34-RIVINIUS, Karl Josef, Im Spannungsfeld von Mission

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34-RIVINIUS, Karl Josef, Im Spannungsfeld von Mission
34. RIVINIUS, Karl Josef, Im Spannungsfeld von Mission und Politik: Johann Baptist Anzer (18511903) Bischof von Süd-Shandong. (Studia Instituti Missiologici SVD; 93). Nettetal, Steyler
Verlag, 2010. 971 pp.; ill.
Die Meinungen, ob es angebracht sei, eine Biographie über den Gründer der Steyler Mission in
China, Bischof Anzer, zu schreiben, gehen weit auseinander. Der Nachfolger Anzers, Bischof
Henninghaus, lehnte sie mit der Begründung ab, Anzer habe „als feuriger Bayer” dem Stifter der
Steyler Missionare großen Kummer bereitet. Auch der Generalobere der Steyler, Gier, spricht von
einer „Geißel Gottes” für manche Diener Gottes, die neben ihm, unter ihm und über ihm standen. Er
erwähnt die Politik, die der Titel des vorliegenden Buches andeutet.
Andere Missionare, wie z. B. Röser und Volpert, meinen, dass Anzer trotz seiner
„Menschlichkeit” ein edler Charakter sei; aber auch sie geben zu, dass es große Schwierigkeiten
bereite, eine Biographie zu schreiben wegen seines ambivalenten Charakters. Dennoch sei diese
längst fällig, weil Anzer als apostolischer Mann und Bahnbrecher der Mission in China, der alle
Hindernisse überwindet, unvergleichbar sei. Wieder andere schreiben, man habe Anzer neben dem
hl. Josef Freinademetz, den alle loben, „totgeschwiegen”. Positiv ist hingegen die Meinung von P.
Haberl SVD, der reiches Material von Anzers Schwester Brigitta (Sr. Fabiola) gesammelt und an
das Steyler Generalarchiv weitergegeben hat.
Schon vor der Abreise nach China studierte Anzer bei einem Missionar die chinesische Sprache
und setzte das Studium in Hongkong fort; er erkannte auch die Notwendigkeit, sich für die Mission
in Chinain den Naturwissenschaften gute Kenntnisse zu verschaffen.
Nach einem Jahr in Hongkong erinnerte Arnold Janssen die zwei Missionare daran, einen
eigenen Missionsdistrikt in Shandong oder Formosa (Taiwan) zu suchen. Bevor die Kongregation
für die Evangelisierung der Völker Anzer zum Apostolischen Vikar ernannte, sollte dieser mit dem
Franziskanerbischof über die Abtrennung eines Distrikts verhandeln und auch die Generalleitung
der Franziskaner sollte ihre Zustimmung dazu geben. Die Verhandlungen wurden zwar
abgeschlossen, aber es gab auch Verärgerungen, weil Anzer von den Franziskanern eine größere
Anzahl Altchristen, zwanzig Katechisten und drei einheimische Priester verlangte. Auf diese Weise
wollte er rasch eine selbständige Mission in Süd-Shandong schaffen. Nur so konnte er Gelder für
die Mission erwarten. 1881 wurde Anzer zum Provikar von Süd-Shandong und bereits 1885 von
Leo XIII. zum Apostolischen Vikar ernannt; die Bischofsweihe empfing er im Januar 1886. Anzer
plante großzügig. Für die Ausführung des Projekts sandte Janssen bald eine gute Zahl von Brüdern
und Patres. Anzer begann in Poli mit einem Haus, einer Schreinerei, Werkstätten und einer
Landwirtschaft; dazu kamen eine Katechistenschule, ein kleines Seminar und ein Waisenhaus.
Nicht selten fehlte das Geld für weitere Gebäude. Eine wachsende Anzahl von Katechisten leistete
gute Arbeit, sodass die Zahl der Neuchristen schnell wuchs. Es gab aber auch Schwierigkeiten.
Gegner der Mission klagten die Katechisten an; sie wurden verleumdet und verjagt. Der
„europäische Teufel” Anzer und die fremden Missionare sollten getötet werden. Räuberbanden
brachten die Mission in Gefahr. Dazu kam noch die Hungersnot von 1887.
Obwohl der Vertrag von Tranjin freie Religionsausübung gestattete, sahen die Anhänger des
Konfuzius, der in Lu geboren wurde, in den Missionaren eine Gefahr für ihre Religion in der
Heimat des Konfuzius.
Für Anzer stellte sich bald die Frage des Schutzes der deutschen Missionare und ihrer
Besitzungen. Traditionell bot sich Frankreich als Schutzmacht (Pässe und Schutz) an und es
verlangte vom Vatikan die Beibehaltung dieses Angebots. Anzer sah es als seine Aufgabe an, den
deutschen Missionaren den größtmöglichen Schutz zu gewährleisten. Er führte lange und
schwierige Verhandlungen mit den deutschen Gesandten in Peking und mit der Regierung in Berlin,
die das Protektorat auch als eine Prestigefrage ansah. Anzer musste abwägen, für welches
Protektorat er sich entschied und er musste seine Oberen in Rom dafür gewinnen.
Als Anzer noch Provikar von Südshandong, war, wurde er von 1884 von Leo XIII. empfangen
und konnte über die Anfänge der Mission berichten.
Anzer wurde von Arnold Janssen zum ersten Provinzial für China für vierzehn Jahre ernannt.
Der jungen Kongregation fehlte wohl die Erfahrung, dass es besser sei, das Amt des Bischofs von
dem Amt des Provinzials zu trennen. In späteren Jahren beklagte sich eine beachtliche Anzahl von
Missionaren über die Vernachlässigung des geistlichen Lebens. Einige warfen Anzer vor, bei seinen
Entscheidungen zu autoritär zu handeln; er verlange bedingungslosen Gehorsam und spreche
Drohungen aus; es gab sogar ein „Murrkapitel”. Es gelang ihm nicht, den Riss der Disharmonie in
der Provinz zu überwinden. Zwischen Anzer und Limbrock kam es zu einem offenen Konflikt.
Auch nach der Ernennung Limbrocks zum Apostolischen Präfekten von Neuguinea war der Friede
nicht wieder hergestellt worden. Schon 1893 beauftragte Arnold Janssen P. Wegener einen Katalog
der Beschwerden aufzustellen. Sogar der Präfekt der Propaganda Fide, Ledóchowski, forderte einen
Bericht zur Situation. Anzer bat daraufhin um Vergebung und versprach, begangene Fehler zu
vermeiden.
Aufschlussreich ist die Darstellung der Situation in China vor und während des
Boxeraufstandes. Die deutschen Missionare wurden von antichristlichen und fremdenfeindlichen
Personen bedroht. Kardinal Kopp erinnerte Kaiser Wilhelm II. an die heilige Pflicht, die deutschen
Missionare ohne Unterschied der Konfession zu schützen. Die Ermordung der Steyler P. Henle und
P.Nies diente als Vorwand für die Besetzung der Jiaozhoubucht durch das deutsche Reich. Das
besetzte Pachtgebiet wurde auf Bitten Anzers und auf Antrag Ledóchowski von Leo XIII.
kirchenrechtlich der Steyler Mission eingegliedert. Der missionsfeindliche Zwischenfall von
Rizhao, bei dem P. Stenz und sechs einheimische Christen misshandelt wurden, hatte schreckliche
Folgen; die Stimmung gegen die Deutschen wurde stärker. Anzer forderte von neuem mehr Schutz
und Entschädigung für die Missionare. Sogar der deutsche Gesandte Ketteler wurde ermordet, der
nach dem Boxerprotokoll 1901 ein Denkmal in Peking erhielt. Nach diesem Protokoll sollten die
Schuldigen bestraft und eine Entschädigung gezahlt werden.
Die Chinapolitik wurde im deutschen Reichstag heftig kritisiert; vor allem Bebel kritisierte sie
und Anzer wurde nicht geschont. Auch Warneck warf Anzer ein zu forsches und ambitioniertes
Auftreten vor. In einem offenen Brief an Anzer sprach Horbach einer Mission, die nicht ohne
politische Macht überleben kann, jedes biblische Recht zu existieren ab; er nannte sie eine
„Schwertmission”. Er griff auch Anzers Mandarinentracht an, welche die Chinesen zur Eifersucht
reize. Anzer antwortete darauf, dass kein Steyler Missionar zu den Waffen gegriffen hat.
Das Kapitel über die Reformbewegung und die Bildungspolitik zeigt, dass die Missionare
bereit waren, aus der Geschichte zu lernen. Sie bemühten sich, ein positives Bild bei den Chinesen
zu vermitteln und ein verträgliches Miteinander von Christen und Nichtchristen zu gestalten. Auch
die deutsche Vertretung war damit einverstanden. So sollte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die
Wohlfahrts-, Gesundheits- und Bildungspflege der Mission neu betont werden. In den Provinzen
Chinas sollten Hochschulen, in den Präfekturen Mittlere Schulen und in den kleineren Orten
Elementarschulen entstehen; diese Institute sollten die Geschichte Chinas, die Verfassung und ein
Spezialfach oder die Realwissenschaften vermitteln. Wenn die Studenten im Ausland studiert
hatten, konnten sie nach einem Examen in den Staatsdienst übernommen werden. Anzer schlug in
einer Audienz von Leo XIII. mehrere Höhere Schulen und zwei Universitäten vor. Für das Projekt
erhielt er vom Papst eine beachtliche Summe Geld. In Yanzhou entstand eine Kaiserliche Schule
und ein Privatgymnasium, dessen Leitung Anzer angeboten wurde, was er allerdings ablehnte. Er
ließ sich jedoch vertreten. Anzer betrachtete das mit Recht als ein „großes Privileg” und als einen
persönlichen Erfolg.
Das mangelnde Vertrauen in Anzers Amtsführung war dennoch nicht wieder hergestellt
worden. Man nannte Prestigebauten, die viel Geld verschlangen, und stellte die Frage, wozu
pompöse Veranstaltungen dienten. Die Ordensleitung erwog sogar eine Abberufung Anzers. Die
Propaganda Fide beauftragte Kenner vor Ort, die Anklagen zu untersuchen. Aber erst sechs Monate
später reiste Anzer nach Rom. Der Gouverneur übergab Anzer Geschenke für Papst Pius X., der ihn
in einer Audienz empfing. Anzer besuchte auch den Präfekten der Propaganda Fide, Gotti, und den
Staatsekretär Merry del Val. Anzer starb plötzlich und unerwartet am 24. November 1903 in Rom.
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Mit diesem Buch veröffentlicht Rivinius nach jahrzehntelangen Studien über China ein reifes
Werk, in dem er die ungedruckten Quellen (in Rom, Paris, Berlin), die fünf Seiten umfassen,
reichlich verwendet. Das Literaturverzeichnis von dreißig Seiten berücksichtigt die neuesten
einschlägigen Veröffentlichungen. Vorbildlich sind das Personen- und Sachregister und das Glossar
chinesischer Ortsnamen. Zehn ausgewählte Dokumente und eine geographische Karte von der
katholischen Mission Süd-shandong illustrieren das spannende und lesenswerte Buch, das die
Stärken Anzers gut beleuchtet: sein Organisationstalent, sein gutes Urteil, seinen Wagemut, seine
Geschäftstüchtigkeit, seine Schaffenskraft und seine politische Sensibilität; andererseits werden
auch seine Schwächen dargestellt: der autoritäre Stil, der unbedingten Gehorsam forderte; seine
stürmischen Auftritte bei Missionaren, Katechisten und Christen und sein Lebensstil verhinderten
das notwendige Vertrauen und das harmonische Miteinander im Apostolischen Vikariat. - Willi
Henkel, OMI.