jean-Pierre Melville Mit LE SAMOURAÏ führte Jean-Pierre Melville (1917-1973) nicht nur seine eigene spezifische Filmsprache, sondern die gesamte Gattung des französischen polar auf ihren vorläufigen ästhetischen Höhepunkt. Als erster „auteur complet“, also Regisseur, Drehbuchautor und Produzent in Personalunion, entwickelte er insbesondere in den letzten zehn Jahren seines Schaffens eine streng stilisierte, unverwechselbare Ästhetik, die sich im SAMOURAÏ (1967) besonders beispielhaft umgesetzt findet.110 Diese äußerte sich zum einen in einer stark vom amerikanischen gangster thriller der 30er und 40er Jahre beeinflussten Ikonographie111, die laut Colin McArthur vor allem durch die exzessive Inszenierung von stereotypen Attributen und Szenerien gekennzeichnet ist: „cars, guns, telephones, rain-soaked streets at night, art deco nightclubs in which progressive jazz is played and [...] the particular shape made on the screen by a certain kind of hat and raincoat.“112 Gerade Letzteres, die typische Silhouette aus obligatorischem Trenchcoat und Hut, wird in LE SAMOURAÏ geradezu fetischisiert, indem sich das Ankleiden des Protagonisten Jef Costello (Alain Delon) jedes Mal wie eine rituelle Handlung gestaltet. In diesem Ankleideritual offenbart sich zudem eine weitere Eigenheit von Melvilles Filmen, deren Protagonisten häufig „den Zwängen traumhafter Rituale unterworfen“113 sind und eine einsame, isolierte und ausweglose Existenz führen, die immer tragisch mit dem Tod (mindestens) des Protagonisten endet.114 Alain Delon verkörpert in der Rolle des Auftragskillers Jef Costello115 diesen Melvilleschen Helden par excellence, er ist, wie McArthur es ausdrückt, der „Melvillian hero taken to its furthest point.“116 Gleichzeitig stellt er unter den typischen Protagonisten Melvilles, die meist Teil einer Gruppe von Kriminellen sind, eine Ausnahme dar – „Jef is a gangster without a gang.“117 Seine Einsamkeit wird uns in der über zweiminütigen, paradigmatischen Eröffnungssequenz zu LE SAMOURAÏ bereits vor Augen geführt: In einer Totalen sehen wir das 110 111 112 113 114 115 116 117 Vgl. Hans Gerhold: Kino der Blicke: Der französische Kriminalfilm – Eine Sozialgeschichte, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1989, S. 162. Vgl. auch Richard Roud: Cinema: A Critical Dictionary (Band 2), London: Secker & Warburg 1980, S. 681 und 686. Insgesamt stand Melville, der als Jean-Pierre Grumbach geboren wurde, der amerikanischen Kultur sehr nahe. Darauf weist bereits sein Pseudonym hin, das er in Anlehnung an den amerikanischen Schriftsteller Herman Melville wählte. Melvilles Hinwendung zur amerikanischen Kultur und insbesondere zum amerikanischen Film bespricht Colin McArthur in seinem Aufsatz „Mise-en-scène degree zero: Jean-Pierre Melville´s Le Samouraï“ und weist dabei auch auf seine Nähe zum Existenzialismus hin – Melville war nur zwölf Jahre jünger als Sartre (1905-80) und war ebenso wie die Existenzialisten „entranced by a particular kind of American hero driven to action in a meaningless universe“, dessen mustergültige Verkörperung Jef Costello ist. Colin McArthur: „Miseen-scène degree zero: Jean-Pierre Melville´s Le Samouraï“, in: Susan Hayward/GinetteVincendeau (Hrsg.): French Film: Texts and contexts (11990), London [u.a.]: Routledge 22000, S. 189ff. McArthur: „Mise-en-scène degree zero“, S. 196. Gerhold: Kino der Blicke, S. 167. Vgl. Gerhold: Kino der Blicke, S. 162. In den meisten Texten der Sekundärliteratur findet man die Schreibweise „Jeff“ mit zwei f. Ich orientiere mich im Folgenden jedoch an der Schreibweise aus dem Abspann, der zufolge „Jef“ lediglich mit einem f geschrieben wird. McArthur: „Mise-en-scène degree zero“, S. 196. Ginette Vincendeau: Jean-Pierre Melville. An American in Paris, London: British Film Institute 2003, S. 179. 29 karge, düstere Appartement von Jef Costello. Dieser liegt, vor dem Hintergrund kaum sichtbar, wie aufgebahrt auf seinem Bett – erst der Rauch seiner Zigarette verrät seine Anwesenheit. Zu hören ist nur das Zwitschern eines Vogels im Käfig, der Regen vor dem Fenster und das Rauschen des vorüberfahrenden Verkehrs. Über eineinhalb Minuten lang geschieht nichts, bis schließlich folgendes Epigraph eingeblendet wird: „Il n’y a pas de plus profonde solitude que celle du samouraï si ce n’est celle d’un tigre dans la jungle... peut-être.... Le Bushido (Le livre des samouraï)“. Dieses vermeintliche Zitat aus dem Bushido (das tatsächlich jedoch schlicht eine Erfindung Melvilles ist118) und die graue, trostlose Szenerie – Melville ließ für diese Sequenz die Etiketten der Wasserflaschen und der Zigaretten durch schwarzweiße Kopien ersetzen, die Wände und Möbel grau streichen und selbst der Vogel (ein Dompfaffweibchen) wurde aufgrund seines graubraunen Gefieders ausgewählt119 – verdeutlichen die Isolation und Beziehungslosigkeit des Protagonisten, dessen einziger Gefährte ein Vogel in einem Käfig ist.120 In dieser Eingangssequenz, die bereits viel über den Protagonisten verrät, setzte Melville überdies eine ungewöhnliche Kameratechnik ein, um dessen Geisteszustand zu visualisieren. Indem er eine Kamerafahrt rückwärts mit einem gleichzeitigen Zoom vorwärts und mehreren kurzen Stops kombinierte, wird ein Gefühl des Schwindels, der geistigen Verwirrung erzeugt: „Mon intention était de montrer le désordre mental d’un homme atteint certainement d’une tendance à la schizophrénie. [...] Tout bouge, et en même temps tout reste à sa place“121, so Melville. Erst nach dieser langen Eingangsszene beginnt die eigentliche Handlung des Films. Der Auftragskiller Jef Costello ermordet Martey, den Besitzer eines Nachtclubs, und wird von nun an gleich von zwei Parteien verfolgt. Zum einen ist ihm die Polizei auf den Fersen, die trotz eines geschickt konstruierten, doppelten Alibis von seiner Schuld überzeugt ist. Von nun an lässt der leitende Kommissar der Ermittlungen (François Périer) Costello beschatten. Zudem sind nun auch Jefs Auftraggeber alarmiert. Die Festnahme und das Misstrauen der Polizei machen ihn zu einem Sicherheitsrisiko, das aus dem Weg geräumt werden muss. Ein Versuch, Jef durch einen Mittelsmann umbringen zu lassen, scheitert jedoch und schließlich wird ihm ein weiteres Angebot für einen Auftragsmord unterbreitet. Er nimmt den Auftrag an, erpresst vom Mittelsmann aber gewaltsam Name und Adresse des Auftraggebers, Olivier Rey. Auf dem Weg 118 119 120 121 In einem Interview mit Rui Nogueira amüsiert sich Melville darüber, dass der Film selbst in Japan mit diesem Satz gezeigt wurde – ohne, dass jemand bemerkt hätte, dass Melville ihn sich selbst ausgedacht hatte. Vgl. Rui Nogueira: Le cinéma selon Melville: Entretiens avec Rui Noguiera (11973), Paris: Éditions de l´Étoile/Cahiers du Cinéma 2007 (Petite bibliothèque des Cahiers du cinéma), S. 152. Vgl. Nogueira: Le cinéma selon Melville, S. 160. Eben dieser Vogel kann, wie Jörg Dünne ausführt, als metonymische Metapher für das Leben des Protagonisten selbst und die Unausweichlichkeit seines Schicksals gelesen werden. Vgl. Jörg Dünne: „Zwischen Kombinatorik und Kontrolle: Zur Funktion des Stadtplans in Jean-Pierre Melvilles Le Samouraï“, in: Achim Hölter/Volker Pantenburg/Susanne Stemmler (Hrsg.): Metropolen im Maßstab: Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst, Bielefeld: Transcript 2009, S. 88. Nogueira: Le cinéma selon Melville, S. 152f. 30 zu Rey wird er in einer groß angelegten Aktion von der Polizei durch die Pariser Metro verfolgt, bei der er jedoch entkommen kann. Als er später in der Wohnung von Olivier Rey eintrifft, wird ihm klar, dass die Pianistin des Nachtclubs, die einzige Augenzeugin seines Mordes (die ihn bei der Gegenüberstellung aus unerfindlichen Gründen gedeckt und der er sich später anvertraut hatte), ihn hintergangen hat. Reys Wohnung ist die gleiche, in die er die Pianistin einmal begleitet hatte. Er erkennt, dass sie dessen Geliebte ist und sein zweiter Auftrag – die Ermordung der Pianistin – lediglich Teil eines Plans (an dem auch sie beteiligt ist), um ihn in den Nachtclub zu locken. Trotzdem begibt sich Jef, nachdem er Rey erschossen hat, ins „Martey’s“. Dort richtet er seine Pistole auf die Pianistin und wird im selben Moment von der Polizei erschossen. Als der Kommissar Jefs Waffe öffnet, stellt er fest, dass sie nicht geladen war. Jef hat seine Erschießung bewusst provoziert und somit Selbstmord begangen. Die rund achtminütige Szene der Verfolgung durch die Polizei, die ich im Folgenden untersuchen möchte, befindet sich im letzten Drittel des Films. Sie beginnt zu dem Zeitpunkt, als Jef sich mit der Metro auf den Weg zu Olivier Rey macht. Da seine Wohnung rund um die Uhr beschattet wird, wird der Kommissar sofort über seinen Aufbruch informiert und bereitet sich auf die nun beginnende Verfolgung vor. Auf einem speziellen Stadtplan in seinem Büro kann er von jetzt an den Weg, den Jef nimmt, nachvollziehen.122 Abb. 4: Der Kommissar verfolgt Jefs Bewegungsrichtung auf dem Stadtplan. In einer früheren Szene hat der Kommissar auf der Wache seine Mitarbeiter eingewiesen, wie vorzugehen ist, sobald Costello seine Wohnung verlässt123: Mehrere Polizisten in Zivilkleidung, die jeweils mit einem Sender ausgestattet sind, werden in den Gängen und Zügen der Metro postiert. Sobald sich einer von ihnen in Jefs Nähe befindet, aktiviert er den Sender, der wiederum ein Signal überträgt. Dieses wird nun auf dem Stadtplan des Kommissars als kleines Licht angezeigt (siehe Abb. 4). Sobald die verdeckten Ermittler ihn aus den Augen verlieren, 122 123 Wenn wir den Moment, als der Kommissar vor der Karte Platz nimmt, als Auftakt zur Verfolgungssequenz begreifen, so beginnt diese bei TC 1:20:55 und endet bei 1:28:55 mit dem Entkommen Jefs an der Station „Châtelet“. Diese und alle weiteren Zeitangaben (im Folgenden mit TC=Timecode gekennzeichnet) in diesem Kapitel beziehen sich auf die folgende Edition: Jean-Pierre Melville: LE SAMOURAÏ. DVD, 100 Min., Filmel Productions 2001 (Frankreich: 1967). TC 1:19:00 – 01:19:47. 31 deaktivieren sie das Signal wieder und das Licht erlischt. Auf diese Weise weiß der Kommissar stets, an welcher Station sich Jef gerade befindet und kann Einsatztruppen zu den Metroausgängen schicken, die dieser potenziell wählen kann. Der Kommissar weist während seiner Erläuterungen explizit auf Jefs ausgezeichnete Kenntnis des Metronetzes hin („Il connaît le métro comme sa poche“124), da diese sich schon einmal als Hindernis für eine erfolgreiche Verfolgung herausgestellt hat. Als Jef nach der Gegenüberstellung bei der Polizei freigelassen wurde, setzte der Kommissar einen Beamten auf ihn an – der jedoch den Anschluss verlor, als Jef in eine Metro stieg und mit einer komplizierten Route in Richtung Pariser Süden seine Spuren verwischte.125 Da die Verfolgung in dieser Szene bereits endet, sobald Jef in die erste Metro Richtung „Vincennes“ einsteigt, ist sie unter dem Gesichtspunkt einer MetroVerfolgungsjagd für eine Analyse wenig ergiebig. Wie David Berry ausführt, verrät sie jedoch bereits einiges darüber, wie Jef das Metronetz für sich zu nutzen versteht: His utilisation of the métro network as a tool of his trade [...] shows his devious cast of mind. The métro becomes a vital escape route for confusing his enemies and throwing them off his tracks. It becomes a visual symbol of his mind, of his complex psychological processes, distinguished by elaborate complications and intentionally disorientating arrangements, just like the constructions of his alibi. The métro becomes a reflection of his psyche.126 Der Kommissar erkennt, dass Jef ihm immer einen Schritt voraus sein wird und bedient sich für die zweite Verfolgung nun einer Methode, die „den Stadtplan als Dispositiv der panoptischen Überwachung und die drahtlose Sendetechnik als Werkzeug zur ortenden Kontrolle von Bewegung auf diesem Plan“127 miteinander verkoppelt. An die Stelle einer „herkömmlichen“ Verfolgung tritt ein komplexes Überwachungs- und Ortungssystem, mit dem Jefs verschlungene Wege sichtbar gemacht werden. Der Kommissar hofft, auf diese Weise die Anzahl der potentiellen Fluchtwege Jefs einzugrenzen und so die Chance auf einen erfolgreichen Zugriff zu erhöhen. Dadurch kommt es zu einer für Verfolgungsjagden völlig untypischen Situation, denn der so grundlegende Aspekt der physischen Bewegung, des Tempos entfällt hier fast völlig. Nur Jef bewegt sich; der Polizeikommissar hingegen verharrt am selben Ort und „verfolgt“ seine Bewegungen lediglich optisch auf dem Stadtplan. Und auch die verdeckten Ermittler nehmen nicht die Verfolgung auf, sobald sie Jef aus den Augen verlieren, sondern senden lediglich das entsprechende Signal an den Kommissar. Erst am Ende kommt es zu einer tatsächlichen (im Sinne einer physischen) Verfolgung durch eine junge Frau, der Jef jedoch schnell entkommen kann.128 Bis zu diesem Zeitpunkt – indem sie Jef hinterher rennt, gibt die Polizistin ihr Inkognito auf und gibt sich eindeutig als Verfolgerin zu erkennen – spielt sich die Verfolgung mehr oder 124 125 126 127 128 TC 1:19:15. TC 37:58 – 43:35. Jef steigt zunächst in die Linie Richtung „Vincennes“, steigt anschließend bei „Palais-Royal“ um und fährt weiter zur Station „Porte d´Ivry“. Dort überquert er eine Straße und gelangt dann über einen verworrenen Weg, der ihn durch eine Unterführung und über mehrere Treppen führt, zu einem Bahnübergang. Dort ist er mit dem Mittelsmann seiner Auftraggeber zur Geldübergabe verabredet. Berry: „Underground Cinema“, S. 11. Dünne: „Zwischen Kombinatorik und Kontrolle“, S. 88. TC 1:28:20 – 1:28:33. 32 weniger „versteckt“ ab: Weder weiß die Polizei mit Sicherheit, ob Jef ihre Verfolgungsabsichten erkannt hat, noch weiß Jef, vor wem er eigentlich fliehen muss. Abgesehen von dieser sehr kurzen, vergleichsweise temporeichen Szene am Ende wirkt die gesamte Verfolgungssequenz zumindest äußerlich sehr ruhig. Dies liegt zum einen daran, dass Jef – darauf bedacht, unauffällig zu bleiben – in jedem Moment kontrolliert und beherrscht agiert, scheinbar unbeteiligt die Lage sondiert und die Menschen um sich herum beobachtet. Zum anderen nehmen diese betont ruhigen Szenen einen ungleich größeren Stellenwert ein als die dynamischeren Szenen, die sich im Büro des Kommissars und bei den Einsatztruppen an den Metroausgängen abspielen. Während die Einstellungen mit Jef oft bis zu einer Minute dauern, werden die Reaktionen des Kommissars (dessen emotionales Temperament deutlich mit Jefs stoischem Gesichtsausdruck kontrastiert) meist in kurzen Einstellungen von nur wenigen Sekunden alternierend zwischengeschaltet.129 Dabei spielt sich die Verfolgungssequenz nahezu in Echtzeit, streng chronologisch und linear ab und kann damit als Musterbeispiel dessen angesehen werden, was Colin McArthur als Melvillesches „cinema of process“ bezeichnet hat.130 Lediglich an zwei Stellen überbrücken kurze zeitliche Ellipsen, markiert durch Überblendung anstelle eines Schnitts, die Fahrt zwischen zwei Stationen.131 Auf diese Weise entsteht ein Rhythmus, der sich von dem actionreicher Verfolgungsjagden in anderen Filmen fundamental unterscheidet. Während dort mithilfe von kurzen Einstellungen und schnellen Schnitten oft regelrechte „Geschwindigkeitsorgien“132 inszeniert werden, wird hier der Fokus ganz auf das innere Erleben Jefs gelenkt. Mehrere point-of-view-shots vermitteln uns seine subjektive Perspektive – etwa als Jef eine verdächtige Frau beobachtet, die ihm in der Metro gegenübersitzt. Als sie in ihre Handtasche greift und vorgibt, ein Taschentuch zu suchen (ein kurzer Schnitt auf das aufblinkende Licht auf dem Plan des Kommissars verrät uns, dass sie gerade ihren Sender aktiviert hat), folgt die Kamera dem Blick von Jef, der die Handbewegung der Frau genauestens beobachtet.133 129 130 131 132 133 Für die insgesamt rund achtminütige Verfolgungsjagd beläuft sich die Gesamtlänge der Einstellungen, in denen Jef zu sehen ist, auf rund 340 Sekunden, wohingegen die Polizisten für kaum mehr als ein Drittel dieser Zeit (140 Sekunden) gezeigt werden. Vgl. McArthur: „Mise-en-scène degree zero“, S. 194ff. TC 1:26:03 und 1:27:20. Hoefer: Die Verfolgungsjagd im Film, S. 45. TC 1:23:01 – 1:23:20. 33 Abb. 5: Nahaufnahmen von Jef vermitteln im Wechsel mit mehreren point-of-view-shots, wie er seine Umgebung auslotet. Dazwischen ruht die Kamera immer wieder auf Jefs Gesicht und fängt jede noch so kleine Regung ein: Schon als die Frau zusteigt, sehen wir, wie Jef seinen Blick zur Tür hebt und ihn sogleich wieder senkt, um Blickkontakt zu vermeiden. Kurz darauf verwendet er eine Zeitung, um seinen beobachtenden Blick zu tarnen.134 Abb. 6: Wie seine Verfolger bedient sich Jef eines Accessoires, um unauffällig zu bleiben. Als Jef bei der Station „Jourdain“ schließlich aussteigt, beordert der Kommissar sofort einen Polizeibeamten dorthin, der hastig die Treppen zum Bahnsteig hinunter rennt. Jef, der dort bereits wartet, hört seine Schritte und wendet seinen Blick in die Richtung, aus der das Geräusch kommt. Die Kamera folgt dabei seiner Blickrichtung mit einem Schwenk nach links und schließlich nach rechts, als die Schritte plötzlich verstummen.135 Zwar haben wir es an dieser Stelle nicht mit einem point-of-view-shot im eigentlichen Sinne zu tun, da die Kamera gegenüber von Jef positioniert ist. Dennoch folgt sie genau der Wahrnehmung von Jef, indem sie sich 134 135 TC 1:22:52 – 1:23:28. TC 1:24:11 – 1:24:25. 34 ebenso wie er dem Geräusch zuwendet. Auffällig ist hierbei, dass der Richtungswechsel des Blicks nicht durch einen Schnitt getrennt wird, sondern in einem durchgehenden Schwenk von 180° gezeigt wird. Auf diese Weise wird Jefs Gefühl, beobachtet und verfolgt zu werden, auch für den Zuschauer besonders unmittelbar erlebbar. Die Fokussierung auf Jef und seine Perspektive wird zudem in solchen Einstellungen deutlich, in denen die Umgebung um ihn herum verschwimmt und nur er scharf gezeigt wird – so etwa gegen Ende der Verfolgung, als Jef ein Rollband betritt und hinter ihm nur schemenhaft die junge Frau zu erkennen ist136, die ihn schon über mehrere Stationen hinweg verfolgt hat (siehe Abb. 7). Durch diese Technik wird die Aufmerksamkeit auf Jefs Reaktionen gelenkt, die wir nun genau beobachten können; gleichzeitig wird durch die schemenhafte Silhouette im Hintergrund sein Gefühl des Verfolgtseins visualisiert. Tatsächlich befand sich die junge Frau die ganze Zeit über hinter ihm, sodass Jef sie nicht sehen konnte; dennoch scheint er ihre Anwesenheit intuitiv wahrzunehmen und setzt kurz danach zur Flucht an, indem er über den Handlauf springt und losrennt.137 Abb. 7: Spiel mit verschiedenen Schärfegraden: Die junge Frau ist zunächst nur schemenhaft im Hintergrund zu erkennen. Überhaupt scheint sich Jef während der gesamten Verfolgung von einem sicheren, geradezu „animalischen“ Instinkt leiten zu lassen, der ihn zum einen von Anfang an durchschauen lässt, dass er verfolgt wird und ihm zum anderen erlaubt, die Polizisten in Zivil von gewöhnlichen Passagieren zu unterscheiden. Um die Reaktionen seiner vermeintlichen Beobachter auszutesten 136 137 TC 1:28:06 – 1:28:21. TC 1:28:20. 35 und sie zu verwirren, greift er zum Teil auf äußerst trickreiche Techniken zurück: Als ihm die alte Dame mit der Handtasche verdächtig erscheint, steht er bei der nächsten Station auf und erweckt zunächst den Eindruck, als wolle er aussteigen. Dann jedoch bleibt er stehen und lehnt sich demonstrativ an die Haltestange, so als wolle er doch weiterfahren. Erst als die Tür sich gerade schließt, springt er im letzten Moment blitzschnell aus dem Waggon.138 Abb. 8: Jef täuscht seine mutmaßlichen Verfolger mit einem geschickten Manöver. Bezeichnend ist auch die bereits beschriebene Szene am Ende der Verfolgungssequenz, als er die verdeckte Ermittlerin auf dem Rollband mit seinem plötzlichen Sprung über den Handlauf überrascht und auf diese Weise abhängen kann. Seine Instinktsicherheit, seine außerordentliche Beobachtungsgabe und seine geschmeidigen, effizienten Bewegungen lassen in Szenen wie diesen an die eines gejagten Tieres denken.139 Wir erinnern uns an die Sentenz am Anfang des 138 139 TC 1:23:29 – 1:23:43. Von seiner außerordentlichen Intuition zeugt auch die Szene, als Jef in seine Wohnung zurückkehrt, nachdem die Polizei dort eine Wanze installiert hat. Die im Vogelkäfig liegenden Federn verraten Jef sofort, dass jemand da gewesen sein muss und er findet daraufhin das Abhörgerät. TC 1:11:30 – 1:13:50. 36 Filmes, die Jef nicht nur als Samurai, sondern ebenso als einen Tiger im Dschungel auswies.140 An späterer Stelle nennen seine Auftraggeber ihn außerdem einen einsamen, verwundeten Wolf.141 Tiger und Wolf ist gemeinsam, dass sie gleichermaßen Jäger sind – ebenso wie Jef, der als Auftragskiller gewohnt ist, andere zu jagen. Nun jedoch wird der Jäger selbst zum Gejagten, und zwar, wie wir sagten, von gleich zwei Parteien. Seine Rolle als „Tiger“ wird zu Beginn der Verfolgungsjagd im Übrigen eindeutig ins Bild gesetzt: Am Zeitungsladen, wo Jef vor Antritt der Fahrt seine Zeitung kauft, prangt gut sichtbar ein Tiger auf dem Titelbild einer Zeitschrift.142 Über die Bezeichnung von Jef als einsamen, verwundeten Wolf sagte Melville in einem Interview mit Rui Nogueira etwas, das in unserem Zusammenhang von Bedeutung ist: „À partir du moment où un loup solitaire devient un loup blessé, il devient plus dangereux, mais il est destiné à perdre“143 – denn mit „destiné à perdre“ meint Melville nichts anderes, als dass Jef zu diesem Zeitpunkt bereits dem Tode geweiht ist. Nachdem Jef nach dem gescheiterten Mordversuch durch den Mittelsmann eine Armverletzung davon getragen hat, wird sein Tod in zahlreichen Hinweisen angekündigt: Noch am gleichen Abend besucht er, von nun an in Schwarz statt in Grau gekleidet, die Pianistin,144 die laut Melville den Tod symbolisiert: „Seule la mort pourra causer sa perte [...] et Jeff tombe amoureux de sa Mort. Cathy Rosier, la Mort noire habillée de blanc, possède le charme de capter, captiver...“145 Und auch als er unmittelbar vor der Verfolgung seine Wohnung verlässt, wird erkennbar, dass er nicht vorhat, dorthin zurückzukehren. Er wirft dem Vogel im Käfig einen langen Blick zu, so als wolle er sich verabschieden. Dabei erklingt die Variation eines bereits bekannten Mollthemas, das – nun bezeichnenderweise auf dem Klavier gespielt – in dem Moment auf einem düsteren Akkord endet, als Jef die Tür hinter sich zuwirft.146 Dass er diese lediglich hinter sich ins Schloss wirft und sie nicht, wie sonst, sorgfältig mehrfach verriegelt, spricht ebenso dafür, dass er nicht wiederkehren wird. Auch nach der Verfolgungsjagd kündigen mehrere Details in eindeutiger Weise seinen unvermeidlichen Tod an.147 In der Fülle unmissverständlicher Indizien wird nun manifest, was im Grunde bereits der Eröffnungssequenz (in der Jef wie aufgebahrt auf seinem 140 141 142 143 144 145 146 147 Ginette Vincendeau weist auf die besondere Bedeutung von Tiermetaphern im SAMOURAÏ hin und stellt bezüglich der Tigermetapher fest, dass diese eng mit dem Image von Alain Delon verknüpft war, dessen Gestik häufig als „katzenhaft“ beschrieben wurde. Weiterhin führt er in diesem Zusammenhang auch den bereits erwähnten Vogel im Käfig an, der – gewissermaßen als mise en abyme – Jefs Situation widerspiegelt. Vgl. Vincendeau: Jean-Pierre Melville, S.182f. „C´est un loup solitaire.“ – „C´est un loup blessé“, TC 47:51. TC 1:21:12. Nogueira: Le cinéma selon Melville, S. 160. TC 51:04 – 53:43. Nogueira: Le cinéma selon Melville, S. 156. TC 1:20:16 – 1:20:30. So etwa der Diebstahl eines schwarzen Citroëns (TC 1:29:07), die Aussage des Mechanikers, der ihm ein falsches Nummernschild anbringt und eine Waffe übergibt („Je te préviens, Jef. C´est la dernière fois“, TC 1:31:12), der Abschied von seiner Verlobten Jane (TC 1:31:53 – 1:33:40), seine Bemerkung gegenüber Rey („Je m´en vais“, TC 1:34:42), oder der Coupon für seinen Mantel, den er an der Garderobe des „Martey´s“ einfach liegen lässt (TC 1:35:44). 37 Bett liegt) eingeschrieben war: Jef hat den Entschluss zu sterben längst gefasst. Über Jefs Gründe für seinen Selbstmord wird in der Sekundärliteratur oft mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen spekuliert, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass Melville ursprünglich vorgesehen hatte, Jef mit einem Lächeln auf den Lippen sterben zu lassen. Erst später hatte er sich für ein Ende mit stoischem Gesichtsausdruck entschieden.148 Während Melville selbst sagte, dass Jef sich in den Tod in Gestalt der Pianistin verliebt und sich von da an nach dem Tode sehnt, interpretiert Colin McArthur Jefs Suizid als Reaktion auf den Verrat durch die Pianistin.149 Eine weitere Deutung bietet Gerhold an, der Jefs provozierte Erschießung als einen Akt der Ehrenrettung auffasst: Indem er seine einzige Augenzeugin, die Pianistin, am Leben ließ, sein Alibi gefährdete und später sogar zum Ort des Verbrechens zurückkehrte, um Kontakt mit ihr aufzunehmen, hat er seinen beruflichen Ehrenkodex verletzt. Aus der „Einsicht, Ehre nur im Tod gewinnen“150 zu können, begeht Jef harakiri, rituellen Selbstmord.151 Costello fährt also mit der Intention zu Olivier Rey, erst diesen und dann sich selbst zu richten, und so kann die Verfolgung durch die Metro auch vor dem Hintergrund seines bevorstehenden Todes gelesen werden. Es scheint daher nahe liegend, Jefs Abstieg in die Metrostationen als eine descente aux enfers aufzufassen. Darauf deutet auch hin, dass sein Hinabsteigen der Stationstreppen vor beiden Metroszenen jeweils prominent in Szene gesetzt wird.152 Abb. 9: Jefs Abstieg in die Unterwelt von Paris. Vor allem aber scheint die Metro seine Einsamkeit, Isolation und Kommunikationslosigkeit zu verbildlichen.153 So verweisen etwa die mehrfach gezeigten schwarzen Metrotunnel auf seine 148 149 150 151 152 153 Vgl. Nogueira: Le cinéma selon Melville, S. 162. Vgl. McArthur: „Mise-en-scène degree zero“, S. 197. Gerhold: Kino der Blicke, S. 167. Zur Konzeption von Jef als Samurai und den damit verbundenen Implikationen (wie etwa dem Einhalten eines Ehrenkodex oder der Befürwortung des harakiris, also der rituellen Selbstopferung etc.), siehe Vincendeau: Jean-Pierre Melville, S. 182f. TC 40:25 sowie 1:20:50. Sein Unvermögen, mit anderen Menschen zu kommunizieren wird besonders in einer Szene anschaulich, in der Jef im Auto von einer jungen Frau angelächelt wird. Statt ihr Lächeln zu erwidern, bleibt Jef regungslos und wendet sich brüsk ab (TC 05:23 – 05:45). Melville erklärt Jefs Reaktion folgendermaßen: „Les deux regards qui se croisent aident à mieux comprendre le schizophrène qu´est Jeff. Un homme normal aurait suivi cette fille ou tout au moins lui aurait souri. Jeff, lui, reste impassible car rien ne peut le détourner de la mission qu´il va accomplir ... Le vol rituel de la voiture est le premier acte de son crime“, Nogueira: Le cinéma selon Melville, S. 154. 38 innere Leere und Gefühlskälte – sie werden später noch einmal in Erinnerung gerufen, als der Kommissar nach Jefs Erschießung dessen Waffe öffnet: „We are left looking into six miniature tunnels which are not without subliminal reminiscence of the tunnels of the métro but here are emblematic of emptiness and annihilation“154, so David Berry. Abb. 10: Die schwarzen Metrotunnel und das leere Magazin als Sinnbild für Jefs innere Leere. Hinzu kommt, dass Jef in den meisten Einstellungen allein zu sehen ist. Dies gilt sicher für den gesamten Film – in zahlreichen Szenen sehen wir Jef einsam durch die Straßen von Paris streifen. Jedoch können wir dies auch und besonders in den Szenen beobachten, die in der Metro spielen. Nicht nur wird Jef meist isoliert von den anderen gefilmt, auch beäugt er die Menschen um sich herum mit permanentem Misstrauen, wirkt verloren, meidet Blickkontakt. Seine Einsamkeit inmitten von vielen (die wir als typische Erfahrung des modernen Großstadtmenschen beschrieben haben) und sein Unvermögen, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, werden in diesen Szenen besonders anschaulich. Und so ist vielleicht auch seine Flucht vor der Polizistin – die Vincendeau als eine Flucht vor der Weiblichkeit als solcher begreift155 – tatsächlich als eine Flucht vor menschlichen Beziehungen im Allgemeinen zu deuten. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Analyse scheint mir diese Verfolgungsjagd durch die Metro primär zwei Zwecke zu verfolgen. Zum einen verdichtet sie – ganz im Sinne Kracauers – das übergreifende Sujet (der Auftragskiller/Jäger, der zum Gejagten wird und, in die Enge getrieben, keinen anderen Ausweg mehr sieht als den eigenen Tod). Zum anderen liegt 154 155 Berry: „Underground Cinema“, S. 12. Vgl. Vincendeau: Jean-Pierre Melville, S. 184. 39 nahe, dass Melville die Verfolgung von Jef bewusst in die Metro verlegte, da sie aufgrund ihrer semantischen Implikationen wie kaum ein anderer Ort dazu geeignet ist, Jefs Seelenleben widerzuspiegeln: Als ein Ort der Entfremdung par excellence versinnbildlicht sie die „Tristesse, Einsamkeit, Entfremdung und Kommunikationslosigkeit von Costellos Welt“156 und verkörpert gleichzeitig, als moderne Manifestation der Unterwelt, seine Sehnsucht nach dem Tod. 3.2 PEUR SUR LA VILLE von Henri Verneuil Achod Malakian (1920-2002), besser bekannt als Henri Verneuil, wird gerne als „[le] plus américain de tous les réalisateurs français“157 bezeichnet. Sein Anspruch, das Publikum vor allen Dingen gut zu unterhalten und seine Tendenz zu kommerziellen Filmen wurden ihm häufig zum Vorwurf gemacht.158 Dabei mussten selbst die schärfsten Kritiker zugestehen, dass Verneuil, der als großer Perfektionist bekannt war, sein Handwerk beherrschte. Bezüglich PEUR SUR LA VILLE (1975) räumte Michel Mohrt, ein Rezensent, der Henri Verneuil nie besonders gewogen war, ein: „Moi qui aime les films américains d’action, je dois reconnaître que ce film les vaut. Rien n’y manque: ni les poursuites en auto, ni le hold-up, ni le détraqué sexuel aux verres fumés et aux gants noirs. C’est du beau travail.“159 Ein anderer Journalist, Henry Chapier schrieb in Le Quotidien de Paris, dieser Film sei ein „spectacle conçu pour les foules. On peut en détester le ton, mais guère contester son brio.“160 Für PEUR SUR LA VILLE hatte Verneuil die Rechte an einem amerikanischen Krimi namens Night Calls gekauft – von dem allerdings nicht viel mehr übrig blieb als das Motiv des psychopathischen Täters, der seine weiblichen Opfer durch nächtliche Anrufe terrorisiert161 – und entwarf um dieses Sujet herum ein Szenario, das perfekt auf Jean-Paul Belmondo zugeschnitten schien. Mit drei ausgedehnten, stets halsbrecherischen und extrem riskanten Verfolgungsjagden sowie einem spektakulären Stunt, bei dem sich Belmondo von einem Helikopter aus in ein Hochhaus abseilen ließ, entsprach die Rolle des Kommissar Letellier genau dem draufgängerischen Image, das Belmondo verkörperte und auch bewusst pflegte.162 In PEUR SUR LA VILLE war Belmondo erstmals auch als Koproduzent beteiligt und hatte somit großen 156 157 158 159 160 161 162 Gerhold: Kino der Blicke, S. 170. Roger Vignaud: Henri Verneuil: Les plus grands succès du cinéma (Temps Mémoire), Marseille: Éditions Autres Temps 2008, S. 11. Vgl. Vignaud: Henri Verneuil, S. 11. Le Figaro, Ausgabe vom 17. April 1975, zitiert nach Vignaud: Henri Verneuil, S. 222. Le Quotidien de Paris, Ausgabe vom 9. April 1975, zitiert nach Vignaud: Henri Verneuil, S. 221. Vgl. Philippe Durant: Belmondo, Paris: Éditions Robert Laffont 1993, S. 319. Die beliebtesten Subgenres des polar der 70er und 80er Jahre (der stilisierte Gangsterthriller, eben jenes Genre, das Melville mit dem SAMOURAÏ maßgeblich prägte, sowie der actionlastige Kriminalfilm mit vorrangig unterhaltendem Anspruch, dem auch PEUR SUR LA VILLE zuzurechnen ist) waren aufs Engste mit den beiden größten Stars der damaligen Zeit, Alain Delon und Jean-Paul Belmondo, verbunden. Während der makellose Delon nicht erst seit seiner Rolle als Jef Costello mit dem Image des „eiskalten Engels“ behaftet war, stellte Belmondo als draufgängerischer Actionheld seinen direkten Gegenpol dar. Die Assoziation von Image und Genre war dergestalt, dass Jean-Pierre Melville sogar postulierte, dass es im französischen polar dieser Zeit tatsächlich nur zwei Formate gegeben habe: Delon und Belmondo. Vgl. Guy Austin: Contemporary French Cinema: An Introduction, New York: Manchester University Press 1996 , S. 100. 40 Einfluss auf die Gestaltung der Szenen.163 Dabei wachte er durchaus sehr genau darüber, dass insbesondere die Stunt- und Verfolgungsszenen seinen Vorstellungen entsprachen, schließlich stellten diese zu einem Gutteil die Grundlage seines Erfolges dar.164 Und so stammte der Vorschlag, die legendäre Metro-Verfolgungsjagd auf dem Waggon stattfinden zu lassen, bezeichnenderweise von Belmondo selbst – Verneuil hatte ursprünglich eine Verfolgungsjagd in der Metro vorgesehen.165 Die Handlung des Films ist schnell zusammengefasst: Kommissar Letellier hat mit dem Drogenhändler Marcucci (Giovanni Cianfriglia) noch eine Rechnung zu begleichen. Durch eine Rückblende erfahren wir, dass Marcucci dem Kommissar nach einem Banküberfall entkommen ist und seitdem frei herumläuft. Bei der Verfolgungsjagd durch Paris war ein unbeteiligter Passant zu Tode gekommen; erst später fand man heraus, dass die Kugel aus Marcuccis Waffe stammte. Letellier, der sich zeitweise dem Vorwurf der fahrlässigen Tötung ausgesetzt sah, will die Schande nicht auf sich sitzen lassen und wartet darauf, dass Marcucci nach Paris zurückkehrt. Beim nächsten Mal will er ihn keinesfalls entkommen lassen. Zwischenzeitlich wird ihm ein anderer Fall übertragen: Ein Psychopath terrorisiert per Telefon Frauen, deren freizügige Lebensweise er als lasterhaft und unmoralisch verurteilt. Er, der sich selbst – in Anlehnung an den Hadesrichter aus Dantes Göttlicher Komödie – Minos nennt, wendet sich mit regelmäßigen Briefen an Polizei und Presse und droht mit der Ermordung dieser Frauen. Die Ermittlungen gehen nur schleppend voran und Letellier kann nicht verhindern, dass Minos (Adalberto Maria Merli) seine Drohung wahr macht und ein erstes Opfer tötet. Bei einer riskanten Verfolgungsjagd – die unter anderem in schwindelerregender Höhe über den Dächern von Paris stattfindet – steht Letellier kurz davor, Minos zu fassen. Doch dann erhält er die Meldung, dass Marcucci ganz in der Nähe ist und lässt von Minos ab, um sich an die Fersen seines Erzfeindes zu heften. Trotz der akuten Gefahr, die von Minos ausgeht, ist ihm in diesem Moment die Befriedigung seiner Rachegelüste wichtiger. Zwar bringt er Marcucci in der folgenden Verfolgungsjagd durch die Metro buchstäblich zur Strecke – der Gangster stürzt aus der Tür einer Metro und wird von einem entgegenkommenden Zug mitgerissen –, jedoch lässt Minos am nächsten Tag über die Presse verkünden, dass Letellier ihn hat entkommen lassen und 163 164 165 Vgl. Durant: Belmondo, S. 319. So stellte sich Belmondo während der Dreharbeiten häufig als noch größerer Perfektionist heraus, als Verneuil es war. Immer wieder war er es, der zu noch spektakuläreren Szenen drängte und darauf bestand, alle gefährlichen Stunts selbst zu absolvieren. Die Szene auf der Metro beispielsweise wurde zunächst bei 15-20 km/h gedreht, doch auf Belmondos Wunsch hin wurde die Geschwindigkeit Stück für Stück bis auf 60 km/h erhöht. Vgl. Durant: Belmondo, S. 319ff. Dass Imagepflege und auch ein gewisses Maß an Eitelkeit für Belmondo durchaus eine große Rolle spielten, wenn es um die Ausführung seiner Filmstunts ging, verdeutlicht zudem ein Zitat, in dem er sich über die Zusammenarbeit mit Verneuil äußert: „Avec Verneuil, je fais des cascades en sachant qu´on me reconnaîtra. S´il me demande de me balancer de la tour Eiffel, on ne me verra pas comme une mouche au coin de l´écran“, Le film français (Nr. 1551), Ausgabe vom 5. Oktober 1974, zitiert nach Vignaud: Henri Verneuil, S. 218. Vgl. Durant: Belmondo, S. 319. 41 somit verantwortlich sei, wenn er einen erneuten Mord begehen sollte. Und tatsächlich wird noch ein weiterer Mord geschehen, bevor Letellier Minos schließlich stellt. In der spektakulären Schlussszene lässt er sich aus einem Hubschrauber abseilen, springt durch ein Fenster in die Wohnung des Pornostars Pamela Sweet (Minos’ drittes geplantes Opfer) und überwältigt ihn unmittelbar vor seiner nächsten Tat. Wie bereits dargestellt wurde, löst die Verfolgung des Drogenhändlers Marcucci die von Minos ab. Zunächst liefert sich Letellier mit letzterem eine gefährliche Jagd über die Dächer von Paris, die durch die Lager- und Verkaufsräume der „Galéries Lafayette“ fortgesetzt wird und schließlich auf den Straßen von Paris endet.166 Dort steigt Minos auf sein Motorrad und Letellier nimmt mit seinem Kollegen Moissac (Charles Denner) die Verfolgung per Auto auf. Plötzlich erhält er von zwei seiner Kollegen die Meldung, dass sie sich in der Nähe der Porte d’Auteuil befinden und Marcucci dicht auf den Fersen sind. Letellier überlässt zunächst seinen Kollegen dessen Verfolgung und konzentriert sich weiterhin auf Minos, lässt sich aber stets über Marcuccis momentanen Aufenthaltsort auf dem Laufenden halten. Als Minos an einer Kreuzung schließlich abbiegt, entschließt sich Letellier spontan zu einer Planänderung: Er lässt Minos entkommen und macht kehrt in Richtung Champs-Elysées, in deren Nähe sich Marcucci nun befinden soll.167 Dieser hat inzwischen bemerkt, dass er verfolgt wird und versucht, die Polizisten abzuschütteln. Als er plötzlich unerwartet quer über die Champs-Elysées fährt und in eine Seitenstraße einbiegt, verlieren die Polizisten den Anschluss – Letellier jedoch befindet sich in eben dieser Seitenstraße, entdeckt Marcucci und übernimmt von jetzt an die Verfolgung durch den dichten Pariser Straßenverkehr.168 An der Metrostation „Auber“ hält Marcucci schließlich an, springt aus seinem Wagen und hastet die Rolltreppen hinunter, Letellier dicht hinter ihm. In der Stationshalle kommt es zu einem Schusswechsel, bei dem Marcucci entkommt und zum Gleis in Richtung „Saint-Germain-en-Laye“ läuft. Letellier folgt ihm und steigt am Bahnsteig in die Metro ein – erst an der nächsten Station macht er Marcucci wieder in der Menge aus, verliert dann aber erneut den Anschluss. Auf einem der Überwachungsmonitore bei der Stationsaufsicht sieht er ihn schließlich am Bahnsteig in Richtung „Nation“ auf die Ankunft der nächsten Metro warten. Marcucci (im Glauben, Letellier nun abgehängt zu haben) atmet auf, als diese schließlich eintrifft. Letellier kommt jedoch im letzten Moment am Quai an und schafft es, sich noch an den bereits anfahrenden Metrowagen zu klammern.169 Marcucci, der in den vordersten Waggon 166 167 168 169 Die Verfolgung von Minos dauert bis zu dem Zeitpunkt, als Letellier entscheidet, sich an Marcucci zu hängen, bereits gute zwölf Minuten (TC 48:20 – 1:00:27). Die anschließende Jagd auf Marcucci dauert noch einmal rund neun Minuten (TC 1:00:27 – 1:09:06). Insgesamt wird die Spannung also über eine ungewöhnlich lange Zeitspanne von mehr als zwanzig Minuten aufrechterhalten. Diese und alle weiteren Zeitangaben in diesem Kapitel beziehen sich auf die folgende Edition: Henri Verneuil: PEUR SUR LA VILLE. DVD, 120 Min., Issyles-Moulineaux: StudioCanal 2007 (Frankreich: 1975). TC 57:37 – 1:00:27. TC 1:01:30 – 1:01:49. TC 1:04:05 – 1:05:23. 42 eingestiegen ist, bekommt hiervon nichts mit und wiegt sich in Sicherheit. Von jetzt an beginnt Letelliers riskanter Ritt auf der Metro, während dessen er sich bei voller Fahrt Stück für Stück zu Marcucci vorantastet. Die Fahrt führt zunächst durch mehrere unterirdische Metrostationen. Gleich zu Beginn erhält der Fahrer der Metro die Anweisung, die nächsten Stationen ohne Stopp zu passieren – ein (zwar wenig realistischer, aber wirkungsvoller) Einfall Verneuils, um den Schwierigkeitsgrad und die Spannung der Szene zu erhöhen.170 Denn Letellier ist nun gezwungen, sich über mehrere Stationen hinweg auf dem Dach der Metro zu halten. Statt sich jedoch einfach nur festzuklammern und bis zum nächsten Halt der Metro abzuwarten, arbeitet er sich in höchst riskanter Weise vor: In den Tunneln legt er sich flach auf den Bauch und zieht sich Stück für Stück nach vorne; sobald der Zug in eine Station einfährt, richtet er sich auf und läuft bei voller Fahrt noch einmal mehrere Meter weiter, um sich dann vor Einfahrt in den nächsten Tunnel wieder auf den Bauch zu werfen. Abb. 11: Der gefährliche Stunt zwischen zwei Metrotunneln. Der Schwierigkeitsgrad wird noch einmal mehr gesteigert, indem Letellier, der auf den letzten Waggon der Metro aufsprang, erst im vordersten Waggon fündig werden wird. Zuvor sucht er die anderen Waggons ab, indem er sich, auf der Metro liegend, zur Seite dreht und kopfüber durch das Fenster späht171 – eine auch nicht eben ungefährliche Aktion, da sich die Tunnelwände 170 171 Vgl. Durant: Belmondo, S. 320. TC 1:07:02 – 1:07:15. 43 in nur wenigen Zentimetern Abstand zum Fahrzeug befinden und zudem Hochspannungskabel hier verlaufen können.172 Der spektakuläre Stunt wurde aus mehreren Perspektiven aufgenommen, die in dieser Sequenz nun abwechselnd eingeblendet werden. Einige Kameras wurden direkt auf dem Metrowaggon befestigt; zum einen, um Letellier frontal bei seinem gewagten Balanceakt einzufangen, zum anderen, um seine subjektive Perspektive wiederzugeben auf diese Weise die Erfahrung von Enge und Dunkelheit im Tunnel zu visualisieren (siehe Abb. 12). Diese beiden Einstellungen, die stets nur wenige Sekunden dauern, alternieren nun die meiste Zeit über173 und werden durch schnelle Schnitte miteinander verbunden, wodurch der Eindruck von hoher Geschwindigkeit noch verstärkt wird.174 Um die Bewegung des Zuges einzufangen und den Aspekt der Geschwindigkeit zu betonen, wurden zudem Kameras an den Stationen postiert, die die Metro durchläuft. Abb. 12: Belmondos Metroritt wurde aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen. Im Übrigen bediente sich Verneuil, um der Szene noch mehr Rasanz zu verleihen, eines Tricks (wie er betont, „[l]a seule tricherie“175) und hinterlegte sie nachträglich mit dem Geräusch einer Metro bei 80 km/h, während sie tatsächlich nur 60 km/h fuhr. Schließlich führt der Weg über den Pont de Bir-Hakeim, wo Wind und schwindelnde Höhe noch einmal erschwerte Bedingungen 172 173 174 175 Vgl. Durant: Belmondo, S. 320. Sie werden nur vereinzelt von abweichenden Einstellungen (etwa der Perspektive vom Bahnsteig aus, der Ansicht vom Inneren des Metrozugs, in dem sich Marcucci befindet, sowie dem Blick in die Kabine des Fahrers und die Funkzentrale der Verkehrsbetriebe) unterbrochen. Etwa TC 1:05:39 – 1:07:50. Durant: Belmondo, S. 321. 44 schaffen.176 Henri Verneuil verwendete für diese Szene unter anderem eine Supertotale mit leichter Untersicht, wodurch Letellier zwar sehr klein, der Stunt hingegen umso monumentaler erscheint. Die unten stehenden Schaulustigen (die im Übrigen wohl keine Statisten, sondern tatsächlich Zaungäste waren177) schauen im wahrsten Sinne des Wortes zu Belmondo auf tragen so zum heroisierenden Effekt dieser Szene bei. Abb. 13: Die Fahrt über den Pont de Bir-Hakeim. Marcucci ist während der gesamten Stuntsequenz bisher kaum präsent gewesen. Lediglich zwei kurze Zwischenschnitte zeigen ihn im Metrowaggon.178 Erst in der letzten Szene, in der es zum Showdown kommt und Letellier ihn schließlich stellt, rückt der eigentliche „Zweck“ des gefährlichen Unterfangens wieder in den Blickpunkt, wird jedoch im Vergleich zur ausgedehnten Inszenierung des Metroritts relativ schnell abgehandelt. Letellier, der nun mittlerweile am vordersten Waggon angekommen ist, lässt sich in den Spalt zwischen den ersten beiden Waggons gleiten und erblickt Marcucci durch die Scheibe. Der vermeintlich geschützte Innenraum des Metrowaggons, in dem sich Marcucci zumindest vorübergehend vor einem Zugriff Letelliers sicher glaubte, gerät nun für ihn zur Falle. Als Letellier seine Waffe zückt und die Tür zum Metrowaggon aufstößt, greift auch Marcucci blitzschnell zur Waffe und eröffnet das Feuer – ein weiteres Mal ohne Rücksicht auf die umstehenden Passagiere, die sich in Panik hinter den Metrositzen verstecken oder auf den Boden kauern, um dem Kugelhagel zu 176 177 178 TC 1:07:56 – 1:08:25. Dass während der Außendreharbeiten durchaus immer wieder schaulustige Passanten anwesend waren, geht aus den Ausführungen Philippe Durants zur Verfolgungsjagd auf den Dächern der „Galéries Lafayette“ hervor. Vgl. Durant: Belmondo, S. 321. TC 1:06:25 sowie 1:06:52. 45 entgehen.179 Schließlich wird Marcucci von einer Kugel in die Brust getroffen, gerät ins Taumeln und fällt gegen die Waggontür. Auf diese Weise betätigt er den Öffnungsmechanismus, fällt rückwärts aus dem Waggon und wird von einem entgegenkommenden Zug mitgerissen.180 Wenn man sich nun die Frage stellt, welche Funktion dieser Metrosequenz im Gesamtzusammenhang des Films zukommt, so kann man leicht auf die Ansicht verfallen, dass sie einzig dem Zweck dient, auf möglichst spektakuläre Weise den Mythos Belmondo in Szene zu setzen. Und mit Sicherheit ist unsere Ausgangsfrage hiermit zumindest teilweise bereits beantwortet, lockten doch gerade Szenen wie diese die Menschen ins Kino. Nicht umsonst wurde der Film explizit damit beworben, dass „Bébel“ alle Stunts selbst absolviert hatte.181 Die Verfolgungsjagd auf dem Dach der Metro ist dabei mit Sicherheit der schwierigste und gefährlichste Stunt des gesamten Films, wie auch Belmondo selbst befand.182 Allerdings scheint sie über vordergründige „Effekthascherei“ hinaus durchaus noch einen anderen Zweck zu verfolgen. Wie insbesondere auch die Szene auf der Brücke veranschaulichte, dient der Ritt auf der Metro der Inszenierung einer Heldenfigur, deren Fähigkeiten über den üblichen héroïsme du quotidien weit hinaus gehen. Letellier ist nicht „nur“ besonders intelligent, gewitzt und stark, vielmehr wird er mit seinen ausgeprägten athletischen Fähigkeiten als regelrechter surhomme dargestellt.183 Bezeichnenderweise beschwört der Anblick von Letellier auf dem Dach der Metro ein Bild herauf, das seine Übermenschlichkeit geradezu ironisch verdeutlicht. Sam Raimis Comicverfilmung SPIDER-MAN 2 aus dem Jahr 2004 enthält eine Szene, in der sich Spider-Man alias Peter Parker (Tobey Maguire) auf einem Waggon der New Yorker Subway einen Kampf mit Dr. Octavius liefert – eine Szene, die einem in diesem Zusammenhang fast unwillkürlich in den Sinn kommt: 179 180 181 182 183 TC 1:08:33 – 1:08:55. TC 1:08:59. Vgl. Olivier Philippe: La représentation de la police dans le cinéma français (1965-1992), Paris: L'Harmattan 199, S. 199. „Ce qui a été le plus dur pour moi, [...] c´est le metro. Non pas sur le pont de Bir-Hakeim à cause du vent, mais surtout dans le souterrain“, so Belmondo. „J ´étais aplati dans le tunnel qui n´est qu´à dix ou vingt centimètres au-dessus de ma tête. Et quand le métro démarre [...] d´un coup vous êtes à 50 ou 60 à l´heure dans un tunnel tout noir. Je veux dire qu´on n´y voit rien. Il y a de petites lampes qui vous arrivent dans la figure et on a une sensation de vitesse encore plus grande“, Durant: Belmondo, S. 320. Laut Olivier Philippe trifft man bei den meisten Heldenfiguren im polar auf einen „héroïsme du quotidien qui se manifeste par l´intelligence, l´astuce, la ténacité, la persévérace, et même, l´entêtement à remplir sa mission“, Philippe: La représentation de la police dans le cinéma français, S. 198. Nur in seltenen Fällen werde der Protagonist als surhomme mit außergewöhnlichen, fast übermenschlichen Eigenschaften dargestellt. Dies ist, so Philippe, in einigen wenigen Filmen der Fall, die mit Jean-Paul Belmondo in der Hauptrolle besetzt sind, wie etwa FLIC OU VOYOU (Georges Lautner, 1979), LE MARGINAL (Jacques Deray, 1983) oder eben PEUR SUR LA VILLE. Allerdings möchte man an dieser Stelle einschränkend bemerken, dass sich Letelliers „übermenschliche“ Eigenschaften auf seine körperlichen Fähigkeiten beschränken. Denn der Kommissar hat charakterliche Schwächen – seine Eitelkeit und sein egozentrisches Verhalten –, die ihn wiederum zutiefst menschlich erscheinen lassen. 46 Abb. 14: Spider-Man auf dem Dach der New Yorker U-Bahn. Natürlich entstand diese Szene rund 30 Jahre nach PEUR SUR LA VILLE und unter Rückgriff auf alle heute zur Verfügung stehenden tricktechnischen Mittel; dass Raimi damit bewusst Bezug auf Verneuils Film nahm, ist äußerst unwahrscheinlich. Dennoch ist diese Parallele aufschlussreich, da sich hier zwei höchst unterschiedliche Regisseure in zwei ebenso unterschiedlichen Filmen das ungewöhnliche Setting eines U-Bahn-Daches zunutze machen, um ihren Protagonisten zu heroisieren. Zwar besitzt Letellier im Gegensatz zu Spider-Man nicht buchstäblich übernatürliche Kräfte, aber auch er wird auf diese Weise als Mensch mit außergewöhnlichen Fähigkeiten inszeniert. Und damit gewinnt die Metroszene in PEUR SUR LA VILLE mit ihrer athletischen, ja regelrecht akrobatischen Anmutung insofern eine große Bedeutung, als sie auch und vor allem der Charakterisierung des Helden dient. Wir haben bereits darauf verwiesen, dass Letellier, mehr auf die Befriedigung persönlicher Rachegelüste als auf pflichtbewusstes Handeln bedacht, die Verfolgung von Minos aufgibt, um endlich seinen verhassten Widersacher Marcucci zur Strecke zu bringen. Die Szene direkt im Anschluss an die Metro-Verfolgungsjagd verdeutlicht seine egozentrische Haltung äußerst beispielhaft. Letelliers Vorgesetzte konfrontieren ihn mit den Schlagzeilen am nächsten Morgen: Minos hat die Presse darüber informiert, dass der Kommissar ihn einfach entkommen ließ. Letellier, der sich für die schmachvollen Presseberichte jedoch wenig zu interessieren scheint (ganz anders als im Fall Marcucci), quittiert die Vorwürfe seiner Vorgesetzten mit demonstrativ gleichgültiger Miene und dreht sich betont gelangweilt auf seinem Stuhl hin und her.184 Statt sich zu rechtfertigen, bittet er den Polizeidirektor nun rundheraus, ihn vom Fall Minos abzuziehen: Letellier: Minos est une affaire formidable. N’importe quel flic supplierait à genoux qu’on la lui donne. Pas moi! Marcucci, dans un, cinq, dix ans, j’aurais fini par l’avoir. C’est ma catégorie. Mais le schizo-machin à tendances paranoïdes, c’est pas mon truc, ça. Je trouverais pas la distance. Alors, monsieur le directeur, je vous demande de me retirer de l’affaire. Voilà! 184 TC 1:09:06 – 1:10:12. 47 Polizeidirektor: Letellier! Vous ne trouvez pas que vous en faites un peu trop, dans le style petite tronche et gros bras, rien dans la tête, tout dans le muscles? [...] Letellier, vous êtes commissaire principal à la brigade criminelle, pas un videur dans une boîte de nuit! Que vous préfériez le western à l’explication psychologique, ça vous regarde. Mais on ne fait pas toujours ce qu’on aime.“185 In wenigen Sätzen wird in diesem Dialog auf den Punkt gebracht, was die Verfolgungsjagd bereits gezeigt hat: Letellier, „[qui préfère] le western à l’explication psychologique“, ist vielmehr ein „Großstadt-Sheriff“ als ein verantwortungsbewusster Kriminalkommissar. Die Psyche eines geisteskranken Gewalttäters zu ergründen, liegt ihm nicht – er versteht sich auf den „konventionellen“ Gangster im Stile Marcuccis, dem er im klassischen Duell Mann gegen Mann entgegen treten kann. Hierin offenbart sich zum einen eine sehr traditionelle Vorstellung männlichen Heldentums, zum anderen tritt hier auch die Ambivalenz seines Charakters zutage. Denn mit seiner selbstbezogenen Handlungsweise ist Letellier vom Idealbild des rechtschaffenen, vertrauenswürdigen Polizisten weit entfernt. Ist ihm ein Fall zu unbequem, wie bei Minos, so will er ihn abgeben. Hat er mit einem Kriminellen noch eine persönliche Rechnung zu begleichen, wie im Falle von Marcucci, lässt er lieber einen gefährlichen Psychopathen wie Minos entkommen, als sich die einmalige Chance auf Vergeltung entgehen zu lassen. Die Folgen seines Alleingangs sind keineswegs geringfügig: Wäre er in diesem Moment nicht seinen privaten Rachegelüsten nachgegangen, hätte der zweite Mord möglicherweise verhindert werden können. Die spektakuläre Verfolgungsjagd auf dem Dach der Metro, welche die Physis Letelliers/Belmondos (das permanente Changieren zwischen Rolle und Star ist dabei durchaus kalkuliert) prominent in den Vordergrund stellt und den Fokus auf die körperlichen Fähigkeiten des Kommissars legt, stellt somit den verdichteten Ausdruck seines Wesens dar: „rien dans la tête, tout dans les muscles“. Wenngleich die drastische Formulierung des Polizeikommissars sehr plakativ und durchaus übertrieben ist – denn Letellier ist selbstverständlich keineswegs auf den Kopf gefallen und wird auch den Fall Minos am Ende erfolgreich lösen –, so benennt sie doch sehr deutlich eine charakterliche Tendenz eines Kommissars, der seine Fälle lieber mit den Fäusten statt mit dem Kopf löst und dabei, wenn es sein muss, sogar über Leichen geht.186 Die semantischen Implikationen der Metro scheinen in dieser Verfolgungsjagd keine oder zumindest keine große Rolle zu spielen, vielmehr wird sie in ihren topologischen Eigenschaften ausgenutzt und dient somit als „Vehikel“ für die Heroisierung Letelliers. Somit ist es auch 185 186 TC 1:10:26 – 1:11:26. Im Übrigen wäre Belmondo in der Rolle eines integren Beamten auch wenig glaubwürdig gewesen. Seit seinem Durchbruch in Godards À BOUT DE SOUFFLE (1960) hatte er bisher stets Gauner und Ganoven verkörpert. Dass der Wechsel „ins andere Lager“ nun glaubhaft funktionierte, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der polar der 70er Jahre zunehmend begann, Kritik an den Methoden der Polizei zu üben und diese als unorthodox zu entlarven (vgl. Durant: Belmondo, S. 318) – eine Tendenz, die sich auch im SAMOURAÏ bereits ankündigt. Hier manifestiert sich „[d]ie Austauschbarkeit von Gangstern und Polizisten [...] in Details der Ikonographie: In beiden Welten werden lange schwere Mäntel getragen, breitkrempige Hüte, dunkle korrekte Anzüge oder emblematische helle Trenchcoats mit Gürtel und hochgeschlagenem Kragen“, Gerhold: Kino der Blicke, S. 167. 48 weniger der Ort als solcher, der in dieser Szene Bedeutung erzeugt. Vielmehr ist es die riskante Verfolgung selbst, die allerdings durch die Metro durchaus eine besondere Qualität bekommt – denn sie erlaubt es, die Maxime der „Lust am rasenden Tempo“ ins äußerste Extrem zu steigern. 3.3 DIVA von Jean-Jacques Beineix Die 80er Jahre brachten eine Wende im französischen Kino. Es waren vor allem drei Regisseure – Jean-Jacques Beineix, Luc Besson und Leos Carax –, die die Filmproduktion dieses Jahrzehnts prägten. Mit einem knappen Dutzend Filmen (überwiegend aus dem Genre des polar) etablierten sie eine neuartige und individuelle Ästhetik, die von den Kritikern zunächst nahezu durchweg abgelehnt und mit dem pejorativen Etikett „esthétique publicitaire“187 belegt wurde. Man empfand die Ikonographie dieser neuen Filme als exzessiv, manieriert und überladen und fühlte sich an die Ästhetik von Videoclips und Werbespots erinnert.188 Zudem waren die Kritiker der Auffassung, dass die Vorherrschaft des Bildes auf Kosten der „Botschaft“ ginge (wenn dem Film eine solche nicht sogar rundweg abgesprochen wurde189); so hieß es etwa in L’express über Beineix’ DIVA: „[L]e propos du film disparaît sous le fatras du décor.“190 Die besondere Hinwendung zum Visuellen brachte dieser Tendenz schließlich die sprechende – aber nicht ganz unproblematische – Bezeichnung cinéma du look ein. Fergus Daly weist darauf hin, dass der Begriff cinéma du look nicht von den Regisseuren selbst, sondern von der Presse geprägt wurde und als „umbrella term“191 für die besagten Filme herhalten musste. Es handelt sich also wohlgemerkt nicht um eine Schule oder Ideengemeinschaft. Die Filme, die heute gemeinhin unter dem Begriff cinéma du look gehandelt werden, weisen zwar gestalterische Parallelen auf, etwa im Hinblick auf ästhetische oder thematische Gesichtspunkte, jedoch entsprangen diese Ähnlichkeiten vielmehr einem gemeinsamen Zeitgeist, der Beineix, Besson und Carax umgab, und keinem dezidierten ästhetischen Programm.192 187 188 189 190 191 192 Marie-Thérèse Journot spricht stets von einem „courant de ,l´esthétique publicitaire‘“ und vermeidet den Begriff des cinéma du look, der als Oberbegriff für diese ästhetische Strömung jedoch weitaus geläufiger ist. Journot zählt insgesamt elf Filme zu dieser Tendenz, darunter INVITATION AU VOYAGE (1982) von Peter Del Monte, RUE BARBARE (1984) von Gilles Behat sowie STREET OF NO RETURN (1989) von Samuel Fuller. Als Schlüsselwerke des cinéma du look gelten allerdings nach wie vor die Filme von Beineix (DIVA, LA LUNE DANS LE CANIVEAU [1983], 37°2, LE MATIN [1986], ROSELYNE ET LES LIONS [1989]), Besson (SUBWAY, LE GRAND BLEU [1988], NIKITA [1990]) und Leos Carax (MAUVAIS SANG [1986]). Vgl. Marie-Thérèse Journot: Le courant de „l´esthétique publicitaire“ dans le cinéma français des années 80: la modernité en crise. Beineix, Besson, Carax, Paris [u.a.]: L'Harmattan 2004. Tatsächlich waren damals zahlreiche Filmregisseure auch in der Werbung tätig; Beineix etwa hatte unter anderem Spots für „Scotch“, „Stéfanel“ und eine AIDS-Kampagne gedreht. Vgl. Phil Powrie: French Cinema in the 1980s: Nostalgia and the Crisis of Masculinity, Oxford: Clarendon Press 1997, S. 80. Vgl. Journot: Le courant de „l´esthétique publicitaire“, S. 15ff sowie Phil Powrie: French Cinema in the 1980s, S. 80. L´express, Ausgabe vom 3.4.1981, zitiert nach Journot: Le courant de „l´esthétique publicitaire“, S. 16. Fergus Daly: „Feux d´artifice: Les Amants du Pont-Neuf and the spectacle of vagrancy“, in: Fergus Daly/Garin Dowd: Leos Carax (French film directors), New York: Manchester University Press 2003, S. 105. Vgl. Raphaël Bassan: „Three French neo-baroque directors: Beineix, Besson, Carax, from Diva to Le Grand Bleu“, in: Susan Hayward: Luc Besson (French film directors), New York: Manchester University Press 1998, S. 11. 49 Vor allem Jean-Jacques Beineix (*1946), dessen erster Kinofilm DIVA aus dem Jahr 1981 gemeinhin als Initialwerk des cinéma du look betrachtet wird, wurde für seinen Hang zur Stilisierung (wie sie sich etwa im systematischen Einsatz von Farben widerspiegelt) und zur Fetischisierung von Alltagsobjekten kritisiert.193 Exemplarisch kann dies am Loft verdeutlicht werden, in dem Gorodish (Richard Bohringer), der Freund des Protagonisten Jules, lebt. In der weitläufigen, in blaues Licht getauchten Halle stehen vereinzelt einige wenige Objekte, die immer wieder in langsamen, geradezu meditativen Kamerafahrten in Szene gesetzt werden: darunter ein rätselhaftes Glasobjekt, in dem eine blaue Flüssigkeit hin und her schaukelt, eine Badewanne, ein überdimensionales Puzzle mit Wellenmotiv (im Übrigen eine direkte Anspielung auf Orson Welles’ CITIZEN KANE von 1941) und eine blaue Neonbeleuchtung. Im Vergleich zu Gorodishs kahlem Loft wirkt Jules’ Behausung, eine alte ungenutzte Garage, übervoll und chaotisch – dabei jedoch mindestens ebenso provisorisch. Inmitten schrottreifer Karosserien (die wohl noch von seinem Vorgänger stammen) und jeder Menge Gerümpel finden sich hier – abgesehen von Jules’ HiFi-Anlage, die er wie seinen Augapfel hütet – kaum persönliche Gegenstände. Typisch für die Filme des cinéma du look sind neben der Akzentuierung des Visuellen auch das Spiel mit intertextuellen Verweisen – das zweifellos plakativste Filmzitat in DIVA erinnert an die berühmte Szene mit Marilyn Monroe über einem U-Bahn-Lüftungsschacht aus Billy Wilders THE SEVEN YEAR ITCH (1955) – sowie die Vermischung unterschiedlicher Genres. Ebenso findet sich häufig ein Nebeneinander von Elementen der so genannten „hohen“ Kultur (wie Malerei oder klassische Musik) und der häufig leichthin als minderwertig klassifizierten, „niederen“ Massen- beziehungsweise Popkultur (etwa Comics, Graffiti oder Werbung). Die neuartige Gestaltung der Bildwelten, das intertextuelle Wechselspiel zwischen Altem und Neuem sowie die Durchmischung verschiedener kultureller Niveaus ließ Fredric Jameson bereits ein Jahr nach dem Erscheinen von DIVA von einer Stilwende („the emergence of a new kind of character“) sprechen und Beineix’ Kinodebüt als den ersten „French postmodernist film“194 bezeichnen. Das Nebeneinander verschiedener kultureller Ausdrucksformen manifestiert sich bereits in der Handlung von DIVA195, da hier zwei Plots aus unterschiedlichen Genres miteinander verwoben werden: „[T]he culturally ‚low‘ thriller plot [...] meets the culturally ‚high‘ opera film.“196 Der Protagonist des Films, der junge Postbote Jules (Frédéric Andréi), ist 193 194 195 196 Die Polemik hat dem Film unterdessen nicht geschadet. Im Gegenteil: Die Aufmerksamkeit, die ihm auf diese Weise innerhalb wie außerhalb Frankreichs zuteil wurde, sorgte dafür, dass DIVA innerhalb eines Jahres zu einem der meistgesehenen Filme avancierte und Kultstatus erlangte. Vgl. Journot: Le courant de „l´esthétique publicitaire“, S. 22. Fredric Jameson: „Diva and French Socialism“ (11982), in: ders.: Signatures of the visible, New York: Routledge 1992, S. 75. Das Drehbuch basiert auf dem gleichnamigen Roman von Delacorta (ein Pseudonym, hinter dem sich der Schriftsteller Daniel Odier verbirgt). Austin: Contemporary French Cinema, S. 120. 50 glühender Opernfan und verehrt die Sängerin Cynthia Hawkins (Wilhelmenia Fernandez). Da diese jede Aufnahme und Reproduktion ihrer Stimme kategorisch ablehnt, fertigt er während eines Konzerts einen illegalen Mitschnitt an. Zwar hat der naive, unbedarfte Jules keinerlei Absichten, aus der Aufnahme Profit zu schlagen, jedoch wird er während des Konzerts von zwei Taiwanern beobachtet, die es von nun an auf das wertvolle Tonband abgesehen haben. Kurz darauf gerät Jules, ohne es zu bemerken, in den Besitz eines weiteren Tonbandes, auf dem die inzwischen ermordete Prostituierte Nadia den Polizeihauptkommissar Jean Saporta bezichtigt, Kopf eines international agierenden Drogen- und Mädchenhändlerrings zu sein. Durch das brisante Tonband wird nun nicht nur die Polizei auf Jules aufmerksam, sondern auch Saporta, der seine beiden Handlanger auf ihn ansetzt, um das Band mit dem belastenden Material aus dem Verkehr zu ziehen. Unversehens gerät Jules zwischen die Fronten und wird in die Machenschaften der Pariser Unterwelt verstrickt. Etwa im zweiten Drittel des Films kommt es zu einer Verfolgung durch die Polizei, die schließlich in die Metrostation „Concorde“ führt.197 Jules hat die Nacht und den darauf folgenden Morgen bei Cynthia Hawkins im Hotelzimmer verbracht. Später am Tag überbringt ihr Impressario der Diva nun die Nachricht, dass die beiden Taiwaner sie zu erpressen versuchen. Sie behaupten, im Besitz eines Mitschnitts ihres letzten Konzerts zu sein (tatsächlich hat Jules das Band bei Gorodish deponiert) und stellen sie vor die Wahl: Entweder die Sängerin willige in einen Exklusivvertrag mit ihnen ein oder sie würden ohne ihre Zustimmung produzieren. Cynthia ist verzweifelt, will sich jedoch unter keinen Umständen zu einem Vertrag zwingen lassen. Jules, der während des Gesprächs mit dem Impressario anwesend ist, plagen schwere Schuldgefühle. Da die Diva und er sich inzwischen näher gekommen sind und sie ihm großes Vertrauen schenkt, bringt er es jedoch nicht über sich, seinen Fehler zu beichten. Unter dem Vorwand, etwas besorgen zu müssen, verabschiedet er sich. Vor dem Hotel warten bereits die Polizeibeamten Paula und Zapoteck, die ihn observieren, in einem Auto auf ihn. Als Jules auf sein Moped aufsteigt und losfährt, nehmen sie seine Verfolgung auf. Die Jagd führt uns zunächst durch eine nächtliche „ville de lumières“, die mit ihren regennassen, reflektierenden Straßen und den gelben Lichtkegeln der Scheinwerfer ihrem Namen alle Ehre macht198, vorbei an der Kirche St. Madeleine bis zur Place de la Concorde, wo Jules schließlich mit seinem Moped in die Metrostation einfährt.199 Zapoteck, der gerade noch mit einer Vollbremsung an der Station zum Stehen kommt, springt aus dem Wagen und rennt ihm hinterher. David Berry hat darauf verwiesen, dass Jules’ nun folgende Fahrt mit dem Moped durch die Metro als Reminiszenz an die berühmte Mini-Verfolgungsjagd in Peter Collinsons THE ITALIAN JOB (1969) aufgefasst 197 198 199 TC 1:05:00 – 1:08:35. Diese und alle weiteren Zeitangaben in diesem Kapitels beziehen sich auf die folgende Edition: Jean-Jacques Beineix: DIVA. DVD, 113 Min., München: Arthaus 2001 (Frankreich: 11981). Vgl. Berry: „Underground Cinema“, S. 13. TC 1:06:00. 51 werden kann (die unter anderem durch ein Einkaufszentrum und über die Dächer von Turin führt), nämlich insofern, als es sich auch hier um eine „penetration of the usual by the unusual“200 handelt. Berry vergleicht Jules, der auf seinem Moped in einer Metrostation denkbar deplatziert wirkt, mit einem Außerirdischen und setzt hinzu, „[that h]is identity as an alien has already been underlined whimsically by another character who says that his crash helmet makes him look like an alien from outer space.“201 Für die Jagd durch die Gänge der Station „Concorde“ setzte Beineix verschiedene filmische Mittel ein, um das labyrinthische Moment der Metro hervorzuheben. Zapoteck folgt Jules durch mehrere Gänge hindurch, wobei es dem Zuschauer anfangs noch gelingt, die räumlichen Zusammenhänge nachzuvollziehen. Ein lückenloser Anschluss – meist sehen wir Jules zunächst von hinten um eine Ecke biegen, woraufhin eine der folgenden Einstellung ihn von vorne um eben jene Ecke biegen zeigt202 – und die auffälligen Plakate erlauben eine Orientierung im Raum. Abb. 15: Eine exakt eingehaltene Kontinuitätsmontage ermöglicht dem Zuschauer die Orientierung im Metrolabyrinth. In diesen ersten Einstellungen wird das Kontinuitätsprinzip somit noch (und sogar auf fast schon auffallend penible Weise) gewahrt. Doch mit jedem Gang, den Jules durchquert und mit jeder Treppe, über die er holpert, gerät unsere cognitive map mehr und mehr aus den Fugen. Nach einer vorübergehenden Atempause – die Verfolgungsjagd wird durch eine kurze Fahrt in der 200 201 202 Berry: „Underground Cinema“, S. 13f. Berry: „Underground Cinema“, S. 14. In einer früheren Szene überreicht ihm Gorodishs Gefährtin Alba den Helm mit den Worten „Tiens, alien“, TC 49:05. TC 1:06:10 – 1:06:15. 52 Metro203 unterbrochen – gestaltet sich die Montage nun zunehmend elliptisch. Gleich nachdem Jules den Metrowaggon verlässt (bezeichnenderweise an der Station „Opéra“) und die Treppe am Bahnsteig hinauf fährt, sehen wir ihn in der nächsten Einstellung plötzlich eine Rolltreppe hinunterfahren, die offensichtlich aus dem Freien in die Station führt. Weder kann der Zuschauer an dieser Stelle rekonstruieren, wie Jules nun vom Bahnsteig zu dieser Rolltreppe gelangt ist, noch weiß er, ob Jules sich überhaupt noch an der Station „Opéra“ befindet. Ebenso wenig erschließt sich, auf welchem Wege er anschließend wiederum in den langen roten Tunnel gerät. Die Einstellungen, die zu Beginn der Verfolgungsjagd noch logisch aneinander anschlossen, können an dieser Stelle nicht mehr sinnvoll miteinander verknüpft werden – der Zuschauer verliert sich in einem Nebeneinander und Durcheinander von disparaten Einstellungen, die Jules’ Verstrickung in das unterirdische Metrolabyrinth ins Bild setzen. Abb. 16 (oben): Jules´ Weg durch das Metrolabyrinth wird zunehmend undurchsichtig. Abb. 17 (unten): Die schlingernde Fahrt durch den Tunnel erzeugt beim Zuschauer das Gefühl, in den Raum hineingezogen zu werden. Es ist auffallend, dass Beineix vor allem Tunnel und Treppen in dieser Verfolgungsjagd prominent hervorhebt. Bei seiner ersten Fahrt durch einen Tunnel befindet sich die Kamera etwa auf Höhe der Reifen von Jules’ Moped – wahrscheinlich wurde sie für diese Aufnahmen am Fahrzeug befestigt, denn die Kameraführung entspricht genau dem schlingernden Rhythmus der Fahrbewegung. Diese Perspektive 203 TC 1:06:45 – 1:07:30. 53 führt zu einer Art Sogwirkung, einem Schwindelgefühl, welches dadurch verstärkt wird, dass der gesamte Tunnel mit den immer gleichen Plakaten austapeziert ist und so optisch ins nahezu Unendliche verlängert scheint (siehe Abb. 17). Die Untersicht auf Beinhöhe setzt Beineix im gesamten Film mehrfach ein (so etwa zu Beginn des Films, als die Prostituierte Nadia am Bahnhof von den Handlangern Saportas verfolgt wird204); bei der Verfolgungsjagd durch die Metro nutzt er sie jedoch besonders exzessiv und zwar meist in Verbindung mit einer Imitation der Lauf- beziehungsweise Fahrbewegung. Als Jules beispielsweise eine lange Treppe hinunterfährt, folgt ihm die Kamera die meiste Zeit über parallel auf der anderen Seite des Treppengeländers und ahmt dabei das staccatoartige Holpern seines Mopeds nach (siehe Abb. 18).205 Auf ähnliche Weise begleitet die Kamera auch Jules’ Verfolger Zapoteck, diesmal mit einer Bewegung, die dessen Laufrhythmus nachempfunden ist. Bezeichnend an dieser Szene ist, dass auch hier wieder ein Eindruck von Unendlichkeit erzeugt wird. Zum einen geschieht dies erneut durch die Plakate an den Wänden, die sich mehrfach wiederholen, zum anderen durch einen Trick, mit dem Beineix die Fahrt auf der Treppe wesentlich länger erscheinen lässt, als sie tatsächlich ist: Er schneidet zweimal die gleiche Szene aneinander, die jeweils nur aus einer minimal anderen Perspektive aufgenommen wurde. Abb. 18: Jules´ irritierende Fahrt über die Endlos-Treppe. Auf diese Weise fährt Jules an einem alten Mann, der ihm entgegen kommt, gleich zweimal vorbei. Zwar mag dies bei einmaligem Hinsehen nicht unbedingt auffallen, jedoch beschleicht einen doch das Gefühl, das etwas mit dieser Treppe „nicht stimmt“. Denn dadurch, dass man 204 205 TC 09:51 – 10:30. TC 1:06:25 – 1:06:43. 54 sich mit einem Mal wieder an einem höheren Punkt der Treppe befindet, wo man glaubte, schon viel weiter unten zu sein, wird die instinktive Seherwartung unterlaufen und ein Gefühl der Desorientierung erzeugt. Noch dazu läuft anschließend auch Zapoteck noch einmal an dem alten Mann vorbei, was in diesem Moment zwar keinen logischen Bruch darstellt, jedoch ein befremdendes Déjà-vu-Erlebnis auslöst. Wie bereits angedeutet wurde, setzt Beineix in auffallender Weise die besondere Topologie der Metro – Treppen, Gänge, Tunnel – in Szene. Damit eröffnet sich hier eine beinahe schon klaustrophobische Raumqualität, die im Gegensatz zur Weitläufigkeit anderer Räume steht, die in DIVA eine Rolle spielen. David Berry zufolge stellt die Betonung dieses Kontrastes eine der Funktionen dieser Metro-Verfolgungsjagd dar: [I]t is a further episode in the exploration of metropolitan space and reinforces the element of claustration in a film that plays upon the contrast between open and closed spaces, a decor of lift shafts and underground parking lots juxtaposed with spacious lofts, empty stages and wide open vistas.206 Des Weiteren spiegelt sich in der deutlich ästhetisierenden Darstellungsweise eine Tendenz zur Fetischisierung wider, wie sie sich bereits an der Ausgestaltung der Lofts von Jules und Gorodish manifestierte. Jedoch erscheint es mir voreilig, daraus den Schluss zu ziehen, dass die Orte in DIVA dergestalt zu „non-functional emblems“207 herabgesetzt würden, wie Raphaël Bassan schlussfolgert. Meine Ausgangsthese lautete, dass die Metro in den ausgewählten Filmen eben nicht nur als ästhetisch ansprechende, aber letztlich austauschbare Kulisse dient, sondern darüber hinaus Semantisierungen erfährt, die für den jeweiligen Film von Bedeutung sind. In DIVA scheint mir ihre Funktion unter anderem in der Zusammenführung der beiden Themenstränge des Films zu liegen: Als moderner, urbaner Mythos vereint die Metro das musikalisch-poetische, „orphische“ Element (wie es durch die Diva verkörpert wird) und den durch Nadia repräsentierten Aspekt der kriminellen Unterwelt. Die Gegenüberstellung dieser beiden Welten wurde bereits durch die Existenz der beiden Tonbänder deutlich, wie David Berry ausführt: „The two tapes [...] provide a striking contrast between the divine voice of the singer with the sordid earthly revelations of the prostitute, the orphic with the underworld.“208 In der Verfolgungsjagd wird nun dieses Gegensatzpaar durch den Polizisten und den lyrisch veranlagten Jules verkörpert. Zudem scheint mir auch der Aspekt der Initiation von Bedeutung zu sein, der in Kapitel 2.2.4 angesprochen wurde. Laut Phil Powrie ist DIVA als eine typische Initiationserzählung zu betrachten, als ein rite de passage, der Jules durch eine Vielzahl von (konkreten wie figurativen) Labyrinthen führt.209 Eine Deutung, die im Übrigen auch Jean-Jacques Beineix in einem Interview andeutete: „[C]’est un film labyrinthe, un film qui se répond, un film de 206 207 208 209 Berry: „Underground Cinema“, S. 13. Bassan: „Three French neo-baroque directors“, S. 14. Berry: „Underground Cinema“, S. 13. Vgl. Powrie: French Cinema in the 1980s, S. 118. 55 correspondance et de connotations qui se déplacent; c’est comme un puzzle.“210 Das Motiv des Labyrinths wird im Laufe des Films durch eine auffällige Häufung von Wiederholungen (wie etwa die soeben erwähnte Wiederholung ein und derselben Szene) und Verdopplungen aufgegriffen. Es scheint, als gäbe es in DIVA von allem zwei: zwei Erzählstränge, zwei Lofts, zwei Taiwaner, zwei Polizisten, zwei Kassetten... die Liste könnte beliebig weitergeführt werden. Insofern kann die Metro auch als übergreifende Metapher für die verworrene Handlung aufgefasst werden sowie für die unfreiwillige Verstrickung von Jules in die kriminelle Pariser Unterwelt – ein Milieu, das ihm bis dahin völlig fremd war (wie erinnern uns an die Charakterisierung von Jules als „alien“, was schließlich nicht nur „Außerirdischer“, sondern auch „Fremder“ bedeuten kann). Aus dieser Verstrickung muss Jules sich befreien und seinen Fehler wieder gut machen. In der Schlussszene offenbart sich Jules: Er gesteht Cynthia, dass er hinter dem illegalen Konzertmitschnitt steckt und spielt ihr das Band vor. Diese hört sich in diesem Moment zum ersten Mal selbst singen. Indem er der Diva – die als genaues Gegenbild zur Prostituierten Nadia Reinheit und Unschuld verkörpert – ihre Stimme zurückgibt und sie so vor dem Kommerz bewahrt, gibt Jules ihr auch eben jene Reinheit und Unschuld wieder, die sie durch die illegale Aufnahme beschädigt sah (nicht zufällig bezeichnete Cynthia in einer Pressekonferenz illegale Raubkopien gleichermaßen als „vol“ und „viol“211). Wie Phil Powrie ausführt, stellt die Schlussszene im Grunde eine symbolische Rückkehr zum Ausgangszustand dar: „The film ends where it began, in the Opera; at the beginning of the film, Jules stole the diva’s voice; here he returns it to her, giving her back what she always had anyway.“212 Die Verfolgungsjagd durch die Metro wird in DIVA somit nicht nur zum visuellen Pendant einer labyrinthisch-verstrickten Handlung, sondern ebenso zum Symbol eines „couloir initiatique“: Am Ende des Films stehen die Beichte, die Vergebung und der Neubeginn – was dies für Jules und Cynthia bedeutet, lässt das ambivalente Ende allerdings offen. 210 211 212 Philippe Cornet: „Entretien avec Jean-Jacques Beineix“, in: Amis du film, cinéma et télévision Nr. 312 (1982), S. 6. TC 41:00. Powrie: French Cinema in the 1980s, S. 119f. 56 3.4 SUBWAY von Luc Besson Luc Besson (*1959) ist der zweite im Bunde der Regisseure des cinéma du look. Wie in DIVA sind auch in SUBWAY (1985) die von Fredric Jameson als postmodernistisch klassifizierten Merkmale (Intertextualität, Genremischung, Wechselspiel zwischen Elementen der Hoch- und Massenkultur etc.) besonders präsent.213 Es verwundert daher kaum, dass sich die zeitgenössischen Beurteilungen von DIVA und SUBWAY auffallend gleichen. Wie bereits JeanJacques Beineix musste sich auch Besson den Vorwurf gefallen lassen, SUBWAY habe im Grunde keine richtige Handlung aufzuweisen, die Charaktere seien stereotyp, das Szenario unglaubwürdig, die für das Geschehen mitunter völlig funktionslosen Szenen würden wie in einem Werbespot oder Musikvideo assoziativ aneinandergereiht.214 Dass diese Sichtweisen zu kurz greifen und der Originalität dieser Filme in keiner Weise gerecht werden, ist mittlerweile von zahlreichen Autoren hinreichend dargestellt worden und soll daher an dieser Stelle nicht wiederholt werden.215 Interessant sind diese kritischen Stimmen für uns dennoch, da sie immer wieder nach dem gleichen Muster argumentieren. Sobald ein Regisseur merkbar Atmosphäre und Setting in den Vordergrund rückt, wird schnell angenommen, dass die Betonung des Visuellen weitgehend unmotiviert sei und als Symptom für inhaltliche Oberflächlichkeit genommen werden müsse – dass die Metro in SUBWAY allerdings durchaus in einem motivierten Zusammenhang mit der Handlung und insbesondere der zentralen Thematik von Suche, Flucht und Verfolgung steht, möchte ich in diesem Kapitel zeigen. Dabei machte Luc Besson keinen Hehl daraus, dass die Idee zum Setting tatsächlich zuerst da war und die geeignete Geschichte erst gefunden werden musste: „[J]’avais une idée forte: le métro. Mais je n’arrivais pas à trouver une histoire aussi forte que ce décor.“216 Mit der Umsetzung seiner Idee beauftragte er den Szenenbildner Alexandre Trauner, der insbesondere durch seine Zusammenarbeit mit Regisseuren des Poetischen Realismus in den 30er Jahren bekannt wurde und bereits für Marcel Carnés LES PORTES DE LA NUIT die Metrostation „Barbès“ nachgebaut hatte (SUBWAY wurde zum Teil in Trauners originalgetreuer Nachbildung der Station „Billancourt“ und zum Teil am realen Schauplatz gedreht). Obenstehendes Zitat 213 214 215 216 Intertextualität äußert sich in SUBWAY durch zahlreiche Referenzen an Filme wie STAR WARS (George Lucas, 1977), À BOUT DE SOUFFLE (Jean-Luc-Godard, 1960) oder ORPHÉE (Jean Cocteau, 1950). Vgl. hierzu insbesondere Powrie: French Cinema in the 1980s, S. 122ff. Die Genremischung ist in SUBWAY besonders auffällig – Susan Hayward etwa beschreibt den Film als ein Genre-Hybrid aus (Comic-)Thriller, Fantasyfilm und Musical (aufgrund des prominenten Soundtracks). Vgl. Susan Hayward: Luc Besson (French film directors), New York: Manchester University Press 1998, S. 40. Das Wechselspiel zwischen unterschiedlichen kulturellen Niveaus wird beispielsweise im Finale des Films besonders deutlich, „in which middle-aged ,high‘-culture – a Brahms recital – is replaced by the pop culture of the Anglophone rock band“, Austin: Contemporary French Cinema, S. 126. Vgl. Journot: Le courant de „l´esthétique publicitaire“, S. 19 sowie Austin: Contemporary French Cinema, S. 127. Insbesondere Marie-Thérèse Journot hat in ihrer umfangreichen Untersuchung des französischen Kinos der 80er Jahre die zeitgenössische Kritik am cinéma du look im Detail untersucht und in weiten Teilen widerlegt. Vgl. Journot: Le courant de „l´esthétique publicitaire“, insbesondere S. 15-25 sowie S. 149-181. Interview in Film français, Nr. 2029 vom 22. März 1985, S. 8, zitiert nach Hayward: Luc Besson, S. 35. 57 zeugt nun aber nicht nur von Bessons besonderer Vorliebe für Atmosphäre und Setting, sondern auch von seinem Anspruch, diese in Einklang mit dem Szenario zu bringen. Die Suche nach einer geeigneten Geschichte muss dabei ein recht schwieriges Unterfangen gewesen sein, denn der endgültigen Fassung des Szenarios gingen elf vorläufige Versionen voran.217 Schließlich entstand die Geschichte um den Aussteiger Fred (Christopher Lambert), der sich in der Metro einer Parallelgesellschaft anschließt, die im Untergrund der Stadt nach eigenen Regeln und Konventionen lebt. Der Film beginnt mit einer Autoverfolgungsjagd durch die Straßen von Paris, bei welcher der Protagonist Fred – ein wasserstoffblonder Punk im Smoking – vor vier Männern flüchtet und schließlich durch die Metro entkommt. In den Tiefen des Pariser Untergrunds trifft er auf den Rollschuhfahrer Jean-Louis (Jean-Hugues Anglade), der ihm Unterschlupf gewährt und mit den anderen kuriosen Bewohnern der Metro bekannt macht. Mit einigen von ihnen wird Fred, der bei einem Autounfall in seiner Kindheit die Fähigkeit zu singen verlor, schließlich seinen großen Traum verwirklichen und eine Rockband gründen. Unterdessen erfahren wir, weshalb Fred auf der Flucht ist. Er hat auf der Party eines reichen Pariser Geschäftsmannes einen Safe gesprengt und wichtige (offenbar belastende) Dokumente gestohlen, mit denen er nun 50 Millionen Franc erpressen will. Nachdem die Verfolgung durch die vier Assistenten des Geschäftsmannes gescheitert ist, soll dessen Ehefrau Héléna (Isabelle Adjani) Fred zur Herausgabe der Dokumente bewegen. Sie ersucht die Metropolizei um Hilfe, die bereits mit der Verfolgung des Rollschuhfahrers (der regelmäßig Metropassagiere beklaut und die Beamten seit Monaten an der Nase herumführt) alle Hände voll zu tun hat. Fred wird nun von zwei Parteien verfolgt: Jetzt sind nicht nur die Mitarbeiter von Hélénas Ehemann, sondern auch die Polizisten hinter ihm her. Héléna fühlt sich unterdessen von Fred und seiner Welt zunehmend angezogen. Nach einer Nacht, die sie mit Fred und seinen Freunden in der menschenleeren Metrostation verbringt, wendet sie sich von ihrem Mann ab und kehrt in die Metro zurück. Sie will Fred vor den von ihm angeheuerten Killern schützen – doch sie kommt zu spät. Während die neu formierte Rockband ihr erstes Konzert gibt, wird Fred aus dem Hinterhalt angeschossen und sackt, vom tobenden Publikum unbemerkt, in sich zusammen. In SUBWAY finden insgesamt drei Verfolgungsjagden statt. Die erste wurde bereits erwähnt: Sie eröffnet den Film und besiegelt Freds „Abstieg in die Unterwelt“, aus der er für den Rest des Films – und seines Lebens – nicht mehr zurückkehren wird. Diese, in weiten Teilen recht konventionelle, an amerikanische Vorbilder (insbesondere Friedkins FRENCH CONNECTION von 1971) angelehnte Verfolgungsjagd soll uns, trotz ihrer durchaus ungewöhnlichen visuellen Gestaltung (Verwendung von Weitwinkel, Aufnahmen mit extremer Untersicht, subjektive Kameraführung aus dem Fahrerraum heraus etc.) nicht weiter beschäftigen, da sie erst am Ende in die Metro führt. Eine weitere Verfolgungsjagd findet im zweiten Drittel des Films statt – die 217 Vgl. Hayward: Luc Besson, S. 34. 58 Metropolizei versucht einmal mehr (und erneut vergeblich), den Rollschuhfahrer zu fangen218 –, eine dritte gegen Ende des Films: Diesmal flieht Fred vor den Polizisten und entkommt auf wundersame Weise durch einen Aufzug, aus dem er spurlos verschwindet.219 Diese beiden Verfolgungsjagden dienen vordergründig zunächst einmal dazu, die Ineffizienz der Polizei vorzuführen und ins Lächerliche zu ziehen. Insbesondere die beiden, von Kommissar Gesberg (Michel Galabru) ironischerweise als „Batman“ und „Robin“ angesprochenen Beamten, stellen in diesen Szenen ihre Unfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis. Die Szene mit dem Rollschuhfahrer beginnt damit, dass Batman (der eigentlich gerade auf der Suche nach Fred ist) den Rollschuhfahrer auf dem Bahnsteig entdeckt. Er wittert seine Chance, diesen nun endlich zu stellen und sich somit beim Kommissar – der seine inkompetenten Mitarbeiter regelmäßig Kaffee holen schickt – Respekt zu verschaffen. Jedoch stellt er sich bei der Verfolgung denkbar ungeschickt an. Der Rollschuhfahrer erkennt gleich, dass Batman zur Bahnhofspolizei gehören muss, da dieser unübersehbar mit seinem Funkgerät hantiert und „auffällig unauffällig“ den Blick abwendet, als der Rollschuhfahrer sich nach ihm umsieht.220 Batman ruft über Funk eine Truppe von Polizisten zusammen, die dabei helfen sollen, dem Rollschuhfahrer den Weg zu versperren. Unter ihnen befindet sich auch der nicht weniger hemdsärmelige Robin, der mit seiner Nickelbrille, den Hochwasserhosen und seinen unbeholfenen Gesten den stereotypen Tollpatsch verkörpert und an dem Vorhaben, Autorität auszustrahlen, ebenso kläglich scheitert wie sein Kollege Batman. Ein Versuch, den Rollschuhfahrer in einem Gang abzufangen, missglückt prompt. Jean-Louis entwischt mit Leichtigkeit, indem er mit Anlauf durch die vier Polizisten hindurch fährt, die sich – dienstbeflissen, aber völlig ineffizient – in einer Reihe im Gang postiert hatten.221 Auch bei der weiteren Verfolgung machen die Polizisten, allen voran Batman und Robin, keine gute Figur. Während Jean-Louis geschickt über alle Hindernisse springt und virtuos auf dem Mittelteil zwischen zwei Rolltreppen hinunterrutscht, wirkt der Versuch von Batman und Robin, es ihm nachzutun, vielmehr ungeschickt und grotesk.222 Schnell kann der Rollschuhfahrer sie schließlich abhängen, indem er auf einem Bahnsteig vor einer einfahrenden Metro über die Gleise springt und so seinen Verfolgern den Weg abschneidet.223 Ähnlich ergebnislos verläuft die Verfolgung von Fred. Auch er entkommt den Beamten nach einer kurzen Verfolgung mühelos und lässt Batman und seine Kollegen erneut erfolglos zurück (betont wird der blamable Missverfolg noch durch die Tatsache, dass der Kommissar derweil mit 218 219 220 221 222 223 TC 36:28 – 39:00. Diese und alle weiteren Zeitangaben in diesem Kapitel beziehen sich auf die folgende Edition: Luc Besson: SUBWAY. DVD, 98 Min., München: Universum Film 2001 (Frankreich: 1985). TC 1:15:45 – 1:18:12. TC 37:10 – 37:30. TC 40:55 – 41:28. TC 38:17 – 38:34. TC 38:35 – 39:00. 59 nonchalanter Souveränität den Rollschuhfahrer dingfest macht.224 Was Batman und Robin mit der Hilfe einer ganzen Armada von Beamten nicht gelang, erledigt er im Alleingang und führt damit ein weiteres Mal die Unfähigkeit seiner Mitarbeiter vor). Batman begegnet Fred nun zufällig in den Gängen der Metro (wobei er dieses Mal eigentlich gerade auf der Suche nach dem Rollschuhfahrer ist – seine Inkompetenz wird umso deutlicher, als er immer dann durch Zufall in Verfolgungsjagden „hineinstolpert“, wenn er eigentlich gerade jemand anderen sucht) und fordert ihn auf, sich auszuweisen. Fred gibt vor, seine Papiere zu suchen, versetzt Batman dann jedoch plötzlich einen unerwarteten Stoß und nutzt die Chance zur Flucht. Sein nun folgender Sprint durch die Metrostation wird aus verschiedenen Perspektiven – vorwiegend mithilfe seitlicher Parallelkamerafahrten – gezeigt, welche die Dynamik und Geschwindigkeit der Szene betonen. Abb. 19: Freds Flucht durch die Gänge der Metro. Die Weite des Raumes vermittelt in dieser Sequenz ein Gefühl von Freiheit, des Sich-FreiRennens, sodass sich hier das zentrale Motiv des Films – die Flucht vor gesellschaftlichen Zwängen – verdichtet findet.225 Wie bereits dargelegt, stellt die Metro in SUBWAY ein Refugium für „Gesellschaftsflüchtige“ jeglicher Art dar, die sich im Untergrund der Stadt eine Art GegenParis geschaffen haben. In diesem Mikrokosmos mit eigenem Partykeller, eigenem FitnessRaum und eigener Konzertbühne gibt es alles, was man zum Leben braucht – und was man nicht hat, das beschafft man sich durch Handtaschenraub. Und obwohl die Metro eigentlich ein wenig einladender Ort ist, fühlt Fred sich hier auf Anhieb wohl (als der Rollschuhfahrer ihn kurz nach seiner Ankunft in der Metro zu Gros Bill bringt, kommentiert Fred die dunkle und feucht- 224 225 TC 1:13:29 – 1:15:36. Wie Susan Hayward ausführt, stellt der Ausbruch aus gesellschaftlichen Konventionen ein wiederkehrendes Thema in Bessons Werk dar: „All of Besson´s films have as a central theme escape from the constraints of the social world“, Hayward: Luc Besson, S. 18. 60 schmutzige Umgebung mit den Worten „Sympa chez vous“226). Die Metro, die Besson in SUBWAY bewusst sowohl von ihrer schmutzigen als auch von ihrer sterilen und kalten Seite zeigt, wird für Fred paradoxerweise zu einem neuen, selbstgewählten Zuhause. Freiheit erfährt er hier insofern, als er nun tun und lassen kann, was er will – solange es ihm gelingt, sich seine Verfolger vom Leib zu halten – und endlich den Traum von einer eigenen Band verwirklichen kann. Und auch Héléna, die bei ihrem Mann in einem goldenen Käfig lebt, fühlt sich an diesem Ort erstmals wieder frei. Hier entfaltet sich somit ein bemerkenswertes Paradox: Der unterirdische, geschlossene Raum, der traditionell mit Gefühlen des Gefangenseins, der Beklemmung assoziiert ist, wird für Fred, Héléna und die anderen Metrobewohner zu einem Ort der Freiheit und Selbstbestimmung. Im Gegensatz dazu erscheint das oberirdische Paris, das in der Eingangsszene als weitläufiger, offener Raum gezeigt wurde und üblicherweise mit Freiheit verbunden ist (wie es sich auch in unserem Sprachgebrauch äußert: „à l’air libre“227/“im Freien“), als nahezu klaustrophobisch, hat doch Héléna das Gefühl, dort regelrecht zu ersticken, wie sie ihrem Mann gegenüber erklärt.228 In dieser Verfolgungsjagd wird nun dieses paradoxe Gefühl der Freiheit trotz räumlicher Beengtheit – Mark Orme spricht sehr treffend von „imprisoned freedom“229 – ins Bild gesetzt: [F]ar from being a claustrophobic setting, the Métro comes to represent a site of personal liberation, a claim which can be further verified with reference to [the] energetic tracking shot late in the film [...], structurally similar to the opening sequence, showing how Fred takes advantage of his physical environment to effect his escape from the police, who are left stumbling in pursuit.230 Wie auch Abbildung 19 veranschaulicht, erscheint die Metro in dieser Sequenz nämlich keineswegs als klaustrophobischer Raum, vielmehr wird bewusst die Weitläufigkeit ihrer Gänge in den Vordergrund gerückt und Freds Flucht auf diese Weise als ein Akt der Befreiung inszeniert. Somit kann diese Verfolgungsjagd auch als wichtige, symbolische Etappe innerhalb seiner Entwicklung – die sich, ähnlich wie bei Jules in DIVA, als Initiation beschreiben lässt – aufgefasst werden. Im Vollzug dieses Übergangsrituals scheint Fred, wie David Berry anmerkt, geradezu magische Kräfte zu erlangen: „He becomes able to perform several vanishing tricks and to practise the art of escapology. [...] In Subway the whole métro becomes a vast cabinet of Dr Caligari, a gigantic box of tricks.“231 Dies zeigt sich besonders am Ende der Verfolgungsjagd, als Fred in einen Aufzug flüchtet: Als Batman und seine Kollegen ihn auf der nächsten Etage 226 227 228 229 230 231 TC 22:31. „[L]e resserrement spatial conduit à l´angoisse que provoque la privation d´air et de liberté. On rapproche souvent ces deux mots en disant: ,à l´air libre‘“, Agel: L´espace cinématographique, S. 56. TC 59:44. Mark Orme: „Imprisoned freedoms: space and identity in Subway and Nikita“, in: Susan Hayward/Phil Powrie (Hrsg.): The films of Luc Besson: master of spectacle, Manchester [u.a.]: Manchester University Press 2009, S. 121. Orme: „Imprisoned freedoms“, S. 125. „[A]t the beginning, he escapes his pursuers by jumping under the wheels of the train and crawling along the tracks of the métro; he begins a science-fiction style journey down a series of corridors, armed with a tubular glass light, as if both a sword and a wand, like the famous laser weapon in Star Wars; he falls through a grill in the floor and, unharmed, dangles in space“, Berry: „Underground Cinema“, S. 16. 61 abfangen wollen, fehlt von Fred jede Spur – er scheint sich buchstäblich in Luft aufgelöst zu haben. Wenn wir Freds Flucht durch die Metro nun als Teil seiner Initiation auffassen, so gewinnt auch die Verfolgungsjagd zu Beginn des Films insofern Bedeutung, als sie folglich die erste Stufe seines rite de passage darstellt. Sie führt Fred in die Metro und bildet damit den Auftakt für seine schrittweise Befreiung und die Erfüllung seiner Mission („escape his pursuers, win the woman and fulfil his musical ambition“232). Der hier bereits plakativ zitierte Mythos vom Abstieg in die Unterwelt wird, wie Journot darlegt, in SUBWAY in geradezu obsessiver Weise wiederholt: „Le schéma de la descente [...] est récurrent et obsédant, rituel aussi: Besson ne cesse de filmer longuement les descentes de ses héros, leur préparation et les étapes qu’ils accomplissent.“233 Man denke etwa an eine Szene, in der die Polizeibeamten eine schier endlos erscheinende Treppe hinuntersteigen – eine Szene, die Besson auf eine absurde Länge von über einer Minute ausdehnt.234 Doch schon zuvor findet Freds Abstieg in die Unterwelt sein Echo, als Héléna ihn in der Metro aufsucht. Ihr Abstieg wird ebenfalls in auffallender Weise inszeniert, wenn sie in teurer Abendgarderobe und mit kostbarem Schmuck behangen langsam die Treppen zum Quai hinabsteigt, wo Fred bereits auf sie wartet.235 Die Anklänge an den Orpheusschen Mythos greift auch Susan Hayward auf und ergänzt, „[that] this film can be read as a counterOrpheus narrative because it is Héléna, the woman, who goes down into the labyrinthine underground to find Fred (not as with the original myth, in which Orpheus the poet goes down into Hades to retrieve Eurydice).“236 Sowohl Fred als auch Héléna machen im Laufe des Films eine Veränderung durch. Fred, indem er sich von der Gesellschaft abwendet, Héléna für sich gewinnt und schließlich seinen Traum von einer eigenen Band realisiert; Héléna, indem sie sich aus der Abhängigkeit von ihrem besitzergreifenden Mann und dessen Geld befreit und sich für Fred entscheidet. Auch für Héléna gleicht der Abstieg in die Metro einer Flucht vor gesellschaftlichen Zwängen und Verpflichtungen.237 Somit entfaltet sich in SUBWAY also eine doppelte Initiation, die durch den Abstieg in das unterirdische Labyrinth – das bereits in DIVA als Initiationsmetapher eingesetzt wurde – verbildlicht wird. Die Verfolgungsjagden in SUBWAY erfüllen demnach zwei Funktionen. Zum einen wird hier die Unbeholfenheit der Polizei, die während des gesamten Films in zahlreichen Szenen offensichtlich wird, noch einmal extrem überzeichnet. Es wird nun auch optisch sichtbar, dass 232 233 234 235 236 237 Hayward: Luc Besson, S. 37f. Journot: Le courant de „l´esthétique publicitaire“, S. 54. TC 11:25 – 12:37. TC 07:48. Hayward: Luc Besson, S. 35. Emblematisch ist hier die Szene, in der Héléna mit einer Irokesen-Frisur bei einem edlen Abendessen erscheint, zu dem sie mit ihrem Mann eingeladen ist (TC 1:02:43 – 1:05:11). Abgestoßen von der heuchlerischen Freundlichkeit der Gastgeber verabschiedet sie sich schließlich mit den Worten „Monsieur le préfet, votre dîner est nul, votre baraque est nul, et je vous emmerde tous“ und kehrt zurück in die Metro. 62 Fred und der Rollschuhfahrer der Metropolizei – buchstäblich – immer einen Schritt voraus sind. Dabei kommt ihnen ihre ausgezeichnete Orientierung im Metrolabyrinth zugute. Während der Kommissar einräumen muss, dass selbst die Polizei sich in den verschachtelten Gängen der Metro häufiger verirrt („C’est grand ici; nous-même, on s’y perd des fois“238), kennt der Rollschuhfahrer die Gänge laut eigener Aussage wie seine Westentasche („Je connais les couloirs comme ma poche“239) – und gleiches gilt für Fred, der sich von Anfang an mit großer Sicherheit durch das unterirdische Terrain bewegt. In der ersten Verfolgungsjagd sind es zwar nicht die Polizisten, sondern die Auftragskiller von Hélénas Ehemann, die hinter Fred her sind, jedoch werden auch sie deutlich karikiert.240 Zum anderen konzentriert sich hier – und insbesondere in der dritten Verfolgungsjagd – das übergreifende Sujet des Films, welcher sich, trotz einiger Subplots, immer wieder um Freds Flucht und sein Streben nach Freiheit und der Erfüllung seines Traums dreht. Seine Entwicklung während des Films, die parallel zur Emanzipation Hélénas von ihrem Ehemann verläuft, entfaltet sich im unterirdischen Metrolabyrinth, welches damit erneut zum Schauplatz einer Initiation wird. Mit der Überschreitung der Schwelle vom oberirdischen Paris zum unterirdischen GegenParis (der ersten Verfolgungsjagd) vollzieht Fred den ersten Schritt seines rite de passage und seiner Befreiung. Diese wird besonders anschaulich, als Gros Bill, der wohlwollende „Minotaurus“ des Metrolabyrinths241, ihn kurz nach seiner Ankunft in der Metro von seinen Handschellen und somit dem letzten Relikt sozialer Restriktion befreit.242 Die Metro entwickelt sich für Fred also zu einem Ort der Freiheit und Unabhängigkeit, wie es insbesondere durch die Akzentuierung räumlicher Weite in der dritten Verfolgungsjagd sinnfällig wird. Und doch ist Freds Befreiung lediglich eine vorläufige; denn am Ende des Films wird er während des ersten Konzerts seiner Band von einem der Auftragskiller aus dem Hinterhalt erschossen.243 Und damit ist seine Initiation, die Vollendung seines rite de passage schließlich in Frage gestellt, wie Susan Hayward darlegt: Fred’s mission in the film is to escape his pursuers, win the woman and fulfil his musical ambition. In effect he does all three – as the ambiguous ending of the film makes clear – but there is no more sense of permanence around his succesful trajectory [...]. Fred has won a moral victory, and the love of the woman he has pursued, but [...] there is great improbability that he will live to enjoy it.244 238 239 240 241 242 243 244 TC 35:29. TC 30:28. So leidet einer von ihnen unter einem empfindlichen Magen, der turbulenten Verfolgungsjagden offensichtlich nicht gewachsen ist (TC 03:33), ein anderer schafft es, sich beim Sprung über ein Drehkreuz den gesamten Anzugärmel abzureißen (TC 04:00). Vgl. Berry: „Underground Cinema“, S. 15. TC 22:50. Die Schlussszene von SUBWAY kann als direkte Referenz auf das Ende von Godards À BOUT DE SOUFFLE gelesen werden. Eine genauere Untersuchung der Parallelen zwischen diesen beiden Szenen findet sich bei Powrie: French Cinema in the 1980s, S. 122ff. Hayward: Luc Besson, S. 37f. 63 3.5 LES AMANTS DU PONT-NEUF von Leos Carax LES AMANTS DU PONT-NEUF (1991), der dritte Spielfilm des Regisseurs Leos Carax (*1960, eigentlich Alexandre Oscar Dupont), nimmt unter den ausgewählten Beispielen in dieser Arbeit einen gewissen Sonderstatus ein. Während die anderen vier Filme dem Genre des polar zugeordnet werden konnten oder zumindest polar-typische Elemente im Plot aufwiesen (wie bereits dargelegt, handelt es sich bei DIVA und SUBWAY um Genremischungen), steht in LES AMANTS DU PONT-NEUF nicht ein Verbrechen, sondern eine Liebesgeschichte im Zentrum der Handlung. Von den anderen in dieser Arbeit behandelten Verfolgungsjagden unterscheidet sie sich dementsprechend schon allein dadurch, dass sie nicht dem klassischen Rollengefüge aus Ordnungshüter und Verbrecher entspricht – es wird sogar zu überprüfen sein, ob wir in diesem Falle überhaupt von einer Verfolgungsjagd im eigentlichen Sinne sprechen können. Auch dieser Film wird gerne leichtfertig mit dem problematischen Etikett cinéma du look versehen, obwohl Carax selbst auf der Distanz zwischen ihm und Regisseuren wie Beineix oder Besson bestand245 und seine filmische Ästhetik tatsächlich wenig mit der von Filmen wie DIVA oder SUBWAY gemein hat. Carax erzählt in LES AMANTS DU PONT-NEUF – teils in dokumentarischem Duktus, teils mit traumhaft-surrealen Bildern – die Geschichte eines obdachlosen Pärchens, das auf dem wegen Renovierung geschlossenen Pont-Neuf, der ältesten Brücke von Paris, lebt. In Anbetracht dieses Sujets erschienen die enormen Produktionskosten (die allerdings das Ergebnis einer Verkettung unglücklicher Umstände und keineswegs von Carax geplant waren246) vielen Kritikern als Taktlosigkeit. Ebenso empfand man die exzessive Bildsprache des Films als unpassend und warf Carax vor, das Sujet der Obdachlosigkeit in geschmackloser Weise zu ästhetisieren.247 So war etwa von einer „esthétique du misère et du désespoir“248 die Rede, womit wir erneut dem mittlerweile vertrauten Argwohn gegenüber dem effektvollen Bild begegnen. Dabei ist dieser Vorwurf gerade anhand von LES AMANTS DU PONT-NEUF nur schwer zu rechtfertigen, da Carax den visuell ausschweifenden Sequenzen 245 246 247 248 Vgl. Fergus Daly: „Feux d´artifice: Les Amants du Pont-Neuf and the spectacle of vagrancy“, in: Fergus Daly/ Garin Dowd: Leos Carax (French film directors), New York: Manchester University Press 2003, S. 105. Während das ursprünglich geplante Budget bei 32 Mio. Franc lag, betrug das endgültige schließlich rund 150 Mio. Franc. Vgl. Martine Beugnet: „Filmer l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, in: dies.: Marginalité, sexualité, contrôle dans le cinéma français, Paris: L´Harmattan 2000, S. 157. Dabei war es insbesondere der teure Nachbau des Pont-Neuf, der die Produktionskosten in die Höhe trieb. Ursprünglich wollte Carax auf der Originalbrücke drehen, die tatsächlich gerade wegen Renovierungsarbeiten gesperrt war. Für die Dreharbeiten wurde ihm eine Genehmigung für gut einen Monat erteilt. Unglücklicherweise zog sich Hauptdarsteller Denis Lavant eine ernste Verletzung an der Hand zu, sodass die Dreharbeiten gerade in diesem Zeitraum unterbrochen werden mussten. Dies zwang Carax schließlich dazu, eine äußerst kostenintensive originalgetreue Kopie des Pont-Neuf (inklusive des umgebenden Stadtpanoramas von Paris) in der Nähe von Montpellier in Auftrag zu geben. Vgl. Daly: „Feux d´artifice: Les Amants du Pont-Neuf and the spectacle of vagrancy“, S. 107. „Bien sûr, j´ai été accusé d´avoir réalisé un film à gros budget sur des gens qui n´ont rien, et de m´être détourné du réalisme au profit de la fiction. Pour moi, il s´agit d´essayer d´effacer les frontières qui séparent le fictionnel et le non fictionnel“, so Leos Carax in einem Interview mit David Thomson, in: Sight and Sound Nr. 5 (1992), S. 10, zitiert nach Beugnet: „Filmer l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 158. Beugnet: „Filmer l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 158. 64 (namentlich der Feuerwerkszene, die in ihrer rauschhaften Inszenierung an die Ästhetik von Musikclips erinnert249) solche im Stil eines Dokumentarfilms entgegenstellt. Die Anfangsszenen des Films, die zunächst auf den Straßen von Paris und schließlich in einem Auffanglager für Obdachlose in Nanterre spielen, zeichnen ein schonungsloses Bild der Realität, wie sie sich für die SDF, die „sans domicile fixe“ von Paris darstellt: Carax integrates the expected elements of spectacle and fantasy with a portrayal of the harsh realities experienced by the Parisian homeless, achieving an intermittent documentary quality far removed from the usual concerns of the cinéma du look.250 Auch wenn sich Carax bewusst vom cinéma du look und von Regisseuren wie Beineix oder Besson abzugrenzen suchte, so hat er doch zumindest eines mit ihnen gemeinsam: Auch in seinem Werk spielen Orte eine Schlüsselrolle und werden, wie es im Falle von LES AMANTS DU PONT-NEUF bereits der Titel ankündigt, häufig zum Mittelpunkt einer Handlung. Der PontNeuf in Paris, der sich wie ein Leitmotiv durch mehrere Filme von Leos Carax zieht251, ist der symbolträchtige Schauplatz der Liebesgeschichte von Alex (Denis Lavant) und Michèle (Juliette Binoche). Der obdachlose Feuerschlucker Alex führt auf der Brücke eine trostlose Existenz; vorübergehendes Vergessen erlauben ihm nur der Alkohol und das Schlafmittel, mit dem ihn der ebenfalls obdachlose Hans (Klaus-Michael Grüber), der mit ihm auf der Brücke lebt, versorgt. Als eines Tages Michèle Stalens, eine junge Offizierstochter hier auftaucht, setzt Hans zunächst alles daran, sie wieder fortzujagen. Schließlich duldet er, wenn auch widerwillig, ihre Anwesenheit auf der Brücke. Michèle, die früher wie besessen malte, leidet an einer fortschreitenden Augenkrankheit, die ihr nach und nach das Augenlicht raubt. Zwischen ihr und Alex entwickelt sich eine leidenschaftliche Liebe, die jedoch zunehmend zu einer gegenseitigen Abhängigkeit wird, je weiter Michèles Krankheit voranschreitet. Alex, der Angst hat, sie zu verlieren, versucht alles, um sie auf der Brücke zu halten. Er schenkt ihr sogar ein Radio, damit sie den Pont-Neuf nicht mehr verlassen muss – „Comme ça tu peux avoir les informations sans quitter le pont.“252 Doch eines Tages droht sein kleines Idyll zu zerbrechen, als Michèle von ihrer Familie über Vermisstenplakate in der ganzen Stadt gesucht wird. Mittlerweile gibt es eine Behandlungsmethode, mit der ihre Krankheit geheilt werden kann. Als Alex auf die zahllosen Poster mit Michèles Konterfei stößt, verliert er den Kopf. Nachdem er in einer Metrostation alle Poster in Brand gesteckt hat, zündet er auch den Wagen des Plakatklebers an, der die Poster in der Stadt verteilt. Als der Wagen explodiert, gerät der Mann in die Flammen und verunglückt tödlich. Alex verbringt einen letzten Abend mit Michèle auf der Brücke – als er in der Nacht aufwacht, findet er eine Nachricht von ihr vor: „Alex, je t’ai pas aimé. Pas vraiment. Oublie-moi. 249 250 251 252 TC 42:16 – 47:03. Diese und alle weiteren Zeitangaben in diesem Kapitel beziehen sich auf die folgende Edition: Leos Carax: DIE LIEBENDEN VON PONT-NEUF (LES AMANTS DU PONT-NEUF). DVD, 121 Min., München: Kinowelt Home Entertainment 2003 (Frankreich: 1991). Austin: Contemporary French Cinema, S. 133. Vgl. Daly: „Feux d´artifice: Les Amants du Pont-Neuf and the spectacle of vagrancy“, S. 122. TC 31:15. 65 Michèle“. Am nächsten Morgen wird Alex auf der Brücke festgenommen. Er wird zu drei Jahren Haft verurteilt. Gegen Ende seiner Haftstrafe besucht ihn Michèle, die mittlerweile wieder sehen kann und ihn während der ganzen Zeit nicht vergessen konnte; dass sie jetzt mit dem Augenchirurg Dr. Destouches zusammenlebt, der sie von ihrer Krankheit heilte, verschweigt sie. Sie verabreden sich für Heiligabend nach Alex’ Entlassung auf dem Pont-Neuf. Als Michèle sich bei ihrem Wiedersehen unerwartet frühzeitig verabschieden will, ahnt Alex, dass sie zu einem anderen Mann geht. Erneut kopflos vor Wut packt er Michèle und wirft sich mit ihr über die Brücke. Im Wasser der Seine werden sie von einem vorüberfahrenden Lastkahn aufgefischt, der auf dem Weg nach Le Havre ist.253 Michèle und Alex beschließen, an Bord zu bleiben. Neben dem Pont-Neuf, dem Hauptschauplatz des Filmes, spielt auch die Metro eine prominente Rolle und bildet den Hintergrund für mehrere bedeutsame Szenen. Die Verfolgungsjagd durch die Metro findet zu einem relativ frühen Zeitpunkt statt, als Alex und Michèle noch kein Paar sind. Jedoch hat Alex bereits ein extremes, geradezu zwanghaftes Interesse an der jungen Frau entwickelt. Getrieben von dem Wunsch, etwas über sie zu erfahren, spioniert er sie aus. Aus einem Brief, den sie in einer alten Blechbox mit sich führt, entnimmt er die Adresse der Wohnung, in der sie offensichtlich früher lebte. Er bricht nachts durch das offene Fenster der Wohnung ein und findet dort unzählige Gemälde vor, auf denen Michèle ihren früheren Geliebten Julien, einen Cellisten, porträtiert hat. Ebenso findet er ein Heft mit der Aufschrift „Michèle et Julien ou L’Amour de la Fille et du Garçon“, welches er einsteckt und auf dem Weg zur Brücke liest. Von nun an beginnt er, Michèle zu verfolgen und zu beobachten.254 Ihn treibt die Frage um, was zwischen ihr und Julien geschah und warum sie ihn offensichtlich nicht vergessen kann. Ihre obsessive Liebe zu Julien erscheint Alex, der sie unter allen Umständen auf der Brücke halten will, als Bedrohung. Als er ihr schließlich in die Metro folgt, zeigt sich, dass seine Befürchtung, Michèle könnte Julien noch immer verfallen sein, nicht unbegründet ist. Michèle fährt gedankenverloren auf einem Rollteppich, Alex folgt ihr mit nur wenigen Metern Abstand auf dem Parallelband. Als plötzlich wie aus dem Nichts ein Cello erklingt255, dreht Michèle sich unwillkürlich um (Alex kann sich gerade noch ducken und bleibt unbemerkt), erstarrt zunächst, springt dann jedoch blitzartig über den Handlauf und rennt in die Richtung, aus der die Musik kommt. Alex, der seit einem Unfall ein Gipsbein trägt und an Krücken geht – Beugnet nennt ihn einen „Quasimodo contemporain“256 –, eilt ihr hinterher. 253 254 255 256 In der Literatur wird immer wieder darauf verwiesen, dass es sich bei dieser Schlussszene um eine Reminiszenz an Jean Vigos L´ATALANTE handelt. Vgl. Austin: Contemporary French Cinema, S. 134, sowie Beugnet: „Filmer l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 161 und Raynalle Udris: „Countryscape/Cityscape and Homelessness in Agnès Varda´s Sans toit ni loi and Leos Carax´s Les Amants du Pont-Neuf“, in: Konstantarakos (Hrsg.): Spaces in European Cinema, S. 48. TC 26:40 – 30:00. TC 33:32. Beugnet: „Filmer l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 161. 66 Abb. 20: Michèle folgt dem Klang des Cellos. Allerdings zeigt sich schon kurz darauf, dass Michèle von jetzt an gar nicht mehr das eigentliche Objekt seiner Verfolgung ist. Als beide das Ende des Rollteppichs erreichen, teilt sich der Weg nun in vier Gänge. Michèle, augenscheinlich unschlüssig, in welcher Richtung sie den Ursprung der Musik lokalisieren soll, zögert zunächst, will erst den einen, dann den anderen Weg wählen. Als sie sich schließlich für einen der Gänge entscheidet, folgt Alex ihr jedoch wider Erwarten nicht, sondern wählt einen anderen Weg: Er will den Cellospieler (ist es Julien?) finden, bevor sie ihn findet. 67 Abb. 21: Statt Michèle zu folgen, sucht Alex nun seinerseits nach dem Ursprung der Musik. Daraus ergibt sich nun eine grundlegende Umverteilung der Rollen und damit eine völlig neue, ungewöhnliche Konstellation: Michèle ist nicht mehr länger die verfolgte Person, sondern wird selbst zur Verfolgerin; Alex seinerseits bleibt zwar in seiner Rolle als Verfolger – seine Verfolgung richtet sich jedoch nicht mehr auf Michèle. Vielmehr werden nun beide zu Verfolgern von ein und derselben Person: Julien (wobei weder Michèle noch Alex zu diesem Zeitpunkt sicher wissen können, dass es sich tatsächlich um Julien handelt). Dieser wiederum ist kein Verfolgter im eigentlichen Sinne, da er zum einen nicht einmal weiß, dass er verfolgt (oder vielmehr: gesucht) wird und zum anderen bis auf weiteres unsichtbar bleibt. Julien ist vorerst nur als Klang präsent, welcher nun gewissermaßen „stellvertretend“ verfolgt wird. Genau genommen ist das eigentliche Objekt der Verfolgung somit die Musik. Konsequenterweise ist sie es daher auch, die die Bewegung von Michèle und Alex lenkt. So scheint insbesondere Michèle von Juliens Cellospiel257 wie an einem unsichtbaren Faden durch den Raum gezogen zu werden, wobei sich ihre Bewegung an Tempo und Dynamik der Musik anpasst. Michèle rennt zunächst einen belebten Gang entlang und folgt dabei, fast wie in Trance, dem Klang des Cellos. Während die Kamera ihr aus einer schräg-seitlichen Perspektive vorauseilt (und damit, wenn man so will, Michèles „Angezogensein“ visualisiert), scheint die Welt um sie herum zu verschwimmen. Die Passanten, die immer wieder als diffuse, unscharfe Gestalten ins Sichtfeld geraten, scheint sie überhaupt nicht wahrzunehmen.258 Abb. 22: Michèle erscheint in ihrer Suche nach Julien wie in Trance. 257 258 Cellosonate op. 8 von Zoltán Kodály. TC 34:21 – 34:28. 68 Schließlich gelangt Michèle erneut an eine Abzweigung. Hier wird besonders deutlich, wie die Musik ihre Bewegung lenkt. Denn als das Cello plötzlich verstummt, hält auch Michèle inne; und als es erneut einsetzt – zunächst leise, dann immer drängender – setzt auch Michèle ihre fieberhafte Suche fort.259 An dieser Stelle zeigt sich zudem noch etwas anderes: An der Abzweigung hat Michèle die Wahl zwischen drei weiterführenden Wegen. Doch statt sich für einen von ihnen zu entscheiden, läuft sie den gleichen Weg zurück, über den sie kam; denn mit einem Mal scheint der Klang des Cellos aus der genau entgegengesetzten Richtung zu kommen. Indem sie nicht eindeutig lokalisierbar, geradezu „überall und nirgendwo“ ist, entzieht sich die Musik auf diese Weise ihrer Verfolgung – Michèles Suche erweist sich somit als vergeblich. Alex wird währenddessen immer wieder im Rahmen einer Parallelmontage eingeblendet. Obwohl er humpelt und seine Bewegung dadurch ungleich schwerfälliger wirkt, erscheint seine Suche aktiver und zielgerichteter als die von Michèle. Wie Martine Beugnet beschreibt, entsteht dieser Eindruck zum einen dadurch, dass er, anders als sie, von vorgezeichneten Wegen abweicht und bewusst Hindernisse wie Treppen und Bahngleise in Kauf nimmt260 – er scheint keinerlei Zweifel daran zu haben, dass er sich auf dem richtigen Weg befindet. Zum anderen setzt Carax die Kameraführung und Kadrierung gezielt ein, um diesen Eindruck zu erwecken: Alex apparaît dans le rôle du chasseur, traverse le cadre et les rails du métro, semble prendre le contrôle de l’espace, tandis qu’en comparaison, Michèle semble statique: sa course est filmée en plan moyen ou en plan rapproché, et accompagnée par la caméra en travelling arrière et en légère plongée, de sorte que le sentiment d’impatience et d’impuissance se trouvent soulignés, mais qu’il semble aussi que la caméra ,l’épingle‘, la condamne à une course immobile.“261 Die Verfolgung kumuliert schließlich in einer kurzen, dynamischen Sequenz, in der nur noch das Cello zu hören ist. Hintergrundgeräusche und Schritte werden vorübergehend vollständig ausgeblendet.262 Für einen kurzen Moment löst sich die Musik damit aus der filmischen Diegese und scheint nunmehr Teil des inneren Erlebens der Protagonisten zu werden, die – „entièrement absorbés, uniquement préoccupés de leur quête“263 – alles um sich herum vergessen. Mit dem plötzlichen Erscheinen des Cellospielers wird die Musik schließlich wieder intradiegetisch eingebunden. Von ihm sehen wir jedoch vorerst nur das Instrument, nicht aber sein Gesicht (siehe Abb. 23). Mit einer geringen Tiefenschärfe wird in dieser Einstellung ein besonderer Effekt erzielt: Während das Cello im Vordergrund scharf zu erkennen ist, bleibt der Hintergrund völlig verschwommen – so auch Alex, der sich allmählich dem Cellospieler nähert.264 Auf diese Weise wird die Wahrnehmung des Cellospielers ins Bild übersetzt: Völlig 259 260 261 262 263 264 TC 34:35 – 34:57. TC 34:57 – 35:11. Beugnet: „Filmer l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 180. TC 35:11 – 35:32. Beugnet: „Filmer l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 169. TC 35:32 – 35:55. 69 versunken in sein Spiel bemerkt er Alex erst, als dieser direkt vor ihm steht. Zudem bleibt er durch den gewählten Bildausschnitt buchstäblich gesichtslos und damit noch immer anonym. Abb. 23: Durch eine geringe Tiefenschärfe bleibt Alex bis zum Schluss verschwommen. Alex, der mit einem Messer droht, die Saiten des Cellos durchzuschneiden, gelingt es, den Cellospieler zu verjagen. Als kurz darauf Michèle auftaucht, fragt sie ihn, ob er den Mann gesehen habe, der eben noch Cello gespielt hatte. Alex lügt sie an und behauptet, es sei gar kein Mann, sondern eine Frau gewesen – „une grosse dame“265. Doch Michèle entdeckt die Zigarettenstummel, die der Cellospieler auf dem Boden hinterlassen hat und ist sich sicher, dass Julien da gewesen sein muss. Sie rennt zum Bahnsteig und sieht den Cellospieler gerade in die Metro einsteigen; im letzten Moment kann sie in den Waggon springen. Die Metro-Verfolgungsjagd in LES AMANTS DU PONT-NEUF ist, wie ich zuvor dargelegt habe, eine äußerst ungewöhnliche. Um genau zu sein, kann im strengen Sinne eigentlich nicht einmal von einer Verfolgungsjagd die Rede sein. Denn damit eine Verfolgungsjagd vom Zuschauer als eine solche erkannt werden kann, muss laut Hoefer zumindest ein Kriterium erfüllt sein: „[D]as filmische Opfer [muss] die Verfolgungsabsicht [...] erkannt haben“266 und infolge dessen eine Chance haben zu entkommen. Beides ist hier nicht der Fall. Mehr noch: Julien ist nicht nur ahnungslos, er bleibt noch dazu bis zum Ende der Sequenz unsichtbar. Doch auch, wenn es sich per definitionem also nicht um eine „echte“ Verfolgungsjagd handelt, wird sie von Carax als eine solche inszeniert. So impliziert insbesondere die Parallelmontage in der 265 266 TC 36:32. Hoefer: Die Verfolgungsjagd im Film, S. 14. 70 dramatischen Klimax der Verfolgungsjagd267, dass eine tatsächliche, physische Verfolgung stattfindet – wobei allerdings nicht Julien, sondern Michèle die gejagte Person zu sein scheint. Abb. 24: Die Kameraeinstellung suggeriert, dass sich Alex genau hinter Michèle befindet. Tatsächlich sind beide weiterhin getrennt voneinander auf der Suche nach Julien. Durch diesen Kunstgriff wird jedoch eines deutlich: In dieser Szene geht es nur vordergründig um eine physische „Jagd“. Tatsächlich nutzt Carax die Verfolgungsjagd durch die Metro, um psychische Abhängigkeiten und Obsessionen der Protagonisten zu versinnbildlichen. Während Alex hier bereits den besitzergreifenden Charakter seiner Liebe offenbart (indem er den Cellospieler mit den Worten „Ici, c’est mon couloir“268 aus der Metro vertreibt, macht er eindeutig klar, dass er Michèle von nun an für sich haben will), wird in Michèles verzweifelter Suche nach Julien deutlich, dass sie diesem noch immer hoffnungslos verfallen ist. Der weitere Verlauf des Films wird zeigen, dass Michèle sich immer wieder – psychisch oder materiell – von Männern abhängig macht (zuerst von Julien, dann von Alex und schließlich von Dr. Destouches) und in Beziehungen passiv agiert. Wenn Michèle geradezu ohnmächtig dem Klang des Cellos folgt, findet eben diese Passivität hier ihren Ausdruck. Ebenso trägt, wie bereits beschrieben, die spezifische Mise-en-scène dazu bei, Michèle passiv und willenlos erscheinen zu lassen. In dieser Verfolgungsjagd – wenn wir denn von einer solchen sprechen möchten – zeichnet sich somit bereits die spätere Liebesbeziehung zwischen Alex und Michèle ab, die vor allem auf psychischer Abhängigkeit beruhen wird. Als Michèles Krankheit bereits sehr weit fortgeschritten ist und ihre vollständige Erblindung nur noch eine Frage der Zeit ist, wird sie Alex bei einem Spaziergang durch die Gänge einer Metrostation fragen: „Tu seras ma canne blanche? Ma rampe d’escalier? Mon chien d’aveugle?“269. Hierin wird sicherlich besonders deutlich, wie sehr sich Michèle zu diesem Zeitpunkt bereits mit der zunehmenden Abhängigkeit von Alex abgefunden hat. Das unterirdische Metrolabyrinth wird in LES AMANTS DU PONT NEUF, wie David Berry argumentiert, zu einem „symbolic feature of her psychological confusion and of his mental 267 268 269 TC 35:11 – 35:32. TC 35:51. TC 1:25:40. 71 obsession.“270 Die Metro zeigt sich als ein Ort, an dem psychische Abhängigkeiten und heftige Emotionen der Protagonisten zutage treten, die in ihrer Intensität eine zerstörerische Kraft entfalten können. Letzteres wird etwa in der Szene im Anschluss an die Verfolgungsjagd erkennbar. Michèle springt im letzten Moment in die Metro, in die auch der Cellospieler eingestiegen ist. Während der Fahrt beobachtet sie ihn über die Spiegelung in einer Scheibe. Dann erfolgt ein abrupter Schnitt: Michèle klingelt bei Julien. Er blickt durch den Türspion (der Zuschauer erkennt in ihm nun den Cellospieler aus der Metro), sieht sie aber nicht, da Michèle den Spion mit ihrer Pistole verschlossen hält. Sie fleht Julien an, die Tür zu öffnen – als dieser sich weigert, schießt sie. Im nächsten Moment befindet sie sich wieder in der Metro. Diese Szene271 – die sich als Tagtraum von Michèle erweist – ist ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, wie Liebe in ungezügelte Aggression umschlagen kann. Michèle selbst ist der Heftigkeit ihrer Emotionen so ausgeliefert, dass sie Traum und Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden weiß: Später wird sie Alex bitten, die Anzahl der Kugeln in ihrer Pistole zu überprüfen.272 Auf besonders sinnfällige Weise zeigt sich die buchstäblich zerstörerische Kraft übersteigerter Emotionen zudem in der Szene, als Alex in einer Metrostation die Vermisstenposter in Brand steckt.273 In seiner Angst, Michèle könnte in ihr altes Leben zurückkehren und ihn verlassen, nimmt er sogar in Kauf, dass er ihr auf diese Weise die Chance auf Heilung nimmt. Er verwandelt die Metro in ein flammendes Inferno, in dem er alles auslöscht, was an Michèles Vergangenheit erinnert. Abb. 25: Die Metro als flammendes Inferno. In LES AMANTS DU PONT-NEUF wird die Metro zu einem Hintergrund, vor dem sich die Emotionen, Wünsche und (Alp-)Träume der Protagonisten offenbaren. Insbesondere tritt hier, wie die oben beschriebene Brandstiftungsszene und die imaginierte Mordszene gezeigt haben, die destruktive Seite der Liebe zutage. Diese Thematik betrachte ich auch als den Kern der Verfolgungsjagd, die das verzweifelte Streben beider Protagonisten nach einem Halt in ihrem Leben vor Augen führt – ein Halt, den sie nur zu erreichen glauben, indem sie eine Person an 270 271 272 273 Berry: „Underground Cinema“, S. 17. TC 37:41 – 38:53. TC 42:55. TC 1:27:18 – 1:28:48. 72 sich binden. Wie Martine Beugnet in Zusammenhang mit der Verfolgungsszene ausführt, wird die Metro überdies zu einem Ort, an dem immer wieder Erinnerungen an Vergangenes aufflammen: Lieu interlope, lieu de transit par excellence, le métro n’est pas seulement l’espace où circulent les gens, mais aussi les sons, la musique, et les souvenirs: tandis que les accords d’un violoncelle se propagent à travers les tunnels, le métro se transforme en une gigantesque mémoire où résonne le passé de Michèle.274 Wir erinnern uns, dass Marc Augé die Metro als einen „déclencheur de souvenirs“275 beschreibt – es scheint, als würde sie eine ebensolche Funktion auch in LES AMANTS DU PONT-NEUF erfüllen. So ist es nicht eben zufällig die Erinnerung an Julien (ausgelöst durch den Klang des Cellos), die schließlich zur rauschhaften Jagd durch die Metro führt. 274 275 Beugnet: „Filmer l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 169. Augé: Un ethnologue dans le métro, S. 8. 73 4. ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE Die Analyse der Beispielfilme LE SAMOURAÏ, PEUR SUR LA VILLE, DIVA, SUBWAY und LES AMANTS DU PONT-NEUF hat die eingangs formulierte These, dass ein filmischer Ort – in unserem Falle die Metro – einen bedeutungstragenden Status einnimmt, zweifellos bestätigt. In fast allen Filmen ist eine semantische Aufladung dieses Schauplatzes offenkundig intendiert; nur in PEUR SUR LA VILLE scheint der Ort als solcher lediglich sekundär von Bedeutung zu sein. Vielmehr wird der Schauplatz Metro hier einem bestimmten Zweck untergeordnet: Er bildet den Hintergrund einer Verfolgung, bei der grundlegende Aspekte der filmischen Verfolgungsjagd – Bewegung und Geschwindigkeit – ins Extrem gesteigert werden. Wie wir sahen, nimmt die Verfolgung hier geradezu groteske Züge an, indem Letelliers halsbrecherischer Ritt auf dem Metrowaggon in keinem angemessenen Verhältnis zu seinem Vorhaben steht (hätte ihm doch die Verfolgung eines Serientäters ungleich dringlicher erscheinen müssen als die des Drogenhändlers Marcucci). Die prominente Inszenierung seiner außergewöhnlichen körperlichen Fähigkeiten, die ihn in die Nähe eines surhomme rücken, dient dabei nicht nur der Zementierung des Mythos Belmondo, sondern auch und vor allem seiner Charakterisierung als unverantwortlicher und egozentrischer (und dabei trotz allem heldenhaft erscheinender) Polizist, der bei seiner Arbeit persönlichen Motiven den Vorrang gibt. Die Metro spielt für diese Verfolgungsjagd nur insofern eine Rolle, als sie die topologischen und, wenn man so will, „technischen“ Voraussetzungen für eine Verfolgungsjagd diesen Formats schafft. Während die Metro in PEUR SUR LA VILLE also allenfalls durch ihre traditionelle Assoziation mit der kriminellen Halbwelt inhaltlich motiviert zu sein scheint und vorrangig aufgrund ihrer charakteristischen „Ausstattung“ zum Schauplatz einer Verfolgungsjagd gewählt wird, stellt die entsprechende Szene in LE SAMOURAÏ hierzu den größtmöglichen Gegensatz dar. In Melvilles Gangsterklassiker ist die Verfolgungsjagd eine völlig andere: An die Stelle einer physischen Verfolgung des Protagonisten Jef Costello tritt die Überwachung seiner Bewegung auf dem Stadtplan des Kommissars. Nicht der Aspekt der Bewegung und des Tempos steht im Vordergrund, sondern das innere Erleben Jef Costellos. Zwar ist auch die Topologie der Metro in LE SAMOURAÏ insofern von Bedeutung, als Jef diese gezielt für sich zu nutzen versteht (seine ausgezeichnete Kenntnis des Metronetzes erlaubt es ihm, seine Verfolger abzuschütteln). Jedoch spielt sie in diesem Fall nur eine untergeordnete Rolle für die Wahl des Settings. Wichtiger erscheint die Tatsache, dass die Metro als Sinnbild der Entfremdung des modernen Großstadtmenschen schlechthin wie kaum ein anderer Ort geeignet ist, die Einsamkeit und innere Leere Jef Costellos widerzuspiegeln. Ebenso kann sie, als moderne Manifestation der mythischen Unterwelt, als Hinweis auf den unausweichlichen Tod des Protagonisten gelesen werden. 74 Anhand von LE SAMOURAÏ und PEUR SUR LA VILLE lässt sich Melvilles Aussage, im französischen polar der 60er und 70er Jahre habe es im Grunde nur zwei Formate – Delon und Belmondo – gegeben276, geradezu beispielhaft darlegen. Während Alain Delon in LE SAMOURAÏ seinem Image als „eiskalter Engel“ gerecht wird, macht Belmondo mit PEUR SUR LA VILLE seiner typischen Rolle als moralisch fragwürdiger Draufgänger alle Ehre – zwei Charakterisierungen, die in den Metroverfolgungsjagden exemplarisch zum Ausdruck kommen. Auf der einen Seite ein kühl und berechnend agierender Jef Costello, auf der anderen Seite ein impulsiv und fahrlässig handelnder Kommissar Letellier. Auf der einen Seite eine hoch strategische Verfolgung, die fast gänzlich ohne das für Verfolgungsjagden obligatorische „Wettrennen“ auskommt, auf der anderen Seite eine Verfolgung, deren Wirkung fast einzig und allein auf der Betonung von Bewegung und Geschwindigkeit beruht – wir erinnern uns, dass die eigentliche Überwältigung Marcuccis am Ende schon fast zur Nebensache gerät. Das eigentlich Wichtige an der Verfolgungsjagd in PEUR SUR LA VILLE ist der Weg dorthin, der Akt des Verfolgens als solcher, der durch den Ritt auf dem Metrowaggon eine besondere – in erster Linie ästhetische – Qualität bekommt. Mit dem Film DIVA, der zu Beginn der 80er Jahre die von Jameson diagnostizierte Stilwende einläutete, wird die Metro Teil der „esthétique publicitaire“, wie sie von Marie-Thérèse Journot beschrieben wird. Doch entgegen der zeitgenössischen Kritik, die dem cinéma du look Oberflächlichkeit und Formalismus vorwarf, konnte gezeigt werden, dass die Metro weder bei Beineix noch bei Besson zum rein dekorativen Element herabgesetzt wird. Im Gegenteil: Gerade in diesen Filmen – und genauso auch in Carax’ LES AMANTS DU PONT-NEUF – scheinen die Orte sogar stets eine besonders wichtige, symbolische Rolle zu spielen. Journot begreift die Regisseure des cinéma du look auch aus diesem Grund als Erben des Poetischen Realismus beziehungsweise des frühen Magischen Realismus, „[qui] tend à suggérer des sens seconds sous les sens propres, à se peupler d’univers invisibles évoqués par des objets-signes, des pays de nulle part et des lieux insolites.“277 Sowohl Beineix und Besson als auch Carax verleihen der Metro eine semantische Dimension, in der sich stets traditionelle Deutungsmuster, wie ich sie in den Kapiteln 2.2 bis 2.2.4 dargestellt habe, widerzuspiegeln scheinen. Zum einen finden wir wiederholt Anklänge an den Mythos vom Abstieg in die Unterwelt, die wohl nicht eben zufällig mit einer konstanten Assoziation der Metro mit Musik (dem „orphischen“ Element) einhergehen, wie wir an DIVA, SUBWAY und LES AMANTS DU PONT-NEUF gleichermaßen feststellen konnten. Außerdem ist in diesem Kontext der Tod immer wieder gegenwärtig. Am plakativsten findet sich diese Thematik wohl in SUBWAY wieder, wo Freds Abstieg in die Unterwelt schließlich mit seinem Tod endet. Doch auch in LES AMANTS DU PONT-NEUF ist der Tod in 276 277 Vgl. Austin: Contemporary French Cinema, S. 100. Journot: Le courant de „l´esthétique publicitaire“, S. 115. 75 der Metro insofern präsent, als Michèle während einer Fahrt den Mord an ihrem früheren Geliebten Julien imaginiert. Im Übrigen scheint es auch durchaus plausibel, die Metro als todbringendes Symbol für Michèle und Alex zu lesen. Beugnet deutet beispielsweise die Brücke und den Fluss als Symbole für den Übergang in die Unterwelt und verweist zudem auf das ambivalente Ende des Films (beschwört es doch das Bild der mythischen Fahrt über den Styx herauf). Carax lässt offen, ob das Paar tatsächlich in eine gemeinsame Zukunft schippert – oder ob ihr Ende bereits vorgezeichnet ist, „annoncé par le mât de la péniche qui repêche les jeunes gens, et qui se découpe sur le ciel nocturne comme un crucifix.“278 Vor diesem Hintergrund könnte auch die Metro als Vorzeichen des Todes (oder – im übertragenen Sinne – der Endlichkeit ihrer Liebe) verstanden werden, wodurch auch das von Alex gelegte „Höllenfeuer“ eine weitere Bedeutung bekäme. Dies ist sicher eine Lesart, die eine nähere Untersuchung wert wäre. Allerdings scheint sie mir, zumindest im Hinblick auf die Verfolgungsjagd, zweitrangig zu sein, weshalb ich sie in meiner Analyse außen vor gelassen habe. Denn in Zusammenhang mit der Verfolgungsszene fasse ich die Metro in erster Linie als Sinnbild für die von Abhängigkeiten, von Besitzdenken und zerstörerischen Tendenzen geprägte Liebe zwischen Michèle und Alex auf, die sich in der kopflosen Jagd durch das Metrolabyrinth ausdrückt. Dabei offenbart sich die Metro auch als Erinnerungsraum (oder „déclencheur de souvenirs“ im Sinne Marc Augés) und damit als eine Metapher für emotionale Vorgänge – ähnlich wie bereits in LE SAMOURAÏ, wo die Metro ebenfalls zum Sinnbild für die Psyche Jef Costellos wird. Das labyrinthische Moment der Metro wird am eindrücklichsten in DIVA in Szene gesetzt, indem Beineix durch eine diskontinuierliche Montage dem Zuschauer eine Orientierung im Raum unmöglich macht. Und es scheint, als stellte die Metro auch und gerade wegen ihrer labyrinthischen Struktur einen so beliebten Schauplatz für französische Regisseure dar. Als traditionelles Symbol für Übergangsriten kann das Labyrinth (wie in DIVA oder SUBWAY) zum Schauplatz einer Initiation werden. Doch nicht nur das: Durch seine extreme Bedeutungsfülle, die ich in Kapitel 2.2.3 nachzuzeichnen versucht habe, ist in der labyrinthischen Symbolik eine außerordentliche Vielzahl von Ausdrucksmöglichkeiten angelegt. Gleiches gilt für die Metro, die, selbst ein Labyrinth, semantisch fast ebenso „flexibel“ erscheint. Wie die Filmanalysen gezeigt haben, gibt es zwar thematische Konstanten, die immer wiederkehren – Tod, Verbrechen, Zerstörung etc. –, jedoch werden diese in jedem der Filme auf ganz unterschiedliche Weise manifest. Zudem sind es fast immer mehrere mit der Metro assoziierte Themenkomplexe, die in den Filmen jeweils zum Ausdruck kommen und die untereinander immer wieder 278 Beugnet: „Filmer l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 162. Auch Raynalle Udris stellt fest, dass die Interpretation der Schlussszene keineswegs eindeutig ist: „The ambiguity of the last sequence [...] can symbolically be read as death or as rebirth [...]. The couple´s fall into the water and their implausible rescue by a barge sailing towards Le Havre, a seaport whose name signifies ,haven‘, can be read as the final escape from city and a mythical rebirth into love, innocence and freedom.“ Udris: „Countryscape/Cityscape and Homelessness“, S. 48f. 76 Querverbindungen aufweisen. Schlussendlich scheint mir hierin die besondere Attraktivität der Metro für das Kino im Allgemeinen und die filmische Verfolgungsjagd im Besonderen begründet zu sein: Sie bietet, neben einer ästhetisch eindrucksvollen Kulisse und ihrer parcoursartigen räumlichen Organisation, ein schier unbegrenztes Potential, mit Bedeutungen aufgeladen zu werden, und dient damit als nahezu universelle Projektionsfläche. Es bleibt abschließend festzuhalten, dass Verfolgungsjagden im Untergrund selbstverständlich keineswegs ein exklusives Phänomen des französischen Films sind. Gerade im amerikanischen Kino sind Verfolgungsjagden in der Londoner Tube (siehe etwa Paul Greengrass’ THE BOURNE ULTIMATUM von 2007) oder der New Yorker Subway (beispielsweise in William Friedkins FRENCH CONNECTION von 1971) ein mindestens ebenso beliebtes wie konventionelles Motiv. Wie David L. Pike anmerkt, gehört die Hinwendung zum unterirdischen Teil von Städten mittlerweile zu den meist verbreiteten Topoi des Actionfilms und verwandter Genres: „No action movie is complete without a sensational climax in a metropolitan subway, utility tunnel, or sewer, or a showdown in the arch-villain’s subterranean stronghold.“279 Da der Mythos, der die Pariser Metro umgibt, jedoch untrennbar mit der französischen Kultur und ihrem spezifischen Erfahrungshorizont verbunden ist, ergibt sich gerade aus dem Gegensatz „universeller Topos“ vs. „nationales Spezifikum“ eine weiterführende piste à suivre: Ein Vergleich mit U-Bahn-Verfolgungsjagden etwa des amerikanischen Kinos könnte Aufschluss darüber geben, inwieweit sich die Pariser Metro als filmischer Schauplatz von anderen Untergrundbahnen im Film unterscheidet – letztendlich: ob sich eine ähnliche Bedeutungsfülle auch an anderen Untergrundbahnen feststellen ließe oder ob diese tatsächlich spezifisch für die Pariser Metro als Schauplatz im französischen Film ist. 279 Pike: Subterranean Cities, S. 1. 77 LITERATURVERZEICHNIS AGEL, Henri: L’espace cinématographique (Encyclopédie universitaire), Paris: Delarge 1978 AUGÉ, Marc: Un ethnologue dans le métro, Paris: Hachette 1986 AUGÉ, Marc: Non-lieux. 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Quelle: BOBRICK: Labyrinths of Iron, S. 166 S. 17 Abb. 3 Litographie „Orpheus Ascending“ von Jan Balet. Quelle: BOBRICK: Labyrinths of Iron, S. 168 S. 18 Abb. 4 Screenshot aus LE SAMOURAÏ S. 31 Abb. 5 Screenshot aus LE SAMOURAÏ S. 34 Abb. 6 Screenshot aus LE SAMOURAÏ S. 34 Abb. 7 Screenshot aus LE SAMOURAÏ S. 35 Abb. 8 Screenshot aus LE SAMOURAÏ S. 36 Abb. 9 Screenshot aus LE SAMOURAÏ S. 38 Abb. 10 Screenshot aus LE SAMOURAÏ S. 39 Abb. 11 Screenshot aus PEUR SUR LA VILLE S. 43 81 Abb. 12 Screenshot aus PEUR SUR LA VILLE S. 44 Abb. 13 Screenshot aus PEUR SUR LA VILLE S. 45 Abb. 14 Screenshot aus SPIDER-MAN 2. Quelle: Sam RAIMI: SPIDER-MAN 2. DVD, 122 Min., München: Columbia TriStar Home Entertainment 2004 S. 47 Abb. 15 Screenshot aus DIVA S. 52 Abb. 16 Screenshot aus DIVA S. 53 Abb. 17 Screenshot aus DIVA S. 53 Abb. 18 Screenshot aus DIVA S. 54 Abb. 19 Screenshot aus SUBWAY S. 60 Abb. 20 Screenshot aus LES AMANTS DU PONT-NEUF S. 67 Abb. 21 Screenshot aus LES AMANTS DU PONT-NEUF S. 68 Abb. 22 Screenshot aus LES AMANTS DU PONT-NEUF S. 68 Abb. 23 Screenshot aus LES AMANTS DU PONT-NEUF S. 70 Abb. 24 Screenshot aus LES AMANTS DU PONT-NEUF S. 71 Abb. 25 Screenshot aus LES AMANTS DU PONT-NEUF S. 72 82