Duftende Bilder. Über den Imaginationsraum von

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Duftende Bilder. Über den Imaginationsraum von
Duftende Bilder. Über den Imaginationsraum
von Parfümwerbungen
Wenn man mit so einer Werbung konfrontiert wird, während man abends vor dem Rechner
oder Fernseher sitzt und seine Tiefkühlpizza zerschneidet, denkt man nicht an Kosmetik.
Nach dem Zoom auf die betörend weiße und knappe Badehose von David Gandy vermutet
man eine Werbung für Badewäsche, Strandurlaub in Italien oder Waschpulver. (Für
offensichtliche Ähnlichkeiten zeugt die Werbung von Marks&Spencers-Unterwäsche.)
Umso größer die Überraschung, wenn am Ende des Videos die Flasche des Dolce&GabbanaParfümklassikers Light Blue eingespielt wird. Spätestens hier fragt man sich: Wo liegen die
Verbindungen zwischen Produkt und Werbung? Inwiefern kann die geglückte Anatomie
sowohl die Schönheit und Bequemlichkeit von Kleidungsstücken als auch den Charakter
eines Dufts (re)präsentieren? Die Unterwäsche wird in der Regel am Modell explizit gezeigt,
aber wie soll man dieselben Bilder in eine olfaktorische Sprache übersetzen? Ist der Duft
von D&G holzig, süß, zitrisch, blumig, würzig oder atmosphärisch, stark und langanhaltend
oder eher dezent und leicht? Anhand der Werbung kann man schwer ein Parfüm aussuchen,
weil sie nur eine Phantasie bietet, die den von der Flüchtigkeit des Parfüms angebotenen
Imaginationsraum ausfüllt und bewusst auf konkrete Hinweise auf Duftnoten und
Ingredienzien verzichtet.
Duftende Bilder, bildhafte Düfte
Dass Videos und Bilder für die Augen und nicht für die Nase bestimmt sind, ist banal.
Gerade die Widerständigkeit von Gerüchen aber, sprachlich abseits der Analogie
beschrieben, überhaupt in ihrer flüchtigen Präsenz gefasst zu werden (dies formulieren
Classen, Howeds und Synott in ihren einschlägigen Publikationen), macht die Kollision
zwischen Produkt und Werbung auffällig. Die während der Aufklärung stürmisch geführte
philosophische Diskussion darüber, welche Sinneswahrnehmung die Unmittelbarste und
Wahrhaftigste ist, hat der Sehsinn unumstritten gewonnen. Auch in den ästhetischen
Diskussionen des 18. Jahrhunderts wurde lange darum gerungen, welcher der drei Sinne –
Sehen, Hören oder Tasten – am feinsten Unterschiede wahrnehmen und den
unmittelbarsten Eindruck von Kunst erzeugen kann. Geruch und Geschmack wurden
zusammen mit allem, was diese erregt, als Nicht-Kunst aus der Diskussion verbannt. So
können Gerüche nur über suggestive Bilder oder Analogien umrissen werden, sie sind für
immer in Bildern gefangen.
Sicherlich ist die Beziehung zwischen Werbung und Produkt viel komplexer und Parfüms
sind nur eines von vielen Beispielen für die indirekte, abstrakte oder symbolische
Darstellung von Waren und Dienstleistungen. So funktioniert Werbung in vielen Fällen: Bei
Versicherungen, Rausch- und Putzmitteln oder Kosmetik wird mit einem Lebensstil
geworben, mit dem Resultat oder der Wirkung des Produkts. Glänzende, schuppenlose
Haare, weiße Zähne und Laken, fleckenlose T-Shirts und staubfreie Böden ersetzen bis auf
die kurze Darstellung der Verpackung das tatsächliche Produkt. Doch während die Bilder,
die die Wirkungen eines bestimmten Putzmittels demonstrieren, öfters mit einer „GeldZurück-Garantie“ beglaubigt werden, werden die Düfte in der Werbung erst gar nicht
beschrieben. Selbst dann wäre aber die Beschreibung nicht zuverlässig, denn in ihren
Luxusflacons riechen sie für jede Person unterschiedlich – was man an seitenlangen
Diskussionen in Parfümforen ablesen kann – und sind in ihrer Wirkung auf die Umwelt
unvorhersehbar.
Welche Bilder sich für Parfümwerbungen angeblich am besten schicken und leider am
häufigsten verwendet werden, brauche ich nicht lang auszuführen. Zur Faustregel, die die
Werbung des italienischen Modehauses in Perfektion beherrscht, kommt man nach wenigen
willkürlichen Sondierungen des Feldes: Sex Sells. Gandys Sixpack aus der Dolce&GabbanaWerbung, also der Versuch, olfaktorische Eigenschaften durch konkrete Bilder spürbar zu
machen, führt noch einmal die privilegierte Rolle des Sehens vor Augen. Gut, gepflegt,
trainiert auszusehen, wird mit einem guten Körpergeruch identifiziert. Der Erfolg beim
anderen Geschlecht, den die Protagonisten der Werbung in ihren zwei Versionen erleben (2.
Version), soll nicht durch mühsame Workouts im Fitnessstudio oder Low-Carb-Diäten,
sondern durch den Gebrauch des Duftes garantiert werden. Parfüm wird hier – und das ist
der Normalfall – zu einem wahren Aphrodisiakum. Die olfaktorische Anziehung braucht
keine Worte, sie ist unmittelbar, primitiv, irrational.
In den seltensten Fällen verzichten Parfümwerbungen auf halbnackte Körper oder sexuelle
Anziehung. Körperduft scheint fest mit körperlichem Begehren verschränkt zu sein. Eine
nur scheinbare Alternative bieten Naturbilder wie Blumen, Wälder, Eis, Wasserfälle oder
Meerlandschaften. Diese zeugen erneut für die Ohnmacht der Sprache, einen Geruch
abseits von Analogien zu beschreiben, bzw. heben die Bildhaftigkeit als wesentliches
Merkmal der Sprache erst recht hervor. Die elementaren Kräfte der Natur können den
Geruch zwar auch nicht hervorbringen, bieten jedoch mindestens einen ungefähren
Imaginationsraum für die potenziellen KäuferInnen. Doch selbst in den naturinspirierten
Werbespots übernehmen die elementaren Kräfte der Natur die Rolle des intimen Partners
der euphorischen Frauenfigur und verlieren ihre primäre Bedeutung. Regen, Feldblumen
oder exotische Pflanzen haben eine berauschende Macht über die Frauenfiguren, die
muskulösen Männer wiederum bekriegen und besiegen ganz dem Klischee entsprechend
alle Naturgewalten:
Dass Werbungen ein Gefühl bzw. einen Lebensstil verkaufen, ist eine Selbstverständlichkeit.
Dass dieser Lebensstil wiederum positiv dargestellt werden muss, eine(n) Wunsch(identifikation) anregen soll, liegt in der Logik des Verkaufens. Aber wenn schon Riechen,
Geruch und olfaktorische Ingredienzien aus der Werbezeit der Videos und den
Glanzpapierseiten der Mode- und Lifestylezeitschriften rigoros ausgeschlossen werden, was
für Bilder werden uns als Ersatz und Inspiration angeboten? Was für einen Lebensstil,
welche Emotion und welche Erfahrung vermitteln uns die attraktiven Körper von mehr oder
weniger prominenten Figuren der Mode-, Film- und Musikbranche? Fördern sie eine
Identifikation, rufen sie einen Wunsch hervor oder sorgen sie vielmehr für Irritation, sogar
Enttäuschung? Sind die abstrakt anmutenden Bilder vielleicht doch zu konkret?
Einmal gerochen, für immer verliebt.
Parfümwerbungen kommen meistens ohne Monologe oder Dialoge aus. Die Unmittelbarkeit,
mit der sich die Figuren in diesen Werbungen begegnen, braucht, wie bereits festgestellt,
keine Sprache. Die Figuren haben meistens keine Vorgeschichte, auch wenn in der Tendenz
Werbevideos immer narrativer, sujetreicher und länger werden (ein Beispiel hier wäre die
dreiteilige Werbung von Wes Anderson und Roman Coppola für Prada Candy). Die
Protagonisten, die sich in den herrlich prunkvollen Parfümwerbungen begegnen, haben
keine Vergangenheit und noch weniger eine gemeinsame Geschichte, wie die folgende
märchenhafte Nachtzugreise mit Audrey Tautou expliziert.
In diesem Werbespot ist der Geruch der eigentliche und wichtigste Orientierungssinn, der
die Figuren letztendlich zusammenbringt. Jegliche Informationen zur Person sind hier
marginal, genauso Informationen dazu, was genau gerochen wird. Ob Patschuli, Vanille,
Moschus, Tabak oder doch Zitrusfrüchte, der Geruch behält seine mythisch-suggestive
Absenz, die eine leere Projektionsfläche für heterogene Erwartungen bietet.
Das Lanvin-Logo, gemalt von Paul
Iribe, das Jeanne Lanvin und ihre
Tochter darstellen soll, schmückt seit
1927 die Flasche des Parfüms Arpège
und ist damit ein früher Versuch,
Frauen als Mütter anzusprechen.
Das Lanvin-Logo, gemalt von Paul Iribe, das Jeanne Lanvin und ihre Tochter darstellen soll,
schmückt seit 1927 die Flasche des Parfüms Arpège und ist damit ein früher Versuch,
Frauen als Mütter anzusprechen.Jahre später hat Chanel für das prominente Werbevideo
seines Evergreens Nº 5 das brasilianische Topmodel Gisele Bündchen engagiert. Sie soll
nicht mehr eine geheimnisvolle Frau im Nachtzug (wie Audrey Tautou 2009), nicht eine vor
Ruhm und Blitzlicht geflohene Diva (gespielt 2005 von Nicole Kidman) oder eine sich noch
in der Blütezeit ihrer Karriere befindende Marilyn Monroe (deren Stimme für die Werbung
2012 postum benutzt wurde) darstellen, sondern eine Frau mit Vergangenheit. Die für die
Traditionen des Hauses Chanel und für die Parfümbranche insgesamt an sich revolutionäre
Idee, eine Frau mit Beruf und Familie zum Werbebild des ikonischen Duftes zu machen, ist
einerseits an den mangelnden schauspielerischen Fähigkeiten Bündchens gescheitert,
andererseits aber, weil Kind und Job in dem Video, die Gisele Bündchen dank einer
Haushilfe so wundervoll meistert, im Sujet der Werbung ein sinnfreier Anhang bleiben.
Letztlich steht das Treffen der Protagonistin mit ihrem Mann (Michiel Huisman) im
Zentrum, das genauso geheimnisvoll wie alle romantisch-erotischen Szenen in
Parfümwerbungen gezeichnet wird. Auch hier scheint die Omnipräsenz des Parfüms und
insgesamt der Marke Chanel im Leben der Familie für die ewig brennende Flamme der
Leidenschaft des Paares zu garantieren.
Zwinger, Limousine, Wiese – Topographie und Typologie der Parfümwerbung
Zu behaupten, dass Parfümwerbungen sonst keine starken, selbstbestimmten Frauen
zeigen, wäre falsch. Doch ihre Stärke und Selbstbestimmung wird nicht durch Szenen aus
dem Berufs- oder Beziehungsleben geschöpft, sondern aus ihren wiederum sehr sexuell
aufgeladenen Konfrontationen mit dem anderen Geschlecht. (Dass Parfümwerbungen
abgesehen von wenigen Werbungen für Unisex-Düfte äußerst heteronormativ agieren,
versteht sich leider immer noch von selbst.) So z. B. in den Werbungen von Chanel für Coco
Mademoiselle und Dior für Miss Dior.
Stärke und Selbstbestimmung oszillieren hier zwischen der Fähigkeit, jeden zu verführen,
der Unfähigkeit oder dem Unwillen, sich festzulegen, und dem Bedürfnis, Instinkt und
Gefühl zu folgen. Das Parfüm wird, wenn nicht zum Männerersatz schlechthin, so zumindest
zum Ersatz für die feste Beziehung, zum Fetisch und Rauschmittel, das die Frauenfigur mal
als überlegene femme fatale, mal als unterlegene Sklavin ihres Kosmetikschrankes
erscheinen lässt. Die Parfümwerbung kann nur die alleinstehende, ungebundene Frau als
Protagonistin haben, denn im phallischen Flakon findet sie bereits ihre Befriedigung. Nicht
zufällig erscheinen vor diesem Hintergrund Produktnamen wie Addict von Dior und Opium
von Yves Saint Laurent, in deren Werbespots die Protagonistinnen wie besessen alles hinter
sich lassen, um sich der Flasche und der sie füllenden Substanz zu ergeben. Auch nicht
explizit darauf verweisende Düfte übernehmen diese Ästhetik und geben ihr das Gesicht
einer verruchten Kate Moss wie im Werbespot für Yves Saint Laurents Parisienne
oder die Gesichter mehrerer jungfräulicher Feengestalten wie in den Videos für Daisy von
Marc Jacobs
und L’Eau de Chloé von Chloé.
Die Idee der immer ledigen Frau kann in der Parfümbranche leider nur drei, höchstens vier
Formen annehmen – die von Leder und Satin umgebene Pariser „Edelhure“, die
minderjährig anmutende, naturverbundene Blondine, die barfuß in weißem Baumwollkleid
durch grüne Wiesen läuft, die Bezwingerin von wilden Tieren (meistens Raubkatzen) oder
die leichtsinnige Mädchenfrau, die einfach mal Spaß haben will. Trotz einem prächtigen
Angebot an verschiedensten Düften ist die Typologie der Parfümwerbung schnell erschöpft.
Diese vernachlässigt die Produkte, für die sie wirbt und reduziert sie auf wenige bereits gut
bekannte Bilder.
Die sich auffällig wiederholenden Orte und Akteure der Parfümwerbung sorgen nicht nur
dafür, dass die ZuschauerInnen schnell die einzelnen Videos Typen zuordnen können. Die
Werbungen sind mittlerweile selbst zu Parodien inspirierenden Verkaufsschlagern
geworden. Dadurch haben sie nicht unbedingt an Wirkung eingebüßt. Diese sehr
beschränkte Anzahl von Bildern und Typen von Frau und Mann sind in ihrer Schönheit und
stilvollen Ausführung äußerst ansprechend – doch in dem Raster von Sportler, Playboy,
Femme fatal und Lolita auch extrem einschränkend. Das Parfüm als ephemere Substanz, die
nur unbenutzt, in der Flasche eine Form besitzt, kann, sobald sie diese verlässt, beliebig
viele Formen in der Imagination hervorrufen. Die sexuellen Konnotationen, die ihm die
Werbekampagnen aufzwingen, können durch ihren Glanz und ihre Ästhetik anziehend sein.
Durch ihre konkreten Bilder können sie aber auch die eigene bildliche Vorstellung des
Duftes, die damit verbundenen Erinnerungen oder die Illusion, dass man über den Duft eine
Besonderheit dazugewinnt, unvergesslich und unverwechselbar wird, ruinieren. Vielleicht
möchte man sich nicht neben einem Tiger imaginieren und noch weniger auf einem Pferd
liegend, sondern den Freiraum haben, eigene Phantasien zu erdenken und Gerüche mit
einer Vielfalt an Situationen und Orten zu verbinden, die über seidene Bettlaken und die
Lederpolster schicker Oldtimer hinausgehen.
Poison
von
Dior:
Eine
gefährlich-geheimnisvolle
Substanz.
Die Einschränkung der Parfümbranche auf die erotisch-mystische Thematik und die aus ihr
resultierenden Frauentypen ist ein Phänomen, das sich bis in die 20er und 30er Jahren des
20. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. So ordnet Arthur Minton in seinem Artikel All the
Perfumes of America in der linguistischen Zeitschrift American Speech von Oktober 1946
hunderte Parfümnamen in thematische Gruppen ein. Für Frauendüfte tauchen Liebe,
Verführung, Magie, Nacht, Orient oder die Stadt Paris als Themenkreise am häufigsten auf,
für Männerdüfte – in den 40er Jahren immer noch eine Neuigkeit – meistens Sport und
Luxus. Bevor Minton mit seinen Aufzählungen beginnt, hält er jedoch fest: „Perfume names
reflect mainly the erotic and euphorical powers of perfumes, distinctions between these
being blurred.“ Die Werbung und, wie Minton zeigt, der Name sehen vollkommen von der
Tatsächlichkeit des Duftes ab. Ob süß oder würzig, mit Veilchen oder Jasmin – die Werbung
suggeriert ähnliche Bilder. Nun sind gerade Parfüms aber konkrete chemische Mischungen,
die durch ihre Ingredienzien beschreibbar sind: Vanille, Rosenöl, Basilikum, Zitrone,
Maiglöckchen, Sanderholz, Patchouli. Dies interessiert aber die Produzenten nicht: Oft
können potenzielle KäuferInnen nicht einmal auf den Verpackungen etwas zur Art und
Zusammensetzung des Geruchs finden, sondern nur zum chemischen Aufbau der
Flüssigkeit.
I Hate Perfume
Den Versuch, das übermystifizierte Parfüm von seinem alten Glanz zu befreien und mit
neuen, frischen Bildern zu besetzen, unternehmen immer mehr Designerhäuser. Die
Aufwertung der sonst so vernachlässigten Duftnoten und die Verpackungsästhetik, die an
Apothekenfläschen und Heilmittel erinnert, ist eine der Richtungen, die diese Befreiung des
Parfüms aus seinem einseitig-erotischen Image nimmt. Ein Beispiel dafür wäre das
französische Designerhaus Maison Martin Margiela mit der Parfümlinie REPLICA:
Reproduction of Familiar Scents and Moments of Varying Locations and Periods, das die
Idee von Düften als Erinnerungsträger aufgreift und originell vermarktet: Tea Escape, By
the Fireplace, Beach Walk oder Lazy Sunday Morning werden als Erinnerungen und
konkrete Situationen durch maschinengeschriebene Daten und Orte sowie die Aufzählung
von Duftelementen authentifiziert, aber auch als beliebig reproduzierbar ausgestellt.
(untitled), ein Unisex-Parfüm desselben Hauses, pointiert durch die minimalistische
Verpackung und den sich negierenden Namen die Flüchtigkeit des Produkts und erlaubt
dem Duft und den KäuferInnen eine beliebige Neubesetzung über Geschlechterdifferenzen
und Paratexte hinweg.
Noch offensiver greifen État Libre d’Orange den Mythos Parfüm an mit Projekten wie dem
Männerduft Fat Electrician oder Sécrétions Magnifiques, die für die Parfümbranche sehr
untypische, überexplizite Bilder hervorrufen wollen: die Melancholie eines gescheiterten
High-School-Playboys oder die Vermischung von Blut, Sperma und Brustmilch. Der
schwedische Parfümproduzent Agonist geht noch einen Schritt weiter und beschreibt die
einfachgehaltenen Flacons (nicht zu verwechseln mit den kunstvollen Glaskreationen, in die
man das Parfüm umfüllen kann) mit einer detailreichen Auflistung aller Duftnoten. Düfte
wie Solaris, Liquid Crystal, Vanilla Marble und Black Amber kombinieren olfaktorische
Ingredienzien, Gesteine, aber auch exotisch-rare Substanzen, wie das aus Schimmelpilzen
gewonnene Oud – Eindrücke, die die schwedischen Parfümmacher Christine und Niclas
Lydeen während ihrer Reisen sammelten.
Verschiedene Reisen außerhalb des Boudoirs bietet auch Christopher Brosius. Der Besitzer
und Hauptdesigner der Marke I Hate Perfume richtet sich durch seine olfaktorischen
Mischungen wie In the Library, Faggot oder Invisible Monster gegen das Parfüm als
künstliche und nivellierende Hülle. Inspiriert von seinen Erfahrungen als Taxifahrer
erinnert sich der Parfümmacher immer noch an die Kundinnen, die sich nach dem Ende des
Arbeitstages in seinem Taxi heftig „with some horrible crap“ besprühten und das Parfüm als
ein „offensive weapon“ nutzten.
Die aufgezählten Nischenkonzepte verdienen eine massenhafte Verbreitung, denn sie
verwischen nicht nur die Grenzen zwischen männlichen und weiblichen Düften und dadurch
die Stereotypen, die diese immer wieder mit sich bringen, sondern eröffnen auch ein neues
Universum an Gerüchen, die selten in Parfümbeschreibungen zu lesen sind, die originell,
universal und überraschend sind. Diese schöne neue Welt des Parfüms versucht nicht, sex
und gender auf einen Wunsch und eine Wesenheit zu fixieren (triebgesteuerte Amazone
oder willensstarker Herkules), sondern rückt nicht-menschliche Akteure ins Zentrum. Dass
Düfte eine Geschichte inspirieren können, wie ihre Vermarktung zeigt, ist wunderschön.
Dadurch kann man erfahren, dass kognitive Erfahrungen Geschmack und Geruch
beeinflussen. Doch gerade diese Eigenschaft der Werbung, Geschichten zu erzählen, sollte
ein Interesse für die Vielzahl an Situationen und Erinnerungen wecken, die kapitalisiert
werden können, und nicht das Beharren auf ein Minimum an Auswahl unterstützen. Also
nicht Edelhure oder Lolita, Sportler oder Gentleman, sondern die Bibliothek, der Strand, die
Pride Parade, der Bernstein, die Hoffnung, das Licht, der Friseurladen, der Waschsalon, das
verbrannte Holz oder die neuen Lederhandschuhe sollten neue Ordnungsmuster für unsere
Träume, Wünsche und Erinnerungen bereitstellen: ein Fetischismus neuer Art, der uns als
KonsumentInnen umdefiniert. KonsumentInnen, die nach der genausten und
überzeugendsten Replica eigener Erinnerungen und Wünsche suchen – eine Suche, die die
Frage nach dem Ursprung und Urheber des Sinnes, der Erfahrung und des Traums ohne
befriedigende Antwort lässt. Denn mit welcher Bedeutung wir überhaupt Geschlecht,
Körperlichkeit und gesellschaftliche Rolle besetzen, wie wir unseren Alltag sehen und
beschreiben, ist kein authentischer Prozess abseits des Bildschirms, sondern immer innigst
mit der medialen Realität verbunden. Als Teil dieser marktorientierten Realität sollten
Parfümwerbungen die Pluralität des Imaginären demonstrieren und kapitalisieren.
Bilder:
Lanvin-Logo, veröffentlicht als gemeinfrei über Wikimedia Commons.
Dior Poison, Foto von kuzmanovizc via Wikimedia Commons (CC-by-2.0).