47. Grimme-Preis 2011 - Grimme

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47. Grimme-Preis 2011 - Grimme
grimme
47.
Grimme-Preis
2011
Jury-Einblicke • Die Preise
Die Inhalte • Begründungen
Portraits • Trends
Hintergrund • Die Künstler
Fiktion
Tatort: Nie wieder frei sein
In aller Stille
Die fremde Familie
Sau Nummer Vier.
Ein Niederbayernkrimi
BAYERISCHER
AUSGEZEICHNETE
Wir freuen uns über die
Nominierungen
beim
Der Bayerische Rundfunk
gratuliert den
Nominierten zum
45. Adolf-Grimme-Preis
47. Grimme-Preis 2011
und gratulieren allen
unseren Preisträgern.
Serien & Mehrteiler Fiktion
Im Angesicht des Verbrechens
WDR/arte/Degeto/BR/SWR/NDR/ORF
Information & Kultur
Lost Town
BR/WDR
Serien & Mehrteiler
Information & Kultur
KlickKlack
(BR-Musik-Magazin)
www.br-online.de
www.br-online.de/film
Grimme-Preis
Tatort: Nie wieder frei sein
Dinah Marte Golch (Buch)
Christian Zübert (Regie)
Udo Wachtveitl, Miroslav Nemec,
Lisa Wagner (Darstellung)
Grimme-Preis
In aller Stille
Ariela Bogenberger (Buch)
Rainer Kaufmann (Regie)
Nina Kunzendorf (Darstellung)
RUNDFUNK
FILME
Wir freuen uns über die
Nominierungen
beim
Der Bayerische Rundfunk
gratuliert den
Gewinnern zum
45. Adolf-Grimme-Preis
47. Grimme-Preis 2011
und gratulieren allen
unseren Preisträgern.
Grimme-Preis
Im Angesicht des Verbrechens
Rolf Basedow (Buch)
Dominik Graf (Regie)
Michael Wiesweg (Kamera)
Claudia Wolscht (Schnitt)
Max Riemelt, Ronald Zehrfeld,
Mišel Matičević,
Marie Bäumer (Darstellung)
Wolf-Dietrich Brücker
(stellv. für die Redaktionen)
WDR/arte/Degeto/BR/SWR/NDR/ORF
www.br-online.de/film
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47. GRIMME-PREIS 2011
Foto: Thomas Kost
Foto: WDR / Greenwave Film
47. GRIMME-PREIS 2011
Ganz wirklich, ganz medial von Uwe Kammann.......................................7
Grimme-Preis Unterhaltung
Eine Kakophonie des Grauens von Sonja Zietlow und Dirk Bach.........8
Nominierungen im Überblick.........................................................................55
Dunkelkammern der Demokratie von Hans Hoff.....................................12
Aus der Nominierungskommission Unterhaltung
...bei genauerem Hinsehen
von Rainer Unruh.............................................................................................58
Komplizenschaft von Astrid Frohloff...........................................................16
Kann Fernsehen Vorbild sein? von Dr. Matthias Schreiber...................20
Wir sind eine unsichtbare Disziplin von Torsten Zarges......................22
Preisträger Unterhaltung
Krömer – Die internationale Show (ARD / rbb)..............................................60
Klimawechsel (ZDF).............................................................................................62
Die Menschen berühren von Nina Eichinger................................................27
Aus der Jury Unterhaltung
Wir müssen reden!
von Miriam Janke..............................................................................................65
Grimme-Preis Fiktion
Grimme-Preis Information & Kultur
Nominierungen im Überblick.........................................................................31
Nominierungen im Überblick.........................................................................73
Aus der Nominierungskommission Fiktion
Crashkurs in Sachen Qualität
von Sybille Simon-Zülch...................................................................................34
Aus der Nominierungskommission Information & Kultur
NoBody‘s Mauerhasen
von Holger Kühne..............................................................................................76
Preisträger Fiktion
Im Angesicht des Verbrechens (WDR / ARTE / Degeto / BR / SWR / NDR / ORF).......36
Tatort: Nie wieder frei sein (ARD / BR)............................................................40
Neue Vahr Süd (ARD / WDR / RB).........................................................................42
In aller Stille (ARD / BR).......................................................................................44
Keine Angst (ARD / WDR)......................................................................................46
Preisträger Information & Kultur
Aghet – Ein Völkermord (ARD / NDR)................................................................78
Iran Elections 2009 (WDR / ARTE).......................................................................80
Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte (WDR / NDR / rbb / ARTE)..............82
DDR Ahoi! (ARD / MDR / NDR).................................................................................84
20x Brandenburg (rbb)......................................................................................86
Aus der Jury Fiktion
Etwas verpasst?
von Ronny Blaschke.........................................................................................49
Aus der Jury Information & Kultur
Nachahmer erwünscht
von Senta Krasser..............................................................................................89
Bitte mehr davon von Volker Bergmeister................................................24
Herausgeber:
Grimme
Institut
Postfach 11 48, 45741 Marl
Direktor Grimme-Institut: Uwe Kammann
Telefon (0 23 65) 91 89-0
Referatsleitung Grimme-Preis: Dr. Ulrich Spies
Fax (0 23 65) 91 89-89
E-Mail [email protected]
Redaktion Grimme 2011: Uwe Kammann,
Dr. Ulrich Spies, Henning Severin, Sven Schlüter
47. GRIMME-PREIS 2011
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Foto: ZDF / Yoliswa Gärtig
Foto: ZDF / Carmen Sauerbrei
INHALT
Publikumspreis der Marler Gruppe
Hintergrund
Zivilcourage (ARD / WDR)......................................................................................94
Sponsoren
Aus der Marler Gruppe
Mit Leidenschaft und Überzeugung von Gabriele Knafla........................97
Škoda: Vorbildfunktion und höchstes Niveau.........................................119
RWE: Kultur unter Strom...............................................................................121
Sonderpreis Kultur des Landes NRW
Plakat, Moderation, Künstler
Schnitzeljagd im Heiligen Land (KI.KA)..........................................................98
Das Plakat zum Grimme-Preis 2011..........................................................123
Besondere Ehrung
Der Moderator: Helmar Willi Weitzel........................................................125
Letzter Volksschullehrer der Nation von Patrick Bahners....................100
Die Künstler: Eine persönliche Widmung..............................................127
Begründung des Stifters für Thomas Gottschalk..................................103
Beirat und Förderer
Eberhard-Fechner-Förderstipendium
Der Beirat..........................................................................................................128
Am Ende kommen Touristen
Sponsoren, Partner und Förderer des Grimme-Preises 2011.............130
(ZDF)..............................................................106
Bert-Donnepp-Preis
20 Jahre Deutscher Preis für Medienpublizistik von Ulrich Spies....108
Diemut Roether und Michael Ridder........................................................110
Laudatio auf Diemut Roether und Michael Ridder
von Hans-Jürgen Jakobs................................................................................112
Bert-Donnepp-Preis – Chronik und Vita....................................................115
Mitarbeiter dieser Ausgabe: Dirk Bach, Patrick Bahners,
Hupertz, Miriam Janke, Monika Kaczerowski, Rainer Kasselt,
Druck: DZE GmbH; Bamlerstraße 20; 45141 Essen
Micky Beisenherz, Volker Bergmeister, Ronny Blaschke,
Gabriele Knafla, Senta Krasser, Holger Kühne, Doris Metz,
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung.
Markus Brauck, Jan Bruck, Silke Burmester, Astrid
Hannah Pilarczyk, Michael Ridder, Ruth Schiffer, Katrin
Produktion, Grafik, Satz, Layout:
Frohloff, Lucia Eskes, Nina Eichinger, Holm-Henning Freier,
Schuster, Matthias Struch, Rainer Tittelbach, Rainer
stawowy media Dresden, Peter Stawowy, Nicole Kirchner
Steffen Grimberg, Jens Oliver Haas, Hans Hoff, Heike
Unruh, Torsten Zarges, Sonja Zietlow, Sybille Simon-Zülch
Titelbild: Markus Thiele
GRIMME-PREIS
ARTE GRATULIERT
DEN PREISTRÄGERN
2011
47. GRIMME-PREIS 2011
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Ganz wirklich, ganz medial
von Uwe Kammann
Das alles aber ist längst nur mehr ein Segment unseres medialen
Kokons. Spätestens seit den Revolutionsschüben nordafrikanischer Herkunft ist auch dem größeren Publikum klar, was zur Gegen-, Nebenund Splitteröffentlichkeit gehört. Und spätestens seit der vernetzten Recherche im Falle Guttenberg wird deutlich, wie machtvoll sich
Schwarmkontrolle mit herkömmlichen medialen Verarbeitungen
verbünden kann. Die Informationskonditionen verändern sich mit
eminenter Geschwindigkeit, das Puzzle wird zum Grundmuster, bevor
professionelle Ordnungslinien an Gewicht gewinnen, gewünscht oder
bekämpft werden – neue Deutungshierarchien bilden sich, herkömmliche verlieren ihre Dominanz.
Foto: Grimme / Jorczyk
Ständig bilden sich neue Konstellationen. Die wiederum auf intensivste Art verdichtet werden können, wie es Ali Samadi Ahadi in „Iran
Elections 2009“ mit einer Collagetechnik demonstriert, die hilft, reale
Not – Gewalt, Unterdrückung, Einschüchterung – in eindrückliche neue
Formen zu übersetzen: indem Handy-Videos, Blogs und Tweets der
Opfer zu fiktiven Biografien verdichtet werden, animiert in stark
konturierten Zeichnungen, denen die Kamera Bewegung einflößt.
Z
erstörung in einem ungeheuren Ausmaß, das alltägliche Vorstellungsvermögen übersteigend. Bilder von dunklen Wasser- und
Schlammwogen, ein gurgelndes Gemisch, durchsetzt mit Trümmern
der Zivilisationsgesellschaft, verwirbelt in einer ungeheuren Energiewelle, die alles Gemachte deformiert – zu erleben als Schleife, bis alle
Bewegung und alle Botschaft zu gefrieren scheint in der NegativIkone einer höchst modernen Apokalypse, zu der auch verschwommene
Umrisse von Explosionswolken gehören.
Dominanz des Fernsehens, das zu erfassen sucht, das die Kreise der
immergleichen Experten aufbietet und die Deutungsrunden
arrangiert, mit Unterschieden
je nach Absender, aber doch
nicht grundverschieden.
Der Schrecken kommt ganz, ganz nah; selten hat ein Film die
Grimme-Jury derart bewegt, auch gefangengenommen, wie diese mit
modernsten und mit ganz alten Darstellungsmitteln arbeitende
dokumentarische Kunst-Form. Die auf ihre Art das gegenwärtige
mediale Grundgesetz – Konvergenz – aufgreift, alle Segmente durchdringend, auch inhaltlich und formal. Nicht umsonst greifen Plakat
und „grimme“-Titel eine große Geste aus diesem Film auf.
Natürlich, solche Verdichtungen sind noch nicht die Regel des
Fernsehalltags. Der lebt vornehmlich von und mit großflächiger
Routine und Regelhaftigkeit, professionell durchgestaltet, ausgestattet
mit starken Wiedererkennungseffekten, um im Kampf um Aufmerksamkeit zu bestehen.
All dies reflektieren wir in dieser „grimme“-Ausgabe mit einer ganz
eigenen Collage: mit einem satirischen Jahresrückblick durch Hauptakteure des prototypisch gelobten oder gesehenen oder verabscheuten
Promi-Dschungels, mit einem Grundsatz-Plädoyer zum reflektierten
Medien-Gebrauch, durch eine pointierte Attacke auf die Großform
der Talkshows, aber auch durch eine modellhafte Schau auf das, was
Unausweichlich die Schnittstellen: hier Katastrophenbilder, dort
die Komödie, ohne Abstand. Im Infoband privater Nachrichtenkanäle laufen die Aktiennotierungen.
Wie nehmen wir solche Ereignisse wahr? Was begreifen wir,
welche Nähe stellt sich her,
wo das Globale doch medial zum Heimischen wird? Welche Gefühle
kommen hoch, welches Mitgefühl ist möglich, wahrscheinlich, ausgeschlossen? Wie abstrakt bleibt das Gesehene, das immer auch
eingebettet ist in die Routine des Programmablaufs? Unausweichlich
die Schnittstellen: hier Katastrophenbilder, dort die Komödie, ohne
Abstand. Im Infoband privater Nachrichtenkanäle laufen die Aktiennotierungen, die Tsunami-Woge wird mit Musik aufgeladen, auch beim
ZDF. Katastrophenfiktion.
bei den privaten Anbietern an musterhaften, vorbildlichen Programmen
möglich war, ist und sein sollte; mit einer journalistischen Selbstkritik, die in einen Appell mündet, mit einem ganz privaten Nachruf auf
einen Öffentlichkeitssucher und (Bilder-)Geschichtenhersteller. Und mit
einem (kultur-)kritischen Loblied eines großen Feuilletonisten auf einen
großen Unterhalter. Was zusammengefasst heißt: Vieles ist möglich,
sehr vieles. Medial und in der wirklichen Wirklichkeit – bei völlig offenen
Interpretationen. Das erste und letzte Wort haben wie immer: Sie.
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47. GRIMME-PREIS 2011
Eine Kakophonie des Grauens
Duo-Blicke auf Fernseherisches
von Sonja Zietlow und Dirk Bach
Sonja Zietlow: 2011 ist also das Rücktritts-Jahr des Buchstaben „G“.
2010 waren wir noch bei „K“ – alphabetisch von der Reihenfolge her
nicht ganz korrekt, aber wer weiß: vielleicht haben wir ja nur die 762.
Reform der Rechtschreibreform verpasst. Ich habe heute noch nicht in
die Zeitung geschaut...
Dirk Bach: Ja, 2010 war definitiv das Jahr der „K-Oten“: Käßmann...
Köhler... Koch... und gerade bei den letzten beiden muss man feststellen: Angela Merkel hatte in der letzten Zeit mehr Pech mit ihren
Männern als Ingrid Steeger.
Vom Rücktritt kurzfristig noch mal zurückgetreten: Das ganz große
„K“ der deutschen Politik... der Bundes-K.: Helmut Kohl, der sich zu
seinem 100sten noch mal feiern ließ. Also... 80 Jahre er, 20 Jahre
Einheit.
Sonja Zietlow: Sehr zur Freude von Jörg Knör übrigens, dem so langsam
die Fälle wegschwimmen. Bei Johannes Paul II. musste er schon eine
Eigentumswohnung verkaufen, das Ableben Inge Meisels konnte nur
durch das kurzfristige Einspringen ihres sprachlichen Zwillings Jürgen
Rüttgers abgefedert werden. Aber spätestens mit dem finalen Rücktritt
von Heidi Kabel verkaufen sich auch besprochene Reinigungs-Kassetten
und Anrufbeantworter-CDs nicht mehr.
Armer Kerl... und gerade hatte er sich den Guttenberg so ein bisschen
draufgeschafft und wollte neu durchstarten...
Foto: RTL
Dirk Bach: Rücktritt mit „K“ in 2010. Da dürfen wir Kerner nicht
vergessen! Der hat sich ja endgültig vom Fernsehen verabschiedet.
Sonja Zietlow: Moment mal, Dickie! Stimmt doch gar nicht! Der ist doch
jetzt bei SAT1.
Dirk Bach: Ja, sag ich doch!
S
onja Zietlow: Das Fernsehjahr 2010 ist zu Ende... und wie immer ist
es fast unmöglich, alle Geschehnisse, Entwicklungen und Tendenzen
umfassend, neutral und subjektiv zu beurteilen.
Dirk Bach: Richtig! Und da hat sich das Grimme-Institut gedacht:
Lassen wir das doch die Frau Zietlow und den Herrn Bach machen,
da besteht erst gar nicht die Gefahr. Na, dann: Feuer frei, Missie!
Sonja Zietlow: Gerne! Gottschalk, Guttenberg, Ghannouchi, van Gaal...
nur Gaddafi ziert sich noch: Das traditionelle Frühjahrs-Rücktreten
geht in die heiße Phase. Und nicht nur wegen der Anfangsbuchstaben
zweifelt jetzt schon der ein oder andere irritiert: Wer war jetzt noch mal
der weltfremde Despot, der sich selbst gerne reden hört?
Dirk Bach: Und andere fragen sich angesichts der letzten Fotos
von Gaddafi: Hat der Titel des Dschungelkönigs nicht gereicht?
Musstest du dann unbedingt auch noch libyscher Diktator werden,
lieber Costa Cordalis?
Und dann natürlich unser aller Lieblings-Rücktritt mit „K“: Nämlich
Jörg „K“. Der Mann, der Alice Schwarzer vergewaltigt hat. So glaube
ich das zumindest aus der teilweise etwas wirren Berichterstattung
der BILD herausgelesen zu haben.
Alice Schwarzer, die ja jetzt vom Springerverlag fest angestellt
wurde, um den Diekmännern die Beißhemmungen auszutreiben.
Sozusagen als der Martin Rütter der Boulevard-Hyänen.
Sonja Zietlow: Aber zurück zu Jörg K. Wieso eigentlich Jörg „K.“? Darf
man da den Namen nicht ausschreiben?
Dirk Bach: Nein, er ist ja noch nicht verurteilt. Zumindest nicht
vom Gericht.
Sonja Zietlow: Aber Moment... er ist doch eine Person der Zeitgeschichte,
oder?
Dirk Bach: Das gilt, glaube ich, nur bei Prominenten.
47. GRIMME-PREIS 2011
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Sonja Zietlow: Okay! Aber auch so muss man bei Herrn Kachelmann
extrem vorsichtig sein – schließlich sitzt da eine komplette Nation mit
auf der Anklagebank. Ich glaube, das Schweizer Messer verkauft sich im
Augenblick nicht mehr so gut. Aber man hat reagiert – in der nächsten
Edition sind eine Trillerpfeife und Pfefferspray mit dabei.
Foto: WDR / Max Kohr
Dirk Bach: Der Fall Kachelmann – oder, wie es natürlich politisch
korrekt heißen muss „Der Fall Jörg K.“ – hat ja jetzt schon ganz
andere Opfer gefordert als erwartet. Allerdings nicht das Recht auf
sexuelle Selbstbestimmung, die Pressefreiheit, oder den Rechtsgrundsatz der Unschuldsvermutung.
Nein, ich dachte da eher an seinen Mobilfunkbetreiber. Am Tag
nachdem er in Mannheim sein Handy abgeben musste, begann da
der massive Personalabbau.
Sonja Zietlow: Ja, selbst schuld. Wenn man sich vom SMS-Volumen
eines Kunden so abhängig macht, dann geht man mit unter. Das ist
eines der marktwirtschaftlichen Grundgesetze. Das sogenannte Lex
Lausemädchen.
„Lausemädchen“... für mich das eigentliche Unwort des Jahres 2010.
Aber was ist es stattdessen geworden: „Alternativlos“.
Was soll das überhaupt bedeuten? Was ist ein „Alternativlos“? Die letzte
Niete in der ansonsten leeren Lostrommel des Lebens? Gehen Sie nicht
über „Alternativlos“... ziehen Sie keine 2.000 Euro ein?
Dirk Bach: „Alternativlos“... ein Wort, so nüchtern, kalt und emotionslos wie... ja, wie früher mal die Talkshows in der ARD. Wo man
sich teilweise minutenlang weinend vor Scham in den Armen lag,
weil man sich versehentlich ins Wort
gefallen war.
„Schulungsvideo bei der Hassprediger-Ausbildung“
bei der Bekanntgabe der Lierhaus-Honorare. Interner Deckname...
„Die Alternativlos-Fee“.
Um die neue Marschrichtung des Ersten auf den Punkt zu bringen:
Ich will ja nicht behaupten, dass man es da ein bisschen übertreibt,
aber die neue ARD-Talkschiene läuft neuerdings als Schulungsvideo
bei der Hassprediger-Ausbildung in afghanischen Terror-Camps.
Sonja Zietlow: Leider wahr, Herr Bach! Und die wahren Brandstifter
sind dabei die Moderatoren. Wie da die Gäste fast schon mit dem
Dampfstrahler aufeinander gehetzt werden – das hat schon was vom
„Andere fragen sich angesichts der letzten Fotos von Gaddafi:
Hat der Titel des Dschungelkönigs nicht gereicht?“
Wo „Spießer“ schon als Schimpfwort
galt. Wo Redaktionsleiter als populistische Boulevardschweine vom Hof
gejagt wurden, wenn in einer Fünferrunde mehr als zwei der Gäste
dem Durchschnittszuschauer bekannt waren.
Aber dank der Programmreform bei der ARD... oder, wie es senderintern auch hieß, „Fünf gegen Jauch“... ist das ja alles anders
geworden. Das Erste hat die Nacht zum Tage gemacht. Beziehungsweise den Abend zum Nachmittag.
Barren oder der Kampfhundeausbildung. Teilweise werden die Kontrahenten schon in den Vorgesprächen so aufgehetzt, dass es auf der
Fahrt zum Studio zu illegalen Taxi-Rennen kommt. Dass man selbst als
alter, abgeklärter Hase nicht mal hinterher wieder abschalten kann. Heiner Geissler soll Jutta Dittfurth nach dem letzten ARD-Wut-Gipfel im
Hotel sogar Zahnpasta auf die Klinke geschmiert haben. Allerdings oben
drauf.
Korrigier mich, Sonja: Aber soviel gewollte Wut, soviel geschürte
Missgunst, soviel geduldete Provokation findet man sonst nur bei
Testamentseröffnungen und Scheidungsterminen. Oder natürlich
Der klassische, moderate Moderatorensatz „jetzt wollen wir aber bitte
mal sachlich bleiben“ wurde inzwischen abgelöst von „wenn Sie jetzt
eine Pistole hätten... was würden Sie spontan gerne machen?“
Und seit jetzt auch noch Kai Pflaume bei der ARD ist, will sich sowieso
keiner mehr vor der Kamera versöhnen. Weil man Angst hat, dass man
noch live verheiratet wird. Oder gekreuzt.
Foto: WDR / Herby Sachs
Dirk Bach: Mir ist aufgefallen: Man kann die Krawall-Talks der
Privaten eigentlich nur noch in einem Punkt von der ARD-AbendKonkurrenz unterscheiden. Bei den einen sitzen die falschen Brüste
– bei den andern die falschen Zähne.
„Die ARD-Programmreform... senderintern: ‚Fünf gegen Jauch‘“
Sonja Zietlow: Wobei sogar das nur noch bedingt gilt, seitdem Gina-Lisa
Lohfink bei Sandra Maischberger zu Gast war. Und das allerschlimmste
daran ist, dass ich nicht mal hier, beim altehrwürdigen Grimme-Preis,
erklären muss, wer das eigentlich ist.
Dirk Bach: Komm... sicher ist sicher: Maischberger, das ist die ehemalige Praktikantin von Erich Böhme... sozusagen das Kamerafutter
von „Talk im Turm“.
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47. GRIMME-PREIS 2011
Aber um auch mal was Positives zu sagen: Wir dürfen uns über den
Boulevard im Polit-Talk nicht wundern, wenn der DurchschnittsPolitiker mehr Angst vor einem Vaterschaftstest als vor der Vertrauensfrage hat.
Sonja Zietlow: Stimmt! Und ich habe auch etwas Positives bemerkt: Die
ARD hat ihren Humor wieder gefunden. Beckmann ist jetzt ein investigativer Polit-Talker... noch vor fünf Jahren wäre das keine Feststellung
gewesen, sondern die Schlusspointe im „Scheibenwischer“.
Dirk Bach: Will, Plasberg, Maischberger, Beckmann – die TalkshowBlase, dieser Gesprächsrunden-Overkill hat, fast völlig unbemerkt,
eine neue Form der sozialen Verelendung los getreten: Rentner
ohne festen Wohnsitz!
Und warum? Nur durch diese perfide, fast schon bösartige Masche,
Altersstarrsinn und senile Bettflucht
für die Gästebeschaffung zu instrumentalisieren.
dest fühlen sich die beiden so. Stefan Raab hat schon angedroht: Wenn
die Presse ihn weiter in diesem Maße diskreditiert, geht er nach Chile.
Dirk Bach: Da muss er nur aufpassen, dass Ralph Siegel mit denen
nicht gerade zum Grand Prix will. Mit Malta hat dieses teuflische
Grand Prix-Genie es ja auch schon versucht – hat ja nicht so ganz
funktioniert. Wobei der nationale maltesische Vorentscheid für
deutsche Zuschauer eine sehr kurzweilige und lustige Veranstaltung war – jedenfalls bis man gemerkt hat, dass man gar nicht
bei „Switch Reloaded“ ist. Dass das gar keine perfekte und lustige
Lena-Kopie sein sollte, sondern eine perfekte und erstgemeinte.
Sonja Zietlow: Aber zum Thema Song Contest kann ich nur sagen:
Respekt für diese genauso unerwartete wie unerwartet erfolgreiche
Zusammenarbeit zwischen der ARD und Pro7. Mit Matthias Opdenhövel
„Die Fußball-WM! Alle haben gewarnt, dass Kriminalität,
Korruption und Fußball nicht zusammenpassen. Was natürlich Quatsch ist, weil die FIFA seit 1904 das Gegenteil beweist.“
Hans-Jochen Vogel zählt sich inzwischen selbst zum fahrenden Volk.
Peter Scholl-Latour hat die Bahncard und bezeichnet sich wieder
als Kriegsberichterstatter. Und auch Dagobert Lindlau hat seine
Wohnung gekündigt, weil er sowieso nur noch im Hotel ist.
Hallo! Dagobert Lindlau hat mal zu Recherchezwecken alle Drogen
ausprobiert! Sogar Heroin. Naja... nach der dritten Runde mit Claudia Roth wird er bestimmt überlegen, ob man da nicht ein paar alte
Kontakte reaktivieren könnte.
Sonja Zietlow: Dickie... ich merke gerade: Wir steigern uns da ein bisschen rein. Lass uns zu einem etwas unemotionaleren Thema übergehen:
Dem Eurovision Song Contest!
Foto: NDR / ProSieben / Willi Weber
Dirk Bach: Ja, sehr gerne! Der Eurovision Song Contest, tuned by
Stefan Raab. Eine Veranstaltung, die vielen Deutschen ein Stück
„Die Honeckers des neuen, deutschen Schlagers.“
ihrer Jugend zurückholt. Diese so einfachen und doch so magischen
Momente, an die einige sich kaum noch erinnern können: Als man
nur eine Person wählen konnte. Der Grand Prix: Auferstanden aus
Ruinen.
Sonja Zietlow: Lena Meyer-Landrut und Stefan Raab... die Honeckers des
neuen, deutschen Schlagers. Und fast genau so unverstanden. Zumin-
und Sabine Heinrich. Zwei... ja, sagen wir mal „Talente“... die beide noch
deutlich unter 40 sind. Also bei der ARD normalerweise direkt ins BälleParadies geschickt werden. Oder an der Rezeption festgehalten werden,
bis die Eltern sich melden.
Wobei beide ja jetzt rechnerisch auf die 50 zugehen. Weil: ARD-Jahre
sind ja wie Hunde-Jahre. Dafür können sich die beiden das Ganze als
Freiwilliges Soziales Jahr anrechnen lassen.
Dirk Bach: Da muss ich natürlich sofort anmerken, Sonja:
Soziale Kompetenz... das ist ja nach wie vor die Domäne von RTL.
Dem Sender, der es sich zu Aufgabe gemacht hat, da anzusetzen,
wovor Kai Pflaume 18 Jahre lang zurückgezuckt ist. „Unvermittelbar“ ist ein Wort, das bei RTL nicht existiert. Da werden sogar
die Mendelschen Gesetze außer Kraft gesetzt. Selbst wenn jemand
nicht mal zwischen Paarhufern Akzente setzen und glänzen kann...
genau dann beweist der Sender sein breites Schwiegermutterkreuz.
Populistisch? Nein: Kopulistisch!
Aber bei aller Häme: Das Ganze war mal wieder so erfolgreich, dass
sogar die ARD einen Kuppel-Show-Piloten auf Sendung gebracht
hat. Gut versteckt in der Goldenen Kamera, aber dafür direkt in der
Promi-Version.
Sonja Zietlow: Und damit zu unserem Lieblings-Thema: Fußball! Wir haben uns ja im Januar in einem Crash-Kurs zu Experten ausbilden lassen.
Gut... Experten ist übertrieben, aber das wichtigste wissen wir jetzt: Das
Wembley-Tor war nicht drin... und der Hoeneß-Elfer 76 erst recht nicht.
Aber man muss ja auch kein Experte sein, um über DAS TV-Ereignis 2010
reden zu dürfen: Die Fußball-WM! Und was hatten wir vorher für eine
Angst. Alle haben gewarnt, dass Kriminalität, Korruption und Fußball
nicht zusammenpassen. Was natürlich Quatsch ist, weil die FIFA seit
1904 das Gegenteil beweist.
Dirk Bach: Das größte Problem war dann aber eine anderes: die
Vuvuzela! Eine Kakophonie des Grauens, bei der man als Zuschauer
sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Glücklicherweise auch
das der Kommentatoren nicht. Das hat uns die ganzen brandheißen
Interna, die wichtigen und einschläfernden Details über das schillernde Privatleben unserer Kicker erspart. Zum Beispiel, dass Mesut
Özil mit der Schwester von Sarah Connor zusammen war, die für
47. GRIMME-PREIS 2011
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Foto: Bundesregierung / Jesco Denzel
verkaufen müssen. Jetzt muss er schlechte Nachrichten sogar als gute
Nachrichten verkaufen.
„Und was macht eigentlich sein Vorgänger Kai Diekmann?“
ihn sogar zum Islam konvertiert ist – womit sie sich fatalerweise
selbst die Möglichkeit genommen hat, sich auch nur irgendwas an
der Sache schön zu trinken. Zum Beispiel ihn.
Sonja Zietlow: Einigen Sendern ist es im Laufe der WM ja gelungen,
diese nervige Frequenz, auf der die Vuvuzelas liegt, rauszufiltern. Ich
frage mich da: Wo waren diese Spezialisten, als man Heidi Klum und
Verona Pooth auf die Zuschauer los gelassen hat?
Dirk Bach: Und die ganze Nation stellt sich die Frage: Darf ein
ZDF-Mann Sprecher der Bundeskanzlerin werden? Und was macht
eigentlich sein Vorgänger, Kai Diekmann? Ich meine: Nur noch
Trauzeuge von Kohl... davon kann man auch nicht leben. Komm,
das deprimiert mich – wir schließen den Kreis. Womit haben wir
angefangen? Mit Gottschalk. Eine tragische Figur. Immer nur „der
Nachfolger“. Erst von TV-Papst Frank Elstner, dann wieder von OstIkone Wolfgang Lippert. Und dann moderiert er das Flaggschiff des
ZDF in nur 17 Jahren auf Schulschiff-Niveau runter.
Sonja Zietlow: Ja, das ist peinlich! Sogar der Pflaume hat dafür bei „Nur
die Liebe zählt“ 18 Jahre gebraucht. Aber der Gottschalk hat dann ja
bei Maybrit Illner genau erklären können, wer letztlich schuld an dem
ganzen Quoten-Debakel war: Es war natürlich die Sendung „Deutschland sucht den Superstar“!
Dirk Bach: Bitte?!
Sonja Zietlow: Ja! Hat er gesagt. Und es haben alle genickt. Sogar
Giovanni di Lorenzo und Ute Biernat.
Dirk Bach: Bist du sicher, dass sie genickt haben? Vielleicht war es
ja auch ein Kommando für den Mann mit dem Betäubungsgewehr?
Ja, technisch ging es 2010 mit großen Schritten voran. HD-TV... nach
wie vor weiß kein Mensch genau was das ist, aber jeder will unbedingt
einen Fernseher, der es kann. Auch wenn er keine Ahnung hat, ob er
es überhaupt empfangen kann. Aber der Verkäufer beim Media-Markt
verspricht: Das ist so, als ob die Ferres bei Ihnen direkt im Wohnzimmer
sitzt. Nur: Wer will das schon?
Sonja Zietlow: Ja, pass auf! Er hat es ja auch absolut logisch erklären
können – und das ist jetzt ausnahmsweise kein Witz – hat er wirklich
gesagt: Schuld war natürlich RTL, weil Castingshows allen Kandidaten
den Eindruck vermitteln, dass man in wenigen Minuten zum Superstar
werden kann. Und dafür sind die jungen Leute bereit, fast jedes Risiko
einzugehen.
Dirk Bach: HD-TV... oder wie es bei Maskenbildnerinnen heißt:
„Götterdämmerung“! Das Bild ist brillant und porentief rein – im
Gegensatz zur Klientel. Wo man bisher vor Arbeitsbeginn kurz mit
dem Smart bei Douglas vorbeigefahren ist, muss man heute direkt
mit dem VW-Bus zu OBI. Ich könnte da jetzt noch Beispiele nennen
wie Westerwelle oder Claude-Oliver Rudolph – um die Gesellschaft
sozusagen zu klammern – aber die Zuschauer haben bestimmt auch
so ein adäquates Bild vor Augen.
Dirk Bach: Beeindruckende Logik! Dann finde ich es natürlich auch
völlig logisch, dass das ZDF nur Tage später verkündet hat, dass es
den Gottschalk-Nachfolger eventuell in einem TV-Casting finden
will. Carsten Spengemann wurde schon mit Knall-Pumps auf der
A1 gesichtet.
Sonja Zietlow: Komm... mediales Scherbengericht: Da müssen wir auch
endlich über den Scharfrichter der Nation reden. Mister Gnadenlos, die
TV-Axt. Der Mann, den man bei RTL nur deshalb nicht „Die Guillotine“
nennt, weil man Angst hat, dass es keiner versteht.
Dirk Bach: Ja! Der Mann, der von seinem Pult aus selbstgefällig
über Schicksale richtet und sich vor Millionen Zuschauern und
versammelten Pressemeute selbst über das Wegmetzeln eines hilflosen Opfers profiliert.
Sonja Zietlow: Dabei wäre es doch so einfach! Selbst wenn Gottschalk
geht – die Sendung hat doch noch eine Moderatorin: Michelle Hunziker.
Aber: Die darf ja nicht. Die kommt ja aus der Schweiz.
Dirk Bach: Schönen Dank, Herr Kachelmann!
Sonja Zietlow: So... ich glaube, wir sind durch. Und weißt du, was mir
auffällt, Dirk: Wir haben das TV-Jahr beleuchtet, ohne dass einmal das
Wort „Pocher“ gefallen ist.
Dirk Bach: Ja, Sonja. Und ich finde, nichts bildet das Fernseh-Jahr
2010 / 2011 besser ab.
Sonja Zietlow: Dieter Bohlen!
Sonja Zietlow & Dirk Bach
Dirk Bach: Ähh, nein! Ich war eigentlich bei Wolfgang Schäuble
und seinem Pressereferenten. Den der Herr Minister wegen ein paar
vergessenen Mappen dermaßen abgewatscht hat... in Japan hätte
der arme Kerl sich sofort entleibt.
Sonja Zietlow und Dirk Bach sind die Moderatoren des
RTL-Dschungelcamps. Zietlow wurde 1968 in Bonn
geboren und moderierte in der Vergangenheit zahlreiche Fernsehformate im Privatfernsehen. Bach, geboren
1961 in Köln, ist einer von Deutschlands beliebtesten
Komikern. Seit 2001 moderieren die beiden Ich bin ein
Star – Holt mich hier raus! Ihre berühmt-berüchtigten
Kommentare stammen aus der Feder von Zietlows
Ehemann Jens Oliver Haas und dessen Autorenkollegen
Micky Beisenherz.
Foto: RTL
Sonja Zietlow: Selbstverständlich! Ein dickes Ding! Bei RTL hätte
der Schäuble dafür gehen müssen. Aber dafür hat es einen anderen
Sprecher nach oben gespült: Steffen Seibert – eben noch Vorleser bei
den heute-Nachrichten, jetzt schon Sprecher der Bundeskanzlerin. Für
ihn eine völlig neue Welt. Bisher hat er schlechte Nachrichten nur gut
12
47. GRIMME-PREIS 2011
Dunkelkammern der Demokratie
oder: die große (Talkshow-)Rederei
Foto: NDR / Wolfgang Borrs
von Hans Hoff
L
assen Sie mich ausreden!“ Wenn es so klingt, ist es Talkshow. „Was
ist da passiert?“ Wenn es so klingt, ist es Reinhold Beckmann. „Sie
haben meine Frage nicht beantwortet.“ Wenn es so klingt, ist es Frank
Plasberg. Man könnte die Liste endlos fortsetzen, könnte das schwiemelige Kopfnicken eines Peter Hahne
ebenso aufführen wie die giggelnde Art
einer Maybrit Illner oder das sedierende
Altenpflegerinnentalent einer SandraMaischberger-Moderation.
seln darf, was allein schon wegen des scharfen Tones des Gastgebers
allerdings selten passiert. Bei Sat.1 setzt Claus Strunz in seiner gewohnt
schnoddrigen Ich-weiß-es-sowieso-besser-Art „Eins gegen Eins“, und
beim ZDF sorgen Illner und Hahne für die Besetzung der Politcouch,
Und es ist fast immer Talkshow. Wohin man schaltet, wird geredet. Auf
Phoenix wird mit Hinterbänklern oder schlecht beschäftigten Chefredakteuren routinemäßig durchgekaut, was der Tag politisch hergab,
auf n-tv lädt Urgestein Heiner Bremer jeden ein, der nicht bei drei
auf den Bäumen ist, und packt meist auch noch einen Comedian zum
aktuellen Berliner Thema dazu. Bei N24 öffnet immer donnerstags das
Studio Friedman, das man keineswegs mit einem Frisörsalon verwech-
während Markus Lanz seinem in die Jahre gekommenen Publikum die so
genannten weichen Themen als Rheumadeckenersatz andient.
Talkshows sind die Hahnenkämpfe einer haltungslosen
Gesellschaft. Es kommt nie darauf an, was gesagt wird.
Als Spitzenreiter gilt indes die ARD, bei der abends bald alles Talk wird.
Schon jetzt wirkt der Senderverbund, als wolle er in Sachen Gesprächskreise die hochkomplizierte eigene Organisationsstruktur mit Räten,
Ausschüssen und Gremien abbilden. Schließlich darf in den öffentlich-
47. GRIMME-PREIS 2011
13
rechtlichen Anstalten aus Tradition jeder mitsprechen, also darf auch
flächendeckend getalkt werden. Wenn dann im Herbst noch Günther
Jauch seinen Stuhlkreis direkt hinter dem „Tatort“ vom Stapel lässt,
verkommt das Erste gänzlich zu einer großen Rederei und scheint einem
Motto zu verfallen, das jemand der Ehrlichkeit halber mal groß über die
Intendantentüren schreiben sollte: Alles ist Talk und Talk ist alles.
Für den Großteil des eigentlich ernstzunehmenden deutschen Fernsehens gilt indes: Wir müssen reden. Immer und überall. Reden und reden
lassen, lautet der Wahlspruch. Schweigen gilt nicht. Wer schweigt, fliegt
raus oder wird gar nicht erst eingeladen. Die Auswahl erfolgt nach dem
beliebten Konferenzspruch: Es ist alles gesagt, aber noch nicht von allen.
Da passt der schöne Witz, in dem ein Mann von einem Sozialpädagogen
den Weg zum Bahnhof wissen will. „Keine Ahnung“, antwortet der
Befragte, „aber schön, dass wir drüber geredet haben.“
Will man das Fernsehen auf seine Grundstruktur reduzieren, ist vieles
Talk. Wird nicht auch bei „Wetten, dass..?“ vorwiegend geredet? Sicher,
Foto: ZDF / Svea Pietschmann
Dass dem nicht unbedingt so ist, beweist hingegen der Marktführer.
Deutschlands meistgesehener Sender kommt gänzlich ohne eine Plapperschau aus. Bei RTL gibt es keine Talkshow, wohl auch, weil Talkshows
nun mal eher für ein älteres Publikum attraktiv sind. Trotzdem verblüfft
die Diskrepanz. Hier RTL, wo man auch ohne Talk ganz glücklich scheint,
dort die ARD, die im Begriff ist, sich besoffen reden zu lassen.
„Maybrit Illner“
geschuldet, dass der Nachweis einer Falschaussage zwar auf den ersten
Blick wie ein großer Sieg der Sendung aussieht, es aber in ziemlich kurzer
Zeit passieren kann, dass die Redaktion Schwierigkeiten bekommt, noch
geeignete Gäste aufzutreiben. Wird im Wald zu oft geschossen, bleiben
die Rehe auch der schönsten Futterkrippe fern. Das gilt erst recht, wenn
der Wald noch viele andere Krippen vorhält. Nicht ohne Grund macht
immer wieder das Wort von der Gästekannibalisierung die Runde.
ein paar Spielchen gibt es auch zwischendrin, ein bisschen Musik nebenbei, aber der Hauptbestandteil ist Gerede. Man könnte glatt behaupten,
dass „Wetten, dass..?“ letztlich die ehrlichste Talkshow im deutschen
Fernsehen ist, weil sie die Wortbeiträge der Gäste und oft auch die
Einlassungen des Moderators als genau das präsentiert, was sie sind:
lautstarkes Geklingel vor großer Kulisse. Hier wird nichts gewollt, nichts
behauptet, und irgendwie sieht man allen an, dass sie froh sind, wenn
die Zeit bis zum Abspann immer kürzer wird. Das steht dann, mehr oder
minder ungewollt, für ein ganzes Genre.
Zudem kann es durchaus sein, dass die Zuschauer Mitleid bekommen mit dem gerade
Entlarvten. Das belegt sehr schön der Erfolg
der durchschnittlichen Weichspülplauscher
und die anhaltende Ignoranz, mit der ein
schroffer Fragesteller wie Michel Friedman
gestraft wird. Stellt nicht in Wahrheit er die
Fragen, die alle guten Journalisten stellen sollten? Behandelt nicht er
Befragte, die dem Thema ausweichen, wie sich das gehört, als Feiglinge? Müsste nicht er das Rollenmodell für die Kollegen sein? Wer
da zu oft ja sagt, unterschätzt den Wohlfühldrang des Zuschauers.
Talkshows, die nach den Friedman-Maximen handeln, machen rasch die
Erfahrung, dass sich nicht nur die Studiogäste, sondern auch die Kunden
auf dem Sofa daheim schnell davonmachen. Dann steht der kurzfristige Triumph über den gestellten Täter der Niederlage einer langfristigen
Quotenminderung gegenüber. Dann landet man eben bei N24.
Talkshows sind die Hahnenkämpfe einer haltungslosen Gesellschaft. Es
kommt nie darauf an, was gesagt wird. Es kommt darauf an, dass was
gesagt wird, wie es gesagt wird, dass was passiert. Und passieren muss
etwas. Unbedingt.
Der durchschnittliche Talkshow-Zuschauer liebt keine Überraschungen.
Für ihn sind Talkshows Rituale, die tunlichst nach immer gleichen
Regeln abzulaufen haben. Der Vorwurf, es sei in dieser oder jener
Sendung nichts Neues gesagt worden, geht daher komplett am Ziel vor-
Wird im Wald zu oft geschossen, bleiben die Rehe auch
der schönsten Futterkrippe fern. Das gilt erst recht, wenn
der Wald noch viele andere Krippen vorhält.
Ein guter Moderator kann seinen Gast dann festnageln. Dass es die
wenigsten tun, hat nicht mit mangelnder Wahrheitsliebe oder dem
Fehlen investigativer Instinkte zu tun. Es ist allzu oft der Einsicht
Foto: WDR / Oliver Ziebe
Nicht ohne Grund haben sich die meisten Redaktionen dramaturgische
Elemente überlegt, mit denen sie ihre Plapperrunden aufpeppen. Hier
eine Statistik, dort ein Betroffener, und zwischendrin müssen ja noch
all die vorbereiteten Einspielfilmchen abgespult werden. So hat der
Moderator schon vorab eine Struktur parat, an der er sich festhalten
kann, wenn die Gäste nicht bringen sollten, was sie versprachen. Im
günstigsten Falle funktionieren die dramaturgischen Elemente als
Ergänzung des Gesagten oder aber auch als Spiegelung. Dann kann
die Regie punktgenau einen Film abfahren, der belegt, dass das gerade
Gesagte nichts weiter ist als heiße Luft. So etwas passiert, wenn
Redaktionen ihre Gäste vorher genau studieren, wenn sie wissen, was
die meist so sagen und an welchen Stellen sie gerne ein bisschen die
Wahrheit verdrehen.
„Hart aber fair“
14
47. GRIMME-PREIS 2011
bei. Für Neuigkeiten ist die Tagesschau oder wer immer auch zuständig,
in Talkshows sucht der Zuschauer die Bestätigung seiner Meinungen.
Er stimmt wahlweise seinen Glaubensbrüdern zu oder reibt sich ein
bisschen an jenen, die dagegen stehen. Ein bisschen.
Der hat bekanntlich mit seinen Erkenntnissen die Guttenberg-Affäre
angestoßen und konnte sich in der Folge vor Talkshoweinladungen
kaum retten. Er hat sie alle abgelehnt. „Es wäre mir unangenehm, in
Talkshows zu gehen, man kann das Problem dort nicht erhellen“, hat er
der Süddeutschen Zeitung gesagt. Man kann nicht erhellen! Das muss
man sich mal merken und seine Schlüsse draus ziehen. Die Talkshow
bleibt somit die Dunkelkammer der Demokratie. Ab und an gebiert sie
Dass jemals irgendjemand im Laufe einer Talkshow seine Meinung
geändert hat, ist nicht bekannt. Talkshows dienen nicht der Erkenntnis,
sondern der Bestätigung bekannter
Positionen. Gäste werden dementsprechend als Funktionsträger eingeladen
und nach Rollenmustern besetzt. Der
leider als Moderator nicht mehr aktive
Friedrich Küppersbusch hat einst klug
erkannt, dass Talkshows letztlich
besetzt werden wie das klassische
Kasperltheater. Es muss einen Kasper geben, eine Gretel, einen Seppl,
einen Polizisten und ein Krokodil. Hat man diese Rollenverteilung
einmal erkannt, lassen sich die meisten Talkrunden rasch einordnen. Sehr schnell sieht man die Bosbachs, Leyendeckers, Lauterbachs,
Prechts und Jörgese wieder, ebenso die ortsüblichen Verbandsvertreter, Alice Schwarzer und ein paar persönlich Betroffene. Denen geht es in der Regel nicht darum, etwas von Belang zu sagen,
sondern überhaupt mitzureden. Gewinner finden sich in der Regel
unter jenen, die den Löwenanteil der Wortmeldungen unter sich aufteilen.
Gesucht wird noch der weise Mann, der in einer Talkshow stumm bleibt,
weil er nur etwas sagen möchte, wenn es das Gespräch voran bringt. In
um sich selbst kreisenden Talk-Tornados ist Weisheit aber per Definition
schon ausgeschlossen. Da bestimmt Schwatzhaftigkeit das Klima.
Für Neuigkeiten ist die Tagesschau oder wer immer auch
zuständig, in Talkshows sucht der Zuschauer die Konfirmation
seiner Meinungen.
nette Blitzlichtaufnahmen, aber eine Welt ohne Talkshows würde sich
weiterdrehen. So viel ist gewiss.
Man lernt Bescheidenheit, wenn man sich mit dem Inhalt von Talkshows
befasst. Als Erfolg ist es da schon zu bewerten, wenn die Diskussion
sich wenigstens einen Hauch über Stammtischniveau oder den handelsüblichen Boulevardpopulismus erhebt. Meist aber bleibt es beim Austausch von Überschriften. Der eine sagt „Hü“, der andere „Hott“, und
wenn der Moderator mal seinem Titel gerecht werden will, schafft er
es, ein regelndes „Brrrr“ einzuschleusen. Fertig ist der Stuhlkreis des im
Normalfall an Wortdurchfall leidenden Stammpersonals.
Es wirkt angesichts solcher Erkenntnisse wie eine sehr besondere
Qualität, dass die ARD ab Herbst fünf Talkshows mit politischem
Anspruch im Programm haben wird. Das führt indes nicht zur angestrebten Vielfalt, sondern allenfalls zur erhöhten Einfalt. Dass ein
thematischer Einheitsbrei das Programm des Ersten durchfließen wird,
kann jeder erahnen, der nicht für die ARD-Planwirtschaft anschafft.
Letztlich gibt nämlich doch das Thema die Agenda vor. Sehr schön
konnte man das beobachten in den Guttenberg-Festwochen, als es in
fast allen Shows nur ein Thema gab: den Freiherrn. Selbst jene, die sich
um andere Probleme mühen wollten, wie Sandra Maischberger, sahen
sich schnell auf die drängende Pseudodebatte zurückgeworfen. Wer da
wie Anne Will auf ein Thema wie die Aufstände in Libyen setzte, stand
hinterher als tapferer Gegendenstromschwimmer da, musste aber die
Aufmerksamkeitsspitzen allesamt an jene Konkurrenten abtreten, die
sich mit dem Mainstream hatten treiben lassen.
Jahrelang ging die Angst um, Talkshows könnten sich als Zweitparlament etablieren. Inzwischen ist da, auch aufgrund langjähriger Beobachtung, Ernüchterung eingekehrt. Talkshows ersetzen kein Parlament,
sie tragen nicht einmal zur politischen Willensbildung bei, sie liefern
nur den schönen Schein eines Pseudoengagements und sind letztlich so
mächtig wie die „Bild“ im Fall des gestrauchelten Guttenbergs.
Wie sich kluge Menschen beim Thema Talkshow verhalten, zeigt sehr
schön das Beispiel des Rechtsprofessors Andreas Fischer-Lescano.
Foto: WDR / Max Kohr
Nun soll ein ARD-Koordinator (noch einer!) mit einer Gästedatenbank
aufpassen, dass sich die Redaktionen nicht gegenseitig die Themen
und die Gäste wegschnappen. Wie soll das wohl laufen? Kann man
Gäste dann von dieser Bank abheben und andere im Depot bunkern?
Bringt es Zinsen, wenn man einen Richard David Precht oder einen Karl
Lauterbach eine Weile auf der hohen Kante ruhen lässt? Wie auch
immer, es bleibt ein frommer Wunsch, in der ARD irgendetwas anständig
koordinieren zu können. Genauso gut könnte man in einem Ameisenhaufen Verkehrsschilder aufstellen.
Foto: NDR / Morris Mac Matzen
Foto: N24 / Steffen Jänicke
Foto: RTL / Stefan Menne
„Maischberger“
Foto: ARD / Jim Rakete
Solche Regeln sind überflüssig, denn es macht eh jeder, was er will und
was er kann. Auf leisen Sohlen schleicht sich dabei eine Egalisierung
der einzelnen Protagonisten und Formate ein. Würde man einen Frank
47. GRIMME-PREIS 2011
15
Foto: ZDF / Wolfgang Lehmann
wird auch nach der ARD-Reform so bleiben. Talkshows sind und bleiben
letztlich nichts weiter als mehr oder minder unzulänglich als Fernsehen getarntes Radio. Sie sind kostengünstig zu produzieren, und mit
ihnen lässt sich zu akzeptablen Konditionen viel Programmfläche füllen.
Sollten die öffentlich-rechtlichen Sender weiter sparen müssen, ist
damit zu rechnen, dass noch mehr getalkt wird. Bald schon wird
man dann mit Wehmut auf die Sendungen, wie sie heute üblich sind,
zurückblicken, vielleicht sogar Sabine Christiansen eine Träne nachweinen.
„Lanz“
Plasberg heute noch mal mit Preisen überhäufen? Wohl kaum. Als er
antrat, tat er etwas, das als völlig ungewöhnlich erschien: Er hakte
nach, wenn ein Gast sich aus der Schlinge einer Frage herauszuwinden
versuchte. Er tat also das, was ein normaler Journalist immer tun sollte.
Mehr nicht. Damals schien das auszeichnungswürdig. Schließlich galt
Plasberg als der Dranbleiber, und als
solcher fiel er auf. Er schaffte es, ein
bisschen die im Sendungstitel versprochene Härte zu demonstrieren, musste
bald aber auch lernen, dass es die Zuschauer nicht gerne sehen, wenn
man einen Gast zu sehr drangsaliert. Dann setzt der Mitleidseffekt
ein. Inzwischen ist Plasbergs Art eingemeindet worden. Nicht dass er
wesentlich nachgelassen hätte, aber längst wissen seine Gäste, wie sie
ihm trotzdem entkommen. Wirklich entlarvt wurde bei „Hart aber fair“
schon lange niemand mehr. Der Mythos aus den frühen Tagen umweht
die Sendung indes weiter.
Die Vervielfältigung ist auch darin begründet, dass Talkshows inzwischen einen nicht zu übersehenden Wirtschaftsfaktor darstellen.
Sie beschäftigen nicht nur viele Menschen in Produktionsfirmen und
Redaktionen, sie liefern auch den Autoren außerhalb viel Stoff. Schließlich fußen große Teile des Internetangebots auf der Reproduktion des
Gesehenen. So beten die Onlineausgaben der großen Qualitätsblätter
einem geheimen Ritual folgend am Morgen nach, was am Abend gesagt
wurde. Selten erreichen solche Beiträge mal das Niveau einer ordentlichen Fernsehkritik. In der Regel pendeln sie zwischen Nacherzählung
und einfallsloser Protokollführung. Es wird kaum analysiert, wer welche
Rolle spielt, es wird nur abgebildet. Die Strukturen bleiben also so diffus
wie am Abend zuvor.
Talkshows sind und bleiben letztlich nichts weiter als mehr
oder minder unzulänglich als Fernsehen getarntes Radio.
Hans Hoff
Hans Hoff, geboren 1955 in Düsseldorf, arbeitet als
freischaffender Journalist in der NRW-Landeshauptstadt. Nach einer Ausbildung zum diplomierten SozialRheinischen Post schreibt er seit 1999 für die Süddeutsche Zeitung, den Journalist, das Stadtmagazin Biograph und die Welt am Sonntag.
Foto: Hoff
pädagogen und zehn Jahren als Medienredakteur der
Foto: WDR / Oliver Ziebe
Foto: ZDF / Jürgen Detmers
Foto: WDR / Max Kohr
Das wirft wieder auf die Frage zurück, ob das Format Talkshow jemals
in seiner langen Geschichte auf Erkenntnisgewinn aus war. Antwort:
War es nie. Allenfalls als Nebenwirkung wurde Erkenntnisgewinn in Kauf
genommen, wenn es der im Namen verankerten Show nicht schadete.
Wortbeiträge in Talkshows funktionieren als verbale Blendgranaten, die
aber selten bleibende Wirkung zeitigen. Das war schon so, als es nur
den Internationalen Frühschoppen gab, das hat sich nicht verändert,
als Dietmar Schönherr 1974 mit „Je später der Abend...“ startete, das
Natürlich erzeugt die schiere Wucht der Plappermasse auch massiven
Unmut. Kürzlich kam von einem Autor mal der Vorschlag, man möge
doch mal, analog der autofreien Sonntage in den Siebzigern, talkshowfreie Tage einführen. Der Vorschlag verhallte, was indes nicht nur der
üblichen Ignoranz der Programmplaner geschuldet war, sondern vor
allem der Tatsache, dass dieser Wunsch schon lange und regelmäßig in
die Tat umgesetzt wird. Immer im Sommer wird es schön. Da machen
die meisten Talkshows Pause. Aber darüber redet kaum einer. Und nein,
es wäre kein schönes Thema für eine Talkshow.
Foto: ZDF / Jule Roehr
Wie man an einem Mythos strickt, weiß auch Günther Jauch. Ihm geht
der Ruf voraus, er sei ein großer Talkmaster. Denkt man zumindest bei
der ARD. Leider herrscht eine solche Einschätzung vornehmlich bei
Menschen vor, die Jauchs Sendungen selten sehen. Wer miterlebt hat,
wie der Hochgelobte einem Thilo Sarrazin bei „Stern TV“ und auch beim
„RTL Jahresrückblick“ noch die abstrusesten Behauptungen durchgehen ließ, dürfte kaum Hoffnung hegen für die Qualität am späteren
Sonntagabend. Im günstigsten Fall hält Jauch das Niveau einer Anne
Will, im schlimmsten fällt er auf Höhe der Salonhüterin Sabine
Christiansen zurück. „Der kocht ja nur mit Wasser“, wird im Herbst eine
häufig gehörte Feststellung sein.
Bliebe also noch das Argument, die ganze Rederei befördere wenigstens ein wenig die politische Bildung im Lande. Doch auch das ist eine
Täuschung. Das Ausbeutungsverhältnis, das da herrscht, ist kein gegenseitiges. Politik darf kein Teil des Showgeschäfts sein. Politik funktioniert
im besten Falle ohne Show. Oder, um es anders zu sagen: Politik geht
ohne Talkshow, aber die wenigsten Talkshows kommen ohne Politik oder
zumindest die Vortäuschung derselben aus.
16
47. GRIMME-PREIS 2011
Komplizenschaft
Arabische Welt: Die Medien und die Menschenrechte
Foto: Getty / AFP / Patrick Baz
von Astrid Frohloff
U
nd jetzt würde ich gerne mit meinem Kamerateam eine irakische
Familie hier in Bagdad zuhause besuchen!“ – Mein Begleiter blickt
mich erschrocken an. „Nein, nein. Das geht auf keinen Fall.“ Erst müsse
er im Informationsministerium nachfragen, und überhaupt, man müsse
die Familie ja vorher noch auswählen.
morgens bis abends vorschrieb, was ich drehen und mit wem ich reden
durfte. Abends erstattete er Report im Ministerium. Wir schreiben das
Jahr 1998. Dass wir überhaupt aus dem Irak berichten durften, war dem
Umstand geschuldet, dass Saddam Hussein weltöffentlich um Mitleid
heischte, weil die USA mit einem Militärschlag drohten.
Auf Schritt und Tritt observiert, kontrolliert, zensiert, schikaniert:
So fühlt es sich an, in einem Land zu arbeiten, in dem keine
Meinungsfreiheit herrscht.
Das Informationsministerium
in Bagdad, treffender wäre
Propagandaministerium, sucht
die Realität aus, die westliche
Journalisten in ihre Heimatländer übermitteln. Am frühen
Morgen hatte ich die Erlaubnis erhalten, die so gefilterte Realität zu
filmen: ein Krankenhaus, einen Markt, eine Tankstelle, und – sehr gerne
– Statuen und Plakate mit Bildnissen des Führers, Saddam Hussein. Mir
stets zur Seite: Ein deutsch sprechender Iraker, im Journalistenjargon
„Minder“ genannt. Im Hauptberuf Spitzel des Ministeriums, der mir von
Auch beim Schnitt wollte ein Spitzel Regie führen. Unliebsame
Aufnahmen musste ich entfernen, mein gesprochener Text wurde
mitgeschrieben. Als ich protestierte, hieß es: So oder gar nicht.
Wer nicht „kooperiert“, bekäme keine Genehmigung für das Überspielen des Beitrags in die Heimatredaktion. Selbstverständ-
47. GRIMME-PREIS 2011
lich gab es in Bagdad nur eine Überspielmöglichkeit für ausländische TV-Teams: Im Propagandaministerium. Ich informierte
meine Kollegen in der Berliner Redaktion über Satellitentelefon, beim Senden meiner Beiträge stets darauf hinzuweisen, dass Texte
und Bilder zensiert waren.
17
und misshandelt. Doch Mut und Aufwand haben sich gelohnt. Die Berichte – ob in Fernsehen, Zeitung oder Internet – haben die Kraft der
Proteste vervielfacht. Und sie haben mit so manchem Irrtum aufgeräumt.
In Tunesien kämpften keine Moslembrüder, sondern höchst
fitte junge Bildungsbürger. Die zeigten uns auch in Ägypten, dass
sie mit Twitter und Facebook den staatlichen Zensor austricksen
konnten. Social Media wurde zum Katalysator der Revolution.
Auf Schritt und Tritt observiert,
kontrolliert, zensiert, schikaniert: So fühlt es sich an, in
einemLand zu arbeiten, in
dem keine Meinungs-freiheit
herrscht. Immerhin konnten wir
nach getaner „Arbeit“ im Irak
jedes Mal wieder ausreisen und an anderer Stelle freier berichten – auch
über unsere Erlebnisse mit dem irakischen Zensor. Aber wir bekamen
einen Geschmack davon, wie es ortsansässigen Kollegen in einem Land
ergeht, in dem Kritiker systematisch unterdrückt werden und eine freie
Presse verboten ist.
Solche Erfahrungen, die ich als Fernsehkorrespondentin in vielen
Staaten des Nahen Ostens gemacht habe, machten mir klar, welch
unbeschreiblich hohes Gut Presse- und Meinungsfreiheit darstellen.
Eigentlich ist die Sache sehr simpel: Autoritäre Regierungen fürchten
eine freie und unabhängige Berichterstattung, weil sie der Anfang
von ihrem Ende sein könnte. Saudi-Arabien, Jemen, Syrien, Libyen und
Iran stehen seit Jahren auf der Liste der „Feinde der Pressefreiheit“, die
„Reporter ohne Grenzen“ herausgibt.
Vor allem im Iran haben sich aktuell Repressionen gegen Journalisten
dramatisch verschärft. Dutzende Reporter und kritische Internetnutzer sitzen im Gefängnis. Aufgrund miserabler Haftbedingungen und
Misshandlungen sind viele von ihnen schwer erkrankt. Iranische Journalisten, die sich in Nachbarländer wie die Türkei retten konnten, sind
oftmals auch hier vor Verfolgung nicht sicher. Die Regierung des Jemen
verfolgt ebenfalls seit Jahren kritische Journalisten. Wegen vermeintlicher „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ wurden viele zu langen
Haftstrafen verurteilt. In Saudi-Arabien kontrolliert die Herrscherfamilie
fast alle Medien. Aus Angst vor Repressionen üben viele Journalisten
Selbstzensur. Vor allem das Internet wird systematisch überwacht,
Inhalte werden gefiltert und Seiten verboten.
Aber auch in Staaten wie Tunesien, Marokko und Ägypten, die zu den
beliebtesten Urlaubszielen deutscher Touristen zählen, wurde und wird
Meinungsfreiheit behindert oder gar unterdrückt. Kaum ein Urlauber,
der auf der tunesischen Insel Djerba Ferien machte, ahnte wohl, dass
sich zur gleichen Zeit tunesische Journalisten in Gefängnissen Verhören
unterziehen mussten. Auch Zeitungen und Fernsehen wurden in Tunesien massiv kontrolliert. Besonders stark hatte die Überwachung des
Internets in den vergangenen Jahren zugenommen. Ähnliche Zustände
in Marokko: Auch hier landen Journalisten und Medienschaffende im
Gefängnis, wenn sie sich kritisch gegenüber dem herrschenden System
äußern. Das war in Ägypten unter Mubarak nicht viel anders.
„Die“ arabischen Länder gibt es nicht. Ein jedes hat seine ganz eigenen
Bedingungen. Und: Wandel ist möglich. Zivilgesellschaften scheinen
auf. Demokratische Gedanken gelten auch in islamisch geprägten
Gesellschaften viel. In Tunesien kämpften keine Moslembrüder,
sondern höchst fitte junge Bildungsbürger. Die zeigten uns
auch in Ägypten, dass sie mit Twitter und Facebook den staatlichen Zensor austricksen konnten. Social Media wurde zum Katalysator
der Revolution. Auf der diesjährigen Berlinale wurden Filmemacher aus
dem Iran gefeiert, die diese Entwicklung dokumentierten.
So attackieren die demokratischen Aufstände im arabischen Raum
nicht nur verkrustete Regime. Sie attackieren ebenso auch unsere von
Vorurteilen und Stereotypen geprägten Sichtweisen auf diesen Teil
der Welt. Zu Recht kritisieren wir Politiker, die sich über Jahre gemein
gemacht haben mit arabischen Autokraten. Ihre Fotos von Handshakes mit Staatsoberhäuptern wirken nun plötzlich wie Dokumente der
Kollaboration mit Korrupten. In Wirklichkeit sind die so Ertappten – im
wohlmeinenden Sinn – Opfer eines falschen Begriffes von politischer
Stabilität. Ihnen war die „Ruhe im Karton“ im Zweifel wichtiger als die
Chancen einer möglichen Unruhe, die durch das Aufbegehren nach
Freiheit entstehen kann.
Doch längst ist klar: Die Partnerschaft mit Unterdrückern kann keine
Lösung von sicherheitspolitischen Problemen sein. Wirkliche Stabilität,
das wissen wir jetzt sicher, kann es nur in fairer Partnerschaft mit stabilen,
freien Gesellschaften geben.
Aber auch wir Journalisten haben Anlass, in uns zu gehen: Warum
interessieren wir uns erst jetzt für die Lage der Menschen in der arabischen Welt? Warum haben wir nicht wahrgenommen, welches
Freiheitspotenzial in arabischen Gesellschaften steckt? Haben wir,
wie viele Politiker, geglaubt, dass islamische Kultur und Freiheit sich
gegenseitig ausschließen? Es ist schlicht zu konstatieren: Über Jahre
hinweg waren Menschenrechtsverletzungen im Iran, in Tunesien, Ägyp-
Die Bilder und Berichte von bewaffneten Kämpfen, von Massendemonstrationen sind zum Teil unter sehr schwierigen Bedingungen entstanden. Einige Kollegen wurden während der Unruhen festgenommen
Foto: Getty / AFP / Marco Longari
Jetzt erleben wir diese Region in einem unerhörten Umbruch: Die
Bürger gehen auf die Straße und kämpfen für ihre Freiheitsrechte,
vor allem auch für Meinungs- und Pressefreiheit. Vor unseren Augen
kommt hier plötzlich ein Demokratisierungsprozess in Gang. Zumindest die Entwicklungen in Tunesien und Ägypten geben derzeit Anlass
zu Hoffnung. Hier herrscht nun Meinungsfreiheit. Die bange Frage
allerdings lautet: Kann sich eine freie Presse hier langfristig etablieren?
Wird die Meinungsfreiheit von Bestand sein?
Autoritäre Regierungen fürchten eine freie Berichterstattung
DAS JOURNAL
FUR URBANE
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Die Frühjahrsausgabe
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19
Foto: Getty / AFP / Aris Messinis
47. GRIMME-PREIS 2011
Das Streben nach Freiheit ist nicht aufzuhalten.
Ein Großteil der westlichen Medien hat die Komplizenschaft der Politik
mit arabischen Despoten nachsichtig hingenommen und vergessen
zu fragen, ob man – statt den kritischen Dialog mit den Mächtigen zu
führen – nicht besser den Dialog mit den Kritikern der Mächtigen führen
sollte. Die Journalisten haben – mehrheitlich – die Maxime der deutschen
Außenpolitik gegenüber dem Nahen Osten geteilt: Aus Gründen der
politischen Stabilität und weil uns die Diktatoren die Islamisten und die
afrikanischen Elendsflüchtlinge vom Leib hielten, wandten wir den Blick
meist ab. Dabei jedoch sind gleich zwei Kardinaltugenden des Journalismus über Bord gegangen: Nämlich besser ganz genau hinzuschauen
und Machtausübung kritisch zu hinterfragen.
Wir haben uns vom außenpolitischen Agenda-Setting vereinnahmen
lassen. Da tröstet nur wenig, dass es anderen europäischen Kollegen
nicht anders gegangen ist. Die jüngsten Entwicklungen im Vorderen
Orient zeigen noch einmal klar, was eigentlich selbstverständlich sein
sollte: WIR müssen Themen setzen, Missstände aufspüren und darüber
berichten! WIR müssen gründlich nachfragen und tatsächlich vermitteln wollen, was die arabische Welt bewegt. Dazu gehört, dass wir
auch wirklich verstehen wollen und uns nicht den Blick verstellen mit
lieb gewonnenen anti-islamischen Klischees.
Überall mangelt es an praktischen Erfahrungen, wie freie Presse funktioniert und wie sie sich entwickeln und stabilisieren kann. „Reporter
ohne Grenzen“ stellte jüngst bei einer Recherchereise nach Tunesien
fest, dass in vielen Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen etwa die
alten regimetreuen Chefredakteure noch an den Schaltstellen der Macht
sitzen. Immerhin werden jetzt auch Themen aufgegriffen, die zuvor tabu
waren, wie etwa Frauenrechte und Meinungsfreiheit. Aber die Unsicherheit ist groß, auch im Hinblick auf die rechtlichen Rahmenbedingungen.
Tunesien braucht dringend ein neues Pressegesetz. Ebenso eine Lizenzbehörde, die die Gründung neuer Fernsehsender und Zeitungen regelt.
Beim Aufbau einer freien Presse können deutsche Medienhäuser,
Sender oder Universitäten durchaus ihr Know-How anbieten: Etwa
indem sie Austauschprogramme auflegen, die Ausbildung junger
Journalisten unterstützen oder sich am Aufbau von Fernsehsendern
beteiligen. Auch „Reporter ohne Grenzen“ hat schon reagiert: Die
Organisation wird in Tunis temporär ein Büro aufbauen, um bei der
Ausarbeitung eines Pressegesetzes behilflich zu sein.
Astrid Frohloff
Astrid Frohloff, geboren 1962 in Wittingen, ist
geschäftsführendes Vorstandsmitglied von „Repor-
Wir können aber nicht nur etwas lernen, sondern auch etwas tun – und
zwar ganz konkret: Wir können unseren Kollegen in Tunesien, Ägypten
und anderswo beim Aufbau einer Pressekultur Hilfe anbieten, ohne die
die Demokratie keine Chance hat.
ter ohne Grenzen“ und Mitglied des Beirates von
„Trans-parency International“. Die Fernsehjournalistin
moderiert in der ARD das Politikmagazin Kontraste und
im rbb das Magazin Klartext. Von 1994 bis 1999 arbeitete sie als Korrespondentin im Nahen Osten.
Foto: Mathias Bothor
ten und anderswo kaum ein Thema für uns. Jetzt aber, wo sich die Bürger
selbst auf revolutionäre Weise ihre Freiheit erkämpfen, feiern wir sie als
Helden.
20
47. GRIMME-PREIS 2011
Kann Fernsehen Vorbild sein?
Entscheidend sind Aufklärung, Kontrast – und das Gespräch
von Dr. Matthias Schreiber
haben? Können Menschen etwas mitnehmen aus einzelnen Sendungen,
aus Bildern, aus Formaten für ihr Leben? Oder noch konkreter: Nehmen Menschen etwas mit aus den Programmen, das ihr Leben prägt,
beeinflusst oder verändert – zu einem verantwortlicheren oder sozialeren Dasein?
Wer jetzt ein schnelles Ja, doch; das kann Fernsehen bewirken! erwartet,
der hat noch nicht bemerkt, dass eine solche Antwort zwar wie eine
Entlastung im Kampf um Quote und Gewinne aussieht, dass aber die
damit verbundenen Nebenwirkungen neuen Stress mit sich bringen.
Warum sollte es eine Vorbildfunktion geben, umgekehrt aber keinen
Nachahmungseffekt? Identifikation und Nachahmung sind in gleicher
Weise die wichtigsten Kennzeichen bei Vorbildern.
Foto: cw-design / Fotolia
Im Klartext: Wer die Vorbildfunktion beschwört, wird einen Nachahmungseffekt – so mit dem Blick auf jugendgefährdende Sendungen –
nur schwer leugnen können. Wer hier das Gesetz der kommunizierenden
Röhren außer Kraft gesetzt glaubt, muss aufpassen, dass er am Ende
nicht selber in die Röhre schaut. Was das für gewaltverherrlichende
Sendungen bedeutet, liegt auf der Hand. Dass so etwas wie einen
Nachahmungseffekt angenommen werden kann, belegt schon die Tatsache, dass Unternehmen nach wie vor bereit sind, Jahr für Jahr Millionen und Abermillionen für Werbung auszugeben. Und der Werbeetat
vieler Firmen wird eher gesteigert als gesenkt. Wäre das so, wenn es
diesen Effekt nicht gäbe?
D
ie Frage überrascht! Man denke sich eine Frage zu einem anderen
Gegenstand, der ewas von sich gibt. Nehmen wir aus aktuellem
Anlass ein Atomkraftwerk. Können Atomkraftwerke Vorbild sein? Ja,
können sie. Für andere, noch zu bauende, dann gewiss noch leistungsstärkere und ganz gewiss ganz, ganz sichere Atomkraftwerke.
So ist die Frage aber nicht gemeint. Auch nicht so, ob es so etwas wie
vorbildlich fernsehen gibt, etwa im Sinne eines Mindestabstandes zum
Gerät abzüglich der getätigten
Kühlschrank- und Toilettengänge pro Sendung in Zentimeter
oder einer zumutbaren Tageshöchstdosis, errechnet aus dem
Quotienten von IQ des Nutzers
und seiner Schwielenstärke am
Hintern in Millimetern.
In derselben Weise gibt es umgekehrt auch den Vorbildeffekt im
Fernsehen. Wer sich an seine eigenen Idole im Fernsehen erinnert, wird
das bestätigen. Albert Schweitzer war nicht das Vorbild meiner Kindheit. Ihn kannte ich damals gar nicht. Mein Albert Schweitzer hieß
Daktari. Tieren zu helfen statt sie zu quälen, das konnte allein
Daktari. Und viel später kam dann Schimanski hinzu, dessen Jacke
bis heute für Umsatzgewinne in der Bekleidungsbranche sorgen soll.
Schimanski, das Original: kein Amtsschimmel, kein Bürokrat, sondern
einer, der dem Recht zu seinem Recht verhilft, auch wenn es ihm den
Ärger seiner Vorgesetzten einbrachte. Ein Rebell einer besseren, helleren
Welt.
Heute muss ich freilich bekennen, dass ich mehr auf der Seite von Albert
Schweitzer stehe als auf der von Daktari. Nicht, weil er die Resignation,
die einen bisweilen auch im Blick aufs Fernsehen einholen kann, als
Vorhalle aller Ethik bezeichnet hat. Und auch nicht deshalb, weil ich
lange nach Daktari dann auch einmal eine Dokumentation aus Lamba-
Mit bloßen Händen in einen Kuhfladen zu fassen, wird in
bestimmten Fernsehformaten als mutig dargestellt. Seniorenwindeln zu wechseln hingegen ist im Handlungs- und Wertekanon der Quotenmacher gar nicht vorgesehen.
Geschenkt. Auch das kann mit der Frage nicht gemeint sein. Wenn
der Mensch Subjekt ist und das Subjekt das Objekt bestimmt, dann
kann mit der Frage, ob Fernsehen Vorbild sein kann, nur die Frage gemeint sein: Kann Fernsehen eine Vorbildfunktion für den Menschen
rene gesehen habe, die mein Leben allerdings nicht sichtbar verändert
hat. Sondern deshalb, weil Albert Schweitzer tatsächlich eingestanden
ist für sein Denken – mit seinem Handeln und seinem Leben. Weil er
Mut hatte.
47. GRIMME-PREIS 2011
Apropos Mut. Die Frage nach der Vorbildfunktion des Fernsehens kann
einen schon ernüchtern, wenn man das etwa auf eine Eigenschaft wie
Mut bezieht. Pauschal gesehen, darf und muss man, glaube ich, sagen und feststellen, dass Mut im Fernsehen in der Regel gezeigt und
verstanden wird als Mutprobe. Wagt sie sich ins Jauchebad? Steigt
er in den Schlangenkäfig? Werden sie die Kakerlaken schlucken?
Übrigens nicht nur bei den Privaten. Bereits vor einigen Jahren wartete
das ZDF bei „Wetten, dass..?“ mit einer Wette auf, die keinen anderen Sinn
hatte als eine Gänsehaut des Ekels zu erzeugen: Stierhoden galt es zu
verspeisen.
Das ist dann der Anfang vom Ende der Vorbildfunktion. Senderseitig
mag man beteuern, dass Stierhoden mancherorts als Delikatesse
gelten. Das ändert jedoch nur wenig daran, dass solcherlei Verhalten ein
weiteres Mal eine abstumpfende Wirkung auf hunderttausende Jugendliche hat. Was hier als Mutprobe deklariert ist, ist lediglich ein weiteres
Spiel mit zivilisierender Konvention. „Was nicht im Dienst steht, steht im
Raub“, hat Martin Luther einmal gesagt.
„Wenn Eure Kinder Euch fragen…“ heißt es im Judentum, wie sie leben
sollen und worauf sie acht haben sollen, „dann sagt ihnen …“, ja, was?
Dass sie Stierhoden essen sollen? Dass sie Beifall klatschen, wenn RTL
versucht, Hoferben in ein Paar-Spiel um künftige Hoferben zu verwickeln, während doch eher Millionen Balz-Voyeure bedient werden und
Quoten als Lohn winken?
21
Familie beschlossen, gemeinsam „Wetten dass..?“ zu sehen, schaltete
meine Frau unmittelbar nach dem Unfall von Samuel Koch den Apparat
aus. Wir haben dann mit den Kindern über das Geschehene gesprochen.
Unterbrechung – statt „the show must go on“ oder einfach Umschalten.
Lobenswert, dass der Sender ähnlich gedacht und gehandelt hat.
Wenn jemandem Leid zustößt vor unseren Augen, dann unterbrechen
wir unseren Alltag. Dann halten wir inne. Dann kann selbst ein Medium wie das Fernsehen zur Folie für Erziehung werden. Aber so etwas
geschieht nicht automatisch. Als die Kinder montags aus der Schule
kamen und ich sie fragte, ob sie denn auch über den Unfall von Samuel
gesprochen hätten, nickten sie und sagten: „Aber die anderen durften
dann etwas anderes sehen!“ Nur wo das Gesehene im Gespräch aufgearbeitet wird, kann es einen Vorbildcharakter erreichen. Der Inhalt des
Gesehenen ist dafür häufig gar nicht einmal entscheidend.
Wir könnten eine Welt ohne Fernsehen propagieren. Das wäre nicht
nur illusionär oder naiv. Es änderte vor allem nur wenig. Dann rückten
andere Idoltransporter an seine Stelle. Entscheidend allein ist die
Aufklärung, der Kontrast; alles entscheidend ist das Gespräch. Vor allem
mit unseren Kindern. Mit ihnen als Verantwortungsträger und Verfechter
der Freiheit von morgen, nicht mit ihnen als zu bindende Kunden oder
abhängig zu machende Konsumenten. Nur im Gespräch mit unseren
Kindern und unserer Jugend entlarven wir die Blender und Verführer.
Insofern ist die Frage der jüdischen Bibel brandaktuell. Hand
aufs Herz: Jeder und jede von
uns wird eines Tages von unserer Jugend danach gefragt,
warum wir sie gerade dieser
Strahlung ausgesetzt haben.
Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Vielleicht werden wir auch
nach dem Unterschied von Mut und Mutproben gefragt, nach dem
Unterschied von Albert Schweitzer und Daktari oder dem von Heidi Klum
und Mutter Teresa. Wir können schon heute damit beginnen, unserer
Antwort darauf eine erkannbare und verlässliche Richtung zu geben.
Warum sollte es eine Vorbildfunktion geben, umgekehrt aber
keinen Nachahmungseffekt? Identifikation und Nachahmung
sind in gleicher Weise die wichtigsten Kennzeichen bei Vorbildern.
Wer der Spur des Mutes in unserer Kultur folgt, entdeckt anderes. Mut,
wie wir ihn dringend brauchen, hat nur wenig mit Mutproben zu tun,
wie wir sie im Fernsehen gewöhnlich sehen. Mut hat mit Gemüt zu tun,
zeigt sich nicht losgelöst vom Geist, der uns treibt. Er zeigt sich auch
nicht jenseits von Denken und Kultur. Nicht jenseits von Herkunft und
Verankerung. Er erwächst aus Haltung, nicht aus Nervenkitzel oder billigen Wetten. Wer eine Mutprobe macht, will angestrahlt werden. Mut im
besten Sinn strahlt ab – auf und für andere. Das unterscheidet Möchtegern-Stars von Eliten. Eine Mutprobe steht im Dienst des Augenblicks,
Mut aber im Dienst der Zukunft und der Mitmenschlichkeit. Er hat mit
Zivilcourage zu tun.
Darauf könnte das Fernsehen versuchen uns hinzuweisen: Vorbild
zu sein – am Ende nicht anders als eine Zeitung oder ein Lehrplan in
der Schule. Die Frage ist jedoch, ob das auch hinreichend geschieht.
Mit bloßen Händen in einen Kuhfladen zu fassen, wird in bestimmten
Fernsehformaten als mutig dargestellt. Seniorenwindeln zu wechseln
hingegen ist im Handlungs- und Wertekanon der Quotenmacher gar
nicht vorgesehen. Rollstuhlschieben auch nicht. Dabei gibt es unzählige
Orte des Mutes und der Bewährung, die auch mit Hilfe des Fernsehens
in einen Diskurs gebracht werden können, der zu Freiheit und Mündigkeit verhilft – Eigenschaften, die in Deutschland teuer errungen wurden.
Wie verändert junge Menschen ein Diakonisches oder Soziales Jahr?
Nahezu alle, die ein solches Jahr absolviert haben, bewerten rückblickend diese Zeit als wesentlichen Schritt in ein mündigeres und verantwortlicheres Leben. Immer wieder gibt es Beiträge im TV, die das zeigen;
suchen muss man sie indes mit der Lupe.
Lange Zeit habe ich geglaubt, dafür auf ein neues Programm warten
zu müssen. Mit dieser Einstellung habe ich mich aber nur abhängig
gemacht von Medienmachern, unter denen ich übrigens im persönlichen Gespräch so viele nachdenkliche und besonnene, auch in ihrer
Arbeit zum Teil verunsicherte Menschen kennen gelernt habe. Heute
warte ich nicht mehr auf eine neues Fernsehprogramm. Stattdessen
diskutiere ich mit jungen Menschen über das ausgestrahlte Programm,
über den Unterschied von Mutproben und Mut und über Sätze wie
diesen: Stars wollen angestrahlt werden, Eliten strahlen ab.
Dr. Matthias Schreiber
Pfarrer Dr. Matthias Schreiber, 1963 im Siegerland
geboren, war Anfang der 90er Jahre Vikar in Marl. In
der Staatskanzlei des Landes Nordrhein Westfalen
ist er verantwortlich für die Kontakte zu Kirchen und
Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Er
hat verschiedene Bücher veröffentlicht, so zur Medienethik und über die Haltung von Führungskräften.
Foto: idea
Fernsehen kann zum Gespräch anregen, es darf das Gespräch aber
niemals ersetzen. Wo Eltern mit ihren Kindern eine gesehene Sendung
besprechen, ist das Format zweitrangig. Der ethische Wert ebenso.
Als wir im Dezember vergangenen Jahres an einem Samstagabend als
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47. GRIMME-PREIS 2011
„Wir sind eine unsichtbare Disziplin“
Interview mit Filmeditorin Claudia Wolscht
von Torsten Zarges
A
uch wenn man ihren Namen oft nur weit hinten im Abspann
liest – ohne Claudia Wolscht würden die Bilder der ARDSerie „Im Angesicht des Verbrechens“ nicht wirken. Die 50-jährige
Cutterin bekommt deshalb dieses Jahr den Grimme-Preis für den
Schnitt des deutschen Mafia-Epos. Damit würdigt die Grimme-Jury
auch die Menschen, die bei einer Filmproduktion im Hintergrund
arbeiten und ohne die so eine aufwendige Produktion nicht möglich wäre. Im Interview gibt Claudia Wolscht einen Einblick in ihre
Arbeitswelt.
Foto: FOX / Uwe Voelkner
„Im Angesicht des Verbrechens“ ist eine in jeder Hinsicht außergewöhnliche Serie. War die Arbeit daran für Sie auch außergewöhnlich?
In der Tat gab es viele Besonderheiten. Bei einer Serie ist es äußerst
ungewöhnlich, dass man zehn Folgen gleichzeitig bearbeitet. Normalerweise wird eine Serie in Blöcke von drei, vier, maximal fünf Folgen
aufgeteilt, die dann getrennt voneinander gedreht und geschnitten
werden. Bei „Im Angesicht des Verbrechens“ galt es, eine unfassbar
große Materialmenge zu überschauen – auch deshalb, weil Dominik
Graf viel mit zwei Kameras parallel gedreht hat und weil er sowieso ein
Regisseur ist, der viel Material produziert. Es gab ja allein 140 Sprechrollen. Man konnte also aus dem Vollen schöpfen. Allerdings hat mich
diese Fülle am Anfang erst einmal abgeschreckt.
Claudia Wolscht, 50, stammt aus Bad Honnef im Rheinland.
Nach ihrem Sozialpädagogik-Studium baute sie 1986 das Kölner
Programmkino Metropolis mit auf. Nach Schnittassistenzen bei zahlreichen TV-Movies und Kinofilmen, Continuity und Regieassistenzen
bei Kurzfilmen konzentriert sie sich seit 1993 auf den Filmschnitt.
Zunächst montierte sie Studentenfilme, meist an der Filmakademie Baden-Württemberg, später folgten Kinofilme und vor allem
TV-Movies, Mehrteiler und Serien wie „Tatort“, „Bella Block“,
„Wilsberg“, „Der Staatsanwalt“, „Himmel über Australien“ oder „Das
Wunder von Loch Ness“.
Die Zusammenarbeit mit Regisseur Dominik Graf begann 2007
mit dem Grimme-nominierten WDR-Film „Das Gelübde“. Ab
2008 setzte sich das gemeinsame Wirken mit der ARD-Serie „Im
Angesicht des Verbrechens“ fort, die den Deutschen Fernsehpreis
2010 als Bester Mehrteiler erhielt und nun mit dem Grimme-Preis
ausgezeichnet wird.
Das jüngste Projekt des Duos Graf / Wolscht ist der Kriminalfilm „Komm mir nicht nach“ (AT) aus der Trilogie „Dreileben“ für die ARD Degeto. Claudia Wolscht war mehrere Jahre
Vorstandsmitglied für NRW im Bundesverband Filmeditor und an der
Konzeptentwicklung des Studiengangs für Schnitt an der Internationalen Filmschule Köln (ifs) beteiligt.
Sie haben es sich also dreimal überlegt, ob Sie den Job annehmen?
Na ja, dreimal nicht. Dafür arbeite ich einfach zu gern mit Dominik
zusammen. Aber ich habe ihn sofort gefragt: Kann man das nicht aufteilen? Können nicht zwei Editoren jeweils die Hälfte bearbeiten? Es
war jedoch schnell klar, dass das nicht gehen würde, weil alles parallel
gedreht wurde. Man hätte ständig das Tagesmaterial mühsam auseinander dividieren müssen. Für die vielen Flashbacks brauchte man ohnehin permanenten Zugriff auf das komplette Material.
Was macht die Zusammenarbeit mit Dominik Graf für Sie aus?
Für mich ist er ein Gütesiegel. Da brauche ich gar nicht mehr zu fragen,
um was für ein Projekt es geht. Man hat es mit einem Regisseur zu tun,
der mit allen Wassern gewaschen ist. Er findet Lösungen, auf die man
selbst nicht kommt. Umgekehrt weiß ich, dass er meine Arbeit respektiert. Ich kann viele eigene Ideen anbieten, und obwohl er eine Vision im
Kopf hat, ist er flexibel genug, auch meine Vorschläge mit einzubauen.
Es ist ein sehr befriedigendes Gefühl, wenn bei der Zusammenarbeit
von zwei Menschen etwas Drittes entsteht. Mit Dominik war jeder Part
der Schnittarbeit an „Im Angesicht des Verbrechens“ spannend – und
das über einen Zeitraum von anderthalb Jahren. Im Juli 2008 habe ich
angefangen, im Februar 2010 waren wir fertig.
Wie können wir uns Ihre Arbeit in diesen anderthalb Jahren konkret
vorstellen?
Drei Wochen nach Drehstart habe ich in Köln mit dem Rohschnitt
begonnen – parallel zum weiteren Dreh in Berlin. Dominik ist einer der
Regisseure, die während des Drehs nicht in den Schneideraum kommen,
um unvoreingenommen zu bleiben. Während der 113 Drehtage habe
ich also allein meinen eigenen Zugang zu dem laufend eintreffenden
Material gesucht und gefunden. Die Serie hat so viele Facetten und
verschiedene Welten, dass es nie langweilig wurde.
47. GRIMME-PREIS 2011
Das klingt so, als sei die Rohschnittphase eine recht einsame Zeit.
Das hat seine zwei Seiten. Grundsätzlich finde ich es toll, mit dem
Material allein zu sein und so zu meiner ganz eigenen Version zu
gelangen. Säße der Regisseur von Anfang an daneben, würde ich mich
immer fragen: Was denkt er jetzt? Was sagt er gleich? Seit wir digital
schneiden, ist man physisch aber wirklich einsam im Schneideraum.
Am Computer kann eben nur eine Person sitzen. Die Assistenten, die
man früher hatte, sind aus Kostengründen entweder nur nachts da oder
mit mehreren Projekten gleichzeitig beschäftigt. Bei „Im Angesicht des
Verbrechens“ war das anders und mittlerweile eine echte Ausnahme:
Meine Assistentin saß im Nebenraum, wir konnten uns ständig austauschen. Das wäre auch bei der Materialfülle nicht anders möglich
gewesen. Aber sonst finde ich diese Einsamkeit manchmal schwierig.
Wenn ich eine Szene fertig habe, ist niemand da, mit dem ich mich mal
auseinandersetzen könnte. Es gibt kein soziales Korrektiv mehr. Auch
zum übrigen Team wird der Kontakt immer seltener, da das früher
übliche gemeinsame Ausmustern heute kaum mehr praktiziert wird.
Viele Kolleginnen empfinden das zunehmend als Belastung. Wenn man
Glück hat, gibt’s nebenan noch einen Schneideraum, so dass man sich
zumindest in der Mittagspause treffen kann.
23
Regisseure und Schauspieler positionieren sich meist über Genres,
in denen sie mitwirken, und solche, die sie ablehnen. Ist das bei
Filmeditoren anders? Ihr Werk reicht von preisgekrönten DominikGraf-Filmen bis zu Krimiserien und Degeto-Melodramen.
Stimmt, das ist bei Filmeditoren anders. In unserem Job ist es gut,
wenn man ein möglichst breites Spektrum hat. Viele Projekte habe ich
bewusst gemacht, um Erfahrungen zu sammeln. Zum Beispiel wollte
ich mal eine Folge „Alarm für Cobra 11“ schneiden, denn so aufwändige
Action machte sonst keiner in Deutschland. Das wollte ich gerne lernen.
Zuerst wollten sie mich nur als Drama-Cutterin haben, nicht als ActionCutterin. Das war dort genauso getrennt wie die Regie-Units. Ich musste richtig durchboxen, dass ich beide Parts schneiden durfte.
Filme und Serien müssen immer schneller und effizienter entstehen.
Wie haben sich Ihre Arbeitsbedingungen dadurch verändert?
Eine Sache hat sich nicht verändert: Der Produzent bekommt vom
Sender seine zweite Budgetrate in der Regel nach der Bildschnittabnahme ausgezahlt. Für den Produzenten ist es natürlich wichtig, dass
das möglichst schnell nach Drehende passiert. Also haben wir von dieser
Seite schon immer Druck gekriegt. Hinzu gekommen ist die zunehmende
„Zuschauern geht es häufig so, dass sie die Leistung von Schauspielern besonders toll finden. Dabei ist es in vielen Fällen die
Arbeit im Schneideraum, alles Schlechte wegzuschneiden.“
Ist es nicht hart, wenn Regisseure Ihr mühevoll erarbeitetes Schnittkonzept modifizieren oder sogar über den Haufen werfen?
Es gibt Regisseure, die sagen zum Cutter: Hier müssen bitte noch
drei Frames weg und dort zwei dazu. Wenn das passiert, habe ich das
Gefühl, eher Operator als Schnittmeister zu sein. Ich finde es besser, der
Regisseur argumentiert inhaltlich und überlässt es mir, die passende
Form dafür zu finden. Ein Regisseur sollte sich nicht in die Technik
verbeißen, sondern Distanz dazu wahren und lieber bei seiner inhaltlichen Vision bleiben. Dann habe ich selbstverständlich auch kein Problem
damit, wenn Schnitte verändert werden. Würde der Regisseur meinen
Rohschnitt eins zu eins übernehmen, wäre es ja langweilig.
„Im Angesicht des Verbrechens“ war hinter den Kulissen von enormen
Budgetüberschreitungen, juristischen Auseinandersetzungen und
der Insolvenz der Produktionsfirma Typhoon überschattet. Hat Sie
das im Schnitt auch berührt?
Natürlich hat es mich berührt, aber da ich räumlich weit weg war, habe
ich alles nur gefiltert mitbekommen. Die Nachricht von der Insolvenz
hat mich auf dem Weg von Köln nach München erreicht, wo ich mich
mit Dominik zum Feinschnitt treffen wollte. Ich war auf der Autobahn
und man sagte mir, ich könne gleich wieder umkehren. Ich bin aber
trotzdem weitergefahren, weil wir den Moment der Wahrheit, das erste
gemeinsame Ansehen des Rohschnitts nicht noch weiter verschieben
wollten. In der Folge gab es immer wieder mal Unterbrechungen. Zeitweise durften wir nicht in den Schneideraum, ein anderes Mal musste
erst der Insolvenzverwalter kommen. Für mich war aber immer klar, dass
wir das Projekt irgendwie zu Ende bringen würden.
zeitliche Verdichtung. Früher am Schneidetisch hatte man locker drei
Monate für einen 90-minütigen Film. Dann kam die digitale Arbeit und
mit ihr die Rationalisierung. Am Anfang waren es noch zehn Wochen
Schnittzeit, inzwischen sind sieben bis acht Wochen üblich. Es gibt aber
auch Fälle, in denen erwartet wird, einen 90-Minüter in fünf Wochen
zu schneiden. Das geht nur mit 16-Stunden-Tagen und gedrosselter
Akribie. Dadurch wird man so aufgebraucht, dass man das Pensum
nicht lange durchhalten kann. Außerdem wird versucht, mit weniger
Drehtagen auszukommen. Dadurch ist der einzelne Drehtag dann so voll
gepackt, dass im Schnitt viel mehr Material in derselben Zeit bewältigt
werden muss. Früher waren 40 bis maximal 60 Minuten Muster am Tag
üblich, heute sind 70 bis 120 Minuten nicht ungewöhnlich.
Genießen Filmeditoren in Deutschland die Wertschätzung, die sie
verdient haben?
Da kann man spontan nur nein sagen. Das Problem ist: Wir sind eine
unsichtbare Disziplin, die eigentlich nur dann auffällt, wenn sie schlecht
gemacht ist oder wenn sie durch Effekte auffallen will. Wenn der Schnitt
dagegen dem Film als Gesamtwerk dient und ihm quasi seine Form gibt,
weiß man am Ende oft nicht mehr, wie es dazu gekommen ist. Mir fällt
es ja selbst schwer, die Schnittleistung von Kollegen zu beurteilen. Wenn
ich einen guten Film sehe, habe ich den Schnitt nach zehn Minuten
vergessen. Zuschauern geht es häufig so, dass sie die Leistung von
Schauspielern besonders toll finden. Dabei ist es in vielen Fällen die Arbeit
im Schneideraum, alles Schlechte wegzuschneiden. Vielleicht sind wir
ein bisschen selbst schuld daran, dass keiner uns so richtig wahrnimmt.
Wir sind eher diejenigen, die sich gern im Hintergrund aufhalten.
Torsten Zarges
Torsten Zarges, geboren 1975 in Dortmund, ist
Korrespondent des Mediendienstes kress in Köln und
Inhaber der Agentur Zarges|creative talent connection.
Seit 2004 wirkt er regelmäßig in den Jurys und Nominierungskommissionen des Grimme-Preises mit.
Foto: FOX / Uwe Voelkner
Nach Ende der Dreharbeiten beginnt
der Feinschnitt zusammen mit dem
Regisseur. Inwieweit wird Ihnen an
diesem Punkt die Kontrolle aus der
Hand genommen?
Das ist immer ein heikler Moment. Der
Regisseur bekommt das erste Mal zu
sehen, was ich aus seinem Material gemacht habe. Der Augenblick, in
dem man Farbe bekennen muss. Das heißt bei jedem Film aufs Neue:
Aufregung und Lampenfieber, und zwar für beide. Dominik hat dafür
eine gute Lösung gefunden: Er lässt sich eine Ausspielung vom Rohschnitt machen und schaut sie sich allein zu Hause an. Dann bin ich
nicht jeder Zuckung ausgesetzt, die er von sich gibt. Wenn er in den
Schneideraum kommt, gibt er mir einen kurzen Abriss, wie es ihm mit
dem Rohschnitt gegangen ist, und dann gehen wir den Film von vorne
bis hinten durch.
24
47. GRIMME-PREIS 2011
„Bitte mehr davon!“
Das Privatfernsehen und der Grimme-Preis
Foto: grimme / Sadlowski
von Volker Bergmeister
D
ie Null steht in diesem Jahr für die Privaten bei der Vergabe
der Grimme Preise 2011. Ob RTL, SAT.1 oder ProSieben – sie alle
gehen mit ihren Produktionen leer aus. Das gab es seit 1989, als erstmals eine Sendung, die nicht in einem der öffentlich-rechtlichen Kanäle lief, ausgezeichnet wurde, bisher nur noch in den Jahren 1990 und
1994. Danach mischten die Privaten kontinuierlich mit, wenn qualitativ
hochwertiges und innovatives Fernsehen alljährlich mit dem GrimmePreis belohnt wird.
„Wenn eine RTL-Produktion einen Grimme Preis bekommt, dann haben
wir irgendetwas falsch gemacht“ – dieser legendäre Spruch des nur
allzu gerne zu Provokationen und Populismus neigenden, langjährigen
Geschäftsführers von RTL, Helmut Thoma, darf nicht fehlen, wenn man
sich mit dem Thema Privatfernsehen / Grimme-Preis befasst. Dass sich
im Verhältnis zwischen den Verkäufern der Ware Fernsehen und den
Wächtern der TV-Qualität in den Jahren nicht sonderlich viel verändert
hat, zeigt ein Satz von RTL-Chefin Anke Schäferkordt: „Meinen Preis
kriege ich jeden Morgen um 8.30 Uhr vom Publikum. Dann liegen nämlich die Quoten vom Vortag auf meinem Schreibtisch“.
Nun kann man vermuten, bei Produktionen der Privaten sehen die
strengen Grimme-Juroren noch genauer und kritischer hin. Aber weit
gefehlt. Denn dort, wo der marktorientierte Teil des Dualen Systems
Innovatives zu bieten hat, wo er Trends setzt oder auch Anstrengungen
unternimmt, Bastionen der Öffentlich-Rechtlichen zu erobern – wie
im klassischen Bereich Fernsehfilm –, da mischen die Privaten bei der
Vergabe der Grimme Preise mit.
Und gerade auch mit der Einführung der eigenständigen Kategorie
Unterhaltung hat der Preis in den vergangenen Jahren das populäre
Fernsehen noch mehr in den Fokus gerückt. Helmut Thomas Kritik, der
Grimme-Preis orientiere sich ausschließlich an Nischenprogrammen
und werde nach dem Motto vergeben „Je weniger Zuschauer, um so
kulturell qualitäts- und gehaltvoller ist das Programm“ war nie berech-
47. GRIMME-PREIS 2011
tigt. Dazu muss man nur einen Blick auf die Liste der Preisträger seit
Einführung des Privatfernsehens im Jahr 1984 werfen.
In den Anfangs-, oder sagen wir besser, Anfängerjahren war das Privatfernsehen vom Grimme-Preis sicher soweit weg wie Dieter Bohlen mit
seiner Autobiografie vom Literatur-Nobelpreis. Da hieß es – ausgehend
von den Kabelpilotprojekten – eher: Als die Bilder laufen lernten. Helmut
Thoma beschrieb seine Anfänge mit RTL einmal so: „Ich hatte einen
Sender, 25 Leute und kein Programm. Das war ein Ritt über den Bodensee“. Okay, immerhin füllte sich dieser See, wenn auch langsam,
mit Wasser. Auffallen, provozieren, Publicity um jeden Preis – so wollte
und konnte insbesondere der Kölner Sender und heutige (Quoten-)
Marktführer RTL in den folgenden Jahren Stück für Stück sein Publikum
erobern.
Den ersten Grimme-Preis gab es 1989 – für eine Produktion, die zwar
auf einem Kanal der Privaten lief, aber eher ein ungeliebtes Kind des
Privat-TV war (und ist): dctp. Das Kürzel steht für Development Company
for Television Programs und versteht sich als Plattform für unabhängige
Dritte im deutschen kommerziellen Fernsehen. Nach dem Herausgeberprinzip kooperiert Geschäftsführer Alexander Kluge seit 1988 mit Partnern aus großen Verlagshäusern, BBC Worldwide und anderen. Die für
dctp lizensierten Sendezeiten auf RTL, SAT.1 und VOX werden von den
Partnern in redaktioneller Unabhängigkeit bestückt. Das erzürnte Thoma
so nachhaltig, dass er die dctp-Sendeblöcke als „Zwölftonmusik im
Zirkus“ und „Quotenkiller“ beschimpfte.
Zwei Jahre später fand sich RTL selbst erstmals auf der Preisträgerliste:
Marcel Ophüls wurde für sein herausragendes filmisches Essay
„Novembertage“ ausgezeichnet, in dem er eine skeptische Bilanz des Jahrhundertereignisses Maueröffnung zog. Der Dokumentarfilm wurde von
Regina Ziegler in Zusammenarbeit mit RTL plus und im Auftrag der BBC
produziert. 1992 bekam dann Thomas „Liebling“, dctp-Geschäftsführer
25
1996 begannen die Privaten eine Bastion der Öffentlich-Rechtlichen zu
erobern – den Fernsehfilm. Doch nicht Sat.1 und RTL – zu jener Zeit
eher mit läppischen bzw. reißerischen Produktionen auf Quotenjagd -,
sondern der kleine Spross der RTL-Familie mit dem erfinderischen Namen RTL2 rückte beim Grimme-Preis in den Blickpunkt. Der eiskalte
Thriller „Der Sandmann“ (Hauptrolle: Götz George) setzte Genre-Maßstäbe und widmete sich selbstreflektorisch den perversen Auswüchsen
des Mediengeschäfts. Das Drehbuch von Matthias Seelig las sich, so der
preisgekrönte Regisseur Nico Hofmann (heute erfolgreicher TeamWorxChef), „wie ein einziger böser Seitenhieb gegen RTL“.
Im selben Jahr gab es für den diverse TV-Peinlichkeiten entlarvenden
Oliver Kalkofe und seine Sendung „Kalkofes Mattscheibe“ eine weitere
Auszeichnung für eine Premiere-Produktion. Aber auch RTL stand auf
der Liste der Sieger. Der Kölner Sender war an der deutsch-schwedischen Krimireihe „Kommissar Beck“ beteiligt, zeigte sechs Folgen mit
dem eindeutig besten und überzeugendsten Beck-Darsteller Gösta
Ekman, bevor die Reihe später erst zur ARD und dann ins ZDF weiter
wanderte. Hier wurde ein Trend gesetzt, der bis heute anhält und uns
noch immer eine Vielzahl von skandinavischen Krimi-Verfilmungen
schenkt.
Preismengenmäßig war 1998 das erfolgreichste Jahr für die Privaten –
ein Jahr zuvor hatte sich nur Sat.1 mit Harald Schmidt über dessen
ersten Grimme-Preis für seine „Harald Schmidt Show“ freuen können,
ein zynisches, satirisches und garantiert narrenfreies Late-NightFormat, das Grenzen sprengen wollte und sollte. Doch 1998 gab es
gleich zwei Trophäen für die Nummer Zwei unter den Privatsendern:
für den Fernsehfilm „Viel Spaß mit meiner Frau“ (mit Jörg Schüttauf
und Jörg Gudzuhn) und die Krimiserie „Sardsch“ (in der Hauptrolle
Hannes Jaenicke). Premiere wiederum war an der NDR-Produktion „Das
Urteil“, einem beklemmend-intensiven Kammerspiel mit Starbesetzung
(Matthias Habich und Klaus Löwitsch), beteiligt. Und RTL sorgte mit
„Nikola“ für einen neuen Trend,
denn temporeiche ComedySerien kamen sonst aus den
USA. Dass Deutsche komischwitzig seriell erzählen können
und dabei jung und alt erreichen – das war eher neu.
Dass es in diesem Jahr keinen Preis gab – das muss nichts
bedeuten. Vielleicht haben die Privaten ja nur ein Leer-, oder
besser, ein Lehrjahr eingelegt.
und Kulturmagazin-Macher Alexander Kluge, einen Grimme Preis,
damals noch mit dem Zusatz „mit Gold“, für „10 vor 11“ – ein ursprünglich nach seiner Sendezeit benanntes Magazin. In dem Beitrag „Das
Goldene Vlies“ demonstriert der Filmemacher, dass die Auseinandersetzung mit bildender Kunst im Fernsehen nicht die Form von Verlesung
einer Kunstkritik, unterlegt mit „Bilder einer Ausstellung“, haben muss.
1993 folgten weitere Meilensteine in der ambivalenten Geschichte
Grimme / Privatfernsehen. Gleich drei Produktionen wurden ausgezeichnet. Mit der außergewöhnlichen Gesprächsreihe „0137 – Interviews mit
Roger Willemsen“ sowie „Lektionen in Finsternis“ von Paul Beriff und
Werner Herzog gingen erstmals Trophäen an einen Pay-TV-Sender: an
Premiere (heute Sky). Und erstmals wurde bei einem privaten Sender das
ausgezeichnet, was man unter dem Titel populäre Unterhaltung führt –
die Krimi-Serie „Wolffs Revier“ bescherte Sat.1 die erste Auszeichnung
in Marl.
1995 wurde dann eine Unterhaltungsform prämiiert, die damals hierzulande eher noch in den Kinderschuhen steckte: eine Late-Night-Show.
Innerhalb des Erfolgsformats „RTL Samstag Nacht“ wurde die schrillfreche Comedy-Parodie-Rubrik „Zwei Stühle – Eine Meinung“ für preiswürdig befunden. Wigald Boning und der ob seiner Wandlungsfähigkeit
zum Publikumsliebling avancierende Olli Dittrich führten pointiert vor,
wie sich Klamauk auf hohem Niveau ansieht und anhört.
1999 und 2000 wurden weitere herausragenden Erzeugnisse der
Formate Late-Night-Show und Comedy-Serie gewürdigt: Sat.1 erhielt in
Gestalt von Anke Engelke den Preis für die „Wochenshow“, RTL für die
mit anarchischem Mutterwitz versehene Serie „Ritas Welt“, in der Gaby
Köster als Supermarktkassiererin Rita überzeugen konnte. Seinen ersten
von mittlerweile schon sieben Grimme-Preisen gewann ProSieben im
Jahr 2001 mit „Das Phantom“ und sorgte dabei für großes Erstaunen.
Denn durch erstklassige Fernsehfilme war der Sender zuvor nicht gerade
in Erscheinung getreten.
Doch die Privatsender zeigten sich Anfang des neuen Jahrtausend
gerade in diesem Genre enorm verbessert. Das gipfelte 2002 in einer
Doppelauszeichnung für Sat.1. Jo Baier drehte zum ersten und letzten
Mal einen Film für einen Privatsender und wurde prompt ausgezeichnet: für „Wambo“, die Geschichte des von einem Stricher ermordeten,
bayerischen Vorzeige-Schauspielers Walter Sedlmayr (herausragend
verkörpert von Jürgen Tarrach). Und die drei wunderbar-wandlungsfähigen Mimen Sebastian Koch, Tobias Moretti und Christoph Waltz
erhielten einen Preis für ihre schauspielerischen Leistungen in „Der Tanz
mit dem Teufel“, der Entführungsgeschichte des Richard Oetker.
Und es gab einen weiteren Meilenstein: Erstmals holten die Privaten mit
RTL eine Grimme-Trophäe mit einem Nachrichten-Format. Anchorman
Peter Kloeppel und Regisseur Volker Weicker wurden für ihre Leistun-
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47. GRIMME-PREIS 2011
Brachte Pro Sieben 2006 den Grimme-Preis: „Stromberg“
gen bei der Berichterstattung über das hochdramatische Geschehen des
11. September 2001 ausgezeichnet. In der Grimme-Kategorie Spezial –
für ganz spezifische persönliche Leistungen – erhielt 2003 Christiane
Ruff einen Preis: für die Etablierung und Weiterentwicklung deutscher
Comedy-Formate auf RTL. Und Marcel Reif (Premiere) wurde im selben Jahr für seine sachlich-fundierten und gewitzt-ironisierenden
Kommentare während der Fußball-WM 2002 grimme-belobigt.
2004 entdeckten die Juroren ein frech-vorlaut agierendes Talent
des Musikfernsehens: Charlotte Grace Roche. Als Moderatorin der
Videoclip-Sendung „Fast Forward“, die sich der Musik abseits des Mainstreams widmete, war sie das, was man eine echte Entdeckung nennt.
Hier ein Anfang, dort ein Ende: Sat.1 erhielt für das Bergarbeiter-Drama
„Das Wunder von Lengede“ von Kaspar Heidelbach (mit Jan Josef Liefers
und Heino Ferch) sowie für „Dienstreise – Was für eine Nacht“, eine
furiose Komödie mit Christoph Waltz und Armin Rohde, zwei weitere
Grimme-Preise im Bereich Fiktion. Doch danach konnte der Sender im
Bereich Fernsehfilm nicht mal mehr in die Nähe einer Auszeichnung
kommen. Standard-Romantik-Comedy-Filme oder dick auftragende
Event-Movies prägen seither das Sat.1-Fiction-Bild.
Vier Jahre in Folge lag es zwischen 2005 und 2008 fast allein an
ProSieben, dass die Privaten bei Grimme nicht leer ausgingen. Stefan
Raab gewann seine erste Trophäe als Macher des Sängerwettstreits
„SSDSGPS – Ein Lied für Istanbul“, in der als Antwort auf das BohlenSpektakel bei RTL das musikalische Talent der Teilnehmer im Vordergrund stand und die Kandidaten nicht vorgeführt wurden. Trotz des
Erfolgs und des Grimme-Preises ahnte damals noch niemand, dass der
musikpassionierte und clevere Moderator Raab Jahre später im Verbund
mit der ARD die Lena-Grand-Prix-Woge mit Energie laden würde.
2006 war es ein Büro-Fiesling namens „Stromberg“, der ProSieben eine
weitere Auszeichnung bescherte. Für Christoph Maria Herbst ist dieser
Versicherungstyp mit der Diskrepanz zwischen Selbstbild und Realität
beinahe schon zu einem Alter Ego geworden. Die fünfte Staffel ist derzeit in Arbeit, die Serie längst Kult und ein Vorzeigeprodukt des Senders.
2007 durfte Pro Sieben gleich über zwei Preise jubeln: für die witzigtemporeiche Romantic-Comedy „Meine verrückte türkische Hochzeit“
und die Spiel-Show „Extreme Activity“ (mit Jürgen von der Lippe). Und
im Jahr darauf lieferte Autor Ralf Husmann mit „Dr. Psycho“ sein zweites
ausgezeichnetes Serienformat nach „Stromberg“ ab. Hier war es Christian
Ulmen, der als Polizei-Psychologe Fälle in einer Art löste, wie man es
bisher hierzulande nur aus internationalen Serien kannte.
Im vergangenen Jahr dann wieder ein Meilenstein. Erstmals wurden
zwei Beiträge der Privaten in der bislang öffentlich-rechtlich dominierten Kategorie Information & Kultur für preiswürdig befunden: nämlich die Reportage „Tabubruch“ (DSF; heute Sport1) über das Thema
Homosexuelle im Profi-Fußball von Aljoscha Pause sowie der „Galileo
Spezial“-Beitrag mit dem Titel „Karawane der Hoffnung“. Hier begleitete
ein ProSieben-Team Rüdiger Nehberg und dessen Frau mit der Kamera
und dokumentierte den Kampf des Paares gegen Genitalverstümmelung
in Afrika.
35 Auszeichnungen in gut 25 Jahren Privatfernsehen – da ist noch Luft
nach oben. Dabei sind 35 Preise bei der eindeutigen Kundenorientierung des Privatfernsehens nicht mal wenig. Erfolg muss hier in erster
Linie quantitativ messbar sein. Doch überall da, wo Produktionen den
Qualitätsmaßstäben der Grimme-Jurys genügen, wurden und werden
sie kontinuierlich bei der Preisvergabe berücksichtigt. Originäre Comedy-Formate, niveauvolle TV-Filme, originell aufbereitete und inhaltlich
fundierte Dokumentation (auch wenn in diesem Genre wohl noch der
größte Abstand zu den Öffentlich-Rechtlichen herrscht) – die Grenzen
sind längst fließender geworden zwischen den öffentlich-rechtlichen
und den privaten TV-Anbietern.
Dass es in diesem Jahr keinen Preis gab - das muss nichts bedeuten.
Vielleicht haben die Privaten ja nur ein Leer-, oder besser, ein Lehrjahr eingelegt. Ob „Nikola“, „Wambo“, „Fröhliche Weihnachten“ oder
„Doctor’s Diary“. Bitte mehr davon! – kann man da den Privatsendern
nur zurufen. Dann gibt es im nächsten Jahr auch wieder Preise.
Was ist zu erwarten, was zu tun? Die Durstrecke im Genre Fernsehfilm – in den letzten sieben Jahren gab es hier nur eine Auszeichnung
für die Privaten – gilt es zu überwinden. Nicht nur auf spektakuläre
Event-Produktionen sollten SAT.1 oder RTL setzen; gerade der klassische
Fernsehfilm hätte wieder weit mehr Anstrengungen verdient. Immerhin, das neue Jahr hat durchaus vielversprechend begonnen, wenn man
an den sehenswerten SAT.1-Film „Marco W. – 247 Tage im türkischen
Gefängnis“ denkt. Im Comedy-Bereich – ob Serie oder Show – waren
private Sender in der Vergangenheit meist Trendsetter, haben so auch
die Öffentlich-Rechtlichen wachgerüttelt. Dieses Rennen um Innovationen in der Unterhaltung bleibt weiter spannend.
Und schließlich ist da ja noch der Bereich Pay-TV. Lange liegt der letzte
Grimme-Preis für Premiere bereits zurück. Die Nachfolgemarke Sky hat
aber gerade in den letzten Monaten eifrig damit begonnen, neue eigene
Formate zu entwickeln und zu produzieren: Show, Talk, Magazine.
Vielleicht kommt ja demnächst aus dieser Ecke wieder mal ein Format,
das auszeichnungswürdig ist.
Volker Bergmeister
Volker Bergmeister, geboren 1959 in Pfaffenhofen,
arbeitet seit mehr als 20 Jahren als TV-Kritiker beim
Fernsehmagazin Gong. Er hat zahlreiche Reportagen
und Interviews zu unterschiedlichen medienpolitischen
Die zweite Trophäe für die Privaten im Jahr 2008 sicherte sich Sat.1
mit der satirischen Show „Fröhliche Weihnachten“, in der Anke Engelke
und Bastian Pastewka als Volksmusik-Paar Marianne und Michael
Themen verfasst. Daneben ist er Mitglied des Kabaretts Ensemble Stachelbär in München und arbeitet als
Moderator von Diskussionen und Filmpremieren.
Foto: Bergmeister
Foto: ProSieben / Willi Weber
Rituale und Exzesse der volkstümlichen und volksdümmlichen Unterhaltung bissig parodierten. Auszeichnungen für herausragende ComedySerien ziehen sich wie ein roter Faden durch die noch junge Geschichte
der Preiskategorie Unterhaltung. Und so wurde 2009 „Doctor’s Diary“
(aus der Tastatur von Bora Dagtekin, so wie auch die grimme-gekrönte
ARD-Serie „Türkisch für Anfänger“) mit einem Grimme-Preis bedacht.
47. GRIMME-PREIS 2011
27
„Die Menschen berühren“
Über das Schaffen meines Vaters Bernd Eichinger
von Nina Eichinger
Wer Geschichten wie er erzählt, dem gebührt der Grimme-Preis.
Seit ich denken kann, hat mein Vater ein Buch in der Hand gehabt. Bis
heute fühle ich mich immer dann zu Hause, kann gut schlafen, wenn
ich das Knistern von umgeblätterten Buchseiten höre. Lesen eröffnet
Welten. Wie oft lagen wir lesend nebeneinander, um uns dann angeregt
zu erzählen, was auf den letzten Seiten alles passiert war. Ich konnte
ihn alles fragen. Er wusste alles über Napoleon, er kannte jeden Gipfel,
den Messner bestiegen hatte, und die Geschichten der Länder, die ich
bereiste, lebten in ihm. Er hatte eine verblüffende Neugier, Offenheit
und ein aufrichtiges Interesse an seinen Gesprächspartnern. Alles wollte
er durchdringen. Die Bilder in seinem Kopf konkretisieren, um sie dann
mit der richtigen Geschichte auf der Leinwand zum Leben zu erwecken.
Foto: Constantin Film
Produzieren war für ihn ein kreativer Prozess, bei dem er nicht nur
viel von sich, sondern auch von seinem Team abverlangte, immer mit
dem nötigen Respekt. Er selbst war einer, der vom Kabelträger bis zur
Schauspielerei alles ausprobiert hatte, um wirklich zu verstehen, wie alles zusammenhängt. So konnte er die Probleme eines Regieassistenten
genauso gut verstehen wie die Gefühle einer Schauspielerin. Deswegen
gab es keinen, der ein Team besser motivieren konnte als er.
Er machte nur Filme, die ihm am Herzen lagen – er lebte für sie und das
konnte jeder spüren. Mit unglaublichem Mut und gnadenloser Ehrlichkeit stellte er sich der Angst und dem Risiko, die mit jedem neuen Projekt verbunden sind. Kaum ein Filmemacher hat aus purer Überzeugung
so viel gewagt wie er. Mehr als ein Mal setzte mein Vater alles auf eine
Karte. Er war nicht nur Produzent, er war auch ein Kämpfer.
Dominik Graf
Mein Vater war ein Mensch, der sich den Glauben an das Gute bewahrte.
„Unterschätze niemals das Publikum“, sagte er oft, „es ist nicht dumm.
Man kann nur mit einer Sache Erfolg haben, an die man selber glaubt
– die Zuschauer merken, wenn Du etwas mit Leidenschaft machst, und
dann lieben sie es auch.“ Mein Vater war auch ein Idealist.
„Selbst die haben die Knie gebeugt, die Dich
jahrzehntelang mit Missgunst und Häme
überzogen hatten. Es hätte Dich glücklich
gemacht, das zu sehen.“
Günter Rohrbach
Er blieb sich und seinem Beruf treu, ließ sich nicht von seinem
Glauben abbringen. Deswegen war er vielen einen Schritt voraus.
Er war einer der großen Produzenten unseres Landes, ein Künstler
und eine Ausnahmeerscheinung in der heutigen Medienlandschaft.
Meinem Vater ging es nicht um Ruhm und Blitzlichtgewitter, er produzierte Filme, um Geschichten zu erzählen. Die Menschen zu berühren,
nichts interessierte ihn mehr.
„In einem Film würde Bernds Tod wirken wie
ein falscher Schnitt, als hätte ein heimtückischer Kinovorführer die letzten zwei Rollen
weggelassen und den Abspann drangeklebt.
Und der Vorführer, vielleicht Bernd selbst,
sagt: „Hilft ja nix, wenn der Bärtige ruft,
dann ist es eben so.“
Tom Tykwer
Ich bin stolz, seine Tochter zu sein.
Nina Eichinger
Nina Eichinger, geboren 1981 in München, ist Bernd
Eichingers Tochter. Bekannt wurde sie vor allem als Moderatorin der MTV-Formate „TRL“ und „Brand: Neu“. Von
2008 bis 2010 war sie neben Dieter Bohlen und Volker
Neumüller Jurymitglied bei „Deutschland sucht den
Superstar. Als Nebendarstellerin war sie in mehreren
Kinoproduktionen zu sehen.
Foto: MTV / Bernd Jaworek
„Großes Herz, großes Herz!“
GRIMME-PREIS 2011
für
Tatort – Nie wieder frei sein
Buch
Dinah Marte Golch
Regie
Christian Zübert
Darstellung
Udo Wachtveitl, Miroslav Nemec, Lisa Wagner
Produktion: H & V Entertainment, Michael Polle, Kathrin Breininger
Wir gratulieren und danken den Preisträgern, allen Beteiligten vor und hinter der
Kamera sowie der Redaktion des Bayerischen Rundfunks.
In dankbarer Erinnerung an Silvia Koller.
H & V Entertainment
FIKTION
Grimme
Preis
2011
Nominierungen im Überblick...................................................................................... 31
Aus der Nominierungskommission Fiktion
Crashkurs in Sachen Qualität.................................................................................... 34
Grimme-Preis Fiktion
Im Angesicht des Verbrechens (WDR / ARTE / Degeto / BR / SWR / NDR / ORF)..... 36
Tatort: Nie wieder frei sein (ARD / BR).................................................................. 40
Neue Vahr Süd (ARD / WDR / RB)................................................................................ 42
In aller Stille (ARD / BR).............................................................................................. 44
Keine Angst (ARD / WDR).............................................................................................. 46
Aus der Jury Fiktion
Etwas verpasst?.............................................................................................................. 49
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Fotos: Willi Weber
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In Co-Produktion mit dem WDR
Gefördert von der Filmstiftung NRW
47. GRIMME-PREIS 2011
31
Die Nominierungen zum Grimme-Preis 2011
FIKTION: FERNSEHSPIEL / TV-MOVIE
Nachtschicht – Wir sind die Polizei (ZDF)
Ein Juwelenraub mit zwei „falschen“ Frauen, zwei falsche Polizisten, die an einer Landstraße arglose Autofahrer abkassieren und
ein echtes Krokodil: Drei Fälle, die mehr miteinander zu tun haben,
als es auf den ersten Blick scheint.
Dutschke (ZDF)
Der doku-fiktionale Film zeichnet in Form von Interviewpassagen
und inszenierten Szenen wichtige Stationen des Lebenswegs von
Rudi Dutschke nach: seinen Aufstieg zur zentralen Figur der 68er
Bewegung, das Attentat im April 1968 und die Phase des Exils.
Produktion: teamWorx, Nico Hofmann, Benjamin Benedict; Buch: Daniel Nocke; Regie:
Stefan Krohmer; Kamera: Patrick Orth; Darsteller: Christoph Bach, Emily Cox, Pasquale
Produktion: Network Movie, Reinhold Elschot; Buch / Regie: Lars Becker; Kamera: Ngo
Aleardi, Matthias Koeberlin u.a.; Redaktion: Caroline von Senden, Esther Hechenberger;
the Chau, Schnitt: Sanjeev Hathiramani; Musik: Frank Wulff, Stefan Wulff, Hinrich
Erstausstrahlung: Dienstag, 27.04.2010, 20.15 Uhr; Sendelänge: 90 Minuten
Dageför; Darsteller: Armin Rohde, Barbara Auer, Minh-Khai Phan-Thi u.a.; Redaktion:
Daniel Blum; Erstausstrahlung: Montag, 18.01.2010., 20.15 Uhr; Sendelänge: 90 Minuten
Sau Nummer Vier (BR)
Ein herrenloser Finger, von einem Dackel durch ein kleines beschauliches Dorf in Niederbayern getragen und ganz offensichtlich von
einem Schwein abgebissen, ist für die Polizei der Beweis: Jemand
ist ermordet worden!
Im Dschungel (ARD / WDR)
Der Arbeiter Frank Sperber will Gerüchten nachgehen, dass ein Teil
des Werks abgestoßen werden soll, und lässt sich in den Betriebsrat
wählen. Ahnungslos gerät er in einen Dschungel aus Lügen und
Intrigen, in dem es um Macht und viel Geld geht.
Produktion: teamWorx, Ariane Krampe; Buch: Jörg Tensing unter Mitarbeit von Elmar
Fischer; Regie: Elmar Fischer; Kamera: Philipp Kirsamer; Schnitt: Eva Lopez Echegoyen;
Produktion: Roxy Film, Annie Brunner, Andreas Richter, Ursula Woerner; Buch: Christian
Musik: Matthias Beine; Darsteller: Ronald Zehrfeld, Ina Weisse, Heino Ferch, Bernd
Limmer; Regie: Max Färberböck; Kamera: Andreas Doub; Ton: Max Meindl; Schnitt:
Stegemann, Christian Maria Goebel u.a.; Redaktion: Barbara Buhl; Erstausstrahlung:
Oliver Gieth, Nicola Undritz; Darsteller: Johanna Bittenbinder, Florian Karlheim, Stefan
Mittwoch, 06.10.2010, 20.15 Uhr; Sendelänge: 90 Minuten
Betz, Moritz Katzmair, Tim Seyfi u.a.; Redaktion: Stephanie Heckner; Erstausstrahlung:
Samstag, 23.10.2010, 20.15 Uhr; Sendelänge: 90 Minuten
Eine Nacht im Grandhotel (ARD / NDR)
Hoteldetektiv Paul Sander hat in dieser Nacht alle Hände voll zu
tun: Vier ganz unterschiedliche Fälle halten den Ex-Polizisten auf
Trab. Als wäre das nicht schon genug, beschäftigt ihn bald auch Fall
Nr. 5. Und dieser ist viel persönlicher, als ihm lieb ist.
Es kommt der Tag (ARD / SWR)
Ende der 70er: Eine terroristische Gruppe überfällt eine Bank.
Darunter Judith, die nach der Tat ihre Tochter Alice zur Adoption
freigibt, untertaucht und nie gestellt wird. 30 Jahre später spürt
ihre mittlerweile erwachsene Tochter Alice die Ex-Terroristin auf
und fordert, dass sie sich stellt. Es kommt zur Eskalation.
Produktion: Wüste Film Ost, Sabine Holtgreve, Stefan Schubert; Buch / Regie: Susanne
Produktion: Heike Wiehle-Timm; Buch: Sathyan Ramesh; Regie: Thorsten Näter; Kamera:
Schneider; Kamera: Jens Harant; Schnitt: Jens Klüber; Musik: Biber Gullatz, Andreas
Achim Hasse; Ton: Frank Ahrens; Musik: Axel Donner; Darsteller: Uwe Kockisch, Barbara
Schäfer; Darsteller: Katharina Schüttler, Iris Berben, Jacques Frantz, Sebastian
Auer, Udo Samel, Judy Winter, Stephanie Japp, Birge Schade, Gustav Peter Wöhler, Hans
Urzendowsky; Redaktion: Stefanie Groß; Erstausstrahlung: Mittwoch, 10.11.2010,
Uwe Bauer, Franco Nero u.a.; Redaktion: Barbara Beauvais; Erstausstrahlung: Mittwoch,
23.00 Uhr; Sendelänge: 102 Minuten
05.01.2011, 20.15 Uhr; Sendelänge: 90 Minuten
Der LKA-Ermittler Felix Murot hat keine Frau, nur einen Anzug und
einen Tumor im Kopf, den er liebevoll Lilly nennt. Sein aktueller Fall
führt ihn in seine Heimat – und in seine Vergangenheit als BKAErmittler in einem RAF-Mordfall aus den 80ern.
Letzter Moment (NDR / ARTE)
Peter ist Ende 60 und hat sich schon lange in die Einsamkeit
zurückgezogen, doch eines Abends lernt er die 30-jährige Studentin
Isabel kennen. Die Romanze erfährt einen tiefen Riss, als Peter ihre
Eltern kennenlernt: Denn Isabels Mutter ist jene Frau, deretwegen
Peter vor 30 Jahren in die Einsamkeit geflüchtet ist.
Produktion: Liane Jessen (HR); Buch: Christian Jeltsch; Regie: Achim von Borries; Kamera:
Produktion: mementoFilm, Markus Gruber; Buch / Regie: Sathyan Ramesh; Kamera: Jana
Bernd Fischer; Schnitt: Stefan Blau; Musik: Bertram Denzel; Darsteller: Ulrich Tukur,
Marsik; Schnitt: Dora Vajda; Ton: Michael Schlömer; Musik: Ute Engelhardt; Darsteller:
Martina Gedeck, Barbara Philipp u.a.; Redaktion: Jörg Himstedt; Erstausstrahlung: Sonn-
Matthias Habich, Ulrike C. Tscharrem, Gila von Weitershausen, Thomas Thieme u.a.;
tag, 28.11.2010, 20.15 Uhr; Sendelänge: 88 Minuten
Redaktion: Daniela Mussgiller (NDR) Andreas Schreitmüller (ARTE); Erstausstrahlung:
Tatort: Wie einst Lilly (ARD / HR)
Freitag, 17.09.2010, 20.15 Uhr; Sendelänge: 90 Minuten
Der erste Tag (ORF / ARTE)
Ein Kernkraftwerk im österreichischen Grenzgebiet meldet einen
Störfall von bisher ungeahntem Ausmaß. Obwohl die Behörden
professionell reagieren, wird bald klar: Sie sind mit einer Katastrophe konfrontiert, deren Ausmaß nicht abzusehen ist. In der Bevölkerung bricht Panik aus.
Ein Schnitzel für drei (ARD / WDR)
Produktion: ORF / ARTE, Kurt Mrkwicka, Andreas Kamm, Oliver Aispitz; Buch: Susanne
Das Leben hat es nicht gerade gut gemeint mit Günther und Wolfgang: Kein Job, kaum Geld und wenig Perspektive. Doch dann
treffen die Freunde auf den demenzkranken Nachbarn Hermann, in
dessen Wohnung sie einen Geldschatz entdecken. Dessen Besitzer
erinnert sich nicht mehr an das Geld.
Freund; Regie: Andreas Prochaska; Kamera: Thomas Benesch; Schnitt: Alarich Lenz; Ton:
Produktion: Colonia Media, Titus Kreyenberg, Winka Wulff; Buch: Thomas Koch, Peter
Max Vornehm, Serge Timmons; Musik: Stefan Bernheimer; Darsteller: Andreas Kiendl,
Freiberg, Stefan Barth und Manfred Stelzer; Regie: Manfred Stelzer; Kamera: Tomas
Franziska Weisz, Beatrix Brunschko, Marina Zinner, Johannes Zeiler u.a.; Redaktion: Klaus
Erhart; Schnitt: Bernd Schriever; Ton: Sylvain Remy; Darsteller: Armin Rohde, Ludger
Lintschinger (ORF), Andreas Schreitmüller (ARTE); Erstausstrahlung: Freitag, 23.04.2010,
Pistor, Branko Samarovski, Caroline Peters u.a.; Redaktion: Götz Bolten, Katja De Bock;
20.15 Uhr; Sendelänge: 89 Minuten
Erstausstrahlung: Montag, 02.06.2010, 20.15 Uhr; Sendelänge: 90 Minuten
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47. GRIMME-PREIS 2011
Morgen musst du sterben (ARD / HR)
Johannes Ganten, Ende 50, führt ein komfortables Leben. Eines
Morgens findet er einen Zettel in seinem Briefkasten mit dem
Satz: Morgen musst du sterben! Doch erst die zweite Warnung und
einige sehr seltsame Begegnungen nagen an Gantens unerschütterlichem Selbstbewusstsein.
33
FIKTION: SERIEN & MEHRTEILER
Eleonore Weisgerber, Gesine Cukrowski, Franz Dinda, Giesela Schneeberger; Redaktion:
Weissensee (ARD / MDR) (6 Folgen)
Die beiden Familien Kupfer und Hausmann leben Anfang der
1980er Jahre in Ostberlin und könnten nicht gegensätzlicher sein.
Familie Kupfer funktioniert als mächtiges Rad im DDR-System, die
Hausmanns dagegen stammen aus dem politisch staatskritischen
System. Die Familien sind Feinde im System. Alles verändert sich,
als sich Martin Kupfer und Julia Hausmann kennenlernen.
Inge Fleckenstein; Erstausstrahlung: Mittwoch, 15.12.2010, 20.15 Uhr; Sendelänge:
Produktion: Ziegler Film, Regina Ziegler; Buch: Annette Hess; Regie: Friedemann Fromm;
90 Minuten
Kamera: Michael Wiesweg; Schnitt: Eva Schnare; Musik: Stefan Mertin, Martin Hornung;
Produktion: HR; Buch / Regie: Niki Stein; Kamera: Arthur W. Ahrweiler; Schnitt: Silke
Franken; Ton: Katja Schenk; Darsteller: Uwe Kockisch, Matthias Habich, Susanne Lothar,
Darsteller: Florian Lukas, Uwe Kockisch, Ruth Reinecke, Jörg Hartmann, Anna Loos u.a.;
Kongo (ZDF)
Oberleutnant Nicole „Nicki“ Ziegler, Ermittlerin bei den Feldjägern,
wird zu einem Auslandseinsatz in den Ost-Kongo geschickt, um den
Selbstmord eines Soldaten aufzuklären. Doch Nicki findet Hinweise,
die den Tod in anderem Licht erscheinen lassen, und kommt allmählich einem Verbrechen in einem grausamen Krieg auf die Spur.
Produktion: teamWorx, Christian Granderath; Buch: Alexander Adolph nach einer
Idee von Stefan Dähnert; Regie: Peter Keglevic; Kamera: Busso von Müller; Ton: Peter
Schmidt; Darsteller: Maria Simon, Jörg Schüttauf, Götz Schubert, David Rott, Hannes
Redaktion: Jana Brandt, Wolfgang Voigt; Erstausstrahlung: ab 14.09.2010., jeweils Di.,
20.15 Uhr; Sendelänge: je 45 Minuten
FIKTION: SPEZIAL
Martin Brambach
für seine stetige schauspielerische Leistung in unterstützenden Rollen:
Tatort: Wie einst Lilly, Tatort: Schön ist anders, Fasten à la Carte.
Wegener, Maximilian Brückner; Redaktion: Günther van Endert; Erstausstrahlung:
Montag, 18.10.2010, 20.15 Uhr; Sendelänge: 90 Minuten
Die fremde Familie (ARD / BR)
Nach einem Unfall wird der 80jährige Robert zum Pflegefall. Trotz
des schwierigen Verhältnisses zu ihm will seine Tochter Ira ihn
zu Hause pflegen und stellt angesichts der hohen Pflegekosten eine
osteuropäische Pflegekraft ein, die schwarz für sie arbeitet – sehr
zum Missfallen ihres politisch korrekten Mannes. Als plötzlich Iras
jüngerer Halbbruder, der Lebenskünstler Bernd, auftaucht und sich
einmischt, droht Iras Leben aus den Fugen zu geraten.
FIKTION: PREISTRÄGER
Im Angesicht des Verbrechens (WDR / ARTE / Degeto / BR /
SWR / NDR / ORF)
ausführlich ab Seite 36
Tatort: Nie wieder frei sein (ARD / BR)
ausführlich ab Seite 40
Produktion: Bavaria, Oliver Dieckmann; Buch: Daniel Nocke; Regie: Stefan Krohmer;
Neue Vahr Süd (ARD / WDR / RB)
Kamera: Benedict Neuenfels; Schnitt: Boris Gromatzki; Ton: Steffen Graubaum; Darstel-
ausführlich ab Seite 42
ler: Katja Riemann, Katharina Nesytowa, Thomas Sarbacher, Fritz Schediwy, Stephan Luca
u.a.; Redaktion: Bettina Ricklefs; Erstausstrahlung: Mittwoch, 12.01.2011, 20.15 Uhr;
In aller Stille (ARD / BR)
Sendelänge: 90 Minuten
ausführlich ab Seite 44
Zivilcourage (ARD / WDR)
Peter Jordan (Götz George) lebt seit fast 30 Jahren im Berliner
Problemviertel Neukölln. Er betreibt ein Antiquariat, in dem er
Jessica kennenlernt, die bei ihm ein Schülerpraktikum machen will,
aber kaum lesen und schreiben kann. Zwei Welten prallen aufeinander. Jordan wird durch einen Vorfall gezwungen, sich zu
entscheiden. Er zeigt Zivilcourage, die bei Freunden und Familie
nicht nur Verständnis auslöst.
Produktion: Colonia Media, Sonja Goslicki; Buch: Jürgen Werner; Regie: Dror Zahavi;
Kamera: Gero Steffen; Schnitt: Fritz Busse; Ton: Manfred Banach, Ben Krüger; Darsteller:
Götz George, Carolyn Genzkow, Arnel Taçi, Marko Mandic, Hansjürgen Hürrig u.a.;
Redaktion: Rolf-Dietrich Brücker; Erstausstrahlung: Mittwoch, 27.01.2010, 20.15 Uhr;
Sendelänge: 90 Minuten
Keine Angst (ARD / WDR)
ausführlich ab Seite 46
34
47. GRIMME-PREIS 2011
Crashkurs in Sachen Qualität
Aus der Nominierungskommission Fiktion
E
s soll ja Mitglieder in den Grimme-Jurys geben, die noch nie eine
Nominierungskommission von innen gesehen haben. Die das
womöglich auch gar nicht wollen, weil sie sich zu fein dazu sind, die
umfangreiche Vorarbeit zu leisten, die darin besteht, das Fernsehprogramm eines ganzen Jahres nach preiswürdigen Perlen zu durchforsten.
Dann gibt es auch solche, die sich durch jahrelange Arbeit in Nominierungskommissionen in die Jury hochgedient haben. Da sitzen sie nun
– und wollen nicht wieder zurück. Sondern lieber den Nominierungskommissionen zeigen, wie unaufmerksam die gearbeitet haben – indem
sie als Jury-Mitglieder nachnominieren, was die „Nomis“ sträflich
vernachlässigt zu haben scheinen.
Ich weiß, wie das geht. Kaum sitzt man selber in der Jury und findet
sich wichtig, mäkelt man an der Auswahl der nominierten Produktionen
herum. Es ist ein Naturgesetz, an dem sich auch durch ein systematisches
Rotationsverfahren nichts ändern würde. Oder vielleicht doch? Ist es
von Sybille Simon-Zülch
einigen zu prätentiös war. Und der brillante BR-„Tatort: Nie wieder
frei sein“, der letzte, den die verstorbene Silvia Koller noch redaktionell
betreut hat.
Vorboten eines Trends, der in den nächsten Jahren verstärkt auf uns
zukommen wird? Nämlich die Frage: wohin mit alten Eltern, die geistig
oder körperlich nicht mehr auf der Höhe sind? „Wohin mit Vater?“ hieß
programmatisch ein Fernsehfilm des ZDF, der aber keine Gnade vor
unseren Augen finden konnte: emotional zu manipulativ, zu überladen
mit sämtlichen Aspekten rund um die Probleme des Alterns, des Pflegenotstands, der Auseinandersetzung zwischen den Geschwistern um die
Verantwortung, die übernommen werden muss. Es ist zu befürchten,
dass es bei künftigen Fernsehfilmen eher in diese recht biedere Richtung
weitergeht.
Ganz anders dagegen die kunstvoll realistische Bearbeitung desselben Themas mit genau den gleichen
Implikationen und doch viel nuancierter, eleganter, voll unerwarteter Wendungen, wie es Stefan Krohmer und
Daniel Nocke in ihrem neuen Wunderwerk „Die fremde Familie“ zeigen. Was
für ein kluges, thematisch fantasievolles und fleißiges Gespann. Gerade erst
hatten wir ihr „Dutschke“-Porträt in die
nächste Nominierungsrunde gestimmt
– da wurden wir in der Januarwoche mit einem vollkommen anders gearteten Film desselben Duos überrascht.
Die Nominierungskommission ist ein Crashkurs in Sachen
Qualität, Tiefpunkten, Mord und Totschlag, unfreiwilliger
Komik und, trotz allem, der Erkenntnis: So schlecht, wie es oft
gemacht wird, ist das deutsche Fernsehen wirklich nicht.
Doch: Das war in diesem Jahr viel schöner. Und wie immer in einer
Nominierungskommission, die ja buchstäblich alles anschaut, was das
Jahr über durchs Fernsehen rauscht, ein Crashkurs in Sachen Qualität,
Tiefpunkten, Mord und Totschlag, unfreiwilliger Komik und, trotz allem,
der Erkenntnis: So schlecht, wie es oft gemacht wird, ist das deutsche
Fernsehen wirklich nicht. Man muss es ja nicht nur an so lieblos
dahingeschluderten Zweiteilern wie „Der letzte Patriarch“, das Geschenk
an Mario Adorf zum 80. Geburtstag, messen. Auch nicht an der ermüdenden Tendenz, gesellschaftlich „relevante“ Themen ins Krimi-Format
zu pressen. Denn sogar in der Überproduktion von „Tatort“-, „Polizeiruf“- und anderen Krimis ist hin und wieder noch ein Platz für
Überraschendes, Innovatives oder einfach virtuos den Regeln des Genres
Gehorchendes, ohne jede moralische Mission.
In dieser Hinsicht überragt natürlich Dominik Grafs meisterhafte
Russenmafia-Serie „Im Angesicht des Verbrechens“ alles, was das
Fernsehjahr an Krimis sonst zu bieten hatte. Dagegen hatten es andere Krimis bei uns schwer. Deshalb konnten auch nur drei weitere Krimis unsere Begeisterung wecken: „Wir sind die Polizei“, aus der ZDFReihe „Nachtschicht“, der HR-„Tatort: Wie einst Lilly“ – der allerdings
Aber nicht nur bei Krohmer / Nocke gab es eine Doppelung, auch
Drehbuchautor Sathyan Ramesh hat uns gleich zweimal, eigentlich sogar
dreimal überzeugt: Als Drehbuchautor und Regisseur des Liebesdramas
„Letzter Moment“. Und mit seinem Drehbuch zur „Nacht im Grandhotel“.
Ein wunderschön altmodischer, unaufgeregter Film, dessen magischer
Hauptdarsteller, Uwe Kockisch, im vergangenen Jahr die Bandbreite
seiner Schauspielkunst auch noch als moderne „Jedermann“-Figur in
„Morgen musst du sterben“, besonders aber als Generalmajor der Stasi
in der exzellenten Serie „Weissensee“, bewiesen hat.
Foto: BR / Erika Hauri
nicht viel erfreulicher, sich dreimal im Jahr, jeweils eine Woche lang, zu
treffen? Dreimal im Jahr den sagenhaften Zuwachs an Körpergewicht
durch die unentwegte Einnahme von Sahnekuchen, belegten Brötchen,
Obst, Joghurt, Erdnussflips und Salzstangen zu genießen? Mit lustigen,
sympathischen Kollegen und Kolleginnen in freundschaftlicher, entspannter Arbeitsatmosphäre, ohne Taktiererei, ernsthaft zu diskutieren
und zwanglos herumzualbern? Um sich am Ende gegenseitig zu versichern, wie froh man ist, nicht in der Jury zu sein, also nicht die Qual der
Wahl zu haben, unter den von uns nominierten 20 tollen Produktionen
gerade mal fünf auswählen zu dürfen?
Beklemmend: „In aller Stille“
47. GRIMME-PREIS 2011
35
Nominierungskommission
Fiktion
Von links nach rechts:
Jenny Zylka, Dr. Marieanne Epsen-Lenz,
Rolf Eckard, Sybille Simon-Zülch,
Monika Wojtyllo, Volker Bergmeister,
Foto: Grimme / Jorczyk
Thomas Gehringer
Und überhaupt: die Serien. Wir haben uns fassungslos gefragt, wie
wohl die Nonnen-Serie „Um Himmels Willen“ in die Vorschlagsliste
kommen konnte, eine Serie, die sich, neben „Familie Dr. Kleist“ und „In
aller Freundschaft“, zwar großer Popularität erfreut, zugleich aber für
die Innovationsresistenz des öffentlich-rechtlichen Fernsehens steht.
Wie ja auch am Umgang der ARD
mit Grafs Serie „Im Angesicht des
Verbrechens“ zu sehen war, die lieblos in der Nacht versendet worden
ist. Man muss deshalb schon froh
sein, dass es im letzten Jahr außer
dieser Serie und „Weissensee“ noch
eine dritte, überraschend kühne Serie gegeben hat: Doris Dörries hinreißende Satire „Klimawechsel“.
Erfahrungen hat, weiß, wie geizig man bei der Preisentscheidung wird,
da ja nur insgesamt fünf Preise zu vergeben sind, von denen einer dann
an „Spezial“ zu gehen hätte, was logischerweise heißt: nur noch vier
Preise für fiktionale Produktionen. Bisher war aber in jedem Jahr die Zahl
der preiswürdigen Filme schon größer als die der Preise, die vergeben
werden können. Weshalb sich die
Nominierungskommissionen noch
so sehr den Kopf zermartern können,
was sie der Jury als „Spezialpreis“
vorzuschlagen haben – es ruht kein
Preissegen darauf.
Wir haben uns fassungslos gefragt, wie
wohl die Serie „Um Himmels Willen“ in
die Vorschlagsliste kommen konnte.
Auch wir haben uns den Kopf zermartert, wie wir die Jury mit einer Nominierung für den „Spezialpreis“
ködern könnten, und waren uns schließlich einig: Martin Brambach,
der uns als „supporting actor“ – wie es im Englischen respektvoll für
„Nebendarsteller“ heißt – immer wieder aufgefallen ist und mit seiner
unprätentiösen Präsenz begeistert hat. Es wurde, wie wir inzwischen
wissen, wieder nichts mit einem „Spezialpreis“. Aber Martin Brambach
behalten wir im Auge. Ob in der „Nomi“ oder in der Jury. Der Preis ist
heiß. Vielleicht im nächsten Jahr.
Lange haben wir über zwei Produktionen von ProSieben diskutiert: den
Zweiteiler „Go West – Freiheit um jeden Preis“ und „Kreutzer kommt“.
Aber weder der Versuch, mit Christoph Maria Herbst einen „ungewöhnlichen“ Kommissar zu etablieren, noch der Abenteuerfilm über drei
junge Männer, die in den 80er Jahren aus der DDR in den Westen fliehen,
haben die Zustimmung der Mehrheit finden können. Zu unentschieden
zwischen heiligem Ernst, aufgewärmten Film-noir-Klischees und verkrampfter Skurrilität à la Agatha Christie fanden die meisten das KreutzerExperiment. Und die im ersten Teil noch fesselnde, mit Sorgfalt und
Schwung erzählte Fluchtgeschichte zerfaserte im zweiten Teil, wurde
zunehmend unglaubwürdig, trotz dieser wunderbaren jungen Schauspieler Frederick Lau (auch er mit „Neue Vahr Süd“ zweimal in diesem
Jahr vertreten), Franz Dinda und Sergej Moya.
Sybille Simon-Zülch
Sybille Simon-Zülch, geboren 1945 in Reichenbach / Zeitung. Sie erhielt 2000 den Bert-Donnepp-Preis – den
Deutschen Preis für Medienpublizistik – und ist seit
Foto: ZDF / Willi Weber
vielen Jahren Mitglied der Jurys im Grimme-Institut.
Foto: BR / Hagen Keller
Foto: Thomas Kost
Nach wie vor ungelöst, zumindest im Bereich „Fiktion“, ist das Problem
„Spezial“, seit es die „Spezial“-Jury nicht mehr gibt. Denn jeder, der Jury-
Foto: ARD / Julia von Vietinghoff
Publikationen und ist TV-Kolumnistin der Stuttgarter
Foto: Simon-Zülch
Fils, arbeitet als freie Fernsehkritikerin für verschiedene
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47. GRIMME-PREIS 2011
Grimme-Preis Fiktion
Im Angesicht des Verbrechens
WDR / ARTE / Degeto / BR / SWR / NDR / ORF
FIKTION
Foto: ARD / Julia von Vietinghoff
Produktion: Typhoon
Produktion: Typhoon, Marc Conrad,
Kathrin Bullmer (Producerin)
Buch: Rolf Basedow, Bearbeitung
Dominik Graf, Regie: Dominik Graf
Kamera: Michael Wiesweg
Schnitt: Claudia Wolscht
Musik: Florian van Volxem,
Sven Rossenbach
Darsteller: Max Riemelt, Ronald Zehrfeld,
Mišel Matičević, Marie Bäumer, u.a.
Redaktion: Wolf-Dietrich Brücker (WDR),
Frank Tönsmann (WDR), Jörn Klamroth
(Degeto), Stephanie Heckner (BR), Andreas Schreitmüller (ARTE), Thomas Martin
(SWR), Erstausstrahlung: ab Dienstag,
27.04.2010, 22.00 Uhr, Sendelänge:
10 Folgen à 49 Minuten
Im Angesicht des Verbrechens
Die Hauptstadt als Zentrum des Verbrechens. Mittendrin: Marek Gorsky und Sven Lottner, zwei clevere junge
Polizisten im Abschnitt 6 der Berliner Polizei. Nachdem der Kriminelle Max Weber nicht zum Haftantritt erschienen
ist, sollen die beiden den Verbrecher festnehmen. Als sie ihn in einem Nachtclub aufspüren, kreuzen sich die Wege
der beiden mit denen einer Gruppe junger Männer, die gerade ausgelassen die Entführung eines Speditions-LKWs
feiern, der eine große Menge geschmuggelter Zigaretten transportiert hat. Die beiden Ermittler ahnen noch nicht,
dass dieser Überfall einen Krieg zwischen zwei verfeindeten osteuropäischen Banden auslösen wird. Marek erfährt,
dass Mischa, der Ehemann seiner Schwester Stella, der führende Kopf einer der beiden Gruppen ist. Schnell sind
Marek und Sven viel tiefer in die Sache verstrickt, als ihnen lieb ist. Nachdem sie vom LKA den Auftrag erhalten, einen
Verdächtigen namens Sokolov einzufangen, finden sie sich in kurzer Zeit in einem Sumpf von Gewalt, Prostitution
und Korruption wieder. Es stellt sich heraus, dass zwei Kollegen von der Mafia geschmiert werden, und auch
Mareks Schwester Stella will – nachdem sie von Mischa in seine kriminellen Machenschaften eingeweiht wurde
– die Clan-Geschäfte stärker kontrollieren. Schwierig sind für den aufstrebenden Polizisten auch seine Gefühle
für die junge ukrainische Prostituierte Jelena. Während dieser turbulenten Zeit wird Marek zudem immer wieder
an den Todestag seines Bruders erinnert. Als am Ende herauskommt, dass ausgerechnet Sokolov der Mörder war,
setzen Malek und seine Schwester alles daran, ihn zur Rechenschaft zur ziehen.
47. GRIMME-PREIS 2011
(Buch)
Dominik Graf
(Regie)
Michael Wiesweg
(Kamera)
Claudia Wolscht
(Schnitt)
Max Riemelt, Ronald Zehrfeld, Mišel Matičević,
Marie Bäumer
(Darsteller)
Wolf-Dietrich Brücker
(stellvertretend für die Redaktion)
einen Namen als Drehbuchautor machte, studierte er
an der HFF München und arbeitete zunächst mehrere Jahre als Cutter und Regisseur. Mit Dominik Graf
realisierte er bis heute mehr als ein Dutzend Drehbücher. Aufgrund seiner Leistungen wurde Basedow mit
zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Für seine Vorlagen
zu „Polizeiruf 110: Er sollte tot“ und „Eine Stadt wird
erpresst“ wurden ihm bereits zwei Grimme-Preis zuerkannt.
Dominik Graf
Dominik Graf, 1952 in München geboren, studierte in
seiner Heimatstadt an der HFF. Bereits sein Abschlussfilm „Der kostbare Gast“ bekam 1980 den Bayerischen
Filmpreis. Als einer der erfolgreichsten deutschen
Regisseure erhielt Graf bisher acht Grimme-Preise. Er
ist damit der am häufigsten ausgezeichnete GrimmePreisträger. Für die Produktion zu „Im Angesicht des
Verbrechens“ arbeitete er eng mit seinem langjährigen
für
Im Angesicht des Verbrechens
(WDR / ARTE / Degeto / BR / SWR / NDR / ORF)
Produktion: Typhoon
Foto: ARD
Rolf Basedow
Rolf Basedow
Bevor sich Rolf Basedow, geboren 1947 in Hamburg,
Weggefährten Rolf Basedow zusammen, der das Drehbuch für die zehnteilige Miniserie geschrieben hat. Graf
lebt mit Regisseurin Caroline Link in München.
Foto: Caroline Link
Grimme-Preis
an
37
Michael Wiesweg
Der gebürtige Essener Michael Wiesweg, Jahrgang
1960, hat eine Ausbildung an der Berliner Fachschule
für Fototechnik absolviert. 1990 drehte er nach einigen
Stationen als Kameraassistent seinen ersten eigenen
Film „Wunderjahre“. „Im Angesicht des Verbrechens“ ist
die zweite Kooperation zwischen Wiesweg und Graf.
Ein Mammutwerk von insgesamt fast 500 Minuten. Ein deutsches
Mafiaepos mit eigener Handschrift, ein fiebrig-elektrisierendes Porträt
des modernen Berlin, ein Film über Liebe und Tod, Freundschaft und
Verrat, Schuld und Sühne: Dominik Grafs zehnteilige Serie „Im Angesicht des Verbrechens“ stellt vieles in den Schatten, was es bisher an
Fiktionalem im deutschen Fernsehen gegeben hat.
Zusammen mit seiner Frau und seinen vier Kindern lebt
der Kameramann, der für „Das Gelübde“ mit dem Deutschen Kamerapreis ausgezeichnet wurde, in Berlin und
Brandenburg.
Foto: Pauline Wiesweg
BEGRÜNDUNG DER JURY:
Zentrale Figur ist der Polizist Marek
„Ich freue mich, dass die außergewöhnliche Anstrengung der beteiligten
Gorsky, Sohn baltisch-jüdischer EinRedaktionen eine Ehrung erfährt. Ausgezeichnet wird damit das Bemühen,
wanderer. Zusammen mit seinem
eine Serie zu produzieren, die visuell und erzählerisch höchsten Reichtum
Kollegen Sven Lottner erhält er die
Chance, aus dem einförmigen Leben
verspricht. Die Redaktionen von BR, SWR, ARTE, NDR, ORF, WDR und Degeto
als Revierpolizist auszubrechen und
haben kollegial und inspiriert zusammengearbeitet. Mag dieser Preis ein Anbeim LKA einzusteigen. Dabei gerät
sporn für weitere Fernsehereignisse sein!“
er mit seiner Schwester Stella in Konflikt, die mit dem Mafiaboss Mischa
Wolf-Dieter Brücker
verheiratet ist. Mischa wiederum liegt
im Clinch mit einem anderen russischen Mafiaclan. Hinzu kommt ein
ungesühntes Verbrechen aus der Vergangenheit: der Mord an Mareks
Claudia Wolscht
und Stellas Bruder Grischa.
Claudia Wolscht wurde 1960 in Bad Honnef geboren und
studierte zunächst Sozialpädagogik, bevor sie ihre Karriere als Cutterin startete. Als Schnittassistentin war sie
bei zahlreichen Fernseh- und Kinofilmen dabei. Der von
ihr montierte Abschlussfilm „Rochade“ gewann 1998
den „Studentenoscar“ der Filmakademie Baden-Württemberg. Wolscht war Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes Filmeditor e.V. und unterstützte die Konzeptentwicklung eines Studiengangs für Schnitt an der IFS
Köln. Ihre aktuellen Filme sind „Rate mal wer zur Hochzeit kommt“ und die Trilogie „Komm‘ mir nicht nach“.
Foto: Luskavac Petrovic
Um diese Stränge herum haben Graf und sein Drehbuchautor Rolf
Basedow ein vielschichtiges Gesamtkunstwerk geschaffen. Das Buch
überzeugt mit einer peniblen Recherche der einzelnen Milieus und
ihrer Besonderheiten; die Regie glänzt mit furiosen Actionsequenzen
und nimmt sich trotzdem Zeit für sorgfältige Schilderungen von
Ritualen und Familienfeiern. Nahezu makellos ist die Komposition, die
fließende Übergänge zwischen den einzelnen Handlungsebenen schafft
und eingeführte Motive auch überraschend an anderer Stelle wieder
aufnimmt.
www.studio-hamburg-produktion.de
Wir freuen uns über den
Grimme-Preis 2011 für
„Neue Vahr Süd“
Unser Glückwunsch geht an
Hermine Huntgeburth (Regie), Christian Zübert (Buch), Bettina Schmidt (Szenenbild),
Frederick Lau (Darstellung) und das gesamte Team von Lisa Blumenberg (Produzentin).
Besonders danken wir unseren Partnern WDR (Michael André, Gebhard Henke) und
Radio Bremen (Annette Strelow) sowie unseren Förderern Filmstiftung NRW, Nordmedia
und Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein.
Wir danken Sven Regener für seinen großartigen Roman und sein Vertrauen.
47. GRIMME-PREIS 2011
Max Riemelt
Max Riemelt wurde 1984 in Ost-Berlin geboren. Er ist
Autodidakt und hat nie eine Schauspielschule besucht.
thias Steurers Serie „Zwei Allein“. Einem breiteren Publikum wurde er durch die Produktionen „Mädchen, Mädchen“, „Napola – Elite für den Führer“ und „Die Welle“
an der Seite von Jürgen Vogel bekannt. Der Berliner
erhielt bislang mehrere Auszeichnungen, darunter den
Bayerischen Fernsehpreis und den Deutschen Filmpreis.
Foto: ARD / Julia von Vietinghoff
Riemelt lebt in Berlin.
Stellt vieles in den Schatten: „Im Angesicht des Verbrechens“
Ronald Zehrfeld
Sein Leinwanddebüt gab Ronald Zehrfeld 2006 im
preisgekrönten Film „Der rote Kakadu“ unter der Regie
von Dominik Graf. Dort stand er auch zum ersten Mal
mit Max Riemelt vor der Kamera. Zuvor absolvierte der
gebürtige Berliner ein Studium an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Der 34-Jährige stand vor seiner Film- und Fernsehkarriere auf
verschiedenen Bühnen, unter anderem beim Deutschen
Theater Berlin und dem St. Pauli Theater Hamburg. Der
Grimme-Preis ist nach dem Deutschen Fernsehpreis die
Schrecklichen. Ein enges Zusammenspiel geht die Kameraarbeit mit dem
kongenialen Schnitt von Claudia Wolscht ein, der hektisch und nervös,
aber auch ruhig und kaum spürbar sein kann. Sehr oft entstehen Bilder,
die lange im Gedächtnis bleiben.
Foto: Moritz David Friedrich
1997 startete seine Karriere mit der Hauptrolle in Mat-
zweite große Auszeichnung für Ronald Zehrfeld.
Foto: Binh Truong
Die variable Kamera von Michael Wiesweg unterstützt den Reichtum
an Stimmungen und Perspektiven. Mal ist sie mitten im Geschehen und
zeigt Gewalt in Nahaufnahme, mal schmiegt sie sich über Umwege
an die Protagonisten, mal schafft sie Tableaus des Schönen und des
Mišel Matičević
Mišel Matičević studierte an der Hochschule für Film
und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Babelsberg. Gleichzei-
Dominik Graf hat ein Musterbeispiel des abgeschlossenen seriellen
Erzählens vorgelegt. Dass wir es tatsächlich sehen durften, ist auch dem
WDR-Redakteur Wolf-Dietrich Brücker zu verdanken, der – zusammen
mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen beteiligten Anstalten – in der
schwierigen Postproduktionsphase die Fertigstellung des Werks sicherte.
Die Mühe und das herausragende Ergebnis hätten es gerechtfertigt,
wenn die Serie auf einem der allerbesten Plätze im ARD-Programm
gelaufen wäre.
tig spielte er erste Rollen auf verschiedenen Theaterals auch am Deutschen Theater zu sehen. Direkt nach
seinem Abschluss im Jahr 1998 übernahm er mehrere
Kino- und Fernsehrollen. 2008 und auch 2010 erhielt
Mišel Matičević den Deutschen Fernsehpreis für seine
schauspielerischen Leistungen. Zuletzt verkörperte der
41-jährige Matičević die Rolle des Trojan in Thomas
Arslans hochgelobtem Thriller „Im Schatten“.
Foto: Stephan Schramm
bühnen. Matičević war sowohl beim Berliner Ensemble
Marie Bäumer
Marie Bäumer, 1969 in Düsseldorf geboren, wuchs in
Hamburg auf. Ihre Schauspielausbildung absolvierte sie
an der Scuola Teatro Dimitri im schweizerischen Versico, beim Studio 033 in Hamburg und an der Hochschule
für Musik und Theater Hamburg. Der Durchbruch gelang
ihr 1996 in Detlev Bucks Komödie „Männerpension“. Sie
war in so unterschiedlichen Filmen wie „Der Schuh des
Manitu“, „Der alte Affe Angst“ oder auch „Mitte Ende
August“ zu sehen. Als mehrfach ausgezeichnete Schauspielerin führte sie Anfang 2011 erstmals beim von ihr
verfassten Theaterstück „Abschied“ Regie.
Foto: Christian Schoppe / photoselection
„Im Angesicht des Verbrechens“ ist außerdem ein großartiger Schauspielerfilm. Max Riemelt spielt Gorsky mit einer sympathischen
Jungenhaftigkeit, aber er kitzelt auch dunklere Seiten aus dem
Charakter heraus. Ronald Zehrfeld gibt als Lottner den bärigen, stets
loyalen Kollegen mit Ost-Berliner Schnauze. Hinreißend ist Marie
Bäumer, die als Gangsterbraut Stella zwischen Stärke und Verletzlichkeit
changiert, und Mišel Matičevič verkörpert als Mischa eine der tragischsten
Figuren der Serie: ein Mensch, der so gerne ein Liebender sein möchte,
aber aus dem Strudel der Gewalt nicht mehr herausfindet.
Wolf-Dietrich Brücker
Wolf-Dietrich Brücker wurde 1945 in Jerichow gebo-
„Furiose Actionsequenzen und sorgfältige Schilderungen“
schaften an der FU Berlin studiert. Danach war er als
Regie- und Redaktionsassistent in Köln tätig. Seit 1972
ist Wolf-Dietrich Brücker Fernsehredakteur beim WDR.
Unter seiner Verantwortung entstanden hier Filme
wie „Schtonk!“, „Wut“ oder „Agnes und seine Brüder“.
Für die Grimme-Preis-prämierte Produktion „Teufelsbraten“ zeichnet er sich ebenfalls verantwortlich.
sWeiterhin war er an den Kinoproduktionen „Der Untergang“ und „Der Baader Meinhof Komplex“ beteiligt.
Foto: WDR
Foto: ARD / Julia von Vietinghoff
ren. Er hat Publizistik, Philosophie und Theaterwissen-
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40
47. GRIMME-PREIS 2011
Grimme-Preis Fiktion
Tatort: Nie wieder frei sein
ARD / BR
Foto: BR / Hagen Keller
FIKTION
Produktion: Hofmann & Voges
Produktion: Hofmann & Voges,
Michael Polle, Kathrin Breininger
Buch: Dinah Marte Golch
Regie: Christian Zübert
Kamera: Philip Kirsamer
Schnitt: Dirk Göhler
Ton: Peter Preuss
Komposition: Sebastian Pille
Darsteller: Udo Wachtveitl, Miroslav
Nemec, Lisa, Wagner, Shenja Lacher,
Anna Maria Sturm u.a.
Redaktion: Silvia Koller
Erstausstrahlung: Sonntag, 19.12.2010,
20.15 Uhr
Sendelänge: 90 Minuten
Tatort: Nie wieder frei sein
Im Gerichtssaal herrscht eine angespannte Atmosphäre. Die Fronten scheinen klar: Hier das Opfer, das den Angriff
des Psychopathen überlebt hat, dort der Täter, der sich auf der Anklagebank hinter einer Brille und einer braven
Frisur versteckt. Dass Markus Rapp die junge Melanie Bauer vergewaltigt und ihr dazu noch 13 Schnittwunden
zugefügt hat, steht für die Hauptkommissare Franz Leitmayr und Ivo Batic außer Frage. Doch die junge, ehrgeizige
Pflichtverteidigerin Regina Zimmer schafft es, ihren Mandanten trotz eindeutiger Beweise aus der Untersuchungshaft zu holen. Leitmayr und Batic hatten Rapp unrechtmäßig abgehört. „Sie haben uns versprochen, dass er
eingesperrt wird!“, ruft Melanies Vater den beiden Polizisten entgegen. Doch sie sind machtlos – auch dann noch,
als Rapp vor Melanie Bauers Wohnung auftaucht. Die Öffentlichkeit macht aus ihrem Unmut keinen Hehl: Rapps
Haus wird beschmiert, am Gartenzaun steht in großen Lettern „Mörder“. Als Melanie plötzlich verschwunden ist,
spitzt sich die Situation zu. Pflichtverteidigerin Zimmer wird von Unbekannten angegriffen. Kurz darauf findet die
Polizei die Leiche von Markus Rapp. Und die Liste potentieller Täter ist lang – die Polizei schließt nicht aus, dass
sich sogar Melanie Bauer selbst an ihrem Peiniger gerächt haben könnte. Aber es kommt anders: Leitmayr und
Batic stoßen auf Ungereimtheiten in der Aussage von Pflichtverteidigerin Zimmer. Sie gesteht schließlich, ihren
Mandanten umgebracht zu haben: „Soll er die nächste vergewaltigen, nur weil ich ihn rausgehauen hab?“ Da
nehme sie das Recht schon lieber selbst in die Hand.
47. GRIMME-PREIS 2011
Dinah Marte Golch
(Buch)
Christian Zübert
(Regie)
Udo Wachtveitl, Miroslav Nemec, Lisa Wagner
(Darsteller)
für
Tatort: Nie wieder frei sein
(ARD / BR)
Dinah Marte Golch
Dinah Marte Golch, geboren 1974 in München, machte sich als Werbetexterin einen Namen, bevor sie 1999
ins Fernsehgeschäft wechselte. Episoden von „Edel &
Starck“, „Berlin, Berlin“ und „Der Bulle von Tölz“ stammen aus Golchs Feder. Die achtteilige Krimireihe „Stadt,
Land, Mord!“ setzte sie nicht nur als Autorin, sondern
ebenfalls als Producerin um. Für die Daily Soap „Verliebt in Berlin“ schrieb sie das Konzept. Am liebsten mag
sie Krimis, Thriller und Drama-Stoffe wie den „Tatort“.
Dinah Marte Golch lebt in Berlin.
Foto: Golch
Grimme-Preis
an
Christian Zübert
Sein Regiedebüt gab der 1973 in Würzburg geborene
Christian Zübert 2001 mit dem Film „Lammbock“. Des
Produktion: Hofmann & Voges
Weiteren schrieb er die Drehbücher zu Produktionen
wie „Mädchen, Mädchen“, „Soloalbum“ oder „Die Rote
Falken“ erhielt ausgezeichnete Kritiken, wurde mehrfach prämiert und für den Deutschen Filmpreis
nominiert. Sein aktueller Kinofilm „Dreiviertelmond“
mit Elmar Wepper in der Hauptrolle wird im Herbst in
die Kinos kommen. Christian Zübert lebt in Berlin.
Am Anfang des „Tatorts“ „Nie wieder frei sein“ sieht man einem Mann,
der einen Frauenkörper aus einem Lieferwagen zerrt, die Kleider von
dessen Leib reißt, ihn professionell säubert und noch einmal mit dem
Fuß dagegen tritt. Die Szene dauert nur zwei Minuten — und wirkt
doch fürchterlich lang, da die Kamera von Philipp Kirsamer nicht still
hält, sondern ständig in wackeliger Bewegung ist und den Zuschauer
damit unweigerlich als intimen Teilhaber des Geschehens kennzeichnet.
Danach blickt man aus einer unbewegten, göttlichen Perspektive von
oben auf die den nackten, offensichtlich toten Leib – da bewegt er sich
plötzlich: Melanie Bauer hat die zweifache Vergewaltigung überlebt.
Und so geht ihre Geschichte dort weiter, wo ein „Tatort“ üblicherweise
längst ausgeblendet hat: im Gerichtssaal.
Udo Wachtveitl
Udo Wachtveitl, geboren 1958 in München, ist Schauspieler, Regisseur und Autor in einer Person. Seit den
80er Jahren ist er eine feste Größe im deutschen Fernsehen. 1991 verkörperte Wachtveitl zum ersten Mal die
Rolle des Hauptkommissars Franz Leitmayr im „Tatort“.
Dafür wurde er bereits mit dem Grimme-Preis und dem
Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Der gebürtige
Münchner lieh darüber hinaus als Synchronsprecher
zahlreichen Hollywoodschauspielern seine Stimme.
Sein Regiedebüt gab er 1998 mit dem Film „Silberdis-
Jedoch muss man diesen Film nicht dafür loben, dass er anders ist
als alle anderen Ausgaben der Reihe: „Nie wieder frei sein“ erzählt so
einfühlsam wie brutal von den verheerenden Folgen, die eine Vergewaltigung nicht nur für das Opfer, sondern auch für Angehörige und Freunde,
für die damit betrauten Polizeibeamten und für die Anwälte hat.
teln“, für den er auch das Drehbuch schrieb.
Foto: Julia von Vietinghof
BEGRÜNDUNG DER JURY:
Foto: Mathias Bothor
Zora“. Sein zweiter Kinofilm „Der Schatz der weißen
Miroslav Nemec
Bevor Miroslav Nemec 1991 in die Rolle des TatortKommissars Ivo Batic schlüpfte, machte der 1954 in
Zagreb geborene Schauspieler lange Zeit Musik. Mit 15
Mit unerbittlicher Konsequenz spielt die Autorin Dinah Marte Golch Sein
und Schein, Recht und Gerechtigkeit, berufliche Pflicht und individuelle
Moral, Exekutive und Judikative gegeneinander aus, ohne eine Antwort
auf die Frage nach dem richtigen Handeln zu geben. „Ich bin unschuldig“, beharrt der Täter Markus Rapp nach dem gewonnenen Prozess, der
wegen illegal erbrachter Beweise, missglückter Identifizierungen und
einer fehlenden Zeugin scheiterte. „Sie sind freigesprochen“, korrigiert
ihn seine Verteidigerin, die ahnt, dass ihr Talent gerade dem Falschen zu
Diensten war.
Jahren gründete er eine Schülerband und studierte spä-
Regisseur Christian Zübert, wie Golch noch keine 40 Jahre alt, hat einen
wahrhaften Schocker als oftmals melancholische Sozialstudie in Szene
gesetzt. Zu nennen sind natürlich Udo Wachtveitl und Miroslav Nemec,
deren Verhältnis ebenfalls unter diesem Fall zu leiden hat; vor allem
aber überzeugt eine brillante Lisa Wagner in der Rolle der undurchsichtigen Verteidigerin Regina Zimmer: Ihr trockenes „Ja“, als der Richter
wissen will, ob sie noch Fragen an die Zeugin habe, lässt noch ein
jedes Mal den Gerichtssaal gefrieren ob der Unerträglichkeit, dass ihr da
gerade der Freispruch eines offensichtlich Schuldigen gelingt. Ihr hilfloses „Sie hätten doch das Gleiche getan?“, nachdem sie als Mörderin
ihres Mandanten enttarnt wurde, lassen die Kommissare nicht zufällig
unbeantwortet.
Lisa Wagner wurde 1979 in Kaiserslautern geboren.
ter Musik in Salzburg. Nach einem Zwischenstopp an
nen deutschen Städten Theater. Den Sprung ins Fernsehen schaffte Nemec unter anderem mit Auftritten in
„Die Wiesingers“ oder „Nichts ist wie es ist“. Für seine
Leistungen erhielt er bereits den Grimme-Preis, den
Goldenen Löwen und den Bayerischen Fernsehpreis.
Foto: Katrin Jäger
der Schauspielakademie Zürich spielte er in verschiede-
Lisa Wagner
Ihre Wurzeln liegen beim Theater. Nach dem Studium
an der Bayerischen Theaterakademie „August Everding“
in München wurde sie Ensemblemitglied am Bayerischen Staatsschauspiel in der Landeshauptstadt. Hier
gende künstlerische Leistungen. Sie ist darüber hinaus
Trägerin des Bayerischen Fernsehpreises. Bereits zwei
Mal war sie für den Deutschen Filmpreis nominiert. Lisa
Wagner ist neben ihrer Arbeit als Schauspielerin auch
als Sprecherin für verschiedene Hörbücher tätig.
Foto: Hagen Keller
erhielt sie 2002 den Kurt-Meisel-Preis für herausra-
41
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47. GRIMME-PREIS 2011
Grimme-Preis Fiktion
Neue Vahr Süd
ARD / WDR / RB
Foto: WDR / Tomas Kost
FIKTION
Produktion: Studio Hamburg
Produktion: Studio Hamburg,
Lisa Blumenberg
Producerin: Annett Neukirchen
Buch: Christian Zübert nach dem Roman
von Sven Regener
Regie: Hermine Huntgeburth
Kamera: Sebastian Edschmid
Schnitt: Eva Schnare
Ton: Wolfgang Wirtz
Musik: Jakob Ilja Friderichs
Darsteller: Frederick Lau, Eike Weinreich,
Miriam Stein, Johannes Klaußner u.a.
Redaktion: Michael André (WDR),
Annette Strelow (RB)
Erstausstrahlung: Mittwoch, 01.12.2010,
20.15 Uhr
Sendelänge: 90 Minuten
Neue Vahr Süd
Frankys Freund Harry ist erstaunt: „Wieso geht eigentlich einer wie du zum Bund? Du bist doch eher so der HippieTyp.“ Eine wirklich plausible Antwort hat der junge Herr Lehmann auch nicht: „Ich hab vergessen zu verweigern.“
Auch im Bremen der 80er Jahre ist der Geist so wie im Rest der Bundesrepublik – zur Bundeswehr geht man nicht.
Verweigern gehört zum guten Ton. Franky Lehmann muss sich deswegen bei allen Leuten rechtfertigen. Er wird
in eine Ecke gedrängt. Er muss eine Entscheidung verteidigen, die er eigentlich gar nicht verteidigen will. In der
Pionierkaserne Dörverden südöstlich von Bremen wird Franky mit einer Welt konfrontiert, in die er so gar nicht
reinpasst. Da vergisst er schon mal, wie man den Vorgesetzten richtig anspricht oder welche Hierarchiestufen
es bei der Armee gibt. Dazu kommen die absurdesten Übungen. Dennoch verschafft er sich schnell den Respekt der
Kameraden und wird gegen seinen Willen zum Vertrauensmann gewählt. Am Wochenende lernt er in seiner
Wohngemeinschaft einen anderen Alltag kennen: endlose Partys, Flirten mit gutaussehenden Mädchen, ein
unbeschwertes Leben in den Tag hinein. Obwohl in der Wohnung absolutes Chaos herrscht, gefällt es Franky,
vollkommen unbestimmt zu sein. Als er dann noch mit seinen Kameraden von Autonomen angegriffen wird, steht
für ihn sehr schnell fest, dass er lieber heute als morgen das Kapitel Bundeswehr beenden muss. Aber wie? Franky
versucht mit einem nicht ernstgemeinten Suizidversuch, an dem sogar sein Vorgesetzter zweifelt, seinen Grundwehrdienst vorzeitig zu beenden. Mit Erfolg. Das Leben hat ihn wieder.
47. GRIMME-PREIS 2011
Hermine Huntgeburth
(Regie)
Christian Zübert
(Buch)
Bettina Schmidt
(Szenenbild)
Frederick Lau
(Darsteller)
Hermine Huntgeburth
Hermine Huntgeburth wurde 1957 in Paderborn
geboren und sorgte in den vergangenen Jahren besonders mit ihren Kinofilmen „Die weisse Massai“ und
„Effi Briest“ für Aufsehen. Die gebürtige Westfälin hat
in Hamburg und Sydney Film studiert. Neben ihrer
Regie-Tätigkeit verfasste sie auch mehrere Drehbücher.
Ihre bisherigen Filme wurden mehrfach ausgezeichnet,
darunter zwei Mal mit dem Grimme-Preis: zuletzt im
Jahr 2009 für die Produktion „Teufelsbraten“. Die Regisseurin ist darüber hinaus Gastdozentin an der IFS Köln.
Foto: Colonia Media
Grimme-Preis
an
Christian Zübert
Sein Regiedebüt gab der 1973 in Würzburg geborene
für
Neue Vahr Süd
(ARD / WDR / RB)
Christian Zübert 2001 mit dem Film „Lammbock“. Des
Weiteren schrieb er die Drehbücher zu Produktionen
wie „Mädchen, Mädchen“, „Soloalbum“ oder die „Rote
Falken“ erhielt ausgezeichnete Kritiken, wurde mehrfach prämiert und für den Deutschen Filmpreis
nominiert. Sein aktueller Kinofilm „Dreiviertelmond“
mit Elmar Wepper in der Hauptrolle wird im Herbst in
Bettina Schmidt
Bettina Schmidt, geboren 1965 in Bamberg, studierte
Bühnen- und Kostümbild am Mozarteum in Salzburg.
Nach Assistenzen an verschiedenen deutschen Bühnen
absolvierte sie ein Szenenbildvolontariat beim WDR
und arbeitete fortan für das Fernsehen. Ihre Schwerpunkte liegen neben Kino und Fernsehen auch bei
historischen Filmen und im Studiobau. Schmidt arbeitete
in den vergangenen Jahren unter anderem mit Fatih
Wie macht man aus einem 600-seitigen Roman einen 90-minütigen
Film? Autor Christian Zübert und Regisseurin Hermine Huntgeburth
konzentrieren sich auf den Konflikt des konfliktscheuen Frank Lehmann
und auf die gesellschaftlichen Widersprüchlichkeiten jener Jahre. Der
Held wird hin und her gerissen zwischen alternativen Schlaffis und dem
Drill bei der Bundeswehr. Zwischen allen Lagern – bald zwischen allen
Fronten. Der Film macht aus dem Konflikt ein Bild: Frank Lehmann, ein
Wanderer zwischen zwei extremen Welten. Diese leicht schizophrene
Erzählstruktur, belebt durch eine pointierte, punktgenaue Montage,
verleiht dem Film seinen lakonischen Grundton und charakterisiert
zugleich trefflich die Hauptfigur. Eine im deutschen Fernsehen höchst
seltene, ironisierte leichte Lässigkeit verströmen die 90 Filmminuten.
Das trifft den Geist der Vorlage von Sven Regener und gibt dem Film
zugleich seine Eigenständigkeit. „Schon weg sein, schon wieder hier
sein!“ Das Kommando des Vorgesetzten bestimmt den Lebensrhythmus
des heimat- und bindungslosen Helden. Frank Lehmann hält dem System
Bundeswehr und der linken Szene den Spiegel vor, ohne am Ende der
Schelm zu sein, der den anderen die lange Nase zeigt.
Der Zeithorizont ist vorzüglich getroffen. Die Polit-Bewegtheit der
70er Jahre macht langsam der Postmoderne Platz. Bei „Neue Vahr Süd“
stimmen auch die Details. Wie sein Held nehmen es die Macher mit
allem sehr genau. Historische Straßenbahnen fahren durchs Bremer
Ostertorviertel, der Schlägertyp fährt Manta, der Pionier Lehmann Opel
Kadett und die Jungmänner tragen Unterhosen mit Eingriff. Stimmigstimmungsvoll der Soundtrack, liebevoll die Ausstattung, vorzüglich das
gesamte Ensemble, aus dem der Hauptdarsteller hervorsticht: Frederik
Lau packt den Film auf seine Schultern – und über den Zweifel am Zeitgeist legt sich seine Stirn in tiefe Falten.
Akin und Peter Greenaway zusammen. Zuletzt gewann
sie 2009 einen Grimme-Preis für das Szenenbild in der
Produktion „Teufelsbraten“.
Foto: Thomas Kost
Bremen 1980. Frank Lehmann ist einer, der nicht auffallen möchte und
der gerade dadurch umso stärker auffällt. Er ist nicht gerade der aktive,
„mehr so der Hippie-Typ“. Und immer wieder muss er sich dieselbe Frage
anhören: Weshalb ausgerechnet einer wie er zum Bund gehe? Ja, warum
eigentlich? Schlicht und einfach vergessen. So muss er sich durch den
Grundwehrdienst quälen, sich schikanieren und mit „Pionier Lehmann“
anbrüllen lassen. Erst nach und nach kommt er aus der Deckung. Aus
dem gesinnungslosen „Durchhänger“ wird zumindest ein „Nachdenker“.
die Kinos kommen. Christian Zübert lebt in Berlin.
Frederick Lau
Frederick Lau wurde 1989 in Berlin geboren. 1999 stand
er das erste Mal für die Fernsehserie „Achterbahn“ vor
der Kamera. Seine erste Hauptrolle spielte er in „Der
Brief des Kosmonauten“. Für seine Leistung in „Die
Welle“ ist er mit dem Deutschen Filmpreis als bester Nebendarsteller und mit dem Undine Award als bester jugendlicher Charakterdarsteller ausgezeichnet worden.
In Philip Kochs Debüt „Picco“, der Film wurde auf dem
Max-Ophüls-Festival prämiert und auf dem Festival in
Cannes gezeigt wurde, übernahm er eine Hauptrolle.
Foto: Joachim Gern
BEGRÜNDUNG DER JURY:
Foto: Mathias Bothor
Zora“. Sein zweiter Kinofilm „Der Schatz der weißen
Produktion: Studio Hamburg
43
44
47. GRIMME-PREIS 2011
Grimme-Preis Fiktion
In aller Stille
ARD / BR
Foto: BR / Erika Hauri
FIKTION
Produktion: Sperl + Schott Film
Produktion: Sperl + Schott Film,
Gabriela Sperl, Sophie v. Uslar
Buch: Ariela Bogenberger
Regie: Rainer Kaufmann
Kamera: Klaus Eichhammer
Schnitt: Ueli Christen;
Ton: Marc Parisotto
Musik: Gerd Baumann
Darsteller: Nina Kunzendorf, Michael
Fitz, Maximilian Brückner, Michael A.
Grimm u.a.
Redaktion: Bettina Ricklefs
Erstausstrahlung: Freitag, 03.11.2010,
20.15 Uhr
Sendelänge: 90 Minuten
In aller Stille
Anja Amberger ist Kriminalkommissarin im fiktiven bayerischen Ort Seeberg. Ihr Leben ist eine absolute Katastrophe: von ihrem Mann getrennt, ist sie mit der Erziehung ihrer zwei Kinder überfordert. Oft muss sie mitten in
der Nacht zu Einsätzen raus – und sie trinkt. Nach dem Hinweis einer besorgten Nachbarin statten Anja und ihr
Kollege Anton der jungen Familie Anik einen Besuch ab. Offenbar muss deren dreijähriger Sohn Max nachts für
bis zu zwei Stunden draußen im Garten in der Kälte stehen. Die beiden Polizisten befragen die Eltern zu den Vorwürfen, schauen sich im Haus um. Anja hat einen Verdacht, aber keine Beweise. Sie steckt in einem Dilemma. Den
kleinen Max schaut sie sich an jenem Abend nur oberflächlich an, findet keine Spur von Misshandlungen. Wenige
Tage später ist Max Anik verschwunden. Erst nach längerer Suche wird seine Leiche in einem Schuppen gefunden,
verpackt in einem schwarzen Müllsack. Schnell wird klar, dass Max Vater Christian der Täter sein muss. Doch ein
wirkliches Geständnis bleibt aus. Anja macht sich Vorwürfe. „Ich habe Scheiße gebaut“, sagt sie zu ihrem Kollegen.
Sie hätte den kleinen Max schon beim ersten Einsatz aus der Familie holen können. Der Fall konfrontiert sie mit
ihren eigenen Ängsten, ihrer Kindheit und der brutalen Erziehung ihrer Eltern. Die junge Mutter versucht nach dem
Fall einen Neuanfang: Sie lässt sich scheiden, sucht ärztliche Hilfe und versucht, das Verhältnis zu ihren Kindern
neu zu ordnen. „In aller Stille“ ist ein Film über die alltägliche Gewalt an Kindern, die Angst vor der Konfrontation
und verpassten Chancen.
47. GRIMME-PREIS 2011
Ariela Bogenberger
(Buch)
Rainer Kaufmann
(Regie)
Nina Kunzendorf
(Darsteller)
Ariela Bogenberger
Ariela Bogenberger wurde 1962 in München geboren
und arbeitete lange Zeit als Journalistin für verschiedene deutsche Tageszeitungen und den BR-Hörfunk.
Neben anderen Projekten war sie für das damalige Jugendmagazin „Live aus dem Schlachthof“ als Autorin
und Kabarett-Regisseurin tätig. Ihr erstes Buch war
die Vorlage für Rainer Kaufmanns Film „Marias letzte
Reise“. Die Produktion erhielt 2006 den Grimme-Preis
mit Gold. Bogenbergers Mutter ist die bayerische Volksschauspielerin Veronika Fitz. Schauspieler Florian David
Fitz ist ihr Cousin.
für
In aller Stille
(ARD / BR)
Foto: privat
Grimme-Preis
an
45
Rainer Kaufmann
Der 1959 geborene Rainer Kaufmann studierte in
Frankfurt Germanistik und Filmwissenschaft und an-
Produktion: Sperl + Schott Film
schließend Regie an der Hochschule für Fernsehen
und Film in München. Als Regisseur hat er sowohl
kommerziell erfolgreiche als auch anspruchsvolle KinoLeistungen mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Im
Jahr 2006 erhielt Kaufmann einen Grimme-Preis mit
Gold für „Marias letzte Reise“. Nur drei Jahre später war
Ein dreijähriger Junge verschwindet. Nachts sei er weggelaufen, sagen
die Eltern. Glauben können die Ermittler in einer Bayerischen Gemeinde
das nicht. Da ist die Nachbarin, welche die Kommissare unlängst gerufen hatte, weil das Kind wohl im Stockdunklen stundenlang im Hemd
auf der Terrasse stand. Da ist die Mutter, die anscheinend gewohnheitsmäßig über den Durst trinkt. Und der Vater, der rüde Erziehungsmethoden gesteht, sie aber mit notwendiger Strenge aus Liebe rechtfertigt.
Reicht das aus für den Verdacht der Kindesmisshandlung, gar -tötung?
„Die sind nicht grad´ nett, aber ganz normal“, befindet die Kommissarin.
Um von eigenem Versagen abzulenken? Als man nachts bei der Familie
nach dem Rechten sah, hatte sie selbst eben nicht nach dem Rechten
geschaut, nicht nach blauen Flecken oder anderen Spuren.
Kaufmann für den Film „Ein starker Abgang“ nominiert.
Nina Kunzendorf
Die 1971 in Mannheim geborene Nina Kunzendorf
stand nach ihrem Studium an der Hochschule für Musik
und Darstellende Kunst in Hamburg auf der Bühne verschiedener deutscher Theater. Seit 2001 gehört sie zum
Ensemble der Münchener Kammerspiele. In Jo Baiers
Film „Verlorenes Land“ gab Kunzendorf 2002 ihr Fernsehdebüt. Seither erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen,
darunter zwei Grimme-Preise für „Polizeiruf 110: Der
scharlachrote Engel“ und „Marias letzte Reise“. Zusam-
„In aller Stille“ handelt vom Wegsehen im Allgemeinen und von Gewalt
gegen Kinder im ganz Besonderen. Darüber hinaus zeigt der Film – mit
der Kommissarin Anja Amberger, herausragend verkörpert von Nina
Kunzendorf – eine anfangs herzenskühle Frauenfigur, die schreckliche
Kindheitserfahrungen verdrängt, um zu überleben. Sie ist überfordert,
steht unter großem Druck – nicht nur beruflich, sondern eben auch privat als Mutter. Aber sie ist auch eine professionelle Spurenleserin.
men mit Joachim Król tritt sie 2011 die Nachfolge von
Andrea Sawatzki und Jörg Schüttauf im HR-Tatort an.
Foto: Ruth Kappus
BEGRÜNDUNG DER JURY:
Foto: Ruth Kappus
und Fernsehfilme verwirklicht und wurde für seine
Autorin Ariela Bogenberger und Regisseur Rainer Kaufmann erzählen
mit der subtil verschränkenden und bespiegelnden Parallelhandlung
die Geschichte einer doppelten Spurensuche. Nicht ein, sondern zwei
Kinder werden in diesem verstörenden Film vermisst und auch wiederentdeckt. In beiden Fällen geht es um Mord. Im Fall des kleinen Max um
die physische Vernichtung eines Kindes, das der Vater beseitigt hat wie
Müll. Im Fall der Kommissarin um lang zurückliegenden Seelenmord mit
anschließendem Weiterleben. Die Aufklärung beider Fälle – großartig
genau vom Ensemble gespielt – vollzieht sich in Bildern und Szenen, die
Verstand und Vernunft des Zuschauers stärker in Bewegung setzen als
sein Gefühl.
Foto: BR / Erika Hauri
Damit gelingt dem klug inszenierten Film neben der fiktionalen Aufklärung eines gesellschaftlich überaus brisanten Themas ein weiteres
Kunststück. Denn obwohl Fernsehen gern als Medium der Emotionalität
und fortlaufenden Erregung angesehen wird, setzt „In aller Stille“ vor
allem auf die Klarheit des Denkens als Voraussetzung verantwortlichen
Handelns. Gefordert wird Haltung – mindestens aber Mut zum Hinschauen. Wir sehen: Fernsehen geht auch anders. So genau und genau
so.
Kommissarin Anja Amberger: eine professionelle Spurenleserin
46
47. GRIMME-PREIS 2011
Grimme-Preis Fiktion
Keine Angst
ARD / WDR
Foto: WDR / Willi Weber
FIKTION
Produktion: TagTraum
Produktion: TagTraum, Gerd Haag
Buch: Martina Mouchot
Regie: Aelrun Goette
Kamera: Matthias Fleischer
Schnitt: Monika Schindler
Ton: Peter Schumacher
Musik: Enis Rotthof
Darsteller: Michelle Barthel,
Carolyn Sophia Genzkow, Max Hegewald,
Dagmar Leesch u.a.
Redaktion: Wolf-Dietrich Brücker
Erstausstrahlung: Mittwoch, 10.03.2010,
20.15 Uhr
Sendelänge: 90 Minuten
Keine Angst
Die trostlose Hochhaussiedlung sieht nicht gerade einladend aus. Ein Beton-Ghetto, das mit Graffiti überzogen
ist und in dem jugendliche Banden ihr Unwesen treiben. Hinter jedem Fenster der grauen Gebäude ein anderes
Schicksal. Eben keine Umgebung, in der Kinder eine schöne Kindheit verbringen – sollte man meinen. Doch die
14-jährige Becky hat, obwohl sie herzkrank ist, alles im Griff und ist glücklich. Ihre drei Geschwister bringt sie täglich in die Sozialstation, nebenbei geht sie zur Schule. Kommt sie nach Hause, wartet auf Becky ihre alkoholkranke
Mutter Corinna. Aber Becky hat sich arrangiert. Als das Mädchen eines Tages im Bus zur Schule vom jungen Bente
vor der Fahrscheinkontrolle bewahrt wird, ändert sich für Becky viel. Zum ersten Mal ist sie verliebt. Aber die
Beziehung zwischen beiden stößt sowohl in Bentes als auch in Beckys Umfeld auf Skepsis und Vorurteile. Bentes
Eltern glauben, dass sein Umgang mit einem Mädchen von der Hauptschule nicht förderlich ist – überhaupt planen
sie schon länger, ihn aufs Internat zu schicken. Beckys beste Freundin Melanie hat mit der neuen Liebe auch ihre
Probleme: Da sie selbst mit Jungen bisher nie Glück gehabt hat, versucht sie Becky jegliche Illusionen über Männer
zu rauben. Als Becky an ihrem Geburtstag vom neuen Freund der Mutter vergewaltigt wird, droht das Leben des
tapferen Mädchens in eine absolute Schieflage zu geraten. Doch Bente ist im letzten Moment zur Stelle und rettet
sie. Schnell wird klar: Beide haben im jeweils anderen ihr ganz eigenes Glück gefunden. Das lässt man nicht mehr
los. Egal, wie die Umstände sind.
47. GRIMME-PREIS 2011
Martina Mouchot
(Buch)
Aelrun Goette
(Regie)
Michelle Barthel
(Darsteller)
Martina Mouchot
Martina Mouchot, geboren 1964 in Mainz, studierte klassische Philologie und Kunstwissenschaften
in Frankfurt / Main. Mehrere Jahre arbeitete sie als
Sendeleiterin, Producerin und Programmplanerin bei
verschiedenen Fernsehsendern. Sie schreibt Krimis,
Dramen und Komödien. Ihr erstes Drehbuch schrieb
sie 2004 für den Tatort „Märchenwald“. Neben „Keine
Angst“ schrieb Mouchot auch das Drehbuch für „Beim
nächsten Kind wird alles anders“. Für ihre Vorlage zum
Tatort „Pauline“ wurde Mouchot 2007 für den Deutschen Fernsehkrimipreis nominiert.
für
Keine Angst
(ARD / WDR)
Foto: Alexandra Heneka
Grimme-Preis
an
47
Aelrun Goette
Aelrun Goette, geboren 1966 in Ost-Berlin, arbeitete
unter anderem in der Psychiatrie, als Fotomodell, als
Kostüm- und Bühnenbildnerin, Theaterregisseurin,
Produktion: TagTraum
Schauspielerin und Autorin. Sie absolvierte eine Ausbildung als Krankenschwester, studierte Philosophie
und danach Regie an der Hochschule für Film und
Auszeichnungen erhielt sie für ihr Dokumentarfilmdebüt „Die Kinder sind tot“ 2004 den Deutschen Film-
Mancher mag es nicht mehr sehen: das Elend in den Hartz IV-Haushalten, die Armut der Kinder, die aus sozialer Not geborene Gewalt. Autorin
Martina Mouchot und Regisseurin Aelrun Goette haben gegen viele
Widerstände einen bewegenden Film aus diesem Milieu gedreht. Ein
Film, der unter die Haut geht. Der Mut der ARD, dieses kritische Sozialdrama um 20.15 Uhr auszustrahlen, wurde von fast fünf Millionen
Zuschauern honoriert. „Keine Angst“ ist ein Plädoyer für die sieben
Millionen Armen in Deutschland, die auf Leistungen aus Hartz IV
angewiesen sind, darunter zwei Millionen Kinder. In der fiktionalen
Handlung, die dicht an der Wirklichkeit bleibt, werden Schicksale
betroffener Kinder gezeigt.
preis. Ihr Fernsehfilmdebüt „Unter dem Eis“ wurde 2007
mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet.
Foto: Goette
Fernsehen in Potsdam Babelsberg. Neben zahlreichen
Michelle Barthel
Michelle Barthel, geboren 1993 in Remscheid, fing
schon während ihrer Schulzeit an, Theater zu spielen. In
der Schulband „Vorlaut“ sammelte sie erste Bühnenerfahrung. Seit ihrem vierten Lebensjahr tanzt sie darüber
hinaus Ballett. Zu sehen war die Jungschauspielerin, die
für ihre Leistungen 2010 den Förderpreis des Deutschen
Fernsehpreises erhielt, bisher unter anderem in mehreren Tatort-Folgen sowie an der Seite der MDR-Ermittler
Foto: Johanna Schindler
BEGRÜNDUNG DER JURY:
Bei aller Brutalität, die nicht ausgespart wird, weidet sich der Film nicht
am Elend. Er erzeugt vielmehr ein Gefühl des Zorns und der Solidarität,
er aktiviert das Bewusstsein, etwas gegen diese Zustände tun zu müssen.
Jederzeit spürbar ist die Intensität dieser fiktionalen Auseinandersetzung
mit einem drängenden und bedrängenden Ausschnitt unserer Wirklichkeit.Die erfahrene Dokumentaristin Aelrun Goette beweist nach den
Filmen „Die Kinder sind tot“ und „Unter dem Eis“ hier erneut ihr hochsensibles Gespür für die Arbeit mit Kindern. Herausragend ist das Spiel von
Michelle Barthel (Becky) und Carolyn Sophia Genzkow (Beckys Freundin), packend ist die Darstellung durch viele Laien. Zum Gelingen des
Films trägt außerdem die kraftvolle, präzise Bildsprache von Kameramann Matthias Fleischer wesentlich bei.
Foto: WDR / Willi Weber
im „Polizeiruf 110“. Als beste internationale SchauspieIm Mittelpunkt steht die 14-jährige Becky, die mit ihren drei jüngeren
lerin bekam sie für „Keine Angst“ den FIPA d’Or.
Geschwistern und der alkoholkranken Mutter im Plattenbau lebt. Die arbeitslose Frau hat resigniert, lebt noch mal kurz auf, als ein egoistischer
Liebhaber auftaucht, schmeißt ihn
aber raus, als er sich auch über
„Der Grimme-Preis ist eine ganz besondere Auszeichnung für mich. Er ist undie Tochter hermacht. Becky übernimmt im Haushalt die Mutterabhängig und ehrlich. Daher möchte ich mich ganz herzlich bei den Juroren für
pflichten, versorgt die Kleinen. Undiese Ehrung bedanken und freue mich sehr, viele weitere Preisträger auf der
erwartete Zuwendung erfährt sie
von dem Gymnasiasten Bente, der
Preisverleihung kennen zu lernen.“
ihr bei einer Fahrscheinkontrolle
Michelle Barthel
aus der Klemme hilft. Zwischen
den beiden Halbwüchsigen keimt
eine zarte, scheue Liebe. Sie ist der Hoffnungsanker in diesem Film. Obwohl Bente nur wenige Kilometer entfernt wohnt, lebt er mit seinen
wohlhabenden Eltern quasi auf einem anderen Stern. So nahe liegen in
Deutschland arm und reich beieinander, und doch trennen sie Welten.
Spürbare Intensität: „Keine Angst“
Grimme-Preis 2011 für »Neue Vahr Süd«
Wir freuen uns mit dem Team
vor und hinter der Kamera
über den Grimme-Preis 2011
für »Neue Vahr Süd« nach dem
Roman von Sven Regener.
www.radiobremen.de
Christian Zübert (Buch)
Hermine Huntgeburth (Regie)
Bettina Schmidt (Szenenbild)
Frederick Lau (Darsteller)
WDR
Lisa Blumenberg (Produzentin,
Studio Hamburg Produktion)
Michael André (Redaktion, WDR)
Annette Strelow (Redaktion, Radio Bremen)
Filmstiftung NRW
Nordmedia, Niedersachsen/Bremen
Filmförderung
Hamburg Schleswig-Holstein
Fotos: WDR, Thomas Kost I Gestaltung: cmgrafix
Wir gratulieren
allen Preisträgern
47. GRIMME-PREIS 2011
49
Etwas verpasst?
Aus der Jury Fiktion
von Ronny Blaschke
P
remiere in der Grimme-Jury, Erstbesuch in Marl. Das Programm soll
mörderisch sein: sechs, sieben Filme am Tag. Sichtungen bis spät in
die Nacht – damit kann ich leben, aber was hat es mit der berühmtberüchtigten Diskussionskultur auf sich? Die Jury-Debatten bis zur
endgültigen Abstimmung sollen lang sein, manchmal zäh, einnehmend, verbissen, laut, sogar beleidigend. „Diskutieren Sie die Filme so,
dass Sie sich danach noch in die Augen schauen können“, empfiehlt
Institutsdirektor Uwe Kammann mit einem Lächeln am ersten Tag. Wie
bitte? Bin ich in der Fankurve eines Stadions gelandet? Warum sollten
Produktionen meinen Pulsschlag erhöhen, deren Schöpfer ich – wenn überhaupt – nur oberflächlich kenne? In
einer Gesprächsrunde, deren Mitglieder
ich erstmals treffe? Bin ich als jüngstes
Jury-Mitglied naiv? Oder erzeugt
kollektives Fernsehen mit kritischer
Nachbetrachtung eine ganz andere
Wirkung als allein auf der heimischen
Couch?
seicht empfunden, mit hölzernen Dialogen, unglaubwürdigen Wendungen. Als einen Grund dafür, dass sich ein großer Teil meiner Generation zunehmend von deutscher Fernsehfiktion abwendet, weil sie selten
zum Nachdenken anregt, weil sie der Komplexität die Berechenbarkeit
vorzieht. „Das kann man so sehen“, entgegnet ein erfahrenes Jurymitglied. „Aber mehr will der Film gar nicht leisten.“ Was hat er dann beim
Grimme-Preis verloren? Wenn ich nicht mehr leisten will, bleibe ich im
Bett. Also doch: Grimme-Diskussionen können aufregend sein. Auf die
Stimmung drücken.
Die Jury-Debatten bis zur Abstimmung sollen lang sein,
manchmal zäh, einnehmend, verbissen, laut, sogar beleidigend. „Diskutieren Sie die Filme so, dass Sie sich danach noch
in die Augen schauen können“, empfiehlt der Institutsdirektor.
Die Diskussion über „Sau Nummer Vier“ gibt erste Antworten auf diese
Fragen. Die Produktion des Bayerischen Rundfunks, inszeniert von Max
Färberböck, liefert eine überzeichnende Milieustudie aus dem beschaulichen Niederbayern. Die Jury lobt den schwarzen Humor, die Bildkompositionen, die Besetzung der Darsteller, den Einsatz der Musik. Die
Diskussion schreitet voran, aber Worte zu Idee, Handlung, Dramaturgie
fallen kaum. Das kann kein gutes Zeichen sein. Es ist eine Grundsatzfrage, die in den kommenden Tagen häufiger aufgeworfen wird: Was ist
bedeutsamer? Inhalt oder Aussehen einer Fiktion? Ihre gesellschaftliche
Botschaft oder ihre ästhetische Umsetzung? Die Meinungen scheinen
auseinanderzugehen.
Foto: ARD / Julia von Vietinghoff
Ein ähnlicher Fall: die NDR-Produktion „Eine Nacht im Grandhotel“. Der
Film dokumentiert die ereignisreiche Schicht eines ehemaligen Polizisten, der als Hoteldetektiv sein Leben vitalisieren will. Ein überzeugendes Melodram, sagt jemand in der Jury, vor einer liebevoll gestalteten Kulisse, mit einem herausragenden Udo Samel in der Nebenrolle.
Habe ich richtig gehört? Ich verorte einen leichten Temperaturanstieg
in meiner Magengegend. Aufkommender Zorn. Ich habe den Film als
Offenkundig preiswürdig: „Im Angesicht des Verbrechens“
Weniger aufregend, dafür erhellend: die Debatte nach dem Tatort „Nie
wieder frei sein“. Es gibt kaum kritische Töne. Erzählstruktur, Darstellerensemble, musikalische Begleitung werden als höchst beachtlich
eingestuft. Interessanter aber ist die Wirkung, die von dieser BR-Produktion ausgeht. Die Kommissare begleiten das Publikum im Spannungsfeld
zwischen Recht und Gerechtigkeit. Wie weit sind wir nach einer Vergewaltigung bereit zu gehen, um uns nahestehende Opfer zu schützen?
Bereit zur Selbstjustiz, zur Überschreitung strafrechtlicher Grenzen?
Der Film ist hochpolitisch, auf dezente, nicht belehrende Art. Die JuryDiskussion dauert überdurchschnittlich lang, führt über den Film hinaus
in eine rechtsphilosophische, erhellende Debatte. Endlich, denke ich: Wir
werden gefordert, gekitzelt, als Publikum ernst genommen. Ich glaube
mir sicher zu sein: Der erste Preisträger steht fest.
Wo bleiben die heißblütigen Auseinandersetzungen, das Ringen um
Mehrheiten? „Kommt noch, keine Sorge“, sagt ein Jury-Kollege abends
an der Hotelbar. Es gibt Diskussionen, die im Institut als Routine durchgehen dürften. Schmeicheleien für Hermine Huntgeburths pointierten
und detailverliebten Bundeswehrstreifen „Neue Vahr Süd“, Hymnen
auf Dominik Grafs verschachteltes und stilprägendes Mafiaepos „Im
Angesicht des Verbrechens“. Doch diese Diskussionen sind im Grunde
langweilig, weil es nichts zu verhandeln gibt: die Preiswürdigkeit ist
offenkundig.
Anders ist die Lage bei „Keine Angst“. Die WDR-Produktion, inszeniert
von Aelrun Goette, erzählt eine erschütternde Geschichte über Kinderarmut, familiäre Zerrissenheit und die wachsende Spaltung der
Gesellschaft. Sie thematisiert die Vergewaltigung durch einen Stiefvater, Gruppensex unter Minderjährigen, Alkoholmissbrauch. Die Diskussion darüber wird die längste in den sechs Jury-Tagen bleiben, mehr
als dreißig Minuten für einen Beitrag. Sie gleicht einem Ausschuss des
Bundestages, in dem es zwischen Fraktionen wenig Grautöne auszutauschen gibt, sondern klare Position bezogen werden: für oder gegen. Von
Beginn an ist klar, dass es keine einheitliche Meinung geben wird.
„Der beste Film“, sagt ein Jurymitglied Sekunden nach dem Abspann über
„Keine Angst“. Er verweist auf die emotionale Wucht, die fast körperliche
Schmerzen bereite und einem gesellschaftlichen Problem Öffentlichkeit beschere. Die Jury ist sich einig: Der Film erzeugt Betroffenheit wie
»Im Angesicht des Verbrechens«
»Iran Elections 2009«
»Neue Vahr Süd«
»Die Anwälte«
»Keine Angst«
»Zivilcourage«
47. Grimme-Preis 2011
RuNDFuNKGEBüHREN
für guteS
Progr Amm.
Wir gratulieren unseren Preisträgern
»Im Angesicht des Verbrechens«
»Iran elections 2009« (wdr/arte)
(wdr/Degeto/br/arte/swr/ndr/orf)
Ali Samadi Ahadi (buch/regie) / Jan Krüger (produktion)
Rolf Basedow (buch) / Dominik Graf (regie) / Michael Wiesweg
(kamera) / Claudia Wolscht (schnitt) / Max Riemelt, Ronald
Zehrfeld, Mis̆el Matic̆ević, Marie Bäumer (darstellung)
Redaktion: Wolf-Dietrich Brücker (wdr), Frank Tönsmann (wdr),
Jörn Klamroth (degeto), Stephanie Heckner (br),
Andreas Schreitmüller (arte), Thomas Martin (swr)
Produktion: Marc Conrad / Dr. Wolfgang Delhaes,
Insolvenzverwalter / Kathrin Bullemer (Producer)
»Neue Vahr Süd« (wdr/rb)
Christian Zübert (buch) / Hermine Huntgeburth (regie) /
Bettina Schmidt (szenenbild) / Frederick Lau (darstellung)
Produktion: Studio Hamburg FilmProduktion, Lisa Blumenberg
Redaktion: Michael André (wdr), Annette Strelow (rb)
www.wdr.de
Produktion: Dreamer Joint Venture Filmproduktion,
Jan Krüger, Oliver Stoltz
Redaktion: Sabine Rollberg (wdr/arte),
Sabine Bohland (wdr/arte)
»Die Anwälte –
eine deutsche geschichte«
(wdr/ndr/rbb/arte)
Birgit Schulz (buch/regie) / Katharina Schmidt (schnitt)
Produktion: Bildersturm Filmproduktion GmbH
Redaktion: Christiane Hinz (wdr), Andrea Ernst (wdr),
Jens Stubenrauch (rbb), Silvia Gutmann (ndr)
Publikumspreis der Marler Gruppe:
»Keine Angst« (wdr)
»Zivilcourage« (wdr)
Martina Mouchot (buch) / Aelrun Goette (regie) /
Michelle Barthel (darstellung)
Jürgen Werner (buch) / Dror Zahavi (regie) /
Götz George, Carolyn Genzkow (darstellung)
Produktion: Tag/Traum, Gerd Haag
Redaktion: Wolf-Dietrich Brücker (wdr)
Produktion: Colonia Media, Sonja Goslicki
Redaktion: Wolf-Dietrich Brücker (wdr)
47. GRIMME-PREIS 2011
51
Foto: WDR / Willi Weber
wachsen, die eigene Meinung zu verteidigen. Am Beispiel von „Keine
Angst“ lässt sich wunderbar die eigene Haltung zu einem relevanten Thema
erkennen, erörtern und in einen übergeordneten Kontext stellen. Vermutlich ist das die Polarisierung, die sich Regisseurin Aelrun Goette erhofft
hatte. Dafür wird sie mit einem Grimme-Preis belohnt, bei knappem
Stimmenverhältnis.
Es ist der einzige wirklich spannende Moment in der Abstimmung am
sechsten und letzten Jury-Tag. Bis zum Ende kommen die Sitzungen
ohne Beleidigungen aus. Ohne emotionale Wunden. „Das war harmlos“,
sagt ein Jury-Kollege, der seit vielen Jahren dabei ist. „Wirklich unkompliziert.“ Ich fasse das als Kompliment auf. Oder habe ich doch etwas
verpasst?
Sorgte für heftige Diskussionen: „Keine Angst“
Ronny Blaschke
Ronny Blaschke, 1981 in Rostock geboren, studierte
Sport- und Politikwissenschaften an der Universität Rostock. Er arbeitet freiberuflich in Berlin für das
Deutschlandradio und verschiedene Zeitungen, darunter die Süddeutsche Zeitung, die Berliner Zeitung, die
Frankfurter Rundschau und die Neue Zürcher Zeitung.
Foto: Reinaldo Coddou
kein anderer. „Aber um welchen Preis?“, entgegnet die Contra-Fraktion.
„Keine Angst“ ästhetisiere eine traurige Wahrheit, wie wir sie seit
langem zu kennen glauben. Ohne einen neuen Zugang zu finden, ohne
eine Lösung zumindest diskutieren zu wollen. Das sei legitim, ja. Aber
bringe der Beitrag eine gesellschaftliche Debatte voran, zu der sich der
öffentlich-rechtliche Rundfunk verpflichtet sieht? Und wie komme der
drastische Plot bei jenen Zuschauern an, die tatsächlich an der Armutsgrenze leben, aber weder vergewaltigen noch ständig betrunken sind?
Freuen sie sich über Aufmerksamkeit oder beklagen sie Stigmatisierung?
Immer wieder streifen die Diskussionen in den kommenden Tagen
„Keine Angst“, immer wieder mündet eine Filmbesprechung in einen
Gesellschaftsdiskurs. Es geht heiß her, wird auch mal lauter, Beleidigungen bleiben aus. Inzwischen kann ich nachvollziehen, warum
Uwe Kammann zu Besonnenheit aufgerufen hatte. In einer GrimmeDiskussion geht es um mehr als um die Vorliebe für Schauspieler,
Kameraperspektiven, Schnitte. Auch der eigene Lebenslauf, das Sehverhalten, die politischen Ansichten fließen ein und lassen die Motivation
Foto: Grimme / Jorczyk
Jury Fiktion
Von links nach rechts: Prof. Anna Barbara Kurek, Dr. Heike Hupertz, Dagmar Mikasch-Köthner, Annette Lorey, Michael Ridder, Annika Sehl, Ronny Blaschke, Katrin Schuster,
Rainer Tittelbach, Ute Bischoff, Thomas Thieringer, Rainer Kasselt, Doris Metz
UNTERHALTUNG
Grimme
Preis
2011
Nominierungen im Überblick...................................................................................... 55
Aus der Nominierungskommission Unterhaltung
...bei genauerem Hinsehen......................................................................................... 58
Grimme-Preis Unterhaltung
Krömer - Die internationale Show (ARD / rbb)...................................................... 60
Klimawechsel (ZDF)........................................................................................................ 62
Aus der Jury Unterhaltung
Wir müssen reden!........................................................................................................ 65
Nah dran.
www.recklinghaeuser-zeitung.de
www.marler-zeitung.de
www.hertener-allgemeine.de
www.dattelner-morgenpost.de
www.stimberg-zeitung.de
www.waltroper-zeitung.de
100% von hier.
www.radiovest.de
Die lokalen Medien im Vest Recklinghausen
www.medienhaus-bauer.de
47. GRIMME-PREIS 2011
55
Die Nominierungen zum Grimme-Preis 2011
UNTERHALTUNG: EINZELSENDUNGEN / FORMATE
Switch Reloaded – Das Dschungel-Special (ProSieben)
Vier Staffeln lang hat das Erfolgsformat „Ich bin ein Star, holt mich
hier raus!“ Millionen von Zuschauern in den Bann gezogen. Ende letzten Jahres kam dann die Verlautbarung von RTL: Aus Kostengründen
solle es 2010 kein Dschungelcamp geben. Jetzt kommt heraus: Alles
gelogen! Es hat Anfang des Jahres ein Dschungelcamp gegeben, das
von RTL jedoch nie ausgestrahlt wurde. Als Beweis dient das OriginalFilmmaterial, das durch einen anonymen Informanten der „Galileo Big
Pictures“-Redaktion zugespielt wurde.
Produktion: Hurricane Fernsehproduktion; Regie: Daniel Drechsel-Grau, Holger
Die Snobs – Sie können auch ohne dich (ZDFneo)
Astor (Christian Ulmen) ist Mitte 30, Selfmade-Man und Snob. Von
Zesen (Wilfried Hochholdinger) ist Anfang 40, durch seine Geburt privilegiert, schnell gelangweilt – und ebenfalls ein Snob. Jeden Sonntag
spielen die beiden Freunde, die eine gut gepflegte Hass-Liebe verbindet, eine 18-Loch-Runde Golf. Getreu ihrem Motto „lieber einen
guten Freund verlieren als eine gute Pointe verschenken“ bewegt sich
das Trio über die Fairways und Greens, wobei an jedem Loch ein neues
amüsantes Abenteuer wartet.
Produktion: Ulmen Television; Regie: Max Luz; Buch: Janna Nandzik; Kamera:
Markus Zucker; Hauptdarsteller: Christian Ulmen, Wilfried Hochholdinger, Frederick
Lau; Redaktion: Slaven Pipic (ZDF); Erstausstrahlung: ab Donnerstag, 11.11.2010,
21.45 Uhr; Sendelänge: je ca. 23 Minuten
Schmidt; Buch: Stephan Pächer, Stephan Herschung; Kamera: Alex J. Moll; Schnitt:
Dominik Linke, Jens Karthaus; Darsteller: Peter Nottmeier, Martina Hill, Max Giermann,
Michael Kessler, Bernhard Hoecker, Susanne Pätzold, Mike Müller, Petra Nadolny; Produzent: Marc Schubert; Executive Producer: Georg Kappenstein; Producer: Verena Avlar; Redaktion: Hannes Hiller, Dagmar Harms (ProSieben); Erstausstrahlung: Dienstag,
13.07.2010, 22.15 Uhr; Sendelänge: 43 Minuten
Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs (WDR) (Folge
vom 07.11.2010)
Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs ist ein außergewöhnliches
Multimedia-Format, das aus dem Arbeitszimmer des Moderators in
Bremen live im WDR-Fernsehen jeden Sonntag in der Fußball-Saison
ausgestrahlt wird. An diesem Sonntag war Arnd Zeigler auf Reisen
und hat kritische Fragen an den Erfolgstrainer Jürgen Klopp gestellt.
Moderator: Arnd Zeigler; Technik: Frank Jacobsen; Redaktion: Christian Wagner, Boris
Inanici, Dominik Dünwald, Alexander Reker; Erstausstrahlung: Sonntag, 07.11.2010,
23.45 Uhr; Sendelänge: 30 Minuten
Elton vs. Simon – Die Show (ProSieben)
Größer, wahnsinniger, verrückter! Elton („TV total“) und Simon Gosejohann („comedystreet“) sind beste Kumpel, aber auch knallharte
Kontrahenten. In jeder Show treten Elton und Simon in maximal sieben Spielen gegeneinander an. Dabei gehen die zwei Streithähne an
ihre physischen und psychischen Grenzen. Gewonnen hat am Ende
derjenige, der zuerst vier Spiele für sich entscheidet. Ruhm und Ehre
für den Gewinner, Schmach und Schande für den Verlierer!
Produktion: Elton TV Productions GmbH; Brainpool TV; Moderation: Johanna Klum;
Darsteller: Elton, Simon Gosejohann; Regie: Knut Fleischmann; Buch: Gregor Salmingkeit; Produzent: Andreas Viek; Redaktion: Nina Etspüler (ProSieben)
Es geht um mein Leben – Die Sendung mit dem Krause
(EinsPlus)
Pierre M. Krause will es wissen, denn es geht um sein Leben. Jede
Sendung der 30-minütigen Wissens-Comedy steht im Zeichen eines
Themas. Es geht um Alltagsphänomene und um Probleme, die jeder
kennt und die Pierre M. Krause interessieren: Haustiere, Alkohol, Tod,
Sex, Religion, Werbung. Eine humorvolle und alles andere als trockene
Form der Wissensvermittlung.
Produktion: probono Fernsehproduktion; Headautor: Karsten Dusse; Kamera: Jens
Lindemann; Moderator: Pierre M. Krause; Redaktion: Thomas Pommer, Kathrin Röhle, Svenja Mettlach (probono); Ingolf Efler (SWR); Erstausstrahlung: ab Dienstag,
13.04.2010, 21.45 Uhr; Sendelänge: je 30 Minuten
Unser Star für Oslo (ProSieben / NDR / ARD)
In „Unser Star für Oslo“ sucht Stefan Raab zusammen mit Das Erste,
ProSieben und der ARD den deutschen Teilnehmer für das Finale des
„Eurovision Song Contest 2010“ in der norwegischen Hauptstadt. Die
acht Ausgaben von „Unser Star für Oslo“ wurden von Das Erste und
ProSieben live im Februar und März 2010 gezeigt.
Produktion: Adrian Stumpf / Brainpool TV; Regie: Ladislaus Kiraly; Moderation:
Sabine Heinrich, Matthias Opdenhövel; Redaktion: Andreas Gerling (NDR), Daisy
Rosemeyer (ProSieben); Projektleitung: Claudia Gliedt / Brainpool; Erstausstrahlung:
04.02. / 12.3.2010, 20.15 Uhr; Sendelänge: 126 + 147 Minuten
Ohne Geld bis ans Ende der Welt (ZDF neo)
Reporter Michael Wigge reist ohne Geld und allein von Berlin in die
Antarktis. Gewappnet mit zwei Kameras und vielen ungewöhnlichen
und schrägen Ideen. Auf seiner abenteuerlichen Reise lernt er Länder
und deren Menschen auf unverstellte Art und Weise kennen. Hautnah erlebt der Zuschauer Wigges Kampf gegen die vielen Hindernisse
und Strapazen der Reise und genießt die faszinierenden Landschaften
Nord- und Südamerikas.
Produktion: Pichu Productions in Zusammenarbeit mit HPR.TV; Regie / Autor / Kamera:
Michael Wigge; Schnitt: Dominik Stahl, Benjamin Krüger, Nina von Guttenberg;
Grafik / Animation: Sebastian „Özi“ Jenal, Christiane Frenzel; Sprecher: Viktor Pavel,
Diana Frankovic; Redaktion: Christian Liffers; Erstausstrahlung: ab Montag, 31.05.2010,
19.00 Uhr; Sendelänge: 5x30 Minuten
MTV Game One
Die von den beiden ehemaligen GIGA-Netzreportern Simon Krätschmer
und Daniel Budiman moderierte Sendung „Game One“ informiert PCund Videospieler über das komplexe Angebot auf diesem Sektor und
testet aktuelle Spiele. Wichtiges Element ist die verständliche Erklärung des Spielprinzips und der Elemente der besprochenen Spiele.
Auf diese Weise sollen auch Spielneulinge für die Sendung gewonnen
werden.
Produktion: Riesenbuhei Entertainment, Arno Heinisch; Moderation: Daniel Budiman,
Simon Krätschmer; Redaktion: Carsten Brauel, Grigorios Kartsios; Erstsendung: ab
27.09.2006; Sendelänge: je 30 Minuten
GRIMME-PREIS 2011
für
Klimawechsel
Doris Dörrie
Ruth Stadler
(Buch/Regie)
(Buch)
Gloria Behrens
und Vanessa Jopp
(Regie)
Wir gratulieren und danken allen Beteiligten
vor und hinter der Kamera sowie unserem Partner ZDF
zum Grimme-Preis 2011.
47. GRIMME-PREIS 2011
Dennis & Jesko – die Sketchköppe (ARD / NDR)
Eine schräge Sketch-Comedy von und mit Dennis Kaupp und Jesko
Friedrich, in der sich alles um sogenannte norddeutsche Fischköppe
dreht. Neben TV-Serien nehmen die beiden, die als Autoren für die
NDR-Satiresendung „extra 3“ arbeiten, auch Schlager und Pop-Songs
auf die Schippe, indem sie zu den bekannten Melodien neue, überraschende Texte zum Besten geben. Unterstützt werden die beiden
„Sketchköppe“ von prominenten Stargästen.
Darsteller: Dennis Kaupp, Jesko Friedrich; Kamera: Marcel Tauer, Jörn Schulz; Schnitt:
Pedro Franco, Dennis Hoffmann; Producer: Thorsten Sievert; Redaktion: Andreas
Lange; Erstausstrahlung: ab 19.12.2010, 22.45 Uhr; Sendelänge: 30 Minuten
R-Team (Sat.1)
Eine neuartige Versteckte-Kamera-Show, in der ältere Menschen die
Hauptrolle spielen. Die Lockvögel begeben sich auf die Straße, auf
öffentliche Plätze und in belebte Parks und haben dabei nur ein Ziel:
jungen Leuten Streiche zu spielen, die sich gewaschen haben. Dieses
Ensemble hat kein Problem damit, älter zu werden, ganz im Gegenteil
– man ist so jung wie man sich fühlt.
Produktion: RedSeven Entertainment in Kooperation mit Seo Entertainment;
Darsteller: Renate Agethen, Luise Schmidt, Peter Bronsema, Helga Geiger, Hans Ulrich
Otto, Hans Georg Ratajczak, Gerda Böken (Köln); Marie-Ann Lechelmayr, Doris Ewert,
Liselotte Kriechel, Adolf Galland, Manfred Schnelldorfer, Rudolf Fischer (München);
Regie: Martin Przyborowski, Matthias Fiedler, Nina Zimmermann-Sadlo, Alexander
Suppe; Produzent: Jobst Benthues; Executive Producer: Sebastian Benthues, Gillad
Osterer, Uwe Stanz; Redaktion: Nina Etspüler (Sat1); Erstausstrahlung: ab Freitag
27.08.2010, 22.45 Uhr; Sendelänge: 23 Minuten
57
UNTERHALTUNG: SERIEN & MEHRTEILER
Danni Lowinski (Sat.1)
Daniela Lowinski, genannt Danni, ist gelernte Friseurin. Nach dem
Abitur in der Abendschule und einem erfolgreich abgeschlossenen
Jurastudium erhält sie ihre Zulassung als Rechtsanwältin. Doch ihre
Bewerbungstour durch die Anwaltskanzleien Kölns gerät zu einem
Spießrutenlauf: keine Erfahrung, keine Referenzen, kein Job! Da hat
sie eine Idee und eröffnet ihre eigene Kanzlei in einer Einkaufspassage. Zwischen Parkhauslift und Schlüsseldienst stellt sie einen Tisch,
zwei Stühle und ein Schild auf und verlangt pro Minute Rechtsberatung nur einen Euro.
Produktion: Phoenix Film, Markus Brunnemann; Buch: Marc Terjung; Regie: Peter Gersina, Jorgo Papavassilou, Christoph Schnee, Richard Huber; Kamera: Woody Strecker,
Oliver-Maximilian Kraus, Diethard Prengel; Schnitt: Jens Müller, Mareille Marc-Scheer,
Knut Hake; Musik: Marco Meister; Darsteller: Annette Frier, Jans Sosnick, Nadja
Becker, Axel Siefer, Elyas M’Barek, Oliver Fleischer; Redaktion: Barbara Fuchs, Thomas
Biehl; Erstausstrahlung: ab Montag, 12.04.2010, 21.15 Uhr; Sendelänge: je 45 Minuten
Die Mädchen-WG, (KI.KA / ZDF)
Nach dem bewährten und erfolgreichen Konzept von „Die Jungs-WG“
entwickelte die Redaktion das Format für eine Gruppe von Mädchen
weiter. In den Sommerferien 2010 wurde „Die Mädchen-WG“ für fünf
ganz unterschiedliche Mädchen Wirklichkeit. Sie waren mit 12 bis 13
Jahren etwas jünger als die Bewohner der Jungs-WG, um dem Entwicklungsunterschied der Geschlechter in diesem Alter Rechnung zu
tragen.
Produktion: Georg Bussek, Alexander Freisberg; Buch: Georg Bussek; Regie: Georg Bus-
ARTE Lounge (ARTE / ZDF)
ARTE Lounge ist ein monatliches, innovatives Unterhaltungsformat,
das musikalische Grenzen einreißt. Stars und Newcomer der klassischen Musik und populärer Genres kommen in einem Berliner TechnoClub zusammen, wobei die Zuschauer sowohl in der Lounge als auch
an den Bildschirmen hautnah dabei sind.
sek, Tobias Zydra; Redaktion: Margit Lenssen, Michaela Kinzler; Erstausstrahlung: ab
Montag, 25.10,2010, 15.50 Uhr; Sendelänge: je 25 Minuten
UNTERHALTUNG: SPEZIAL
Produktion: studio.tv.fim; Regie: Hannes Rossacher; Konzept: Andreas Kern, Steffen
Pierre M. Krause (SWR / EinsPlus)
Kottkamp; Kamera: Tobias Albrecht, Maik Behres, Michael Boomers, Rolf Gihsa, René
für den schnurrig-schrägen und gleichzeitig trockenen Humor der von ihm kreierten
Gorski, Matthias Wahle, Fabian Welter; Schnitt: Heid Reuscher; Ton: Alex Klein,
Figur in den Formaten „SWR Late-Night-Show“ und „Es geht um mein Leben“.
Yannic Herrmannsdörfer; Moderation: Oceana, Elina Garanca, Patrice Bouédibéla;
Produzent: Norbert Busè; Redaktion: Wolfgang Bergmann, Tobias Cassau, Marie-Laure
Denay; Erstausstrahlung: jeweils dienstags, 11.05. / 12.10. / 16.11.2010, 23.45 Uhr;
Tobias Schlegel (NDR)
Sendelänge: 60 Minuten
als Mitautor und Protagonist der entlarvenden, satirischen Polit-Attacken im Rahmen
der Rubrik „Extra 3“ – Aktion.
Der letzte Bulle (Sat.1)
Mick Brisgau ist ein eigensinniger Polizist, der nach 20 Jahren Koma
wieder seinen Dienst antritt und im Stile der 80er Jahre (sehr zum
Ärger seines jungen Kollegen) skurrile Mordfälle im Ruhrpott löst. In
Micks Welt zählt nur sein eigenes Wertesystem und das ist geprägt
von Ehrlichkeit und Gerechtigkeit. Dazu kommen großartige Situationskomik, freche Sprüche und jede Menge Anspielungen auf „die
guten alten Zeiten“.
Produktion: Granada, Jan Kromschröder, Gerda Müller (greenskyfilm GmbH), Phillipp
Frank Buschmann (SPORT1 / ProSieben)
für seinen erfrischenden und leidenschaftlichen Kommentatorenstil bei BasketballÜbertragungen und bei „Schlag den Raab“.
UNTERHALTUNG: PREISTRÄGER
Steffens (greenskyfilm GmbH); Buch: Robert Dannenberg, Stefan Scheich; Regie:
Krömer – die internationale Show (ARD / rbb)
Michael Wenning, Sebastian Vigg, Dennis Satin; Kamera: Anton Klima, Jörg
ausführlich ab Seite 60
Lawerentz, Sven Kirsten; Schnitt: Anja Feikes, Betina Vogelsang, Dana Beauvais, Achim
Seidel, Günter Schultens; Musik: Thomas Klemm; Darsteller: Henning Baum, Maximi-
Klimawechsel (ZDF)
lian Grill, Proschat Madani, Robert Lohr, Helmfried von Lüttichau u.a.; Redaktion: Tina
ausführlich ab Seite 62
Ermuth, Dorothea Goldstein; Erstausstrahlung: ab Montag, 12.04.2010, 20.15 Uhr;
Sendelänge: je 45 Minuten
58
47. GRIMME-PREIS 2011
…bei genauerem Hinsehen
Aus der Nominierungskommission Unterhaltung
D
as erste Mal im Grimme-Institut: Tatsächlich, wie ein Novize habe
mich gefühlt. Wie ein künftiger Mönch in einem mittelalterlichen
Kloster, fern von den Wirren und Kämpfen der Welt. Raus aus der
Redaktion, rein in den Orden. Ora et labora. Während draußen das
Chaos tobt und Fernsehdeutschland sich über das „Dschungelcamp“
erregt, sitzen wir ernst und gesammelt hinter soliden Mauern vor den
Bildschirmen und debattieren über das, was im besten Fall so leicht
aussieht, als sei es von selbst passiert, und was doch nur so schwer
gelingt: die gute Unterhaltung. Im Fernsehen. In Deutschland. Dort, wo
zwar niemand mehr Schopenhauer liest, aber der Pessimismus dennoch
tief im Gemüt verwurzelt ist. Trotz „Schwarzwaldklinik“ und „Traumschiff“. Wir glauben einfach nicht an das Happy End, sondern daran,
dass das dicke Ende erst noch kommt. Unbedingt.
Keine guten Voraussetzungen für
die Unterhaltung. Und noch weniger
für die Unterhaltung über die Unterhaltung, denn wer sich in seinen
Vorurteilen eingerichtet hat, scheut
das Gespräch, das ihn eines Besseren
belehren könnte. Auch in unserer Branche. Ich habe selbst erlebt, dass mir der
Redakteur eines großen Medienunternehmens als Antwort auf eine Kritik an
einer Sendung triumphierend das Display seines Blackberrys unter die
Nase hielt, auf dem neue Höchstwerte für die Einschaltquote vermeldet
wurden. Die Barbaren sind längst unter uns. Aber die (Kloster-)Mauern
des Grimme Instituts halten noch stand. Für Audience-Flow-Strategen
und Reichweiten-Analytiker gilt: Wir müssen leider draußen bleiben.
von Rainer Unruh
Dabei sind die interessanten Sendungen gerade die, die unsere etablierten Kategorien und begrifflichen Schemata infrage stellen. Uns ging
es so bei „Dennis & Jesko – die Sketchköppe“. Die Reihe kommt auf den
ersten Blick wie Deppen-Humor aus der norddeutschen Provinz daher,
nimmt aber bei genauerem Hinsehen den sich in den dritten Programmen wie die Pest ausbreitenden Regional-Patriotismus derart gekonnt
auf die Schippe, dass man sich selbst als Derrida-Leser nicht schämen
muss, den Fernseher einzuschalten.
Wobei der Fairness halber sogleich zu ergänzen wäre, dass die Dritten
trotz ihrer oft langweiligen Lobpreisungen des Landlebens, wahlweise auf der Alm oder auf einer Nordseeinsel, immer noch die Kraft
aufbringen, Talente zu fördern, die den Sprung ins Erste verdienen.
Politik ist ja eigentlich etwas, das man gewöhnlich nicht mit geglückter
Die Barbaren sind längst unter uns. Aber die (Kloster-)
Mauern des Grimme Instituts halten noch stand. Für
Audience-Flow-Strategen und Reichweiten-Analytiker gilt:
Wir müssen leider draußen bleiben.
Foto: NDR / ProSieben / Willi Weber
Nicht Zahlen zählten in unseren Diskussionen nach der Sichtung von
Shows und Serien, sondern das bessere Argument. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Außerhalb der geschützten Räume von Akademien und Instituten breitet sich mehr und mehr ein anti-diskursiver
Infantilismus aus. Die Facebook-Funktion „Like“ ist nur ein besonders
prominentes Beispiel für die Ausbreitung der Kindergarten-Mentalität
von vermeintlich erwachsenen Nutzern, die glauben, ihr Geschmack
(Coca oder Pepsi?) sei alles, die Begründung dafür nichts.
Gemeinsames Kind von ARD und ProSieben: „Lena“
Unterhaltung in Verbindung bringt, aber „extra 3“ (NDR) beweist, dass
es auch anders geht. Uns imponierte besonders die Folge, in der ein
Team dem Bahnchef Grube das Goldene Handtuch dafür verlieh, dass
er im Sommer die ICE-Züge durch versagende Klimaanlagen unfreiwillig
in Saunen verwandelt hatte. Als der Manager die Kameras bemerkte,
nahm er die Auszeichnung scheinbar freundlich und verständnisvoll in
Empfang, so, wie es heute in entsprechenden Seminaren für Führungskräfte zum Umgang mit den Medien gelehrt wird.
Tobias Schlegl und seine Mitarbeiter rutschten auf dieser Schleimspur nicht aus. Sie blieben dran, hielten fest, dass der Bahn-Boss das
Handtuch nach seiner Rede unter dem Pult liegen ließ, setzten nach
und wollten ihm das Präsent noch einmal überreichen, wobei sie dieses
Mal von Bodyguards unfreundlich abgedrängt wurden. Ein entlarvender
Moment. Diese Hartnäckigkeit der Reporter, gepaart mit der Haltung,
wir lassen uns von niemandem einschüchtern, ist im deutschen Fernsehen leider eher die Ausnahme.
Eine Ausnahme ist auch Pierre M. Krause. Als ich ihn das erste Mal im
Fernsehen sah, war ich mir nicht sicher, ob ich ihn gut oder schlecht
finde. Er erinnert an den jungen David Bowie. Schlaksig, kunstvoll
verstrubbeltes Blondhaar, inszenierte Androgynität. Alles etwas dick
aufgetragen. Aber ein echter Entertainer. Schlagfertig, selbstironisch
und schnell im Gespräch. Eine schillernde Persönlichkeit.
Kein Wunder, dass wir intensiv über „Es geht um mein Leben“ und
die „SWR3 Late Night“ diskutierten. Etwas, das eindeutig für den 34Jährigen spricht. Oder kann sich jemand daran erinnern, jemals ernsthaft über die Moderatoren-Qualitäten von Johannes B. Kerner debattiert
zu haben? Jetzt wünscht man sich nur noch einen mutigen Entschluss
in der ARD, diesen hochbegabten Talker ins Erste zu befördern. Das wäre
mal eine Alternative zur Pocheriserung der TV-Unterhaltung.
47. GRIMME-PREIS 2011
59
Nominierungskommission
Unterhaltung
Von links nach rechts
Thorsten Ziebell, Rainer Unruh,
Foto: Grimme / Jorczyk
Armin Völkers, David Denk, Harald Keller
The show must go on, aber bei den Serien waren die Aussichten nicht
ganz so heiter. ZDFneo zeigte 2010 „Mad Men“, und wer die USProduktion noch nicht auf DVD gesehen hatte, musste hinterher neidlos
anerkennen, dass keine deutsche Eigenproduktion auch nur annähernd
an die raffinierte Dramaturgie, die elegante Ausstattung und die starken
Schauspieler heranreichte. Mit „Danni Lowinski“ gelang Sat.1 aber
dennoch ein Coup, der auch in der Nominierungskommission viele
Freunde fand. Endlich einmal eine Serie, die kein bereits im Ausland
etabliertes Format kopierte, sondern die ein spezifisch deutsches Thema
aufgriff und es dabei schaffte, der Tristesse heitere und leichtere Seiten
abzugewinnen, ohne die soziale Realität zu verharmlosen. Hinzu kam,
wie wir unisono festhielten, dass auch die Nebenrollen stimmig besetzt
waren und sich glaubwürdig entwickelten.
Foto: Sat1 / Frank Dicks
wir in Marl ausgiebig Gelegenheit, dies zu praktizieren. Aber wird die
Generation Twitter diesem Beispiel folgen? Die Zukunft bleibt spannend.
In der Realität und im Fernsehen.
Nicht ganz so eindeutig war das Votum für „Der letzte Bulle“. Ein Mitglied
der Kommission, das in einem Krankenhaus gearbeitet hatte, monierte,
dass jemand, der wie der Hauptdarsteller aus einem Koma erwacht, nie
und nimmer in so kurzer Zeit wieder in seinem alten Job als Polizist
arbeiten könne. Außerdem ist das Zeitreise-Thema nicht gerade neu,
die starke britische Serie „Life on Mars“ hatte es, ebenfalls am Beispiel
eines Ordnungshüters, mit einem Sinn für die Feinheiten der Popkultur
demonstriert, wie es in Deutschland undenkbar wäre. Aber schließlich
überzeugten uns der gute Hauptdarsteller und die Tatsache, dass man
etwas darüber lernt, wie stark sich unser Land in den vergangenen 20
Jahren verändert hat.
International erfolgreich: „Danni Lowinski“
Rainer Unruh
Rainer Unruh, geboren 1961 in Hamburg, studierte
Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie in Ham-
forum international tätig. 1995 ging Rainer Unruh als
Kulturredakteur zu TV Today, seit 2006 arbeitet er bei
Foto: rbb / Daniel Porsdor
TV Spielfilm.
Foto: ZDF / Kerstin Stelter
und war lange als freier Autor für Geo, Nike und Kunst-
Foto: J. Unruh
burg. Er begann beim Stadtmagazin Szene Hamburg
Foto: ZDF / Kerstin Stelter
Foto: rbb / Daniel Porsdor
Und das ist nicht gerade wenig. Der YouTube-Trend, nur noch Ausschnitte
zu sehen, ist Gift für die narrativen Formate im deutschen Fernsehen.
Und möglicherweise auch für unser eigenes Selbstverständnis. Wir
sind es gewohnt, uns als Geschichten erzählende und in Geschichten
verstrickte Subjekte zu begreifen, und nachts an der Hotelbar hatten
60
47. GRIMME-PREIS 2011
Grimme-Preis Unterhaltung
Krömer – Die internationale Show
ARD / rbb
Foto: rbb / Daniel Porsdor
UNTERHALTUNG
Produktion: Sector 3 Media
Produktion: Sector 3 Media
Regie: Michael Meier
Buch: Kurt Krömer
Kamera: Stefan Janecke, Monika Schmitt,
Jens Kelle, Manfred Kotzurek,
Winfried Hermann
Musik: Marek Cwiertnia, Sebastian
Böhnisch
Schnitt: Frank Rausch
Moderation: Kurt Krömer
Gäste: Inka Bause, Andera Kiewel,
Joey Kelly
Produzent: Esteban de Alcázar
Redaktion: Baerbel Becker (rbb)
Erstausstrahlung: ab Donnerstag,
25.03.2010, 23.45 Uhr
Sendelänge: je 44 Minuten
Krömer – Die internationale Show
Er begrüßt seine Gäste in ausgefallenen Anzügen und mit der typischen Berliner Schnauze: Kurt Krömer ist Gastgeber in „Krömer – Die internationale Show“. Sobald er seine Gäste aus dem Wartezimmer hinter den Kulissen auf
die Bühne gerufen hat, geht es auf den orangefarbenen Sesseln herrlich durcheinander. Zur Begrüßung bringt
jeder Gast ein Geschenk mit. Und der Hausherr weist gerne darauf hin, dass er sich „über jeden Scheiß“ freue.
Ob die Mitbringsel persönlich oder eher praktisch sind, spielt keine Rolle: RTL-Moderatorin Inka Bause übergibt
Kurt Krömer eine Blume, während ihre ZDF-Kollegin Andrea Kiewel ein aufblasbares Mainzelmännchen dabei hat.
Michael Bully Herbig beschenkt Krömer mit allerlei Merchandising aus seinem neusten Film und Joey Kelly
verschenkt seine Sportschuhe. Die Gästepaarungen sind dabei originell und ausgefallen: Rapper Sido trifft auf
Filmemacher Daniel Levy, Dschingis-Khan-Legende Leslie Mandoki auf die Band The BossHoss. „Ich lasse jeden
Gast ausreden“, wirft Kurt Krömer im Gespräch immer wieder ein. Mit bissiger Ironie und einem ganz eigenen
Interviewstil werden die Dialoge zu großen TV-Momenten. Gäste und Gastgeber spielen sich munter die Bälle zu.
Da bleibt auch bei den Gästen mitunter kein Auge trocken. Die große Showtreppe, der kleine Kühlschrank, der Flipperautomat – auf der Bühne ist alles wild zusammengewürfelt und dennoch absolut stimmig. Es wird gelacht,
getrunken, geraucht oder auch mal im Sumo-Anzug miteinander gerungen. So eben ist „Krömer – Die Internationale Show“ – ein unverwechselbares Gesamtkunstwerk.
47. GRIMME-PREIS 2011
Kurt Krömer
(Gastgeber / Moderator)
Kurt Krömer
Kurt Krömer, der mit bürgerlichem Namen Alexander
Bojcan heißt, wurde 1974 in Berlin geboren. Den Künstlernamen hat er sich von seinem ehemaligen Deutschlehrer geliehen. Nach einer abgebrochenen Ausbildung
zum Herrenausstatter stand er 1993 zum ersten Mal als
für
Krömer – Die internationale Show
(ARD / rbb)
Kurt Krömer auf der Bühne. In den Folgejahren besuchte der Berliner die Schule für Tanz, Clown und Theater
in Hannover. 2003 moderierte er die erste Ausgabe der
„Kurt Krömer Show“ im rbb. Daneben steht Bojcan, der
Produktion: Sector 3 Media
sechs Mal für den Grimme-Preis nominiert war, auch
immer wieder auf der Bühne und spielt Theater.
Foto: rbb / Daniel Porsdor
Grimme-Preis
an
61
BEGRÜNDUNG DER JURY:
Kennen Sie den? Ist der Krömer sechs Mal für den Grimme-Preis nominiert und kriegt ihn ausgerechnet 2011. Guter Witz? Schlechter Witz? Gar
kein Witz! Alexander Bojcan hat mit Kurt Krömer eine Figur geschaffen,
deren Vielschichtigkeit sich einfach nicht erschöpft. Als Neuköllner
spricht er mit Volkes Stimme und karikiert sie zugleich. Als Comedian
changiert er zwischen Slapstick und feinster Ironie. Als Gastgeber bereitet er seinen Gästen erst einen charmanten Empfang und lässt sie schon
im nächsten Moment auflaufen.
Im Verlauf der Jahre hat Bojcan diesen Mix perfektioniert. In seiner
„Internationalen Show“ wechselt er zwischen den Ebenen und Stilmitteln so virtuos, dass man mit dem Lachen kaum hinterher kommt. Dabei
kann man schnell übersehen, welch großes Können dahinter steckt. Das
fängt schon damit an, dass Kurt Krömer trotz Glitzerjackett, Kassenbrille
und dezentem Silberblick keine Witzfigur ist. Das Körperliche ist bei
ihm eine Ressource, die er mal sparsam, mal überbordend einsetzt, aber
immer mit größtmöglichem Humor.
Dass ihm das gelingt, hängt mit Bojcans zweiter besonderer Qualität zusammen: seinem einmaligen Gespür für Timing. Jeder Gast, über dessen
Witz er die eine Sekunde zu kurz lacht, oder dessen Geschenk er den
entscheidenden Moment zu lang nicht annimmt, kennt diese tödliche
Taktung. Die Dämlichen versuchen mitzuhalten. Die Schlauen leisten
erst gar keinen Widerstand.
Muss man als Gast deshalb Angst vor Bojcan haben? Auf keinen Fall.
Sein Krömer ist kein Platzhirsch, er freut sich selbst am meisten, wenn
die Show mal wieder so richtig aus dem Ruder läuft. Im fortschreitenden
Chaos zeigt sich, wer von den Gästen wirklich lässig und selbstironisch
ist oder es nur behauptet. Bojcan selbst fährt in jedem Fall zu Höchstleistungen auf. Bei aller Souveränität, die ihm Jahre auf der Bühne und
im Fernsehen verliehen haben, ist sein größtes Talent nämlich immer
noch seine Schlagfertigkeit. Er begreift Situationen blitzartig, er versteht
die Rollen, die seine Gäste spielen wollen, intuitiv. Deshalb ist er immer
den entscheidenden Schritt voraus und weiß schon, wo der nächste Witz
liegt, während Zuschauer und Gäste noch über den aktuellen lachen.
Foto: rbb / Daniel Porsdor
Das alles macht die „Internationale Show“ zur wahrscheinlich verlässlichsten Überraschung, die das deutsche Fernsehen zu bieten hat.
Womit könnte man sie und ihren Schöpfer Alex Bojcan besser auszeichnen, als mit einem ebenso überfälligen wie auch perfekt abgepassten
Grimme-Preis?
Vielschichtig im Glitzeranzug: Kurt Krömer mit Joey Kelly
62
47. GRIMME-PREIS 2011
Grimme-Preis Unterhaltung
Klimawechsel
ZDF
Foto: ZDF / Kerstin Stelter
UNTERHALTUNG
Produktion: MOOVIE – the art of entertainment
Produktion: MOOVIE – the art of
entertainment, Oliver Berben
Buch: Doris Dörrie, Ruth Stadler
Regie: Doris Dörrie (Fo.1+2), Gloria
Behrens (Fo. 3+5), Vanessa Jopp (Fo.4+6)
Kamera: Hanno Lentz
Schnitt: Inez Regnier, Frank Müller
Ton: Rainer Pabst
Musik: Nora York, James E. Lawrence
Darsteller: Maria Happel, Ulrike Kriener,
Juliane Köhler, Andrea Sawatzki, Maren
Kroymann, Sophie von Kessel u.a.
Redaktion: Axel Laustroer, Klaus Bassiner
Erstausstrahlung: ab 07.04.2010
Doppelfolge, donnerstags, 21.00 Uhr
Sendelänge: 6 Folgen à 45 Minuten
Klimawechsel
Die Lehrerinnen Beate, Cornelia, Angelika und Désirée unterrichten am gleichen Gymnasium. Inmitten von pubertierenden Schülern stecken die vier voll in den Wechseljahren. Angelika, deren Mann zunächst das Bett und
dann sie verlässt, versucht, das Unvermeidliche zu akzeptieren: Sie wird alt und dick. Damit will Beate sich nicht
abfinden: Mit Hilfe von Diäten und Hormonen setzt sie alles daran, um schlank und jung zu bleiben. Cornelia,
schüchtern und überfordert mit ihren Schülern, vertreibt sich die Zeit mit dem Diebstahl von teurer Anti-AgingKosmetik und mit Sitzungen beim Psychologen. Désirée, gerade erst Mutter geworden, unausgeschlafen und
chaotisch, hofft immer noch auf den Durchbruch als Künstlerin, während ihr Freund, der Hormon-Yoga-Lehrer
Ronnie, reihenweise die Damen seines Wechseljahre-Yoga-Kurses beglückt. Jede der vier entwickelt ihre ganz
eigene Strategie gegen den Wechseljahrefrust: Während Cornelia sich auf eine Affäre mit einem Schüler einlässt
und unerwartet schwanger wird, flüchtet sich Angelika in die Religion und findet Erfüllung im Sufismus. Désirée,
die genug hat vom sexsüchtigen Freund, widmet sich fortan nur noch ihrer Kunst und mutiert zunehmend zum
durchgeknallten und vereinsamten Messi. Beate, die sich nicht mit einem Leben ohne Sex abfinden will, versucht
es mit Affären. Am Ende findet jede von ihnen doch noch ihren eigenen Weg: Angelika und Fatih werden ein Paar,
Désirée und Ronnie versöhnen sich, Beate erlebt den zweiten Frühling mit ihrem Mann und Cornelia genießt ihr
spätes Mutterglück. Wechseljahre eben.
47. GRIMME-PREIS 2011
Doris Dörrie
(Buch / Regie)
Ruth Stadler
(Buch)
Gloria Behrens
(Regie)
Vanessa Jopp
(Regie)
Doris Dörrie
Doris Dörrie, 1955 in Hannover geboren, hat in den USA
und Deutschland studiert. Sie sammelte bereits früh
Erfahrungen bei verschiedenen Fernsehsendern als freie
Mitarbeiterin. Dörrie hat eine Reihe von Dokumentarfilmengedreht, schreibt bis heute immer wieder Bücher
und inszeniert Opern. Sie drehte Filme wie „Männer“,
„Bin ich schön?“ und „Der Fischer und seine Frau“. Für
ihre Leistungen erhielt Dörrie zahlreiche Auszeichnungen. 1996 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen. Seit 1997 lehrt sie an der Hochschule für Film und
Fernsehen in München.
Foto: Mathias Bothor
Grimme-Preis
an
63
Ruth Stadler
Ruth Stadler wurde 1960 in München geboren. Nach
für
Klimawechsel
(ZDF)
ihrem Abitur lebte sie in Paris und erlangte dort ein
Übersetzerdiplom für Literatur. Danach machte sie eine
Ausbildung in den Bereichen Schneideraum, Script und
Continuity in den Bavaria Filmstudios und war einige
Dokumentationen über jüdische Migrantinnen in den
USA. Seit 1998 arbeitet Ruth Stadler als Drehbuchautorin und erhielt als Co-Autorin für den Film „Bin ich
„Die Szene mit der Hundestellung beim Yoga fand ich blöd“, sagt ein
männliches Jurymitglied. Worauf ein weibliches entgegnet: „Du kannst
es Dir eben nicht vorstellen, wie es ist, wenn Du in den Wechseljahren
bist, Dein Körper an allen Ecken und Enden zu hängen beginnt, Du Dich
unglaublich nach Sex sehnst, während Dein Mann am Computer hängt
und Dich nicht mehr anguckt. Dann ist das großartig, seinen YogaLehrer hinter sich zu haben, der einem seinen wahrscheinlich halb
erigierten Penis an den Hintern drückt!“ Womit der Kern, die Kraft und
die Wirkung von „Klimawechsel“ auf den Punkt gebracht wären. Frauen
in den Wechseljahren – das weitgehend ignorierte Thema, in einer
sechsteiligen Serie im ZDF, abends, um 21 Uhr.
Den Autorinnen und Regisseurinnen von „Klimawechsel“ ist es zusammen mit dem großartigen Ensemble gelungen, die zuweilen furchteinflößende Phase der Menopause lustig, bitter, böse, vor allem aber hoch
unterhaltend darzustellen und neue Wege für erzählendes Fernsehen
aufzeigen. Rezepte hält die Serie dabei nicht bereit, sie kann weder den
Schweißtrieb dämmen noch die Gereiztheit. Aber sie hilft, den Blick
auf die Wechseljahre zu verändern. Und sich bewusst zu machen, dass
„Wechseljahre“ kein Einzelschicksal sind und dass Lachen hilft, das
Ganze halbwegs zu ertragen. In einer rundum preiswürdigen Serienrealisierung, der es gelingt, ein ernsthaftes Thema im besten Sinne der
Unterhaltung darzustellen: intelligent, feinsinnig, witzig.
schön?“ den Bayerischen Filmpreis. Ruth Stadler lebt in
Madrid.
Gloria Behrens
Gloria Behrens wurde 1948 in Ludwigsburg geboren. Sie studierte zwischen 1967 bis 1970 im A-Kurs
an der HFF München. Nach ihrem Studium entstand
die fünfteilige Serie „Die Kinder vom Hasenbergl“.
Weiterhin führte sie bei den Produktionen „Rosi und
die große Stadt“, „Bodo – Eine ganz normale Familie“
und „Titus und der Satansbraten“ Regie. Gloria Behrens
war darüber hinaus an fast 20 Fernsehspielen beteiligt
und hat auch mehrere Drehbücher verfasst. Sie lebt in
München-Freimann.
Vanessa Joop
Vanessa Jopp, 1971 in Leonberg geboren, studierte
ein Semester Spanisch in Madrid und drei Semester
Wirtschaft in Bochum. Danach wechselte sie an die HFF
München. Der Durchbruch als Regisseurin gelang ihr
mit den Filmen „Vergiss Amerika“ und „Engel & Joe“. Ihr
Film „Komm näher“, unter anderem mit Meret Becker,
wurde 2006 für den Deutschen Filmpreis nominiert.
2007 kam dann die Komödie „Meine schöne Bescherung“ mit Heino Ferch und Martina Gedeck in die Kinos.
Für das Fernsehen drehte sie den Tatort „Der schwarze
Doris Dörrie und Ruth Stadler haben dabei als Autorinnen stellvertretende Charaktere gezeichnet, ohne sie in den gängigen Frauen-Klischees
hängen zu lassen; Charaktere zudem, die nicht zuletzt durch Boshaftigkeit und Sexualtrieb überraschen. Einzuschließen ins große Lob für
außergewöhnliche Unterhaltung ist auch die Regieleistung von Gloria
Behrens, Vanessa Jopp und Doris Dörrie. Weil sie uns desolate Protagonistinnen zeigen, ohne sie vorzuführen. Und weil sie ein großartig
besetztes Ensemble dahin führen, wo beim erzählenden Fernsehen meist
die Klappe fällt: in die ungeschminkte Realität. Falten, Fett und falsche
Haare – den Schauspielerinnen bleibt nichts erspart.
Ein besonderer Dank geht an die Senderspitze des ZDF, die den Mut
hatte, ein so unbequemes Thema allen Weichspültendenzen zum Trotz
in ihr Programm zu heben und zu zeigen, dass Unterhaltung und
Anspruch nicht zwei Seiten einer Medaille sind.
Foto: Kambiz Giahi
BEGRÜNDUNG DER JURY:
Foto: Bernd Lepel
Jahre als Regieassistentin tätig. Es entstanden zwei
Troll“ und Monika Bleibtreus letzten Film „Ladylike“.
Foto: Marco Maria Dresen
Produktion: MOOVIE – the art of entertainment
„Ich war überrascht, aber nicht verwundert und
sehr erfreut, dass diese unkonventionelle Fernsehserie diesen begehrten Preis bekommt. Besonders freut es mich für Doris und Ruth, ohne deren
kreative, lustvoll provokative Autorenarbeit dieses
Projekt nicht möglich gewesen wäre.“
Gloria Behrens
Abbildungen ©fotolia.com/photocase.com
Die LfM gratuliert
den diesjährigen Preisträgern
des Grimme-Preises
47. GRIMME-PREIS 2011
65
Wir müssen reden!
Aus der Jury Unterhaltung
von Miriam Janke
Bergfest im Grimme-Institut: Die Annäherungsphase zwischen Juroren
und Nominierten ist vorbei, der Stimmengewirr-Lärmpegel knallt an die
Decke. Dank der Farbsortierung auf den Namensschildern ist schnell
klar, wer zu welcher Jury gehört. Wir in der „Unterhaltung“, so steht
es auf dem Schild, sind die Gelben. Los geht’s. Die einen Nominierten
umkreisen einen vorsichtig, schlagen dann verbal zu und loben ihr
eigenes Format, die anderen reden
professionell und charmant über alles, nur nicht über das, weswegen sie
eingeladen wurden. Und die dritten
stolpern über Neuerungen, die so neu
nicht mehr sind. „Ah... Unterhaltung!
Sie machen dann also, äh... heute
Abend hier... eine Show?“
heimischen Sofas, der noch in den Knochen steckt, oder die kollektive
Stimmung einlullen und ablenken zu lassen.
Das Verdikt „Wir wissen ja, dass das nicht preiswürdig ist, lasst uns
weiter machen“ fällt mir am ersten Tag zu oft. Nö, weiß ich nicht, noch
nicht. Wir müssen reden!
Was zu Hause auf der Couch, mit Wein und Fernbedienung in
der Hand gut läuft, muss auch auf harten Stühlen, mit Sprudelwasser und Stift im Anschlag bestehen – und umgekehrt.
Kurze Verblüffung, dann ein Grinsen. Als Jurorin mit einer Entertainerin
zur Abendgestaltung verwechselt werden, das hat was. Feuerschlucken,
gottschalken, um die Wette vergangene Preisträger mimisch darstellen
und erraten, das Statut vorsingen? Ich grübele über ein geeignetes Unterhaltungsformat für das Bergfest. Die Jury Unterhaltung gibt es zwar
bereits zum fünften Mal, aber mein Gott – das war ja auch ein zerstreuter Dokumentarfilmer, der als Nominierter zur Jury Information & Kultur
gehört. Ganz andere Liga, die Kollegen dort beginnen ihren Sichtungstag mit Völkermord, Holocaust, Contergan. In dieser Reihenfolge und in
einem schmalfenstrigen Raum des Grimme-Institutes.
Wir hingegen sitzen vorne im sonnendurchfluteten Aquarium mit Empore und schauen uns Formate an, die wir als Zuschauer von zu Hause
meist schon kennen. Der zweite Tag zum Beispiel beginnt mit zweieinhalb Stunden „Unser Star für Oslo“. Dabei wird klar, worin die Herausforderung für die nominierten Produktionen (und auch für die Jurorinnen und Juroren) besteht: Sie müssen unabhängig vom Rezeptionszusammenhang funktionieren. Was zu Hause auf der Couch, mit Wein und
Fernbedienung in der Hand gut läuft, muss auch auf harten Stühlen, mit
Sprudelwasser und Stift im Anschlag bestehen – und umgekehrt.
Foto: Grimme / Jorczyk
Ich merke bald: Die Herausforderung bei der Arbeit in der Unterhaltungsjury liegt u.a. darin, den analytischen Blick einzuschalten und sich
nicht durch Zuckungen des Zwerchfells, den Unterhaltungsmodus des
Jury-Arbeit: ernste Blicke auf Unterhaltungsfernsehen
Also diskutieren wir nach jeder Sichtung Eindrücke, Nerviges, Gelungenes und schaffen uns so ein gemeinsames Stimmungsbild. Bei einer
elfköpfigen Jury eher ein Panorama, breit gefächert, untermauert durch
(berufliche) Herkunft und Themenschwerpunkt, ausdifferenziert durch
persönliche Neigungen.
Spätestens am zweiten Tag sind Grabenverläufe, Argumentationsmuster und Rollenverteilung klar: Programmkenner, Kultur-Nerd, alter Hase,
stilles Wasser, Rausplatzer, Taktiker, Nörgler, „Ich-fühle-mich-aber-gutunterhalten“-Einwender, Humor-Analytiker, Innovator... (die weibliche
Form ist hierbei immer mit eingeschlossen). Und natürlich die Fürsprecher eines Formates, die immer wieder Argumente vorbringen, die
die anderen schon abgehakt haben. Gott sei Dank, denn so wird der
Horizont immer wieder aufgehalten für das, was schon aus dem Blickfeld gerutscht ist, und wenn auch nur als Minderheitenmeinung.
Zum Running Gag wird z.B. „Wir müssen reden!“, die Impro-Sitcom mit
Cordula Stratmann und Annette Frier, die am ersten Tag – zum großen
Bedauern eines Jurors – nach gemeinsamer Sichtung nicht nachnominiert wird. Selbst kurz vor der Abschlussdiskussion zieht der Fürsprecher
die frisch gekaufte DVD mit allen Folgen heraus und erinnert noch mal
daran, dass...!
Beim Saunagang – welch’ Grimme-Revolution, eine halbe Stunde Freizeit spät abends – rätsele ich gerade über die Serienhäufung in der Jury
(„Der letzte Bulle“ / Sat.1, „Danni Lowinski“ / Sat.1, „Klimawechsel“ / ZDF),
als der Horror eines jeden Arbeitnehmers eintritt in Gestalt meines
Juror-Kollegen (Disclaimer: ich mag ihn sehr!). Nackig und schweißtriefend machen wir beide das Beste aus der, äh, unterhaltsamen Situation,
und diskutieren gefasst und intellektuell auf der Höhe den „Webfehler
im Reglement“: Gehört eine fiktionale Serie nicht besser in die Jury Fiktion? Gehört alles, worüber man schmunzelt bis lacht, automatisch in die
Unterhaltungsjury? Wie kann man mit solchen Hybridgenres am besten
umgehen? Werden wir zur Serienjury? Bleiben Sie dran, morgen geht
es weiter, wenn es wieder heißt... Oh Gott, Klimawechsel, schnell kalt
duschen gehen.
Ich schlafe schlecht und wälze mich mit aufgeputschtem Kreislauf in
den Laken. Im Traum treffe ich Mick, der seit den 80ern zwei Jahrzehnte
im Koma lag, Feminismus, Terrorismus und weitere -Ismen verschlafen
hat und nun als „letzter Bulle“ auch die letzte Bastion des (charmanten)
Machotums darstellt. Er kneift mir in den vom Sichten platt gesessenen Popo – wow, dieses Grübchenlächeln... –, während Unterschichten-
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TV-Höhepunkte April – Juni 2011
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Ausgabe 2/2011 · 1,50 €
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47. GRIMME-PREIS 2011
67
Der andere Preis geht an Frauen in den Wechseljahren, die mit dem
Älterwerden, schlechtem oder keinem Sex und Schweißausbrüchen
kämpfen: „Klimawechsel“ (ZDF) hat das Rennen gemacht. Die Serie, die
ursprünglich in der Jury Fiktion nominiert war und dann per Abstimmung bei uns gelandet ist (siehe: Saunadiskussion!). Hier lachen Frauen
mit Frauen, ohne es auf Kosten der Männer zu tun. Die Widrigkeiten des
nicht gerade sexy Themas Wechseljahre werden vielschichtig und mit
Humor dargestellt – „sonst wäre es ja auch ein Sozialdrama und wir
Frauen könnten uns gleich im Marler See ertränken“, sagt eine Jurorin.
Institutsdirektor Uwe Kammann, der zur Abschlussdiskussion vorbeischaut, warnt: „Der ist nicht tief genug“. Dank Dorris Dörrie und dem
Team von Klimawechsel müssen wir uns darüber ja keine Gedanken
mehr machen...
Juryalltag: „Harte Stühle, Sprudelwasser und Stift im Anschlag“
wenn man wieder zu Hause am Schreibtisch oder vorm Fernseher
sitzt. Zur Ablenkung bastele ich an einem Unterhaltungsformat für das
Bergfest nächstes Jahr. Hier gilt wie auch beim Grimme-Preis: Reichen
Sie schon mal Ihre Vorschläge ein!
Miriam Janke
Miriam Janke lebt als Journalistin, Moderatorin, Trainerin und Entertainerin eines einjährigen Jungen in
Berlin. 2008 war sie in der Jury Information & Kultur
mit Sichtungen bis spät in die Nacht, deshalb empfand
sie die Unterhaltungsjury 2011 geradezu als... Urlaub?
Und, was bleibt nach vier Tagen intensiven Sichtens, Zusammensitzens
und Diskutierens in familiärer Duz-Atmosphäre? Eine seltsame Leere,
Berufen wurde sie eigentlich nur, damit sie mal wieder
eine Nacht durchschlafen kann. Sie sagt: Danke.
Foto: Marianne Vollmer
Am nächsten Tag heißt es rüsten zum Endspurt und zur Abschlussdiskussion. Das Rennen macht dann ein alter Bekannter: Kurt Krömer
(rbb). Zum sechsten Mal nominiert, sollte uns das stutzig machen?
Wieso haben die vorigen Jurys ihn nicht ausgewählt? Sollte man ein
Format prämieren, das nun auch nicht mehr brandneu ist und zudem
bald abgesetzt wird? Wir sagen: ja. Die nominierten Formate müssen
sich dem Vergleich untereinander stellen, und bei diesem relativen
Sehen schneidet der schräge Neuköllner in Sakkos, die beim Hinschauen
blind machen, gut ab. Die beiden Folgen, die wir gesehen haben, sind
genial, intelligent unterhaltsam, egal mit welcher Art von Gast, ohne
dabei viele Einspielfilme, Spiele und andere Hilfsmittel als Krücke zur
Sendungsgestaltung zu (ge)brauchen. Sparsam und wirksam. Dit war’s
jewesen, Kurt! Glückwunsch! P.S. Die Jury ist nun endlich reif genug,
dein Talent zu erkennen (vgl. www.kurtkroemer.de / bio.html)!
Foto: Grimme / Jorczyk
anwältin Danni Lowinski mich im pinkfarbenen Fummel und Herz am
rechten Fleck im Müllcatchen besiegt und so ihrem Gerechtigkeitssinn
(„Sie treten jetzt sofort zurück als Jurorin, Sie... Sie!“) Genüge getan wird.
Foto: Grimme / Jorczyk
Jury Unterhaltung
von links nach rechts: Silke Burmester, René Martens, Bernhard Greiler, Clemens Niedenthal, Viola Schenz, Torsten Zarges, Hannah Pilarczyk, Miriam Janke, Ariane Holzhausen,
Dieter Anschlag, Tillmann P. Gangloff
FÜR UNS BIST DU
NICHT NUR
GRIMME-
PREISTRÄGER,
SONDERN AUCH VORBILD, THOMAS.
Das erste Geschenk im Jubiläumsjahr:
Der Grimme-Preis für „DDR ahoi“
Eine Gemeinschaftsproduktion des MDR und NDR | Weitere Informationen unter www.mdr.de / damals / ahoi
INFORMATION
& KULTUR
Grimme
Preis
2011
Nominierungen im Überblick..................................................................................... 73
Aus der Nominierungskommission Information & Kultur
NoBody‘s Mauerhasen ................................................................................................ 76
Grimme-Preis Information & Kultur
Aghet – Ein Völkermord (ARD / NDR)....................................................................... 78
Iran Elections 2009 (WDR / ARTE)............................................................................ 80
Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte (WDR / NDR / rbb / ARTE)................ 82
DDR Ahoi! (ARD / MDR / NDR)................................................................................... 84
20x Brandenburg (rbb)................................................................................................. 86
Aus der Jury Information & Kultur
Nachahmer erwünscht................................................................................................. 89
Foto: istockphoto
Wir stehen für Qualität.
„Mit den Dokumentarfilmen des NDR streben wir besondere Qualität
an. ‚Aghet‘ von Eric Friedler löst diesen Anspruch in eindrucksvoller Weise
ein – darin waren sich Publikum und Kritik einig. ‚DDR ahoi‘ und ‚Die
Anwälte‘ sind ebenfalls herausragende Produktionen, die beide sehr
unterschiedliche Aspekte der jüngeren deutschen Geschichte spannend
und informativ beleuchten. Allen Preisträgern gratuliere ich herzlich!“
Lutz Marmor, NDR Intendant
AGHET – EIN VÖLKERMORD (NDR)
Eric Friedler (Buch/Regie)
DDR AHOI (MDR/NDR)
Lutz Pehnert (Buch/Regie)
DIE ANWÄLTE – EINE DEUTSCHE GESCHICHTE (WDR/NDR/RBB/ARTE)
Birgit Schulz (Buch/Regie) | Katharina Schmidt (Schnitt)
47. GRIMME-PREIS 2011
73
Die Nominierungen zum Grimme-Preis 2011
INFORMATION & KULTUR
Geheimsache Ghettofilm (MDR / SWR / ARTE)
Archivmaterial von 62 Minuten Länge, ohne Ton und unbetitelt.
Bei Recherchen stellt sich heraus, dass deutsche Propagandafilmer
nur wenige Wochen vor der großen Deportation 1942 gezielt ins
Warschauer Ghetto geschickt wurden, um Szenen „jüdischen
Lebens“ für die Nachwelt zu inszenieren.
Produktion: BELFILMS; Buch / Regie: Yael Hersonski; Kamera: Itai Neemann, Yossi
Aviram; Schnitt: Joèlle Alexis; Musik: Ishai Adar; Sprecher: Julia Jäger, Carmen Maja
Antoni, Franziska Pigulla, Axel Thielmann; Redaktion: Dr. Katja Wildermuth; Erstausstrahlung: Mittwoch, 08.12.2010, 20.15 Uhr; Sendelänge: 87 Minuten
NoBody’s Perfect (ARD / WDR)
Der Film dokumentiert Niko von Glasows Suche nach elf Menschen,
die – wie er selbst – im Mutterleib durch Contergan geschädigt
wurden und bereit sind, sich für einen Bildband fotografieren zu
lassen. Nackt – damit die, die alltäglich verstohlene Blicke auf die
„Contis“ werfen, mal „ganz in Ruhe hinschauen“ können.
die story: Die Schiedsrichter (ARD / WDR)
Kaum jemand weiß, was Schiedsrichter fühlen, wenn sie den massiven Druck der Öffentlichkeit, die Beleidigungen der Fans und auch
die Beurteilungen aus dem eigenen Lager ertragen müssen. Eine
filmische Beobachtung von Spitzenschiedsrichtern im EM-Turnier.
Buch / Regie: Yves Hinant, Jean Libon; Redaktion: Sabine Bohland, Reiner Lefeber,
Ulrich Loke, Mathias We; Erstausstrahlung: Montag, 07.06.2010, 22.00 Uhr; Sendelänge: 45 Minuten
Lost Town (ARD / BR / WDR)
Anne Niemann und Johannes Ingrisch hatten gerade ihr Studium
abgeschlossen, als sie einen internationalen Architekturwettbewerb
gewinnen konnten. Ihre Idee: An der Ostküste Englands soll ein
Wahrzeichen gebaut werden, das die Küstenerosion veranschaulicht
und Touristenströme anlockt.
Produktion: Caligari Film, Gabriele M. Walther, Friedrich Steinhardt; Buch / Regie:
Jörg Adolph; Kamera: Jörg Adolph, Luigi Falorni, Josef Mayerhofer, Daniel Schönauer;
Schnitt: Anja Pohl; Ton: Jörg Adolph, Gereon Wetzel; Sounddesign: Bernd Schreiner;
Redaktion: Petra Felber (BR), Jutta Krug (WDR); Erstausstrahlung: Dienstag, 23.03.2010,
23.35 Uhr, Sendelänge: 90 Minuten
Produktion: Niko von Glasow, Anne-Sophie Quancard, Frank Henschke; Buch: Andrew
Emerson, Kiki von Glasow, Niko von Glasow; Regie: Niko von Glasow; Kamera: Ania
Dabrowska, Andreas Köhler; Schnitt: Mechthild Barth, Mathias Dombrink; Ton: Claas
Berger; Redaktion: Jutta Krug, Katja De Bock, Enno Hungerland; Erstausstrahlung:
Dienstag, 10.08.2010, 22.45 Uhr; Sendelänge: 83 Minuten
Die Frau mit den 5 Elefanten (3sat / ZDF / SF)
Swetlana Geier gilt als die wichtigste Übersetzerin russischer
Literatur ins Deutsche. Die fünf Elefanten sind die fünf großen
Romane Dostojewskijs, deren Übersetzung Swetlana Geier mit 69
Jahren in Angriff nahm und gerade vollendet hat.
Produktion: Filmtank / Thomas Tielsch, Mira Film / Hercli Bundi; Buch / Regie: Vadim
Der Dokumentarfilm: Hunger (ARD / SWR)
Der Film erzählt, wie Menschen, Gruppen und Organisationen
darum ringen, eine der schlimmsten sozialen, politischen und
ökonomischen Tragödien der Welt zu lösen: den Hunger. In fünf
Ländern, oft jenseits der Grenzen von Zivilisation und menschenwürdiger Existenz, sind die Autoren der Frage nachgegangen, warum bisher viele Konzepte von Entwicklungspolitik versagt haben.
Produktion: EIKON Südwest, Ernst Ludwig Ganzert; Buch: Marcus Vetter und Karin
Steinberger; Regie: Marcus Vetter; Kamera: Thomas Mauch, Marcus Vetter; Schnitt:
Saskia Metten; Musik: Peter Scherer; Redaktion: Gudrun Hanke-El Ghomri, Peter
Latzel; Erstausstrahlung: Montag, 25.02.2010, 22.45 Uhr; Sendelänge: 89 Minuten
Jendreyko; Kamera: Niels Bolbrinker, Stéphane Kuthny; Schnitt: Gisela CastroniJaensch; Ton: Patrick Becker; Musik: Daniela Almada, Martin Iannaccone; Redaktion:
Urs Augstburger, Marion Bornschier (SF), Inge Classen (3sat / ZDF); Erstausstrahlung:
Sonntag, 19.12.2010., 22.15 Uhr; Sendelänge: 93 Minuten
Auge in Auge (WDR / SWR)
Ein Film über die Liebe zum Kino, eine Entdeckungsreise durch
über hundert Jahre Film in Deutschland, die tausend Gründe nennt,
warum man den deutschen Film einfach lieben muss – und ein paar,
warum das manchmal nicht ganz so einfach ist.
Chancen (ZDF)
Lili, Pascal, Fabian, Amina und Sultan beteiligen sich am IMAL, dem
International Munich ArtLab. Zusammen mit 20 anderen Jugendlichen aus verschiedenen Nationen und Schichten haben sie dort die
Möglichkeit, innerhalb von zwei Jahren unter Anleitung ein MusikTheaterstück zu schreiben und auf die Beine zu stellen.
Produktion: Lüthje Schneider hörl FILM; Idee / Regie: Maike Conway; Kamera: Sarah
Rotter; Schnitt: Wolfgang Weigl, Maike Conway; Ton: Bastian Huber, Knut Karger,
Fabian Hentzen, Lisa Voelter; Protagonisten: Amina, Lili, Pascal, Fabian und Sultan;
Produktion: Preview Production, Joachim Schroeder; Buch / Regie: Michael Althen
Redaktion: Frank Seyberth, Milena Bonse; Erstausstrahlung: Montag, 22.11.2010, 0.10
und Hans Helmut Prinzler; Kamera: Matthias Benzing; Schnitt: Tobias Streck; Musik:
Uhr; Sendelänge: 84 Minuten
Robert Papst & Christian Birawsky; Mit: Michael Ballhaus, Doris Dörrie, Andreas Dresen,
Dominik Graf, Wolfgang Kohlhaase u.a.; Redaktion: Jutta Krug (WDR), Kurt Schneider
(SWR); Erstausstrahlung: Donnerstag, 28.01.2010, 22.45 Uhr; Sendelänge: 85 Minuten
Kleine Wölfe (ZDF)
Söffgen, Dennis Wienecke; Ton: Jochen Engelberg; Schnitt: Gaby Biesterfeldt; Redak-
Ein Porträt des elfjährigen nepalesischen Straßenjungen Sonu.
Zusammen mit etwa zehn anderen Kindern lebt er auf den Straßen
von Katmandu. Der Film begleitet Sonu und sein „Rudel“ bei ihrem
routinierten Kampf ums Überleben in der chaotischen Hauptstadt. Immer auf der Suche nach Essen, leichtgläubigen Touristen,
Drogen, aber vor allem – so wie kleine Jungs nun einmal sind –
nach Spaß und Abenteuer.
tion: Christoph Mestmacher-Steiner; Erstausstrahlung: Mittwoch, 12.01.2011, 22.45
Produktion: Justin Peach; Idee: Andreas Volz; Regie / Kamera: Justin Peach;
Uhr; Sendelänge: 44 Minuten
Buch / Schnitt: Lisa Engelbach; Ton: Andreas Fitza; Redaktion: Martin Ordoff (ZDF);
Wohin marschiert die Armee? (ARD / NDR)
Eine kritische Bestandsaufnahme der Bundeswehr, die jahrelang
zwischen Vernachlässigung und Überforderung marschierte.
Produktion: NDR; Buch / Regie: Hubert Seipel; Kamera: Alexander Beckmeier, Stefan
Erstausstrahlung: Mittwoch, 11.08.2010, 0.45 Uhr; Sendelänge: 48 Minuten
47. GRIMME-PREIS 2011
Mauerhase (ARD / MDR / rbb / ARTE)
75
Was bleibt sind wir (ARD / WDR)
Die Geschichte der Mauer aus der Perspektive von Kaninchen, die
sich zu Tausenden im sogenannten Todesstreifen tummelten und
dort praktisch ohne Feinde und ohne jeden Argwohn inmitten
üppigen Grüns ein paradiesisches Leben führten. Ein Film, der
vermeintlich als Naturfilm beginnt – und als Parabel endet. Intelligent, mehrdeutig, kreativ.
Ein Film über die Menschen im Ruhrgebiet und eine Landschaft, in
der heute scheinbar nur noch Industriedenkmäler daran erinnern,
dass das Leben hier über viele Jahrzehnte von der Schwerindustrie
geprägt war. Und eine Spurensuche um zu erfahren, wie der
Abschied von Kohle und Stahl das persönliche Leben der Menschen
im Ruhrgebiet verändert hat.
Produktion: MA.JA.DE Filmproduktion GmbH und MS Films; Buch: Bartek Konopka,
Produktion: Kubny & Schnell Film- und Fernsehproduktion mit Werner Kubny Film-
Piotr Rosolowski; Regie: Bartek Konopka; Kamera: Piotr Rosolowski; Schnitt: Mateusz
produktion in Koproduktion mit WDR und WDR mediagroup; Buch: Günter Bäcker,
Romanszkan; Redaktion: Dr. Katja Wildermuth (MDR), Dagmar Mielke (rbb / ARTE),
Werner Kubny; Regie: Werner Kubny, Per Schnell; Kamera: Werner Kubny, Per Schnell;
Jadwiga Nowakowska (TVP), Jenny Westergard (YLE), Wim Van Rompaey (Lichtpunkt),
Schnitt: Christoph Tetzner-Kannen, Rainer Nigrelli; Musik: Rainer Quade; Ton:
Nathalie Windhorst (VPRO); Erstausstrahlung: Sonntag, 07.03.2010, 23.35 Uhr;
Jürgen Brügger, Rosalie Kubny, Alexander Weuffen; Sprecher: Jürg Löw; Redaktion:
Sendelänge: 40 Minuten
Beate Schlanstein; Erstausstrahlung: ab Freitag, 26.11.2010, 20.15 Uhr; Sendelänge:
je 44 Minuten
Musik mon amour (ZDF / ARTE)
Eine japanische Geigerin, ein deutscher Komponist und eine israelische Sängerin, die bei ihrer künstlerischen Arbeit in Los Angeles,
München, Ulan-Bator, Paris, Jersualem, Madrid, Dessau und Frankfurt / Oder begleitet werden, schildern ihre große Liebe zur Welt der
Musik. Es sind intime und intensive Geschichten, die von Lust und
Leid, von Freude und Ekstase, von Krisen und Kämpfen, Trauer und
Schmerz handeln.
Deutschland von oben (ZDF) (3 Folgen)
Produktion: Moving Images, Bernhard Fleischer; Buch: Daniela Schmidt-Langels,
„Deutschland von oben“ präsentiert das Land ausschließlich aus
der Vogelperspektive. Über ein komplettes Jahr flog ein Filmteam
mit Hubschrauber, Ultraleichtflugzeug oder Motorflugzeug über
Deutschlands Landschaften und Städte. Die Alpen und die Mittelgebirge, die Heidelandschaften und das Wattenmeer, die großen
urbanen Zentren und das ländliche Idyll – kaum eine Region in
Deutschland gleicht der anderen.
Günther Huesmann; Regie: Daniela Schmidt-Langels; Kamera: Isabelle Casez, York
Produktion: colourFIELD, Svenja Mandel; Buch / Regie: Petra Höfer, Freddie Röcken-
Massur; Schnitt: Anette Fleming; Ton: Tilo Feinermann; Redaktion: Sabine Bubeck-Paaz
haus; Idee: Alexander Hesse; Helikopter-Kamera: Peter Thompson; Kamera: Marcus
(ZDF); Erstausstrahlung: Sonntag, 05.09.2010, 22.50 Uhr; Sendelänge: 94 Minuten
von Kleist u.a.; Schnitt: Jörg Wegner u.a.; Sprecher: Leon Boden; Redaktion: Alexander
Hesse, Friederike Haedecke; Erstausstrahlung: 23.05. / 30.05. / 06.06.2010, jeweils
Wir sitzen im Süden (ZDF)
„Wir sitzen im Süden“ lautet die Antwort auf gelegentliche Fragen
der Kunden nach dem Standort der Firma. Die Call-Center-Agents,
die fränkisch, badenserisch oder auch hochdeutsch sprechen, sitzen
tatsächlich im Süden – in klimatisierten Großraumbüros mitten in
Istanbul. Deutsche Firmen von Lufthansa bis Neckermann finden
hier für wenig Lohn qualifizierte Arbeitskräfte.
Produktion: pangeafilm, Claudia Wolf; Buch / Regie: Martina Priessner; Kamera: Anne
Misselwitz; Schnitt: Bettina Blickwede; Ton: Robert F. Kellner; Erstausstrahlung:
Montag, 29.11.2010, 0.10 Uhr; Sendelänge: 90 Minuten
sonntags, 19.30 Uhr; Sendelänge: je 45 Minuten
INFORMATION & KULTUR: SPEZIAL
Hubert Seipel für seine bemerkenswerten Dokumentationen
(„Wohin marschiert die Armee?“, „Gier und Größenwahn“, „Die Welt
des Josef Ackermann“) im TV-Jahr 2010.
Johannes Unger für die Projektidee / Leitung und Andreas Dresen
für die künstlerische Leitung von 20x Brandenburg (rbb).
Somalia – Land ohne Gesetz (ZDF)
Von der UNO als gescheiterter Staat deklariert, ist Somalia ohne
Zweifel das gefährlichste Land der Erde. Etwa eine Million Somalier
haben in fast 20 Jahren Bürgerkrieg ihr Leben verloren, weitere
zwei Millionen sind auf der Flucht. Dem ZDF-Autor Ashwin Raman
gelingt es, bei allen verfeindeten Gruppen zu filmen, nicht selten
unter Gefährdung seines eigenen Lebens.
Produktion: Rolf Erbelding-Lotz, Dongxia Tunisch; Buch / Regie / Kamera: Ashwin
INFORMATION & KULTUR: PREISTRÄGER
Aghet – Ein Völkermord (ARD / NDR)
ausführlich ab Seite 78
Raman; Schnitt: Dietmar Deißler; Redaktion: Paul Amberg; Erstausstrahlung:
Iran Elections 2009 (WDR / ARTE)
Mittwoch, 21.04.2010, 22.45 Uhr; Sendelänge: 45 Minuten
ausführlich ab Seite 80
INFORMATION & KULTUR: SERIEN & MEHRTEILER
Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte (WDR / NDR / rbb /
ARTE)
ausführlich ab Seite 82
KlickKlack (Musik-Magazin) (ARD / BR)
KlickKlack ist ein neues Musikmagazin und Fernsehformat, in dem
zwei Weltstars der Klassikszene – die Cellistin Sol Gabetta und der
Schlagzeuger Martin Grubinger – direkten Einblick in ihre Arbeit, in
ihre Musik und in ihr Denken geben. Mit einer extrem subjektiven
Kamera soll der Zuschauer das Gefühl haben, mitten im Geschehen
zu sein – mit dabei bei der Probe oder im Konzert.
Moderation: Cellistin Sol Gabetta und Schlagzeuger Martin Grubinger; Redaktion: Alexander Hellbrügge; Sendestart: ab 11.08.2009, 23.25 Uhr; Sendelänge: je 30 Minuten
DDR Ahoi! (ARD / MDR / NDR)
ausführlich ab Seite 84
20x Brandenburg (rbb)
ausführlich ab Seite 86
76
47. GRIMME-PREIS 2011
NoBody‘s Mauerhasen
Aus der Nominierungskommission Information & Kultur
V
ier Frauen und drei Männer, gemischt nach Alter und west-östlicher
Sozialisation, machen sich auf die Suche nach Vorbildern für die
Fernsehpraxis. Wer hat im letzten Jahr die Möglichkeiten des Mediums
Fernsehen auf hervorragende Weise genutzt? In drei Sitzungswochen
sichten wir über 300 Filme, die von Sendern, Produktionsfirmen oder
Zuschauern vorgeschlagen wurden.
Als Neuling in der Runde bin ich zunächst irritiert: Im Kino gehe ich so gut
wie nie vorzeitig und gebe jedem Film
seine Chance, sich zu entwickeln – hier
sehen wir immer nur Häppchen, zehn
bis 20 Prozent eines Beitrags werden
angeschaut. Anders geht es nicht aus
Zeitgründen, wird mir erläutert. Man
kann jedoch Filme mitnehmen, um sie zuhause in Ruhe anzusehen. Ich
bin beruhigt.
von Holger Kühne
Im Wettbewerb bleiben aber die „Mauerhasen“, obwohl dies ja eigentlich
Karnickel sind. Lange lebten sie auf dem Mauerstreifen, zwischen Ost
und West. Ihre Probleme begannen erst mit der Maueröffnung, denn
der Todesstreifen war ihre Überlebensgarantie, da er alle Feinde fern
hielt. Uns gefallen die ungewöhnlichen Bilder und der kreative Blick,
eine humorvolle und doch ernste Auseinandersetzung mit der deutschen Teilung. Ebenfalls nominiert werden „Irans Elections 2009“, eine
Beeindruckende Auftritte der Protagonisten fesseln die
Aufmerksamkeit, wir sind gebannt von der schnörkellosen
Darstellung zwischen Aufbruch, Gewalt, Knast und Reichtum.
Direkt nach dem Sichten jedes Beitrags gibt es eine Diskussion und
Abstimmung: Durchgefallen und raus oder möglicher Kandidat und
Verbleib in der Warteschleife? Die Debatten verlaufen engagiert und
zügig, jeder kommt zu Wort. Manchmal sind wir uns schnell einig, im
positiven wie im negativen Votum. Meistens gibt es aber viele Einschätzungen und Argumente auszutauschen, die eine oder andere Abstimmung fällt auch knapp aus.
Im Jahr der Fußball-WM führen uns viele Filme nach Afrika. Im Windschatten des Sports wollen sie unsere Aufmerksamkeit auf einen Kontinent lenken, der oft wenig beachtet wird. Leider können uns die meisten
Dokumentationen so gar nicht überzeugen, bunte Bilder allein reichen
eben nicht. Angetan sind wir dagegen von der „Ehre der Paten“ über die
russische Mafia in Europa. Beeindruckende Auftritte der Protagonisten
fesseln unsere Aufmerksamkeit, wir sind gebannt von der schnörkellosen Darstellung eines Lebens zwischen Aufbruch, Gewalt, Knast und
Reichtum. Der vom Sponsoring profitierende Sportler spricht es ebenso
offen wie naiv aus: „Mafia? Die gibt es heute nicht mehr, das sind alles
seriöse Geschäftsleute.“ Andere nennen das lupenrein. Aber die Konkurrenz guter Filme aus dem Jahr ist groß, und so schafft dieser es am Ende
doch nicht, nominiert zu werden.
gelungene Collage aus YouTube-, Facebook- und Twitterbeiträgen über
landesweite Proteste, die nicht in offiziellen Medien gezeigt werden. In
der DDR wurden nach dem Mauerfall noch Telegramme für kurzfristige
Nachrichten benutzt. Was wäre gewesen, wenn es damals schon Handy,
Internet und soziale Netzwerke gegeben hätte?
In einer kleinen Zwischenbilanz stellen wir fest: Es gibt viele Beiträge
über Musik und Musiker, aber auch über Männer, Väter und Überväter.
Im chinesischen Horoskop ist 2010 das Jahr des Tigers, diese sind ja
angeblich sehr erfolgsorientiert und haben den Mut zum Risiko. Aber
wir bleiben realistisch und glauben nicht an übersinnliche Kräfte.
Fernsehen ist eine Einbahnstraße. Filme, die bei der Kritik einhellig
gelobt werden, stoßen nicht zwangsläufig auf das Wohlwollen und
Interesse der Zuschauer. Die Platzierung außerhalb der Prime-Time ist
eine zusätzliche Hürde für engagierte Dokumentarfilme. Es gibt jedoch auch Filme, bei denen wir uns fragen, wen die Autoren dabei im
Blick hatten. Mir geht der Gedanke durch den Kopf: Was wäre, wenn
uns Filmemacher hier sehen könnten, wie wir in der Gruppe gebannt
auf die Bildschirme gucken? Würden sie ihren Film immer noch so
machen? Manches Lob in der Debatte klingt ein wenig vergiftet: „Gut
gemachte Konfektionsware, aber bitte wo ist das Vorbildliche, Besondere, Wegweisende?“ Wenn dann noch die Quellenhinweise für das
verwandte Dokumentarmaterial fehlen, ist unser Urteil schon so gut wie
gefällt.
Foto: WDR / Greenwave Film
In der Nominierungskommission sitzen keine Raucher, was nicht nur
Vorteile hat und auch neue Fragen aufwirft. Ein Ersatz für die klassische Raucherpause ist noch nicht erfunden. „Komm‘, wir gehen ein
Bonbon lutschen“, klingt irgendwie blöd. Ein Film über die neue Form,
ökologisch korrekt eine Pause einzufordern, ist jedoch leider nicht in der
Vorschlagsliste dabei und so bleiben wir in dieser Hinsicht auf uns selbst
angewiesen. Können wir mal lüften?
Beklemmende Collage: „Iran Elections 2009“
Obwohl wir uns manchmal wie in einer Mönchsklausur fühlen, erreicht
uns während der zweiten Sitzungswoche ein Offener Brief der AG DOK,
einem der größten Filmverbände Deutschlands. Die Autoren kritisieren
die „thematische und visuelle Monokultur“ der ARD-Programmpolitik.
Wir verabschieden eine Resolution und unterstützen die Forderung
der Dokumentaristen, einen festen dokumentarischen Sendeplatz am
Montag im „Ersten“ zu erhalten. Dann sind wir schon wieder in Afghanistan, sehen „Die Anwälte“ und blicken auf „20x Brandenburg“.
47. GRIMME-PREIS 2011
77
Nominierungskommission
Information & Kultur
von links nach rechts
Brigitte Zeitlmann-Krüger, Barbara
Sichtermann, Heike Heinrich, Holger
Kühne, Dr. Susanne Schmetkamp,
Foto: Grimme / Jorczyk
Hans-Heinrich Obuch, Fritz Wolf
Markus Vetter und Karin Steinberger beeindrucken uns mit ihrem Film
„Hunger“. Exemplarisch und doch umfassend gehen sie mit Darstellungen aus fünf Ländern dem wohl schlimmsten Problem unserer Zeit
nach. Jeder siebte Mensch auf der Erde hungert, obwohl weltweit zehn
Prozent mehr Lebensmittel produziert werden als man benötigt, um
alle Menschen satt zu bekommen. Der Film zeigt, dass es keine einfachen Lösungen gibt und überzeugt vor allem durch die eindringliche
Darstellung, die auf Skandalisierungen verzichtet. Besonders gefällt uns,
dass in dieser großen Reportage nicht Expertenanalysen im Vordergrund stehen, sondern vor allem Betroffene und Einheimische zu Wort
kommen.
zwischen den Contergan-Geschädigten sind sehr persönlich und nah. Er
schafft es, das Leben mit der Behinderung in allen Facetten zu zeigen,
ohne dass einer der Protagonisten vorgeführt wird. 50 Jahre nach
Beginn des Medikamentenskandals ist das Thema heute noch hochaktuell. Der von der Herstellerfirma Grünenthal in eine Stiftung eingebrachte
Betrag für Entschädigungen war bereits 1987 aufgebraucht, die heutigen Zahlungen werden allein von der Bundesrepublik finanziert. Dabei
gilt es nun, die Behandlung von Spätschäden zu ermöglichen.
Am Ende der Sichtungen und mehrerer Entscheidungsrunden sind wir
erschöpft, aber zufrieden. Wir haben eine Auswahl aus der Auswahl
getroffen, abgestimmt, diskutiert, wieder abgestimmt und schließlich
16 Filme nominiert. Für einen kurzen Moment lehnen wir uns zurück.
Und wundern uns ein bisschen, dass Musik und (Über-)Väter doch nicht
so dominant unsere Entscheidungen bestimmt haben. Aber dann entsteht schon die nächste Frage: Wie wird die Jury entscheiden? Jeder
hat seinen persönlichen Favoriten und ist nun gespannt, wer einen
Preis erhalten wird. Eine Gewissheit haben wir schon: Entgegen anders
lautender Gerüchte bekommt man vom Filmegucken keine viereckigen
Augen. Man bekommt ja auch kein Mondgesicht, nur weil man nachts
den Vollmond anschaut.
Während wir uns auf die Filme konzentrierten und schon wieder keine
Raucherpause gemacht haben, werden wir verwöhnt vom Rundumsorglos-Service des Grimme-Instituts. Wir müssen uns weder um die
Technik noch um ein Protokoll kümmern, es gibt Essen und Getränke
in Hülle und Fülle. Trotz der Sinnesfreuden behalten wir aber einen
kritischen Blick, und „Rock Hudson – Schöner fremder Mann“ findet am
Ende nicht den Weg auf die Nominierungsliste.
„NoBody‘s Perfect“ von Nico von Glasow macht mit dem Titel eine
verschmitzte Anleihe bei der Schlussszene von Billy Wilders „Manche
mögen‘s heiß“ und beschreibt damit schon den Tenor des Films. Ein
ernstes Thema wird engagiert und hautnah mit zum Teil schwarzem
Humor inszeniert. Selbst durch Contergan geschädigt, macht von
Glasow sich auf den Weg zu anderen „Contis“, um sie dazu zu bewegen, sich für einen Bildband nackt fotografieren zu lassen. Die Bilder,
im Großformat auf der Kölner Domplatte ausgestellt, provozieren alle
Passanten, die vorübergehen.
Holger Kühne
arbeitet er als Programmbereichsleiter in der VictorGollancz-Volkshochschule Steglitz-Zehlendorf. Darüber
hinaus ist er Vertreter des Landes Berlin im Bundesarbeitskreis Gesundheit des DVV und war mehrmals
Foto: NDR / Höderath
Mitglied einer Berlinale-Leserjury.
Foto: MDR / Hoferichter & Jacobs
Foto: WDR / Greenwave Film
Von Glasow geht professionell mit dem Thema um. Die Begegnungen
Foto: PHOENIX / Bildersturm Filmprod.
Pädagoge und hat an der FU Berlin studiert. Seit 1998
Foto: Aenne Burghardt
Holger Kühne, geboren 1952 in Berlin, ist Diplom-
78
47. GRIMME-PREIS 2011
Grimme-Preis Information & Kultur
Aghet – Ein Völkermord
ARD / NDR
Foto: NDR / Höderath
INFORMATION & KULTUR
Produktion: Trebitsch Entertainment
Produktion: Trebitsch Entertainment,
Katharina Trebitsch
Buch / Regie: Eric Friedler
Kamera: Hanno Lentz, Christoph
Chassée, Chris Völschow, Thorsten Lapp,
Thomas Hammelmann, Torben Müller
Schnitt: Florentine Bruck
Musik: Michael Klaukien, Andreas
Lonardoni
Sprecher: Gert Heidenreich
Redaktion: Thomas Schreiber
Erstausstrahlung: Freitag, 09.04.2010,
23.30 Uhr
Sendelänge: 90 Minuten
Aghet – Ein Völkermord
Es ist diese eine Frage, die im Raum steht, die so einfach und zugleich so schwer ist: Warum? Warum weigern
sich die Türkei und einige ihrer Verbündete, den Genozid an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges, der
so einwandfrei dokumentiert ist, anzuerkennen. Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan fasst in einem Satz
das Dilemma zusammen, in dem die Armenier im Kampf um die Anerkennung dieses Völkermordes immer noch
stecken: „Wir werden einen solchen Vorwurf nie akzeptieren.“ Auch deshalb steht die Erwähnung des Genozids
in der Türkei nach wie vor unter Strafe. Aber tausende Dokumente dienen als Beweis: Der Völkermord hat stattgefunden. In bewegenden Interviewsequenzen verkörpern zahlreiche Schauspieler verschiedene Augenzeugen der damaligen Zeit. Sie schildern den Hass und die Hoffnungslosigkeit. Gottfried John, Friedrich von Thun,
Maria Schrader oder auch Hannah Herzsprung – sie geben diesen Menschen ein Gesicht. Eric Friedler dokumentiert, wie die Regierung der Jungtürken unter dem Eindruck einer bevorstehenden Staatsgründung der Armenier
den Hass auf die Volksgruppe schürte. Die ethnische Minderheit hätte sich auf Kosten der Türkei bereichert, hieß
es da. Sie wollten die Türken beherrschen und hätten sich obendrein im Krieg noch mit dem Erzfeind Russland
verbündet. Es folgten Deportationen und Todesmärsche. Die Fahrkarte mit dem Zug in den Tod mussten die
Armenier zynischerweise auch noch aus eigener Tasche bezahlen. Nach Expertenschätzungen kamen beim Genozid
zwischen 500.000 und 1,5 Millionen Menschen ums Leben.
47. GRIMME-PREIS 2011
Eric Friedler
(Buch / Regie)
Eric Friedler
Eric Friedler, 1971 in Sidney geboren, arbeitete nach
einem Volontariat in New York für amerikanische Rundfunk- und Printmedien. Seit 1994 realisierte er als Regisseur international beachtete Dokumentarfilme. Beim
NDR betreute er als Redakteur seit 2002 etliche preis-
für
Aghet – Ein Völkermord
(ARD / NDR)
gekrönte Dokumentar-, Spiel- und Fernsehfilme. 2010
übernahm er die Leitung der Abteilung Sonderprojekte
für Dokumentarfilm und Dokudrama. Zahlreiche seiner
Filme wurden international und national ausgezeich-
Produktion: Trebitsch Entertainment
net, u. a. mehrfach mit dem Deutschen Fernsehpreis
und dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis.
BEGRÜNDUNG DER JURY:
„Aghet“ von Eric Friedler ist ein Glücksfall – trotz seiner bestürzenden
Thematik. Denn der Film über den Völkermord an den Armeniern entreißt
diese von vielen ignorierte Katastrophe, die ab 1915 rund 1,5 Millionen
Menschen das Leben kostete, dem Vergessen. „Aghet“ zeigt aber vor
allem auch, wie aktuell und kontrovers sie bis heute bleibt. Dabei bietet
Friedlers Film nicht nur eine hervorragend recherchierte Dokumentation
des so lange verleugneten Völkermords im nahen Osten. „Aghet“ schlägt
zudem gekonnt gleich mehrere Brücken in die heutige Zeit.
Die augenfälligste ist die zwischen den historischen Ereignissen während des Ersten Weltkriegs und der heutigen Situation in der Türkei. Die
Ermordung des armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink, einer der
Ausgangspunkte von Friedlers Recherchen, belegt dabei eindrucksvoll,
dass die Frage nach dem Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich
„untrennbar mit der Frage der Meinungsfreiheit in der heutigen Türkei
verknüpft ist“ (Orhan Pamuk).
Foto: NDR / Bertold Fabricius
Grimme-Preis
an
79
„Der Grimme-Preis gilt seit 47 Jahren als die Messlatte für qualitativ hochwertiges und innovatives
Fernsehen. Eine Messlatte, die bekanntlich sehr
hoch hängt. Diesen Preis zu gewinnen bedeutet
somit für mein Team und mich eine großartige
Anerkennung. Auf die Frage, wie man sich nach
dem Gewinn eines Preises fühle, soll der wunderbare Dieter Hildebrandt einmal schlicht geantwortet haben: ,Ausgezeichnet.‘ Dem ist nichts
mehr hinzuzufügen.“
Eric Friedler
So zeigt „Aghet“ ganz konsequent, wie groß noch heute das Trauma des
Völkermords und seines Abstreitens bei den Armeniern ist. Der Film belegt zudem, dass auch im 21. Jahrhundert vermeintliche diplomatische
Notwendigkeiten und politstrategische Rücksichtnahme mehr zählen
als die historische Wahrheit – und ein amerikanischer Politiker, der als
US-Senator den Völkermord noch beim Namen nannte, jetzt als USPräsident unter Wortfindungsstörungen leidet.
Die Früchte jahrelanger Kleinarbeit in Archiven sind dabei nicht nur
zeitgenössische Filmsequenzen aus der Zeit vor und während des
Genozids. Durch die Einbeziehung von Tagebuchnotizen, offiziellen
Depeschen und privater Korrespondenz damaliger Augenzeugen aus
westeuropäischen Staaten und den USA – darunter neben Diplomaten
auch Krankenschwestern, Lehrer und Geistliche – gewinnt der Film eine
zusätzliche Authentizität.
Foto: NDR / Höderath
Auch hier beschreitet Friedler seinen ganz eigenen Weg und begnügt
sich nicht damit, die besagten Schriftstücke in bekannter Manier
abzufilmen. Dass in „Aghet“ die erste Garde deutscher Schauspieler
– von Martina Gedeck über Ludwig Trepte bis zu Hans Zischler oder
Burkhard Klausner – diese Briefe und Gedanken vortragen, dürfte – und
sollte – Schule machen. Denn diese Art, dokumentarische Texte zum
Leben zu verhelfen, umschifft gekonnt alle Probleme und Fragwürdigkeiten des in historischen Dokumentationen mittlerweile handelsüblichen fiktiven Nachspielens. Und wirkt in der sparsamen Inszenierung
ungleich persönlicher und eindringlicher.
Szene aus „Aghet – Ein Völkermord“
80
47. GRIMME-PREIS 2011
Grimme-Preis Information & Kultur
Iran Elections 2009
WDR / ARTE
Foto: WDR/Greenwave Film
INFORMATION & KULTUR
Produktion: Dreamer Joint Venture
Produktion: Dreamer Joint Venture,
Jan Krüger, Oliver Stoltz
Buch / Regie: Ali Samadi Ahadi
Redaktion: Sabine Rollberg, Mathias
Werth, Sabine Bohland
Erstausstrahlung: Mittwoch, 22.06.2010,
20.15 Uhr
Sendelänge: 52 Minuten
Iran Elections 2009
„Das, was an diesem Samstag passierte, war das Ende der Republik“, erzählt ein ehemaliger Milizionär. Und tatsächlich: Was an jenem warmen 26. September 2009 auf den Straßen Irans geschieht, hat vieles verändert. Massen
demonstrieren da gegen die manipulierten Wahlen des Regimes von Präsident Mahmud Ahmadinedschad und
Ayatollah Khamenei. „Iran Elections 2009“ dokumentiert die „grüne Revolution“ aus der Sicht von direkt Beteiligten. Der Film schafft es, den Menschen der Generation Web 2.0, die ihr Vorgehen weitgehend anonym über Blogs
koordinieren, ein Gesicht zu geben. Durch die ausgeklügelte Optik, die comichaften Animationen und erschütternden Augenzeugenberichte wird der Film zu einer brutalen, visuellen Qual. Alle Menschen, die auf die Straße
gehen, beschäftigt nur eine einzige Frage: „Where is my vote?“ Aber viele, die diese Frage äußern, werden verfolgt,
misshandelt oder gar ermordet. „Iran Elections 2009“ erzählt vor allem auch die Geschichten abseits der Fernsehkameras. Dank Smartphones sind die brutalen Menschenrechtsverletzungen des Regimes ausführlich dokumentiert. Wer erinnert sich nicht an Neda? Die junge Demonstrantin, die von Scharfschützen auf offener Straße
erschossen wird. Brutale Bilder – aber auch das ist die Realität. Die Wahlen 2009 haben den Iran verändert – zwar
ist Ahmadinedschad nach wie vor Präsident, doch die „grüne Revolution“ kämpft weiter für einen freien, gerechten
Iran. Eine Bloggerin zieht traurig Bilanz: „Für wenige Wochen hatten wir das Gefühl, unserem Ziel so nah zu sein
wie nie zuvor.“
47. GRIMME-PREIS 2011
Ali Samadi Ahadi
(Buch / Regie)
Oliver Stoltz
(Produktion)
Jan Krüger
(Produktion)
Ali Samadi Ahadi
Ali Samadi Ahadi, 1972 in Täbris / Iran geboren, floh mit
13 Jahren nach Deutschland. Er studierte Sozialwissenschaften, Design für elektronische Medien und Visuelle Kommunikation. Er ist Autor für Spiel- und Dokumentarfilme und Regisseur für Film und Theater. 2006
gewann er den Deutschen Filmpreis in Gold für „Lost
Children“. 2008 erhielt seine Komödie „Salami Aleikum“
den NDR-Nachwuchs-Filmpreis. Die Kinofassung von
„Iran Elections 2009“ lief unter dem Titel „The Green
Wave“ als einziger deutscher Beitrag im Wettbewerb
des Sundance Filmfestivals 2011.
für
Iran Elections 2009
(WDR / ARTE)
Foto: Paul Schöpfer
Grimme-Preis
an
81
Oliver Stoltz
Oliver Stoltz wurde 1969 geboren und hat an der HFF
Konrad Wolf, sowie an der University of Southern Ca-
Produktion: Dreamer Joint Venture
lifornia, L.A. Filmproduktion studiert. 1997 gründete er
die Dreamer Joint Venture Filmproduktion und produzierte seitdem TV- und Dokumentarfilme für alle
Disney, X-Filme und Senator. Mit „Lost Children“ (2005)
debütierte er als Autor und Regisseur. Oliver Stoltz
erhielt neben zwei Deutschen Filmpreisen viele Aus-
Das Grün im Iran war aus dem Bewusstsein der Weltöffentlichkeit alsbald verschwunden. Andere Themen rückten im Sommer 2009 in der
globalen Medienagenda auf. Dabei hat die „grüne Welle“ genannte
Bewegung, die bei der Präsidentschaftswahl gewaltsam niedergeschlagen wurde, nicht vollends ihre Kraft eingebüßt. Präsident Ahmadinedschads Gegner gehen heute wieder auf die Straße. Warum setzen sie
sich den Gefahren weiter aus? Der Deutsch-Iraner Ali Samadi Ahadi
sucht nach Erklärungen, arbeitet Vergessenes wieder auf. Sein Film „Iran
Elections 2009“ ist journalistisch glänzend gemachtes Fernsehen, aber
nicht nur. Er überzeugt auch visuell.
zeichnungen und kam 2011 mit „Life, Above All“ auf die
Oscar Short-List für den „Besten ausländischen Film“.
Jan Krüger
Jan Krüger wurde 1981 in Oldenburg geboren. Nach einem zweijährigen Wirtschaftsstudium in Hamburg ging
Jan Krüger an die HFF Potsdam, um Filmproduktion zu
studieren. Parallel dazu arbeitete er als freier Producer
und realisierte diverse Musik- und Kurzfilme. Sein Abschlussfilm „Leroy“ gewann 2008 den Deutschen Filmpreis als Bester Kinder- und Jugendfilm. Zusammen
Die Ansprache des Films ist emotional, pathetisch, aber immer authentisch. Von Grausamkeiten ist zu hören. Die Trickbilder nehmen sich
dagegen zurück. Ali Samadi Ahadi wählt nicht die ausschließliche Form
des „Dokumentarfilms im Trickgewand“, wie es Ari Folman mit „Waltz
with Bashir“ vormachte. Er bittet Exiliraner fern ihrer Heimat zum Interview, damit sie berichten, analysieren, anklagen. Realmaterial und
Animation sind klug montiert. Aus der Collage entsteht ein eindringliches Zeitgemälde, ein – Walter Kempowskis „Echolot“ lässt grüßen
– kollektives Tagebuch, das sich die Mittel moderner Kommunikation
zunutze macht. Die neuen, die sozialen Medien werden hier fürs dokumentarische Fernsehen wegweisend umgesetzt. Und nicht zuletzt kann
das alte Medium durch diese Collagetechnik auch ein jüngeres, an Politik eher uninteressiertes Publikum gewinnen.
Die Politik gibt unablässig den Stoff her für neue Filme. Nach den
blutigen Junitagen trauen sich viele Iraner wieder zum offenen
Protest, ermutigt von den verhältnismäßig gewaltarmen Umwälzungen
in Tunesien und Ägypten. Die politische Landkarte in Nordafrika und
Nahost wird gerade dramatisch neu geordnet. Das Fernsehen muss diesen Prozess begleiten. Wie man es hervorragend machen kann, beweist
„Iran Elections 2009“.
mit Ali Samadi Ahadi realisierte er auch die Komödie
„Salami Aleikum“. Jan Krüger ist seit Herbst 2010 geschäftsführender Partner und Produzent der Port Au
Prince Film & Kultur Produktion GmbH in Berlin.
„Uns ist dabei bewusst, dass dieser Film ohne die
mutigen und freiheitsliebenden Menschen im
Iran, die ihr Leben tagtäglich riskieren und nicht
aufhören nach ihren fundamentalen Rechten zu
fragen, nicht entstanden wäre.“ Ali Samadi Ahadi
Foto: WDR/Greenwave Film
Aus der Not, keine realen Augenzeugen abbilden zu dürfen, macht Ali
Samadi Ahadi einen: Comic. Er visualisiert in animierten Illustrationen,
was die Netzwelt an Worten und Bildern über Irans Protesttage hergibt. Videos, Blogs und Tweets sind Ali Samadi Ahadis Quellen, die er
in den fiktiven Biografien zweier Studenten verdichtet. Die Kunstfiguren Azadeh und Kaveh bringen einem den Schrecken des Wahlsommers
nahe. Sie stehen exemplarisch für die sehr junge Gesellschaft der Islamischen Republik. Eine Gesellschaft, der das eigene Land, in Azadehs
Worten, zum „Gefängnis“ geworden ist.
Foto: Olivier Kolb
BEGRÜNDUNG DER JURY:
Foto: Nicola Satori
deutschen TV-Sender und Kinofilme für Warner Bros.,
Comichafte Animation aus „Iran Elections 2009“
82
47. GRIMME-PREIS 2011
Grimme-Preis Information & Kultur
Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte
(WDR / NDR / rbb / ARTE)
Foto: WDR / picture-alliance dpa
INFORMATION & KULTUR
Produktion: Bildersturm
Produktion: Bildersturm
Buch / Regie: Birgit Schulz
Kamera: Isabelle Casez, Axel Schneppat
Schnitt: Katharina Schmidt
Ton: Pascal Capitolin, Markus Löbel,
Tilo Busch
Musik: Luramon
Redaktion: Christiane Hinz (WDR), Silvia
Gutmann (NDR), Jens Stubenrauch (rbb),
Andrea Ernst (WDR / arte)
Erstausstrahlung: Freitag, 07.01.2011,
21.55 Uhr
Sendelänge: 90 Minuten
Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte
Drei schwarze, leere Stühle stehen in dem kleinen Gerichtssaal. Sie stehen für Otto Schily, Hans-Christian Ströbele,
Horst Mahler – drei Persönlichkeiten, drei Ideologien, drei Lebenswege. In „Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte“
zeigt Birgit Schulz, wie verschiedene Umstände dazu geführt haben, dass drei ehemalige Freunde mittlerweile ganz
unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen haben. Ex-Innenminister, Pazifist, verurteilter Holocaust-Leugner –
so könnte man den Status Quo von Schily, Ströbele und Mahler beschreiben. Dabei eint die drei Weggefährten
damals der Widerstand gegen die Autorität der Bundesrepublik. Für jeden gibt es ein Schlüsselerlebnis, in dem die
Opposition gegen die Staatsgewalt begründet liegt. Für Ströbele ist es die Brutalität, mit der die Polizei gegen die
Demonstranten beim Schah-Besuch in Berlin 1967 vorgegangen ist. Mahler wurde nach den Unruhen gegen den
Springerverlag angeklagt. Schily und Ströbele übernahmen schließlich das Mandat. In privaten Erinnerungen wird
deutlich, wie sehr die drei damals zusammengehalten haben. Wie Zeiten sich ändern: Mittlerweile beschreibt Schily
die Entwicklung von Horst Mahler als „Tragödie“, Ströbele kritisiert bis heute Schilys law-und-order-Eifer als
Innenminister unter Gerhard Schröder und Mahler zog gegen seinen damaligen Mitstreiter Schily im NPDVerbotsverfahren bis vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Die Interviews mit Schily, Ströbele und
Mahler finden alle im gleichen Gerichtssaal statt. Doch jeder sitzt zu einem anderen Zeitpunkt da, an anderer Stelle
und vor allem: niemals zusammen. Nicht mehr.
47. GRIMME-PREIS 2011
Birgit Schulz
(Buch / Regie)
Katharina Schmidt
(Schnitt)
Katharina Schmidt
Katharina Schmidt wurde 1966 in Köln geboren.
Ab 1987 war sie für vier Jahre als Schnittassistentin tätig, bevor sie hauptverantwortlich als Editorin
arbeitete. Seitdem hat die Rheinländerin an zahlreichen
Dokumentationen, Fernseh- und Kinofilmen mitgewirkt. Zu ihren Werken zählen unter anderem „Marlene Dietrich – Her own Song“, „House of Boys“ sowie
mehrere Episoden aus der Wilsberg-Reihe im ZDF.
für
Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte
(WDR / NDR / rbb / ARTE)
Produktion: Bildersturm
Gerade arbeitet Schmidt zusammen mit Birgit Schulz
an einem SWR / ARD-Dokumentarprojekt über Robert
Bosch.
Foto: Schmidt
Grimme-Preis
an
83
Birgit Schulz
Birgit Schulz, geboren 1959 in Düsseldorf, hat in Bonn
Germanistik, Biologie und Philosophie studiert und
gleichzeitig eine Ausbildung zur Fotografin gemacht.
Danach war sie Redakteurin bei der Tanzfachzeitschrift
„Ballett International“. In dieser Zeit begann sie als
freiberufliche Regisseurin für öffentlich-rechtliche
Anfang der 70er Jahre waren sie in einem Gerichtssaal Verbündete, die
drei Anwälte Otto Schily, Hans-Christian Ströbele und Horst Mahler.
Doch ihre Biografien nahmen sehr unterschiedliche Wege. An diesen
Wegen entlang erzählt der Film nicht drei Lebensgeschichten, sondern
auch die Geschichte Deutschlands in den vergangenen 40 Jahren.
Aus den drei Anwälten der außerparlamentarischen Opposition werden
Personen der Zeitgeschichte. Otto Schily wird Minister, Ströbele wird
und bleibt Grünen-Politiker, Mahler driftet ab in die rechtsradikale
Szene. In ausführlichen Interviews reden die drei über ihre Beweggründe,
darüber, was sie von den anderen trennt, wie sie die Lebensleistung des
anderen einschätzen und wie sich die politischen Wege trennten.
Der Film überzeugt durch seine formale Entschiedenheit, seinen exzellenten Schnitt und eine ruhige, seinem Gegenstand vertrauende
Dramaturgie. Aus einer Fülle an dokumentarischem Material wählen die
Autoren sehr aussagekräftige Beispiele aus, etwa ein Auftritt Schilys vor
dem Gericht in Stammheim. So entfaltet sich in wenigen Minuten ein
beeindruckendes Panorama der Geschichte der Bundesrepublik.
So entsteht auf hervorragende Weise Aufklärung über die jüngere deutsche Geschichte, werden Brüche und Widersprüche der Apo-Bewegung
wie in einem Brennglas gezeigt, ohne ein Urteil über sie zu fällen. Es
ist beeindruckend, wie es Regisseurin Birgit Schulz gelingt, die Aufgeregtheit dieser Zeit aufzunehmen, ohne dabei je die analytische
Distanz zu verlieren. Umso mehr, als der Film auf seine drei Protagonisten
als Erzähler vertraut.
Fernsehsender zu arbeiten. Es entstanden Filme über
die Feministin Alice Schwarzer, den Opernregisseur
Werner Schroeter oder die südafrikanische Politikerin
Helen Zille. Birgit Schulz ist Geschäftsführerin und
Produzentin der Bildersturm Filmproduktion.
Foto: Jan Krauthäuser
BEGRÜNDUNG DER JURY:
„Der Grimme-Preis hat bei den vielen Preisen
unter Filmschaffenden einen ganz besonderen
Stellenwert. Die Überraschung bei der Mitteilung
erfüllte mich mit großer Freude, zumal ich ihn
ein zweites Mal entgegennehmen darf. Ist es
doch eine Bestätigung dafür, den richtigen Weg
in meiner Arbeitsweise eingeschlagen zu haben.
Leider habe ich nicht mehr das Glück, die erneute
Auszeichnung mit meinen Eltern, die so sehr stolz
auf den ersten Grimme-Preis waren, feiern zu
können. Ein Dankeschön an sie.“
Katharina Schmidt
PHOENIX / Bildersturm Filmproduktion
Der Film kommt den Porträtierten sehr nahe, schafft ein eigentlich
unmögliches Gespräch, nämlich das zwischen allen dreien. Der Film
visualisiert dieses Trilemma auf sehr subtile Weise, in dem er am Ende
einen Tisch mit drei leeren Stühlen in den Gerichtssaal stellt, in dem
Mahler interviewt wurde.
Da der Film dieses unmögliche Gespräch gewissermaßen virtuell
zustande bringt, gewährt er aufregende Einsichten. Stets lässt Birgit
Schulz dabei die Frage offen, welchem der drei Protagonisten die Zuschauer am meisten vertrauen sollen. Es bleibt breiter Raum, sich selbst
eine Meinung zu bilden und eine eigene Haltung zu den drei Protagonisten zu finden. Auch in der Darstellung des mittlerweile rechtsextremen
Mahler verlässt sich der Film wohltuenderweise auf seine Zuschauer.
Dem Film gelingt es zu zeigen, wie die Biografien Einzelner und die
Geschichte zusammenspielen. Wie Menschen Geschichte machen, und
wie Geschichte sie verändert.
Szene aus „Die Anwälte“
84
47. GRIMME-PREIS 2011
Grimme-Preis Information & Kultur
DDR Ahoi!
ARD / MDR / NDR
Foto: MDR / Hoferichter & Jacobs
INFORMATION & KULTUR
Produktion: Hoferichter & Jacobs
Produktion: Hoferichter & Jacobs,
Olaf Jacobs
Buch / Regie: Lutz Pehnert
Kamera: Thomas Simon
Schnitt: Thomas Kleinwächter
Ton: Jan Klonowski
Sprecher: Thomas Dehler
Erstausstrahlung: 25. und 26.05.2010
Sendelänge: 2x je 45 Minuten
DDR Ahoi!
Rostock, Stralsund und Wismar. In den zerstörten Hafenstädten herrschten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Hunger, Verzweiflung – und auch Träume. Die Ostsee vor der Tür, gab es dennoch keine Seefahrt. Erst als die
sowjetischen Besatzungsmächte 1946 den Fischfang anordneten, begann eine Entwicklung, die von Erfolgen und
Rückschlagen genauso geprägt war, wie von eben jenen Träumen und politischem Kalkül. Die DDR bezog bis kurz
nach ihrer Gründung den Großteil ihrer Fischimporte aus westlichen Ländern. Um auf dem Nahrungsmittelsektor
unabhängig zu werden, gab das SED-Regime die Order aus, die Weltmeere als natürliche Ressource zu nutzen.
Fisch als politisches Druckmittel im Kalten Krieg? Für die Genossen undenkbar. Das raue und ungesunde Leben
der Hochseefischer an Bord schreckte potentielle Bewerber nicht ab. Im Gegenteil: Zur See zu fahren umwehte ein
Hauch von Abenteuer, Freiheit und persönlichem wirtschaftlich Erfolg. Lutz Pehnert trifft in „DDR ahoi“ zahlreiche
Seemänner und -frauen, die unter der DDR-Flagge zur See gefahren sind. Ehemalige Kapitäne, Maschinenanwärter
und Stewardessen geben einen spannenden und einzigartigen Einblick in eine Seefahrernation, die vergleichsweise
spät in See gestochen ist. In den Gesprächen wird deutlich, dass die Seefahrer aus der DDR auch immer Botschafter
mit Seesack sein sollten, so wollte es Erich Honecker. Mehr als 200 Schiffe wurden zwischenzeitlich eingesetzt:
kleine Fischkutter, luxuriöse Kreuzfahrtschiffe oder schwere Frachter – sie alle fuhren an vorderster, maritimer und
politischer Front.
47. GRIMME-PREIS 2011
Grimme-Preis
an
Lutz Pehnert
(Buch / Regie, stellv. für das Team)
85
Lutz Pehnert
Lutz Pehnert, 1961 in Berlin geboren, absolvierte nach
der Schule eine Ausbildung zum Schriftsetzer. Von 1982
bis 1995 arbeitete er bei der Tageszeitung „Junge Welt“
und schrieb außerdem für mehrere Zeitschriften. Seit
1995 ist er als freiberuflicher Autor und Regisseur tätig.
DDR Ahoi!
(ARD / MDR / NDR)
Neben seiner Arbeit an verschiedenen Reportagen und
Dokumentationen ist er regelmäßig für die Kulturmagazine „titel, thesen, temperamente“ (ARD), „artour“
(MDR) und „Stilbruch“ (rbb) tätig. 2008 erhielt er den
Produktion: Hoferichter & Jacobs
Fernsehpreis „literavision“ für einen Kurzbeitrag über
den Schriftsteller Werner Bräunig.
Foto: lu.pe Film
für
BEGRÜNDUNG DER JURY:
Für die Bürger der DDR hielt die staatliche Propaganda eine besonders
beeindruckende Zahl bereit. Irgendwann hatte das kleine Land – durch
welche Berechnungsvolten auch immer – statistisch den bedeutenden
Platz 10 unter den größten Industrienationen der Welt errungen. Das
mag heute absurd anmuten und war es wohl auch damals schon. Mit
dem nicht minder absurd wirkenden, aber wohl zu Recht eingenommen
1. Platz in der Reihe der europäischen Seefahrernationen wurde hingegen kaum Staat gemacht.
Lutz Pehnert ist, getragen von einer dichten Teamleistung bei Redaktion
und Produktion, mit seiner zweiteiligen Dokumentation ein Film gelungen, der das Publikum kenntnisreich in bislang eher unbekannte
Gewässer führt: die DDR-Seeschifffahrt auf den Weltmeeren, mit
Handelsflotte und Hochseefischerei, mit Aufstieg und Niedergang. Mit
Hilfe einnehmender Zeitzeugen – allesamt vormalige Seeleute und Seefrauen – und ihrem unprätentiösen und reflektierten Schnack und einer
facettenreichen, mehrschichtigen Kompilation aus dokumentarischem
und nichtdokumentarischem, zeitgenössischem Bildmaterial, zeichnet
der Autor die historische Entwicklung nach und geht dabei nicht selten
aufschlussreiche Ab- und interessante Nebenwege. Aufbauwille und
Parteiauftrag, Überwachung oder späte Abwicklung finden ebenso Platz
wie Eheprobleme, Frauen an Bord, Sturm oder Tod auf hoher See.
„Filmemachen ist nicht so schwer, wie zu erklären,
was einem der Grimme-Preis bedeutet. Das
Außerordentliche an diesem Preis ist für mich der
Ansporn, den er enthält: dass man den Spaß an
der Arbeit nicht verliert, dass man sie gerne
macht.“
Lutz Pehnert
Der Film schafft es, sowohl den Menschen mit ihren verschiedenen
Motivationen, Erfahrungen und Erinnerungen Raum zu geben, als auch
deren Einbettung in die essentiellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die ihr Dasein auf See ermöglichten und
bestimmten, aufzubereiten. Seine Geschichten erzählt er kurzweilig und
mitunter amüsant und immer von leichter Hand, ohne das Schwere und
Problematische aus dem kritischen Blick zu verlieren. Jenseits von DDRNostalgie kann er sich so einige Anflüge von Seefahrersehnsucht und
Seefahrerromantik leisten.
Foto: MDR / Hoferichter & Jacobs
Am Ende macht der Film deutlich: Über die Weltmeere fuhren lauter
kleine DDR-Gebilde. Die gesellschaftlichen Normen, Möglichkeiten und
Grenzen, die es daheim und im Großen gab, wurden auf jedem Schiff
mit auf große Fahrt genommen. Und dennoch existierte jenseits davon
für die Menschen an Bord die Perspektive, das Land und seine bedrückende Enge zumindest temporär verlassen zu können. Blendet man
den DDR-Hintergrund aus, ist das ein seit Jahrhunderten bestehendes
zentrales und damit universelles Motiv für die Seefahrt.
Seefahrerromantik in „DDR Ahoi!“
86
47. GRIMME-PREIS 2011
Grimme-Preis Information & Kultur
20x Brandenburg
rbb
Foto: rbb / Heike Hartung
INFORMATION & KULTUR
Produktion: DOKfilm
Produktion: DOKfilm, Jost-Arnd Bösenberg, Christoph Bicker
Idee / Projektleitung: Johannes Unger
Künstlerische Leitung: Andreas Dresen
Produktionsleitung rbb: Rainer Baumer
Redaktion: Rolf Bergmann (rbb),
Ute Beutler (rbb), Gabriele Conrad (rbb)
Erstausstrahlung: 01.10.2010, 20.15 Uhr
Sendelänge: 300 Minuten
20x Brandenburg
Die beiden liebenswerten Damen sitzen auf einer Bank im kleinen Dorf Trampe und warten auf den Gemüsehändler,
der gleich zu seinem wöchentlichen Besuch vorbeikommt. Für sie ist es eine gute Gelegenheit, sich wiederzusehen.
Stolz schwingt mit, wenn sie über ihre Heimat sprechen, in der sie seit ihrer Geburt wohnen. In 20 Episoden zeigen
Johannes Unger und Andreas Dresen interessante, bewegende und intime Facetten, die alle so verschieden sind
wie das Bundesland selbst. Da kämpfen Maschinenschlosser in Ludwigsfelde gegen die existenzbedrohende,
immer weiter voranschreitende Automatisierung ihres Arbeitsalltags. Rechte Jugendliche nehmen in Niederfinow
an einem Resozialisierungsprojekt teil, bei dem sie mit einem Chorleiter aus Kamerun zusammenarbeiten sollen.
Der Landpfarrer in Friedrichswalde mit seinen sieben Gemeinden hält einen Gottesdienst für Biker, und outet sich
nebenbei selbst noch als inniger Motorradfan. Melancholische Bilder wechseln sich ab mit schönen, verträumten
Impressionen aus dem Alltag der Menschen, die alle ihre ganz eigene Geschichte haben, in einer Region, die Zeuge
zahlreicher historischer Veränderungen ist. In Trampe hält derweil die Zukunft Einzug, möchte man meinen. Ein
Windkraftrad nach dem anderen wird gebaut. Eine Rheinländerin, die vor einigen Jahren in den Ort gezogen ist,
hatte sich durch ihren Umzug hierhin eigentlich Ruhe versprochen. Aber die Leute nehmen es mit Humor – auch
und vor allem aufgrund ihrer Heimatverbundenheit. „Ich hab nie Sehnsucht gehabt, irgendwo anders hin“, erklärt
eine der beiden Damen auf der Bank.
47. GRIMME-PREIS 2011
Andreas Dresen
(Künstlerische Leitung)
Johannes Unger
(Idee / Projektleitung)
Andreas Dresen
Andreas Dresen, geboren 1963 in Gera, begann seine
Filmlaufbahn 1985 mit einem Volontariat im DEFASpielfilmstudio in Potsdam-Babelsberg. Im Anschluss
studierte er Regie an der HFF Konrad Wolf. Seit 1992
arbeitet Dresen als selbstständiger Autor und Regisseur.
Zu seinen Filmen, die bereits zahlreiche Auszeichnungen gewonnen haben, gehören unter anderem „Stilles
Land“, „Halbe Treppe“ und „Wolke 9“. Daneben hat er
für
20x Brandenburg
(rbb)
Produktion: DOKfilm
auch Theaterstücke inszeniert. 2001 gewann er einen
Grimme-Preis mit Gold für „Die Polizistin“. Andreas
Dresen lebt in Potsdam.
Foto: Klaus-Dieter Fahlbusch
Grimme-Preis
an
87
Johannes Unger
Johannes Unger wurde 1964 in Braunschweig geboren
und studierte Politikwissenschaften in Hamburg. Nachdem er zunächst als Autor und Reporter beim NDR und
WDR gearbeitet hatte, ging er 1993 zum ORB, dessen
Chefredakteur er zuletzt war. Beim nachfolgenden RBB
war er zunächst zuständig für den Programmbereich
Mit dem Projekt „20x Brandenburg“ verlässt der rbb die allgemein
bewährten Pfade des formatdominierten deutschen Fernsehens und
bietet dem Publikum ein aus 20 fünfzehnminütigen Kurzdokus bestehendes Abendprogramm.
„Modernes Leben“, seit 2007 leitet er die Abteilung
„Dokumentation und Zeitgeschehen“. In seiner Verantwortung entstanden zahlreiche preisgekrönte Produktionen, darunter „Chronik der Wende“, „Roter Stern
über Deutschland“, „24h Berlin“ und „60xDeutschland“.
Die Klammer für die 20 Beiträge ist der 20. Jahrestag der Wieder-Gründung des Landes Brandenburg, ein Jubiläum, das der Sender gebührend
würdigen möchte. Mit einer großen Themenvielfalt und sehr unterschiedlichen Regie-Handschriften wird dem Zuschauer der geopolitische
und damit relativ abstrakte Begriff „Bundesland“ sinnlich fassbar
gemacht.
Die einzelnen Beiträge tragen mal mehr reportagehafte, mal mehr künstlerisch-dokumentarische Züge, sind von unterschiedlicher Qualität, aber
ausnahmslos interessant. Sowohl durch die Vorstellung verschiedener
brandenburgischer Regionen mit ihren spezifischen Eigenschaften und
interessanten Zeitgenossen als auch die unterschiedlichen Sichtweisen
der 20 Regisseure und ihre sehr verschiedene Art der journalistischkünstlerischen Umsetzung gelingt es dem Gesamtprojekt spielend, das
Zuschauerinteresse über fünf Stunden wach zu halten.
Ob die Arbeiter einer LKW-Fabrik in Ludwigsfelde bei Berlin sich über
die zurückliegenden, nicht immer leichten Zeiten der letzten 20 Jahre,
die Gegenwart und ihre Perspektiven äußern; ob eine tatkräftige Gräfin
mit Hilfe ihres zurückgewonnenen liebevoll restaurierten Eigentums die
touristische Anziehungskraft des Spreewalds verstärkt; ob ein unkonventioneller, Motorrad fahrender Landpfarrer sich sehr aktiv mit dem
diesseitigen Leben der ihm anvertrauten Schäfchen beschäftigt: Hier
wie bei allen Protagonisten kommt man den vorgestellten Menschen
sehr nahe.
Foto: rbb / Jenny Sieboldt
BEGRÜNDUNG DER JURY:
„Ich freue mich riesig, dass der rbb für seinen
mutigen und innovativen Umgang mit der
dokumentarischen Form ausgezeichnet wird.
Es ist ja nicht gewöhnlich, dass ein Sender fünf
Stunden am Freitagabend zur besten Sendezeit für den künstlerischen Dokumentarfilm
und ein großes Experiment zur Verfügung stellt.
Der Grimme-Preis hat sich immer bemüht,
engagiertes, anspruchsvolles Fernsehen zu
fördern und zu unterstützen. Vielleicht ist er in
diesem Fall ja auch Ansporn für andere Sender,
ungewöhnliche Wege zu beschreiten.
Ja, Fernsehen kann Abenteuer sein!“
Andreas Dresen
Das bietet dem Zuschauer Raum für Entdeckungen, für das Nachdenken
über die letzen 20 Jahre in Brandenburg, und gleichzeitig sorgt das
immer für anregende Unterhaltung.
Foto: rbb / Thomas Ernst
Auf diese Weise erfüllt das ungewöhnliche Projekt die von den Verantwortlichen selbst gestellte Aufgabe, vor den Augen der Zuschauer ein
„dokumentarisches Gemälde über das Land“ entstehen zu lassen, sehr
überzeugend. Das fünfstündige Programm von Andreas Dresen (künstlerische Leitung) und Johannes Unger (Idee / Projektleitung) beweist
zudem, dass ein innovativer Umgang mit Sendeformaten – gekoppelt
mit dem Mut zum dokumentarischen Genre in der besten Sendezeit – zu
einem sehr informativen, gleichzeitig unterhaltsamen und damit beispielhaften Fernsehabend werden kann.
Impressionen aus dem Alltag in „20x Brandenburg“
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Ihre Sparkasse Vest.
Gut für die Region.
47. GRIMME-PREIS 2011
89
Nachahmer erwünscht
Aus der Jury Information & Kultur
von Senta Krasser
A
Die Nominierungskommission Information und Kultur hatte, befand die
Grimme-Veteranin, in noch nie dagewesener Ballung Beiträge zur Preisfindung vorgelegt, die Jahre vor ihrer TV-Ausstrahlung in Kinosälen und
auf Festivals herumgereicht wurden und die aufgrund ihres Produktionsdatums nicht spiegeln, was im Wettbewerbsjahr 2010 eigentlich
signifikant und relevant war (ein Problem, das übrigens auch bei den
Jury-Kollegen der Fiktion andauernd und lebhaft diskutiert wird und
noch auf eine Lösung wartet). So hatte es die Doku-Jury mit einem
Übergewicht an ausgeruhten Langfilmen in Kinoqualität zu tun, gegen die sich mit heißer Nadel gestrickte Reportagen per se schwerer
behaupten können.
Ob die verspielte Kinofilm-Collage „Auge in Auge“ (2008, 103 Minuten),
die auch Cineasten neue Blickwinkel eröffnet, ob der sehr physische
Dokumentarfilm „NoBody’s Perfect“ (2008, 83 Minuten), der mit Witz
und nackter Ehrlichkeit das Auge an
Contergan-geschädigte Körper gewöhnt, ob das faszinierende Porträt
über Svetlana Geier, „Die Frau mit den
fünf Elefanten“ (2009, 93 Minuten),
für die Literatur Leben war – allesamt
überzeugten durch bemerkenswerte,
zeitlose Bilder und rangierten in der Jury-Bewertung oben mit, obwohl ihr Erscheinungsjahr weit zurückliegt. Qualität kennt eben kein
Verfallsdatum. Dass die Jury Information und Kultur 2011 kein Faible für
Vergangenes hätte, kann man ihr wirklich nicht vorwerfen. Gleich vier
Ausnahmewerke – davon zwei Neunzigminüter – schafften es aus dem
Themensegment Geschichte und Politik auf die Preisränge.
Foto: NDR / Höderath
m zweiten Sichtungsabend kam der Vorschlag zur verbalen Haue.
Was haben die sich bloß dabei gedacht? Nun ist es beliebtes GrimmeSpiel, dass sich Juroren gerne darüber echauffieren, was nicht durchs Sieb
der „Nomkoms“ gefallen ist. Und vice versa. Doch diesmal entzündete
sich der Zoff nicht an vermeintlichen inhaltlichen Fehlbewertungen
oder verirrten Geschmäckern. Es ging ums Grundsätzliche, ums Formale.
Eine Stimme für historische Quellen in „Aghet – Ein Völkermord“
Völkermord des 20. Jahrhunderts ist dokumentiert, doch niemand hat
sich bislang bemüht, all diese Dokumente, die auch deutsches Mitwissen belegen, in dieser Eindringlichkeit und Akribie zusammenzustellen
und zugleich die Gretchenfrage zu stellen: Warum schweigt die Welt?
Ein Übergewicht an ausgeruhten Langfilmen in Kinoqualität,
gegen die sich Reportagen per se schwerer behaupten können.
Foto: rbb
Darunter mit der besten Bewertung Eric Friedlers exzellente Aufarbeitung des Genozids am armenischen Volk, „Aghet – Ein Völkermord“.
Dieser erste und von der türkischen Regierung noch immer geleugnete
Mit Schwung durch die Heimat in „20x Brandenburg“
Warum wird beim armenischen Völkermord international seit fast
hundert Jahren diplomatische Zurückhaltung geübt? Friedler lässt, ein
vorbildlicher Einfall, bekannte Schauspieler unbekannte Originaltexte
von Zeitzeugen vortragen. Ein beklemmendes Kopfkino der Grausamkeiten spielt sich ab.
Auf eine neue Form des dokumentarischen Arbeitens ließen sich auch
Oliver Stoltz und Ali Samadi Ahadi ein: Statt prominenter Schauspieler
behelfen sich die Autoren in ihrem Film „Iran Elections 2009“ mit Trickfiguren, um schockierende Lageberichte über die Unruhen während der
iranischen Präsidentschaftswahl ins Bild zu setzen. Diese Berichte sind
ein Kondensat aus Blog-Einträgen, Zwitschermeldungen und YouTubeVideos. Wie hier die sozialen Netzwerke in ein kollektives Tagebuch
eingebunden werden, hält die Jury für wegweisend.
Eine Unmenge an Material hat sich in vier Jahrzehnten über die RAF
angesammelt. Und doch gelingt es Birgit Schulz in ihrem Film über
„Die Anwälte“ – Otto Schily, Christian Ströbele und Horst Mahler – ,
diesem Teil der deutschen Geschichte überraschende Facetten abzugewinnen. Den Stoff über die drei Linken, die sich Anfang der Siebziger
in einer Kanzlei zusammentun, um gegen die BRD als restriktiven Staat
zu kämpfen, hat sie klug und kunstvoll angeordnet. Die Gespräche, in
denen Mahler, Ströbele und besonders Schily Intimes wie Berührendes
preisgeben, machen deutlich: Ein Journalist kann mit seinen Fragen
kaum weiter kommen, als es hier geschafft wurde.
Dass es „DDR Ahoi!“, das Gemeinschaftswerk von MDR und NDR über
den Seefahrerstolz des Arbeiter - und Bauernstaates, aufs Siegertrepp-
Gratulation zum Grimme-Preis 2011!
Wettbewerb
Information & Kultur
Die Anwälte –
Eine deutsche
Geschichte
Buch und Regie:
Birgit Schulz
Produktion:
Bildersturm
Filmproduktion
(WDR/NDR/rbb/Arte)
Wettbewerb
Fiktion
Keine Angst
Buch:
Martina Mouchot
Regie:
Aelrun Goette
Produktion:
Tag/Traum (WDR)
Wettbewerb
Fiktion
Neue Vahr Süd
Buch:
Christian Zübert
Roman:
Sven Regener
Regie:
Hermine Huntgeburth
Produktion:
Studio Hamburg
Film Produktion
(WDR/RB)
Kaistraße 14
40221 Düsseldorf
Fon + 49 (0) 2 11-93 05 00
Fax + 49 (0) 2 11-93 05 05
www.filmstiftung.de
Unterhaltsame Geschichtsstunde: „DDR Ahoi!“
chen schaffen würde, damit hatte selbst mancher Juror nicht gerechnet. Unbestritten war in der Diskussion: Lutz Pehnert hat spannende
Menschen vor die Kamera geholt, die davon erzählen, wie sie die DDR
verließen und doch in der DDR blieben, wenn auch auf einem Territorium
in der Größe einer Nussschale. Eine fürwahr informative und unterhaltsame Geschichtsstunde – das gibt es in dieser Mischung selten und noch
seltener in den Dritten Programmen, wo Sendezeit gerne zugekleistert
wird mit den lustigsten Musikanten und den schönsten Traktoren.
Wunderbar, dass ein Sender mal was anderes macht – dachte die Jury
auch bei dem innovativen Projekt des rbb, „20x Brandenburg“, das
schließlich mit einem Grimme-Spezial-Preis bedacht wird. Johannes
Unger und Andreas Dresen führten 20 mehr oder weniger renommierte
Dokumentarfilmer zusammen, damit sie das Land Brandenburg filmisch
erfassen. Für diesen Programmhöhepunkt stellte der rbb fünf Stunden
beste Sendezeit nonstop zur Verfügung. Nachahmer bei den anderen
Dritten dringend erwünscht.
91
Auch andere versuchten sich auf neuen Wegen. Mit „Klick Klack“ legte
der BR das frischeste Format vor: ein kurzweiliges Musikmagazin,
präsentiert von musizierenden Moderatoren, die für die Musik auch
jenseits der Klassik-Schickeria brennen, jedoch noch zu einer konstanten Klangfarbe finden müssen. Der Kurzfilm „Mauerhase“, der deutsche
Mauergeschichte aus der Karnickelperspektive erzählt, verdient das
Signet pfiffigster Beitrag. Die beste Reporterleistung lieferte ZDF-Autor
Ashwin Raman mit seiner nachnominierten Reportage „Somalia – Land
ohne Gesetz“. Mut und Tiefe seiner Recherche beeindruckten, redaktionelle Versäumnisse (Phrasendreschmaschine!) enttäuschten. Das intensivste Aha-Erlebnis bot der Fußballfilm „Die Schiedsrichter“.
Die leidenschaftlichste Kontroverse in fünf Jurysitzungstagen löste
das dreiteilige Werk „Deutschland von oben“ aus. Die einen Juroren
begeisterte der kompakte und technisch bestechende Tele-Unterricht in
Geografie und Geschichte, den das ZDF in seiner Terra X-Sendeschiene
am Sonntagabend zeigte. Die anderen bemängelten das Gehetze aus
Bildern und Musik, dem eine Form-Inhalt-Korrespondenz fehle. Die
Möglichkeiten des Bildungsfernsehens im Zeitalter von Günther Jauch
hat „Deutschland von oben“ allemal bilderbuchmäßig genutzt. Mainstream und Qualität schließen einander hier nicht aus. Und so sollte es
sonntagabends im Zweiten eigentlich immer sein.
Senta Krasser
Senta Krasser studierte Geschichte in Köln und London.
Seit ihrem Aufbaustudium Theater-, Film- und Fernsehkritik in München schreibt sie freiberuflich für verschiedene Tageszeitungen, darunter Süddeutsche Zeitung
und Tagesspiegel, sowie für Branchenmagazine wie das
Medium Magazin und den BJVreport.
Foto: Krasser
Foto: MDR Hoferichter & Jacobs
47. GRIMME-PREIS 2011
Foto: Grimme / Jorczyk
Jury Information & Kultur
von links nach rechts: Steffen Grimberg, Rainer Weiland, Regina Reddig, Lars von der Gönna, Senta Krasser, Markus Brauck, Detlef Ruffert, Matthias Struch, Annette Borkel,
Dr. Gerd Hallenberger, Dr. Ingrid Schöll, Holm-Henning Freier, Dr. Jutta Wiegmann
Robert & Horst, München
Zivilcourage
47. Grimme-Preis
Foto © Colonia Media | WDR | Maria Krumwiede
Wir freuen uns über die Nominierungen
und gratulieren den Preisträgern
Jürgen Werner (Drehbuch), Dror Zahavi
(Regie), dem Hauptdarsteller Götz
George und der Nachwuchsdarstellerin
Carolyn Genzkow.
Colonia Media, Tel. 0221- 951 40 4 - 0, www.coloniamedia.de
SONDERPREISE
Grimme
Preis
2011
Publikumspreis der Marler Gruppe
Zivilcourage (ARD / WDR)............................................................................................. 94
Anmerkungen aus der Marler Gruppe
Mit Leidenschaft und Überzeugung......................................................................... 97
Sonderpreis Kultur des Landes NRW
Schnitzeljagd im Heiligen Land (KI.KA).................................................................. 98
Besondere Ehrung des Deutschen Volkshochschul-Verbandes
Thomas Gottschalk........................................................................................................ 100
94
47. GRIMME-PREIS 2011
Publikumspreis der Marler Gruppe
Zivilcourage
ARD / WDR
Foto: WDR Maria Krummweide
PUBLIKUMSPREIS DER MARLER GRUPPE
Produktion: Colonia Media
Produktion: Colonia Media,
Sonja Goslicki
Buch: Jürgen Werner
Regie: Dror Zahavi
Kamera: Gero Steffen
Schnitt: Fritz Busse
Ton: Manfred Banach, Ben Krüger
Darsteller: Götz George, Carolyn
Genzkow, Arnel Taçi, Marko Mandic,
Hansjürgen Hürrig u.a.
Redaktion: Rolf-Dietrich Brücker
Erstausstrahlung: Mittwoch, 27.01.2010,
20.15 Uhr
Sendelänge: 90 Minuten
Zivilcourage
„Smiling makes me thin“ steht an der Hausfassade von Peter Jordans Antiquariat in der Hausmannstraße. In dem
Berliner Problemviertel hat sich in den vergangenen Jahren viel geändert. Jordan, der schon seit langem im Kiez
wohnt, hat mitbekommen, wie die Stimmung dort rauer geworden ist. Ein geringer Bildungsstand, Perspektiv- und
Arbeitslosigkeit verleitet zahlreiche Jugendliche dazu, andere mit Gewalt zu terrorisieren. Auch Jordans Tochter ist
mit ihrer Familie schon weggezogen. Doch getrieben aus dem Glauben an das Gute, bleibt Jordan. Sein Antiquariat
ist in dem rauen Viertel eine Oase des Bildungsbürgertums geworden. Auch deshalb beschäftigt er die junge Jessica
für ein einwöchiges Schülerpraktikum. Aber die nächsten Tage stellen Jordans Welt auf den Kopf. Eines Abends
wird der Alt-68er Zeuge, wie ein Jugendlicher aus dem Kosovo einen Mann halb tot tritt. Der Täter, Afrim Lima, ist
Jessicas Freund. Doch das Mädchen darf sich keinen Ärger einhandeln, will sie nicht von der Schule fliegen. Aber
Jordans Glaube an den Rechtsstaat bestärkt ihn in seiner Entscheidung, Anzeige gegen Afrim zu erstatten. Schnell
merkt er, dass sein Schritt für ihn und seine Familie unangenehme Folgen hat, da sie von Afrims großem Bruder mit
Gewalt eingeschüchtert werden. Jordan ist gezwungen, sein Wertesystem infrage zu stellen. Fast ist er bereit, seine
Anzeige zurückzuziehen. Als sich Jessica jedoch gegen Afrim stellt, kann die Polizei den Jungen festnehmen. „Aus
der Hausmannstraße kommt man nicht weg“, hat Jessicas Mutter ihr noch erzählt. „Und wenn man trotzdem raus
will?“, fragt die Schülerin.
47. GRIMME-PREIS 2011
Dror Zahavi
(Regie)
Jürgen Werner
(Buch)
Götz George, Carolyn Genzkow
(Hauptdarsteller)
Dror Zahavi
Dror Zahavi wurde 1959 in Tel Aviv geboren. Er studierte Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam. Unter seiner Regie
entstanden zahlreiche Filme und Serien für öffentlichrechtliche als auch private Sender. Sein viel beachtetes
Kinodebüt „Alles für meinen Vater“ handelt von einem
palästinensischen Selbstmordattentäter, der die Ehre
seines Vaters wieder herstellen will. Für den Spielfilm
„Marcel Reich-Ranicki – Mein Leben“ war er 2010 für
den Emmy Award nominiert. Dror Zahavi erhielt für
seine Arbeit schon zahlreiche Preise.
für
Zivilcourage
(ARD / WDR)
Foto: Fabian Isensee
Publikumspreis der Marler Gruppe
an
95
Jürgen Werner
Jürgen Werner, 1963 in Stuttgart geboren, ist gelernter Fernmeldeelektroniker und war zunächst Editor bei
Produktion: Colonia Media
der Bavaria in München. Seit 1996 arbeitet er als freier Autor und hat bis heute zahlreiche Drehbücher für
Sendungen wie „Alphateam“, „Für alle Fälle Stephanie“,
das „Traumschiff“ oder „Soko Stuttgart“ geschrieben.
Jürgen Werner verfasste auch die Drehbuchvorlage für
verschiedene „Tatort“-Folgen. Der Publikumspreis der
Marler Gruppe im Rahmen des 47. Grimme-Preises ist
Der Alt-68er Peter Jordan lebt allein in einer schönen Altbauwohnung
eines Berliner Problembezirks und betreibt ein Antiquariat. Seine Tochter
ist mit ihrer Familie längst aus diesem Viertel weggezogen und wohnt
jetzt am Stadtrand von Berlin. Jordan arbeitet in seinem Antiquariat,
geht zum Einkaufen und trifft abends in seiner Stammkneipe seinen alten Gesinnungsgenossen. Bei einem Glas Rotwein wird über Ideale und
Wertesysteme diskutiert und lamentiert. Jordan ist ein Ästhet, glaubt an
das Gute und vertraut dem Rechtsstaat.
seine erste Auszeichnung.
Foto: Werner
BEGRÜNDUNG DER JURY:
Götz George
Götz George wurde 1938 in Berlin geboren und stand
1953 das erste Mal neben Romy Schneider vor der Kamera. Zu den beim Publikum beliebtesten Rollen gehört
die des Duisburger Tatortkommissars Horst Schimanski.
George spielte in Klassikern wie „Abwärts“, „Die Katze“
und „Schtonk!“ mit und zählt seitdem zu den erfolgreichsten Schauspielern Deutschlands. In Roland Suso
Richters Drama „Nichts als die Wahrheit“ schlüpfte er in
die Rolle des KZ-Arztes Josef Mengele. Für seine Schauspielleistungen erhielt George neben TV- und GrimmePreisen alle namenhaften Filmpreise Deutschlands.
Foto: Hagen Keller
Eines Abends wird er Zeuge, wie ein 16-jähriger Bosnier einen Mann
fast totprügelt. Er mischt sich ein und erstattet Anzeige gegen Afrim.
Das Leben von Jordan verändert sich schlagartig, verschiedene Welten
prallen aufeinander. Afrims älterer Bruder hat im Bürgerkrieg gekämpft
und sah, wie seine Eltern starben. Da er nur noch seinen Bruder hat,
drängt er Jordan mit massiver Gewalt, die Anzeige bei der Polizei zurück zu nehmen. Aber Jordan zeigt „Zivilcourage“ und lässt sich nicht
einschüchtern, selbst als er von Afrims Gang zusammengeschlagen und
seine Wohnung verwüstet wird. Als jedoch seine Enkelkinder vom Bruder Afrims bedroht werden, besorgt er sich eine Schusswaffe.
Carolyn Genzkow
Carolyn Genzkow wurde 1992 in Hamburg geboren und
mit sieben Jahren als Model für ein Werbeshooting entdeckt. Ihre erste Rolle bekam die Autodidaktin in Eber-
Durch die einfühlsame Bildgestaltung von Gero Steffen wird dem Zuschauer das Gefühl vermittelt, mitten im Geschehen zu sein, ja sogar
eine der Figuren sein zu können. Licht und Farbe sowie die dichten Bilder
unterstützen in besonderer Weise das dramaturgische Konzept und ermöglichen dem Zuschauer einen emotionalen Zugang.
Der Regisseur Dror Zahavi zeichnet seine Figuren intensiv und differenziert. Jede einzelne steht parabelhaft für eine bestimmte Wertehaltung
in der Gesellschaft. Dies wird uns in grandiosem Zusammenspiel der
Protagonisten gezeigt, besonders jedoch von Götz George und Carolyn
Genzkow.
hard Riedlspergers Film „Am Ende des Schweigens“. Es
folgten weitere Rollen in den Serien „Die Pfefferkörner“
und „Dr. Martin“ sowie zwei Folgen des „Tatort“. Für ihre
Leistung in Aelrun Goettes Film „Keine Angst“ erhielt
sie 2010 den Förderpreis des Deutschen Fernsehpreises.
Demnächst ist sie in der Hauptrolle des ARD-Movies
„Wunschkind“ zu sehen.
Foto: Julia Knoop
Das sensibel geschriebene Drehbuch des Dramas „Zivilcourage“ von Jürgen Werner zeigt die Geschichte eines Mannes, der für sein Wertesystem einsteht. Götz George verkörpert die Rolle des Peter Jordan in grandioser Manier. Die Zuschauer werden in verschiedene Welten geführt.
Kulturelle Unterschiede werden deutlich. Die gesellschaftspolitische
Situation in unserem Lande wird uns vor Augen geführt. Themen wie:
Gewaltbereitschaft, Wegsehen, Belastung der Polizei und Justiz werden
zu unseren Themen. Der Film legt die Finger in eine offene Wunde, fängt
die Stimmung vor Ort ein. Trotzdem erfolgt keine Schuldzuweisung,
werden weder Polizei noch Politik vorgeführt.
„Es gibt viele Preise und jedes Jahr werden es
mehr. Aber es gibt einen Preis, der wie kein anderer
weder der Politik, noch dem Proporz und schon gar
nicht faulen Kompromissen zu Diensten ist: der
Grimme-Preis.“
Jürgen Werner
47. GRIMME-PREIS 2011
97
Mit Leidenschaft und Überzeugung
Anmerkungen aus der Marler Gruppe
ungeheure Verdichtung der filmischen Bilder erzeugt. Das alles macht
„Zivilcourage“ zu einem Glanzpunkt des Fernsehjahres 2010 – wohl
bemerkt zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr.
Immer wieder sind wir in diesem Jahr wahrhaft erfreut bei dem Blick
auf die Sendezeiten der nominierten Beiträge. Darunter zum Beispiel
auch der Serien-Sechsteiler „Weissensee“, der in diesem Jahr auch auf
Grund seines Formats nicht minder zur Diskussion stand. Versprach der
Vorspann auch Seifenoper à la „Geld.Macht.Liebe“, so entpuppte sich
die Serie schließlich als gekonntes politisches Spiel, das nicht als historisches Epos daherkommt, sondern den Zuschauer viel mehr durch die
fein gesponnenen Figuren- und Themennetze beeindruckt. „Weissensee“
nahm uns so sehr gefangen, dass wir gar nicht aufhören wollten und
konnten zu gucken, uns daher noch eine zusätzliche Folge im Sichtungsablauf gönnten.
Doch bei der schlussendlichen Preisfindung stellte sich schließlich die
Frage: Wie können wir eine Serie beurteilen, wenn wir letztlich doch
nicht alle Folgen gesichtet haben? Was, wenn der Spannungsbogen
nicht hält, was er verspricht? Was, wenn Figuren sich doch noch
anders entwickeln? Was, wenn es doch noch Widersprüche im Plot gibt?
Schließlich gibt es nur eine Auszeichnung, die wir zu vergeben haben.
„Weissensee“ hätte sie bestimmt ebenso verdient gehabt wie „Zivilcourage“ und noch viele weitere Nominierte. Aber es kann, Binsenweisheit, eben nur einen geben.
Gabriele Knafla
Gabriele Knafla wurde 1982 in Dorsten geboren. Sie
studierte Medienwissenschaft und Germanistik an der
Ruhr-Universität Bochum. Nach einem Volontariat bei
der Werbeagentur aureus arbeitet sie seit zwei Jahren
als Redaktionsleiterin beim Lokalmagazin LebensArt.
Seit 2003 ist sie Mitglied der Marler Gruppe.
Foto: Egon Maier
ut gerüstet begeben wir uns im Februar für fünf Tage erneut auf
die Suche nach dem deutschen Qualitätsfernsehen. Auf dieser Reise
machen wir Station im „Kongo“ und sehen, was ein Auslandseinsatz
für deutsche Soldaten bedeutet, wir haben „Keine Angst“, uns mit dem
Thema Kinderarmut zu konfrontieren, und erleben „In aller Stille“ wahre
Familientragödien; wir sind am Morgen für „Eine Nacht im Grandhotel“, genießen noch vor dem Abendessen „Ein Schnitzel für drei“,
stehen „Im Angesicht des Verbrechens“ und doch ist es immer so: „Am
Ende kommen Touristen“ und wir suchen nach dem primus inter pares,
dem herausragenden Stück Fernsehen, welches in diesem Jahr durch
das Publikum geehrt wird.
Wieder einmal keine leichte Entscheidung. Immer wieder reden und
reden und reden. Wir wägen Argumente ab, schildern eigene Erfahrungen, fragen nach der realen Grundlage des filmischen Stoffs, kritisieren
allzu konstruierte Stücke. Nicht selten spaltet sich die Gruppe dabei in
Lager von Pro und Kontra, und dann wird aus der Diskussion oftmals
eine Debatte, in der leidenschaftliche Manifeste gehalten werden.
Genau diese Momente sind es, die am Ende des Sichtungstages das Gefühl hinterlassen, dass wir alles richtig machen. Dass es sich lohnt, gutes
Fernsehen nicht nur zu sehen, sondern vor allem darüber zu reden,
andere Sichtweisen zuzulassen.
In diesem Jahr konnte die Entscheidung nicht knapper sein. „Zivilcourage“, als Nachnominierung noch auf unserem Tisch gelandet, überzeugt
uns schließlich durch Schauspiel, Geschichte und Machart. Götz George
imponiert uns Zuschauern in der Rolle des feinsinnigen Buchhändlers
Jordan einmal mehr durch sein gekonntes Spiel. Zivilcourage als Thema
– durch den Fall Dominik Brunner, der auf einem Münchener S-Bahnhof
sterben musste, weil er sich einmischte, wieder verstärkt in den Fokus
der Öffentlichkeit gerückt – verlangt von uns, Position zu beziehen
und erregt eine belebende Diskussion in unseren Reihen. Und letztlich
werden Spiel und Thema hervorgehoben durch eine Kameraführung, die
die Szenerie nicht nur in das rechte Licht setzt, sondern gleichsam eine
Marler Gruppe
obere Reihe, v.l.n.r.
Kurt Langer, Pascal Weiland,
Laura Dibetta, Ines Müller,
Lisa Höfner, Julia Schmidt
mittlere Reihe, v.l.n.r.:
Margret Grützner, Ursula Möbus,
Melissa Meldrum, Julia Gievert,
Anita Kolb, Martha Kubitsch,
Gabriele Knafla
untere Reihe, v.l.n.r.:
Tim Hartelt, Christiane Tausch,
Foto: Grimme / Jorczyk
G
von Gabriele Knafla
Janina Klima, Martha Paszkiewicz,
Monika Kaczerowski, Leo Hansen
98
47. GRIMME-PREIS 2011
Sonderpreis Kultur des Landes NRW
Schnitzeljagd im Heiligen Land
KI.KA
Foto: MDR / KI.KA
SONDERPREIS KULTUR DES LANDES NRW
Produktion: Eikon Süd, Tellux-Film, Cross Media Medienproduktion
Produktion: Eikon Süd, Tellux-Film,
Cross Media Medienproduktion
Buch: Burkhard Feige
Regie: Felix Hassenfratz
Idee / Leitung: Dr. Matthias Huff
Erstausstrahlung: Sonntag, 28.11.2010
(Doppelfolge), 5.12.2010, 12.12.2010
Sendelänge: 4 Folgen, je 25 Min.
Schnitzeljagd im Heiligen Land
Ben ist auf einer Mission im Heiligen Land, genauer gesagt auf einer Schnitzeljagd. Er sucht Gott. In der Altstadt
von Jerusalem spricht er eine ältere Touristin an: „Ich bin schon 53 und suche immer noch nach ihm“, sagt sie.
Der Händler nebenan hat da eine ganz andere Meinung: „Gott ist überall.“ Doch Ben gibt sich mit diesen Antworten nicht zufrieden – irgendwo muss es doch einen Ort geben, an dem er Gott begegnen kann. Er verabredet
sich mit drei jungen Mädchen. Eine Christin, eine Jüdin und eine Muslimin – sie wollen ihm helfen, Gott zu finden.
Dabei schicken sie Ben auf eine Schnitzeljagd durchs Heilige Land. In der vierteiligen Reihe lernt Ben dabei Orte
kennen, die alle einen wichtigen religiösen Bezug haben. Die Geburtskirche in Bethlehem, die Abrahams-Moschee in
Hebron oder die Klagemauer in Jerusalem – überall begegnet er Menschen, die ihre ganz eigene Vorstellung von
Gott haben. Ben verschlägt es sogar in die Wüste, wo er sich ein wenig fühlt wie Moses, der das Volk Israels aus
Ägypten führte. Er beobachtet, wie Kinder im jüdischen Religionsunterricht aus der Thora vorlesen und bestaunt
ein Replikat der Bundeslade. Auf seiner Reise stellen ihm verschiedene Kinder ihre persönlichen Lebenswelten
vor. Sie erklären ihren Glauben und lassen ihn an ihrem Leben teilhaben. Als Ben nach allen Stationen mit vielen
Eindrücken und gesammeltem Wissen zu seinen Freundinnen nach Jerusalem zurückkehrt, warten sie schon
gespannt auf die Lösung: Wo genau findet man denn nun Gott? Seine Antwort ist denkbar einfach und äußerst
schwer zugleich: „Genau hier, in Hebron, in Bethlehem – Gott ist überall.“
47. GRIMME-PREIS 2011
Burkhard Feige
(Buch)
Felix Hassenfratz
(Regie)
Dr. Matthias Huff
(Idee / Leitung)
Burkhard Feige
Burkhard Feige, geboren 1972 im baden-württembergischen Hechingen, wuchs in Tübingen auf. Nach seinem
Abitur studierte er an der Tübinger Universität zunächst
Philosophie, Jura und Rhetorik, ehe er an die HFF
München wechselte. Seit seinem Abschluss mit dem
mehrfach ausgezeichneten 30-Minüter „Solo“ arbeitet
Burkhard Feige als Autor und Regisseur. Nach diversen
Kurz- und Dokumentarfilmen, Werbespots und Musikvideoclips drehte er 2009 seinen ersten langen Spielfilm
„U.F.O.“, der auf zahlreichen Festivals lief. Momentan
bereitet er seinen zweiten Langfilm „Kaffeefahrt“ vor.
für
Schnitzeljagd im Heiligen Land
(KI.KA)
Foto: Christian Strang
Sonderpreis Kultur des Landes NRW
an
99
Felix Hassenfratz
Der 1981 in Heilbronn geborene Felix Hassenfratz hat
an der Internationalen Filmschule Köln Regie studiert.
Produktion: Eikon Süd, Tellux-Film,
Cross Media Medienproduktion
Als Regieassistent arbeitete er schon früh mit Romuald
Karmakar zusammen. Für verschiedene Fernsehforma„Der Verdacht“ erhielt 2008 den deutschen Kurzfilmpreis sowie den Studio Hamburg Nachwuchspreis für
BEGRÜNDUNG DER JURY:
das beste Drehbuch. Felix Hassenfratz arbeitete zuletzt
am Dokumentarfilmprojekt „Triangle“, einer gemeinsamen Arbeit deutscher, polnischer und israelischer Fil-
„Wo ist Gott?“: Diese Frage stellt KI.KA-Moderator Ben zu Beginn der
vier Folgen umfassenden „Schnitzeljagd durchs Heilige Land“ nicht
irgendwo, sondern auf heiligem Boden. Und wo sonst sollte er suchen
als in Israel – in Jerusalem, Hebron und in der Wüste –, an den Geburtsstätten der drei abrahamitischen Religionen? Spielerisch verstrickt Ben
die Zuschauer weiter in die immer aktuell bleibende Frage „Welche
Religion ist eigentlich die Richtige?“ – eine Frage, deren falsche Beantwortung schon Nathan den Weisen den Kopf hätte kosten können.
memacher.
Foto: Andreas Prost
te arbeitete Hassenfratz als freier Autor. Sein Kurzfilm
Dr. Matthias Huff
Dr. Matthias Huff wurde 1962 in Köln geboren und hat
an der FU Berlin Germanistik studiert. Die Promotion
folgte 1993. Zwischen 1989 und 2000 war er Redakteur
beim ZDF in Berlin. Seine Schwerpunkte umfassten hier
Kinder und Jugend, Aktualität sowie Kultur. Darüber
hinaus war er Autor für die ZEIT und Deutschlandradio Kultur. Seit 2000 leitet Matthias Huff die Redaktion
„Information & Show“ des Kinderkanals von ARD und
ZDF. Hier verantwortet er unter anderem „KI.KA LIVE“,
„Fortsetzung folgt“ und „Trickboxx“.
Foto: KI.KA
Die Antworten, die Ben findet, sind vielfältig und haben vor allem nichts
zu tun mit politischem Kalkül. Sie stammen von Kindern, mit denen Ben
während seiner Reise über Gott und die Welt spricht. Die Kinder führen
uns, die Zuschauer, in ihre Religion, ihre Kultur und Geschichte ein. Der
Weg führt zu heiligen Orten und in den Alltag der Protagonisten. Wie
schon im Vorbild der Ringparabel führt die Lösung auf die Frage „Welche
Religion ist die Richtige?“ nicht über die reine Lehre, sondern über das
Handeln der Menschen. Wie leben denn eigentlich Juden, Christen und
Muslime? Inwiefern und wie genau bestimmt ihre Religion ihren Alltag?
Beiläufig, spielerisch, wie es der Titel verspricht, lernt man in der Schnitzeljagd Wissenswertes über Gott und das Heilige Land. Umgesetzt mit
moderner Technik, attraktiv, mit vielfältigen Perspektiven.
„Wir verbinden die Auszeichnung mit dem Wunsch
nach mehr Programmen, die Kindern und Jugendlichen den Blick über den kulturellen Tellerrand
hinweg ermöglichen. „
Felix Hassenfratz
Nur das Ende verlässt sich nicht auf die Weisheit und die Annäherung über Fragen und Wissen der Kinder. Denn zum Schluss wird die
Frage „Wo ist Gott?“, die in so vielen Facetten gespiegelt und diskutiert
wurde, schlicht eindeutig aufgelöst: indem ein T-Shirt mit Herzaufdruck
als Lösung und Antwort ins Bild gesetzt wird.
Foto: MDR / KI.KA
In allen vier Folgen werden Kinder von Kindern – nur anmoderiert durch
Ben – auf Augenhöhe in den unglaublich komplexen Zusammenhang
von Religion, Tradition und Alltag eingeführt. Gerade weil sie ohne
dozierenden Unterton auskommt, ist die Reihe glaubwürdig für Kinder.
Und sie macht klar: Auch bei Ehrfurcht einflößenden und komplexen
Themen wie „Gott“ und „Religion“ lohnt es sich nachzufragen. Die Antworten jedenfalls sind hoch spannend und unterhaltsam obendrein.
Erwachsene Zuschauer mögen ermessen, dass die Beiträge nicht nur
„theologisch geprüft“ sind, sondern dass ihnen auch ein immenser
Rechercheaufwand zugrunde liegt. Alle Kinder und Jugendlichen der
Reihe zeigen ihr Zuhause, und auch der Plausch mit den Wächtern der
Grabeskirche dürfte gut vorbereitet gewesen sein.
Ben auf „Schnitzeljagd im Heiligen Land“
100
47. GRIMME-PREIS 2011
Die Auszeichnung des Stifters Besondere Ehrung des Deutschen Volkshochschul-Verbandes
Letzter Volksschullehrer der Nation
von Patrick Bahners
Foto: ZDF / Carmen Sauerbrei
BESONDERE EHRUNG
Der Unterhalter Thomas Gottschalk:
eine (kultur-)kritische Würdigung
K
arol Wojtyla wurde am 18. Mai 1920 geboren, Thomas Gottschalk
am 18. Mai 1950. Der Pole wurde 1978 zum Nachfolger des Heiligen
Petrus im Amt des Bischofs von Rom und Patriarchen der universalen
Kirche gewählt, der Deutsche trat 1987 die Nachfolge von Frank Elstner
als Moderator der Samstagabendshow
„Wetten dass“ im Zweiten Deutschen
Fernsehen an. Während des Pontifikats
von Johannes Paul II. wurde Gottschalk
einmal gefragt, ob er eigentlich wisse,
dass er am selben Tag Geburtstag habe
wie der Papst. Er antwortete: „Ich weiß das schon, ich weiß nur nicht,
ob der Papst es weiß.“
Unterhaltungsfernsehens, im Reich des Aufgesagten, Eingespielten und
Abgespulten. Gottschalk frappiert, indem er sich Freiheiten nimmt und
dann keinen Gebrauch davon macht. Im Fluge passiert er die Grenzanlagen der Schicklichkeit, man lacht und weiß dabei schon, dass er
Im Fluge passiert er die Grenzanlagen der Schicklichkeit, man
lacht und weiß, dass er die Grenze gar nicht überschritten hat.
Geistesgegenwart ist das Geheimnis der Wirkung von Thomas
Gottschalk, und in dieser Antwort offenbart sich, was für ein Geist
da über die Jahre und bis heute in fast beängstigender Vitalität
Präsenz zeigt, in der geistfernen, ja, scheinbar geisttötenden Sphäre des
die Grenze gar nicht überschritten hat. Der Akt der Unverfrorenheit ist
Kunststück, riskant für den Artisten, aber ohne Gefahr für den Rest der
Welt.
Es geht um ihn. Man kann sagen: Es geht immer auch um ihn. Das
ist sein Beruf, sein höchst merkwürdiges Metier. Die Grundregel der
professionellen Welt, dass es auf die Person des Profis nicht an-
47. GRIMME-PREIS 2011
kommt und er tunlichst von sich absehen soll, ist hier von vornherein
suspendiert. Ein schlechter Witz wäre es, wollte der Entertainer wie der
Arzt und der Anwalt die Fiktion kultivieren, er feiere seine Triumphe als
selbstloser Diener der Sache.
Gottschalk hat sich von seinen Berufsgenossen seit jeher durch ein
höchst entwickeltes Rollenbewusstsein unterschieden, ein Bewusstsein dafür, dass in seiner Sparte des Schaugewerbes Rolle und Person
schlecht zu trennen sind. Wer durch bloßes Betreten der Bühne einen
Beifallssturm in einem Saal entfesselt, in dem auch für den Deutschlandtag der IG Metall Platz wäre oder für die Mitgliederversammlung
von Bayern München, der muss sich wichtig nehmen. Zum Ausgleich ist
er dann angewiesen auf eine besondere Spielart der Bescheidenheit, das
Wissen um die Voraussetzungen dieser Wichtigkeit, die er nicht leugnen
kann, um die Künstlichkeit der ganzen
Veranstaltung. Aberwitzig ist die Vorstellung, der polnische Papst könnte in
seinem Kalender den Geburtstag eines
deutschen Showmasters angekreuzt
haben, die Mutmaßung, Johannes Paul
habe zur Entspannung von den Mühen der Weltkirchenlenkung samstags
gelegentlich im vatikanischen Kabelfernsehen – er sprach ja perfekt
Deutsch – „Wetten dass..?“ eingeschaltet. Als Gedankenspiel, das
Gottschalk nur anstellte, um es zu verwerfen, ist dieses Szenario urkomisch.
101
siasmus der Jugend angeblich hält. Die Schüler merken, dass ihnen zugetraut wird, den Spott einzustecken und sich mit Witz zu revanchieren.
Gottschalk legt Wert auf die Feststellung, dass seine geprüfte Befähigung zum Lehramt auf den Unterricht in Grund- und Hauptschulen
beschränkt ist. Ins Lesebuch für die Oberstufe möchte er seine dahingeworfenen Sentenzen nicht aufgenommen sehen. Als Vorbild im Fach
des Showgastgebers hat er Hans-Joachim Kulenkampff angesehen, bei
dem die Ironie die vollendete Form der professionellen Selbstdisziplin
war. Indem Kulenkampff seine Distanz zum nutzlosen Quizwissen
und zur vergänglichen Prominenz markierte, konnte er seines Amtes
als Belustiger der Menge walten. Gegen Ende seiner Karriere ließ er
gelegentlich die Diskretion vermissen, die dieser Balanceakt verlangte, und gab zu erkennen, dass er mit seiner Rolle nicht glücklich und
mit dem Publikum nicht zufrieden war. So sah den bewunderten Kol-
Wie eine spiritistische Sitzung ruft Gottschalks große Show
den Familienverband, den man in der sozialen Wirklichkeit
nicht mehr findet, ins Dasein zurück, als flackerndes Bild, für
die Dauer der Séance.
Gottschalk, das versteht sich von selbst, bringt die Relationen nicht
durcheinander, kann Schwärmerei und Frömmigkeit, Popularität und
Charisma unterscheiden. Aber er selbst ist es, der den imaginären
Rollentausch vollzieht und den Papst in seine Gemeinde aufnimmt, wie
ein Kind sich übermütig ausmalt, zum Nationaltrainer oder Schuldirektor berufen zu sein. Ganz unvorstellbar kann es für Thomas Gottschalk
eben doch nicht gewesen sein, den Papst unter seinen Fans zu wissen.
Das liegt an dem kuriosen Universalismus der großen Unterhaltung,
dem gleichsam katholischen Format einer Fernsehware, die sich an keine
bestimmte Zuschauergruppe, sondern buchstäblich an jedermann wendet. Die diffuse Fern- und Breitenwirkung seiner Arbeit, ihr denkbar allgemeiner, verdünnter und fast abstrakter Effekt, muss Gottschalk von
Zeit zu Zeit die Frage eingegeben haben, ob das Ganze eigentlich noch
etwas mit seiner Person zu tun hatte und sein Erfolg nicht vielleicht
doch nur ein Zufall war. Nach dem schrecklichen Unfall des jungen
Mannes, der fahrenden Autos in den Weg gehüpft war, hat Gottschalk
seinen Abschied von „Wetten dass..?“ in Aussicht gestellt, aber nicht
sogleich vollzogen. Dass von Rücktritt gesprochen wurde, als ginge es
um ein politisches Amt, wird ihm nicht recht gewesen sein. Ostentativ
das Richtige zu tun – das war in der gegebenen Situation gerade nicht
das Richtige.
legen jedenfalls Gottschalk, der dessen Schicksal unbedingt vermeiden
wollte. Woher die Hoffnung, keine tragische Figur machen zu müssen?
Gottschalk bestimmte die Fallhöhe vergleichend als Bildungsniveau. In
der Laufbahn des Älteren habe sich das Lebensgesetz des Oberstudienrats erfüllt, der von seinen Schülern und von sich selbst zu viel erwarte.
Er selbst sei zum Glück ja nur ein Volksschullehrer. Gottschalk zieht diesen Begriff dem des Grundschullehrers vor, obwohl mit der Hauptschule
als Regelschule das Berufsbild des Volksschullehrers verschwunden ist.
Die Grundschule legt die Grundlage für die höhere Bildung, und der
Schatten der späteren Anstrengung liegt schon über der Vorbereitung.
Die Volksschule dagegen, diese Vorstellung ruft jedenfalls das Wort auf,
vermittelt ein unschuldiges Wissen, das fast nichts Theoretisches an
sich hat, das Erfahrungswissen einer dörflichen und kleinstädtischen
Gemeinschaft: alles, was man zum Leben braucht, wenn man über den
Horizont der Kindheitswelt nicht hinausgehen will.
Indem Gottschalk sich zum letzten Volksschullehrer der Nation stilisiert,
spielt er den Nachzügler, der sich allen Ansprüchen der Zeitgenossenschaft entzieht. Er betont, dass er am Samstagabend Unterhaltung für
die ganze Familie macht, ohne Rücksicht auf den säkularen Trend, den
die Soziologie, die Marktforschung und sogar die Kirchen als Individualisierung der Lebensverhältnisse beschreiben.
Der Lehrer, wie Gottschalk einer hätte werden können, hat von der
Anstalt denselben Begriff und macht trotzdem Angebote. Er beseitigt
Schwellen, um den Schülern Ausreden für ihre Trägheit zu nehmen.
Seine lässige Kleidung verspricht keine nachlässige Einstellung. Nicht
nur die vom Curriculum vorgeschriebenen Stoffe bedenkt er mit spitzen
Kommentaren. Er verrät auch, was er von manchem plötzlichen Enthu-
Foto: ZDF / Carmen Sauerbrei
Lehrer hatte er werden wollen. Beide Staatsexamina hat er abgelegt, in
Deutsch und Geschichte, und man kann sich lebhaft vorstellen, dass er
ein guter Lehrer geworden wäre. Man kennt den Typus, obwohl er selten
ist. Flotte Sprüche als Markenzeichen: ein Vermittler, der etwas zu verkaufen hat und den Einsatz von Werbemitteln nicht scheut. Kollegen mit
anspruchsvollem Rollenbewusstsein lassen gelegentlich den Satz fallen,
die Schule sei kein Angebot, und schmeicheln mit dieser feinen kulturkritischen Ironie dem Distinktionsbedürfnis besonders eifriger Schüler.
Zwei Fernsehgrößen: Frank Elstner und Thomas Gottschalk
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47. GRIMME-PREIS 2011
Das Setting von „Wetten dass..?“ ist familiär, den Riesenhallen und der
Großprominenz zum Trotz. Die Großprominenten fungieren als Onkel
und Tante aus Amerika, denen zu Ehren die braven Kinder Kunststücke
vorführen, die sie mit rührender Verbissenheit einstudiert haben. Der
Bedarf an neuen Wetten ist so groß, dass er längst nicht mehr aus der
Welt der Hobbys gedeckt werden kann, aus der Sphäre der regulierten und anerkannten Marotten, in der Sonderleistungen auf ein Echo
im Freundes- oder Kollegenkreis zählen dürfen. Bisweilen ist Nachsicht
vom Publikum gefordert, wenn auch an gewonnenen Wetten eigentlich
nur der unbeirrbare Wille bemerkenswert ist.
Eine Wette ist ein archaisches Geschäft mit der Ungewissheit der
Zukunft, ein Appell an den Himmel. Der Wetter braucht eigentlich
einen, der dagegenhält, damit die Wette gilt. Eine echte Wette müsste
das Publikum teilen. Bei „Wetten
dass..?“ drückt jedermann im Saal
dem Kandidaten die Daumen.
Und ob er dann seine Wette gewinnt oder nicht, sein Applaus
sagt in jedem Fall: Das hast du
aber schön gemacht!
„Wetten dass..?“ stellt eine heile Welt dar, wird aber nicht als Weltmodell vermarktet. Die Ideologiekritik, die der Fernsehunterhaltung
vorwirft, den Glauben an die Möglichkeit einer konfliktfreien Gesellschaft zu nähren, findet hier keinen Ansatzpunkt. Dass es in dieser
Arena zivil zugehen kann, ohne langweilig werden zu müssen, hat seinen
Grund in einem glücklichen Umstand: im Charakter des Moderators. Gottschalk steckt mit seiner Freundlichkeit an. Aber wie manche
seltenen chemischen Elemente in der freien Natur gar nicht vorkommen, sondern durch listige Vorrichtungen im Labor erzeugt werden
müssen, so lässt sich das Überspringen des Funkens der Gutmütigkeit
nur in der Studiosituation beobachten.
„Wetten dass..?“ ist im Einerlei der Fernsehunterhaltung eine Welt für
sich, für die Gottschalk das poetische Bild des „wunderbaren Atolls“
Die Geschichtswissenschaft lehrt, dass es keine Großmacht
ohne Sendungsbewusstsein gibt. Thomas Gottschalk ist in der
Welt des deutschen Fernsehens wohl die einzige Supermacht,
aber er hat keine Mission.
Was unterscheidet die Familie
von anderen Gruppen? In der Familie wird mit Rollen experimentiert,
aber niemand darf auf eine Rolle festgelegt werden. Jedes Familienmitglied soll sich als Person anerkannt fühlen. Was er oder sie tut, interessiert jeden anderen, weil er oder sie es ist. Wie eine spiritistische Sitzung
ruft Gottschalks große Show den Familienverband, den man in der sozialen Wirklichkeit nicht mehr findet, ins Dasein zurück, als flackerndes
Bild, für die Dauer der Séance. Gottschalk mag die Vorstellung, dass ein
Erfolg seiner Arbeit die Familienzusammenführung auf Zeit ist, bezeichnet diese Idee aber ausdrücklich als Einbildung, als nützliche Fiktion, die
ihn motiviert. „Es ist einfach ein schönes Gefühl, wenn dir irgendwo ein
tätowierter Finsterling begegnet und plötzlich anfängt zu grinsen: ,Ey
Tommy, geile Show!’ Dann bilde ich mir ein, dass der am letzten Samstag
friedlich neben Mutti auf dem Sofa gesessen hat.“
Die Kriminalstatistik wird für Samstage mit „Wetten dass..?“ wohl keinen
signifikanten Rückgang der Gewalttaten ausweisen. Dass tätowierte
Männer zu unfriedlichem Verhalten übergehen, sobald sie sich der mütterlichen Aufsicht entziehen, ist eine Annahme aus einer Epoche, in
der die semiotische Ordnung des öffentlichen Raums noch einfacher
und stabiler war. Der Bereitschaft, dauerhafte Markierungen der Haut
zur Schau zu stellen, lässt sich nicht mehr die Entscheidung ablesen,
ein Leben im Grenzgebiet zur Delinquenz zu führen. Die Mehrzahl der
Prominenten, die Gottschalk bei „Wetten dass..?“ empfängt, dürfte
tätowiert sein.
gefunden hat. Mitten in einem Meer der Indifferenz hat sich ein Ökosystem erhalten, das bunten Vögeln eine Heimstatt bietet. Die romantischen Dichter haben das Land, das ferne leuchtet, nur herangeholt,
damit wir es als versunkenes erkennen. So herrscht über das Eiland der
Wettkönige ein Kaiser, in Personalunion überdies zugleich Oberpriester
und Vorturner, der zugibt, dass sein Reich „eigentlich ein Anachronismus“ ist. Zu den einzigartigen Umweltbedingungen dieses Mikrokosmos
gehört, dass Gottschalks Person, obwohl „Wetten dass..?“ nicht für ihn
geschaffen wurde, überall mit der Institution verwachsen ist. Gottschalk
muss zwischen sich und seiner Sendung keinen Unterschied machen,
sondern kann reden wie ein Ludwig XIV. der von Antoine Watteau
beschworenen Trauminsel Kythera: „Ich bin eine Insel. Die letzte Insel
der Seligen.“
Der prosaische Kontext dieser kühnen Selbstbeschreibung sind die
Freiheiten, die Gottschalk sich gegenüber den Programmgewaltigen
gestatten kann. Aber das phantastische Bild scheint aus einer tieferen
Seelenregion zu stammen. Wetten, dass das spielerische Ernstnehmen
des Selbstbildnisses uns Gottschalks Verhältnis zu seinem Beruf aufschließen kann? Gottschalk verfügt über eine geradezu unheimliche
Fähigkeit zur Selbstobjektivierung. Er kann sich von außen beschreiben,
sachlich und ironisch, sogar als geographische Größe und als mythologischen Gegenstand. Niemand ist eine Insel, außer Thomas Gottschalk.
Foto: RTL
Das unmenschlich Totale des großen Unterhaltungsgeschäfts wird in
dieser Vision fassbar. Der Generalunternehmer, der sein eigenes Kapital
ist, haftet mit seinem gesamten seelischen und körperlichen Vermögen,
mit allem, was er kann. Wer „Wetten dass..?“ einschaltet, betritt das
Gottschalk-Atoll und trampelt auf dem Showmaster herum, kratzt an
den Goldknöpfen, kramt in den Westentaschen, kämpft sich durch den
Urwald der Haare und klettert auf die Spitze der Nase. Es fallen einem
Illustrationen zu Jonathan Swifts „Gulliver“ ein oder das Titelbild des
„Leviathan“ von Thomas Hobbes.
„Es geht um ihn. Man kann sagen: Es geht immer auch um ihn.“
Von außen betrachtet, ist jede Insel durch klar markierte Grenzen
von der Welt geschieden. Sie sind nicht Vereinbarungssache, sondern
naturgegeben. Dass Gottschalks Begabungen und Ansprüche Grenzen haben, hat kein Fernsehkritiker so kühl festgestellt wie er selbst.
Blickt man von innen nach außen, hat es freilich mit einer Insel in Form
eines menschlichen Körpers eine eigentümliche Bewandtnis. Sie muss
als vollständige Welt empfunden werden. Ein etwaiges Hinausschieben
der Grenzen ändert nichts am Charakter der Insel und an den inneren
47. GRIMME-PREIS 2011
Maßverhältnissen. Mit dem Traum von der Extension, das wäre die Pointe dieser spekulativen Selbstbildexegese, erledigt sich der Gedanke an
die Expansion. Gottschalks Reich strebt nicht nach der Unterwerfung
neuer Provinzen und erst recht nicht nach dem Erwerb von Kolonien.
Die Geschichtswissenschaft lehrt, dass es keine Großmacht ohne
Sendungsbewusstsein gibt. Thomas Gottschalk ist in der Welt des
deutschen Fernsehens wohl die einzige Supermacht, aber er hat keine
Mission. Den Mittelpunkt seines bürgerlichen Lebens hat er nach Kalifornien verlegt, in den äußersten Westen der Vereinigten Staaten, der
Vormacht der globalen Unterhaltungskultur. Aber in seiner Arbeit treibt
ihn nicht der Drang voran, die Grenze, die seinen Möglichkeiten von den
Verhältnissen gezogen wird, immer wieder zu überschreiten. Er ist kein
Weltverbesserer und nimmt sich noch nicht einmal die Verbesserung
des Fernsehens vor.
Zweimal, zum 85. und zum 90. Geburtstag, hat Gottschalk Reden auf
Marcel Reich-Ranicki gehalten. Als Kollege sprach er: als Entertainer
über den Entertainer und ausdrücklich auch als Lehrer über den Lehrer.
Er dankte dem berühmten Kritiker dafür, dass dieser die Gelegenheit, bei
„Wetten dass..?“ als Anwalt der Literatur aufzutreten, nicht verschmäht
hatte – im Gegensatz zu einem ebenso berühmten Schriftsteller: „Mit
der guten Absicht des Volksschullehrers, der den Heimatdichter in die
Deutschstunde einlädt, habe ich als Grundschulpädagoge der Nation
auch Günter Grass ein Sofaplätzchen vor 15 Millionen Deutschen angeboten. Er hätte was draus machen können.“
Als es Gottschalk 2008 gelang, bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises den Ehrenpreisträger Reich-Ranicki zu besänftigen, der
plötzlich nicht mehr geehrt werden wollte, sondern aus dem Stegreif
eine Schimpfrede gegen das Fernsehen hielt, war von einer Sternstunde
die Rede, ja, vom Comeback des Thomas Gottschalk, der sich bei „Wetten dass..?“ eher rar gemacht hatte, des Genies des rettenden Einfalls.
Mindestens ebenso bemerkenswert wie Gottschalks taktvolles Eingreifen,
ein Reflex der Menschenfreundlichkeit, war seine nachträgliche Kommentierung der Affäre.
Im Gespräch mit dem „Spiegel“ äußerte er auf dem Hintergrund großer
Bewunderung klare und deutliche Kritik an Reich-Ranicki. Dessen vor
der Kamera geäußerte „Totalablehnung“ des Fernsehens sei schon
deshalb „überzogen“ gewesen, weil er selbst zum „TV-Establishment“
gehöre und dem „Literarischen Quartett“ zumindest „einen Teil seiner
persönlichen Prominenz“ verdanke. „Reich-Ranicki taugt nicht zur
Galionsfigur im Kampf um mehr Niveau im Fernsehen.“ Ihm fehle schon
das Wissen, um sich seriös äußern zu können. An jenem Abend in Köln
sei Reich-Ranicki, so Gottschalk mit dem Freimut der Freundschaft, „die
Sicherung durchgebrannt“.
Thomas Gottschalk hat sich Programmreformern nie als Galionsfigur
oder Admiral zur Verfügung gestellt, weil er seiner Lage Rechnung
tragen will. Er ist ein Teil des Systems, mit einer Formulierung, die die
Selbstobjektivierung ironisch zur Selbstverachtung zuspitzt: „ein Stück
Glotze“. Man mag bedauern, dass er die Quote als Gottesurteil akzeptiert. Aber es ist ein zutiefst demokratischer Zug, dass der Volksschullehrer des ganzen Volkes eine pädagogische Sendung von sich weist.
Patrick Bahners
des Feuilletons der FAZ. Er hat in Bonn und Oxford
Geschichte und Philosophie studiert. Neben seiner
journalistischen Tätigkeit übernahm er Lehraufträge an
den Universitäten Bonn und Frankfurt. Jüngst ist sein
Buch „Die Panikmacher: Die deutsche Angst vor dem
Islam. Eine Streitschrift“ erschienen.
Foto: Johannes Löwe
Patrick Bahners, geboren 1967 in Paderborn, ist Leiter
103
Die Besondere Ehrung des Deutschen VolkshochschulVerbandes wird vergeben an
Thomas Gottschalk
BEGRÜNDUNG DES STIFTERS:
Die letzte konstante Größe in der immer hektischer werdenden Fernsehwelt; der populärste deutsche Moderator; ein Grundbestandteil der
öffentlichen Wahrnehmung; der letzte praktizierende Heilige der deutschen TV-Unterhaltung; Geschäftsmann und Flirtmaschine: einige
Blüten aus dem bunten Strauß, den viele Blätter Thomas Gottschalk zum
60. Geburtstag geflochten haben. Fast alle Lobesreden, Analysen und
Kommentare lassen sich leicht zusammenfassen: Thomas Gottschalk
spielt und verkörpert als Entertainer seit gut drei Jahrzehnten in einzigartiger Form eine unverwechselbare Rolle. Mit einer immer wieder
verblüffenden und frischen Mischung aus Fröhlichkeit, Schlagfertigkeit,
Unbefangenheit und intelligentem Witz schafft er das, was manchen
schon als überholt oder gar unmöglich galt und gilt: Menschen mit ganz
unterschiedlichen Hintergründen und aus verschiedenen Generationen
zusammenzubringen und blendend zu unterhalten.
Und eben dies – unterhalten, nicht mehr und nicht weniger – ist das Ziel
seiner professionellen Kunst, die mit bewundernswerter äußerer Leichtigkeit das erreicht, was vielleicht das Schwerste ist: als „Massenclown“
und auch als „Eulenspiegel“ (O-Töne Gottschalk) eine nicht selten lustlos
kreisende und zugleich zunehmend fragmentierte Gesellschaft in selige
Schwingungen zu versetzen und dabei wie nebenbei unterschiedliche
Gruppen zu integrieren. Mit einer ganzen Palette von Eigenschaften und
Fähigkeiten, die sich ohne sichtbare Anstrengung zu stimmigen Bildern
und einer gewinnenden Gesamthaltung zusammenfügen.
Das Verbindende ergibt sich dabei nicht aus dem Unverbindlichen,
sondern aus einer klar konturierten Mixtur, zu der Neugier ebenso
gehört wie Zuwendung, und bei der Respekt, Interesse und Fairness
ebenso ihren Platz haben wie Frechheit, Plauderzauber und pure Lust
am kostümschillernden Rollenspiel. Dass die auf einer simplen Grundidee beruhende, dabei aber durchaus üppig wirkende Show „Wetten
dass.. ?“ – bei der kleine Leute auf große Stars treffen und dabei selbst
mit verblüffenden Fähigkeiten glänzen können – schon so lange funktioniert, ist ohne Thomas Gottschalk nicht denkbar.
Seine menschlichen Eigenschaften und professionellen Qualitäten, die
in ihrer unverbrüchlichen Kombination von hoher Präsenz, witziger
Geistesgegenwart und unübertrefflicher Schlagfertigkeit auch schon
den im Radio gestarteten Anfang seiner medialen Karriere beflügelt
haben – eine Laufbahn mit nicht wenigen Ausflügen in ein vielfächeriges Farbenspektrum des Fernsehens und des Films –, diese Grundausstattung hat ihn auch Ausnahmesituationen mit einer Souveränität
meistern lassen, die selbst jene anerkannt haben, welche der Bühne der
großen Unterhaltung ferner stehen.
Mit Thomas Gottschalk spricht der Deutsche Volkshochschul-Verband
seine Besondere Ehrung einer Persönlichkeit zu, die das Genre der
Fernsehunterhaltung maßgeblich geprägt hat und weiter prägt. Ausgezeichnet wird damit Gottschalks ebenso lust- wie phantasievolle Verkörperung der Entertainer-Rolle, mit stets wachem Witz, einer spürbaren Zuwendung zu seinen Gästen und zum Publikum, mit hoher Präsenz
und der Fähigkeit, mit neuen Konstellationen die Spannung zu halten.
Mit der Besonderen Ehrung zeichnet der Deutsche VolkshochschulVerband „Institutionen und Persönlichkeiten aus, die sich um das
Fernsehen verdient gemacht haben“.
EBERHARDFECHNERFÖRDERSTIPENDIUM
BERT-DONNEPPPREIS
Grimme
Preis
2011
Eberhard-Fechner-Förderstipendium
Am Ende kommen Touristen (ZDF).......................................................................... 106
Bert-Donnepp-Preis
Einige Grundlinien:
20 Jahre Deutscher Preis für Medienpublizistik............................................... 108
Diemut Roether und Michael Ridder.................................................................... 110
Die wahren Helden des Journalismus –
Laudatio auf Diemut Roether und Michael Ridder........................................ 112
Bert Donnepp – Chronik und Vita............................................................................. 115
106
47. GRIMME-PREIS 2011
Eberhard-Fechner-Förderstipendium
Am Ende kommen Touristen
ZDF
Foto: ZDF / Yoliswa Gärtig
FÖRDERSTIPENDIUM
Produktion: 23 / 5 Filmproduktion, Das kleine Fernsehspiel,
Pictorion Pictures
Produktion: 23 / 5 Filmproduktion, Das
kleine Fernsehspiel, Pictorion Pictures,
Britta Knöller, Hans-Christian Schmid
Buch / Regie: Robert Thalheim
Kamera: Yosliswa Gärtig
Schnitt: Stefan Kobe
Ton und Musik: Anton K. Feist,
Uwe Bossenz
Darsteller: Alexander Fehling,
Ryszard Ronczewski, Barbara Wysocka,
Piotr Rogucki u.a.
Redaktion: Christian Cloos
Erstausstrahlung: Montag, 25.01.2010,
0.15 Uhr
Sendelänge: 79 Minuten
Am Ende kommen Touristen
Auschwitz statt Amsterdam. Dass der 19-jährige Sven seinen Zivildienst in der internationalen Begegnungsstätte
des ehemaligen Konzentrationslagers ableistet, hatte er nicht wirklich geplant. Der junge Berliner zieht beim früheren KZ-Häftling Stanislaw Krzeminski ein, um den er sich kümmern soll. Krzeminskis Alltag ist bestimmt von
Koffern, die er für die Ausstellung restauriert, und Zeitzeugengesprächen, in denen dem Holocaust-Überlebenden häufig wenig Respekt entgegengebracht wird. Sven nimmt an Jugendseminaren im Begegnungszentrum
teil und fährt Krzeminski zur Gymnastik, zu Freunden oder auch zur Familie. Die Charaktere könnten in ihrem
Wesen kaum verschiedener sein: Hier der junge Deutsche, der gerne polnische Punkmusik hört und sich gerne unter
Menschen begibt, da der über 80-jährige Pole, der gerne Schubert hört und am liebsten alleine ist. „Mein Platz ist hier“,
entgegnet Krzeminski seiner Schwester, die ihn aus dieser Isolation holen will. Sven zieht derweil zur jungen Ania,
die als Touristenführerin ebenfalls in der Gedenkstätte arbeitet. Beide kommen sich näher, sehr zum Ärger von
Anias Bruder, der gerade von einer deutschen Chemiefirma gefeuert wurde. Aber das Schicksal der jungen Beziehung scheint besiegelt: Sie möchte nach Brüssel ziehen, um als Dolmetscherin bei der EU zu arbeiten, und auch der
junge Deutsche will Oświęcim verlassen. „Das ist mir alles zu kompliziert“, sagt er zu Ania bei der Verabschiedung
im Treppenhaus. Doch kurz bevor er den Zug in die Heimat besteigt, hilft er einer deutschen Schulklasse den Weg
zum ehemaligen Lager zu finden. Bleibt Sven doch?
47. GRIMME-PREIS 2011
Robert Thalheim
(Buch / Regie)
Robert Thalheim
Robert Thalheim, geboren 1974 in Berlin, arbeitete
vor dem Studium der Neuen Deutschen Literatur, Geschichte und Politik an der FU Berlin als Regieassistent
am Berliner Ensemble. Beim Regiestudium an der HFF
Potsdam-Babelsberg, das er mit „Am Ende kommen
Touristen“ als Abschlussfilm beendete, zählte Rosa
für
Am Ende kommen Touristen
(ZDF)
von Praunheim zu seinen Lehrern. Er bekam 2004 für
seinen ersten Film „Netto“ den Filmkunstpreis des Festivals des deutschen Films und den Drehbuchpreis der
Berlinale. Thalheim hat in den 90er Jahren in der in-
Produktion: 23 / 5 Filmproduktion, Das kleine Fernsehspiel,
Pictorion Pictures
ternationalen Begegnungsstätte Auschwitz gearbeitet.
BEGRÜNDUNG DER JURY:
E
Auschwitz, das Tor zur Hölle mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“,
eineinhalb Millionen Tote, Erinnerungs-Worthülsen aus Politikermund,
Betroffenheitsstarre. Robert Thalheim gelingt das beinahe Unmögliche:
Er erzählt mit schlafwandlerischer Sicherheit eine zarte Liebesgeschichte
im heutigen Auschwitz. Der Film ist eine Rarität. Er schafft es fast spielerisch, den Bogen von der Vergangenheit ins Hier und Jetzt im polnischen Oswiecim zu schlagen. Er setzt ein sich erinnerndes Individuum
gegen die Mechanik der mehr oder minder standardisierten öffentlichen
Erinnerungskultur.
Erzählt wird aus der Perspektive des 19-jährigen „Zivis“ Sven. Ihn
verschlägt es nur durch Zufall nach Auschwitz. Er hat seine Traum-Stelle
in Amsterdam nicht bekommen. Jetzt muss er in der Gedenkstätte des
ehemaligen KZs den polnischen Holocaust-Überlebenden Krzeminski
betreuen. Der junge Deutsche weiß eigentlich gar nicht, was er hier soll.
Und Krzeminski (gespielt vom Wajda-Schauspieler Ryszard Ronczewski),
der tagsüber Schulklassen von seinen KZ-Erlebnissen erzählt und abends
die alten Koffer seiner ermordeten Mithäftlinge repariert, will keinen
Aufpasser und schon gar keinen Deutschen. Das schafft Probleme.
Doch Robert Thalheim will kein Drama. Beiläufig und ohne jegliches
Pathos erzählt er in ruhigen Bildern vom Lebensgefühl seines jungen
Helden an diesem historisch sensiblen Ort. Wie es sich anfühlt hier zu
leben, zu arbeiten und zu lieben. Ausgerechnet an den Postkartenständern in der berüchtigten Lagerstraße begegnet er Ania, einer emanzipierten jungen Polin. Und so wird Auschwitz mit seiner Topografie des
Grauens und dem heutigen Gedenkstätten-Rummel zum Hintergrund
einer stimmigen Adoleszenzgeschichte - en passent und schwerelos.
Robert Thalheim – ein Schüler von Rosa von Praunheim – gelingt es,
mit zielsicheren Dialogen und genauer Schauspielführung eine große
Nähe zu seinen Figuren herzustellen. Alexander Behling verkörpert Sven.
Es ist eine gelebte, unforcierte Nähe zu seinem Helden, das spürt man,
denn Thalheim hat wie bereits bei seinem Erstling „Netto“ das Buch
selbst geschrieben. „Am Ende kommen Touristen“ basiert auf eigenen
autobiografischen Erlebnissen als Zivildienstleistender in Auschwitz. Es
ist die sichtbar gemachte Perspektive der Nachgeborenen, einer Generation junger Europäer, die in Thalheims Film über alle narrativen und
inszenatorischen Fähigkeiten hinaus überzeugt und die zu einem
tiefer gehenden Geschichtsverständnis beitragen könnte – weg von
verordneter und kollektiver Holocaust-Bewältigung hin zu individuellem Gedenken.
Foto: Ali Ghandtschi
Das Eberhard-Fechner-Förderstipendium
der VG BILD-KUNST
wird vergeben an
107
gal, wie die Medienlandschaft
künftig aussieht: Ohne Inhalte
geht nichts. Mit den Machern steht
und fällt alles. Ihre Vorstellungen,
ihr Können, ihre Fähigkeiten bestimmen letztlich das, was realisiert wird. Weil ohne entsprechende materielle Voraussetzungen die
schönsten Gedanken nicht zu
fertigen Programmen werden, ist
vor vier Jahren ein Förderstipendium im Rahmen des Grimme-Preises ins Leben gerufen worden. Die bisherigen vier Stipendiaten Alejandro Cardenas-A. (für „Alias Alejandro“),
Thomas Durchschlag (für „Allein“), Clemens Schönborn (für „Der Letzte
macht das Licht aus“) und Suzan Sekerci (für „Djangos Erben“) waren
mit diesen Produktionen für den Grimme-Preis nominiert und ernteten
viel Jury-Anerkennung – die Preisnähe war jedes Mal zu spüren.
Mehr als erfreulich ist, dass dieses wertvolle Instrument jetzt auf der
festen Basis von weiteren fünf Jahren weitergeführt werden kann. Unter
einem Namen, der zu den ganz Großen des Fernsehens gehört: Eberhard
Fechner – ein Filmschöpfer von hohen Gnaden, von der „Nachrede auf
Klara Heydebreck“ über den TV-Zweiteiler „Tadellöser & Wolff“ und die
große Dokumentation über den Maydanek-Prozess bis zu „La Paloma“.
Als das Kulturwerk der Verwertungsgesellschaft beschloss, das Instrument
des Förderstipendiums im Rahmen des Grimme-Preises mit eigenem Akzent weiterzuführen, war die Entscheidung ebenso einmütig, den 1992
verstorbenen Eberhard Fechner (selbst mehrfacher Grimme-Preisträger,
ausgezeichnet auch mit der Besonderen Ehrung für sein Lebenswerk) als
Namenspatron zu wählen: „Eberhard-Fechner-Förderstipendium der VG
BILD-KUNST“, so lautet die Bezeichnung vollständig und offiziell. Die VG
BILD-KUNST freue sich sehr, „mit diesem Förderstipendim ein Zeichen
zu setzen und jungen, aufstrebenden Filmemachern eine Starthilfe zu
geben“, so begründet Cay Wesnigk, Verwaltungsratsvorsitzender dieser
Verwertungsgesellschaft, die auch rund 8000 Filmschaffende vertritt,
das Engagement. Damit entspreche man auch dem gesetzlich festgelegten kulturpolitischen Auftrag. Besonders erfreulich ist, dass auch
in Zeiten der äußeren Krise diese Kulturförderung möglich sei, zumal
der Förderbetrag für junge Filmemacher gegenüber den Anfangsjahren
beträchtlich ausgeweitet wurde – auf 15.000 Euro.
Er sei überzeugt, so Wesnigk (der auch Mitglied des Kulturwerks der
VG BILD-KUNST ist und, nicht zu vergessen, selbst Grimme-Preisträger),
dass mit dieser Entscheidung das Grimme-Engagement für Qualitätsfernsehen und die ebenfalls auf hohe Qualität zielenden kulturpolitischen Zielsetzungen der VG BILD-KUNST eine „produktive und fruchtbare Verbindung eingingen.“
108
47. GRIMME-PREIS 2011
Im Dienst des Publikums und der Macher
Einige Grundlinien: 20 Jahre Deutscher Preis für
Medienpublizistik
von Ulrich Spies
Kirche und Rundfunk: ein damals zwei Mal wöchentlich erscheinender Medienfachdienst mit einem meinungsfreudigen, auf aktuelle
Medienthemen und Ereignisse reagierenden Tagebuch, klug formulierten und gut recherchierten Aufsätzen, hintergründigen und aufschlussreichen Interviews, programm- und medienpolitischen Nachrichten,
Hörfunk- und Fernseh-Kritiken, mit Analysen, Kommentaren, Glossen und Personalien aus der Medienbranche, auch mit der wichtigen
Dokumentation. Ausgezeichnet wurde seinerzeit die gesamte vierköpfige
Redaktion, die damals aus Stefan Jakob, Uwe Kammann, Volker Lilienthal und Gisela Zabka bestand.
Foto: Mathias Pikelj
Tages- und Wochenzeitungen mit eigenen Medienseiten werden fast
ausschließlich von überregional tätigen Verlagshäusern verbreitet.
Cornelia Bolesch erhielt für die von ihr verantwortlich geleitete Hörfunkund Fernsehseite der Süddeutschen Zeitung 1992 den Bert-DonneppPreis. Diese Seite liefert bis heute vorankündigende und nachträgliche
Programmkritiken, investigative Beiträge zu medien- und programmpolitischen Entwicklungen, Nachrichten und Kommentare zu aktuellen
Medienvorgängen, Berichte von Fachtagungen im In- und Ausland.
Besondere Ehrung für Bert Donnepp beim 25. Grimme-Preis 1989
D
er von Bert Donnepp erfundene und vom Deutschen Volkshochschul-Verband auf den Weg gebrachte Grimme-Preis zeichnet
seit 1964 in Marl herausragende TV-Leistungen aus, die nach Inhalt
und Form als Vorbild für die Fernsehpraxis dienen. Seit nunmehr zwei
Jahrzehnten existiert der Deutsche Preis für Medienpublizistik. Ins Leben
gerufen 1991 vom Verein der Freunde des Adolf-Grimme-Preises, die
damit – in Ergänzung zu den Grimme-Preisen – herausragende journalistische Leistungen auf dem Gebiet der Medienpublizistik auszeichnen. Nach dem Tod von Bert Donnepp wird die mit 5.000 Euro dotierte
Auszeichnung als BERT-DONNEPP-PREIS – Deutscher Preis für Medienpublizistik vergeben.
Im Verlauf seiner Geschichte wurden mit diesem Preis sehr verschiedene
Leistungen und Beiträge ausgezeichnet, die jedoch nach dem Statut
eines miteinander verbindet: Herstellung von Transparenz – und dies
in einem kaum noch durchschaubaren Dickicht von Interessensverquickungen bei Medienverlagen, Hörfunk- und TV-Sendern (öffentlich-rechtlicher und privater Provenienz), Medienpolitik und Medienwirtschaft. Welche Grundlinien sich dabei herausgebildet haben, das
zeichnet dieser Beitrag nach.
Den Anfang macht 1991 das Redaktionsteam der Publikation epd /
Die empirische Medienforschung veröffentlicht wichtige Informationen
über Fusionen und Konzentrationen auf dem Mediensektor. Horst
Röper und sein unabhängiges Dortmunder Formatt-Institut, 1993
prämiert, zählt hier zu den führenden Adressen in Deutschland. Mit seiner
jährlichen Analyse „Formationen deutscher Medienmultis“ findet Röper
breites Gehör – und mit seinen klaren Thesen-Zuspitzungen immer
wieder einen bevorzugten Platz auf den Medienseiten dieses Landes.
Wichtige Hinweise für Fernsehzuschauer zum Programmangebot der
öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkanstalten liefert die
Programmpresse. Mit der seit den 90er Jahren zu konstatierenden
Vervielfachung des Senderangebots und der Verbreitungswege ist die
Zahl der am Zeitungskiosk erhältlichen TV-Zeitschriften kontinuierlich gestiegen. Eine der ersten Publikumszeitschriften mit 14-tägiger
Erscheinungsweise ist TV Spielfilm. Christian Hellmann hat sie als Chefredakteur mit auf den Weg gebracht und zum Erfolg geführt, dafür wurde er 1994 ausgezeichnet.
In den Folgejahren gab es Preise für Oiver Herrgesell (1996 für die
Leitung der Medienredaktion von Die Woche), Klaudia Brunst – heute
Klaudia Wick – (1997 für die Chefredaktion der taz), Michael Hanfeld
(1999 für die Medienseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung FAZ).
Zur Jahrtausendwende werden mit Sybille Simon-Zülch und Fritz Wolf
zwei erfahrene und auch durch eine Vielzahl von Grimme-Diskursen
in den TV-Genres Fiktion und Dokumentation profilierte Fernsehkritiker prämiert. Bei beiden finde man Eigenschaften, so Thomas Schadt in
seiner für Anforderungen an die Medienkritik exemplarischen Laudatio,
„die man leider nur allzu oft, sowohl in den Produkten des Fernsehens
selbst, als auch in der darüber schreibenden Fernsehkritik schmerzlich vermisse: handwerkliches Verständnis, und wirkliches Interesse
für’s Thema; nötige und überlebenswichtige Distanz zum Motiv, um
den scharfen Blick darauf nicht zu verlieren; Neugierde und Offenheit
gegenüber Neuem und Ungewohnten; analytische Begabung, um den
Inhalt hinter der Verpackung anspruchsvoll hinterfragen zu können;
Menschenliebe; und, ganz wichtig: versöhnlicher Humor und Selbstironie an Stelle von denunzierenden und selbst zerstörerischen Zynismen.“
47. GRIMME-PREIS 2011
Stefan Niggemeier, 2003 für die Medienseite der noch jungen Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gelobt, deckt nach Jury-Meinung
ein breites Kompetenzspektrum ab: „Er ist auf dem eher sperrigen
Gebiet der Medienpolitik ebenso fachkundig wie als Programmphilosoph. Was letzteres angeht, ist zu betonen: Er sieht das Programm,
er kennt die Realität des Programms, und das ist heutzutage, wo viele das Programm ungerecht pauschal verachten, ein gar nicht hoch
genug einzuschätzender Faktor.“ Hervorgehoben wird auch, dass
er sich besonders mit den positiven oder negativen Aspekten des
„Trivialen des Programms“ befasse und dort hinschaue, „wo viele aufgrund eines elitären Dünkels gar nicht erst hingucken mögen“.
Einer, dem es bei der Analyse von Fernsehsendungen, der vergleichenden Beobachtung von Programmen und Entwicklungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und des Privatfernsehens, der Kritik an
Entscheidungen der Medienpolitik und Medienwirtschaft immer um
die Querbezüge ging und geht, ist der 2004 mit dem Bert-DonneppPreis ausgezeichnete Medienpublizist Rainer Braun. Charme und
Klasse seines Stils, so Formulierungen aus der Laudatio, bestünden
darin, „dass er sich in seiner Arbeit genau
um die journalistischen Tugenden bemüht,
die sich als angestaubt, zu schwierig, zu
langwierig oder/und zu trocken aus der total
farbübersättigten Welt gegenwärtiger Bilder,
Töne und Wörter nahezu verabschiedet haben“ – wie beispielsweise das genaue Beobachten, um Zusammenhänge
zwischen äußerer Form und inhaltlicher Aussage zu erkennen; eine umfassende Recherche und eine von Häme, Zynismus, Überheblichkeit und
Besserwisserei freie Sprache, dazu auch immer die notwendige kritische
Distanz zum Thema und zu sich selbst. Auch Vokabeln wie unbequem,
unbestechlich, unabhängig und uneitel gehörten zur Lobrede, ebenso
wie der Hinweis auf ein immer spürbares zeitgeschichtliches und politisches Bewusstsein.
Foto: Grimme / Severin
Für Hans-Jürgen Jakobs, der 2001 für das starke medienkritische Engagement im Wirtschaftsressort des Spiegel ausgezeichnet wird, sind Medien, so begründet es die Jury, „in vielem und vornehmlich wirtschaftlich
geprägt, das Geschäft bestimmt das Geschäft. Die damit verbundenen
Prozesse sichtbar zu machen, den Bewegungsradius und die Antriebe
der Akteure zu beschreiben und zu analysieren, das treibt spürbar und
faktenreich lesbar seine journalistische Arbeit an. Dabei verliert er sich
nie an seine Gegenstände aus der so machtdominierten wie schillernden
Medienwelt, sondern er beherrscht sie: mit einer klaren, genauen und
lebendigen Sprache.“
109
Preisträger 2009: Torsten Körner mit Laudator Matthias Brandt
sich für einen ‚taz‘ler‘ gehört, hält er der Branche den Spiegel vor. Seine
Rechercheergebnisse sind Zeugnis exzellenter Branchenkenntnisse und
Kontakte.“
2009 dann zeichnete sich schon mehr als deutlich ab, dass es Fernsehen
im Internet-Zeitalter als ‚klassisches‘ Medium nicht mehr ganz einfach
hat, um Aufmerksamkeit – gerade auch die professionell kritische – zu
erregen. Das spiegelt sich auch in der Lage der Medienseiten, die stark
ausgedünnt oder an den äußersten Rand gedrängt werden. Was natürlich auch das spezifische Genre der Fernsehkritik trifft und betrifft.
Als ein hervorragender Vertreter des nun offensichtlich chronisch
gefährdeten Genres der Fernsehkritik wird der Schriftsteller und Publi-
Die Werte schätzende Fernsehkritik möge als anspruchsvolles Genre auch in Zukunft gehegt und gepflegt werden.
2006 ging der Preis an Jörg Wagner, Redakteur und Moderator des
radioeins-Medienmagazins im rbb-Hörfunk. Für die Jury ist dieses
Magazin eine funkische Spitzenleistung des deutschen Medienjournalismus. Tabus gebe es dabei nicht, auch der eigene Arbeitgeber werde
kritisch widergespiegelt.
Für kritische und aufklärende Medienpublizistik im Fernsehen wiederum
stehen die 2007 ausgezeichneten Kuno Haberbusch, Julia Stein, Nicola
von Hollander und das Redaktionsteam des NDR-Medienmagazins
ZAPP, gelobt dafür, dass sie mit ihrem analytischen Blick und ohne
Rücksichtnahme auf das eigene System – den öffentlich-rechtlichen
Rundfunk – mutige Medienkritik leisteten und „so dem Zuschauer zu
mehr Medienkompetenz verhelfen.“
zist Torsten Körner geehrt. Seine herausragende Stärke sei, so die Jury,
„sehr differenziert Schauspielerleistungen zu beschreiben, ihre Gestik,
Mimik, ihren ganzen Ausdruck zu erfassen“ und dem Leser „die filmischen Figuren in all ihren Nuancen und Schattierungen sehr nahezubringen.“ Er sei insgesamt ein Kritiker „mit ausgeprägter Empathie“,
dem es immer wieder auf unter die Haut gehende Weise gelinge, „die
Empfindungen, die in den Filmen mitschwingen und sich in den Figuren ausdrücken, zu rekonstruieren, so dass seine Texte selbst das Gemüt
derer zum Brodeln bringen, die den besprochenen Film nicht gesehen
haben“. Im Idealfall seien Körners Kritiken somit selbst kleine Filme und
auch „Miniaturen von Essays, die jenseits der Tagesaktualität auf einer
zweiten Ebene – gleichsam als besinnlicher Anhang – basale Fragestellungen des menschlichen Zusammenlebens mit aufnehmen, reflektieren, aus dem Film fortführen und zur Diskussion stellen.“
Die Jury – und das steckt ganz exemplarisch in dieser Entscheidung - versteht ihre Entscheidung, den Bert-Donnepp-Preis an Torsten Körner zu
verleihen, zugleich als Votum dafür, dass die Werte schätzende Fernsehkritik als anspruchsvolles Genre auch in Zukunft gehegt und gepflegt
werden möge, im Dienst der Zuschauer, Leser und Fernsehmacher.
Ulrich Spies
Steffen Grimberg erhält 2008 den Preis für seine Gestaltung des –
damals gefährdeten – Medienessorts der taz „Seine Berichte und Kommentare“, so die Jury, zeichneten sich durch „Unabhängigkeit, Substanz
und Haltung aus. Streng und gerecht, unbarmherzig gegenüber Freund
und Feind, pointiert und klug analysierend, gern nonchalant im Ton,
mal kess, mal kratzbürstig und dann und wann auch subversiv, wie es
Rechts- und Sozialwissenschaften in Frankfurt/Main
und Göttingen. 1974 Dipl. disc. Pol., 1982 Dr. rer. Pol.
an der Freien Universität Berlin. Von 1978 bis 1981 war
er Geschäftsführer der Gesellschaft für interdisziplinäre
Sozialfoschung. Seit 1981 ist Dr. Ulrich Spies Leiter des
Referats Grimme-Preis beim Grimme-Institut, Marl.
Foto: Grimme / Jorczyk
Dr. Ulrich Spies, geboren 1947 in Siegen, studierte
110
47. GRIMME-PREIS 2011
Bert-Donnepp-Preis
Diemut Roether und Michael Ridder
der „Staatsrundfunk“ auf der anderen Seite gegenüber. Da wird manches
pro domo geschrieben, da werden parteiische Attacken geritten statt
Aufklärung zu betreiben. Gerade jetzt sind unabhängige Kommunikationsplattformen wichtig, die sowohl das private als auch das öffentlichrechtliche System mit kritischer Distanz begleiten, die vor Konflikten
nicht zurückscheuen und unbequeme, bohrende Anmerkungen machen.
Sie haben beide ein Gespür dafür, wo man dem Medienbetrieb die Finger
in die Wunden legt, wo man Rückgrat zeigen muss und wo man den bequemen Konsens aufkündigt. Sie haben notwendige Qualitätsdebatten
angestoßen, sie haben Interviews geführt, die ganz uneitel und ohne
Spaßpedal den größtmöglichen Nutzwert für den Leser suchten, sie haben bissig kommentiert, wo es geboten war, und gelobt, wo es half.
Foto: Grimme / Jorczyk
BERT-DONNEPP-PREIS
In dieser Gemengelage haben Diemut Roether, verantwortliche Redakteurin von epd medien, und ihr Redaktionskollege Michael Ridder in den
vergangenen Jahren immer wieder ihre Stimme erhoben, klare Positionen bezogen und medienpolitische Akzente gesetzt, die in Erinnerung
blieben und manchen forderten, die eigenen Standpunkte besser zu
reflektieren und zu kommunizieren. Die hohe Achtung, die epd medien
besitzt – nicht zuletzt, weil hervorragende Publizisten wie Uwe Kammann und Volker Lilienthal hier lange Jahre wirkten – war für Diemut
Roether und Michael Ridder Ansporn, die Tugenden der Publikation mit
den ihnen eigenen Qualitäten zu pflegen.
Die wahren Helden des Journalismus
BEGRÜNDUNG DER JURY:
Kurzatmigkeit ist nicht das Gegenteil von Langeweile. Kurzweilig soll
die Medienpublizistik sein, denn immer schneller schlagen die Medien
Meinungen und Bilder um. Wo blieben die Medienpublizisten, wenn sie
ihre Schlagzahl nicht erhöhten? Diese
eilfertige Logik scheint den Rhythmus vieler Medienredaktionen zu
bestimmen. Die Phänomene werden
oberflächlich observiert, beschrieben,
nachgeahmt. Substantielle Analyse hingegen trocknet immer mehr aus
unter dem Diktat der Mediengesellschaft: Amüsier uns oder wir amüsieren uns ohne dich! Strukturelle Prozesse werden auf Personen reduziert,
vielschichtige Entwicklungen werden in einer These komprimiert und
differenzierte Kritik dampft ein auf ein paar wuchtige Hiebe.
Sie ermutigen und versammeln Tag für Tag einen Stamm von Autoren,
die mit Kompetenz und Leidenschaft die Medienwälder durchforsten.
epd medien gehört – wie auch die Funkkorrespondenz – zu den wenigen publizistischen Organen, die uns über den Tag hinaus helfen, hochkomplexe Medienprozesse besser zu verstehen. epd medien wird dort
gelesen, wo über Medien entschieden wird, und das Knurren, das dort
mitunter zu vernehmen ist, das gequälte Aufstöhnen, das sich ErtapptFühlen, gehört zu den Auszeichnungen, die man sich nicht an die Brust
heften, auf die man aber dennoch stolz sein kann.
Dieser Preis soll auch eine Ermutigung für das Gemeinschaftswerk der
Evangelischen Publizistik sein, ihre hier ausgezeichneten Redakteure in
ihrem Wirken zu unterstützen. Wir alle müssen sparen, aber es muss
dort gespart werden, wo der Nutzen davon nicht zugleich den größeren
Sie haben beide ein Gespür dafür, wo man dem Medienbetrieb
die Finger in die Wunden legt, wo man Rückgrat zeigen muss
und wo man den bequemen Konsens aufkündigt.
Verschärft werden diese Entwicklungen durch das Spannungsfeld, in
dem Medienpublizistik sich hierzulande artikuliert. In mittlerweile ritualisierten Duellen stehen sich die „freie Presse“ auf der einen Seite und
Schaden nach sich zieht. Die Vergabe des Preises ist mit der Hoffnung
verbunden, dass die Redakteure Diemut Roether und Michael Ridder
weiterhin Zeit haben, Bedenkenswertes zu artikulieren, anstatt an einer
besinnungslosen Flut von „News“ sich abzumühen. epd medien muss
auf seine Identität achten, die in der über 60-jährigen Tradition nie davon geprägt war, im tagesaktuellen Sprint die Nase vorn zu haben.
Die Jury des Bert-Donnepp-Preises traut den hier ausgezeichneten
Persönlichkeiten zu, einen langen, tiefen Atem zu haben.
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47. GRIMME-PREIS 2011
Die wahren Helden des Journalismus
Laudatio auf Diemut Roether und Michael Ridder (Auszug)
Foto Grimme / Jorczyk
von Hans-Jürgen Jakobs
W
ahre Helden des Journalismus leben abseits von Lachsschnittchen-Buffets, Galas in Schauspielhäusern, dem Exhibitionismus mancher Videoblogs oder der Monologe in den handelsüblichen
Talkshows. Sie existieren nicht, weil sie sich permanent spiegeln müssen,
weil sie in anderen Medien vorkommen oder als Garanten der EitelkeitIndustrie ihr Dasein fristen – sondern sie sind, weil sie die großen drei
„R“ des Gewerbes ernst nehmen.
Reflektieren, recherchieren, reportieren. Worum sonst geht es? Sie
sind, anders gesagt, pausenlos mit den „W-Fragen“ des Journalismus
beschäftigt. Sie wollen wissen, wer wann wo was und warum gesagt hat
– und lassen ihr Publikum an der Beantwortung teilhaben. Den wahren
Helden des Journalismus interessiert weniger der Effekt des Moments –
die gedrechselte Schlagzeile, die nur halb stimmt oder die laute These,
die in sich zusammenfällt wie das berühmte Soufflé im Ofen –, sondern
vielmehr die akkurate Vermessung der Welt, der sie sich widmen. Es geht
ihnen um nachhaltige Publizistik, um die differenzierende Sichtweise
und die schlussendliche Abwägung der erkannten Tatsachen. Um ein
bisschen Objektivierung. Ja, solche Journalisten gibt es.
Kurzum: Die wahren Helden des Alltags sind so wie die beiden Redakteure, die wir heute auszeichnen: Diemut Roether und Michael Ridder
vom Fachdienst epd Medien.
Diemut Roether und Michael Ridder gehören zu den wenigen, die Kurs
halten. Die beispielsweise in ihrer wöchentlichen Publikation sich wie
ehedem längeren Programmkritiken widmen, die mit ihren Mitarbeitern
ganz altmodischen Fragen nachgehen: Wie gut ist das Drehbuch? Gibt
es da Brüche? Wie arbeitet der Kameramann? Hat der Regisseur bei
anderen Anleihen gemacht? Hält die Story, was der Anfang verspricht?
Oder sie wenden sich in ausführlichen Analysen einzelnen Programmgenres zu oder den Ereignissen in Sendern oder den Entwicklungen in
der Presse. Dafür haben sie den Platz, den eine verästelte Darstellung
braucht. Dass nun auch in den publizierten Textmengen die Autoren-
47. GRIMME-PREIS 2011
Schließlich pflegt epd Medien die Kunst des längeren, ausführlichen Gesprächs, des Ausbreiten von Standpunkten bei gelegentlicher
Gegenrede. Es sind solche Qualitäten, die dieses Medium hervorheben in
einer Branche, die nur zu oft von der Erregung des Augenblicks und der
Überpointierung bestimmter Mainstream-Themen lebt.
Diemut Roether und Michael Ridder sind nicht Mainstream. Auch wenn
Puristen – die es nicht nur in der evangelischen Welt gibt –die beiden
schon einmal kritisieren, wenn sie sich Alice Schwarzer widmen. Die
beiden Preisträger besetzen eine winzig gewordene Nische. Ohne diese
Nische aber würde allen Medien etwas fehlen.
Diemut Roether studierte Journalistik, Informationswissenschaft, Literaturwissenschaft und Geschichte in so gegensätzlichen Städten wie
Dortmund und Madrid. Sie schrieb ihre Diplomarbeit über die Rolle
von „El Pais“ für die Demokratisierung in Spanien, hat für die „Taz“ in
Bremen gearbeitet und schließlich für Tagesschau und Tagesthemen in
Hamburg. Sie wirkte als Dozentin an verschiedenen Ausbildungsstätten
und arbeitet seit Oktober 2002 als Redakteurin bei epd Medien, seit 1.
Juli 2009 in der Funktion der Redaktionsleiterin. Immer wieder spießt
sie mit Kennerblick und zupackender Sprache die Besonderheiten des
Fernseh-Schaffens auf, beispielsweise im Spätsommer 2008 die skurrile
Weigerung eines sogenannten „Literaturpapstes“, den Deutschen Fernsehpreis entgegenzunehmen.
In „L’Eklat c’est moi“ – welch wunderbare Überschrift schrieb sie über
Marcel Reich-Ranicki (es war eine der besten Einschätzungen zum
Thema): „…er sollte bei all seinem vielleicht berechtigten Ärger über das
Medium Fernsehen nicht vergessen, wie viel er selbst diesem Medium zu
verdanken hat. Mehr als das Medium ihm. Seine große Popularität – die
dazu führte, dass auch ‚Bild‘ am Montag und Dienstag mit dem ‚ReichRanicki- Eklat‘ aufmachte – gründet nicht zuletzt darauf, dass er selbst
ein großer Vereinfacher ist. Er kommt im Fernsehen vor allem deshalb
so gut an, weil er so gern ungerechte Pauschalurteile fällt. Im Übrigen
ist es sehr apart zu beobachten, wie die Boulevardzeitung, die sich jahrelang gut von ‚Dschungel-Show‘ und DSDS genährt und damit auch
zum Erfolg dieser Art Fernsehen beigetragen hat, sich nun tagelang
von der Fundamentalkritik des Kritikers nährt. ‚Verlogen‘ ist nicht, wie
Elke Heidenreich behauptet, das Fernsehen oder eine solche Preisverleihung, bei der sich die Branche einmal im Jahr selbst feiert. Verlogen ist
diese Art von parasitärem Journalismus.“ Viel deutlicher geht es nicht.
An Schärfe fehlte es auch nicht, als sie unter der Überschrift „Kalter
Medienkrieg“ die Pro-domo-Berichterstattung mancher Presse-Titel
zum Drei-Stufen-Test neuer Online-Angebote von ARD und ZDF kritisch
kommentierte. Geschätzt ist ihre Interview-Technik, die in Gesprächen
beispielsweise mit dem Regisseur Dominik Graf zu „Im Angesicht des
Verbrechens“, mit den Hörspielregisseuren Paul Plamper und Leonhard
Koppelmann sowie aktuell mit dem ZDF-Intendanten Markus Schächter
zum Ende seiner Amtszeit.
Auch hat sich Diemut Roether mit Leidenschaft dem zentralen Thema
hingeben – wie die Öffentlich-Rechtlichen ein Gleichgewicht zwischen
Quotendenken und Qualitätsversprechen herstellen können. Beispielsweise im Mai 2010 unter dem Titel „Spannungsverhältnisse“ zum 60.
Geburtstag der ARD. „Auch für die ARD gilt, dass sie ebenso selbstbewusst und selbstverständlich mit Kritik umgehen sollte wie sie sich den
Spannungen stellen muss, denen sie aufgrund ihrer Struktur permanent ausgesetzt ist. ‚Die ARD macht uns keiner nach‘, seufzen ARDVerantwortliche gern resigniert, wenn die Vielstimmigkeit wieder einmal überhandnimmt. Doch diese Einzigartigkeit ist ein Grund stolz zu
sein und sich darauf zu besinnen, dass es vor allem das ist, was die
ARD ausmacht: Dass sie anders ist. Und das sollte sich auch in ihren
Programmen spiegeln.“
Im Übrigen findet Diemut Roether beispielsweise, dass das Dritte Programm des Hessischen Rundfunks (dem man in Frankfurt / Main nicht
entweichen kann) durch Sendungen wie „Die unglaublichsten Fahrzeuge der Hessen“, „Hessens schönste Weihnachtsmärkte“ oder „Hessens
beliebteste Ausflugsziele“ zur „Karikatur eines Regionalprogramms
verkommen“. Das wird nur noch getoppt durch die Live-Schaltung in
einen Swinger-Club, wie es im Regionalprogramm des SWR geschah.
Michael Ridder wiederum hat Literatur, Philosophie und Kommunikationswissenschaft in Bamberg, Düsseldorf und Hagen studiert. Er hat bei
der „Frankfurter Rundschau“ volontiert und danach als freier Journalist
gearbeitet, ehe er 2006 in die Redaktion von epd Medien eintrat. Er ist
ein unbequemer, auch unbarmherziger Kritiker der Zunft, zum Beispiel,
wenn er konstatiert, dass sich politische Journalisten hinter Umfrageergebnissen zu Parteien und Politiker verschanzen würden. In der Tat
ähnelt mancher politischer Journalismus längst jener Sport-Publizistik,
die das Auf und Ab in der Bundesliga der Besten beschreibt. Mit 14
Punkten noch führt Karl-Theodor zu Guttenberg, und Angela Merkel hat
es in Brüssel versäumt, Boden gut zu machen. Besonders mit seinen
detaillierten, tief schürfenden Berichten zu den Affären rund um Wilfried Mohren (MDR) und Jürgen Emig (HR) sorgte er für Aufmerksamkeit. Beide hatten Werbung in Sportsendungen verkauft, um sich persönlich zu bereichern. Der Autor schaffte es, Emig kurz vor Haftbeginn
zu einem Interview über sein System und seine Motivation zu bewegen.
Michael Ridder ist ein Connaisseur der ARD-Dauerserie „Lindenstraße“,
zu der er kluge Einschätzungen liefert. Auch schreibt er launige Glossen
oder Medien-Dramolette auf Seite 2 des „epd-Tagebuchs“ oder legte
sich mit „Bild“ an, als er dem Boulevardblatt zu dessen Berichterstattung
über 60 Jahre ARD handwerkliche Fehler nachwies. Und: Ridder sieht
hinter dem Glanz der TV-Hochhausfassaden das Elend des politischen
Taktierens, er weiß, dass die nach außen gerühmte Unabhängigkeit von
Redaktionen in Wirklichkeit manchmal die Ablenkung von den Beutezügen derer in Verwaltungs-, Rundfunk-, Fernseh- und sonstigen Räten
ist. Zur Entmachtung des ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender schrieb
er im Februar 2010: „Für die beiden großen Parteien ist ihr Heimatsender ZDF offenbar ein schöner Flecken Erde, den bloß kein unbequemer
Journalist besudeln soll. Dabei wird immer klarer: Die Rettung für den
Lerchenberg kann nur aus Karlsruhe kommen.“
Im Beitrag „Das wirklich wahre Leben“ hat Michael Ridder bekanntlich einmal sogar Transparenz aus dem Innenleben der Jury-Arbeit am
Grimme-Institut hergestellt und 2009 beschrieben, wie es in der Abteilung „Fiktion“ zugegangen war. „So wurde, obwohl es ein sehr starker
Krimi-Jahrgang war, aus dem Grimme-Institut doch kein Krimi-Institut
– diesen Namen hatte ein Taxifahrer, der eine Jurorin von Recklinghausen Bahnhof nach Marl chauffierte, auf die Quittung geschrieben.“ Sie
sehen, etwas Unterhaltung darf auch bei epd Medien sein. Transparenz
aber muss immer sein.
Die vorliegende Fassung der Laudatio ist eine gekürzte Fassung. Der
komplette Text findet sich im Internet unter www.grimme-institut.de.
Hans-Jürgen Jakobs
Hans-Jürgen Jakobs, geboren 1956 in Wiesbaden, ist
seit 2011 Ressortleiter Wirtschaft bei der Süddeutschen
Zeitung. Er hat VWL an der Universität in Frankfurt studiert. Nach dem Volontariat arbeitete er unter anderem
für den SPIEGEL und die Verlagsgruppe Handelsblatt.
2001 bis 2006 leitete er das Medienressort der SZ und
war anschließend Chefredakteur bei suddeutsche.de.
Foto: Suzanne Eichel
fotos zu sehen sind, gehört zu den Modernitäten, denen sich auch ein
Medium wie epd Medien nicht verschließen kann. Vielleicht wird zum
Überleben noch ein wenig mehr benötigt.
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Der Unterschied ist nicht was wir tun, sondern wie!
(www.blachreport.
47. GRIMME-PREIS 2011
Deutscher Preis für Medienpublizistik
Gründer Grimme-Institut
Preisträger-Chronik
Bert Donnepp
115
Der 20. BERT-DONNEPP-PREIS wurde am 8. Februar 2011
verliehen. Bislang ist die 1991 vom Verein der „Freunde des
Adolf-Grimme-Preises“ gestiftete und mit 5.000 Euro dotierte
Auszeichnung an folgende Persönlichkeiten vergeben worden:
1992 an: Cornelia Bolesch (Fernsehen und Hörfunk, „Süddeutsche
Zeitung“); Besondere Ehrung: Rolf Richter
1993 an: Horst Röper („Formatt“)
1994 an: Christian Hellmann (Redaktion „TV Spielfilm“)
Foto: Grimme/Archiv
1991 an: Uwe Kammann, Gisela Zabka, Stefan Jakob und Volker
Lilienthal (Redaktion „epd / Kirche und Rundfunk“)
Besondere Ehrung: Walter Fabian
1995 an: Oliver Herrgesell („Die Woche“); Besondere Ehrungen:
Andrea Brunnen-Wagenführ und Uwe Kuckei
1996 an: Klaus Ott (Medienredaktion „Süddeutsche Zeitung“)
Besondere Ehrung: Manfred Delling
1997 an: Klaudia Brunst (Chefredakteurin „taz – Die Tageszeitung“)
1998 an: Peter Turi („kress-report“)
1999 an: Michael Hanfeld („FAZ“-Feuilletonredaktion)
2000 an: Sybille Simon-Zülch und Fritz Wolf (Freie Fernsehkritiker
für epd medien u.a.)
2001 an: Hans-Jürgen Jakobs (Wirtschaftsredaktion „Der Spiegel“ / „SZ-Medienseite“)
2002 an: Dieter Anschlag und Dietrich Leder („Funkkorrespondenz“) Besondere Ehrung: Volker Lilienthal
2003 an: Stefan Niggemeier („Frankfurter Allgemeine Sonntags
zeitung“) und Egon Netenjakob (Medienpublizist)
2004 an: Rainer Braun (Freier Journalist für „Funkkorrespondenz“,
„Berliner Zeitung“, „WAZ“, „Neue Zürcher Zeitung“ u.a.)
2005 an: Ulrike Kaiser (Chefredakteurin „Journalist“) und Volker
Lilienthal („epd medien“)
Besondere Ehrung: Rainer Stadler und Balts Livio
2006 an: Jörg Wagner (Medienmagazin rbb radioeins)
2007 an: Kuno Haberbusch und die Redaktion des NDR-Medien
magazins „Zapp“ Besondere Ehrung: Thomas Thieringer
2008 an: Steffen Grimberg (Medienredakteur Die Tageszeitung „taz“)
2009 an: Torsten Körner (Freier Kritiker für „Funkkorrespondenz“ und
„epd medien“, Autor und Biograph)
2010 an: Diemut Roether und Michael Ridder (Redaktion „epd Medien“)
Bert Donnepp wurde am 22. April 1914 in Rosslau an der Elbe geboren. Er besuchte das Goethe-Reform-Realgymnasium in Dessau, wo
ihm 1934 das Zeugnis der Reife überreicht wurde. Von 1934 bis 1940
Studium an der Universität Leipzig und am Pädagogischen Institut Leipzig (Fächer: Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Geschichte und Publizistik). Hier legte er 1938 das Staatsexamen für das Lehramt ab. Von
1940 bis 1945 diente er in der Wehrmacht, geriet in Gefangenschaft
und wurde 1945 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen.
Nach seiner Übersiedlung nach Marl im Oktober 1945 war Donnepp von
1946 bis 1948 zunächst als Lehrer beim Schulverband Marl beschäftigt,
bevor er am 29. März 1949 zum Direktor für das Bildungswerk der Stadt
Marl ernannt wurde. Er war mit der Leitung der Volkshochschule, der
Stadtbibliothek und des Lesesaals beauftragt. Nach zwischenzeitlicher
Promotion zum Dr. phil. an der Westfälischen Landesuniversität Münster wurde er 1979 als Leitender Direktor für das Bildungswerk der Stadt
Marl „die insel“ in den Ruhestand verabschiedet.
In seiner aktiven Zeit als Publizist, Erwachsenenpädagoge und
Organisationsmanager war Donnepp als unermüdlicher Motor mit
dem Aufbau einer Medien-Volkshochschule und der Entwicklung
einer engen Kooperation zwischen der Weiterbildung und dem
Massenmedium Fernsehen beschäftigt: Die am 8. Januar 1955
eingeweihte „insel“ war das erste feste Haus für Kommunale Weiterbildung in Deutschland. Hier entwickelte er Anfang der 60er Jahre sein
„Projekt mit dem Fernsehen“, ein Konzept für die Auslobung eines
Fernsehpreises, der – von Donnepp initiiert – bei der Jahreshauptversammlung des Deutschen Volkshochschul-Verbandes (DVV) 1961 in
Berlin beschlossen wurde und seit 1964 als Adolf-Grimme-Preis alljährlich in Marl vergeben wird. Die ersten 13 Wettbewerbe wurden unter
Leitung von Bert Donnepp von der „insel“ organisiert, bevor – ebenfalls
auf Anregung Donnepps – das 1973 vom DVV als Medieninstitut ins
Leben gerufene Adolf-Grimme-Institut im Jahr 1978 mit der Organisation des Grimme-Preises betraut wurde. Bert Donnepp wurde 1989
beim 25. Grimme-Preis vom DVV besonders geehrt für seine Verdienste
um die Entwicklung des Fernsehens in Deutschland. Als Rundfunkreferent des DVV hielt er fast bis zu seinem Tod 1995 engen Kontakt zum
DVV und seinen Landesverbänden, zu den Rundfunkanstalten und zum
Adolf-Grimme-Institut. Er hatte als Sprecher der Wettbewerbsleitung
des Grimme-Preises und Kuratoriumsvorsitzender des Grimme-Instituts
wichtige ehrenamtliche Führungsämter inne und kümmerte sich bis
zuletzt um „seinen“ Adolf-Grimme-Preis.
Qualitätsoffensive.
Die WAZ Mediengruppe gratuliert
den Grimme-Preisträgern.
www.waz-mediengruppe.de
HINTERGRUND
Grimme
Preis
2011
Sponsoren
Škoda: Vorbildfunktion und höchstes Niveau...................................................... 119
RWE: Kultur unter Strom........................................................................................... 121
Das Plakat zum Grimme-Preis.................................................................................. 123
Der Moderator: Helmar Willi Weitzel................................................................... 125
Die Künstler: Eine persönliche Widmung.............................................................. 127
Der Beirat.......................................................................................................................... 128
Sponsoren, Partner und Förderer des Grimme-Preises 2011............................ 130
SIMPLY CLEVER
Ausgezeichnet in der
Kategorie „Komfort und
Raumangebot“.
ŠKODA. Ofzieller Partner des Adolf-Grimme-Preises. Als einer der bedeutendsten Fernsehpreise wird der Adolf-GrimmePreis nur Personen und Produktionen verliehen, die Maßstäbe in ihrem Bereich gesetzt haben. So wie der ŠKODA
Superb Combi hinsichtlich Fahrkomfort, Raumangebot und Ladevolumen innerhalb unserer Modellauswahl. Lassen Sie
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47. GRIMME-PREIS 2011
119
Vorbildfunktion und höchstes Niveau
Š
koda Auto Deutschland ist seit 2010 exklusiver Fahrzeugpartner
von Deutschlands renommiertester Medienauszeichnung. Bei der
Verleihung des Grimme-Preises sorgt die Marke mit dem geflügelten
Pfeil im Logo mit ihrer Fahrzeugflotte für angemessene Mobilität. Mehr
als zwei Dutzend „Superb“ sind am 1. April unterwegs, um die Gäste aus
der Fernsehbranche stilvoll zum Roten Teppich vor dem Stadttheater
Marl zu bringen.
Nikolaus Reichert, Leiter Unternehmenskommunikation von Škoda Auto
Deutschland, begründet das Engagement so: „Mit dem Grimme-Preis
werden TV-Beiträge ausgezeichnet, die Vorbildfunktion für das Medium haben und höchstes Niveau repräsentieren. Dieser Ansatz verbindet
sich ideal mit dem Qualitätsanspruch von Škoda. Denn zur intelligenten,
Ressourcen schonenden Mobilität gehört auch Beweglichkeit in den
Köpfen. So setzt Škoda aus Verantwortung für die Gesellschaft ebenso
Akzente auf sozialen und kulturellen Gebieten. Wir freuen uns daher,
auch in diesem Jahr Fahrzeugpartner der Preisverleihung zu sein.“
Foto: Skoda
Uwe Kammann, Direktor des Grimme-Instituts, sieht in Škoda „einen
idealen Partner, weil die Marke innovative, kreative und intelligente
Mobilität verkörpert und sehr erfolgreich für ein modernes Konzept mit
überzeugender Qualität steht.“ Damit, so Kammann, entspreche das
so traditionsreiche wie zukunftsoffene Unternehmen den Zielen des
Grimme-Preises: Vorbild und Modell zu sein. Zudem sei es reizvoll, zu
einem Kreis von attraktiven Kulturpartnern zu gehören, die in ihrer
programmatischen und inhaltlichen Arbeit hohe Ansprüche stellten und
genau deshalb von Škoda unterstützt würden.
Schwerpunkte dieses Engagements, das zum festen Programm von
Škoda in Deutschland gehört, sind Filmfestivals, Jazz und Literatur.
Die Zusammenarbeit mit Jungfilmern und arrivierten Filmschaffenden
pflegt Škoda, wie das Unternehmen mit berechtigtem Stolz sagt, mit
Leidenschaft. Denn als die Bilder 1895 laufen lernten, drehten sich auch
die Räder in den böhmischen Werkshallen. Škoda hat verschiedene Filmpreise ausgelobt, wie etwa die „Goldene Lilie“ für den besten Film des
GoEast Festivals in Wiesbaden. Außerdem zählen Schauspielerinnen und
Schauspieler wie Katharina Schüttler, Maria Schrader, Joachim Król oder
Gustav Peter Wöhler zu den „Kulturköpfen“ von Škoda.
Unterstützt werden auch das Berliner Ensemble, das Kulturfest
Weimar mit Nike Wagner, die Stiftung Lesen sowie die Elternakademie
zur Leseförderung. Und nicht zuletzt fördert Škoda als Kulturpartner
den Jazz-Nachwuchs. Gemeinsam mit dem Deutschen Musikrat, dem
Landesmusikrat Rheinland-Pfalz und der Deutschen Jazz Föderation lädt
Škoda junge Bands zum Wettbewerb „Jugend jazzt für Jazzorchester
Denn zur intelligenten, Ressourcen schonenden Mobilität
gehört auch Beweglichkeit in den Köpfen.
mit Škoda Jazzpreis“ ein. Außerdem tourt die Škoda Allstar-Band um
Trompeter Uli Beckerhoff jedes Jahr im Herbst durch Deutschland. Im
Internet findet man die „Kulturseiten“, welche die große Vielfalt von
Škoda-Kulturaktivitäten spiegeln, unter www.skoda-kultur.de.
Apropos Netz: Škoda Auto Deutschland macht auch in diesem Jahr
erneut den Grimme Online Award mobil. Die Flügel des Pfeils tragen
weit.
KULTUR
ELEKTRISIERT!
RWE unterstützt Kreative und Kulturschaffende
tursschaffende mit
vollem Energieeinsatz bei Projekten
en und Initiativen.
Damit neue Impulse entstehen, innovatives
nno
ovatives Denken
gefördert und Grenzen neu definiert
ertt werden.
47. GRIMME-PREIS 2011
121
Foto: RWE
Kultur unter Strom
M
agische Kugeln, die natürlich an die Gestalt der Erde erinnern.
Darauf Lichtlinien, gezackt, mit unterschiedlichen Richtungen,
auf jeden Fall auch schon auf den ersten Blick energiegeladen: So
präsentiert sich ein Lichtobjekt unter dem ebenso anschaulichen wie
einleuchtenden Titel „Blitze“. Es findet sich in einem Museum in der
Ruhrgebietsstadt Recklinghausen (gerade mal zehn Kilometer von Marl
entfernt). Dabei handelt es sich um
kein gewöhnliches Museum, das diese
Blitze beherbergt, sondern um eines,
das zu einem Energiekonzern gehört,
zu RWE.
Insofern verbinden sich für das Unternehmen in diesem Sponsoring, so
wird betont, Kulturförderung, regionale Verbundenheit und eine große
überregionale Strahlkraft in idealer Weise.
Dr. Arndt Neuhaus, Vorstandsvorsitzender der RWE Deutschland AG,
begründet das Engagement, verbunden mit einer sehr herzlichen Gra-
Kulturförderung, regionale Verbundenheit und eine große
überregionale Strahlkraft verbinden sich in idealer Weise.
Dass dies auf ein ganzes Universum
hindeutet, sagt spätestens der Name: Strom und Leben. Eine bessere
Kombination kann es auch für Grimme eigentlich gar nicht geben.
Fernsehen, das ist ja gewissermaßen der Strom der Bilder. Und die
haben, wenn sie denn von hoher Qualität sind, immer mit Leben zu tun.
Im besten Fall: mit gelingendem Leben.
Weil diese Form so hohe Bedeutung hat, ist das Grimme-Institut froh,
dass der Strom-Garant, RWE, wie auch im vergangenen Jahr die Verleihung des Grimme-Preises unterstützt. RWE, dessen Logo die Abstraktion des Kürzels aufhebt und übersetzt als „VoRWEggehen“, unterstützt die nun zum 47. Mal vergebenen Fernsehauszeichnungen auch
mit deutlichem Hinweis auf die Ruhr-Verankerung: eben weil dieser
Preis aus dem Grimme-Institut in Marl die bedeutendste Kultur-Auszeichnung in der Region darstelle.
tulation an alle Preisträger, so: „Der Adolf-Grimme-Preis steht für Qualität. Er ist eine Anerkennung, auf die jeder Medienschaffende stolz sein
kann. Die Arbeit des renommierten Grimme-Instituts wirkt bundesweit,
ja sogar international - und das vom kleinen Marl aus. Eine Leistung, die
wir fördern wollen. Das haben wir bereits im vergangenen Jahr getan,
und so halten wir es auch in diesem Jahr wieder.“ Dr. Arndt Neuhaus
betont dabei, wie sehr es der RWE am Herzen liege, das umfangreiche
Kultursponsoring weiterzuführen. In diesem Jahr würden insgesamt
wieder zahlreiche Kulturprojekte mit einem Gesamtbudget im mittleren
einstelligen Millionenbereich unterstützt.
Damit, so versichert er, „bleiben wir auch in wirtschaftlich schwierigen
Zeiten ein verlässlicher Partner für die Kulturschaffenden dieser
Region.“
47. GRIMME-PREIS 2011
123
Das Plakat zum Grimme-Preis 2011
Aufbruch, Bewegung, Brücke
Ein Entwurf von Markus Thiele
47.
D
as Motiv für das Plakat der diesjährigen Preisverleihung ist klar und
unscharf zugleich – eine kurze, aber entscheidende Szene aus dem
Film „Iran Elections 2009“ von Regisseur Ali Samadi Ahadi. Sofort ins
Auge fällt das berühmte Victory-Zeichen, das über alle Grenzen hinweg
gleich mehrere Bedeutungen hat: Sieg, Triumph, Victoria. Aber es steckt
indirekt ebenfalls darin: Gegensätze, Auseinandersetzung, Kampf – auch
in aller Unerbittlichkeit.
Grimme
Preis
Die Unschärfe ist dabei aber nicht nur ein ästhetisches Merkmal des
Films. Die damit verbundenen Unkenntlichkeiten stehen auch für die
zahlreichen Zeitdokumente, die mutige Iranerinnen und Iraner während
der blutigen Auseinandersetzungen mit dem Sicherheitsapparat des Regimes aufgenommen haben. Die Videos, oftmals mit Handykameras gefilmt, sind oft sehr unscharf, durch grobe Pixel gekennzeichnet. Genau
dies reflektiert auch das Plakat. Eines jedoch lässt sich bei allen schemenhaften Darstellungen klar deuten: eben eine Hand mit den Fingern
des Siegeszeichens.
Fernsehpreis des Deutschen Volkshochschul-Verbandes
Preisverleihung: 01. April 2011 . 22:25 Uhr bei 3sat
grimme-preis_2011_plakat.indd 1
10.03.2011 16:44:25
Foto: Thiele
Sofort ins Auge fällt das berühmte
Victory-Zeichen, das über alle Grenzen
hinweg gleich mehrere Bedeutungen
hat: Sieg, Triumph, Victoria.
Markus Thiele
Gestaltet wurde das Plakat von
Markus Thiele. Der 1969 in Rendsburg geborene Journalist produziert
Dokumentationen und Reportagen
für zahlreiche deutsche und internationale TV-Sender, außerdem
beschäftigt er sich mit Postproduktions- und Designaufgaben. Er
arbeitet mittlerweile auf Sardinien,
wo auch seine Firma KARALIS productions ihren Sitz hat
Die junge Frau, deren Umrisse nur durch einen Schleier erkennbar sind,
steht stellvertretend für eine jener Iranerinnen, die 2009 für die Freiheit
und den Sieg der Revolution auf die Straße gingen. Das grüne Armband steht für die starke Kraft und die gemeinsame Hoffnung, die Millionen von Menschen auf die Straßen führte. Alte und Junge, Männer
und Frauen, Schiiten oder Sunniten – das Symbol des grünen Bandes
vereinte Menschen aller Schichten und Klassen. Eine Grüne Welle, anschwellend und mächtig: das war die Hoffnung. Doch bei allem Optimismus, der im Siegeszeichen sichtbar ist, lässt sich – gerade auch durch
unsere eigenen medialen Erfahrungen – nicht vergessen, dass hier ganz
verschiedene Kräfte aufeinanderstoßen, dass die Auseinandersetzung
und der Kampf mit ungleichen Mitteln ausgetragen werden. Hier die
organisierte Staatsgewalt, dort die improvisiert organisierte symbolische Macht: Ungleicher könnten die Verhältnisse nicht sein.
Das Plakat bietet noch (mindestens) eine weitere Betrachtungsebene an.
Das Finger-V als Ausdruck eines ganz persönlichen Triumphs, als individuelles Siegessymbol, als Gesten-Trophäe: für einen Grimme-Preis. Die
Auszeichnung von Regisseur Ali Samadi Ahadi, Produzent Oliver Stoltz
und Producer Jan Krüger für „Iran Elections 2009“ schlägt nach dieser
Interpretation eine zeichenhafte Brücke: an die Adresse aller anderen
Preisträger. Das Motiv der zum V gespreizten Finger weist auch auf die
gegenwärtigen starken politischen Erschütterungen und politischen
Befreiungsbewegungen in der arabischen Welt hin, die – in ganz unterschiedlichen Formen – Teil unserer täglichen medialen Wirklichkeit sind.
Wobei – dies kommt einem im Institut in den Sinn – die Wahl eines Ausschnittes aus „Iran Elections 2009“ mit der impliziten politischen Aussage
sicher auch im Sinne des Namenspatrons dieses Fernsehpreises wäre,
Adolf Grimme: Denn er, früherer preußischer Kulturminister, setzte sich
gegen das Terrorregime Hitlers ein, und er war nach dem Krieg, auch als
Rundfunkverantwortlicher, ein Mahner für Freiheit, Wahrheit und Aufklärung, anzustreben immer auf der Basis von freiem Denken und Bildung.
Somit schlägt das diesjährige Plakat mehrere Brücken – zwischen unterschiedlichen Kulturen, weiter über eine Jahrhundertwende hinweg,
dann zwischen verschiedenen politischen Epochen und Bewegungen.
Damit verdichtet es eine universelle Geste, deren innere Kraft bis heute
nicht aufgeweicht ist.
VERLEIHUNG AM 08. SEPTEMBER 2011
Für das Medium Radio und die besten Hörfunkmacher des Jahres wird in Hamburg auch 2011 der rote Teppich
ausgerollt: Nach der erfolgreichen Premiere im vergangenen Jahr wird in der Hansestadt am 8. September 2011
erneut der Deutsche Radiopreis verliehen. Die Hörfunkprogramme der ARD, Deutschlandradio und die Privatradios in
Deutschland stiften den bundesweit ausgerichteten Preis mit Unterstützung der Freien und Hansestadt Hamburg.
Das Grimme-Institut betreut als Kooperationspartner die Arbeit der Jury.
FEDERFÜHRUNG: NORDDEUTSCHER RUNDFUNK | PROGR AMMDIREKTION HÖRFUNK | ROTHENBAUMCHAUSSEE 132 | 20149 HAMBURG
47. GRIMME-PREIS 2011
125
Der Moderator
Helmar Willi Weitzel
von Henning Severin
J
a, einmal habe er den Fernseher aus seinem Wohnzimmer verbannt.
Er brauchte Abstand von dem Medium, das ihn berühmt gemacht hat.
Das war Ende 2009, gerade war die letzte Folge von „Willi wills wissen“
abgedreht. Aber die Abkehr vom Fernsehen dauerte nur kurz: „Mittlerweile ist wieder alles beim Alten und die gute Kiste hat einen Ehrenplatz
im Wohnzimmer bekommen.“
Foto: Marco Kessler
Auch der gebürtige Marburger hat einen festen Platz in vielen Familienhaushalten. Mit den vom ihm moderierten Kinderformaten hat sich
der 38-Jährige, der selbst Vater einer Tochter ist, bei den Kleinen einen
großen Namen gemacht. Lustig, aber nie albern, kindgerecht, aber
dennoch informativ: Helmar Willi Weitzel besitzt die Kunst, komplexe
Sachverhalte so darzustellen, dass Kinder sie verstehen. Eine große
Kunst, die er charmant und lebensfroh rüberbringt.
Schon der Titel seiner Staatsarbeit,
„Welche Medienkompetenz fördern die
Teletubbies?“, hätte darauf schließen
lassen müssen, dass Weitzels Heimat
das Fernsehen werden würde.
Doch kaum einer hätte Weitzel während seines Studiums einen Wechsel
ins Fernsehgeschäft zugetraut. Zunächst studierte er Theologie – ein
Unterfangen, das er nach vier Semestern abbrach. Ein Lehramtsstudium
folgte. Schon der Titel seiner Staatsarbeit, „Welche Medienkompetenz
fördern die Teletubbies?“, hätte darauf schließen lassen müssen, dass
Weitzels Heimat das Fernsehen werden würde. Seit 2002 moderiert er
das Format „Willi wills wissen“, das ihm im Laufe der Jahre zahlreiche
renommierte Preise einbrachte, nicht zuletzt bei Grimme, 2010. „Für
Fernsehmacher ist es eine dauerhafte Herausforderung, die spannenden
und bezaubernden Geschichten, die das Leben schreibt, aufzuspüren
und verantwortlich zu erzählen“, findet Weitzel. Es scheint, als sei ihm
kein Thema zu komplex, um es Kindern zu vermitteln. Dass er sich in der
Vergangenheit ausschließlich in dieser Nische bewegt hat, ist vor allem
die Folge seines Bauchgefühls: „Ich mag das einfach und ich muss mich
intellektuell nicht verbiegen, um kindergerechte Fragen zu stellen.“
Nach über 180 Ausgaben von „Willi wills wissen“ und einer ganzen Reihe weiterer Willi-Formate sowie einem Kinofilm dann Anfang 2009 die
Zäsur. Zurzeit spielt der Wahlmünchner stark mit dem Gedanken, sich
inhaltlich auf neues Terrain zu wagen. Für ihn ist dieser Schritt mehr
fließend denn ein Bruch: „Mein Ziel ist es, am Ende des Jahres eine Sendung gefunden zu haben, die sich genauso gut anfühlt wie die WWWSendungen.“ Wer den Moderator beobachtet, spürt schnell, dass er eine
ganz besondere Faszination für das Fernsehen besitzt. In jedem Moment
spielt er mit der Kamera, lässt den Zuschauer nah an sich ran und stellt
dadurch eine intime Vertrautheit her. „Bewegte Bilder auf einem Bildschirm haben auf mich eine magische Anziehungskraft. Und Fernsehen
machen ist Arbeit – aber die schönste, die es für mich gibt“, so Weitzel.
Steht der Moderator einmal nicht vor der Kamera, engagiert er sich
für den guten Zweck. Besondere Aufmerksamkeit erfährt die Bremer
Organisation Trauerland, ein Zentrum für trauernde Kinder und Jugendliche. Der UNICEF-Pate Helmar Willi Weitzel hat mit einem befreundeten
Fotografen aus Uganda darüber hinaus eine eigene Bühnenshow zum
Thema „Entwicklungshilfe“ aufgelegt. Er kümmert sich, will aufklären.
Egal auf welchem Gebiet.
Seit 2009 ist Weitzel mit der Medienwissenschaftlerin und Germanistin
Magdalena Strothjohann zusammen. Kennengelernt haben sich die
beiden zufällig am Frankfurter Flughafen. „Seitdem“, so Weitzel, „sind
wir nicht mehr auseinanderzukriegen.“ Das Leben schreibt eben doch die
besten Geschichten. Manche sind sogar fernsehgeeignet.
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47. GRIMME-PREIS 2011
127
Der Künstler: Simon Stockhausen
Eine persönliche Widmung
von Jan Bruck
Es ist eine Premiere – für den Grimme-Preis und den Komponisten
gleichermaßen. Zum ersten Mal wurden alle musikalischen Elemente
eigens für die Verleihung komponiert. Jeder Preisträger nimmt seine
Trophäe zu einer Musik entgegen, die von der ausgezeichneten Produktion
inspiriert wurde. „Es ist wie eine kleine persönliche Widmung, die wir
live spielen“, sagt der Komponist.
Foto: Stockhausen
Eigentlich macht Simon Stockhausen Musik für Filme und Theaterinszenierungen. Für eine Preisverleihung zu komponieren – das war eine
ungewohnte Herausforderung. Für eine Showband hatte er nie zuvor
Musik geschrieben. Dafür hat er jetzt extra sein eigenes Ensemble
zusammengestellt: Susanne Filep an der Violine, Christian Weidner am
Saxophon, Johannes Dworatzek am Cello, Hannes Hüfken am Bass,
Ketan Batti am Schlagzeug und Kristina Hays als Sängerin. Der Saxophonist spielt zusätzlich auch den Duduk, ein armenisches Holzinstrument,
das entfernt an eine menschliche Stimme erinnert. Simon Stockhausen
hat eine Vorliebe für die eher schrägen Töne. Er selbst übernimmt die
Keyboards und den Dienst am Laptop, mit dem er elektronische Klänge
einfließen lässt. Das Ergebnis ist ein für ihn typischer bunter Stil-Mix:
Synthesizer, Beats, Klassik, Jazz und Weltmusik.
Mit fünf Jahren lernt Simon Stockhausen Klavier, mit sieben schreibt er
seine ersten Stücke. Sein Vorbild: der Vater und berühmte Komponist
Karlheinz Stockhausen. „Er hat mir früher zum Einschlafen Strawinski
vorgespielt. Das war schon ziemlich viel für einen kleinen Jungen“,
erinnert er sich. Mit elf Jahren spielt er sein erstes Konzert und wird als
Wunderkind gefeiert. Nach dem Abitur steigt er in das Ensemble seines
Vaters ein. Privat entwickelt er ganz andere musikalische Vorlieben –
für Status Quo, Led Zeppelin oder Santana. „Ich hatte immer mehr das
Bedürfnis, mein eigenes Ding zu machen“, erzählt der heute 43-Jährige.
„Mit 29 habe ich mich dann entschieden, die Zusammenarbeit mit
meinem Vater abzubrechen. Das konnte er nie verwinden.“ Elf Jahre
lang, bis zum Tod des Vaters 2007, sahen sich die beiden nicht wieder.
Heute geht Simon Stockhausen seiner ganz eigenen Leidenschaft nach:
der Filmmusik. Im Dachgeschoss seines Hauses im Berliner Stadtteil
Zum ersten Mal wurden alle musikalischen Elemente
eigens für die Verleihung komponiert –inspiriert von den
ausgezeichneten Produktionen.
Zehlendorf hat er ein Tonstudio eingerichtet, voll mit Keyboards, Monitoren und Mischpulten. Beim Komponieren schaut er aus einem großen
runden Fenster den Eichhörnchen in den Bäumen zu. „Jedes Geräusch
fällt mir auf. Das ist manchmal schwierig, aber es ist vor allem auch
ein Geschenk.“ Ob Vogelstimmen oder der Lärm in einer Fabrik – für
ihn sind das alles Klänge, aus denen Musik entsteht. Er entdeckt darin
Tonfolgen und macht hörbar, was dem Ohr normalerweise verborgen
bleibt. Die Herausforderung, die Grimme-Musik zu komponieren, ließ
Simon Stockhausen fieberhaft arbeiten. „Ich habe mir die Fernsehsendungen angeschaut und dann meine Emotionen in Musik verwandelt“,
sagt er. Das Ergebnis sind harmonische, gefühlvolle, aber auch rhythmische und energiegeladene Klänge, die sich zu einem ganz besonderen
Soundtrack vereinen: Einer Filmmusik über das Fernsehen.
128
47. GRIMME-PREIS 2011
Qualitätsfragen
Der Beirat für den Grimme-Preis und den Grimme Online Award
D
ie Medienwelt verändert sich ständig, derzeit sogar mit ziemlicher
Beschleunigung. Bei dem, was sich verändert, sprechen manche
von einer Revolution, andere sehen in den Neuformationen eher eine
Evolution.
zusammengesetzt sein, wie ist Erfahrung am besten mit neuen,
jungen und frischen Ideen zu verbinden? Wie sollten die Preisverleihungen gestaltet sein, um auf der Höhe der Zeit zu sein und den besonderen
Ansprüchen der Grimme-Preise zu genügen?
Wie auch immer: Wenn das Grimme-Institut seine beiden PreisUnternehmen – den seit 1964 bestehenden Preis für hervorragendes
Fernsehen und den ins zehnte Jahr gehenden Preis für Qualität im Netz –
lebendig halten will, ist ihm guter Rat hochwillkommen. Dies gilt für alle
Fragen der Zielrichtung und der wesentlichen Rahmendaten, dies gilt
natürlich auch für die Perspektiven – denn die Zukunft muss schließlich
gestaltet werden.
Der Beratungskatalog erweitert sich in der jetzigen Mediensituation natürlich auch um Grundsatzfragen: Wie stehen die beiden Preise
nebeneinander, auch zueinander? Wo sind die Berührungspunkte, wo
werden aus Parallelen und Ergänzungen eher Verschränkungen, wo sind
die Aufgabenfelder vielleicht ganz neu zuzuschneiden?
Jahrgang 1956, ist Direktor des Deutschen Volks-
Jahrgang 1960, ist Geschäftsführerin von Grundy Light
hochschul-Verbandes, der 16 Landesverbände und
Entertainment und Grundy Schweiz. Sie hat Theater-,
bundesweit mehr als 1000 Volkshochschulen umfasst. Aengenvoort war zuvor Geschäftsführer der
Verbraucherzentrale Baden-Württemberg. Er ist stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des GrimmeInstituts.
Film- und Fernsehwissenschaft studiert und arbeitete
als freie Autorin und Redakteurin u.a. für das neuseeländische TV 3 sowie in den USA für Sender wie CBS
und ABC. Bei Grundy TV stieg sie 1996 als Executive
Producer ein.
Konrad Scherfer
Jahrgang 1969, ist Professor für Medienwissenschaft
le zuständig für Programmqualität. Ihr Schwerpunkt
an der Fachhochschule Köln. In seiner Promotion
ist die Gesundheitsbildung. So ist sie auch Vorsitzen-
untersuchte er die Qualitätskriterien deutscher Fern-
de des Bundesarbeitskreises Gesundheit und Umwelt
sehpreise. Er war Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim
beim DVV. Die studierte Germanistin, Medienpädagogin
und Volkskundlerin ist langjähriges Jury-Mitglied beim
Adolf-Grimme-Preis.
Foto: Borkel
Anette Borkel
Jahrgang 1961, ist an der Hamburger Volkshochschu-
DFG-Sonderforschungsbereich Bildschirmmedien und
Online-Redakteur für den SWR.
Ingrid Schöll
Jahrgang 1956, ist Direktorin der Volkshochschule
Studios in Dortmund. Der gelernte Stahlbauschlosser
in Bonn. Sie studierte Germanistik und Geschich-
studierte Sozialwissenschaften, Politik und Publizistik in
te. Zu ihrem Themenbereich gehört Marketing für
Bochum und war u.a. Leiter des kommunalen Kinos
Weiterbildungseinrichtungen. Sie ist u.a. Mitglied im
an der Volkshochschule in Dortmund, die er von 1981
bis 1984 stellvertretend führte. Linde leitete auch das
Kabelpilotprojekt Dortmund.
Foto: WDR
Erdmann Linde
Jahrgang 1943, war bis 2006 Leiter des WDR-
Michael Schmid-Ospach
NRW und Vorsitzender des Grimme-Aufsichtsrats. Nach
dem Studium der Theaterwissenschaft arbeitete er als
Redakteur u.a. bei epd / Kirche und Rundfunk. Er leitete die WDR-Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und war
Programmbereichsleiter Kultur und Wissenschaft Fernsehen sowie stellvertretender Fernsehdirektor des WDR.
Foto: Heike Herbertz
Jahrgang 1945, ist Geschäftsführer der Filmstiftung
wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Instituts für
Erwachsenenbildung und langjähriges Jurymitglied
beim Adolf-Grimme-Preis.
Foto: Scherfer
Ute Biernat
Foto: Aengenvoort
Ulrich Aengenvoort
Foto: Grundy Light Ent.
Das Institut ist im Beirat mit dem Direktor, Uwe Kammann, und den
beiden für den Grimme-Preis und den Grimme Online Award zuständigen Referenten, Ulrich Spies und Friedrich Hagedorn, vertreten.
Foto: Thilo Breu
In all diesen Angelegenheiten und Fragen kann das Institut auf einen
Beirat zählen, der sachkundig und engagiert die Erörterungen und
Entscheidungen begleitet. Er tagt in der Regel zweimal im Jahr. Es gibt
dabei viele wichtige Themen. Wie sollen die Strukturen der Preise aussehen, wo sind neue Justierungen notwendig? Wie sollen die Jurys
Der Beirat nutzt auch Möglichkeiten, sich über verwandte QualitätsUnternehmen zu informieren. So tagte er mehrfach während des Fernsehfilm-Festivals der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste.
im dialog mit der Welt.
Wir fördern durch unsere glaubwürdigkeit
das ansehen deutschlands weltweit.
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130
47. GRIMME-PREIS 2011
Sponsoren, Partner und Förderer
des Grimme-Preis 2011
Sponsoren
Grimme-Preis 2011
Partner
Grimme-Preis 2011
Förderer
Grimme-Preis 2011
Neue Marler Baugesellschaft, Michael Stallmann, DPD GeoPost GmbH (Niederlassung Marl)
„Das Erste Fernsehen,
mit dem ich groß geworden bin.“
Die Maus
DasErste.de
Die Sendung mit der Maus
Die Maus wird 40. Das Erste gratuliert zum Jubiläum.
