Feminismus - Historisches Lexikon der Schweiz

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Feminismus - Historisches Lexikon der Schweiz
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23/10/2006 |
Feminismus
Der F. ist sowohl ein theoret. Konzept als auch eine polit. Bewegung. Er
gründet in der Kritik an der sozialen, ökonom. und rechtl.
Diskriminierung sowie an der hierarch. Unterordnung der Frauen
(Geschlechterrollen). Von F. als Theorie und Bewegung spricht man seit
Ende des 19. Jh. Eng verbunden ist der F. mit der Geschichte der
Frauenbewegung.
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1 - Theorie
Im Angelsächsischen dominierte in der Tradition von John Stuart Mill die Auffassung der Gleichheit von Mann
und Frau und, damit verbunden, die Forderung nach formaler Gleichstellung der Geschlechter. Dieser liberalindividualistische F. orientierte sich am Mann als Norm und hatte die Abschaffung jeglicher Diskriminierung
zum Ziel. In Kontinentaleuropa stand die Beziehung zwischen den Geschlechtern im Sinne einer Ergänzung
von Mann und Frau im Zentrum: Ausgehend von der Auffassung einer unterschiedlichen, aber gleichwertigen
Verantwortung in der Gesellschaft und der wichtigen Rolle der Frauen als Mütter (Mutterschaft) wurde Egalität
sowie Partnerschaft ohne Hierarchie gefordert. Diese Position wurde 1949 von Simone de Beauvoir mit dem
Buch "Le deuxième sexe" (dt. "Das andere Geschlecht" 1951) in Frage gestellt. Die franz. Philosophin vertrat
die These, Weiblichkeit sei konstruiert, und kritisierte die Orientierung am Mann als dem Wesentlichen, auf
das sich die Frau als das Andere angeblich beziehen sollte. Patriarchatskrit. Positionen vertraten auch die
Basler Juristin Iris von Roten in "Frauen im Laufgitter" 1958 und die US-Amerikanerin Betty Friedan in "The
feminine mystique" 1963 (dt. "Der Weiblichkeitswahn" 1966). Beide Werke richteten sich gegen die Reduktion
der Frauen auf den häusl. Bereich und den "sex appeal". Sie bildeten den Ausgangspunkt für die feminist.
Debatten Ende der 1960er, Anfang der 70er Jahre.
Als Patriarchatskritik war der F. transnational ausgerichtet. Körper und Sexualität wurden unter dem Aspekt
der Selbstbestimmung und der individuellen Selbstverwirklichung thematisiert. Der sozialist. F. hielt an Marx'
Klassenbegriff fest, erweiterte ihn allerdings durch patriarchatskrit. Positionen. Der radikale F. dagegen
analysierte die patriarchale Unterdrückung in der Aneignung der Arbeit und des Körpers der Frauen. Der
"Sexismus" zeige sich im Alltag und in der Gewalt gegen Frauen, in der Sprache und in der symbol.
Repräsentation. Unter dem Einfluss der von der Psychoanalyse geprägten franz. Diskurstheorie, v.a. Luce
Irigarays "Ce sexe qui n'en est pas un" 1977 (dt. "Das Geschlecht, das nicht eins ist" 1979), wurde in den
1980er Jahren im Bereich der feminist. Psychologie, Philosophie und Theologie der aufklärerische, an der
männl. Erfahrung orientierte Vernunft- und Subjektbegriff dekonstruiert, der männlich definierte Gottesbegriff
kritisiert und die Frage der Egalität bzw. Differenz grundsätzlich neu diskutiert. Der Separatismus postulierte
für Frauen eigene Institutionen bis hin zu separaten Rechtsordnungen für beide Geschlechter. Die feminist.
Sozialwissenschaft orientierte sich mehr an der Unterscheidung der US-amerikan. Historikerin Joan Wallach
Scott von "sex" als biolog. Geschlecht und "gender" als gesellschaftl. Produktion von Geschlechterdifferenzen.
Da Normen und Dinge nur über Sprache Realität würden, stellte in den 1990er Jahren die postfeminist.
Kulturkritik in Anlehnung an die US-Amerikanerin Judith Butler die Unterscheidung von "sex" und "gender" in
Frage: auch das biolog. Geschlecht sei kontextabhängig, werde konstruiert und individuell inszeniert. Die
"Politik der Differenzen" schliesst an die amerikan. Debatte um Rasse, Klasse und Geschlecht an und
verknüpft die beiden Diskurse über Egalität und Differenz, um die Ungleichheit zwischen Frauen ebenso in
ihre Analyse mit einzubeziehen wie die Diskriminierung der Frauen als Geschlecht.
Autorin/Autor: Elisabeth Joris
URL: http://www.hls-dhs-dss.chD17427.php
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2 - Bewegung
Unter F. als Bewegung wird das Engagement von - zumeist organisierten - Frauen für die gesellschaftl.
Gleichstellung verstanden. Eine radikale gleichstellungspolit. Position vertrat in der Schweiz Meta von Salis.
Die Mehrheit der Frauenrechtlerinnen um Helene von Mülinen (Bund Schweizerischer Frauenorganisationen)
und Emilie Gourd (Frauenstimmrechtsverein) orientierten sich allerdings am Modell der Partnerschaft,
betonten aber im Gegensatz zur gemeinnützigen Frauenbewegung das Recht der Frauen auf Ausbildung,
Berufsarbeit (Frauenerwerbsarbeit), gleichen Lohn für gleiche Arbeit, das Frauenstimmrecht, zivilrechtl.
Gleichstellung und Kontrolle über den eigenen Körper. In der dt. Schweiz wurde der Begriff F. aufgrund der
weit verbreiteten Ablehnung der angelsächs. Suffragetten kaum verwendet, wohl aber in der Westschweiz,
wie der Titel der 1912 gegründeten Zeitschrift Le Mouvement féministe bezeugt. Die partnerschaftl. Variante
des F. prägte auch den sozialistischen F., der aber gleichsam die Diskriminierung aufgrund der
Klassenzugehörigkeit betonte und damit die Unterschiede zwischen Frauen markierte.
Die internat. "open-door"-Bewegung der 1920er Jahre, die auf dem Arbeitsmarkt die Abschaffung der
Sonderregelungen für Frauen verlangte, stiess in der Schweiz auf Ablehnung, ebenso in der Nachkriegszeit Iris
von Rotens Forderung nach vermehrter sexueller Freiheit für Frauen. Auch die Kritik von Gertrud Heinzelmann
an der Diskriminierung der Frauen in der kath. Kirche anlässlich des 2. Vatikan. Konzils stiess im Ausland auf
grösseres Echo als in der Schweiz.
Erst im Kontext der internat. Protestbewegungen der 1960er Jahre stellten in der Schweiz vorwiegend jüngere
Frauen mit kollektiven Aktionen die traditionellen Autoritäten, die familienzentrierten Werte, die
kommerzialisierte Sexualität und die Fortpflanzung in Frage. Der Leitspruch "Das Private ist politisch" brachte
den engen Zusammenhang zwischen individueller Erfahrung und gesellschaftl. Bedingungen auf den Punkt. In
den urbanen Zentren der dt., franz. und ital. Schweiz entstand in Anlehnung an Gruppierungen gleichen
Namens in den angelsächs. und westeurop. Ländern die Frauenbefreiungsbewegung.
Autorin/Autor: Elisabeth Joris
3 - Bewegung und Theorie seit den 1970er Jahren
Der Begriff F. für die Bewegung einerseits und die patriarchatskrit. Theorie andererseits fand in der dt.
Schweiz erst Mitte der 1970er Jahre Verbreitung, gleichzeitig mit der Distanzierung von der Neuen Linken. Die
Patriarchatskritik zeigte sich nun im Anspruch auf Autonomie im Sinne der individuellen Selbstverwirklichung,
aber auch im Sinne der Unabhängigkeit von bestehenden öffentl. Institutionen und gemischtgeschlechtl.
Organisationen. Auftrieb erhielt diese Ausrichtung auch durch die Lesbenbewegung (Homosexualität). Der F.
als Bewegung manifestierte sich in der Gründung vieler autonomer Gruppen und Projekte, die sich zu einem
eigentl. Netz feminist. Subkultur verdichteten.
Der neue F. verstand sich als Kritik der traditionellen Frauenbewegung, wurde aber von dieser auch rezipiert.
Die Frage der Abtreibung dominierte zeitweilig die polit. Auseinandersetzungen. Die Anfang der 1980er Jahre
einsetzenden Diskussionen um die Gewalt gegen Frauen im privaten und öffentl. Bereich, die Neudefinition
der Arbeit und die kritische Beurteilung der Reproduktionstechnologien schlugen sich u.a. dank des
Engagements von Parlamentarierinnen in Gesetzesartikeln nieder: in der Strafbarkeit der Vergewaltigung in
der Ehe, der Berücksichtigung der Betreuungsarbeit in der Sozialversicherung, der Ahndung sexueller
Belästigung sowie dem Anspruch auf tatsächliche statt nur formale Gleichstellung in der neuen
Bundesverfassung von 1999. Dem Verein Feministische Wissenschaft gelang ansatzweise die Verankerung
der feminist. Theorie in Lehre und Forschung.
Während Themen wie Unabhängigkeit, feminist. Spiritualität oder Egalität bzw. Differenz viele Frauen
ansprachen, wurde die postfeminist. Debatte um Judith Butler vorwiegend in der Wissenschaft geführt und
entwickelte nur geringe polit. Wirkungskraft. Die von schwarzen Frauen ausgehenden Auseinandersetzungen
um das Verhältnis von Rasse und Geschlecht griffen in der Schweiz v.a. Migrantinnen auf, die damit die
Differenzen unter Frauen neu thematisierten, aber auch die Frage der Egalität neu stellten.
Autorin/Autor: Elisabeth Joris
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Quellen und Literatur
Literatur
– Frauengeschichte(n), hg. von E. Joris, H. Witzig, 1986
– K. Offen, «Defining Feminism», in Signs 14, 1988, 119-157
– Polit. Theorie, hg. von H. Nagl-Docekal, H. Pauer-Studer, 1996
– L. Schmuckli, Differenzen und Dissonanzen, 1996
– Demokratie und Geschlecht, hg. von B. Christensen, 1999
– H. Nagl-Docekal, Feminist. Philosophie, 1999
– B. Studer, «Von der Legitimations- zur Relevanzproblematik», in Geschlecht hat Methode, hg. von V.
Aegerter et al., 1999, 19-30
– Vergessene Gesch., hg. von M. Gosteli, 2 Bde., 2000
– K. Gottschall, Soziale Ungleichheit und Geschlecht, 2000
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