positionen pdf - GDV Positionen

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positionen pdf - GDV Positionen
#1_2016
ZUKUNFT
Warum die Welt von morgen
anders aussieht als erwartet
TELEMATIK
DAS MAGAZIN DER DEUTSCHEN VERSICHERER
Wer besonnen Auto fährt,
spart an der Kfz-Prämie.
Lohnt das?
MEHR
LEISTUNG
Versicherer erstatten nicht nur Schäden.
Wie die Branche ihren Kunden in allen
Lebenslagen beisteht - und mit einem
kleinen Stecker Autofahren sicherer macht
WIE WIR
KOMPLIZIERTES
EINFACH
MACHEN
Nachrichten
............................................................................ 04
TITEL
Assistance: Versicherungen helfen nicht
nur mit Geld. Ob Pannenhilfe nach einem
Unfall, ärztliche Betreuung auf einer Reise
oder kostenloser Schlüsseldienst: Die Zahl
solcher „Assistance“ genannten Leistungen
wächst rasch – noch schneller allerdings die
Nachfrage ................................................................................. 08
Abgeschleppt: Unterwegs in Berlin mit
Pannenhelfer Vasco Werner von der
„Silbernen Flotte“................................................................ 10
Tendenz steigend: Wie Robert SchmidtThomé in Passaus Altstadt Barockbauten
vor dem nächsten Hochwasser schützt ...... 15
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
EDITORIAL
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
als 1956 auf der Polizeiausstellung in
Essen die Notrufsäule als „eiserner
Schutzmann“ präsentiert wurde,
hatten die wenigsten deutschen
Haushalte ihr eigenes Telefon. Auch
deshalb schien die Idee, an den
Straßen Notrufsäulen aufzustellen,
logisch. Und so gab es bald flächendeckend 30.000 hellgrüne Säulen.
Heute fährt in fast jedem Fahrzeug
ein Handy mit. Doch damit wird die
Notrufsäule keineswegs überflüssig.
Sie braucht nur ein Update.
Ich freue mich, dass wir Ihnen
mit Erscheinen dieser Ausgabe
den Unfallmeldedienst vorstellen
können – quasi die Notrufsäule 4.0
in Form eines Steckers für die
12-Volt-Buchse in Ihrem Auto. Der
Stecker ist Ihre Schnittstelle zu
unserem Unfallmeldedienst. Und
dieser Service verbindet gleich
mehrere Eigenschaften, die uns als
Versicherer auszeichnen: Längst
spannen wir weit mehr als nur
ein finanzielles Sicherheitsnetz.
Wir haben uns zu Dienstleistern
entwickelt, die als erster Ansprechpartner für unsere Kunden in
kleinen und großen Notlagen direkt
Hilfe organisieren. Welch breites
Spektrum diese Assistance-Leistungen haben, lesen Sie in der Titelgeschichte: von der Hilfe bei der
Autopanne über die spezialisierte
Betreuung von Schwerverletzten
bis hin zur Schadenprävention.
Der Unfallmeldedienst zeigt
beispielhaft, welche Chancen uns
die digitale Vernetzung bietet.
Wir nutzen ihre Werkzeuge, um
Ihr Leben sicherer zu machen. Ob
Smart Home, autonomes Fahren
oder Industrie 4.0: Wir Versicherer
können Ihnen noch mehr Dienste
und Leistungen anbieten als bisher.
Für Sie als Kunden wird es
bequemer und einfacher. Wir
Versicherer leisten im Hintergrund
zusammen mit einem großen Netz
von Partnern die komplexe Logistik
dahinter. Unser Bestreben ist, das
Komplizierte für Sie einfach zu machen – und gerade in den wirklich
kniffligen Momenten für Sie da zu
sein. Daran arbeiten wir jeden Tag.
ALEXANDER ERDLAND,
Präsident des GDV
Anruf genügt: Unsere Infografik zeigt, wo
und wie die Assistance der Assekuranz
überall aktiv wird ............................................................... 16
So schnell kommt Hilfe: Der neue Unfallmeldestecker der deutschen Versicherer
alarmiert sofort die Notrufzentrale ...............18
Verortet: Sind die Erwerbstätigen in
der Versicherungswirtschaft eher
selbstständig oder angestellt? Kommt
darauf an, wo sie wohnen .......................................... 21
ERFINDEN
Insolvenzanfechtung: Wer sich kulant zeigt
bei Rechnungen, muss das Jahre später
oftmals büßen – falls der Geschäftspartner
nämlich pleitegeht ........................................................... 22
Pro und Contra: Ist die „Deutschland-Rente“
die bessere private Altersvorsorge? ............. 25
»ALS JUNGER
MENSCH HABE ICH AN
VIELEM GEZWEIFELT,
NICHT ZULETZT
AN MIR SELBST.
HEUTE SAGE ICH:
ES KOMMT,
WIE ES KOMMT.«
GÜNTHER ANTON KRABBENHÖFT,
70, früher Koch, heute Stilikone
02 / 03
SCHÜTZEN
Angst vor Einbrechern: Absolute Sicherheit
gibt es nicht. Daran wird alle Elektronik
nichts ändern, sagt Stefan Fischbach,
Deutschland-Chef des Schlossherstellers
Assa Abloy. Das Interview ........................................ 26
Um den Globus: In Kenia versichern sich
bislang nur wenige Menschen. Und wenn,
dann gern übers Handy .............................................. 29
Telematiktarife: Immer mehr deutsche
Versicherer bieten günstigere Tarife für
Autofahrer, die ihre Fahrweise elektronisch
überwachen lassen ..........................................................38
Solvency II: Das neue Aufsichtswerk der
Branche fängt an zu greifen .................................. 42
Kolumne: Chinas Wirtschaft mag wanken,
aber sie fällt nicht, schreibt Klaus Wiener ... 46
08
I n h a lt
REGELN
Hilfe im Notfall: Wer auf einer Reise verunglückt und
einen Schutzbrief hat, wird von seinem Versicherer nach
Hause geholt – und das ist nur eine der vielen AssistanceLeistungen der deutschen Assekuranz.
Versicherung fährt mit: Neue Telematiktarife einiger
deutscher Versicherer belohnen rücksichtsvolles
Fahrverhalten. Wir zeigen, wie das technisch funktioniert und für wen sie sich lohnen.
38
Zahlen bitte: Wie sich die Assekuranz in
einem schwierigen Umfeld behauptet .........47
Die schönste Versicherungssache der Welt:
Ein echter Tyrannosaurus Rex ........................... 48
35
Generationen
im Gespräch:
Die deutschlandweit bekannte
Stilikone Günther
Anton Krabbenhöft (70) und
Jannik Sührig (29)
erzählen, was sie
von der Zukunft
erwarten.
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
Du lebst 7 Jahre länger, als du denkst – die
Serie zur laufenden Initiative der deutschen
Versicherer übers Älterwerden: Diesmal
wagt „Positionen“ einen Blick in die
Zukunft. Und lässt sich erzählen, wie
anders als erwartet sich die persönliche
Zukunft häufig entwickelt – zum Glück! ...30
IHR NEUER KOLLEGE?
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
N ac h R i c h t e N
Die Roboter kommen und werden dem Menschen
immer ähnlicher – ohne Risiko sind sie deshalb längst nicht.
Der Mann mag keine Roboter. Mit einem Eishockey­
schläger haut er dem Roboter Atlas einen Karton aus den
Armen, anschließend schubst er den 1,75 Meter großen
und 80 Kilo schweren Androiden, sodass der in die
Knie geht und dann der Länge nach hinschlägt.
Mehr als 14 Millionen Mal ist das Video bereits
geklickt worden. Nicht wegen der rüden Um­
gangsformen, sondern wegen der eindrucks­
vollen Fähigkeiten des Roboters, sich nach dem
Schubser umgehend wieder aufzurappeln – mit
einer Motorik, die der eines Menschen auf fast
schon unheimliche Weise ähnelt. Das Video der
Google­Tochter Boston Dynamics wirft ein
Schlaglicht auf den Stand der Roboterent­
wicklung, der auch im April auf der
Hannover Messe zu besichtigen sein
wird. Auf der weltgrößten Industrie­
schau präsentieren führende Hersteller
wie Fanuc, Güdel und Kuka die neuesten
Modelle einer Robotergeneration, mit der
eine neue Ära der Automatisierung in den
Werkhallen begonnen hat.
Nach Schätzungen der International Fede­
ration of Robotics (IFR) werden bis 2018 rund 1,3
Millionen Industrieroboter in den Fabriken der Welt
arbeiten. Die aktuellen IFR­Statistiken weisen für 2014
einen Rekordzuwachs von 43 Prozent im Vergleich zum
Vorjahr auf. Spitzenreiter bei der Automatisierung
ist derzeit Südkorea. Mit 292 Robotern pro 10.000
Arbeitnehmer liegt Deutschland hinter Japan auf dem
dritten Rang. „Der Roboter­Boom markiert einen wich­
tigen Meilenstein für die Verwirklichung der vierten
industriellen Revolution“, sagt IFR­Präsident Joe Gemma.
Denn Roboter sind keine klobigen Ungetüme mehr,
programmiert auf die immer gleichen Arbeitsabläufe.
Künftig arbeiten Mensch und Maschine nicht durch Zäune
getrennt, sondern Seite an Seite. Als flexibel einsetzbare
Partner in der Produktion stellen sich die Roboter schnell
auf wechselnde Anforderungen ein. Sie erkennen, wie
Menschen Bauteile in der Produktion zusammensetzen,
und können die Vorgänge dann selbstständig nachbilden.
Dank moderner Sensorik weichen die kollaborativen
Automaten ihren menschlichen Kollegen so aus, dass
Verletzungen vermieden werden. Neue Sicherheitsricht­
linien helfen den Unternehmen bei der Risikoanalyse.
Und mit justierbaren Sicherheitsfunktionen lassen sich
Position und Kraft der Roboter sowie die Geschwindigkeit
der Gelenke passgenau einstellen. Und sollte doch etwas
schiefgehen, greift die Maschinenversicherung – tatsäch­
lich die immer noch zuständig, ist, auch für diese moder­
nen Roboter.
»DER
ROBOTER-BOOM
MARKIERT EINEN
MEILENSTEIN.«
JOE GEMMA,
PRÄSIDENT DES
ROBOTIKVERBANDS
IFR
Hannover
Messe
25.–29.4.
2016
Gestatten, der
neue Kollege:
Atlas-Roboter
von Boston
Dynamics.
04 / 05
DIE GLOBAL STÄRKSTEN MARKEN
Das deutsche Rentensystem ist zwar
gerecht und praktikabel, aber wenig
zukunftstauglich. Ohne signifikante
Reformen werde es zusammenbrechen, warnt der aktuelle „Melbourne
Mercer Global Pension Index“, der
Rentensysteme in 25 Staaten weltweit vergleicht. Zwei Auswege schlagen die Studienautoren vor: mehr
private Vorsorge und einen späteren
Wechsel in die Rente.
In vielen Ländern verabschieden
sich die Menschen früh vom Arbeitsmarkt. In Polen und Frankreich etwa
arbeitet nicht einmal die Hälfte der
Menschen nach ihrem 55. Geburtstag – was die Rentensysteme stark
belastet. Als Gegenentwurf zeigt
Schweden, was möglich ist: Der Anteil
der arbeitenden Menschen über 55
Jahren dort liegt bei 77,3 Prozent.
Zum Vergleich: Deutschland kommt
auf etwa 66 Prozent, leicht steigend.
„Mehr als 70 Prozent sind überall
erreichbar“, heißt es in der Studie,
„das würde die Nachhaltigkeit vieler
Rentensysteme verbessern.“
Fast alle Systeme stehen vor
ähnlichen Herausforderungen durch
mehr alten Menschen und einer steigenden Staatsverschuldung, kombiniert mit ökonomischen Unsicherheiten in einer Niedrigzinsphase. Auch
deshalb sehen die Studienautoren
des Australian Centre for Financial
Studies „einen globalen Trend, die
Eigenverantwortung in den Vordergrund zu rücken“.
2016
2015
Versicherungsname
Land
1
2
3
4
1
2
5
4
Allianz
AXA
China Life Insurance
Ping An
Deutschland
Frankreich
China
China
5
6
7
8
9
10
11
12
3
7
11
8
9
14
6
12
Generali
Nippon Life
Allstate
Zurich
MetLife
Dai-Ichi Life
Prudential
Aviva
Italien
Japan
USA
Schweiz
USA
Japan
Großbritannien
Großbritannien
MUSTER-SCHÜLER
Die Assekuranz ist deutschlandweit Vorreiter
beim Nutzen von Datenanalysen.
62 %
der Versicherer
ziehen konkreten
Nutzen aus
Datenanalysen.
49 %
der Versicherer
nutzen Datenanalysen, um den
Kontakt zu ihren
Kunden zu stärken.
Computer denken anders. Wenn sie riesige
Datenmengen auswerten, erkennen sie Muster.
Wie diese Muster zu deuten und zu nutzen sind,
das ist wiederum Aufgabe der Menschen. Hier
ist Können gefragt, und das kann die deutsche
Versicherungswirtschaft vorweisen. Der Report
„Mit Daten Werte schaffen“ der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG und Bitkom Research
sieht die Assekuranz als „Vorreiter“, gemeinsam mit Autobau und Logistik. Bereits 62 Prozent der Versicherer zögen konkreten Nutzen
aus Datenanalysen, heißt es im Report, und 21
Prozent nutzten dabei bereits fortgeschrittene
Analysemethoden. „Lediglich bei der Analyse
von Kundendaten sind die Versicherungen noch
zurückhaltend“, sagt KPMG-Partner Frank Ellenbürger: Nur 49 Prozent nutzten Datenanalysen,
um den Kontakt zu ihren Kunden zu stärken. Hier
sieht Ellenbürger noch Potenzial, nicht zuletzt
durch „individuellere Produktgestaltung mithilfe
von beispielsweise Telematik-Daten sowie die
mobile Echtzeit-Interaktion mit Kunden“.
N aC h R i C h t E N
DIE ZUKUNFT
WIRD
ARBEITSAM
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
Wie lässt sich das deutsche Rentensystem retten? Mit privater Vorsorge
und längerer Lebensarbeitszeit.
Eine starke Marke zieht Kunden an und bindet sie – das gilt ebenso für
die Mitarbeiter. Marken strahlen nach außen und nach innen, als Essenz
des Unternehmens. Glaubwürdigkeit und Fairness sind dabei zwei der
zentralen Faktoren, die in der Versicherungsbranche über den Wert
einer Marke bestimmen. Diesen „Wert“ auch für die Assekuranz in Dollar
umzurechnen ist eine Aufgabe, der sich die britischen Marktforscher bei
Brand Finance seit zwei Jahrzehnten widmen. Unter den weltweit 50 Versicherern mit dem höchsten Markenwert tauchen gleich vier deutsche
Unternehmen auf, und eines davon besetzt 2016, wie schon im Vorjahr,
die Spitze: die Allianz mit 20,26 Milliarden Dollar. Die anderen deutschen
Versicherer in den Top 50 sind Munich Re auf Platz 23, Ergo auf Rang 31
und Hannover Re, der auf den 48. Platz aufgestiegen ist.
DIE ARBEIT FÄLLT NICHT WEG,
SIE WIRD NUR ANDERS
vom Arbeitgeberverband der
Versicherer über Automatisierung – und warum
die Assekuranz spannende Karrieren ermöglicht.
MICHAEL NIEBLER
Neu im Vorstand der R+V:
Personalchefin Julia Merkel
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
N AC H R I C H T E N
FRAUEN IN
DER SPITZE
Wer im Finanzsektor nach Frauen
in Spitzenpositionen sucht, wird
eher bei der Assekuranz als bei den
Banken fündig. In den Vorständen
der 60 größten Versicherer betrug
Ende 2014 der Frauenanteil 8,5 Prozent und hat sich damit binnen
fünf Jahren verdreifacht, während
die Quote bei den Finanzinstituten
nur 6,7 Prozent beträgt. In den
Aufsichtsräten ist der Frauenanteil
deutlich höher und liegt sowohl bei
Banken und Sparkassen als auch bei
Versicherern knapp unter 20 Prozent – mit steigender Tendenz, wie
das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung berechnet hat.
DIE LAST DER
PENSIONEN
Bund und Ländern fehlt es
an Geld, um Staatsdiener
nach deren Wechsel in den
Ruhestand zu bezahlen.
Die Ratingagentur Moody’s
spricht von einer „größeren
finanziellen Herausforderung“. Allein der Bund muss
528 Mrd. Euro an Pensionsund Beihilfeverpflichtungen
abdecken, hat dafür aber nur
2%
der Verpflichtungen, das sind
10,3 Milliarden Euro, als Rücklage.
Wie meistern Angestellte die digitale
Herr Niebler, jeder vierte Arbeitsplatz
Transformation ihrer Arbeitsprozesse? in Westeuropas Assekuranz werde bis
2026 gestrichen, vor allem im InnenMN: Die berufliche Weiterbildung hat
dienst würden Stellen wegfallen, so
in der Versicherungswirtschaft einen
lautet eine schockierende Prognose
besonders hohen Stellenwert. Die
der Unternehmensberatung McKinsey.
Unternehmen investieren viel Geld in
Macht Ihnen dieses Szenario Angst?
die Qualifizierung ihrer Mitarbeiter.
Nach unseren aktuellsten Zahlen bilMICHAEL NIEBLER: Dieses Horrorgedet sich jeder Innendienstmitarbeiter
mälde deckt sich nicht mit meiner
durchschnittlich 58 Stunden pro Jahr
Einschätzung. Im Innendienst zählen
weiter – das sind 25 Stunden mehr als
wir in Deutschland seit 2009 nahezu
in der deutschen Gesamtwirtschaft.
konstant rund 160.000 Angestellte.
Hier sind wir Vorreiter!
Was sich seitdem geänWie sieht es beim Außendert hat, ist die Struktur
dienst aus? Verdrängen
der Belegschaft. Einfache
Online-Angebote die perTätigkeiten fallen durch
sönliche Beratung?
Automatisierung und Digitalisierung weg – dieser
MN: Junge Deutsche wollen
Trend wird sicher anhaleher digital als persönlich
ten. Parallel werden die
mit Versicherern kommuAufgaben für Spezialisten
nizieren, das besagen zuoftmals ausgebaut – auch
mindest diverse Studien.
Michael Niebler ist
das wird so weitergehen.
Aber das eine schließt das
Geschäftsführendes
Die Versicherer beschäfandere nicht aus. NatürVorstandsmitglied
tigen derzeit insgesamt
lich soll jeder Kunde die
vom Arbeitgeberverband der Versiche210.000 Angestellte. Wie
gewünschte Police so abrungsunternehmen in
viele davon bleiben in zehn
schließen und einen SchaDeutschland (AGV)
Jahren übrig? den so regulieren können,
wie er das will. Aber es liegt auf der
MN: Laut McKinsey wären es nicht einHand, dass der Kunde oftmals seinen
mal 160.000. Ich rechne hingegen mit
Schaden zunächst per Mail melden
180.000 bis 190.000 Beschäftigten.
und bei Problemen gern persönlichen
Das entspricht einem jährlichen PerKontakt zu einem Sachbearbeiter aufsonalabbau von durchschnittlich ein
nehmen möchte. Kunden werden die
bis eineinhalb Prozent. Mehr ArbeitsKommunikation selbst steuern – die
plätze gehen nicht verloren, davon bin
Assekuranz muss deshalb auf allen
ich überzeugt.
Wegen ansprechbar sein. Entschei Was bedeutet das für die verbleibendend wird sein, den direkten Zugang
den Mitarbeiter? Bahnt sich für sie
zum Kunden zu behalten.
eine massive Umstrukturierung ihrer
Mit welchen Argumenten würden Sie
Arbeitsprozesse und -umgebung an? junge Menschen heute von einem Job
MN: Die Hierarchien wurden ja schon
bei einem Versicherer überzeugen? flacher, aber da kann man sicher noch
mehr machen. Die klassische FühMN: Mit der Vielfalt, die wir bieten.
rung ist in vielen Bereichen auf dem
In kaum einer anderen Branche sind
Rückzug, die Vernetzung auf dem
so viele Berufe zu Hause wie in der
Vormarsch. In etwa der Hälfte der
Assekuranz. Und wer bei der Arbeit
Versicherungsunternehmen können
ein gewisses Maß an persönlicher
die Mitarbeiter bereits im Homeoffice
Freiheit schätzt und individuelle Förarbeiten.
derung sucht, der ist bei uns richtig.
06 / 07
GRAPH ZAHL
WAS BLEIBT
5
MRD. DOLLAR
Im August 2015 explodierte ein Lagerhaus im Hafen von Tianjin.
Der Schaden ist immens.
DAS DESASTER
Mehr als fünf Milliarden Dollar Schaden: Wie eine
explodierende Halle in einer chinesischen Stadt
die Versicherungswirtschaft herausfordert.
Die Feuerwehrleute richten ihre Wasserkanonen auf die brennende
Halle – und plötzlich fliegt alles in die Luft. Häuser stehen in Flammen,
Autos brennen aus, noch drei Kilometer entfernt bersten die Fenster.
Mehr als 100 Menschen sterben, der Hafen der chinesischen Hafenstadt
Tianjin sieht am Morgen nach dem 12. August 2015 aus, als wäre ein
Krieg ausgebrochen – ein chemischer Krieg. Wie sich herausstellte, waren im explodierten Lagerhaus giftige Chemikalien gelagert, allein 700
Tonnen hochgiftiges Natriumcyanid. Die Chemikalien werden von der
Luft fortgetragen oder sickern in den Boden ein. Auch deshalb lässt sich
der Schaden bestenfalls schätzen.
Genau das hat der Internationale Transportversicherungsverband IUMI
getan: Tianjin wird die Assekuranz mehr als 5 Milliarden Dollar kosten.
Asienweit ist das der höchste je von Menschen verursachte Schaden.
Türkei ....................................................................... 104,8
Niederlande ...........................................................95,7
Österreich ............................................................... 91,6
Spanien .................................................................... 89,5
Italien ......................................................................... 79,7
Frankreich ............................................................... 67,7
Dänemark ............................................................... 66,4
Tschechische Republik ....................................63,8
Belgien ..................................................................... 60,9
Australien ............................................................... 58,0
Deutschland ......................................................... 50,0
USA ............................................................................ 44,8
Kanada ...................................................................... 42,9
Japan ......................................................................... 40,4
Großbritannien ................................................... 38,3
Mexiko ...................................................................... 28,4
Das Niveau sinkt
Verhältnis staatlicher Renten zu Löhnen
2060 im Vergleich zu 2013
(Veränderung in Prozentpunkten)
Luxemburg ............................................................. +2, 1
Belgien ...................................................................... -0,7
Niederlande ............................................................ -1,7
Irland ........................................................................... -1,8
Litauen ........................................................................ -2, 1
Großbritannien ..................................................... -2,5
Tschechische Republik .....................................-3,3
Österreich .............................................................. -4, 1
Malta ........................................................................... -4,2
Dänemark ................................................................. -7,4
Deutschland ........................................................... -7,4
Italien ......................................................................... -8, 1
Finnland .................................................................... -8,3
Frankreich .............................................................. -12,4
Schweden ............................................................... -15,8
Spanien .................................................................... -19,9
Quelle: OECD; Europäische Kommission
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
Höhe der staatlichen Nettorente
von Normalverdienern
anteilig zum früheren Nettolohn
(in Prozent)
N AC H R I C H T E N
Uns Deutschen geht es gut, deshalb blicken
wir bei internationalen Vergleichstabellen
gern nach oben, wo die Besten stehen.
Wer sich jedoch im OECD-Rentenreport
anschaut, wie viel Prozent vom Lohn später
als Rente ausgezahlt wird, sucht Deutschland
dort vergeblich. Selbst dieser bescheidene
Anteil wird noch sinken, wie die Europäische
Kommission errechnet hat.
TITEL
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
ASSISTANCE
STABILE
SEITENLAGE
Ob unterwegs oder zu Hause: Wenn irgendwo
etwas schiefgeht, sorgt die Assistance der Versicherer
mit ihren Leistungen dafür, dass es weitergeht.
TEXT: HENNING ENGELAGE
08 / 09
ls sie wieder zu sich kommt, weiß
Astrid Kuhn nicht wo sie ist. Nur
dass sie kaum Luft kriegt. Dann
packt sie der Schmerz. Und die
Erinnerung: Eben noch war
sie am Edersee entlanggefahren, mit gemütlichen 80 Stundenkilometern
auf ihrer Honda CGF 600 durch den hessischen
Spätsommer. Bis ein Baumarkt-Lastwagen aus
dem Gegenverkehr direkt in ihre Spur wechselte
und sie selbst 50 Meter durch die Luft flog.
Als sie das zweite Mal wach wird, liegt
Astrid Kuhn (Name geändert) auf der Intensivstation. Dass sie überhaupt überlebt hat, nennt sie
heute „wahnsinniges Glück“, auch wenn ihr zerfetzter Unterschenkel in einer siebenstündigen
Notoperation amputiert werden musste. Nach
drei Wochen wird Kuhn entlassen, trotz anhaltender Schmerzen im Knie. Ihr Anwalt schließt sich
kurz mit dem gegnerischen Kfz-Haftpflichtversicherer, der wiederum schaltet einen Reha-Dienstleister ein. Dessen Auftrag: die Patientin so weit
und so schnell wie möglich zurück in ein möglichst beschwerdefreies Leben zu begleiten.
Solche Dienstleister sind nicht die einzigen
Helfer, die von Versicherern beauftragt werden,
um ihren Kunden zu helfen. Die Palette ist bunt
und reichhaltig, sie umfasst Tausende von Dienstleistungen. Die Assekuranz sorgt für Klempner,
Handwerker, Putz- und Abschleppdienste oder
organisiert Krankentransporte in einem Spezialabteil im Jumbojet (siehe auch die Infografik auf
Seite 16/17). Und wenn es wie bei Astrid Kuhn
›
nötig und sinnvoll ist, beauftragt der Ver-
TiTel
10 / 11
sicherer durch das Reha-Management einen persönlichen
Lotsen durch das Gesundheitssystem.
Hilfe ist mehr als das Zahlen einer Entschädigungssumme. Das haben die Versicherer erkannt – und sie setzen diese Erkenntnis konsequent um. Viele Policen bei
Auslandsreise-, Unfall-, Hausrat-, Wohngebäude- oder KfzVersicherungen bieten heute als Zusatzbausteine sogenannte Assistance-Dienstleistungen an – „Assistance“
wird dabei französisch ausgesprochen. Dann wird ein Mietwagen organisiert, der Kammerjäger gerufen oder ein Arzttermin im Ausland vereinbart – bezahlt von der eigenen
Versicherung. Deshalb sind es meist die Versicherten selbst,
die zusätzliche Leistungen aus ihrem Vertrag einfordern.
Dafür genügt der Griff zum Telefon.
Sieben Millionen Anrufe gehen jährlich in den ServiceCentern der Assisteure ein. Weil der Wagen auf der Autobahn liegen geblieben ist, ein Rohrbruch die Wohnung unter
Wasser gesetzt oder der Safari-Jeep sich überschlagen hat –
die gebrochenen Knochen mögen doch bitte in Deutschland
behandelt werden. Im Schnitt klingelt das Telefon bei den
Assisteuren alle fünf Sekunden.
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
Ein Anruf, und Hilfe kommt
Etwa bei Sebastian Braeuer. Der 32-Jährige arbeitet im
Schichtdienst in Neuss bei der Deutschen Assistance, dem
Dienstleister der öffentlichen Versicherer. Sein Gebiet:
Auslandsreisekrankenversicherung. Die Anrufer sind
meist aufgewühlt, weil sie vielleicht selbst schwer erkrankt
sind oder die Gattin einen lebensbedrohlichen Unfall hatte.
„Man muss sehr feinfühlig in den Gesprächen sein“, erzählt
Braeuer. Gleichzeitig muss er strukturiert nachfragen, um
vom Menschen am anderen Ende der Leitung alle wichtigen Informationen zu erhalten: Wo ist der Versicherte?
Wie geht es ihm? Was soll der Assisteur tun? Bei wem ist
der Versicherungsnehmer überhaupt versichert? Diese
Informationen tippt er schon während des Gesprächs in
die Computermaske ein. „Wir müssen aufpassen, dass wir
alle wichtigen Informationen vom Anrufer bekommen.“
Für die Anrufer ist Braeuer „die Versicherung“, auch
wenn die Assistance-Dienstleister meist als unabhängige
Gesellschaften organisiert sind. Dabei spielt es keine Rolle,
ob sie nur für einen oder mehrere Versicherer tätig sind.
„Hier übernehmen wir für den Versicherer die komplette
Außenkommunikation“, sagt Braeuer.
Wenn er den Hörer auflegt, fängt der zweite Teil seiner
Arbeit an: Ärzte müssen nach Befunden befragt, Dienstleister oder Fluggesellschaften kontaktiert und Angehörige
informiert werden. „Ich glaube, die meisten Menschen können sich gar nicht vorstellen, was für ein Aufwand hinter
solchen Leistungen steckt“, sagt Braeuer. Im Idealfall bekommen die Versicherten davon gar nichts mit, weil alles
reibungslos läuft. Das Resultat für die Assekuranz: ein guter
Ruf als Helfer im Schadenfall, der schnell und unbürokratisch agiert. Und das allein im Jahr 2014 rund 2,3 Millionen
Mal.
›
1 Million
»UND JETZT SCHIEBEN!«
Schutzbrief für Autofahrer
M
ühsames Röcheln. Und noch mal, bis das Röcheln
erstirbt. Leichte Diagnose für Vasco Werner: Der
Motor des betagten Opel Astra springt nicht mehr
an, weil der Anlasser kaputt ist. Werner klemmt
sich hinters Steuer und macht den Besitzern Beine: „Und jetzt
schieben!“ Das Auto bockt kurz auf, dann brüllt der Motor los.
„Jetzt direkt in die Werkstatt fahren – und bloß nicht den Motor zwischendrin ausstellen“, gibt Werner den Eheleuten noch
mit auf den Weg.
Routine für Werner. Seit zwei Jahren rollt der 33-Jährige
mit seinem Wagen des Abschleppdiensts Rudolph auf Berliner Straßen. Er gehört zu den bundesweit 3100 Unfall- und
Pannenhelfern, die im Dienst von Assistance Partner unterwegs
sind – einem Joint Venture von mehreren Notrufdienstleistern
der Assekuranz. Das Markenzeichen der 1750 Fahrzeuge ist ihre
silberne Außenhaut mit dem neonorangefarbenen „A“. In der
„silbernen Flotte“ der Assistance Partner sind 490 Abschleppunternehmen unterwegs, und sie sind keineswegs die einzigen.
Andere Versicherer setzen auf ein eigenes Netz an Dienstleistern und beauftragen die Abschleppunternehmen direkt. So
oder so: Wenn ein Autofahrer anruft, kommt umgehend Hilfe
– meist innerhalb einer Stunde.
Pannenhilfe ist zumindest ein Teil des Schutzbriefs, den
bundesweit 26,7 Millionen Autofahrer als Zusatzbaustein zu
ihrer Kfz-Versicherung abgeschlossen haben. Für die Helfer
heißt das: Dauerbereitschaft. Werner muss jetzt nach Kreuzberg, wieder will ein Wagen nicht anspringen, ein Mini in einer
Tiefgarage. Nach 20 Minuten ist Werner vor Ort und schließt
einen Startbooster an, prompt regt sich der Motor. Die Ursache
für den Blackout ist schnell gefunden: Das Standlicht war an.
Nicht immer kann Werner helfen. Am Vortag war er zu
einem Unfall gerufen worden. Ein alter Honda war so schwer
beschädigt, dass keine Werkstatt etwas
hätte retten können. Werner versuchte,
die Besitzer aufzuheitern: „Ich habe eine
gute und eine schlechte Nachricht“, setzte
er an. „Die gute: Es regnet nicht. Die
schlechte: Ihr Auto ist Schrott.“ Die
letzte Fahrt des Hondas führte auf
dem Plateau von Werners Abschleppwagen zum Verwerter.
Vor allem in der Urlaubszeit reiht sich Einsatz an Einsatz. „Und jeder ist anders“,
sagt Werner. Im Jahr 2014
haben die Assisteure für die
deutschen Kfz-Versicherer
fast 700.000-mal Fahrzeuge
abgeschleppt oder Pannenhilfe
geleistet. 77.000-mal organisierten
sie einen Mietwagen, rund 30.000-mal
wurden Fahrzeuge und Personen über
längere Distanzen zurücktransportiert.
An diesem Tag bleibt der große
Stress aus. Bis seine Schicht um 15.30
Uhr endet, fährt Vasco Werner vier
Einsätze – weniger als sonst. Kein Tag,
an den sich Werner lange erinnern wird –
anders als die Menschen, denen er
geholfen hat.
Tagesgeschäft: Hier räumt
Vasco Werner einen abgebrannten
Pkw von der Straße.
Vasco Werner,
Pannenhelfer
TiTel
›
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
»ICH HABE
EINE GUTE UN
D
EINE SCHLECH
TE
NACHRICHT. D
IE GUTE:
ES REGNET NIC
HT.
DIE SCHLECHT
E: IHR
AUTO IST SCHR
OTT.«
TiTel
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
Am häufigsten rufen Autofahrer an. „Der
Kfz-Schutzbrief ist mittlerweile eine bekannte
Zusatzleistung bei vielen Kfz-Versicherern“, sagt
Olaf Lietzau, zuständiger Abteilungsdirektor bei
den VGH Versicherungen. 26,7 Millionen Versicherte in Deutschland haben solch einen Schutzbrief abgeschlossen. „Die Kunden schätzen vor
allem, dass sie bei einer Panne oder einem Unfall
mit einem Anruf direkt Hilfe von ihrem Versicherer bekommen.“ Im Schnitt rund 2400-mal am
Tag werden die Kfz-Assisteure aktiv – egal ob es
sich um Starthilfe vom Pannendienst oder einen
Rücktransport handelt, falls der Camper in Italien
schlappmacht. Alles vom Schutzbrief abgedeckt –
ebenso wie vieles andere. Gestrandete Autofahrer
erhalten kostenlos einen Mietwagen oder können
im Hotel übernachten.
Damit bei Pannen fern der Heimat Auto und
Fahrer schnell zurückkehren, haben die Versicherer ein europaweites Netzwerk von rund
7000 Abschleppfirmen aufgebaut. Bei schweren
Erkrankungen oder Unfällen im Ausland sorgen
die Assisteure für den Rücktransport der Versicherten – auch wenn sie dort nicht mit dem Auto
unterwegs waren. Etwa 150 Millionen Euro geben allein die deutschen Versicherer jährlich für
Kfz-Assistance-Leistungen aus.
In diesem Jahr wird der Service um den Unfallmeldestecker (siehe Seite 18) erweitert. Der
Stecker im Auto und die passende heruntergeladene App auf dem Handy sorgen bei einem Crash
dafür, dass über eine Notrufzentrale sofort Kontakt aufgenommen wird – und der Rettungswagen die exakte Position kennt, damit er bei Bedarf
unverzüglich losfahren kann.
Unfall während
der Reise? Assis‑
teure sorgen für
den Rücktransport
in die Heimat.
Assisteure übernehmen das Putzen
Auch Unfallversicherer bieten immer mehr Assistance-Leistungen an. Dazu gehört etwa der
Einkaufsservice, falls jemand wegen eines gebrochenen Beines nicht mehr in den Supermarkt
gehen kann, oder die Begleitung zum Arzt oder
auf Behördengänge. Oder die Unterbringung des
Hundes in einer Hundepension, während Herrchen oder Frauchen im Krankenhaus liegt.
Für ältere Menschen sei entscheidend, dass sie den Alltag zu Hause
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in der Zeit unmittelbar nach eiE RICHTIG
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nem Unfall bewältigen können,
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sagt Michael Girke, der bei der
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sicherung verantwortet. Also
ROLLSTUH
übernehmen Assisteure das
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Astrid Ku
Einkaufen oder das Reinigen der
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Wohnung.
Unfallopf
12 / 13
Fürs eigene Zuhause sind komplett neue Schutzbriefe denkbar, die digitale Vernetzung macht es
möglich. Da kommuniziert die Heizung mit dem
gekippten Fenster, oder intelligente Sensoren erkennen Wasserrohrbrüche – und spielen diese Informationen direkt aufs Smartphone. So können
vielleicht bald Einbrecher erkannt werden, während die Bewohner unterwegs sind. „Das revolutioniert die Wohngebäudeversicherung“, sagt
Alain Zweibrucker, der bei der Axa den Bereich
Schaden und Unfall im Privatkundengeschäft leitet. Die Grenzen der Versicherbarkeit werden verschoben: Kunden werden aktiv
»DIE MEIST
vor Schäden bewahrt.
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Davon profitieren beide Seiten:
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Der Kunde vermeidet den Ärger,
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solchen Angeboten setzen die
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Versicherer eine Tradition fort:
Sebastian
Braeuer,
„Vorsorge ist besser als Nachsorge
Assisteur
– das ist eine eherne Regel unseres
Geschäfts“, sagt GDV-Präsident Alexander Erdland.
Von der Präventionsarbeit der Assekuranz
hat wohl jeder Deutsche schon profitiert – selbst
wenn er gar keinen Versicherungsvertrag hat.
Zum Beispiel von der Forschung der Versicherer
für mehr Verkehrssicherheit. Die Einführung
der Gurtpflicht in Deutschland war auch dem Engagement der Versicherer zu verdanken, ebenso
die Verpflichtung der Autohersteller, das AntiSchleudersystem ESP serienmäßig einzubauen,
und der Trend, an Kreuzungen vermehrt Pfeil›
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
Aktiv vor Schaden geschützt
TiTel
In der Hausrat- und Wohngebäudeversicherung gibt es ebenso maßgeschneiderte Zusatzleistungen. Mit einem Wohngebäudeschutzbrief
organisiert ein Assisteur direkt den Schlüsseldienst, wenn die Tür ins Schloss gefallen ist. Ein
weiterer Vorteil für Kunden: Ihnen bleibt die böse
Überraschung eines überteuerten Zuschlags erspart. Der gerufene Schlüsseldienst ist zumeist
ein fester Vertragspartner des Assisteurs – und
hat zuvor einen Pauschalvertrag abgeschlossen.
Und die Rechnung übernimmt am Ende die Versicherung. Wer einen Schutzbrief abgeschlossen
hat, profitiert überdies von der Erfahrung der
Assisteure. So kommt gleich der richtige Dienstleister ins Haus – egal ob ein Wespennest entfernt
werden soll oder die Heizung defekt ist.
TiTel
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
Fast 13 Meter hoch stand das Wasser 2013 stellenweise in Passaus Altstadt, das überstand auch die Barockkapelle nicht ohne Schäden.
Prävention schützt am besten vor Schäden
R
obert Schmidt-Thomé starrt die Wand an. Der Putz
ist ab, der frühere Glanz der barocken Kapelle
lässt sich im Moment nur erahnen. Noch immer
wird das Gotteshaus, der prunkvollste Teil eines
Passauer Kinderheims, saniert. Schmidt-Thomé ist auf
Details fixiert: Wird hier möglichst wasserfester Putz verarbeitet? Sind das mineralische Farben, die bei Feuchtigkeit nicht abblättern?
Schmidt-Thomés Mission ist Prävention. Er hilft dem
Besitzer des Kinderheims, einer gemeinnützigen Stiftung,
die Kapelle bei zukünftigen Hochwassern besser zu schützen. „Der primäre Aspekt ist: Wie kann ich den Schaden
möglichst gering halten?“, erzählt Schmidt-Thomé, der
bei der Versicherungskammer Bayern als Risikomanager
arbeitet. Denn Versicherung und Prävention gehen immer
Hand in Hand. Ohne Bemühungen, Schäden zu verhindern,
wäre Versicherung heute nicht möglich.
Vor zwei Jahren stand das Wasser in der denkmalgeschützten Kapelle meterhoch. Sie wurde 1751 an einem der
hochwassergefährdetsten Orte Deutschlands errichtet,
in der Altstadt von Passau. Das Hochwasser 2013 brachte
der bayerischen Stadt Pegelstände von bis zu 12,89 Meter.
Und die nächste Flut kommt bestimmt.
Also berät Schmidt-Thomé die Stiftung, wie sie zu
einem Hochwasserschutzkonzept für das Kinderheim
kommt. Wen kann man ansprechen, was sind die
ersten Schritte? Wie können Schäden minimiert
werden, wenn das Hochwasser nicht zwölf, sondern
vielleicht nur drei Meter hoch am Kinderheim steht?
Als gelernter Geologe kann Schmidt-Thomé gut
einschätzen, wie der Druck bei höheren
Pegelständen das Grundwasser in das Gebäude drückt, selbst wenn die Flut von
außen gar nicht mehr hereinkommt.
„Dann bleibt der Schmutz draußen,
und die Schäden durch das Grundwasser sind geringer.“
Viele Versicherer bieten eine
individuelle Präventionsberatung zu
Naturgefahren an, stellen außerdem Informationen zur Verfügung,
wie Hochwasserschäden etwa schon
beim Hausbau vermieden
werden können. Eine
denkmalgeschützte
Kapelle im Hochrisikogebiet
ist allerdings
eine besondere
Herausforderung. Die Arbeit
hat gerade erst
begonnen.
Doch allen ist
klar: Wenn die
Kapelle weiterhin im barocken
Glanz erstrahlen
soll, führt an
Robert SchmidtSchadenprävention
kein Weg vorbei.
Thomé, Präventions-
»DER PRIMÄRE ASPEKT IST:
WIE KANN ICH
DEN SCHADEN
MÖGLICHST
GERING
HALTEN?«
experte
ampeln für Linksabbieger aufzustellen. Ob besser gesicherte
Steckdosen, zertifizierte Fahrradschlösser, Brandschutz für
Unternehmen oder die Förderung von Rauchmeldern: In all
dem steckt Präventionsarbeit der Versicherer drin.
Aktiv werden, um Schlimmeres zu verhindern – für die
Betroffenen ist das mit Geld gar nicht aufzuwiegen. „Absolut“, sagt Astrid Kuhn, „ohne Herrn Jakobs säße ich jetzt
vielleicht im Rollstuhl.“ Friedhelm Jakobs ist Fallmanager
in Diensten von Reha Assist, einem von mehreren unabhängigen Reha-Management-Dienstleistern. Er wird nach
dem Motorradunfall von der Kfz-Versicherung des Unfallgegners beauftragt. Jacobs vermittelt Kuhn an eine Kölner
Spezialklinik, deren Ärzte ein völlig kaputtes Kniegelenk
diagnostizieren, eigentlich nicht mehr zu retten. Viele Patienten verbringen ihr Leben nach einer solchen Amputation
größtenteils im Rollstuhl.
Kuhn versucht, ihr Kniegelenk zu retten. Operation vor
Weihnachten 2012, erste Reha, Wundschmerzen, Nachoperation im Juli 2013, zweite Reha. Reha-Dienstleister Jakobs
stellt Kuhn bei einem der besten Prothesenbauer Deutschlands vor, vermittelt ambulante Therapien bei Top-Physiotherapeuten. Und Kuhn kämpft sich durch die Reha.
Eine Win-win-Situation: Je besser es Kuhn langfristig geht, je früher sie wieder ihre Arbeit aufnehmen kann
und auf je weniger Hilfe sie in Zukunft angewiesen sein
wird, desto weniger zahlt die Versicherung langfristig. Die
Kfz-Haftpflicht muss alle Behandlungen übernehmen und
zahlt auch für alle Einschränkungen und Einbußen durch
lange Ausfallzeiten am Arbeitsplatz einen finanziellen Ausgleich. Bliebe Astrid Kuhn erwerbsunfähig,
müsste der Versicherer jahrzehntelang für den
Verdienstausfall zahlen.
Eine Frage der Lebensqualität
Nach Schätzungen von Branchenkennern geben die Kfz-Haftpflichtversicherer rund 3000
bis 4000 Fälle jährlich an die Reha-Dienstleister. Welche Fälle, das entscheidet der Versicherer. Anders als die Assistance-Leistungen ist das
Reha-Management oft keine Vertragsleistung für
Versicherte. Auch manche Unfallversicherer und
Berufsunfähigkeitsversicherer setzen mittlerweile auf die unabhängigen Reha-Dienstleister,
um Ausfallzeiten zu verkürzen, Behandlungserfolge zu verbessern und die Betreuung zu optimieren.
Wie viel Lebensqualität für Unfallopfer durch
den Einsatz der Reha-Manager gewonnen werden
kann, lässt sich schwer in Zahlen messen. Wohl aber
in Lebensqualität. Astrid Kuhn ist im Alltag kaum
mehr auf Hilfe angewiesen und arbeitet wieder als
Sachbearbeiterin. Die passgenaue Prothese trägt sie
bis zu 14 Stunden am Tag, im Sommer auch selbstbewusst mit kurzer Hose. Auto kann sie mithilfe einer
Automatikschaltung wieder fahren. Und Motorrad?
„Klar“, sagt Kuhn, „als Sozius.“
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
DER PUTZ IST AB
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14 / 15
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5
ANRUF GENÜGT,
HILFE KOMMT!
Wie, wann und wo die Assistance der Versicherer
aktiv ist – eine Übersicht
INFOGRAFIK: MARTIN BURGDORF
CALLCENTER
Wenn etwas passiert ist: einfach anrufen! Die
Assistance-Dienstleister der Versicherer
kümmern sich um alles Weitere.
Ankommende Anrufe1
6,9 Mio.
Ausgehende Anrufe1
3,8 Mio.
Wie
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93 %
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2,3 Mio.
Fälle bearbeiten deutsche
Assisteure pro Jahr 1
180 Mio. Euro
setzten die Assisteure der
Versicherer 2014 für die Organisation ihrer Leistung zirka um1
Quellen: Alle Zahlen aus „Assistance Barometer 2015“ bis auf:
1
„Assistance-Statistik 2014“
2
„Schutzbriefversicherung Gesamtstatistik 2014“
16 / 17
HAUSRAT
UND WOHNGEBÄUDE
Schutzbriefe helfen, wenn es in der
Wohnung klemmt: Dann kommt
der Klempner, der Schlüssel- oder
Rohrreinigungsdienst. Wenn etwas mit
der Elektronik oder der Heizung nicht
stimmt, wird ein Elektro- bzw. Heizungsinstallateur beauftragt. Kammerjäger
kümmern sich um Schaben, Ratten,
Mäuse oder Motten in der Wohnung und
um Hornissen-, Wespen- und
Bienennester in der Nähe.
REISE UND GESUNDHEIT
Schutzbriefe bei Reisen ins In- und Ausland decken
auch medizinische Leistungen ab: Transport ins
nächste Krankenhaus, Rücktransport (bei Bedarf in
einem Spezialabteil im Flugzeug),
Vermittlung von Arztterminen, Beratung zu
geeigneten Therapien, Nennung von Medizinern,
Kliniken und Reha-Einrichtungen.
175.800
Leistungen vermittelten
die Assisteure im vergangenen
Jahr im Bereich Hausratund Wohngebäude. 1
300.000
TiTel
Fälle wurden 2014
insgesamt bearbeitet.1
UNFALL
Welche Assistance-Leistungen
sind Ihnen im Krankheitsfall wichtig?
Pflegeberatung 85 %
fachliche Beratung chronisch Kranker 83 %
Pflegemanager für Versicherte 81 %
Pflegemanager für Angehörige 77 %
administrative Beratung 68 %
Gesundheitsmanager für Versicherte
und Angehörige jeweils 64 %
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
Zum Service der Assiteure nach Unfällen
gehört es einzukaufen, falls jemand
das etwa wegen eines gebrochenen Beines
nicht mehr kann. Für ältere Menschen
kann die Begleitung zum Arzt oder bei
Behördengängen ein hilfreiches Angebot sein.
Wenn bei einem Krankenhausaufenthalt der
Hund allein zu Hause wäre, wird ein Platz in
einer Hundepension organisiert. Assisteure
bieten nach Unfällen Angebote zur
Pflege an, lassen die Wohnung putzen und
übernehmen das Waschen, Trocknen
und Bügeln der Wäsche.
AUTO
Wie wichtig ist Ihnen die
Autounfall- und Pannenhilfe?
80 % sagen: wichtig/sehr wichtig
Wie wichtig ist Ihnen
die komplette Schadenabwicklung
nach einem Autounfall?
74 % sagen: wichtig/sehr wichtig
873.000
Fälle2 wurden 201 4 in Deutschland Rücktransport
insgesamt bearbeitet. Davon waren:
30.000
26,7 Millionen Versicherte in Deutschland haben
einen Kfz-Schutzbrief abgeschlossen. Zu den rund
eine Million Leistungen, die jährlich abgerufen
werden, zählen die Starthilfe vom Pannendienst,
der Transport in die Werkstatt und der Rücktransport von Wagen und Personen aus dem Ausland.
Wer einen Schutzbrief abgeschlossen hat,
bekommt auch einen Mietwagen zur Verfügung
gestellt.
Mietwagen
77.000
Abschleppen
488.000
Pannenhilfe
199.000
NOTFALLMELDER
IM EINSATZ
Ein unscheinbarer Stecker im Zigarettenanzünder hilft
Leben retten: Die Versicherer haben einen Unfallmeldedienst
für Autos entwickelt. Jetzt ist das System startklar.
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
TiTel
TEXT: HENNING ENGELAGE
N
ormalerweise sitzen CrashtestDummys am Steuer des knallgelb
lackierten 5er BMW. Dieses Mal
gibt es nur einen Passagier: einen schwarzen Stecker für den
Zigarettenanzünder, geformt wie
eine kleine Raumkapsel. Kurzer Countdown,
dann beschleunigt der BMW und knallt gegen
die Wand. Jürgen Redlich steht hinter der Schutzwand aus Panzerglas und nickt: Wagen kaputt,
Stecker heil. Und auf dem Laptop hat der Crash
eine schöne Datenkurve hinterlassen.
Redlich hat über anderthalb Jahre für den Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) ein Projekt geleitet, das helfen wird,
Leben auf Deutschlands Straßen zu retten. Nach
einem Autounfall entscheiden oft Sekunden über
Leben oder Tod. Und der
unscheinbare Stecker
sorgt künftig dafür, dass
Hilfe wirklich schnellstmöglich unterwegs ist.
Vor allem auf dem Land:
2014 starben auf den
deutschen Landstraßen
PETER SLAWIK,
1172 Menschen, die per
VORSITZENDER DES FACHPkw unterwegs waren;
AUSSCHUSSES KRAFTFAHRT15.971 verletzten sich
VERSICHERUNG IM GDV
schwer. Wer außerhalb
von Ortschaften gegen
den Baum prallte, musste bislang hoffen, schnell
von anderen Autofahrern entdeckt zu werden.
Das ändert sich mit dem Stecker: Bei einem
Unfall aktiviert er – per App – das Smartphone,
das automatisch die aktuellen Positionsdaten und
die Schwere des Crashs an eine Notrufzentrale
sendet. Zugleich wird eine Sprachverbindung mit
einem Mitarbeiter in der Zentrale hergestellt: Wie
geht es dem Fahrer? Wie viele Verletzte gibt es?
Größter Vorteil des Systems: Anders als das
ab 2018 für Neuwagen vorgeschriebene Not-
»RETTUNGSKRÄFTE
WERDEN DEUTLICH
SCHNELLER AM
UNFALLORT SEIN.«
Wie eine winzige
Raumkapsel sieht
der Meldestecker
aus. Er gehört
allerdings in
die Buchse des
Zigaretten­
anzünders.
Check
Der Stecker kontrolliert
ständig, ob sich das Auto
normal bewegt.
18 / 19
rufsystem eCall lässt sich dieser Unfallmeldedienst quasi in jedem Auto nachrüsten. Einzige
Voraussetzung im Auto: ein 12-Volt-Anschluss
– gern für den Zigarettenanzünder genutzt.
In dem System steckt die Erfahrung einer
mehrjährigen Entwicklungszeit. Die Versicherer
und der Projektpartner Bosch mussten die Formel finden, damit der Stecker jeden Unfall wahrnimmt – aber nicht bereits auslöst, wenn das Auto
nur kräftig beim Einparken über den Bordstein
fährt.
Die Suche nach der Formel
Im Stecker misst ein dreiaxialer Beschleunigungssensor, wie stark beschleunigt oder gebremst
wird – die sogenannten g-Kräfte. „Wenn ein Sportwagen stark bremst, treten maximal 1,5 g auf“,
erklärt Ingenieur Redlich, das entspricht dem Anderthalbfachen des Körpergewichts. Bei schweren Unfällen sind die Kräfte viel höher. „Spitzen
von bis zu 80 g über wenige Millisekunden kann
der Mensch sogar ohne schwerste Verletzungen
überleben“, sagt Redlich. Solche Unfälle zu erkennen, war nicht das Problem. Länger dauerte es
›
Alarm
Bei Bedarf leitet
die Notrufzentrale
sofort Rettungs­
maßnahmen ein.
„Ich bin
verletzt!“
Unfalldaten
werden ver­
schlüsselt
an die Not­
rufzentrale
gesendet.
„Wie kann
ich Ihnen
helfen?“
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
TiTel
Der Stecker
meldet einen
Unfall an die App
im Smartphone.
TiTel
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
die Formel zu finden, um einen leichten Auffahrunfall vom Bordsteinholperer zu unterscheiden.
380 Kombinationen von Fahrzeugen, Unfallkonstellationen und Algorithmen wurden simuliert,
19 reale Crashtests durchgeführt – immer hielt
der Stecker. Danach folgte der Feldversuch über
mehrere Monate auf den Straßen. Auch diesen
Test hat der Unfallmeldedienst bestanden.
Neben dem Stecker braucht es nur noch ein
Smartphone, damit ein Notruf abgesetzt werden
kann. Software-Riese IBM half bei der Entwicklung der App und der Übertragung der Notrufe
per mobiler Datenverbindung. Maßgabe: Der
Unfallmeldedienst soll mit möglichst wenig Daten auskommen. Bei einem Unfall werden nur
Daten an die Notrufzentrale gesendet, die für die
Organisation der Hilfeleistung erforderlich sind
– zur Not passen alle Informationen in eine SMS.
Gleichzeitig wird über das Telefon die Sprachverbindung aufgebaut. Die Notrufe landen dann in
Hamburg, bei der GDV Dienstleistungs-GmbH &
Co KG. Hier kommen auch alle Anrufe von den
Notrufsäulen an den deutschen Autobahnen an –
insgesamt mehr als 100.000 pro Jahr.
Das neue Service-Angebot hilft nicht nur
bei Unfällen, sondern auch bei Pannen aus der
Bredouille: Den Abschleppdienst zu rufen ist nur
noch ein Touch auf dem Smartphone entfernt.
Bei einem leichten Unfall wird der Fahrer automatisch mit einem Service-Center verbunden
und kann einen Abschleppwagen anfordern. Der
Kfz-Versicherer organisiert Hilfe – und kann
gleichzeitig den Unfall aufnehmen.
Vertrieben wird der Unfallmeldestecker über
die einzelnen Versicherungsunternehmen.
112
Die Rettungsleitstelle
erhält alle nötigen Informationen für die Nothelfer.
Dann krachte
es: Steckertesterin Sabine
Kellermann.
»DAS IST KEIN
SCHERZANRUF«
Glück im Unglück hatte
SABINE KELLERMANN, die den
Stecker getestet hat.
Bei Ihnen hat es im Probebetrieb gekracht. Was ist
passiert?
SSBIINE NEEENEERSIIN: Ich war auf dem Weg zur
Arbeit. Leider hat die Dame vor mir gemeint, sie
müsste an der Ampel etwas stärker bremsen. Da
bin ich ihr mit meinem Nissan Micra hinten raufgerutscht.
Und der Unfallmeldedienst?
S N: Mein Handy hat direkt nach dem Crash sofort
das Service-Center angerufen. Die Frau am Telefon hat mich gefragt, ob jemand verletzt sei. Und
auch, ob es wirklich einen Unfall gegeben habe.
Das war ja im Januar, also noch im Probebetrieb.
Ich habe gesagt, dass das kein Scherzanruf sei.
Aber zum Glück gab es nur einen kleinen Blechschaden. Die Notrufzentrale musste also keinen
Krankenwagen rufen. Und zwei Stunden später
hat mich dann mein Versicherer direkt angerufen, um den Schaden aufzunehmen.
Hatten Sie nach diesem Unfall noch einmal „das
Vergnügen“?
S N: Bis jetzt hat sich der Stecker nicht mehr gemeldet – auch nicht bei unebener Fahrbahn.
Musste er auch nicht.
Wird der Stecker also weiter bei Ihnen mitfahren?
S N: Ja, auf jeden Fall. Das gibt eine gewisse Sicherheit, dass im Ernstfall sofort der Rettungswagen
kommt. Oberklasse-Autos haben so etwas ja teilweise schon eingebaut. Es ist super, dass es das
jetzt auch für das kleine Budget gibt.
20 / 21
VERORTET
Versicherungsmitarbeiter sind ihren Kunden überall zu Diensten. Ob sie dabei
selbstständig oder angestellt sind, unterscheidet sich regional stark.
DEUTSCHLAND
529.010
295.580
233.430
ERWERBSTÄTIGE GESAMT
ABHÄNGIG BESCHÄFTIGTE
SELBSTSTÄNDIGE VERSICHERUNGSVERMITTLER UND -BERATER
Quelle: GDV; AGV/BA; DIHK,
Stand Dezember 2015
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
TiTel
K
aum gegründet, zählte die
Bundesrepublik Deutschland mal durch und kam auf
12.972
5.460
ziemlich genau 54.200. So
7.512
viele Menschen beschäftigte
DIE DEUTSCHLANDKARTE
die Versicherungsbranche
setzt vierteljährlich
6.947
damals. Und heute? Ist diese
wichtige Zahlen aus der
2.320
Zahl gewachsen auf fast
4.627
Versicherungslandschaft
SCHLESWIG300.000 Mitarbeiter – das
prägnant ins Bild.
HOLSTEIN
24.720
allerdings ist gerade
20.650
mal etwas mehr als die
4.070
4.294
MECKLENBURGhalbe Wahrheit. Denn
3.100
VORPOMMERN
zu den Angestellten
1.194
in der Assekuranz,
17.965
Maklerbetrieben oder
HAMBURG
10.880
Servicegesellschaften
7.085
42.659
BREMEN
10.876
kommen noch mehr
23.580
2.810
19.079
9.694
als 230.000 Versi8.066
3.030
cherungsvermittler
6.664
119.551
und -berater, die
BERLIN
76.090
43.461
selbstständig agieNIEDERSACHSEN
BRANDENBURG
ren. Im Osten, im
Südwesten und im
SACHSEN-ANHALT
22.417
Norden Deutsch8.500
10.664
13.917
NORDRHEINlands stellen die
2.970
WESTFALEN
45.564
Selbstständigen
7.694
28.080
sogar
die Mehr17.484
heit: In BrandenSACHSEN
burg sind es zum
19.899
THÜRINGEN
Beispiel fast 75 Pro8.130
11.769
zent, in Schleswig-HolHESSEN
stein 57 Prozent.
Weniger ins Gewicht fallen
die selbstständigen VermittRHEINLAND-PFALZ
ler und Berater in Hamburg
107.242
62.990
und Bremen: In den beiden
SAAR44.252
LAND
Stadtstaaten beträgt ihr
Anteil nur 16 beziehungs6.558
66.988
3.750
weise 27 Prozent. Auch in
33.240
2.808
Nordrhein-Westfalen und
33.748
BAYERN
Bayern dominieren die
Festangestellten (mit 64
Prozent und 59 Prozent) –
alles Städte und Regionen, in
BADEN-WÜRTTEMBERG
denen große Versicherungsunternehmen ansässig sind,
die viele Mitarbeiter fest
angestellt haben.
GELD ZURÜCK
TROTZ LEISTUNG
Zahlungsaufschub zu gewähren ist fair. Rutscht der Kunde später in die Pleite,
kann das aber teuer werden: Wenn nämlich der Insolvenzverwalter
den längst erhaltenen Rechnungsbetrag zurückfordert. Dagegen können
sich betroffene Unternehmen schützen.
TEXT: ELKE SPANNER
A
bsurd. Silke Stüwe mochte es kaum
glauben, als sie das Schreiben in
den Händen hielt. Der Baustoffgroßhändler Mega, für den sie als
Forderungsmanagerin arbeitet,
sollte 92.000 Euro an den Insolvenzverwalter eines Kunden überweisen, den er
fast zehn Jahre zuvor mit Lacken und Farben beliefert hatte. Damals war Winter, der Handwerker
hatte einen finanziellen Engpass, also hatte Mega
ihm aus Kulanz Ratenzahlung gewährt. Das frühere Entgegenkommen sollte dem Händler nun
zum Verhängnis werden: Der Insolvenzverwalter
wertete es als Indiz, dass Mega schon damals von
einer drohenden Zahlungsunfähigkeit gewusst
habe – und forderte das Geld im Wege einer Insolvenzanfechtung zurück. Die ist in Paragraf 133
der Insolvenzordnung vorgesehen. „Viele Mittelständler empfinden das als Teilenteignung“, sagt
Managerin Stüwe. „Sie müssen Geld herausgeben, für das sie ihre Gegenleistung ordnungsgemäß und mangelfrei erbracht hatten.“
In diesem Fall konnte Mega die Zahlung
abwenden: Die Forderung verjährte im Laufe der Verhandlungen. Grundsätzlich aber ist
die Insolvenzanfechtung für Unternehmen ein
großes Risiko, und das nicht nur in der Baubranche. Sie sind ständig der Gefahr ausgesetzt,
Geld zurückzahlen zu müssen, das längst ver-
bucht und oft auch schon ausgegeben ist – und
zwar bis zu zehn Jahre rückwirkend. So lange
währt die Frist, innerhalb derer ein Insolvenzverwalter eine Zahlung anfechten kann. „Dieses Risiko ist kaum kalkulierbar“, sagt Werner
Münch, Head of Business Regulations Germany
bei der Atradius-Kreditversicherung.
Die Versicherer haben deshalb Policen entwickelt, die vor dem Risiko schützen. Seit 2014
sind Anbieter wie EulerHermes und Atradius mit
Policen auf dem Markt, die in der Regel zusätzlich zu einer Warenkreditversicherung, zum Teil
aber auch als eigenständige Versicherung abgeschlossen werden können. „Die Nachfrage ist
sehr groß“, sagt Münch. Was an den wachsenden
Begehrlichkeiten der Insolvenzverwalter liegt.
Und dann wird es teuer
Allein bei der eingetragenen Genossenschaft
Mega, einem Mittelständler mit bundesweit
rund 1400 Mitarbeitern, gehen jedes Jahr rund
20 Insolvenzanfechtungen ein. Der Verband der
Insolvenzverwalter Deutschlands (VID) hat kürzlich 3068 Insolvenzverfahren ausgewertet, die
2012 und 2013 abgeschlossen wurden. In zwölf
Prozent der Verfahren, so das Ergebnis, wurde
eine Insolvenzanfechtung erfolgreich durchgesetzt. Das ist jeder achte Fall. Durchschnittlich
verlangten die Verwalter von einem Unter›
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
ErfindEn
22 / 23
Aufs Dach steigen: Alle paar Wochen
geht beim Baustoffgroßhändler Mega
eine neue Insolvenzanfechtung ein.
Meist geht es dabei um fünf- oder
sogar sechsstellige Beträge.
ERFINDEN
Genossenschaft
für Handwerker:
Großhändler Mega
bietet an deutschlandweit mehr als
100 Standorten ein
Vollsortiment für
das Maler-, Bodenleger- und Stuckateurhandwerk.
nehmen 38.760 Euro zurück. Mittlerweile ist die
Anzahl der Anfechtungen weiter angestiegen,
nicht zuletzt wegen einer verschärften Rechtsprechung: Der Bundesgerichtshof hat im sogenannten Nikolaus-Urteil vom 6. Dezember 2012
die Anwendung erheblich ausgeweitet. Er hat eine
Ratenzahlung oder die Stundung einer Forderung
bereits als Hinweis auf eine drohende Insolvenz
gewertet. Seither suchen Insolvenzverwalter in
den Unternehmen gezielt nach Geschäftspartnern, die sich auf solche Zahlungsmodalitäten
eingelassen haben, und fordern von diesen alte
Rechnungsbeträge zurück.
Das kann durchaus sinnvoll sein, denn die
Grundidee der Insolvenzanfechtung ist an sich
gerecht. Durch das Instrumentarium soll ver-
mieden werden, dass sich einzelne Gläubiger eines Pleiteunternehmens auf Kosten der anderen
bereichern, wenn sie nämlich in Kenntnis der
finanziellen Probleme schnell noch ihr Geld aus
der Insolvenzmasse abziehen, sodass die übrigen Gläubiger leer ausgehen. Nach Ansicht von
Fachleuten wird die Insolvenzanfechtung inzwischen aber gezielt zulasten von Lieferanten und
Geschäftspartnern eingesetzt, die nichts Unlauteres getan haben. „Ratenzahlung und Tilgung
sind in der Wirtschaft verkehrsübliche Praktiken“, sagt Jörg Pohlücke, Referent Haftpflichtund Kreditversicherung beim Gesamtverband
der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV).
„Es ist praxisfremd, allein das als Indiz für eine
Zahlungsunfähigkeit zu werten.“
Mag sein, aber eben Gesetzeslage. Deshalb
sind Anfechtungsversicherungen so gefragt. Sie
greifen in Fällen, die über eine klassische Kreditversicherung nicht geschützt sind. Die deckt
zwar alle unbezahlten Forderungen, nicht jedoch
längst geleistete Zahlungen, die das Kreditlimit
übersteigen. „Das kann für Unternehmen schnell
zu hohen Verlusten führen oder im schlimmsten
Fall sogar zur Existenzbedrohung werden“, sagt
Jonas Müller, Head of Product Development von
EulerHermes. Zumal die Forderung auch noch
verzinst wird – dadurch besteht für Insolvenzverwalter sogar ein Anreiz, die lange Anfechtungsfrist möglichst auszuschöpfen.
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
Die Frist wird kürzer
»DAS FÜHLT SICH FAST AN
WIE EINE ENTEIGNUNG:
GELD HERAUSGEBEN, OBWOHL WIR DIE LEISTUNG
ERBRACHT HABEN.«
SILKE STÜWE, FORDERUNGSMANAGERIN BEI MEGA
Inzwischen hat die Bundesregierung erkannt,
dass der Schutz von insolventen Unternehmen einerseits und ihren früheren Lieferanten andererseits ins Ungleichgewicht geraten ist. Sie plant,
die Insolvenzanfechtung einzuschränken. Nach
dem aktuellen Entwurf der Reform, der derzeit
noch im Gesetzgebungsverfahren ist, wird die
Anfechtungsfrist von zehn auf vier Jahre verkürzt. „Das sehnen wir herbei“, sagt Mega-Forderungsmanagerin Stüwe.
Der GDV geht allerdings davon aus, dass das
Problem durch die Reform zwar entschärft, nicht
aber beseitigt wird. Auch Jonas Müller von EulerHermes warnt davor, das unternehmerische Risiko zu unterschätzen, das nach einer Verkürzung
bestehen bleibt. „Die meisten Insolvenzanfechtungen erfolgen schon jetzt nach zwei bis vier
Jahren“, sagt Müller. „Und diese Gefahr wird es
weiterhin geben.“
Vor allem für exportorientierte Unternehmen bleibt das Risiko hoch. Denn die meisten
anderen europäischen Länder kennen ebenfalls
eine Insolvenzanfechtung, mit manchmal durchaus langen Fristen. Es sei deshalb gefährlich, sagt
Atradius-Experte Münch, „nur auf die deutsche
Gesetzgebung zu achten und sich in Sicherheit zu
wähnen“.
24 / 25
PRO&
CONTRA
Vater Staat übernimmt die kapitalgedeckte Altersvorsorge, gesetzliche Rentenkassen
verwalten und investieren die eingehenden Gelder, die direkt vom Arbeitgeber
überwiesen werden. So will es die „Deutschland-Rente“. Wie gut ist die Idee?
Es besteht Handlungsbedarf: Obwohl das Niveau der
gesetzlichen Rente deutlich sinkt, hat nur jeder zweite Beschäftigte eine Anwartschaft auf betriebliche Altersvorsorge erworben, in kleinen Firmen sogar nur jeder vierte.
Riester-Produkte zur privaten Vorsorge nimmt nicht einmal
die Hälfte der Berechtigten in Anspruch, von Beziehern geringer Einkommen sind es sogar noch weniger. Mit anderen
Worten: Unserem Land droht in absehbarer Zeit eine erhebliche Zunahme der Altersarmut und den öffentlichen Haushalten eine entsprechende Zunahme der Sozialtransfers.
Es wäre aber völlig falsch, als Antwort einfach mehr
Geld in die bestehenden Förderwege zu pumpen. Bei einer
Familie mit zwei Kindern und entsprechendem Einkommen
zahlt der Staat schon heute bis zu 93 Prozent des Beitrags
einer Riester-Rente. Zudem werden Freibeträge und Zulagen
vielfach nicht ausgeschöpft. Das Problem liegt also nicht in
der Höhe der staatlichen Förderung.
Die Gründe sind andere: erstens die Verunsicherung der
Bürgerinnen und Bürger angesichts der Komplexität und der
hohen Kosten vieler Produkte der betrieblichen und privaten Altersvorsorge. Zweitens herrscht gerade in jungen
Jahren eine gewisse Trägheit, sich mit Altersvorsorge zu
befassen. Wir brauchen also ein einfaches, kostengünstiges
und transparentes Standardprodukt – und zwar von einem
Anbieter, dem die Verbraucher keine Profitinteressen unterstellen. Der Staat genießt dieses Vertrauen. Das Angebot
muss außerdem so gestaltet sein, dass nicht die Annahme,
sondern die Ablehnung eine aktive Entscheidung erfordert.
Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, dass bei einem solchen Prinzip der Verbreitungsgrad der betrieblichen Altersvorsorge deutlich – auf bis zu 90 Prozent – zunimmt.
TAREK AL-WAZIR,
Stellvertretender Ministerpräsident und
Wirtschaftsminister von Hessen
CONTRA
Es ist wichtig, dass sich die Politik damit beschäftigt, wie die kapitalgedeckte Altersvorsorge vorangebracht werden kann. Denn gerade bei kleineren
Unternehmen und in Branchen mit unterdurchschnittlichen
Löhnen oder hoher Fluktuation sorgen noch zu wenige Arbeitnehmer für das Alter vor.
Die Deutschland-Rente aber liefert keine überzeugende
Lösung. Neben ordnungspolitischen Fragen und dem Risiko,
dass die Einrichtung – gerade in Krisenzeiten – der politischen Einflussnahme unterliegt, gibt es auch keine empirischen Belege, dass ein Staatsfonds Kapital besser anlegt
als privatwirtschaftliche Einrichtungen. Zudem würde die
Deutschland-Rente mit ihren zahlreichen Sonderregeln die
Komplexität aus Arbeitgebersicht erhöhen und – mit ihrer
Ausgestaltung als reine Beitragszusage – auch Fragen der
Sicherheit aus Arbeitnehmersicht aufwerfen. So ist unter
anderem unklar, wer die Risiken von Wertschwankungen
trägt oder was passiert, wenn der Fonds sich kurz vor Rentenbeginn stark negativ entwickeln sollte.
Aussichtsreicher ist es, die bestehenden Instrumente zu
stärken. Millionen Arbeitnehmer nutzen die Direktversicherung als einfache und effiziente Form der Vorsorge, häufig unterstützt von ihrem Arbeitgeber. Zielführend für eine
weitere Verbreitung wäre es, für Arbeitnehmer mit niedrigen Einkommen weitere Anreize durch eine höhere Förderung zu schaffen. Auch die Riester-Rente sollte nach fast
15 Jahren weiterentwickelt und vereinfacht werden (Stichwort: Zulageverfahren). Immerhin haben wir mit den beiden
Instrumenten Direktversicherung und Riester bereits eine
große Wegstrecke bei der Verbreitung der kapitalgedeckten
Altersvorsorge zurückgelegt.
ANDREAS WIMMER,
Vorstand Firmenkunden der
Allianz Lebensversicherungs-AG
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
PRO
ERFINDEN
BRAUCHEN WIR DIE
DEUTSCHLANDRENTE?
»ABSOLUTE
SICHERHEIT GIBT
ES NICHT«
Nach dem Einbruch zahlt die Versicherung. Aber so weit muss es
nicht kommen, und dafür sorgt Assa Abloy mit Sicherheitsschlössern
und Zutrittskontrollen. Deutschland-Chef STEFAN FISCHBACH über
Schutz, Panzerknacker und übertriebenes Sicherheitsdenken.
INTERVIEW: HEIMO FISCHER
Ikon oder Yale, diese
Marken haben Klang.
Weniger bekannt ist
das Unternehmen dahinter, der schwedische Konzern Assa Abloy. Das Deutschlandgeschäft wird vom schwäbischen
Albstadt aus geführt, und zwar sehr
dezent. Denn den Sitz eines Herstellers
für Sicherheitstechnik stellt man sich
irgendwie anders vor. Lichtschranken
oder Fingerabdruckscanner sucht der
Besucher vergebens, wenn er durch
die Empfangshalle schreitet und sich
in das Büro des Deutschland-Chefs begibt. Und auch Stefan Fischbach selbst
ist überhaupt kein verschlossener Typ.
Herr Fischbach, Ihr Eigenheim sieht
bestimmt aus wie eine Festung, oder?
ISEFFAN FIISHHFSHH: Unsinn! Wer will
denn in einer Festung leben? Ich habe
einige gute Produkte von uns verbaut.
Aber darüber sollte man am besten gar
nicht reden. Sicherheit ist ein sensibles
Thema.
Gilt das auch für Ihre Kunden?
IFH: Ja. Zu unseren Kunden zählen viele
große Unternehmen, für die Sicherheit
wichtig ist, zum Beispiel Wasserwerke
oder Stromversorger. Die wollen nicht,
dass jeder bei ihnen ein- und ausgehen
kann. Ebenso wenig möchten sie, dass
jeder weiß, wie sie sich absichern. Diskretion ist wichtig bei uns.
Dürfen Iie uns denn verraten, wie Iie
die Iicherheit Ihrer Produkte testen?
IFH: Das passiert in mehreren Stufen. In
Berlin zum Beispiel arbeiten drei Leute
von uns, wir nennen sie „die Panzerknacker“. Sie sitzen in einem Raum
zwischen Schraubstöcken und Bohrmaschinen und suchen die Schwachstellen in jedem Produkt, das neu auf
den Markt kommen soll.
Wo lernt man Ichlösser knacken?
IFH: Ganz unterschiedlich. Es gibt zum
Beispiel Vereine, die Wettbewerbe im
Schlösserknacken veranstalten.
Ein ungewöhnliches Hobby ...
IFH: Stimmt. Und einige dieser Sportler
haben ihr ausgefallenes Hobby zum
Beruf gemacht. Von ihnen können
wir viel lernen. Das ist wichtig, denn
unsere Kunden verlangen größtmög-
»BEI UNS ARBEITEN
DREI LEUTE, WIR NENNEN
SIE ›DIE PANZERKNACKER‹.
SIE SITZEN ZWISCHEN
SCHRAUBSTÖCKEN
UND BOHRMASCHINEN
UND SUCHEN DIE
SCHWACHSTELLEN IN
JEDEM NEUEN PRODUKT.«
STEFAN FISCHBACH,
DEUTSCHLAND-CHEF VON ASSA ABLOY
liche Sicherheit – und kontrollieren
das auch. Vor Kurzem haben wir einen
Auftrag bekommen von einer sehr
bekannten deutschen Firma, die ihre
gesamte Infrastruktur neu ausrichtet.
Deren IT-Sicherheitsabteilung prüft jeden einzelnen unserer Arbeitsschritte.
In modernen Zutrittskontrollsystemen
steckt ja jede Menge Elektronik.
Mit der Iie sich ja auskennen müssen.
Daher nachgefragtH: Revolutioniert die
Elektronik Ihre Hranche?
IFH: Die Elektronik wird auf jeden Fall
wichtiger. Es gibt Hotels, die senden
ihren Gästen nach der Buchung einen Code aufs Handy, mit dem sie ins
Zimmer kommen können. Einchecken
entfällt. Oder nehmen Sie unsere multifunktionale Türverriegelung für
Mehrfamilienhäuser. Da ist nachts oft
die Haustür verriegelt. Kommen spät
Gäste, mussten die Bewohner bislang
mit dem Schlüssel runterlaufen und
aufmachen. Jetzt können sie von oben
per Knopfdruck entriegeln und wieder
schließen.
Wie wirkt sich der Elektroniktrend auf
Ihre Entwicklungskosten aus?
IFH: Assa Abloy gibt fast drei Prozent
des Umsatzes von jährlich 6,5 Milliarden Euro für neue Produkte aus.
In Deutschland, Österreich und der
Schweiz sind es sogar fast sechs Prozent. Die Entwicklung einer elektromechanischen Schließanlage kostet
26 / 27
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
vier bis fünf Millionen Euro. Wir machen fast ein Drittel unseres Umsatzes mit Produkten, die nicht älter als
drei Jahre sind. Zum Glück ist unser
Konzern finanziell stark genug. Kleine Mittelständler haben es schwer, da
mitzuhalten.
Garantieren moderne Lösungen endlich
absolute Sicherheit gegen Einbrecher?
SSF: Nein. Absolute Sicherheit gibt es
nicht, trotz aller Elektronik. Die regelt
ja nur den Zutrittsprozess. Den entscheidenden Schutz bietet nach wie vor
ein Schloss aus Metall. Das wird auch in
Zukunft so bleiben – in Unternehmen
und in Wohngebäuden.
Dann haben auch Sie privat eine Hausratversicherung?
SSF: Ja, natürlich. Zwar können Sie mit
hochwertigen Schlössern und Zutrittskontrollen den Aufwand für
Einbrecher erhöhen, aber mit der entsprechenden Zeit und den notwendigen Mitteln kommen sie überall rein.
Deshalb halte ich nichts von übertriebenem Sicherheitsdenken. Für private
Eingangstüren empfehle ich ein hochwertiges, geprüftes Schloss mit gutem
Zylinder.
Ein einziges Schloss soll reichen?
SSF: Wenn es von uns kommt schon. Einige unserer Schlösser werden sogar
in bombensicheren Türen verbaut. Die
gibt es etwa in Botschaften oder Kernkraftwerken. Einmal haben wir
›
Schützen
Hochwertige Schlösser
sorgen für hochwertigen
Schutz: Stefan Fischbach, Deutschland-Chef
des schwedischen Konzerns Assa Abloy.
Schützen
STEFAN FISCHBACH
Es geht um Sicherheit
Positionen # 4 _ 2 0 1 5
›
zu Testzwecken so eine bombensichere Tür sprengen lassen. Ergebnis:
Die Tür war weg und unser Schloss
funktionierte immer noch.
Im Ernstfall wäre der Weg also trotz
Ihres guten Schlosses frei gewesen?
SSF: Wie gesagt: Absolute Sicherheit
gibt es nicht. Das muss man akzeptieren. Wir haben bei uns einen Slogan:
„Unlock your life – öffne Dein Leben.“
Sür einen Schlosshersteller ein erstaunlicher Spruch.
SSF: Was nützen fünf Schlösser an der
Eingangstür, die Sie alle aufschließen
müssen, um reinzukommen? Wo bleibt
da die Lebensqualität? Wir sagen: Nur
wer sich wohlfühlt, fühlt sich auch
sicher. Deshalb wollen wir keine Geschäfte mit der Angst machen. In unserer Werbung werden Sie keine Männer
mit Sturmmaske finden. Das ist nicht
unser Stil – vielleicht auch, weil wir ein
schwedischer Konzern sind. Da ist man
zurückhaltender.
Wenn jemand von Ihnen wissen will, wie
er sein Haus vernünftig vor Einbrechern
schützen kann, was raten Sie ihm?
SSF: Wichtig ist, dass die Fenster gesichert sind – etwa durch einen Pilzkopfbeschlag, damit man sie nicht aufhebeln kann. Dazu ein abschließbarer
Fenstergriff.
S
eit zehn Jahren leitet Stefan
Fischbach die Geschäfte von
Assa Abloy in Deutschland, in
Österreich und in der Schweiz. Nach
technischer Ausbildung und einem
Master of Business Administration an
der Pepperdine University in Kalifornien wurde Fischbach 1995 Vertriebsleiter für automatische Türsysteme beim deutschen Mittelständler
Geze, wo er drei Jahre später in die
Geschäftsführung aufstieg. 2005
wechselte Fischbach innerhalb der
Branche zum schwedischen Konzern
Assa Abloy, anfangs als Geschäftsführer Vertrieb und Marketing bei
der Assa Abloy Sicherheitstechnik
GmbH.
Die mit den kleinen Schlüsseln, die man
immer verliert?
SSF: Manche Leute lassen diese Schlüssel sogar im Fenstergriff stecken. Dann
reicht ein kleines Loch im Rahmen, um
das Schloss zu öffnen. Deshalb haben
wir jetzt auch Lösungen mit CodeTastatur fürs Fenster im Angebot. Da
müssen Sie sich nur die Zahlenkombination merken. An der Eingangstür
brauchen Sie dazu noch einen vernünftigen Schließzylinder mit Mehrpunktverriegelung.
Was kostet das?
SSF: Für 1500 bis 2000 Euro können Sie
eine Menge machen. Wenn wertvolle
Gemälde an der Wand hängen, sollten
Sie ein bisschen mehr tun.
Glauben Sie, die Menschen haben heute
mehr Angst als früher – vor Einbrechern,
Terroristen, Gewalttätern?
SSF: Wer mehr besitzt, fürchtet eher,
etwas zu verlieren. Mit dem steigenden Wohlstand wächst auch die Angst.
Das merken wir in unserem weltweiten Geschäft, aber auch in ganz anderen Bereichen der Gesellschaft. Zum
Beispiel an den Eltern, die ihre Kinder
jeden Tag zur Schule fahren, damit ihnen bloß nichts passiert. Ich habe als
Junge am ersten Schultag den Weg
gezeigt bekommen, und dann bin ich
allein los.
Ist die wachsende Angst vor Wohnungseinbrüchen nicht berechtigt?
SSF: Doch. Die Gesamtzahl der Einbrüche hat sich in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren verdoppelt. Doch
viele Menschen gehen von falschen
Voraussetzungen aus. Sie denken
zum Beispiel, dass nur nachts Gefahr besteht. Doch 40 Prozent der
Wohnungseinbrüche finden tagsüber
statt. Erfreulich ist, dass ein immer
größerer Teil der Einbrüche misslingt. Scheiterten 2003 noch 30 Prozent der Einbrüche, waren es 2014
schon 40 Prozent. Nach Aussage der
Polizei liegt das an der verbesserten
Sicherheitstechnik.
28 / 29
UM DEN GLOBUS: KENIA
Um die wachsende Mittelschicht in Kenia buhlen rund 50 Versicherer.
Bislang haben überhaupt nur drei Prozent aller Kenianer eine Police
abgeschlossen – auf dem Land wird das Konzept gerade erst populär.
DIE ERNTE
Wenn Stürme, eine Dürre oder auch
Regenfluten die Maisernte ganz oder
teilweise zerstören, kompensiert
die sogenannte Crop Insurance den
Verlust. Die kenianischen Farmer
schließen sich dafür zusammen zu
Saccos, Genossenschaften, die sich
eine Versicherung gegen Ernteausfall
teilen. Ein Problem gibt es dabei:
Den lokalen Versicherungsanbietern
– die häufig von gemeinnützigen
Initiativen unterstützt werden –
mangelt es oft an verlässlichen
Erfahrungswerten, was für Schäden
auf sie zukommen könnten.
DAS AUTO
Versichert muss jedes motorisierte
Fahrzeug sein, das sich im Straßenverkehr bewegt – auch Sammeltaxis.
Matatus zählen zu den billigsten und
meistgenutzten Transportmitteln in
Kenia, mehr als 3000 dieser Minibusse sind allein im Zentrum von Nairobi
unterwegs. Die meisten Betreiber
beschränken sich auf den minimalsten Schutz, die Teilkasko. Schon dafür
muss der Betreiber eines neunsitzigen Minibusses jährlich umgerechnet knapp 700 Euro aufbringen – je
größer das Matatu, desto höher die
Prämie. Um die Kosten reinzubekommen, rasen die Fahrer mit oft hoffnungslos überladenen Rostlauben,
was das Zeug hält; sie überholen trotz
Gegenverkehr, drängeln Fußgänger
von den Gehsteigen, fahren neben
der Fahrbahn und halten sich auch
sonst an kaum eine Verkehrsregel.
ErfindEn
DAS HANDY
Das Prinzip „M-Pesa“, auf Deutsch:
mobil bezahlen, hat sich durchgesetzt in Kenia, wo so ziemlich jeder
Mensch ein Mobiltelefon hat und
es auch intensiv nutzt. Geldbeträge
werden per Handy überwiesen: ob
für das Motorradtaxi, die Stromrechnung, den Sack Maismehl im
Dorfladen oder die Versicherung.
Kunden bekommen vom Versicherer eine Erinnerungs-SMS mit
einer Zahlungsaufforderung für
ihre Lebens-, Pensions- oder auch
Real-Estate-Versicherung. In der
SMS ist die Zahlungsnummer des
jeweiligen Versicherers vermerkt.
Wenn die Zahlung an die Nummer
(jede Firma hat ihre eigene) übermittelt ist, erhält der Absender eine
Zahlungsbestätigung. Fertig!
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
DIE GESUNDHEIT
Jeder erwachsene Kenianer kann sich
über das staatliche Gesundheitssystem, den National Hospital Insurance
Fund (NHIF), krankenversichern.
Abhängig vom Einkommen zahlen
Angestellte umgerechnet zwischen
2,50 Euro und 14,50 Euro monatlich, Arbeitslose nur einen Bruchteil
davon. Der NHIF garantiert allerdings
kaum mehr als den Anspruch auf ein
Bett im Krankenhaus, übernommen
werden nur minimale Kosten bis zu
umgerechnet 13 Euro am Tag. Kosten
für Behandlung, Medikamente und
Labortests müssen entweder privat
versichert oder selbst aufgebracht
werden. Auf dem Land wissen viele
Menschen nicht, dass es den NHIF
gibt, können ihn sich nicht leisten
oder halten ihn für unnötig. Über die
vom Staat finanzierten Hospitäler, die
mitunter nicht einmal die Mindestanforderungen an Hygiene erfüllen,
kursiert der Spruch: Du gehst mit
einer Krankheit rein und wirst mit
drei anderen entlassen. Viele Kranke
harren daher lieber zu Hause aus.
Neue Serie
ZUKUNFT
ERLEBEN
„Du lebst sieben Jahre länger, als du denkst.“ Diese Botschaft trägt der GDV
derzeit ins Land. Wir werden also mehr Zukunft erleben, als wir uns vorstellen
können. Doch was erwartet uns? Wir wagen einen Ausblick.
TEXT: GEORG DAHM • ILLUSTRATIONEN: LARS WUNDERLICH/PEACHBEACH
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
Schützen
W
AUTO-MOBIL
Das Auto fährt selbst,
ist einfach sicherer.
Das schenkt Zeit – um
sich auf die Heimkehr
vorzubereiten oder sich
unterhalten zu lassen.
ZIEL IN
15 MIN.
ERREICHT
IHR
KÜHLSCHRANK
BESTELLT
JETZT PIZZA.
ie sehr man danebenhauen kann,
wenn man sich die Welt in 30 Jahren
vorstellt, wissen wir spätestens seit
dem 21. Oktober 2015, dem „Zurück
in die Zukunft“-Tag. Benannt wurde
er nach der Filmtrilogie mit Michael J. Fox als
zeitreisendem Teenager, den es aus seinem
kuscheligen 1985 drei Jahrzehnte in die Zukunft verschlägt – an eben diesen 21. Oktober 2015. Der Alltag in dieser Zukunft: Autos
fliegen, Skateboards auch – und überall stehen
Faxgeräte. Ein kleines Detail – und der größte
Fehlgriff: Eine Welt, die per Fax kommuniziert
statt über das Internet?
In den 1980er-Jahren verwandelte
sich das Internet gerade von einem Forschungsnetzwerk in ein öffentliches
Medium. Was beispielhaft belegt, wie
die kleinsten Dinge am Rand unserer Aufmerksamkeit zu den gewaltigsten Umbrüchen führen können. Das Internet wird uns in den
nächsten 30 Jahren sicher erhalten
bleiben – wiedererkennen werden
wir es wohl kaum. Weil es längst
in alle Poren unseres Daseins vorgedrungen sein wird.
Was uns in einer Wohnung
des Jahres 2046 auffallen würde:
Man sieht keine Computer. Vielleicht fummelt sogar niemand mehr
mit seinem Smartphone herum (wie
auch immer das dann aussehen wird:
Armband, Datenbrille, Knopf im Ohr oder
alles zugleich). Der Raum wird der Computer sein, glaubt der visionäre Designer Mark
30 / 31
ROBOTER-OP
Warum Menschen bei
Operationen aufschneiden,
wenn winzige Nanorobots
das Problem von innen lösen
können? Die Patienten
müssen nicht einmal
betäubt werden – sie
können mit Virtual-RealityBrillen derweil in eine
parallele Welt eintauchen.
STAR
WARS 27
Rolston, der in seinem Labor all
das kombiniert, womit wir uns
heute schon umgeben: 3-D-Kameras aus Spielkonsolen, Sprachsteuerung aus Smartphones, kompakte Videobeamer, ferngesteuerte
Lampen und Hausgeräte. Das Ergebnis
ist ein Raum, der mich erkennt, den ich
mit Sprache und Gesten steuere anstatt
über Apps, und der mir Informationen dahin
projiziert, wo ich sie brauche: das Rezept auf den
Küchentisch, den Wetterbericht an den Kleiderschrank, die Nachrichten neben den Badezimmerspiegel.
Die Wohnung wird lernen, wie ihre Bewohner leben. Sie wird Live-Daten erfassen, Vorhersagen treffen und weitergeben: an Stromversorger, die in Echtzeit ihre Netze steuern, oder an
den Pflegedienste, wenn der Senior verdächtig
ruhig ist und auch die Kaffeemaschine gar nicht
mehr anschaltet. Wobei der wahrscheinlich schon
längst alarmiert sein wird aufgrund der schlechten Vitaldaten, übertragen von den immer am
Körper getragenen Sensoren.
Live-Daten sind das neue Öl
Diese Zukunft hat bereits begonnen: In den USA
ist Amazons Bluetooth-Box "Echo" ein Topseller. Das Gerät hat eine Spracherkennung, mit
der man beim Kochen plaudernd einkaufen, sich
Nachrichten vorlesen und Musik abspielen lassen
kann. Sprache wird zum wichtigsten Interface.
Nehmen wir dazu die ersten Gehversuche in Richtung Smart Home: mit dem Handy ein paar Lampen steuern und die Wetterstation im Ferienhaus
checken. Spielkram. Noch.
NANOROBOTS
HABEN IHR EINSATZGEBIET
ERREICHT.
EINSATZ BEGINNEN.
Für Aufsehen sorgte Google, als es Nest kaufte
– das Start-up baut vernetzte Thermostate, die die
Lebensgewohnheiten der Hausbewohner erkennen: Oh, die Bude ist warm, woher wusstest du,
dass ich gleich da sein würde? Die Aufregung darüber, dass Google nun auch diese Daten sammelt,
hat sich schnell gelegt.
Wir machen längst Babyschritte einer Gesellschaft, die von Live-Daten getrieben wird. Durch
jeden Smartphone-Benutzer, der mit seinen Bewegungsdaten die Stauwarnungen von Google Maps
füttert. Jeden Netflix-Abonnenten, dessen Sehverhalten ausgewertet wird. Jeden Fitness-ArmbandNutzer, dessen aufgezeichnetes Lebensprotokoll
seinen Arzt brennend interessieren würde.
Heute warnen Kritiker: Bezahle nicht mit
deinen Daten, mach dich nicht zum gläsernen
Patienten! In 30 Jahren wird die Debatte eine
andere sein. Denn Live-Daten sind nicht nur
das neue Öl. Sie haben auch einen enormen gesellschaftlichen Wert. Was wäre, wenn je›
„Du lebst sieben Jahre
länger, als du denkst.“
Diese Botschaft trägt der
GDV derzeit ins Land.
Wie wir die „geschenkten“ Jahre gut leben und
nutzen können, zeigen
wir in dieser neuen
„Positionen“-Serie.
Schützen
LIEFERDROHNE
#250979L104,
AUSWEICHMANÖVER EINLEITEN!
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
des Blutzuckermessgerät, jedes Fieberthermometer, jedes Asthmaspray vernetzt wäre und
jede Messung in eine Datenbank einginge? Wir
hätten ein nie da gewesenes Frühwarnsystem
für heraufziehende Gesundheitsgefahren und
Infektionswellen.
Den Krebs besiegen?
BAU DICH SELBST
3-D-Drucker können
längst Werkzeuge,
und Maschinen
ausdrucken und bald
auch Häuser. Der
nächste Schritt: die
neue Leber aus dem
Drucker.
WIE IM FLUG
Auf Kurzstrecken reicht den Flugzeugen
ein Elektromotor – so wie sie Drohnen
benutzen (die in dieser Höhe natürlich
auch künftig nichts zu suchen haben).
Nervensystem. Motorisierte Exoskelette
werden Gelähmten und Altersschwachen
ein Leben außer Haus ermöglichen.
Womit wir in dieser Geschichte endlich
mal vor die Haustür kommen, und da sieht es
nun wirklich ganz anders aus. Die Autos: elektrisch und ohne Fahrer. Wunschdenken? Klappt
ja schon nicht mit Merkels Ziel von einer Million
Elektroautos bis 2020? Aber es wird einen Knall
geben, denn schon wieder kommen Akteure aus
dem Nichts. Nicht nur Google arbeitet an selbstfahrenden Autos. Während das Taxigewerbe noch
gegen den Fahrdienstvermittler Uber kämpft,
kauft der an den US-Universitäten die Robotikexperten weg. Und der Elektroauto-Pionier Tesla
ist zwar noch ein Newcomer - aber deutsche Autozulieferer arbeiten gern mit ihm, um zu lernen,
wie man völlig anders denken kann.
Also einsteigen und flüsterleise vom Roboter
sich fahren lassen. Merken Sie was? Da ist gerade
ein Berufsstand gestorben: jede Art von Fahrer,
ob von Taxi, Lkw, Bahn oder Bus. Es gibt auch keine Briefträger und Paketboten mehr – da, schon
wieder eine Amazon-Lieferdrohne im Anflug!
Jetzt tauchen wir noch mal kurz in unsere
unsichtbare Datenwelt ab, denn im Jahr 2046 ist
nicht nur der Raum ein Computer, sondern auch
die Stadt, und die weiß jetzt, wo Sie sind und wohin Sie wollen. Weil Sie wie alle anderen auch
bei der Buchung Ihr Fahrziel angegeben haben,
Heute regiert vielerorts die Angst: Wer seine Daten preisgebe, laufe Gefahr, als Mängelexemplar
aussortiert zu werden. In 30 Jahren wird man
sagen: Wer das nicht tut, leistet keinen Beitrag,
Krankheiten zu besiegen. Im Heilen von Krebs
etwa, predigt der Onkologe David Agus, sind wir
trotz aller Fortschritte erbärmlich schlecht – darum sollten wir alles daransetzen, ihn zu vermeiden und so früh wie möglich zu erkennen. Agus
will alles, wirklich alles in der digitalen Patientenakte erfasst sehen im Interesse von Prognose, Behandlung und Forschung. Bis hin zur Genomanalyse, bis zur Live-Auswertung der Gen-Aktivität.
Das klingt heute ambitioniert, wird aber in
30 Jahren kein Problem mehr sein für die künftigen Hochleistungsrechner. Der Traum von einer personalisierten Medizin, einer individuellen Behandlung auf Basis des genetischen
Profils könnte doch noch wahr werden.
Selbst der Traum, kaputte Organe neu
IHR HAUS
WIRD
züchten zu können, könnte Realität werGEDRUCKT
66 %
den. Hier kommt Unterstützung von unerwarteter Seite, der rasant voranschreitenden 3-D-Druck-Technik. Auch Arme
und Beine werden sich ersetzen lassen
– mit bionischen Prothesen, gesteuert vom
32 / 33
und verabschieden sich innerlich vom Job in der
Entwicklungsabteilung. Konzern- und Start-upKultur werden verschmelzen, erst an den Rändern, dann immer tiefer.
Ja, es wird feste Jobs geben. Routinemäßige Eingriffe ins Erbgut, die sich mit der revolutionären
Technik CRISPR-Cas bereits abzeichnen, will man
dann doch lieber den persönlich greifbaren Experten überlassen. Ebenso die Arbeit an Nanopartikeln, an mikroskopischen Medizinmaschinen,
die man Patienten in die Blutbahn spritzt. Oder an
künstlichen Mikroorganismen, mit denen die synthetische Biologie den Grundstein legt für organische Fabriken und Kraftwerke. Aber auch diese Experten werden zugreifen auf Just-in-time-Kräfte,
akademische Zuarbeiter in einem BiohackerLabor irgendwo auf der Welt.
›
GUTEN
MORGEN, WIE
FÜHLEN SIE
SICH HEUTE?
IM KRANKENHAUS
Ja, dieser Arzt ist
ein Hologramm.
Das spart Wege und
damit Zeit. Und die
Pflegekraft ist ein
Roboter – ebenso
wie das Kuscheltier,
das Vitaldaten zur
sofortigen Auswertung weiterleitet.
Dann weiß der
Holo-Doc, ob der
Patient wirklich
okay ist.
Schützen
Die Freiheit der Tagelöhner
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
werden Einzel- und Sammelfahrzeuge dahin gelenkt, wo sie gebraucht werden, über in Echtzeit
geplante und gelenkte Verkehrsströme. Leere
oder überfüllte Busse? Stau? Parkplatzsuche?
Steinzeit.
Und weil die Stadt weiß, wer wohin unterwegs ist, kann sie Ihnen auch sagen, was Sie dort
erwartet. Wie voll es am Strand wird, auf dem
Markt, im Restaurant. Wenn Sie da nicht eh schon
online gebucht haben, was a) die Stadt auch schon
weiß und b) in die automatische Personalplanung
eingeht, die Kellner und Köche und Klappstuhlverkäufer bucht für Stunden oder Tage.
Arbeiten im Takt der On-demand-Economy
wird Alltag. Drei Stunden kellnern, im Coworking-Büro drei Wochen an einem Programmierprojekt mitarbeiten oder drei Monate an einem
Hardware-Produkt, das dann nicht vom Band
läuft, sondern überall auf der Welt aus dem
3-D-Drucker plumpsen kann. Besuchen Sie heute
mal eine 3-D-Druckwerkstatt, sehen Sie sich auf
den Crowdfunding-Plattformen Indiegogo
oder Kickstarter um. Und jetzt denken Sie 30 Jahre in die Zukunft
ALLES
O.K.
PULS
TEMP.
BLUT
URBAN FARMING
Es spart unnötige Transportwege, wenn
Gemüse und Obst in der Stadt angebaut
werden. In Hochhäusern müssen ja
nicht unbedingt Menschen wohnen.
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
Schützen
Einige werden es als Tagelöhner­
fron empfinden, andere als ultima­
tive Freiheit der Lebensplanung.
Was das bedeutet für eine sozi­
ale Gesellschaft – mit der Frage
wird man in 30 Jahren hoffent­
lich ein bisschen weiter sein.
Aber immerhin: Diesen
Diskurs zu führen bleibt eine
Aufgabe für Menschen – anders
als viele Wissensberufe. Wer ge­
sehen hat, wie IBMs Supercompu­
ter Watson menschliche Champions
in der Gameshow „Jeopardy“ aussticht,
der ahnt, wie es brodelt in der lange belä­
chelten Forschung zur künstlichen Intelligenz.
Warte, warte nur ein Weilchen, dann kommt
Watson auch zu dir, in die Kanzleien und Kran­
kenhäuser. Es wird anfangen mit Standardver­
fahren, bei denen man dem Personal schon heu­
te Checklisten in die Hand gibt, um menschliche
STABILE HÜLLE
Mensch und Maschine
verschmelzen: Exoskelette
erlauben es etwa gelähmten Menschen, sich frei
und ungehindert zu bewegen – und zu arbeiten.
HEY, DAVID,
DEIN EXO-FLEX2000-ANZUG
HAT NUR NOCH
20 MINUTEN
ENERGIE.
AVATARMODUS
AN.
Schussligkeit einzudämmen. Und von da geht es
weiter.
Eintauchen in andere Welten
Erinnern Sie sich an Ihre Nutzungsdaten bei Net­
flix, Spotify und Amazon? Sie liefern die Basis für
die nächste Generation kultureller Massenware:
computergenerierte Romane, Discohits, Dreh­
bücher. Wobei die meisten Filme nichts mehr zu
tun haben werden mit dem Kino, das wir kennen.
Virtual­Reality­Kinos, in denen wir mit dem ganzen
Körper in andere Welten eintauchen oder uns durch
holografische Projektionen bewegen, werden
heutige 3­D­Filme lächerlich erscheinen lassen.
Nur aus Nostalgiegründen werden wir noch
alte Filme auf einer planen Fläche sehen, zum
Beispiel „Zurück in die Zukunft“. Und über die
schlimmste Idee lachen, die zum Glück nie wahr
geworden ist: die Krawatte mit zwei Knoten.
Zwei Knoten! Kein Wunder, dass da niemand
die Zeit hatte, das Internet zu erfinden.
34 / 35
»ICH HÄTTE KEIN
WORT GEGLAUBT«
Die Zukunft hatte sich GÜNTHER ANTON KRABBENHÖFT, 70, anders vorgestellt.
„Positionen“ bat den deutschlandweit bekannten „Hipster-Opa von Berlin“
und JANNIK SÜHRIG, 29, zum Gespräch über Erwartungen und Enttäuschungen.
INTERVIEW: MICHAEL PRELLBERG • FOTOS: HAGEN WOLF
G
ünther Anton Krabbenhöft fällt auf.
Er trägt Weste,
Hut und Fliege zu
Lederstiefeln und
steckt seine langen
Beine in hochgekrempelte Jeans.
Aus seinem Hut lugt vorwitzig
eine blaue Feder. Das ist eben
sein Look. Die Medien nennen ihn
den „Hipster-Opa von Berlin“, weil
Krabbenhöft bereits 70 Jahre alt ist
(und tatsächlich zweifacher Großvater). Zum Interview im Kreuzberger
Café „Kaffeebar“ erscheint er gemeinsam mit Jannik Sührig. Den 29-Jährigen
hat er im Techno-Club „Berghain“ kennengelernt, beim Raven.
Herr Krabbenhöft, wenn Ihnen jemand früher
erzählt hätte, mit 70 Jahren sind Sie eine Stil-Ikone
und werden nächtelang durchtanzen ...
Günther Anton Krabbenhöft: ... dann hätte ich kein Wort geglaubt. Solch eine Zukunft lag für mich komplett außerhalb
des Vorstellbaren.
Wie haben Sie sich als junger Mann die Zukunft vorgestellt,
mit fliegenden Autos und Städten auf dem Mond?
GAK: Ich wollte der großen Liebe begegnen, wollte Frau und
Kinder. Ansonsten hatte ich wenig konkrete Vorstellungen,
die über „Ich möchte später mal ein Auto haben“ oder
›
»MIR SIND IMMER WIEDER
MENSCHEN BEGEGNET, DIE
MIR GEZEIGT HABEN, WOFÜR
SIE BRENNEN. DAS HAT
AUCH MEIN EIGENES FEUER
WIEDER ENTFACHT.«
GÜNTHER ANTON KRABBENHÖFT,
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
Schützen
70, gelernter Koch, heute Stil-Ikone und Raver
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7jahrelaenger
„Ich möchte irgendwie gut leben“ hinausgingen.
Ich bin ja gelernter Koch und habe recht jung geheiratet, schon mit 24 Jahren, und dann gab es
schnell Nachwuchs. Also stand für die nächsten
Jahre die Familie im Mittelpunkt. Bis dann irgendwann der Gedanke kam: War’s das jetzt oder
geht’s weiter?
Fühlten Sie sich damals festgefahren?
GAK: Zum Glück selten. Das Schicksal hat immer
so kleine Dinge bereitgehalten, die mich daran
erinnert haben, dass mein Leben toll ist. Oft sind
mir Menschen begegnet, die mir gezeigt haben,
wofür sie brennen. Das hat auch mein Feuer wieder entfacht – und mich gelehrt, offen und neugierig zu bleiben.
Neugierig auf Mode waren Sie offenbar früh ...
GAK: Falsch. Ich bin nicht an Mode, sondern an
Kleidung interessiert. Sie war schon immer meine Möglichkeit, mich nach außen abzugrenzen.
Ich habe Secondhandläden durchstöbert und irgendwie mein eigenes Ding gemacht. Etwa eine
alte Skihose aus den 20er-Jahren ausgegraben,
dazu Wanderstiefel angezogen und oben – was
weiß ich. Ich hatte immer so eine Vorstellung. Das
ist viel belächelt worden, und es gab jede Menge ablehnende Kommentare. Sicherlich habe ich
manchmal danebengelegen, aber das gehört ja
dazu, wenn man experimentiert und versucht,
sich zu finden. Damit habe ich irgendwie gelebt
und weiß eigentlich erst heute, wie viel Stärke
damals dazugehörte.
Ernten Sie heute als gut angezogener 70-Jähriger
andere Reaktionen als früher?
GAK: Dazu muss ich sagen: Ich kleide mich heute anders als früher. Wenn man älter wird, kann
man nur auf die klassische Herrenmode zurückgreifen, ohne albern zu wirken. Niemand wird
Teil der Jugend, wenn er sich jugendlich anzieht
– das kann nur lächerlich wirken. Was ich merke:
Die Reaktionen auf mich ändern sich. Es ist mir
früher nie passiert, dass mir so viele freundliche Blicke zugeworfen werden, dass Frauen und
Männer den Daumen hochheben, dass ich angesprochen werde oder Komplimente kriege. Und
dann sehe ich die ganzen jungen Menschen, die
danach streben, bloß nicht aufzufallen ...
Das heißt, Sie würden Ihren Begleiter gern mal in
einen Herrenanzug stecken?
Jannik Sührig: Bitte nicht! Anzug, das bin ich so gar
nicht.
GAK: Das weiß man erst, wenn man’s ausprobiert
hat. Ich kenne viele junge Leute, die sich doch getraut haben und plötzlich sagen: Hey, sieht ja total
scharf aus! Ein Anzug kann auch eine Haut sein,
in die man hineinschlüpft und zu der man eine
Attitüde entwickelt: Hey, wer bin ich denn?
JS: Ich weiß, wer ich bin. In der falschen Kleidung
spüre ich vor allem, wer ich nicht bin.
Herr Krabbenhöft, sollten wir trotzdem »falsche
Kleidung« wagen und so neue Rollen ausprobieren?
GAK: Auf jeden Fall sollte man sich trauen dürfen,
neue Rollen auszuprobieren. Das Spannende ist
ja: Was passiert eigentlich, wenn ich Lust habe
auf etwas Neues, was kommt von den Menschen
zurück? Ebenfalls etwas Neues, etwas, was ich
vorher noch nicht kannte. Je nachdem, wie ich angezogen bin, lerne ich unterschiedliche Menschen
kennen – auch wenn ich das nicht für die anderen
mache, sondern für mich. Wie jeder Mensch habe
als Menschen Fortschritte machen, das sehe ich
nicht. Der Charakter des Menschen gibt nicht
wirklich Anlass zu viel Hoffnung. Deswegen wage
ich zu bezweifeln, dass die Welt in 30 Jahren aufgrund des technologischen Fortschritts besser ist.
Im Gegenteil: Ich glaube, wir machen eher einen
gesellschaftlichen Rückschritt.
Das klingt skeptisch. Herr Krabbenhöft, waren Sie
als junger Mann optimistischer?
GAK: Nein, ich habe mich auch immer gefragt,
ob und wie es wohl weitergehen wird. Im Nachhinein war das eine tolle Situation, in den Aufbaujahren schien alles möglich, und es ging nur
nach oben. Er herrschte eine andere Stimmung
im Land, aber die war nicht immer identisch mit
der eigenen Stimmung. Als junger Mensch habe
ich an vielem gezweifelt, nicht zuletzt an mir
selbst. Heute bin ich gelassener: Es kommt, wie
es kommt. Wirklich aufhalten kann man nichts.
Mit 70 Jahren tanzen Sie nächtelang durch. Wäre
es nicht schön, wenn das dank des medizinischen
Fortschritts ein paar Jahre länger ginge, als es
jetzt möglich erscheint?
GAK: Ich lebe heute. Ich will weder zurück noch in
die Zukunft schauen, das bringt mich nicht weiter. Zumal mir die Zukunft ja auch eher begrenzt
ist. Ja, ich möchte selbstbestimmt alt werden,
mich bewegen und den Menschen begegnen können, der Rest wird sich finden. Wenn mich einer
fragen würde: Was würdest du anders machen?,
dem würde ich sagen: Es soll alles so bleiben.
Denn was alles passiert ist in meinem
Leben, hat mich zu dem gemacht,
der ich bin. Was soll da anders sein? Wie ich jetzt
bin, finde ich gut.
»WENN WIR ZUM MOND
FLIEGEN, NENNEN WIR DAS
FORTSCHRITT. ABER ALS
MENSCHEN MACHEN WIR
EHER KEINE FORTSCHRITTE.«
JANNIK SÜHRIG,
29, arbeitet beim Start-up Allyouneed Fresh in Berlin
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
ich viele Facetten, und bei mir zeigen die sich in
der Kleidung: Das bin ich.
Wer sind Sie, wenn Sie in Clubs tanzen?
GAK: Ich. Diese unbändige Form des Tanzens und
die Energie und Kraft in solchen Clubs entspricht
genau meinem Bedürfnis. Ich habe mir das jahrzehntelang versagt, weil ich immer die Schere im
Kopf hatte, wenn ich da aufkreuze, sagen die anderen: Was will denn der Alte hier? Mit 40 oder
50 Jahren, da wollte ich los, mit dieser wilden Lust
auf Bewegung – aber getraut habe ich mich nicht.
Deshalb bin ich so froh, dass mich vor einem Jahr
diese beiden jungen Frauen einluden, mit ins
„Berghain“ zu kommen. Ich war plötzlich in diesem Kosmos gefangen. Alles huschte durcheinander und dann diese wummernden Bässe. Wie aufregend ist das denn? Und keiner guckt komisch,
alle sind total freundlich. Und ich kann ausleben,
was da in mir steckt.
Wie werden Sie ausleben, was in Ihnen steckt, Herr
Sührig? Anders gefragt: Wie neugierig sind Sie auf
die Zukunft?
JS: Sehr, aber ich frage mich, ob Neugierde überhaupt gewollt ist. Als junger Mensch werde ich
ständig aufgefordert, mir feste Ziele zu setzen
und die konsequent zu verfolgen. Aber je stärker
ich mich festlege, um so weniger sehe ich mögliche Alternativen. Das wäre schade. Ich brauche
Neugierde und Offenheit, um auf dem Weg in die
Zukunft neue Richtungen einzuschlagen, von denen ich heute noch gar nichts weiß.
Wenn Sie heute 30 Jahre in die Zukunft schauen,
sehen Sie da fliegende Autos und Städte auf dem
Mond?
JS: Nein, ich sehe vor allem viele Fragezeichen.
Viele gesellschaftliche Entwicklungen finde ich
eher beängstigend. Für mich selbst hoffe ich,
weiterhin dieselbe Wachheit zu haben wie heute und vor allem glücklich und zufrieden zu sein.
Und das wird keine Frage des Geldes sein, denn
darum geht es schon heute nicht.
Auf uns warten technische und medizinische Fortschritte. Gibt das nicht Anlass zur Hoffnung?
JS: Wenn wir Autobahnen bauen oder zum Mond
fliegen, nennen wir das Fortschritt. Aber dass wir
Schützen
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Wer besonnen Auto fährt, kann bei der Kfz-Versicherung sparen.
Das versprechen die neuen Telematiktarife. Für wen lohnt sich das?
Und wie funktioniert das überhaupt?
[ STRASSENLAGE: KRITISCH ]
startete die Sparkassen DirektVersicherung (S-Direkt) 2014 den ersten
Modellversuch. Inzwischen ziehen
viele Anbieter nach, darunter Signal
Iduna, VHV, Axa und Admiral Direkt.
Allianz und HUK-Coburg wollen demnächst einsteigen.
Zielgruppe sind vor allem Fahranfänger. Die Ansage: Es wird billiger, wenn du uns beweist, dass du
vernünftig fährst. Nicht nachts durch
die Alleen herunterheizen, vorausschauend bremsen und eher zärtlich
beschleunigen. Registriert wird das
Fahrverhalten per Smartphone oder
über eine sogenannte Blackbox, die in
den Motorraum integriert wird. Bei
anderen Anbietern wie der VHV wird
die Blackbox in die 12-Volt-Buchse im
Fahrzeuginnenraum gestöpselt.
›
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
ordcomputer und Assistenzsysteme können eine Menge: Sie geben für den Autofahrer Gas, bremsen, warnen
vor Gefahren oder lassen eine
LED blinken, wenn etwas mit
dem Motor nicht stimmt.
Das Auto „kennt“ seinen
Fahrer, aber es behält alles
für sich. Auf Wunsch fährt
jetzt die Versicherung mit: Telematiktarife gewähren Kunden einen
Prämiennachlass, wenn die ihr Fahrverhalten aufzeichnen und auswerten
lassen. Umsichtige Fahrer werden belohnt, andere – so die Hoffnung – motiviert, sicherheitsbewusster zu fahren.
Im Ausland sind solche „Pay how
you drive“-Tarife schon länger
Usus, in Deutschland
Regeln
TEXT: GEORG DAHM
›
Manche Systeme messen nur
Faktoren wie Geschwindigkeit, Uhrzeit, Beschleunigungs- und Bremsverhalten, manche zeichnen auch Routen
auf. Die Daten werden per Mobilfunk
an einen unabhängigen oder zum Versicherer gehörenden Dienstleister übertragen, der daraus nach jeder Fahrt
eine Note errechnet, den sogenannten Score. Dieser wird an den Kunden
sowie seinen Versicherer geschickt.
Der Kunde kann die Datenerfassung
abschalten – riskiert dann aber, den
Bonus zu verlieren.
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
Regeln
Das Interesse wächst
„Telematiktarife scheinen nun auch
Einzug in den deutschen Markt zu
finden“, sagt Tibor Pataki, Leiter der
Abteilung Kraftfahrtversicherung
beim Gesamtverband der Deutschen
Versicherungswirtschaft (GDV). Die
Axa hatte erst einmal die Entwicklung
verfolgt, bevor sie im November 2015
einstieg. Und die VHV in Hannover hat
jahrelang einen Pilotversuch gefahren,
bevor sie im September 2015 ihren Tarif „Telematik Garant“ lancierte. „Diese Erfahrungswerte haben wir für die
Tarifierung genutzt“, sagt Vorstand
Per-Johan Horgby.
Peter Slawik geht diesen Schritt
noch nicht. „Bisher gibt es nur sehr
wenige Schadenfälle von Fahrzeugen
mit Telematikeinheiten“, sagt der Vorstand von Provinzial Rheinland. „Daher
gibt es auch keine gesicherten Modelle,
welches Fahrverhalten schadenträchtig ist oder nicht.“ Erst dann könne ein
vernünftiger Tarif angeboten werden.
Rund neun Millionen Schadenfälle
werden jährlich von den Kraftfahrtversicherern bearbeitet. Sie fließen ein
in die Schadenbedarfsstatistiken des
GDV – ein Datenfundus, auf dem das
Raster basiert, in das Versicherer heute
schon ihre Kunden einordnen können.
„Interessant wird sein“, sagt GDV-Ex-
perte Pataki, „welche Auswirkungen
die Telematik auf das bestehende Tarifierungssystem haben wird.“ Und mit
welchen Methoden das Fahrverhalten
ausgewertet wird.
Die derzeit benutzten ScoreModelle beruhen auf Annahmen, etwa:
Wer stark beschleunigt und heftig
abbremst, verursacht mehr Unfälle.
„Aber stimmen diese Annahmen?“,
sagt Provinzial-Rheinland-Vorstand
Slawik. Deshalb brauche er Daten. „Die
Unfallprognose muss besser sein als
bisher, sonst macht ein Telematiktarif
doch keinen Sinn.“
Das sieht die R+V ähnlich, sie hält
noch keine Lösung für ausgereift:
„Die Telematik-Boxen zeichnen das
Fahrverhalten kleinteilig auf, aber das
System kann diese Daten nicht interpretieren“, resümierte Projektleiter
Marc-Oliver Matthias nach einer Praxisstudie mit 1500 Teilnehmern.
Die Allianz ist optimistischer:
„Wir bewerten nicht jeden einzelnen
Bremsvorgang, sondern schauen uns
das gesamte Fahrverhalten an“, sagt
Sprecherin Charlotte Gerling. Wer für
einen über die Straße laufenden Hund
stark bremst, brauche keine Angst zu
haben, dass ihm das als aggressives
Fahrverhalten ausgelegt wird.
Wo sie eingeführt werden, scheinen „Pay how you drive“-Tarife einen
positiven Effekt zu haben, die Unfallquote soll erkennbar gesunken sein.
„Wir haben im Pilotversuch gesehen:
Das Fahrverhalten ändert sich, und
zwar deutlich“, sagt VHV-Vorstand
Horgby. Trotzdem reagieren Datenschützer skeptisch. Sie fragen: Sind
»MIT TELEMATIKTARIFEN ÄNDERT
SICH DAS
FAHRVERHALTEN,
UND ZWAR
DEUTLICH.«
PER-JOHAN HORGBY,
VORSTAND VHV
die Daten ausreichend geschützt? Entstehen Bewegungsprofile? Können
Strafermittler nach einem Unfall die
Blackbox auswerten?
Transparenz darüber, welche Daten erhoben und verarbeitet werden,
die strikte Freiwilligkeit, wenn es darum geht, die Daten an den Versicherer
weiterzugeben, und Datensicherheit
sind Voraussetzungen dafür, die neuen
Tarife anbieten zu können. Auch deshalb steht die Branche mit den Datenschutzbehörden im Austausch.
Erst fahren, dann sparen
Ein Anreiz für den Abschluss eines
Telematiktarifs ist der mögliche finanzielle Vorteil. Wer eine solche
Versicherung abschließt, kann auf einen deutlich niedrigeren Preis im Vergleich zu herkömmlichen Angeboten
hoffen, die Differenz kann durchaus bis
zu 40 Prozent betragen. Dieser Vorteil
sei allerdings nicht immer gegeben,
sagen Verbraucherschützer. Tatsächlich rechnet sich der Telematik-Bonus
nicht immer – er muss schließlich erst
durch verantwortungsvolles Fahren
verdient werden.
Kritiker wie der Verband Deutscher Versicherungsmakler sehen in
den Telematiktarifen hingegen einen Angriff auf das Solidarprinzip: Je
mehr Fahrern es gelänge, ihre Beiträge zu senken, desto mehr müssten die Versicherer den Umsatzausfall anderswo zurückholen. Die
Assekuranz weist die Kritik zurück:
„Dass der eine für den anderen
mitbezahlen soll, weil das Risiko falsch
eingeschätzt wurde, ist bei der KfzVersicherung nicht der Fall“, sagt HUKCoburg-Sprecher Holger Brendel. „Es
gibt bereits jetzt schon viele Möglichkeiten, den Tarif an das eigene Risiko
anzupassen.“
Abzuwarten bleibt, ob Telematik
ein Randphänomen für junge Fahr-
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Regeln
Genau das wird auch vor dem Hintergrund der Einführung von E-Call
wichtig. Dieses System, das von 2018
an EU-weit in jedem neuen Pkw-Modell verbaut sein muss, soll nach einem
Unfall automatisch einen Notruf absetzen. Die dafür nötige Technik macht
aber auch andere Service-Angebote
möglich. Damit hier kein Datenmonopol der Autohersteller entsteht, engagiert sich der GDV in Brüssel für eine
offene und standardisierte Schnittstelle zum Austausch von Kfz-Daten. Kunden sollen schließlich frei entscheiden
können, ob und welchem Anbieter sie
die Daten aus ihrem Auto zur Verfügung stellen wollen.
Geheimnisse gibt es an Bord
schließlich schon genug.
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anfänger bleibt. Marktstudien liefern bislang
kein eindeutiges Bild.
Eine Hürde sind die Kosten: „Bei uns kostet die
Telematik-Box sieben
Euro pro Monat“, sagt VHV-Vorstand
Horgby, „das lohnt sich ab einer Jahresprämie von rund 500 Euro.“ Andere
Anbieter verzichten ganz auf teure
Hardware und setzen auf das Smartphone. „Wir haben uns ganz bewusst
gegen die permanente Aufzeichnung
von Daten über eine Blackbox entschieden“, sagt Nadine Kast-Plath
von der Axa. „Die Erhebung der Daten
über das Smartphone räumt unseren
Versicherten die Möglichkeit ein, frei
zu entscheiden, ob und wann sie Fahrdaten teilen und wann nicht.“
HUK-Coburg-Sprecher Brendel
dagegen sieht keine Alternative zur
Blackbox: „Für wirklich verwertbare
Daten muss die Technik fest verbaut
sein.“ Auch VHV-Vorstand Horgby
hält das Smartphone für ungeeignet
und setzt stattdessen auf eine würfelförmige Blackbox, die nicht fest mit
dem Auto verbunden ist – schon aus
Sicherheitsgründen.
Für jede dieser Telematik-Technologien gilt: Die Kunden müssen selbst
darüber bestimmen können, wer ihre
Daten erhält und wer nicht.
RUHE BITTE!
Solvency II, das neue Aufsichtsregime für die Assekuranz,
ist zu Jahresbeginn scharfgeschaltet worden.
Erste Auswirkungen werden bereits sichtbar, doch für
hektische Betriebsamkeit besteht (noch) kein Anlass.
TEXT: OLAF WITTROCK
›
Jetzt beginnt der Praxistest
Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt, das ist
Bernardinos Botschaft, dann erst folgt der zweite.
Konkret heißt das: Gebt der neuen Ordnung erst
einmal genügend Zeit, sich in der Praxis zu beweisen und zu bewähren. Dieses Signal
Das „Gerippte“, so
ist angekommen und hat in der Verwie die gerippten
Äppelwoi-Gläser,
sicherungsbranche einige aufgeregte
nennen die FrankGemüter entspannt.
furter den WestDie regulatorische Zeitenwende
hafen Tower, in desfordert schließlich alle Beteiligten
sen oberen Etagen
die europäische Verheraus, und das auf ganz untersicherungsaufsicht
schiedliche Weise. Die Versicherer
Eiopa residiert.
müssen sich mit neuen Antragsverfahren auseinandersetzen, neue Schlüsselfunktionen einführen und ihr Berichtswesen völlig
neu gestalten. Im Grunde müssen alle Daten neu
und anders aufbereitet werden, denn sie werden
auch anders bewertet. Das zeigt sich besonders
bei der Frage, wie viel Eigenkapital ein Unternehmen vorhalten muss.
Bis 2015 orientierte sich der Gesetzgeber
dabei weitgehend am Geschäftsvolumen der
»SOLVENCY II IST EIN
MEILEINSTEIN, FÜR DEN
VERSICHERUNGSMARKT
EBENSO WIE FÜR DEN
VERBRAUCHERSCHUTZ.
WAS ES ALLERDINGS
NICHT IST: EIN ANLASS
ZUR SELBSTZUFRIEDENHEIT.«
GABRIEL BERNARDINO, EIOPA-VORSITZENDER
Unternehmen, heute müssen sie viel umfassendere und am Risiko orientierte Eigenmittelvorschriften einhalten. Geschäfts-, Markt- und Kreditrisiken, die bislang kaum beachtet wurden, werden plötzlich wichtig. Die steigenden Ansprüche
treffen die gesamte Versicherungsbranche in
einer Phase, in der niedrige Zinsen ohnehin das
Geschäft erschweren.
Wer die Branche von außen beobachtet – als
Investor oder Analyst, Kunde oder Journalist –,
muss sich ebenfalls umgewöhnen. Womöglich
erscheint im Licht von Solvency II ein Unternehmen als weniger solide, das bisher mit hervorragender Eigenkapitalausstattung glänzte, aber
seine Risiken scheinbar nicht optimal im Griff hat.
Es gibt einiges zu optimieren, denn die Aufsicht
hat an gleich drei Regulierungssäulen derart viele Stellschrauben auf einmal angesetzt, dass es
selbst Profis schwerfällt, das Regelwerk wenige
Wochen nach dem Start bereits voll zu erfassen
und zu bewerten.
Neuland betreten
Auch wenn die Zeit der Trockenübungen vorbei
ist, erwartet niemand, dass vom Start weg alles
perfekt funktioniert. „Wir müssen Solvency II
die Chance geben, sich zu entfalten“, sagt Frank
Grund, Exekutivdirektor der deutschen Ver›
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
M
odern, robust, angemessen
– das seien die Eigenschaften von Solvency II, wirbt die
europäische Versicherungsaufsicht Eiopa. Das Regelwerk
ist nach einem Jahrzehnt harter und zäher Verhandlungen Anfang 2016 in
Kraft getreten. Endlich, möchte man hinzufügen.
Tatsächlich klingt der Eiopa-Chef Gabriel Bernardino einigermaßen erleichtert, wenn er zum Start
daran erinnert, welche Vorzüge sein Regime mit
sich bringt: „Ohne den neuen risikoorientierten
Ansatz würde die europäische Versicherungsaufsicht den internationalen Entwicklungen hinterherhinken.“
Solvency II sei ein Meilenstein, sagt Bernardino, für den Versicherungsmarkt ebenso wie für
den Verbraucherschutz, „allerdings kein Anlass
zur Selbstzufriedenheit“. Nun beginne für alle Beteiligten eine neue und womöglich noch längere
Reise, hin zu einem konsistenten und konvergenten Regelwerk.
REGELN
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Positionen # 1 _ 2 0 1 6
Regeln
Nachjustieren kann
man später: Die CDUBundestagsabgeordnete Anja Karliczek
ist froh, dass es mit
Solvency II endlich
losgegangen ist.
sicherungsaufsicht bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). „Es kommt
nun darauf an, Theorie und Praxis zu verbinden.“
Für die Versicherungsunternehmen bedeutet das: Einige von ihnen werden vermutlich ein
paar Anläufe brauchen, bis sie beispielsweise ihr
Meldewesen so umgestrickt haben, dass die BaFin
damit zufrieden ist. Immerhin betritt die BaFin
bei der Technik der neuen quartalsweisen Meldeverfahren ebenso Neuland.
Zugleich gibt Solvency II den Versicherern
Zeit, neue Regeln umzusetzen. Beim Aufbau der
Eigenkapitalpuffer, mit denen sich die Unternehmen gegen Extremereignisse absichern, erlauben
Anpassungsklauseln einen Übergang innerhalb
der kommenden 16 Jahre.
Während einige Anbieter von Anfang an
sämtliche Rückstellungen komplett nach den
neuen Regeln bewerten, nutzen andere den Zeitpuffer bis zum Jahr 2032, um schrittweise weitere Eigenmittel aufzubauen. Dazu werden viele
an der Kostenschraube drehen, andere Produkte
anbieten und möglicherweise Geschäftsrisiken
reduzieren, erwartet die Aufsicht.
Zeiten des Übergangs
Genau diese Flexibilität hatte sich Burkhard Balz
erhofft. Balz, der als CDU-Politiker für die Europäische Volkspartei im Europaparlament sitzt,
hatte sich dort in den vergangenen Jahren stets
für Übergangsvorschriften starkgemacht – und
zudem dafür gekämpft, dass die Regulierer kleineren Unternehmen im Sinne der Proportionalität manches erleichtern. Nach dem ruhigen Start
des Regimes zum Jahreswechsel sieht Balz sich
bestätigt: „Solvency II hat als Gesetzeswerk seinen Schrecken verloren.“
Etwaige Sorgen, dass schnelle Umsetzer den
langsameren Konkurrenten davonziehen könn-
Der Europaparlamentarier
Burkhard Balz hat sich auf
EU-Ebene für flexible Übergangsregelungen starkgemacht – jetzt greifen sie.
»BEI SOLVENCY II KOMMT
ES NUN DARAUF AN,
THEORIE UND PRAXIS
ZU VERBINDEN.«
FRANK GRUND, EXEKUTIVDIREKTOR DER BAFIN
44 / 4 5
»ES GIBT EINIGE BAUSTEINE IM REGELWERK,
DIE WIR NICHT UNBEDINGT BENÖTIGEN.
WIR HABEN SIE ABER VORERST BEIBEHALTEN,
UM ENDLICH ZU STARTEN.«
ANJA KARLICZEK, CDU/CSU-FRAKTION IM DEUTSCHEN BUNDESTAG
So erweist sich das neue Regime zum Start als
einigermaßen geschmeidig. Deshalb sollten jetzt
alle Ruhe bewahren, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete Manfred Zöllmer. „Die Umsetzung
von Solvency II hat 16 Jahre gedauert und war
eine schwere Geburt. Nun wird es ebenfalls Zeit
brauchen für eine angemessene Evaluation der
Umstellung“, sagt Zöllmer, als stellvertretender
finanzpolitischer Sprecher seiner Fraktion für
Versicherungsthemen zuständig. „Ich empfehle
daher, den Verlauf in diesem Jahr abzuwarten,
bevor man gleich wieder darüber nachdenkt, wie
man das System weiterentwickelt.“ Für Bewertungen sei es allemal zu früh.
Auch seine CDU-Kollegin Anja Karliczek, die
ebenfalls im Finanzausschuss des Bundestages
sitzt, mahnt zur Geduld. „Ich sehe als Deadline
für die erste Evaluierung den Januar 2018“, sagt
Karliczek. Dann allerdings gehöre Solvency II auf
den Prüfstand gestellt. Es gebe „einige Bausteine
im Regelwerk, die wir nicht unbedingt benötigen, die wir aber vorerst beibehalten haben, um
endlich zu starten“. Aber nach zwei Jahren werde
es genug Feedback aus der Praxis – auch von den
kleineren Unternehmen – geben, um Solvency II
nachzujustieren.
Dagegen spricht nichts, denn Solvency II ist
konzipiert worden als ein lebendiges Regelwerk,
offen für Verbesserungen und Veränderungen.
Denn die kommen sowieso, etwa in Form neuer
Regeln aufgrund der Entwicklung internationaler
Kapitalstandards.
Umso besser, wenn genügend Zeit bleibt, sich
umzustellen.
Das neue Regelwerk zur Versicherungsaufsicht fußt auf
drei Säulen. Die erste beschäftigt sich mit der Kapitalausstattung der Versicherer: Wie viel Geld wird wie angelegt?
Bei der zweiten Säule wird’s persönlich: Die Unternehmen
müssen kompetentes Führungspersonal nachweisen. Da
Solvency II sich zugleich – dritte Säule – als Frühwarnsystem versteht, müssen Versicherer regelmäßig über ihre
Finanzlage und Risiken berichten. Wer’s noch genauer
wissen will: Geballte Informationen gibt es auf dem
Solvency-II-Poster, das dieser Ausgabe beiliegt.
Regeln
Geschmeidig bleiben
SO GEHT SOLVENCY II
Sie können das Poster auch bestellen – bei der Redaktion
„Positionen“, GDV, Wilhelmstraße 43/43G, 10117 Berlin,
oder im Internet als PDF herunterladen unter:
http://www.gdv.de/infografik-solvency-ii/
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
ten, teilt Balz nicht. Wer die Übergangsregeln
nutze, lege ja dabei offen, was er tue – und die
Standards seien immer vergleichbar. „Die Versicherungsaufsicht hat alle Zahlen zur Verfügung,
die sie benötigt“, sagt Balz. „Wer Übergangsregeln
anwendet und seine Kunden vollumfänglich zufriedenstellt, ist mir genauso recht wie ein Unternehmen, das die Übergangsregeln nicht nutzen
möchte und Gebrauch von anderen Langfristmaßnahmen macht.“
DAS CHINA-SYNDROM
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
KOLUMNE
Ein schwächeres Wachstum und Börsencrashs haben
das Vertrauen in die Krisenfestigkeit Chinas, der zweitgrößten
Volkswirtschaft der Welt, tief erschüttert. Zu Unrecht.
K
ennen Sie „Das China-Syndrom“? In
dem Spielfilm versuchen Michael
Douglas, Jane Fonda und Jack Lemmon, einen Super-GAU in einem USAtomkraftwerk zu verhindern, damit dessen Reaktorkern sich nicht durchfrisst
bis ans andere Ende der Welt, nach China.
Wissenschaftlich gesehen ist das Nonsens, nicht einmal ein strahlend-heißer Klumpen aus Uran und Plutonium kann sich quer
durch den Globus fressen. Dennoch fühle ich
mich in letzter Zeit oft an diesen Film erinnert.
Denn bald, befürchten einige Auguren, wird
sich wieder etwas quer durch die Welt fressen
– in Gegenrichtung: die China-Krise!
Es gibt zugegebenermaßen einige Anzeichen dafür, dass die nach den USA zweitgrößte
Volkswirtschaft der Welt ins Wanken geraten
ist. Die Aktienmärkte in Shanghai, Shenzhen
und Hongkong sind seit Jahresbeginn um rund
20 Prozent nach unten gerauscht. Die leeren
Geschäftshäuser und Wohn-Wolkenkratzer in
Chinas Städten nähren den Verdacht auf eine
Immobilienblase. Und das Wirtschaftswachstum fällt mit 6,9 Prozent im vergangenen Jahr
so niedrig aus wie seit 25 Jahren nicht mehr.
Allerdings ist die Lage keineswegs so
schlecht, wie es die Aktienmärkte zuletzt suggeriert haben. So befindet sich der wichtige
Dienstleistungssektor in guter Verfassung.
Gleiches gilt für den Einzelhandel, wo die Umsätze mit zweistelligen Prozentzahlen wachsen. Und schließlich: China verfügt über hohe
Devisenreserven. Diese Kapitalpolster lassen
sich schnell mobilisieren, um beispielsweise
mithilfe staatlicher Programme die Nachfrage
anzukurbeln. Zudem kann Chinas Zentralbank
die Geldpolitik weiter lockern. Beides werden
die wirtschaftspolitisch Verantwortlichen
ohne Zweifel einsetzen, um einen Konjunktureinbruch abzufedern und damit zu verhindern.
Klaus Wiener
ist Chefvolkswirt des
Gesamtverbands der
Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV)
Warum aber haben dann die Anleger an
Chinas Börsen so panisch reagiert? Das hat
viel damit zu tun, wie die Führung in Peking
agiert. So wurde die tolerierte Abwertung des
Renminbi („Volksgeld“) durch die Notenbank
zu Jahresbeginn als Indiz für eine schlechte
konjunkturelle Lage gewertet. Darüber hinaus haben die Offiziellen während der Aktienmarktcrashs im vergangenen Sommer und
zuletzt im Januar nicht gerade den Eindruck
vermittelt, Herren der Lage zu sein. Das ist
Gift für das Vertrauen von Investoren.
Problematisch ist das, weil eine Rezession in China tiefe Spuren im Rest der Welt
hinterlassen würde – auch in Deutschland,
schließlich liefern wir Maschinen, Autos und
selbst Lebensmittel im großen Stil ins Reich
der Mitte. Auch deshalb haben die Turbulenzen an Chinas Aktienmärkten die europäischen und amerikanischen Börsen angesteckt.
Bisher lässt sich aber nicht vorhersagen,
wie groß am Ende des Jahres die Aktienmarktverluste in der größten Volkswirtschaft Asiens
ausfallen werden. Für den Euro-Raum lassen
die expansive Geldpolitik sowie eine allmähliche Konjunkturbelebung hoffen, dass wir uns
von der Entwicklung in Fernost entkoppeln
können. Selbst dann muss uns eines klar sein:
2016 wird ein unruhiges Jahr für Investoren.
Die deutsche Assekuranz ist davon wenig
betroffen. Versicherer halten im Schnitt nur
fünf Prozent ihrer Anlagen in börsennotierten Aktien. Das hat damit zu tun, dass wir vorsichtig sind: Solange die Geldpolitik Bewertungsblasen erzeugen kann, werden Aktien in
den Portfolien der Versicherer auch weiterhin
nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Wir müssen also keine Angst vor einem
ökonomischen China-Syndrom haben. Genauso wenig übrigens wie die Helden in dem
Spielfilm: Sie konnten den Reaktor noch rechtzeitig abschalten. Es gab ein Happy End.
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RUNDE BILANZ
Das Jahr 2015 war kein einfaches für die Assekuranz – aber
alles in allem haben sich die Versicherer gut behauptet.
BEITRAGSEINNAHMEN GESAMT
Lebens-, Schaden/Unfall- und Private Krankenversicherung
2013
2014
187,4 Mrd. Euro
+3,1 %
192,6 Mrd. Euro
+2,7 %
2015
193,6 Mrd. Euro
+0,5 %
BEITRÄGE
Lebensversicherer,
Pensionskassen und -fonds
2014
93,7 Mrd. Euro
+3,1 %
2015
92,5 Mrd. Euro
–1,3 %
BEITRÄGE
Schaden- und
Unfallversicherung
2015
2014
64,2 Mrd. Euro
62,6 Mrd. Euro
+3,3 %
+2,6 %
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
2012
181,6 Mrd. Euro
+2,0 % (zum Vorjahr)
LEISTUNGEN
2015
2014
LAUFENDE
BEITRÄGE
2015
64,6 Mrd. Euro
+0,2 % (zum Vorjahr)
EINMALBEITRÄGE
45,4 Mrd. Euro
–8,6 % (zum Vorjahr)
2015
27,9 Mrd. Euro
–4,5 %
(zum Vorjahr)
48,0 Mrd. Euro
+5,8 %
VERSICHERUNGS­
TECHNISCHES ERGEBNIS
2014
3,3 Mrd. Euro
95 % (Schaden-Kosten-Quote)
2015
2,1 Mrd. Euro
97 %
Quelle: GDV
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TRISTAN
8
MILLIONEN EURO
DEN TOLLSTEN UNGEHEUERN FLIEGT UNSERE SYMPATHIE ZU. Das war bei King Kong so, als er aufs Empire
State Building kletterte. Und bei Godzilla, seit er die Menschheit gegen fiese Monster schützt.
Tyrannosaurus Rex hat länger gebraucht. Vielleicht weil er kein ausgedachtes Kino-Ungeheuer ist,
sondern ein zwölf Meter langer Saurier, der vor 66 Millionen Jahren höchst real durch die Kreidezeit
stampfte und mit scharfen Zähnen andere Tiere zermalmte. Es war allerdings im Kino, wo wir
liebenswerte Seiten des T-Rex kennenlernten: Seit „Ice Age“ gehören auch ihm unsere Sympathien.
Diese Zuneigung wird jetzt im Berliner Naturkundemuseum auf die Probe gestellt, wenn T-Rex
Tristan seine Zähne bleckt. Gruselig. Und vor allem: echt. Für eine Versicherungssumme von acht
Millionen Euro bleibt Tristan drei Jahre – nicht nur zum Gucken. Forscher wollen anhand des
hervorragend erhaltenen Skeletts mehr über den T-Rex erfahren. Etwa, ob er ein gnadenloser Jäger
war – oder eher ein Aasfresser. Was ihn doch wieder ein bisschen sympathischer machen würde.
Positionen # 1 _ 2 0 1 6
DIE S C H Ö N S T E
V E R S IC H E R U N G S S AC H E
DE R W E LT