Neue Nationalgalerie - Staatliche Museen zu Berlin
Transcription
Neue Nationalgalerie - Staatliche Museen zu Berlin
Materialien für Schulen Neue Nationalgalerie Die Staatlichen Museen zu Berlin sind eine Einrichtung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Impressum Besucher-Dienste der Staatlichen Museen zu Berlin Verantwortlich: Christoffer Richartz Redaktion: Daniela Bystron Konzept und Texte: Julia Devies, Anne Fäser, Kolja Kohlhoff, Julia Rüther und Markus Strieder Illustrationen: Julia Rüther Layout: Birgitt Leber EINLEITUNG Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Erzieherinnen und Erzieher, liebe Lehrerinnen und Lehrer, die Sammlung der Nationalgalerie ist eine sehr vielfältige: In mehreren Museen in Berlin sind Gemälde, Skulpturen und Installationen aus dem 19. bis 21. Jahrhundert zu sehen. Zu den Häusern der Nationalgalerie gehören: Die Alte Nationalgalerie, die Friedrichswerdersche Kirche, die Neue Nationalgalerie, das Museum Berggruen, die Sammlung Scharf-Gerstenberg und der Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin. Die Sammlung in der Neuen Nationalgalerie wird in wechselnden Präsentationen ausgestellt. Aktuell ist sie noch bis zum 3. Oktober 2011 unter dem Titel „Moderne Zeiten. Die Sammlung. 1900 – 1945“ zu sehen. Ab 11. November 2011 wird dann der Fokus auf die Zeit ab 1945 gelenkt werden. Wir können gespannt sein, was es dann zu sehen gibt! Wir haben zwölf Stationen ausgewählt und sie genauer unter die Lupe genommen. Wir, das ist das Team der Kunstvermittlung, und besteht aus Bildenden Künstler/innen, Kunstpädagog/innen und Kunstwissenschaftler/innen. Dementsprechend haben wir versucht, den Blick auf die Werke aus unterschiedlichen Perspektiven zu lenken. Es soll Lehrpersonen als auch Erzieherinnen und Erziehern zur eigenen Vorbereitung helfen, aber auch Schülerinnen und Schülern selbst als Informationsmaterial dienen. Wir haben vier Elemente entwickelt, die durch die Materialien für die Schule begleiten und natürlich auch Anregung für mehr Fragen, Antworten und neue Blicke geben können. 3 Sicher habt Ihr bemerkt, dass das Heft besonders gestaltet ist: Die Kunstwerke und weitere Illustrationen hat die Malerin Julia Rüther für uns gemalt. Die Originale in der Neuen Nationalgalerie warten aber noch auf einen Besuch von Euch! Wir wünschen Ihnen und Euch viel Spaß beim Lesen und gemeinsamen Arbeiten. Wir hoffe, es kann für die Vor- und Nachbereitung des Unterrichts dienen, spannende Informationen über die Kunstwerke liefern, neue Blick auf die Kunst eröffnen und Anregungen für eigene Ideen und Gedanken geben. Euer Kunstvermittlungs-Team Daniela Bystron, Julia Devies, Anne Fäser, Julia Rüther, Kolja Kohlhoff und Markus Strieder Hier haben wir das Werk genauer unter die Lupe genommen und wollen auf Besonderheiten aufmerksam machen. Wir haben zu jedem Kunstwerk ein passendes Gedicht ausgesucht. Es stammt aus der Zeit, in dem auch das Kunstwerk entstanden ist. Vielleicht hilft es ja, Neues zu entdecken oder Unaussprechliches in Worte zu fassen? 4 Zu jedem Kunstwerk findest du im Museum ein Schild – die Werkbeschriftung – mit Angaben zu: Künstlerin oder Künstler: Name, Geburts- und Sterbeort mit Jahreszahlen Titel des Werkes: wie die Künstlerin oder der Künstler es genannt hat wann es entstanden ist aus welchem Material es gemacht ist. darunter werden manchmal noch Angaben über die Provenienz, die Herkunft des Bildes, aufgeführt. · · · · · Wir haben Informationen zum Zeitgeschehen gesammelt. Was war zu der Zeit, als das Kunstwerk entstand, wichtig? Welche Informationen können uns helfen, das Werk besser zu verstehen? PABLO PICASSO PABLO PICASSO 1881 Malag – 1973 Mougins Sitzende Frau Femme assise dans un fauteuil 1909 Öl und Tusche auf Leinwand 5 Eine Frau sitzt in einem Sessel. Links wird der Raum durch einen Vorhang geschlossen. Diese Art der Darstellung entspricht durchaus der Tradition der Porträtmalerei und ist dennoch ungewöhnlich. Was fällt dir auf und was fällt deiner Meinung nach aus dem Rahmen? Wie gibt Pablo Picasso das Motiv wieder? Wollte er hier eine ganz bestimmte Person porträtieren? Die Frau wirkt so, als wäre sie aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt. Schau dir die kantige Nase an. Sie steht im Gegensatz zu den runden Brüsten. Die Frisur ist aus runden und eckigen Formen aufgebaut und ungewöhnlich hoch. Arme und Hände erinnern an eine Gliederpuppe. Auch die Gegenstände im Bild sind mit geometrischen Formen vereinfacht dargestellt. Achte auch auf die Zusammenstellung der Formen. Sie zeigt, dass Picasso verschiedene Ansichten nebeneinander darstellt. Damit verzichtet er auch auf eine einheitliche Perspektive. Die Angabe zum Material dieses Bildes ist Öl und Tusche auf Leinwand. Öl beschreibt die Art der Farbe, es ist also Ölfarbe gemeint. Das, was die Farbe farbig macht, egal ob im Bunt- oder Filzstift, in den Wasserfarben oder Wachsmalern, ist das Pigment. Pigmente sind kleinste puderige Teilchen, wie z.B. der Staub eines zermahlenen Edelsteins. Stellt man sich vor, dass man mit diesem Staub eine Leinwand bepinselt und das fertige Bild nachher an die Wand hängt, wird klar, dass man diesen Staub hätte ankleben müssen. Sonst sammelte sich das ganze Gemälde mit der Zeit unter der Leinwand auf dem Boden. Dieser Kleber ist bei der Ölfarbe das Öl, bei der Acrylfarbe der Acrylbinder, bei den Wachsmalstiften das Wachs. In Buntstiften werden die Pigmente mit einer ausgeklügelten Mischung von Fett und Wachs zusammengehalten und auf diese Weise dauerhaft auf das Papier geklebt. PABLO PICASSO Auf Leinwand bedeutet, dass die Farbe auf eine Leinwand aufgetragen wurde. Häufig wird bei den Materialangaben nicht so eindeutig unterschieden, welche Art von Leinwand für das Bild ausgewählt wude. Hier gibt es viele Unterschiede, die deutlich werden, wenn du dich dem Original vorsichtig näherst und genau hinsiehst. Kannst du zwischen den Webfäden richtige Löcher und Erhebungen erkennen, spricht man von einer sehr groben Leinwand. Manchmal findet man dann die Angabe Öl auf Jute/Rupfen. Ist die Oberfläche glatt, d.h. sehr eng mit dünnen Fäden gewebt, spricht man von einer feinen Leinwand, auch Porträtleinwand genannt. Portraits sind früher immer sehr genau gemalt worden, und man bevorzugte für Gesichter eine ebene Bildoberfläche. Meist kann man nicht genau klären, um welchen Stoff es sich handelt, wenn man nur den grundierten und bemalten Teil des Bildes angucken kann, dafür müsste man einen Blick auf die Rückseite des Bildes werfen dürfen. Dann wäre auch gut zu erkennen, wie die Leinwand befestigte wurde. 6 Häufig werden die Leinwände auf einen speziellen Keilrahmen aufgespannt. Einen Keilrahmen kann man mit kleinen Keilen in den Ecken auseinandertreiben, wenn die Spannung der Leinwand nachlässt und diese durchhängt. Dieses Gemälde von Picasso ist auf einer fein strukturierten und weiß grundierten Leinwand gemalt. Das kann man besonders deutlich sehen, weil die Leinwand nicht vollständig mit Farbe bedeckt ist. Picasso hat nämlich die Dame fast ausschließlich aus Schraffuren zusammengesetzt. Die einzelnen Flächen sind also nicht einfach ausgemalt, sondern viele parallele Linien, manchmal mit kleinen Zwischenräumen, bilden eine Fläche. In einigen Flächen erkennt man diese Linien sehr gut, weil sie sich farblich leicht unterscheiden, wie beispielsweise in der braunen Schattenfläche des vorderen Unterarms. Die Ölfarbe bleibt besonders lange vermalbar und lässt sich daher auch erst auf dem Bild mischen, etwa indem man mit einer dunklen Farbe eine Schraffur von einer Seite beginnt und danach von der anderen Seite mit einer hellen Farbe in die dunkle Schraffur hineinmalt. Dadurch entstehen Farbverläufe, wie du sie auf diesem Bild in einigen Flächen finden kannst. Den eckigen Malstil, mit dem Pablo Picasso diese Frau darstellt, nennt man Kubismus. Das Wort Kubus kommt aus dem Lateinischen und heißt Würfel. Der Kubismus war eine gemeinsame Erfindung von George Braque und Pablo Picasso. Als sie sich 1907 kennen lernten, malte Picasso gerade sein erstes Werk, in dem sich kubistische Gestaltungsformen zeigen. Von 1908 bis zu Braques Einberufung zum Kriegsdienst 1914 arbeiteten beide Künstler eng zusammen. Und obwohl sie in verschiedenen Städten lebten, kamen sie zu ähnlichen Bildformen. Zeitweise konnte man ihre Werke nicht voneinander unterscheiden. Sie machten sich angeblich sogar einen Jux daraus, Werke des jeweils anderen zu signieren. Damit untergruben sie den Mythos des Künstlergenies, das alles aus sich selbst heraus schafft. Braque und Picasso trieben die Zersplitterung der Formen immer weiter voran und entfernten sich zusehends vom Gegenstand, bis sie 1912 aus völlig freien Formen und Flächen einen Bildgegenstand zusammensetzten. Ihre kubistischen Werke charakterisiert eine starke Formvereinfachung, eine flächige Darstellung, die Reduktion der Farbe zumeist auf Braun- und Grautöne und die Abkehr von der Zentralperspektive. Der Kubismus bereitet den Übergang von der gegenständlichen zur abstrakten Malerei vor und beeinflusste die abstrakte Malerei für Jahrzehnte. PABLO PICASSO Guillaume Apollinaire begleitet die Pariser Künstler nicht nur durch seine zahlreichen Kunstkritiken, sondern auch durch seine literarischen Texte. So wie die Künstler auf die Regeln der Zentralperspektive verzichtt, verzichtet er auf die Interpunktion. Die vielen verschiedenen Ansichten in den kubistischen Werken findet ihre Entsprechung in der Gleichzeitigkeit von Geschehnissen in seinen Gedichten. Montag Rue Christine Die Portiersfrau und ihre Mutter lassen alles durch Wenn du ein Mann bist kommst du heute Abend mit einer braucht bloß in der Toreinfahrt zu stehen Während der andere hochsteigt Drei Gasflammen Die Eigentümerin hat’s auf der Brust Wenn du fertig bist spielen wir eine Partie Jacquet Ein Dirigent der Halsschmerzen hat Wenn du nach Tunis kommst zeig ich dir wie man Kif raucht Das scheint sich zusammenzureimen Stapel von Untertassen Blumen ein Kalender Bim bam bim Ich soll meiner Hauswirtin 300 Francs in den Rachen werfen Lieber schneid ich mir’n ab eh ich’s tu Ich fahre 20 Uhr 27 Sechs Spiegel starren sich dauernd an Ich glaube wir werden uns noch ganz anders kommen Mein Herr Sie sind ein mickriger Hurenbock Diese Dame hat ’ne Nase wie ein Regenwurm Louise hat ihren Pelz vergessen Ich hab keinen Pelz und frier auch nicht Der Däne raucht seine Zigarette und guckt auf den Fahrplan Die schwarze Katze streicht durch die Kneipe Diese Pfannkuchen waren ausgezeichnet Die Quelle fließt Kleid so schwarz wie ihre Fingernägel Das ist ganz unmöglich Hier mein Herr Der Ring aus Malachit Der Boden ist voll Sägemehl Das stimmt wirklich Die rothaarige Kellnerin ist von einem Buchhändler entführt worden Ein Journalist den ich übrigens nur sehr flüchtig kenne Hör zu Jacques was ich Dir zu sagen habe ist sehr wichtig Personen- und Frachtschiffahrtsgesellschaft Mein Herr sagt er zu mir wollen Sie mal sehen was ich alles so kann Aquarelle Ölbilder Ich habe nur eine kleine Bonne Nach dem Mittagessen Café du Luxembourg Kaum sind wir da stellt er mir einen gemütlichen Dicken vor Der zu mir sagt Hören Sie mal das ist reizend In Smyrna in Neapel in Tunesien Mein Gott wo ist das bloß Das letzte Mal als ich in China war Acht oder neun Jahre ist das nun her Was Ehre ist hängt vom Zeitpunkt ab Der Royal Flush Guillaume Apollinaire, 1912. Aus: Apollinaire, Guillaume: Texte und Kritiken, Köln 1989. S. 293 7 KARL SCHMIDT-ROTTLUFF KARL SCHMIDT-ROTTLUFF 18884 Chemnitz – 1976 Berlin Gutshof in Dangast 1910 Öl und Tusche auf Leinwand 8 Sieht es nicht feurig aus auf dem Bild? Die Farben sind unglaublich leuchtend. Die verwendeten Rot-, Gelb- und Orangetöne der Häuser und des Bodens werden durch das Blau des Himmels und des Vordergrunds sowie das frische Grün der Baumblätter kontrastiert. Karl Schmidt-Rottluff verwendet in dem Bild vor allem kräftige Primär- und Sekundärfarben. Er wählt die Farbe nicht mehr entsprechend der Wirklichkeit, sondern vor allem nach den Empfindungen, die das Gesehene bei ihm auslöste. Welche Stimmung strahlt das Bild für dich aus? Zu sehen ist ein Gutshof in Dangast, einem Ort an der Nordsee, den der Künstler mit seinem Kollegen Erich Heckel häufig aufgesucht hat, um dort in Ruhe malen zu können. Alle Motive sind in ihrer Formensprache vereinfacht dargestellt. Auf Detail wird verzichtet. Die Motive treten in den Hintergrund. Sie sind nur Anlass für den Umgang mit Farbe. Diese trägt er ganz flächig auf und trennt einige Farbflächen sogar mit dicken Umrisslinien, Konturen, voneinander ab. Schau dir zum Beispiel die Häuser an. Im Vordergrund aber fließen das Rot und Blau über die Ränder des Bildes hinaus. Diese fließende Bewegung löst die Form auf. Was könnten die blauen Farbflächen darstellen? KARL SCHMIDT-ROTTLUFF Häufig werden die Leinwände auf einen speziellen Keilrahmen aufgespannt. Einen Keilrahmen kann man mit kleinen Keilen in den Ecken auseinandertreiben, wenn die Spannung der Leinwand nachlässt und diese durchhängt. Die Angabe zum Material dieses Bildes ist Öl und Tusche auf Leinwand. Öl beschreibt die Art der Farbe, es ist also Ölfarbe gemeint. Das, was die Farbe farbig macht, egal ob im Bunt- oder Filzstift, in den Wasserfarben oder Wachsmalern, ist das Pigment. Pigmente sind kleinste puderige Teilchen, wie z.B. der Staub eines zermahlenen Edelsteins. Stellt man sich vor, dass man mit diesem Staub eine Leinwand bepinselt und das fertige Bild nachher an die Wand hängt, wird klar, dass man diesen Staub hätte ankleben müssen. Sonst sammelte sich das ganze Gemälde mit der Zeit unter der Leinwand auf dem Boden. Dieser Kleber ist bei der Ölfarbe das Öl, bei der Acrylfarbe der Acrylbinder, bei den Wachsmalstiften das Wachs. In Buntstiften werden die Pigmente mit einer ausgeklügelten Mischung von Fett und Wachs zusammengehalten und auf diese Weise dauerhaft auf das Papier geklebt. Auf Leinwand bedeutet, dass die Farbe auf eine Leinwand aufgetragen wurde. Häufig wird bei den Materialangaben nicht so eindeutig unterschieden, welche Art von Leinwand für das Bild ausgewählt wude. Hier gibt es viele Unterschiede, die deutlich werden, wenn du dich dem Original vorsichtig näherst und genau hinsiehst. Kannst du zwischen den Webfäden richtige Löcher und Erhebungen erkennen, spricht man von einer sehr groben Leinwand. Manchmal findet man dann die Angabe Öl auf Jute/Rupfen. Ist die Oberfläche glatt, d.h. sehr eng mit dünnen Fäden gewebt, spricht man von einer feinen Leinwand, auch Porträtleinwand genannt. Portraits sind früher immer sehr genau gemalt worden, und man bevorzugte für Gesichter eine ebene Bildoberfläche. Meist kann man nicht genau klären, um welchen Stoff es sich handelt, wenn man nur den grundierten und bemalten Teil des Bildes angucken kann, dafür müsste man einen Blick auf die Rückseite des Bildes werfen dürfen. Dann wäre auch gut zu erkennen, wie die Leinwand befestigte wurde. Bei diesem Bild kann man nicht genau sagen, ob Karl Schmidt-Rottluff eine grobe oder feine Leinwand benutzt hat, weil sie sehr dick grundiert wurde. Dabei handelt es sich um eine stark saugende Grundierung. Das erkennt man daran, dass die Farbe sehr matt erscheint und dass das Glanz gebende Öl der Farbe von dem Untergrund aufgesogen wurde. Dies hatte vielleicht für Schmidt-Rottluff den Vorteil, dass die Farbe besonders schnell trocken war. Er hat auffallend viel und schnell gemalt. Um trotz der Grundierung eine starke Struktur im Bild zu haben, mischte er der Grundierung Sand bei. Selbst Verunreinigungen wie Garn von der Leinwand (oben rechts) oder Pinselhaare scheinen ihm willkommen gewesen zu sein. Bei dieser Arbeitsweise betont der Künstler das Material von Farbe und Untergrund, das Bild wirkt im Auftrag und in der Oberfläche zusätzlich lebendiger. Die Leuchtkraft der Farbe auf einer grundierten Leinwand ist außerdem viel stärker, als wenn die Farbe direkt auf die Jute aufgetragen wäre. Die weiße Grundierung lässt die Farbe reiner und frischer wirken. Dies wird umso deutlicher, wenn man sie mit den eher stumpfen Farben der Bilder Otto Müllers in der Neuen Nationalgalerie vergleicht, die auf rohe Jute gemalt wurden. 9 KARL SCHMIDT-ROTTLUFF Karl Schmidt-Rottluff war ein Mitglied der Künstlergruppe „Die Brücke“. Die vier ihr angehörenden Architekturstudenten aus Dresden machten zusammen viele Ausflüge in die Natur, wie zum Beispiel nach Dangast an der Nordsee. Sie wollten weg von der sich immer stärker industrialisierenden Gesellschaft, wollten raus aus der Großstadt mit ihrer Hektik, in der die Menschen sich zunehmend voneinander entfremdeten und vereinsamten. 10 Die Brücke-Künstler suchten etwas, das sie Natürlichkeit, Ursprünglichkeit und unverfälschte Natur nannten. Sie malten unter freien Himmel viele Landschafts- und Aktdarstellungen. Dabei werden die Natur und die Menschen mit schnellen, breiten Pinselstrichen dargestellt, die Bewegung und Spontanität ausstrahlen. Die Farbpalette ist meist auf Primär - und Sekundärfarben reduziert. Bei dieser Art der Darstellung ging es um eine subjektive Wahrnehmung, um ein inneres Erlebnis der Künstlerinnen oder Künstler, nicht um eine naturgetreue Abbildung der Wirklichkeit „Dunkle Gerüche“, „roter Mensch“, „silbernes Herz“: Die expressionistischen Dichter schrieben mit dem Farbkasten. Lassen sich die Gedichte mit expressionistischen Kunstwerken vergleichen? Sommer Sommer unter kalkgetünchten Bogen, Vergilbtes Korn, ein Vogel der ein und aus fliegt Abend und die dunklen Gerüche des Grüns. Roter Mensch, auf dämmerndem Weg, wohin? Über einsamen Hügel, vorbei am knöchernen Haus Über die Stufen des Waldes tanzt das silberne Herz. Georg Trakl, 1913, Aus: Trakl, Georg: Das dichterische Werk, München 1972. S. 209. In den Abend … Aus krummen Nebeln wachsen Köstlichkeiten. Ganz winzge Dinge wurden plötzlich wichtig. Der Himmel ist schon grün und undurchsichtig dort hinten, wo die blinden Hügel gleiten. Zerlumpte Bäume strolchen in die Ferne. Betrunkne Wiesen drehen sich im Kreise, und alle Flächen werden grau und weise … Nur Dörfer hocken leuchtend: rote Sterne – Alfred Lichtenstein, 1911. Aus: Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts, hrsg. von Gottfried Benn, München 1962. S. 88 ALEXEJ VON JAWLENSKY ALEXEJ VON JAWLENSKY 1864 Kuslovso – 1941 Wiesbaden Frauenkopf 1912 Öl und Tusche auf Leinwand Schau dir das Bild in Ruhe an. Welchen Typ von Frau hat der Künstler Alexej von Jawlensky deiner Meinung nach porträtiert? Was erfährst du über die Person durch die Art der Darstellung? Jawlensky hat die Formen des Porträts stark vereinfacht. Der „Frauenkopf“ besteht hauptsächlich aus gebogenen Linien und runden, zum Teil mandelförmigen Formen. Eine dunkle, breite Kontur gibt dem runden Kopf die Gestalt. Aber nicht nur die Form spielt eine wesentliche Rolle, sondern auch die Farbe, welche so über das Gesicht verteilt ist, dass es seine Formensprache unterstützt. Wie setzt Jawlensky Farbe ein? Und welche Wirkung hat das Porträt dadurch auf dich? Der Künstler arbeitet stark mit den Primärfarben. So hat die Frau beispielsweise gelbe Haare, blaue Augen und rote Wangen. Eine rote Linie durchzieht die Stirn am Haaransatz und verbindet das Gesicht von der Stirn bis zum Kinn. Zwischen Augenbrauen und Augen setzt Jawlensky ein Violett, das er auch noch einmal unter die Augen zieht und damit ihre Mandel-Form betont. Zudem tritt das Augenblau durch das violette Umrahmen stärker in den Vordergrund und verbindet sich mit dem Blau, von dem die gesamte Figur umgeben ist. Das Blau im Hintergrund wechselt von Hellblau zu Dunkelblau. Das Hellblau umrahmt dabei das Gesicht und bringt es vor dem dunkleren Hintergrund zum Strahlen. Zudem unterstützt die bewegte Pinselführung die kraftvolle und strahlende Wirkung des Bildes. Warum macht der Künstler das wohl? Was erreicht er damit? Aufgrund der gesamten Arbeitsweise von Jawlensky kann man auch bei diesem Porträt vermuten, dass der Künstler vor allem den Charakter und die Ausstrahlung des Menschen erfassen wollte. Es ging ihm weniger darum, das Porträt einer bestimmten Person zu malen, sondern er wollte vielmehr durch Form und Farbe einen Typus von Frau und Gesicht darstellen. Schau dir auch spätere Arbeiten von Jawlensky an, in denen er Gesichter immer mehr auf Linien, Formen und Farben reduziert. Wie würde ein Porträt von dir nur aus Linien, Formen und Farben aussehen? Die Angabe zum Material dieses Bildes ist Öl und Tusche auf Leinwand. Öl beschreibt die Art der Farbe, es ist also Ölfarbe gemeint. Das, was die Farbe farbig macht, egal ob im Bunt- oder Filzstift, in den Wasserfarben oder Wachsmalern, ist das Pigment. Pigmente sind kleinste puderige Teilchen, wie z.B. der Staub eines zermahlenen Edelsteins. Stellt man sich vor, dass man mit diesem Staub eine Leinwand 11 ALEXEJ VON JAWLENSKY bepinselt und das fertige Bild nachher an die Wand hängt, wird klar, dass man diesen Staub hätte ankleben müssen. Sonst sammelte sich das ganze Gemälde mit der Zeit unter der Leinwand auf dem Boden. Dieser Kleber ist bei der Ölfarbe das Öl, bei der Acrylfarbe der Acrylbinder, bei den Wachsmalstiften das Wachs. In Buntstiften werden die Pigmente mit einer ausgeklügelten Mischung von Fett und Wachs zusammengehalten und auf diese Weise dauerhaft auf das Papier geklebt. 12 Auf Leinwand bedeutet, dass die Farbe auf eine Leinwand aufgetragen wurde. Häufig wird bei den Materialangaben nicht so eindeutig unterschieden, welche Art von Leinwand für das Bild ausgewählt wude. Hier gibt es viele Unterschiede, die deutlich werden, wenn du dich dem Original vorsichtig näherst und genau hinsiehst. Kannst du zwischen den Webfäden richtige Löcher und Erhebungen erkennen, spricht man von einer sehr groben Leinwand. Manchmal findet man dann die Angabe Öl auf Jute/Rupfen. Ist die Oberfläche glatt, d.h. sehr eng mit dünnen Fäden gewebt, spricht man von einer feinen Leinwand, auch Porträtleinwand genannt. Portraits sind früher immer sehr genau gemalt worden, und man bevorzugte für Gesichter eine ebene Bildoberfläche. Meist kann man nicht genau klären, um welchen Stoff es sich handelt, wenn man nur den grundierten und bemalten Teil des Bildes angucken kann, dafür müsste man einen Blick auf die Rückseite des Bildes werfen dürfen. Dann wäre auch gut zu erkennen, wie die Leinwand befestigte wurde. Häufig werden die Leinwände auf einen speziellen Keilrahmen aufgespannt. Einen Keilrahmen kann man mit kleinen Keilen in den Ecken auseinandertreiben, wenn die Spannung der Leinwand nachlässt und diese durchhängt. Alexej von Jawlensky hat dieses Bild mit einem pastosen Farbauftrag gemalt. Pastos bedeutet, dass die Farbe nur bis zu einer Paste – wenn überhaupt – verdünnt und verarbeitet wird. So entsteht durch die Pinselbewegung auf dem Bildträger, der Leinwand, ein Relief. Diese Art der Malerei kam erst im 19. Jahrhundert auf, vorher war es verpönt, Erhebungen irgendwelcher Art auf den Bildern zu hinterlassen, sie mussten „fini“ sein – die Farben mussten gleichmäßig ineinander übergehen. In dem rechten Teil der Frisur erkennt man sogar die unterliegende schwarze Farbe deutlich an der Struktur der Pinselspuren, die sich unter der roten Farbe fortsetzen. Der gesamte Eindruck des Bildes wird getragen durch diese Bewegungen, die sich wie ein Flimmern nach außen fortsetzen und der Dame eine Aura, eine geheimnisvolle Ausstrahlung, verschaffen. Dick aufgetragene Ölfarbe braucht besonders lange – manchmal Monate –, um richtig trocken und fest zu werden. Das unterschätzen sogar erfahrene Maler, verpacken oder transportieren die Bilder zu früh, sodass typische Druckspuren entstehen. Es kann sein, dass auch Jawlensky dieses Bild in einem noch nicht getrockneten Zustand verpackt hat. In der weißen Farbe an der Stirn erkennt man deutlich solch eine Druckspur, bei der die dickste Stelle der Farbe eingedrückt und die Oberfläche auf- und abgerissen wurde. Solche Dinge kannst du meist nur vor dem Original im Museum entdecken, wenn du genau hinsiehst und dir Zeit zum Gucken nimmst. Alexej von Jawlensky konzentriert sich ab 1911 in seinen Gemälden auf das menschliche Gesicht. Im „Frauenkopf“ zeigt sich sein Bestreben nach Verallgemeinerung, unter anderem durch die Reduzierung der Farben auf die Primär- und Sekundärfarben in Kombination mit den Nicht-Farben Schwarz und Weiß. Auch die Formen reduziert er und verwendet nur noch runde Formen. In späteren Arbeiten reduziert Jawlensky die Gesichter noch weiter auf geometrische Formen, auf wenige Striche und Farbflächen. Ein Beispiel dafür sind die beiden Gemälde „Abstrakter Kopf“ und „Abstrakter Kopf – Begierde“, die auch zur Sammlung der Neuen Nationalgalerie gehören. Solche stark abstrahierten Köpfe malt er in Serie. Es sind Gesichter von vorne, die immer im gleichen Ausschnitt und in der Mitte des Bildes platziert sind. Dabei handelt es sich, ähnlich wie bei dem „Frauenkopf“, nicht um bestimmte Menschen, er porträtiert auch in dieser Serie keine wirklichen Personen. Es geht vielmehr um ein Allgemeines, um das menschliche Antlitz an sich, jenseits individueller Physiognomien. FRANZ MARC FRANZ MARC 1880 München – 1916 Braquis Der Turm der blauen Pferde 1913 Öl auf Leinwand Das Bild „Der Turm der blauen Pferde“ von Franz Marc können wir heute nicht mehr als Original sehen, da es seit 1938 verschollen ist. In dieser Zeit des Nationalsozialismus wurden viele Künstler verfolgt. Ihre Bilder wurden als verrückt und krank bezeichnet und aus den Museen entfernt. So sind viele Werke aus der Sammlung der Nationalgalerie verschwunden. Auch Marcs Bild hängt hier nur noch als Schwarz-Weiß-Kopie. Die Farbe können wir dabei leider nicht mehr betrachten. Aber der Titel verrät etwas über die Farbgebung. Außerdem wissen wir durch den Vergleich mit anderen Bildern, dass der Künstler eine eigene Farbsprache erfand, die sich nicht mehr nach dem Naturvorbild richtete. Vielmehr sollten Farben Gefühle und Stimmungen zeigen und ganz eigene Bedeutungen im Bild erhalten. Von Franz Marc selbst erfahren wir, dass für ihn Tiere ein Sinnbild von Ursprünglichkeit und Reinheit waren, da sie friedlich und im Einklang mit der Natur leben. Sie waren für ihn etwas Geheimnisvolles und verkörpern für ihn die Idee einer paradiesischen Welt. Diese Vorstellung bekräftigt er gerade durch den Einsatz von Farbe im Zusammenspiel mit seiner Formensprache. Auf dem Bild „Der Turm der blauen Pferde“ können wir diese Wechselwirkung von Farbe und Form nicht mehr bewerten. So lassen sich nur die Formen innerhalb der Gesamtkomposition betrachten. Wie würdest du die Körper der Pferde beschreiben und was erzielt der Künstler mit seiner Formensprache? Vier Pferde sind übereinander getürmt. Über ihnen ist ein Bogen, wahrscheinlich ein Regenbogen, zu sehen. Pferde, Pflanzen und Hügel der Landschaft sind hauptsächlich aus geometrischen Formen aufgebaut Ein Wechsel zwischen runden und eckigen Formen und das rhythmische Zusammenspiel der Linien macht das Bild dynamisch. Dem Titel der Arbeit zufolge können wir vermuten, dass Marc die Pferde blau gemalt hat. Aber was für ein Blau kann das gewesen sein? War es deckend? Oder kannst du es dir auch gläsern und durchsichtig vorstellen? Überlege dir doch selbst, wie du die Motive im Bild farblich gestalten würdest. Welche Farben würdest du wählen, um eine geheimnisvolle Wirkung zu erzielen? 13 FRANZ MARC Franz Marc, der 1916 im ersten Weltkrieg durch Granatensplitter getötet wurde, war in den zwanziger Jahren in Deutschland der beliebteste Künstler der Moderne. Gerade „Der Turm der blauen Pferde“ fand durch Poster und Postkarte eine große Verbreitung. Auf dem Schild kannst du lesen, dass das Bild eine Ölmalerei auf Leinwand ist. Aber dir fällt sicher auf, dass dieses Werk keine echte Malerei, sondern nur ein Foto des Originals ist. Diese Reproduktion, eine Kopie, ist wie ein gleichgroßer Platzhalter für das Original zu verstehen, welches leider nicht mehr aufzufinden ist. Diese Reproduktion ist ein großer Ausdruck von einem Foto. Du findest über das Bild verteilt kleine Fusseln und Kratzer, die für die Entwicklung eines Fotos von einem belichteten Film typisch sind. Dass es sich um einen Ausdruck und nicht um einen großen Fotoabzug handelt, kannst du erkennen, wenn du dir die kleinen bunten Punkte ansiehst, aus denen sich das Bild zusammensetzt. Bei einem Schwarz-Weiß-Foto gibt es diese nicht. 14 „Der Turm der blauen Pferde“ war eines der ersten Werke moderner Kunst, das die Nationalgalerie 1919 ankaufte. Bis 1937 hing das Gemälde in der neuen Abteilung der Nationalgalerie im Kronprinzenpalais. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 begann sehr schnell eine Hetze gegen die Kunst der Moderne. Künstlerinnen und Künstler wurden als Juden und Kommunisten beschimpft und ihnen wurde vorgeworfen, dass sie einen Kulturverfall herbeigeführt hätten. Der Direktor der Nationalgalerie wurde beurlaubt. Sein Nachfolger hielt an der Präsentation der Expressionisten fest, führte aber sogenannte „Ahnennachweise“, um zu belegen, dass die ausgestellten Künstlerinnen und Künstler keine Juden seien. Auch er war nur wenige Monate im Amt. Der folgende Direktor ließ einen Großteil der expressionistischen Werke abhängen, Franz Marc aber erhielt einen eigenen Raum, in dem sieben seiner Werke gezeigt wurden. Noch 1936 konnte eine Gedächtnisausstellung zu seinem 20. Todestag stattfinden, allerdings schon nicht mehr in einem öffentlichen Museum, sondern in Hannover in der privaten KestnerGesellschaft sowie anschließend in Berlin in den Galerien Nierendorf und von der Heyde. In der Presse war zu lesen, dass die Ausstellung „eine einzigartige Gelegenheit (bietet), die Entwicklung dieses aus nordischem Glauben und germanischem Geiste geborenen Werkes zu studieren, von dem die ‚Blauen Pferde’ Weltruf erlangten.“2 Mit den Begriffen nordisch und germanisch versuchte dieser Kunstkritiker, Marc gegen die Anfeindungen der Nationalsozialisten zu schützen, da es zur Propaganda der Nazis gehörte, sich auf das Nordische zu beziehen. Während der Eröffnung der Ausstellung in Berlin erschien die Gestapo und untersagte nicht nur die Eröffnungsrede, sondern schloss auch die Ausstellung, die aber nach wenigen Tagen wieder geöffnet werden konnte. Das gleichzeitig erschienene Buch zum Werk von Franz Marc wurde jedoch sofort verboten. Auch seine Witwe, Maria Marc, die ein Gedenkbuch geplant hatte, veröffentlichte dieses nicht mehr. Darin wäre zu lesen gewesen: „Die Zeit war schwierig, aber heroisch. Wir malten,das Publikum spuckte. Heute malen wir, und das Publikum sagt: ‚Das ist hübsch’. Dieser Wechsel will nicht heißen, dass die Zeiten leichter geworden wären für den Künstler. Anstatt einen direkten und natürlichen Kontakt mit der Kunst zu suchen, erfindet man heute neue Schwierigkeiten und Hindernisse, um sie zwischen Werk und Betrachter zu stellen. So fragt man mit vorgefaßter Miene, ob die Kunst Marcs einer germanischen Quelle entstamme, dass heißt einer ‚deutschen Seele’, und ob seine Malerei wahrhaft deutsch sei. Ich glaube ja, denn Marc liebte sein Land. Meiner Meinung nach wäre es wesentlich, unter der‚nationalen Seele’ ihre Quelle universaler Menschlichkeit zu sehen.“ 3 So nahm der Freund und Künstlerkollege Wassily Kandinsky Stellung zu der nationalen Einordnung des Künstlers. Franz Marc wurde ausgestellt und in der Presse gefeiert. Gleichzeitig konnten keine Publikationen mehr über ihn erscheinen. Diese inkonsequente Politik gegenüber dem Künstler fand sich auch weiterhin. Als 1937 die Kunstwerke der Moderne in allen deutschen Museen beschlagnahmt und FRANZ MARC ein Teil in der in München stattfindenden Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt wurden, hingen dort fünf Arbeiten Marcs, und auch. „Der Turm der blauen Pferde“. Im Gegensatz zu den Präsentationen anderer Werke, wurde weder der Name des Künstlers und der Bildtitel angegeben noch gab es verunglimpfende Kommentare an der Wand. Als der Deutsche Offiziersbund mit einem Brief gegen die Präsentation ihres Kameraden in der Ausstellung protestierte, wurden die Bilder umgehend abgehängt und nach Berlin gebracht. Die beschlagnahmten Werke, nicht nur diejenigen Marcs, wurden begutachtet und, soweit man Profit aus ihnen schlagen konnte, ab 1938 ins Ausland verkauft. Drei Werke Marcs allerdings, auch „DerTurm der blauen Pferde“, zog Hermann Göring, Minister für Luftfahrt und Stellvertreter Adolf Hitlers, ein. Sie sind seitdem verschollen. Ein Lied Hinter meinen Augen stehen Wasser, Die muß ich alle weinen. Immer möchte ich auffliegen, Mit den Zugvögeln fort; Buntatmen mit den Winden In der großen Luft. O ich bin so traurig ---Das Gesicht im Mond weiß es. Drum ist viel samtne Andacht Und nahender Frühmorgen um mich. Als an deinem steinernen Herzen Meine Flügel brachen, Fielen die Amseln wie Trauerrosen Hoch vom blauen Gebüsch. Alles verhaltene Gezwitscher Will wieder jubeln, Und ich möchte auffliegen Mit den Zugvögeln fort. Else Lasker-Schüler, 1917. Aus: 131 expressionistische Gedichte, hrsg. von Peter Rühmkorf, Berlin 1986, S. 84 Else Lasker-Schüler und Franz Marc hatten vier Jahre lang eine sehr besondere Brieffreundschaft. Die Briefe und Karten beider waren teils gezeichnet, teils geschrieben. Kannst du dir das Bild „Der Turm der blauen Pferde“ als Gedicht vorstellen und umgekehrt „Ein alter „Tibetteppich“ von Else Lasker-Schüler als Gemälde? Ein alter Tibetteppich Deine Seele, die die meine liebet, ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet. Strahl in Strahl, verliebte Farben, Sterne, die sich himmellang umwarben. Unsere Füße ruhen auf der Kostbarkeit, Maschentausendabertausendweit. Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron, Wie lange küßt dein Mund den meinen wohl Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon? Else Lasker-Schüler, 1911. Aus: 131 expressionistische Gedichte, hrsg. von Peter Rühmkorf, Berlin 1986, S. 86 15 ERNST LUDWIG KIRCHNER ERNST LUDWIG KIRCHNER 1880 Aschaffenburg – 1938 Davos Der Potsdamer Platz 1914 Öl auf Leinwand 16 Wenn wir das Bild von 1914 betrachten, so könnte es uns als Suchbild dienen, um zu finden, was sich in der heutigen Zeit verändert hat. Denn so wie Ernst Ludwig Kirchner den Potsdamer Platz wiedergibt, sieht er heute nicht mehr aus. Besuche den Platz und liste die Dinge auf, die mit damals vergleichbar oder eben ganz anders sind. Wie würden Künstler heute wohl die Atmosphäre des Potsdamer Platzes darstellen? Vor dem Hintergrund des Bahnhofgebäudes und dem Haus Potsdam links, in dem sich das Café Picadilly befand, bevölkern Frauen, fast alle gänzlich in Rosa, und noch mehr Männer in dunklen Anzügen den Platz. Alle gleichen sich, denn Kirchner hat sie zumeist gesichtslos und ohne individuelle Unterscheidungsmerkmale gemalt. Die Personen laufen in verschiedene Richtungen, wodurch das abendliche Treiben auf der Straße lebendig wirkt. Kirchner betont das auch durch einen schnellen Farbauftrag und eine verzerrte Perspektive. Wie bekommt das Bild noch zusätzlich Bewegung und Geschwindigkeit? Gibt es dagegen auch einen Ruhepol im Bild? Auf einer Verkehrsinsel stehen zwei Frauen, die wie auf einer kleiner Bühne besonders herausragen. Kirchner hat sie sehr viel detailreicher dargestellt. Schau dir ihre Kleidung und ihr gesamtes Styling an. Wie wirken sie auf dich? Siehst du, dass sich die Männer im Bild auf die beiden Frauen zubewegen? Achte auch auf die Uhrzeit im Bild. Welche Rolle könnten diese Frauen in dem Großstadtbild spielen? Die Angabe zum Material dieses Bildes ist Öl und Tusche auf Leinwand. Öl beschreibt die Art der Farbe, es ist also Ölfarbe gemeint. Das, was die Farbe farbig macht, egal ob im Bunt- oder Filzstift, in den Wasserfarben oder Wachsmalern, ist das Pigment. Pigmente sind kleinste puderige Teilchen, wie z.B. der Staub eines zermahlenen Edelsteins. Stellt man sich vor, dass man mit diesem Staub eine Leinwand bepinselt und das fertige Bild nachher an die Wand hängt, wird klar, dass man diesen Staub hätte ankleben müssen. Sonst sammelte sich das ganze Gemälde mit der Zeit unter der Leinwand auf dem Boden. Dieser Kleber ist bei der Ölfarbe ERNST LUDWIG KIRCHNER das Öl, bei der Acrylfarbe der Acrylbinder, bei den Wachsmalstiften das Wachs. In Buntstiften werden die Pigmente mit einer ausgeklügelten Mischung von Fett und Wachs zusammengehalten und auf diese Weise dauerhaft auf das Papier geklebt. Auf Leinwand bedeutet, dass die Farbe auf eine Leinwand aufgetragen wurde. Häufig wird bei den Materialangaben nicht so eindeutig unterschieden, welche Art von Leinwand für das Bild ausgewählt wude. Hier gibt es viele Unterschiede, die deutlich werden, wenn du dich dem Original vorsichtig näherst und genau hinsiehst. Kannst du zwischen den Webfäden richtige Löcher und Erhebungen erkennen, spricht man von einer sehr groben Leinwand. Manchmal findet man dann die Angabe Öl auf Jute/Rupfen. Ist die Oberfläche glatt, d.h. sehr eng mit dünnen Fäden gewebt, spricht man von einer feinen Leinwand, auch Porträtleinwand genannt. Portraits sind früher immer sehr genau gemalt worden, und man bevorzugte für Gesichter eine ebene Bildoberfläche. Meist kann man nicht genau klären, um welchen Stoff es sich handelt, wenn man nur den grundierten und bemalten Teil des Bildes angucken kann, dafür müsste man einen Blick auf die Rückseite des Bildes werfen dürfen. Dann wäre auch gut zu erkennen, wie die Leinwand befestigte wurde. Häufig werden die Leinwände auf einen speziellen Keilrahmen aufgespannt. Einen Keilrahmen kann man mit kleinen Keilen in den Ecken auseinandertreiben, wenn die Spannung der Leinwand nachlässt und diese durchhängt. . Kirchners Maltechnik zeigt besonders deutlich die Bewegung, die er beim Malen mit dem Pinsel ausgeführt hat. Man spricht hier vom Duktus, der durch eine Nass-in-Nass-Vermalung der Farben auf der Leinwand entsteht. Wenn du vor diesem Bild stehst, kannst du dir genau vorstellen, wie breit, heftig, schnell oder langsam Kirchners Bewegungen waren. Bei dieser Malweise geht es weniger um die genaue Abbildung einer Form als um die Dynamik, die hierdurch ausgedrückt wird. Schnelle kantige Pinselstriche wirken hektisch, unruhig, getrieben oder angespannt. Der Duktus in einem Bild kann Inhalte oder Bildelemente betonen und in den Mittelpunkt rücken. Ernst Ludwig Kirchner stellt in seinem Gemälde zwei Prostituierte verschiedenen Alters in den Mittelpunkt. Er betont dies noch, in dem er sie auf der Verkehrsinsel platziert, die wie ein Sockel oder gar eine Bühne wirkt. Prostitution war im Deutschen Kaiserreich bis 1918 ein großes gesellschaftliches Thema. Die einen sahen darin den sittlichen Verfall des Deutschen Reiches, andere machten an ihr den Wandel einer in-dustrialisierten, kapitalistischen Gesellschaft fest, und die Frauenbewegung setzte sich vehement gegen die Kriminalisierung und Verfolgung der Prostituierten ein. Schätzungsweise gab es in der Zweimillionen-Metropole Berlin um die Jahrhundertwende 50.000 Prostituierte. Jeder registrierten Prostituierten wurde neben medizinischen Kontrollen und der Meldepflicht bei Krankheiten folgendes zur Auflage gemacht: - unauffällige Kleidung - kein Erregen öffentlicher Aufmerksamkeit - kein Rauchen, Lärmen oder Singen - Besuchsverbot von Theater, Oper, Konzerten und Museen - Aufenthaltsverbot an bestimmten Plätzen und in bestimmten Straßen, wie z.B. dem Potsdamer Platz, dem Leipziger Platz, der Friedrichstraße und der Straße Unter den Linden. Die Prostituierten sahen sich dem Dilemma gegenüber, nicht auffallen zu dürfen und gleichzeitig zur Ausübung der Profession auffallen zu müssen. Sie trugen lange, dunkle, schmal geschnittene und hoch geschlossene Mäntel mit Kragen sowie einen ausladenden Federhut. So fügten sie sich in die Kleiderkonvention der Zeit. Durch Schminke, Geste und Blick hingegen traten sie daraus hervor. Gerade dieses Spannungsfeld des unauffälligen Auffallens interessierte die Künstler. An dem gesellschaftlichen Umgang mit der Prostitution, die verfolgt, aber natürlich auch genutzt wurde, kritisierten sie zudem die bürgerliche Doppelmoral. Und nicht zuletzt erkannten sie in den Prostituierten auch Leidensgenossinnen, die wie sie selbst Randfiguren waren. 17 ERNST LUDWIG KIRCHNER Dass das Präsenzverbot auf den wichtigsten Berliner Plätzen und Straßen wenig bewirkte, zeigt eine Beschreibung des Schriftstellers Stefan Zweig, die Gehsteige seien derart mit käuflichen Frauen durchsprenkelt gewesen, dass es schwerer war, ihnen auszuweichen, als sie zu finden. In gewisser Weise bestätigt Kirchners Gemälde seine Bemerkung. Die Nacht Verträumte Polizisten watscheln bei Laternen. Zerbrochne Bettler meckern, wenn sie Leute ahnen. An manchen Ecken stottern starke Straßenbahnen, Und sanfte Autodroschken fallen zu den Sternen. Um harte Häuser humpeln Huren hin und wieder, Die melancholisch ihren reifen Hintern schwingen. Viel Himmel liegt zertrümmert auf den herben Dingen ... Wehleid’ge Kater schreien schmerzhaft helle Lieder. Alfred Lichtenstein, 1912. Aus: Lichtenstein, Alfred: Die Dämmerung, Berlin und Weimar, 1977, S. 27 In dem hier beschriebenen Café Josty saß auch Ernst Ludwig Kirchner häufig, um das Treiben am Potsdamer Platz in seinen „Sturmskizzen“ – sekundenschnelle Zeichnungen – Skizzen festzuhalten. Findest Du eine Verbindung zwischen seinem Gemälde und den Gedichten? 18 Auf der Terrasse des Café Josty Der Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll Vergletschert alle hallenden Lawinen Der Straßentrakte: Trams auf Eisenschienen, Automobile und den Menschenmüll Die Menschen rinnen über den Asphalt, Ameisenemsig wie Eidechsen Flink. Stirne und Hände, von Gedanken blink, Schwimmen wie Sonnenlicht durch dunklen Wald. Nachtregen hüllt den Platz in eine Höhle, Wo Fledermäuse weiß, mit Flügeln schlagen Und lila Quallen liegen -- bunte Öle; Die mehren sich, zerschnitten von den Wagen.-Auf spritzt Berlin, des Tages glitzernd Nest, Vom Rauch der Nacht wie Eiter einer Pest. Paul Boldt, 1912. Aus: Boldt, Paul: Junge Pferde, Junge Pferde! Das Gesamtwerk, hrsg. von W. Minaty, Olten und Freiburg im Breisgau, 1979. S. 70 WILHELM LEHMBRUCK WILHELM LEHMBRUCK 1881 Meiderich – 1919 Berlin Der Gestürzte 1915/16 Bronze menschlich erscheinen. Sie ist nicht mehr der Soldat, der für ein bestimmtes Land kämpft, sondern nur noch ein gestürzter, vielleicht sterbender Mensch. Welche Vorstellung vom Krieg würdest du mit deinem Körper zum Ausdruck bringen? In der Pose der Figur verbirgt sich eine enorme Spannung, die du am besten nachvollziehen kannst, indem du sie nachstellst. Wie fühlst du dich in dieser Haltung? Wie lange könntest du so verweilen? Schau dir die Figur von Wilhelm Lehmbruck von verschiedenen Seiten an. Wo lastet das meiste Gewicht? Wo ist Kraft und Spannung zu finden? Und wo ist der Körper kraftlos? Der Künstler erhöht die Wechselwirkung von Spannung und Entspannung auch, indem er beispielsweise die Form eines Dreiecks in die Körperpose aufnimmt. Diese lässt sich in der freien Fläche zwischen den auseinandergestellten Beinen beobachten. Seine Spitze strebt nach oben und drückt damit in unserer Wahrnehmung auch den Körper nach oben. Findest du weitere Formen, mit denen die Körpersprache der Figur unterstützt wird? Wovon erzählt die Pose der Figur deiner Meinung nach? In welchem Zustand ist der Mann? Kannst du erkennen, was der Mann in seiner rechten Hand hält? Der Künstler Wilhelm Lehmbruck möchte hier ein abgebrochenes Schwert zeigen und damit die Figur als Krieger ausweisen. Aber warum ist der Mann nackt? Kann man ihn überhaupt noch als Soldaten erkennen? Viele Fachleute deuten die Skulptur „Der Gestürzte“ als eines der Hauptwerke von Lehmbruck, in dem er sich mit den Leidenserfahrungen des Ersten Weltkrieges auseinandersetzt. Dabei lesen sie die gesamte Körpersprache der Figur als Metapher für die erlittenen körperlichen und seelischen Qualen, den Kampf ums Überleben sowie der Sinnlosigkeit des Krieges. Die Nacktheit lässt die Figur sehr verletzlich und Diese Figur ist aus Bronze gegossen, sie ist eine Bronzeplastik. Eine Bronzeplastik ist innen hohl wie ein Schokoosterhase. Sie wird in eine Form gegossen. Das Bronzegussverfahren ist sehr aufwendig und hier in einzelnen Schritten erklärt: Am Beginn des Arbeitsprozesses steht das Originalmodell, das aus einem beliebigen Material, wie z.B. Knete oder Ton, sein kann. Dieses wird mit Silikon oder Gips abgeformt und diese erste Negativform mit Wachs ausgegossen. Das so entstandene Wachsmodell hat die gleiche Form, ist also ein Abbild des Originals. Um das Modell wird nun ein Kasten gebaut, der mit einer feuerfesten Masse, der so genannten Formerde, gefüllt wird. In einem Ofen wird die Form mehrere Tage gebrannt, um das Wachs auszuschmelzen. In die erkaltete Form wird über zuvor angelegte Kanäle das flüssige Metall gegossen. Dafür wird Kupfer mit Zinn vermischt, welche zusammen die Bronzelegierung ergeben. Die gefüllte Form lässt man auskühlen. Die erkaltete Form wird nun aufgebrochen und die Formerde vom Guss entfernt. Die Kanäle werden abgesägt, Risse geglättet und die Oberfläche poliert. Diesen Vorgang der Oberflächenbehandlung nennt man Ziselieren. Da es sich bei einer Bronze um die Abformung eines Originalmodells handelt, können die Arbeitsschritte wiederholt und mehrere Bronzeplastiken gegossen werden. 19 WILHELM LEHMBRUCK Doch häufig werden die Begriffe Plastik und Skulptur nicht richtig verwendet. Als Plastik bezeichnet man dreidimensionale Kunstwerke, die geformt worden sind und durch ein aufbauendes, hinzufügendes Verfahren entstehen. „Plastique“ ist das französische Wort für formbar. Somit sind alle Formen aus Materialien, die gegossen werden, die schmelzbar oder aushärtend sind, Plastiken. Dazu gehören beispielsweise Gips, Beton, Silber, Gold, Ton, Porzellan und Wachs. Skulpturen hingegen werden aus einem vorliegenden Material wie Holz, Marmor oder Stein gehauen, geschnitten oder geschnitzt. Es wird, anders als bei der Plastik, kein Material hinzugefügt oder angesetzt, sondern das Material wird abgetragen. „Sculpere“ ist das lateinische Wort für schnitzen, meißeln. 20 Als Wilhelm Lehmbrucks Heimatstadt Duisburg kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 einen Ehrenfriedhof plante, schrieb sie einen künstlerischen Wettbewerb für eine SiegfriedFigur aus. Diese sollte über einem neu angelegten Totenfeld aufgestellt werden. Lehmbruck reichte die Plastik „Der Gestürzte“ unter ihrem ursprünglichen Titel „Sterbender Krieger“ ein. Die Verantwortlichen entschieden sich aber für das Werk eines anderen Bildhauers, das einen siegreichen Krieger zeigte. Niemand wollte das Leid des Krieges sehen, man wollte ein Ehrenmal, kein Mahnmal. Als Lehmbruck die Arbeit dann 1916 in Berlin zum ersten Mal öffentlich zeigte, löste sie einen Skandal aus. Lehmbruck benannte die Figur danach in „Der Gestürzte“ um. Lehmbruck, der seit 1910 in Paris wohnte, war dort als Deutscher bei Kriegsausbruch nicht mehr erwünscht und musste mit seiner Frau und seinen beiden Kindern Frankreich verlassen. Die Familie zog nach Berlin, wo Lehmbruck sich erfolgreich bemühte, dem Kriegsdienst zu entgehen. Er gehörte nicht zu denjenigen, die begeistert in den Krieg ziehen wollten, und wurde ins Sanitäts-Corps im Hilfslazarett Berlin-Friedenau aufgenommen. Nicht direkt am Kriegsgeschehen beteiligt, war er im Lazarett doch den Folgen des Krieges ausgesetzt. Er konnte aber weiterhin künstlerisch arbeiten. So machte er 1915, mit Hilfe eines ebenfalls dort stationierten Malerkollegen, die ersten Entwürfe für „Der Gestürzte“. Seit Beginn des Ersten Weltkrieges hatte er sich unter dem Eindruck der Geschehnisse mit dem Thema Krieg in Zeichnungen und Grafiken auseinandergesetzt. Im Gegensatz zu „Der Gestürzte“ sprechen die beiden nachfolgenden Gedichte von Laufenden. Kannst Du Dir vorstellen, wie der „Schreitende“ ausgesehen hätte, wenn Lehmbruck eine Skulptur oder Plastik gemacht hätte? Und wie er Trakls „Heimatlosen“ dargestellt hätte? Wer ist noch da? Wer blieb noch da von diesem Morden, Wer bleibt aus diesem blut’gen Meer? Ich schreite über dieses Schnittfeld und schau um mich, wo liegt die Mahd Vom Morde grässlich hingeschlachtet. Die Freunde liegen still umher, Die Brüder sind nun nicht mehr da. Der Glaube, Liebe, alles hin Und Tod, er liegt auf allen Wegen, auf jeder Blüte. Oh Fluch, o tausendfacher Fluch! Habt ihr, die soviel Tod bereitet, Habt ihr nicht auch den Tod Für mich? Wilhelm Lehmbruck, 1918 Aus: Wilhelm Lehmbruck, Katalog Gotha, Berlin, Leipzig, 1987/88 ABENDLAND (3. Strophe Else Lasker-Schüler in Verehrung Ihr großen Städte Steinern aufgebaut In der Ebene! So sprachlos folgt Der Heimatlose Mit dunkler Stirne dem Wind, Kahlen Bäumen am Hügel. Ihr weithin dämmernden Ströme! Gewaltig ängstet Schaurige Abendröte Im Sturmgewölk. Ihr sterbenden Völker! Bleiche Woge Zerschellend am Strande der Nacht, Fallende Sterne. Georg Trakl, 1914, Aus: Georg Trakl, Das dichterische Werk, München 1972, S. 76 HANNAH HÖCH HANNAH HÖCH 1889 Gotha – 1978 Berlin 1919 Collage Was willst du der Welt mitteilen? Schneide aus Zeitungen Wörter und Bilder aus, ordne sie neu und klebe sie zu einem Bild zusammen. Was kann man darin lesen? Hannah Höch hat häufig aus Zeitschriften Fotofragmente, Schlagzeilen und Buchstaben ausgeschnitten und auf ein neues Papier geklebt. Diese Technik nennt man Collage. Eine Collage ist realitätsnah, wenn aktuelle Informationen in Form von Bild und Text eingearbeitet werden. Vor allem besteht ihre Möglichkeit aber darin, einzelne Fragmente neu zusammenzustellen, sodass die Wirklichkeit bewusst umgedeutet wird. Viele Künstlerinnen und Künstler der damaligen Zeit – etwa die Dadaisten, zu denen auch Hannah Höch gehört – nutzten die Collage, um die gesellschaftlichen Zustände, in denen sie lebten, zu kritisieren und ihre eigene Sicht auf die Gegenwart darzustellen. Hannah Höch hat hier rund 50 Personen des damaligen Zeitgeschehens auf dem Bild versammelt. Es sind Politikerinnen und Politiker des alten Kaiserreichs und der neuen Weimarer Republik, aber ebenso viele Künstler und Künstlerinnen, Schauspielerinnen und Schauspieler, Tänzerinnen und Tänzer und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. In der Rubrik „Das Kunstwerk und seine Zeit“ findest du sie aufgelistet. Kennst du eine dieser Personen? Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulkturepoche Deutschlands Die Collage wirkt in ihrem Aufbau zunächst chaotisch. So sind die Bild- und Wortteile über die gesamte Oberfläche verteilt. Findest du trotzdem eine Ordnung, ein Konzept, welches die Künstlerin verfolgt? Es gibt eine grobe Einteilung in vier Felder: Links unten befinden sich Zeitungsausschnitte mit demonstrierenden Volksmassen. Rechts daneben sowie links oben findet sich „Die große Welt dada“, vertreten durch ihre Künstlerinnen und Künstler wie Hannah Höch, Raoul Hausmann, John Heartfield oder George Grosz, abgebildet. Aber auch andere Personen wie Karl Marx oder Albert Einstein sind hier zu sehen. Dieser Inszenierung steht „die anti-dadaistische Bewegung“ in der rechten oberen Bildecke gegenüber. Wer das ist? Politikerinnen und Politiker des Kaiserreiches sowie der Weimarer Republik. Gegen jene Personen richtete sich die Kritik der Dadaisten. Sie waren davon überzeugt, dass mit der alten Gesellschaftsordnung zu brechen sei, und sie nutzten die Collage als Mittel, ihren Protesten auszudrücken. Ist dir schon aufgefallen, dass zwischen den Personen auch viele Maschinen- teile und Zahnräder zu finden sind? Worauf könnte die Künstlerin mit dieser Zusammenstellung von Maschinen neben posierenden Menschen anspielen? 21 HANNAH HÖCH Das Bild von Hannah Höch ist eine Collage. Die Collage ist ein technisches Verfahren, bei dem verschiedene Materialien auf einen Bildträger geklebt werden. Diese Bezeichnung kommt von dem französischen Wort „coller“, das „kleben“ bedeutet. Die Collage ist eine Montage, eine Zusammensetzung, einzelner bereits vorhandener Elemente. Eine künstlerische Collage kann beispielsweise Fotografien, Zeitungsausschnitte, farbiges, bedrucktes, unbedrucktes oder bemaltes Papier, Folien oder Stoffe enthalten. Die frühesten Collagen sind Gemälde, in die reale Dinge aus dem täglichen Leben eingeklebt wurden. Die Künstlerinnen und Künstler versuchen nicht den Gegenstand malerisch abzubilden und zu imitieren, sondern kleben diesen direkt ein. Es gibt Collagen von Hannah Höch, die ausschließlich aus gesammeltem Material bestehen und die ganz auf die Malerei verzichten. 22 Hannah Höch nutzt für ihre Collage „Schnitt mit dem Küchenmesser“ ausschließlich Zeitschriftenfotos und setzt aus den Buchstaben der Überschriften neue Botschaften zusammen. Du kannst Bearbeitungsspuren entdecken, die auf ihre Arbeitsweise hindeuten. Über die Collage verteilt findest du viele Einstichlöcher, die teilweise als Spuren von Heftzwecken zu erkennen sind. Wahrscheinlich war das Trägerpapier auf einer festen Unterlage fixiert und ist dann nach und nach in vielen Schichten beklebt worden. Hannah Höch montierte in ihrer Collage „Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands“ viele verschiedene Foto- und Textteile aus aktuellen Zeitschriften der Zeit, in der sie diese Montage machte. Das Wort Montage kommt aus dem Französischen und bedeutet Aufbauen im Sinne von Zusammensetzen. Es bezeichnete zunächst ein in der Industrie eingesetztes Verfahren. Autohersteller gehörten zu den ersten Firmen, die das Verfahren in großem Stil anwendeten und bis heute anwenden. So hat eine Autofirma viele Zulieferer, die Sitze, Räder oder Motorteile anfertigen. Der Automobilhersteller montiert diese dann nur zusammen, anstatt das ganze Automobil in jedem Einzelteil selbst herzustellen. Hatten Malerinnen und Maler bisher immer alles selbst gemalt, was auf einem Bild zu sehen war, so schnitt Hannah Höch jetzt bereits fertige Bildteile aus und fügte sie zusammen. Es war etwas ganz Neues, Teile aus der Welt herauszunehmen und anders zusammenzustellen, um die Welt auf diese Weise verfremdet wiederzugeben. Die Menschen in dieser Zeit haben die abgebildeten Personen zum großen Teil aus den gleichen Zeitschriften gekannt, aus denen Hannah Höch ihre Fotos ausschnitt. Du kannst dir heute mit einem ähnlichen Verfahren einen Überblick über die Personen verschaffen, die Hannah Höch uns zeigt. Aus der folgenden Liste kannst du am Computer einzelne Namen ausschneiden und sie in eine Suchmaschine eingeben: Johannes Baader Ulrich von Brockdorff-Rantzau Theodor Däubler Friedrich Ebert Albert Einstein George Grosz Raoul Hausmann John Heartfield Wieland Herzfelde Kurt Hiller Paul von Hindenburg Hannah Höch Richard Huelsenbeck Nidda Impekoven Wolfgang Kapp Käthe Kollwitz Else Lasker-Schüler Wladimir Iljitsch Lenin Mechtilde Lichnowsky Sent M’Ahesa Karl Marx Walter Mehring Pola Negri Asta Nielsen Gustav Noske Wilhelm der II von Preußen Wilhelm von Preußen (der Kronprinz) Karl Radek Max Reinhardt Hast Du im Internet zu allen Namen etwas gefunden? Hat sich in deinem Kopf jetzt vielleicht ein Bild von dieser Zeit zusammengesetzt? Eine Collage aus Informationen, die du gelesen hast? HANNAH HÖCH Lautgedichte sollen laut gelesen werden! Ähnlich wie bei dem Zusammensetzen von Bildern in Collagen entsteht hier durch die Kombination von Buchstaben nicht nur Klang, sondern auch Bedeutung. Totenklage ombula take bitdli solunkola tabla tokta tokta takabla taka tak Babula m’balam tak tru - ü wo - um biba bimbel o kla o auw kla o auwa la – auma o kla o ü la o auma klinga – o – e – auwa ome o-auwa klinga inga M ao - Auwa omba dij omuff pomo – auwa tru – ü tro-u-ü o-a-o-ü mo-auwa gomum guma zangaga gago blagaga szagaglugi m ba-o-auma szaga szago szaga la m’blama bschigi bschigo bschigi bschigi bschiggo bschiggo goggo goggo ogoggo a - o - auma Hugo Ball, 1916. Aus: 113 dada Gedichte, hrsg. von Karl Riha, Berlin 1987, S. 33 Hugo Ball, 1916 Aus: 113 dada Gedichte, hrsg. von Karl Riha, Berlin 1987. S. 35 23 RUDOLF BELLING RUDOLF BELLING 1886 Berlin – 1972 Krailling Dreiklang 1919/24 Birkenholz 24 Stell dir die Skulptur sechs Meter hoch vor. In diesem Ausmaß hat Rudolf Belling sie geplant, aber nicht umgesetzt. In ihr sollte zeitgenössische Musik aufgeführt werden. Der Bezug zur Musik lässt sich bereits im Titel ausfindig machen. Als „Dreiklang“ bezeichnet man einen dreistimmigen Akkord. Belling beschäftigten Fragen wie: „Wie aber kann man Musik künstlerisch darstellen?“ und „Wie einen Dreiklang sichtbar machen?“ Was denkst du? Bei dieser Skulptur handelt es sich um eine Rundplastik, was bedeutet, dass es nicht mehr eine Hauptansicht gibt, sondern jede Ansicht auf die Arbeit als gleichwertig betrachtet wird. Zu sehen sind drei längliche, eckige Formen, die über einen Sockel miteinander verbunden sind und sich von diesem diagonal auseinander bewegen. Denkst du bei den Formen an etwas Gegenständliches? Ist das für die Skulptur überhaupt wichtig? Belling sagte, dass er seine Formensprache nicht mehr von der sichtbaren Wirklichkeit ableitet, sondern die Bedeutung der Formen offen bleibt. Wichtiger war ihm eher, wie die Formen in Bezug zueinander stehen und was damit beim Betrachter ausgelöst wird. Wenn er sich in dieser Skulptur auf Musik bezieht, aber nichts Gegenständliches wie z.B. tanzende Figuren mehr beschreibt, wie setzt er die Musik stattdessen in der Formensprache um? Welche Merkmale deuten auf Musik und Rhythmus hin? Dieses Werk ist aus Birkenholz. Rudolf Belling hat das Holz aber so eingefärbt, dass es aussieht wie Mahagoni. Man kann eine dunklere Form mit einer polierten, glänzenden Oberfläche aufgrund der deutlicheren Lichtreflexe besser in ihren Vertiefungen und Erhöhungen wahrnehmen. Dies könnte der Grund für Bellings Entscheidung gewesen sein, vielleicht war es aber auch der RUDOLF BELLING Wert des Materials. Birkenholz ist ein helles Holz, das in Europa einfach und günstig zu bekommen ist, Mahagoni dagegen ein edles, teures Holz aus Mittel- und Südamerika. Klassisch werden Holzskulpturen von außen nach innen gearbeitet, es wird von einem Holzstück etwas weggeschlagen, -gesägt oder -geschliffen, sodass die Skulptur nach und nach deutlicher heraustritt und immer mehr verfeinert wird. Hier an dieser Form kann man aber viele Nähte erkennen. Belling hat sie aus vielen Stücken zusammengesetzt und wachsen lassen. Wird ein bildhauerisches Werk aus einem Ganzen herausgeschält, also Material weggenommen, spricht man von Skulptur. Wird es aufgebaut, aus mehreren Teilen zusammen-gesetzt oder gegossen, spricht man von Plastik. Das Werk von Belling lässt sich in diesem Sinne nicht eindeutig zuordnen. Sieht man das Zusammenfügen der einzelnen Holzteile als wichtigsten Vorgang bei der Erstellung des Werkes an, muss man von Plastik sprechen. Ist aber das Herausschälen der Form aus einem – wenn auch zusammengesetzten – Holzblock der entscheidende Vorgang, würde man von einer Skulptur sprechen. „Sculpere“ ist das lateinische Wort für schnitzen, meißeln, „plastique“ das französische Wort für formbar. Nach der Kapitulation Deutschlands und dem folgenden Ende des Ersten Weltkrieges gab es für kurze Zeit eine revolutionäre Stimmung in Deutschland. In vielen Städten bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte. Auch viele Künstlerinnen und Künstler taten sich zu einem „Arbeitsrat der Kunst“ zusammen. Grundgedanke dieses Arbeitsrates war es, alle Künste, also Plastik, Malerei und Architektur, zu vereinigen, um aus dieser Gemeinschaft heraus mit an einer neuen Gesellschaft zu bauen. Auch Rudolf Belling war Mitglied. Als er die ein Jahr zuvor entstandene Plastik „Dreiklang“ 1920 zum ersten Mal ausstellte, schrieb er im Katalog, dass das Original „sechs Meter hoch, in Ziegeln gemauert und farbig verputzt“ sein solle.5 Den „Dreiklang“ der Nationalgalerie muss man sich folglich als Modell für eine riesige Plastik im öffentlichen Raum vorstellen. Die Idee der Außenplastik trägt dem Programm des Arbeitsrates Rechnung, dass in der und für die Gesellschaft gearbeitet werden soll. Die Künste dürften nicht in den Museen oder Privatsammlungen verschwinden, sondern müssten für alle sichtbar – und in diesem Falle auch für alle nutzbar – sein. Denn Belling plante seine Plastik nicht als reines Kunstwerk sondern als „ein Podium für eine Musikkapelle“, auf der die neue klassische Musik hätte aufgeführt werden sollen. Seine Bildhauerarbeit war also kein eigenständiges Kunstwerk, sondern zugleich auch Architektur. Die Vereinigung der Künste, wie sie der Arbeitsrat anstrebte, hätte in dem geplanten Werk seine Erfüllung gefunden. Es ist zu vermuten, dass der „Dreiklang“ nicht nur ein abstraktes Bild einer harmonischen Tonfolge sein wollte – das auch als Tanz gesehen werden kann –, sondern Belling sich auch auf den Zusammenklang von Malerei, Bildhauerei und Architektur bezog, wie der Arbeitsrat ihn anstrebte. Ausgeführt wäre „Dreiklang“ das Sinnbild der Vereinigung dieser Künste geworden und zudem Plattform für die Neue Musik, die jenseits von Oper und Konzerthaus einen Ort in der Öffentlichkeit bekommen sollte. Warum dieser Plan nicht zur Ausführung kam, ist leider nicht bekannt. 25 OTTO DIX OTTO DIX 1891 Untermhaus/Gera – 1969 Singen Die Skatspieler 1920 Öl, Collage 26 Drei Männer sitzen an einem runden Tisch und spielen Karten. Eine fast alltägliche Situation. Kennst du das? Wo hast du so etwas schon einmal gesehen? Was ist hier im Bild anders als bei deinen Erfahrungen? Den Personen fehlen die meisten Gliedmaßen. Ihre Körper sind durch verschiedene Prothesen zusammengeflickt. Mit den Zähnen, dem Fuß und einer Handprothese halten sie die Karten. Was könnten diese drei Männer erlebt haben? Schau dir ihre Kleidung an. Erkennst du, welche Aufgabe sie einmal hatten? Wie gehen sie mit ihrer Situation um? Otto Dix malte dieses Bild 1920 nach dem Ersten Weltkrieg. Hinter den Figuren hängen drei Zeitungen, anhand derer sich das tagespolitische Geschehen verfolgen ließe. Es ist eine Zeit, in der trotz vieler körperlicher und seelischer Verletzungen und erheblicher Zerstörungen des Landes der Glaube an den Krieg und an Begriffen wie Ehre und Vaterland bei manchen Menschen geblieben ist. So trägt zum Beispiel der rechte Spieler im Bild weiterhin sein „Eisernes Kreuz“ an der Jacke, eine Kriegsauszeichnung, die für Tapferkeit und Soldatenehre verliehen wurde. Was denkst du darüber, dass der Soldat sein Kreuz weiterhin trägt? Das Bild von Otto Dix ist eine Kombination aus einer Ölmalerei und einer Collage. Die Collage ist ein technisches Verfahren, bei dem verschiedene Materialien auf einen Bildträger geklebt werden. Diese Bezeichnung kommt von dem französischen Wort „coller“, das „kleben“ bedeutet. Die Collage ist eine Montage, eine Zusammensetzung, einzelner bereits vorhandener Elemente. Eine künstlerische Collage kann beispielsweise Fotografien, Zeitungsausschnitte, farbiges, bedrucktes, unbedrucktes oder bemaltes Papier, Folien oder Stoffe enthalten. Die frühesten Collagen sind Gemälde, in die reale Dinge aus dem täglichen Leben, wie z. B. Zeitungen, eingeklebt wurden. Vor dem Original im Museum kannst du am besten sehen, welche Materialien von Dix nicht gemalt, sondern eingeklebt sind. Achte besonders auf ihre Oberflächenstruktur und die Materialität. Versuche sie alle zu finden. Sehr deutlich ist das bei den metallenen Elementen. Dix malte sogar auf den eingeklebten Teilen weiter, so z.B. die Finger auf den Spielkarten. OTTO DIX Otto Dix meldete sich 1914, wie viele seiner Künstlerkollegen und überhaupt viele junge Männer in ganz Europa, freiwillig zum Kriegsdienst. Mit dem Krieg wurde ein Aufbruch zu Neuem verbunden. Ein Aufbruch, der ein Ausbruch aus den alten Strukturen sein sollte und Reinigung und Fortschritt versprach. Die neue Zeit sollte aus den Trümmern der alten entstehen. Die Kriegsbegeisterung legte sich jedoch sehr schnell angesichts der Zerstörung und der unermesslich vielen Toten. Dix malte sich zu Kriegsbeginn mit Artilleriehelm und ein Jahr später sogar als Kriegsgott Mars. Als Unteroffizier war er an vorderster Front im Schützengraben. Er erlebte die Brutalität hautnah. „Läuse, Ratten, Drahtverhau, Flöhe, Granaten, Bomben, Höhlen, Leichen, Blut, Schnaps, Mäuse, Katzen, Gase, Kanonen, Dreck, Kugeln, Mörser, Feuer, Stahl, das ist der Krieg! Alles Teufelswerk!“, notierte er 1915 in sein Tagebuch. 4 Nicht nur in seinen Tagebüchern hielt Dix die Gräuel des Krieges fest, sondern fertigte bis zum Kriegsende mehr als 6000 Zeichnungen an. Diese vor Ort entstandenen Skizzen waren die Grundlage für viele Werke, mit denen Dix die Kriegserlebnisse verarbeitete. 1920 veränderte sich seine Bilder: Nicht mehr das Vergangene, sondern die damalige Gegenwart wurde Gegenstand seiner Kunst. Es entstanden Collagen wie „Die Skatspieler“, mit denen Dix die Folgen des Krieges aufzeigte. Diese Bilder sind bevölkert mit Kriegsverletzten, die sehr überzeichnet dargestellt sind. Bissig und spöttisch zeigt er die Nachkriegsmisere auf. Während er in den Kriegsbildern einen schonungslosen Realismus beweist, bedient er sich in den Collagen des Mittels der Übertreibung. Diese Bilder eines gesellschaftlichen Zustandes sind zugleich auch als Kommentar zur anfänglichen Begeisterung und der damit verbundenen Erwartung der Erneuerung zu verstehen. Auch in den expressionistischen und dadaistischen Gedichten findet der Krieg seinen Niederschlag. Soldatenlieder zitierend werden hier die Soldatenehre und die Brutalität des Krieges einander gegenüber gestellt. Totentanz 1916 So sterben wir, so sterben wir, Wir sterben alle Tage, Weil es so gemütlich sich sterben läßt. Morgens noch in Schlaf und Traum Mittags schon dahin. Abends schon zu unterst im Grabe drin. Die Schlacht ist unser Freudenhaus. Von Blut ist unsre Sonne. Tod ist unser Zeichen und Losungswort. Kind und Weib verlassen wir – Was gehen sie uns an? Wenn man sich auf uns nur Verlassen kann. So morden wir, so morden wir. Wir morden alle Tage Unsre Kameraden im Totentanz. Bruder reck dich auf vor mir, Bruder, deine Brust! Bruder, der du fallen und sterben mußt. Wir murren nicht, wir knurren nicht, Wir schweigen alle Tage, Bis sich vom Gelenke das Hüftbein dreht. Hart ist unsere Lagerstatt Trocken unser Brot. Blutig und besudelt der liebe Gott. Wir danken dir, wir danken dir, Herr Kaiser für die Gnade, Weil du uns zum sterben erkoren hast. Schlafe nur, schlafsanft und still, bis dich aufweckt, Unser armer Leib, den der Rasen deckt. Hugo Ball, 1916. Aus: 113 dada Gedichte, hrsg. von Karl Riha, Berlin 1987. S. 30 27 OTTO DIX Kriegslied Sengen, brennen, schießen, stechen, Schädel spalten, Rippen brechen, spionieren, requirieren, patrouillieren, exerzieren, fluchen, bluten, hungern, frieren … So lebt der edle Kriegerstand, die Flinte in der linken Hand, das Messer in der rechten Hand – mit Gott, mit Gott, mit Gott, mit Gott für König und Vaterland. Aus dem Bett von Lehm und Jauche zur Attacke auf dem Bauche! Trommelfeuer - Handgranaten – Wunden – Leichen – Heldentaten – bravo, tapfere Soldaten! So lebt der edle Kriegerstand, das Eisenkreuz am Preußenband, die Tapferkeit am Bayernband, mit Gott, mit Gott, mit Gott, mit Gott für König und Vaterland. 28 Stillgestanden! Hoch die Beine! Augen gradeaus, ihr Schweine! Visitiert und schlecht befunden. Keinen Urlaub. Angebunden. Strafdienst extra sieben Stunden. So lebt der edle Kriegerstand. Jawohl, Herr Oberleutenant! Und zu Befehl, Herr Leutenant! Mit Gott, mit Gott, mit Gott, mit Gott für König und Vaterland. Vorwärts mit Tabak und Krümmel! Bajonette. Schlachtgetümmel. Vorwärts! Sterben oder Siegen! Deutscher kennt kein Unterliegen. Knochen splittern, Fetzen fliegen. So lebt der edle Kriegerstand. Der Schweiß tropft in den Grabenrand, das Blut tropft in den Straßenrand mit Gott, mit Gott, mit Gott, mit Gott für König und Vaterland. Angeschossen, hochgeschmissen, Bauch und Därme aufgerissen. Rote Häuser – blauer Äther Teufel! Alle heiligen Väter! … Mutter! Mutter!! Sanitäter!!! So stirbt der edle Kriegerstand, in Stiefel, Maul und Ohren Sand – mit Gott, mit Gott, mit Gott, mit Gott für König und Vaterland. Erich Mühsam, 1917. Aus: Gedichte gegen den Krieg, hrsg. von Kurt Fassmann, Frankfurt a. M. 1975. S. 108 PAUL KLEE PAUL KLEE 1879 Münchenbuchsee bei Bern – 1940 Locarno-Muralto Abfahrt der Schiffe 1927 Öl und Tusche auf Leinwand 29 „Und nun: – was ein moderner Mensch über das Deck eines Dampfers schreitend erlebt: 1. die eigene Bewegung; 2. die Fahrt des Schiffes, welche entgegensetzt sein kann; 3. die Bewegungsrichtung und die Geschwindigkeit des Stroms; 4. die Rotation der Erde; 5. ihre Bahn; 6. die Bahnen von Monden und Gestirnen darum herum. Ergebnis: ein Gefüge von Bewegungen im Weltall, als Zentrum das Ich auf dem Dampfer“ (Paul Klee, 1918-201) Aus diesem Zitat von Paul Klee lässt sich ein zentrales Thema des Künstlers herauslesen: Bewegung. Für Klee bedeutete alles Leben Bewegung. Er war überzeugt, dass selbst dasjenige, was sich in statischem Zustand befindet, Dynamik in sich trägt. Auch bei „Abfahrt der Schiffe“ spielt Bewegung eine wesentliche Rolle. Kannst du erkennen, wie der Künstler diese ins Bild bringt? Die Schiffe sind aus Dreiecken und Halbkreisen aufgebaut. Überhaupt besteht das Bild ausschließlich aus mehr oder weniger geometrischen Formen. Klee vereinfacht die Darstellung und verzichtet auf Lichtreflexe und Schattensetzung. Raum wird vor allem durch die Staffelung von kleinen und großen Formen dargestellt. Stell dir vor, du stehst auf einem der Schiffe. Spürst du eine Bewegung? Welche? Und wie wird diese Bewegung durch die Formensprache im Bild wiedergegeben? Der Punkt oder Kreis war für Klee Ausgangspunkt jeder Bewegung. Im Bild steht dem runden, blauen Mond der rote Kreis im Bauch des rechten Schiffes gegenüber, der wie ein Gelenk das Schaukeln des Schiffes aufnimmt. Bewegt sich eigentlich auch das Meer im Bild? Und noch eine Frage: Hast du eine Idee, welche Bedeutung der rote Pfeil auf der rechten Bildseite hat? PAUL KLEE Die Angabe zum Material dieses Bildes ist Öl und Tusche auf Leinwand. Öl beschreibt die Art der Farbe, es ist also Ölfarbe gemeint. Das, was die Farbe farbig macht, egal ob im Bunt- oder Filzstift, in den Wasserfarben oder Wachsmalern, ist das Pigment. Pigmente sind kleinste puderige Teilchen, wie z.B. der Staub eines zermahlenen Edelsteins. Stellt man sich vor, dass man mit diesem Staub eine Leinwand bepinselt und das fertige Bild nachher an die Wand hängt, wird klar, dass man diesen Staub hätte ankleben müssen. Sonst sammelte sich das ganze Gemälde mit der Zeit unter der Leinwand auf dem Boden. Dieser Kleber ist bei der Ölfarbe das Öl, bei der Acrylfarbe der Acrylbinder, bei den Wachsmalstiften das Wachs. In Buntstiften werden die Pigmente mit einer ausgeklügelten Mischung von Fett und Wachs zusammengehalten und auf diese Weise dauerhaft auf das Papier geklebt. 30 Auf Leinwand bedeutet, dass die Farbe auf eine Leinwand aufgetragen wurde. Häufig wird bei den Materialangaben nicht so eindeutig unterschieden, welche Art von Leinwand für das Bild ausgewählt wude. Hier gibt es viele Unterschiede, die deutlich werden, wenn du dich dem Original vorsichtig näherst und genau hinsiehst. Kannst du zwischen den Webfäden richtige Löcher und Erhebungen erkennen, spricht man von einer sehr groben Leinwand. Manchmal findet man dann die Angabe Öl auf Jute/Rupfen. Ist die Oberfläche glatt, d.h. sehr eng mit dünnen Fäden gewebt, spricht man von einer feinen Leinwand, auch Porträtleinwand genannt. Portraits sind früher immer sehr genau gemalt worden, und man bevorzugte für Gesichter eine ebene Bildoberfläche. Meist kann man nicht genau klären, um welchen Stoff es sich handelt, wenn man nur den grundierten und bemalten Teil des Bildes angucken kann, dafür müsste man einen Blick auf die Rückseite des Bildes werfen dürfen. Dann wäre auch gut zu erkennen, wie die Leinwand befestigte wurde. Häufig werden die Leinwände auf einen speziellen Keilrahmen aufgespannt. Einen Keilrahmen kann man mit kleinen Keilen in den Ecken auseinandertreiben, wenn die Spannung der Leinwand nachlässt und diese durchhängt. In diesem Bild ist die starke Leuchtkraft der Schiffe auf dem dunklen Hintergrund besonders auffallend. Sie entsteht durch die von Paul Klee verwendete Lasurtechnik. Die Lasurmalerei ist eine Maltechnik, bei der die Farben so dünn aufgetragen werden, dass man durch sie hindurchsehen kann. Man setzt dafür besonders transparente Farben ein, die das Weiß des Untergrundes durchscheinen lassen. Du kannst in den helleren Flächen sehr deutlich den Duktus erkennen, also die Pinselführung, mit der die weiße Grundierung aufgetragen wurde. Der Auftrag der orange-gelben Töne hingegen hinterlässt keinen sichtbaren Duktus, liegt eher wie eine dünne Schicht auf dem Untergrund. Nur der Pfeil und die Signatur rechts oben sind mit einer deckenden Farbe gemalt, den Unterschied der Farbwirkung siehst du deutlich. Wenn du das Bild ganz genau betrachtest, merkst du auch, dass die Schiffe aus Negativformen bestehen. Die zuerst als Hintergrund wahrgenommene dunkle Fläche ist also maltechnisch betrachtet eigentlich vorne, weil sie als letzte Schicht oben drauf gemalt wurde. Die sehr feinen Risse könnten darauf hinweisen, dass diese dunkle Fläche die Tusche ist, eine wässrige Farbe, die nicht gut auf einer ölhaltigen Farbe haftet und zum Abplatzen neigt. Tusche ist vergleichbar mit der Tinte, die man für Patronen in Füllern verwendet. Wenn du dir weitere Bilder von Klee anschaust, wird dir auffallen, dass er sehr erfinderisch war und beispielsweise den Pinsel zuweilen auch zum Ritzen und Kratzen benutzte. Viele experimentelle Mal- und Drucktechniken sind von Klee entwickelt worden. 1927, als Paul Klee „Abfahrt der Schiffe“ malte, war er Lehrer am Bauhaus. Das Staatliche Bauhaus war eine Schule und wurde 1919 in Weimar von einem Architekten gegründet. Der Name leitete sich von der mittelalterlichen Dom-Bauhütte ab (Bauhaus kommt von Bauhütte), an der Baumeister mit allen Handwerkern und Kunstschaffenden zusammen an der Errichtung des Doms arbeiteten. Eine solche Zusammenarbeit strebte das Bauhaus wieder PAUL KLEE an. Hatte sich die Welt seit dem Mittelalter doch dahin verändert, dass immer mehr Menschen jeweils nur eine bestimmte Sache konnten und machten. Am Bauhaus unterrichteten Fachleute aus Architektur, Handwerk und Kunst gemeinsam. Es ist Vorläufer der heutigen Hochschulen für Gestaltung, an denen die verschiedenen gestalterischen Berufe erlernt werden können. Bei allem, was Menschen herstellen, ob Auto, Haus oder Spielzeugball, muss nämlich entschieden werden, wie es aussehen soll. Als Menschen ihre Erzeugnisse noch allein und handwerklich herstellten, haben sie auch deren Aussehen gestaltet. Seit die meisten Dinge in Fabriken gefertigt werden, in denen die Arbeitenden oft nur einen bestimmten Teil der Herstellung übernehmen, gibt es den Beruf der Gestalterin oder des Gestalters, die das Aussehen des Gegenstandes bestimmen. Eng verbunden mit dem Aussehen ist dabei, wie etwas funktioniert, denn wenn die Gestalterin oder der Gestalter zum Beispiel beschließen würde, einen Ball viereckig schöner zu finden, wäre das nicht besonders funktional – es würde der Funktion, also der Aufgabe des Balles, rollen zu können, nicht gerecht werden. Die Idee des Bauhauses war es deshalb, Gestaltungsformen zu entwickeln und zu unterrichten, die Anwendung und Aussehen verbinden. Man beschäftigte sich dazu mit den Grundlagen der Gestaltung, die man auf möglichst viele verschiedene Gebiete anwenden könnte. So stellten Architektinnen und Architekten auch Möbel her, Künstlerinnen und Künstler schufen Teppiche, aber auch Kinderspielzeug, Rührschüsseln, Plakate und ganze Häuser. Zielsetzung war es, all diese Dinge möglichst einfach und praktisch zu gestalten. Die Schönheit der Dinge sollte sich daraus dann von selbst ergeben. Dabei begriff man die neuen Möglichkeiten der Industrie, Waren in großer Stückzahl herstellen zu können, als Chance. Wären diese Massenwaren praktisch, gut verarbeitet und schön, würde das allen Menschen nutzen. Paul Klee lehrte von 1921 bis 1931 am Bauhaus verschiedene Fächer der Gestaltung: für Bücher, Glas oder Weberei von Stoffen und Teppichen. Er hatte sich als Maler viel mit Farben und Formen beschäftigt und aus seinen Erkenntnissen eine ganz eigene Form- und Farblehre entwickelt. Dabei hatte er Grundsätze zusammengetragen, wie diese in der Gestaltung wirken und was sie bewirken. Wie er im Bild „Abfahrt der Schiffe“ durch die wenigen einfachen Formen und Farben die Schiffe, deren Bewegungen und den Raum, in dem sie sich bewegen, erzeugt, gibt eine Vorstellung davon. Anders herum kann man mit Farbe und Form auch Ruhe erzeugen. Diese unterschiedlichen Wirkungen lassen sich als Grundlagen der Gestaltung in der Malerei genauso anwenden wie beim Bau von Häusern oder der Herstellung von Alltagsgegenständen. Somit war Paul Klee ein idealer Lehrer im Sinne des Bauhauses. Paul Klee musizierte, malte, und schrieb Gedichte. So wie er seinen Gemälden poetische Titel gab, verwandelte er innere Bilder in Sprache. Vielleicht kennst du das ja auch, dass plötzlich Bilder in deinem Kopf auftauchen? Versuche doch auch mal, ein Gedicht daraus zu machen! Weh mir unter dem Sturmwind ewig fliehender Zeit Weh mir in der Verlassenheit ringsum in der Mitte allein Weh mir tief unten auf dem vereisten Grunde Wahn. Paul Klee, 1912 Aus: Paul Klee, Gedichte, Zürich 1996, S. 109 Der Mond vielseitig im Bahnhof eine von den Lampen im Wald ein Tropfen im Bart am Berg: dass er nicht rollt! Daß ihn der Kaktus nicht spießt! Daß ihr nicht niest!! Zittre um Deinen Leib sieh diese Räume – Träume sind nicht so weit – und – wo bist Du? Wo sind Linnen Drinnen Schlaf sich fand? Wo ist zartem Fuß ein Sand? Wo Liebesband linder Hand? Nirgend – irgend?? bin nicht hier! – glühe bei Toten – Paul Klee, nicht datiert Aus: Paul Klee, Gedichte, Zürich 1996, S. 11 31 CONSTANTIN BRANCUSI Von einem kegelförmigen Fuß aus weißem Marmor erhebt sich eine schmale, geschwungene und bauchige Form aus hochpolierter Bronze und läuft in einer abgeflachten Spitze aus. Die Skulptur mit ihrem kleinen Marmorsockel steht auf einem zweiten, x-förmigen Sockel aus Sandstein. Der Künstler Constantin Brancusi hat den Sockeln besondere Formen gegeben und bewusst verschiedene Materialien für die einzelnen Teile der Arbeit gewählt. Wie wirken die unterschiedlichen Materialien und Formen in ihrem Zusammenspiel auf dich? Wenn du um die Skulptur herumgehst, kannst du beobachten, dass sie aus jeder Perspektive anders aussieht. Wodurch kommt das? Achte auf das Licht, wie es auf das Material wirkt. Die schmale, geschwungene Form aus Bronze wirkt fast golden. In dem Material spiegeln sich das Licht, der Raum und die Betrachter. Durch die Spiegelungen erscheint das schwere Metall ganz leicht und bewegt. Auch die Form sieht durch ihre Wölbung von jeder Seite anders aus. Ihr ganzer Schwung läuft in der abgeflachten Spitze aus und scheint noch darüber hinaus in die Höhe zu streben. Gerade dieses Zusammenspiel von Material, Lichtreflexion und Form lässt die Skulptur immer anders erscheinen und verleiht ihr Dynamik. 32 Brancusi hat der Arbeit den Titel „Der Vogel“ gegeben. Kannst du in der Form noch einen Vogel erkennen? Ging es dem Künstler um eine naturgetreue Abbildung einer bestimmten Vogelart? Was nimmst du wahr? CONSTANTIN BRANCUSI 1876 Hobita – 1957 Paris Vogel um 1940 Bronze, Marmor, Sandstein Brancusis Skulptur besteht aus drei unterschiedlichen Materialien: Bronze, Marmor und Sandstein. Der obere Teil ist aus Bronze gegossen, ist eine Bronzeplastik. Eine Bronzeplastik ist innen hohl wie ein Schokoosterhase. Sie wird in eine Form gegossen. Das Bronzegussverfahren ist sehr aufwendig und hier in einzelnen Schritten erklärt: Am Beginn des Arbeitsprozesses steht das Originalmodell, das aus einem beliebigen Material, wie z.B. Knete oder Ton, sein kann. Dieses wird mit Silikon oder Gips abgeformt und diese erste Negativform mit Wachs ausgegossen. Das so entstandene Wachs- CONSTANTIN BRANCUSI modell hat die gleiche Form, ist also ein Abbild des Originals. Um das Modell wird nun ein Kasten gebaut, der mit einer feuerfesten Masse, der so genannten Formerde, gefüllt wird. In einem Ofen wird die Form mehrere Tage gebrannt, um das Wachs auszuschmelzen. In die erkaltete Form wird über zuvor angelegte Kanäle das flüssige Metall gegossen. Dafür wird Kupfer mit Zinn vermischt, welche zusammen die Bronzelegierung ergeben. Die gefüllte Form lässt man auskühlen. Die erkaltete Form wird nun aufgebrochen und die Formerde vom Guss entfernt. Die Kanäle werden abgesägt, Risse geglättet und die Oberfläche poliert. Diesen Vorgang der Oberflächenbehandlung nennt man Ziselieren. Da es sich bei einer Bronze um die Abformung eines Originalmodells handelt, können die Arbeitsschritte wiederholt und mehrere Bronzeplastiken gegossen werden. Wenn es mehrere gleiche Plastiken gibt, nennt man die Anzahl der Abgüsse die Auflage der Plastik. Doch häufig werden die Begriffe Plastik und Skulptur nicht richtig verwendet. Als Plastik bezeichnet man dreidimensionale Kunstwerke, die geformt worden sind und durch ein aufbauendes, hinzufügendes Verfahren entstehen. „Plastique“ ist das französische Wort für formbar. Somit sind alle Formen aus Materialien, die gegossen werden, die schmelzbar oder aushärtend sind, Plastiken. Dazu gehören beispielsweise Gips, Beton, Silber, Gold, Ton, Porzellan und Wachs. Skulpturen hingegen werden aus einem vorliegenden Material wie Holz, Marmor oder Stein gehauen, geschnitten oder geschnitzt. Es wird, anders als bei der Plastik, kein Material hinzugefügt oder angesetzt, sondern das Material wird abgetragen. „Sculpere“ ist das lateinische Wort für schnitzen, meißeln. Die Auseinandersetzung mit der Materialästhetik begleitete das gesamte Schaffen Constantin Brancusis. Allein „Der Vogel“ entstand von 1923 bis 1941 in 17 Varianten in verschiedenfarbigem Marmor, eingefärbtem Gips und polierter Bronze. 1926 hatte Brancusi in einer New Yorker Galerie seine erste große Einzelausstellung in den Vereinigten Staaten von Amerika. Kurz zuvor hatte ein Amerikaner Brancusis Bronze-Plastik „Vogel im Raum“ in Paris gekauft. Als er sie in die USA einführen wollte, musste er dafür Zoll bezahlen, obwohl Kunstwerke von der amerikanischen Regierung vom Zoll befreit waren. Brancusis „Vogel im Raum“ wollte der amerikanische Zoll aber nicht als Kunstwerk anerkennen. Brancusis Formen sind so vereinfacht, dass sie 1926 auf viele Menschen wie ein unbearbeitetes Stück Metall gewirkt haben. Man war es gewohnt, in Kunstwerken etwas abgebildet zu sehen, das man wiedererkennen konnte. Im Gegensatz zur zollfreien Kunst wurde nun Zoll in Höhe von 40% auf den Rohstoff Buntmetall erhoben. Wenig später sollte Brancusi, als er seine Werke für die Ausstellung in New York einführen wollte, ebenfalls Zoll bezahlen. Der Warenexperte an der amerikanischen Grenze, selbst ein Hobby-Bildhauer, vermutete in den Bronze-Plastiken sogar als Kunst getarnten Buntmetallschmuggel. Sie wurden zwar für die Ausstellung befristet ins Land gelassen, beim Verkauf einer Plastik in die USA sollte aber Zoll darauf fällig werden. Brancusi führte einen Prozess gegen diese Entscheidung, dass seine Plastiken keine Kunst seien. In dem Verfahren gegen die Vereinigten Staaten von Amerika sagte sein Anwalt unter anderem: „Wir gestatten uns anzunehmen, dass es im Interesse der Regierung liegt, nicht für oder gegen eine bestimmte Kunstrichtung eingenommen zu sein, sei sie realistisch, impressionistisch oder abstrakt. Der Sinn des Gesetzes und die Absicht der Gesetzgeber war sicher, dies zu fördern und einen Gegenstand zollfrei zu erklären, der ernste künstlerische Absichten bekundet von Seiten eines Bildhauers oder Malers jenseits aller utilitären [rein auf den Nutzen gerichteten] Zwecke.“7 Constantin Brancusi gewann den Prozess nach zweijähriger Verhandlung, und seine Skulpturen gehören damit zu den seltenen Kunstwerken, die durch ein Gerichtsurteil offiziell als Kunst bestätigt sind. 33 LUDWIG MIES VAN DER ROHE LUDWIG MIES VAN DER ROHE 1886 Aachen – 1969 Chicago Neue Nationalgalerie 1965/68 Stahl, Glas 34 Die Neue Nationalgalerie wird oft mit einem Tempel verglichen. Erkennst du warum? Kannst du die wichtigsten Merkmale dafür benennen? Und wäre ein Tempel überhaupt nutzbar als Museumsbau? Das wollen wir uns einmal genauer ansehen! Kannst du dir diese 50 x 50 Meter große Halle vorstellen, in der keine Wand und keine Säule die Decke stützt? Kennst Du etwas vergleichbar Großes? Worin könnten die Schwierigkeiten, worin das Potential liegen, von denen Mies van der Rohe spricht? Eine Treppe, fast so breit wie das Gebäude selbst, führt auf eine Plattform. Hier errichtet der Architekt Ludwig Mies van der Rohe ein lichtdurchflutetes Gebäude mit einfachsten Mitteln: Auf nur zwei Säulen pro Seite ruht die weit über die Fassade hinausragende Dachplatte. Das Gebäude selbst ist ein gläserner Würfel, dessen Glasfassade von innen und außen weite Durchblicke bietet. Wo zwei Holzeinbauten, hinter denen Garderoben untergebracht sind, oder zwei mit grünschwarzem Marmor verkleidete Versorgungsschächte die Durchsicht verstellen, entstehen durch die Fenster mannigfaltige Spiegelungen. Sie leiten den Blick auf immer weitere Ebenen. Innenund Außenwelt treten dadurch in vielfältige Beziehungen zueinander. Der Architekt selbst sagte 1968 zu dem riesigen, stützenfreien Innenraum, den er geschaffen hatte: „Es ist eine so große Halle, dass es selbstverständlich Schwierigkeiten bereitet, darin Kunst auszustellen. Ich bin mir dessen völlig bewusst. Aber sie birgt ein solches Potential in sich, dass ich darauf keine Rücksicht nehmen kann.“6 Im Inneren der Glashalle führen Treppen links und rechts nach unten. Erst jetzt wird sichtbar, dass der Sockel, auf dem die Halle steht, ein ganzes Untergeschoss beinhaltet. Die Treppen enden dort in einem großen Eingangsraum, von dem weitläufige Ausstellungsräume wegführen. Diese gehen ineinander über und öffnen sich auf der Rückseite des Gebäudes zu einem hofähnlichen Skulpturengarten, der auf ganzer Länge durch raumhohe Fenster mit den Ausstellungsräumen verbunden ist. Erst durch die im Sockelgeschoss untergebrachten Ausstellungs- und Verwaltungsräume gelingt es Mies van der Rohe, sich in der oberen Halle ganz seinem Ideal zu widmen: Einen einzigen, großen und leeren Raum zu bauen, mit einem Dach, das nur durch außenliegende Stützen getragen wird. LUDWIG MIES VAN DER ROHE Die Neue Nationalgalerie hat in Wirklichkeit gar kein Schildchen, keine Werkbeschriftung. Sie ist schließlich das Museumsgebäude selbst und kein Kunstwerk im Museum. Weil Ludwig Mies van der Rohe mit der Neuen Nationalgalerie aber ein so bedeutendes Gebäude geschaffen hat, wird sie von vielen Menschen wie ein Kunstwerk betrachtet und deshalb hier auch einmal wie ein Kunstwerk beschrieben. Also haben wir ihr für diese Seiten auch eine Werkbeschriftung gezaubert. Warum dieses Gebäude so berühmt ist, wird dir vielleicht klarer, wenn du dir anschaust, wie es gebaut worden ist. Wie ein Haus von Mies van der Rohe aussieht, wird in hohem Maße davon bestimmt, wie es gebaut wurde. Dabei legte er seinen Entwürfen einfache geometrische Formen zu Grunde, die zu einer schlichten und klaren Bauweise führen. Meist wird ein Haus gebaut, indem man zuerst die Grundmauern errichtet. Auf diese Mauern kann man dann das Dach setzen. Man legt Balken von einer Grundmauer zur anderen und setzt das Dachwerk darauf. Wenn das Gebäude größer werden soll, muss man im Inneren zusätzliche Wände einziehen, die helfen, das Dach zu tragen. Diese Wände nennt man deshalb auch tragende Wände. In mehrstöckigen Häusern tragen Außenmauern und tragende Wände die Stockwerke übereinander und schließlich das Dach. Da die meisten Häuser in verschiedene Räume eingeteilt werden, stören die tragenden Wände nicht. Oft werden sogar noch zusätzliche Wände eingezogen, um noch mehr Unterteilungen in einem Haus zu schaffen. Möchte man keine Wände im Inneren haben, weil man zum Beispiel einen großen Saal haben möchte, muss man zumindest Säulen aufstellen, auf denen die weiteren Stockwerke und die Dachkonstruktion aufruhen. Auch bei Hallen, in denen man oft keine Wände haben möchte, braucht man solche Stützen, die das Dach tragen helfen. Man möchte schließlich nicht, dass einem die Decke auf den Kopf fällt. Ludwig Mies van der Rohes Motto lautete: weniger ist mehr. Er wollte es lieber schlicht. Und er hat sich sein Leben lang damit beschäftigt, die oben beschriebene Konstruktionsweise anders zu lösen. Er wollte herausfinden, wie man einen einzigen großen Raum ohne Wände und ohne störende Stützen darin bauen könnte. Bei der Neuen Nationalgalerie hat er folgende Lösung gefunden: Er hat das Dach der Ausstellungshalle aus einzelnen Kassetten zusammenschweißen lassen. Stell dir vor: Das riesige, 65 x 65 Meter messende Dach wurde vor Ort zu einem einzigen Stück zusammengeschweißt und dann von Kränen auf die Stützen gehoben! Durch diesen Trick gelang es ihm, die Dachplatte in sich so stabil zu machen, dass sie auf nur acht Säulen aufgelegt werden konnte, ohne durchzubiegen oder gar einzustürzen. Probier das einmal aus: Wenn du ein Papier über etwas legst, wird es ab einer bestimmten Größe durchhängen. Mit Eierkartons hingegen könntest du Mies van der Rohes Kassettenkonstruktion nachbauen. Die Halle der Neuen Nationalgalerie ist also eine in einem Stück gefertigte Dachplatte auf acht Stahlträgern. Wände gibt es gar keine! Und die Fenster konnte Mies nun auch einbauen, wo er wollte. Er hat die Glasfassade etwas zurückgesetzt, sodass die Außenkanten des Daches nicht direkt über der Fassade liegen. Dadurch wirkt die Dachplatte noch schwebender. Kannst du die geometrische Form, die Mies van der Rohe der Neuen Nationalgalerie zu Grunde gelegt hat, erraten? Wenn du dich in der Halle befindest, wirst du sie an der Form der Kassetten der Decke, aber auch an den steinernen Bodenplatten sofort erkennen. Aber auch in den hier genannten Maßen des Gebäudes ist ein Hinweis enthalten. 35 LUDWIG MIES VAN DER ROHE Scharoun entwickelte den Masterplan für ein Ensemble von Kulturbauten, das ganz im Sinne der Moderne aus einzelnen, freistehenden und durch Grünanlagen verbundenen Gebäuden bestehen sollte.1960-63 wurde die von ihm entworfene Philharmonie als erster dieser Solitärbauten am Nordrand des Kulturforums errichtet. 36 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mehrfach versucht, Ludwig Mies van der Rohe für ein Bauprojekt in Berlin zu gewinnen. Hier hatte er seit 1904 gelebt und gearbeitet, bis er 1938 in die USA ging, wo er 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm und blieb. 1962 nahm er schließlich den Auftrag für den Bau einer „Galerie des Zwanzigsten Jahrhunderts“ in Berlin an. Errichtet werden sollte sie für die Stadt Berlin auf dem Kulturforum in unmittelbarer Nähe des kriegs-zerstörten Potsdamer Platzes. Hans Scharouns städtebaulicher Entwurf eines „Kulturellen Bandes“, das vom Schloss Charlottenburg bis zur Museumsinsel reichen sollte, gab 1957 den Ausschlag für die Errichtung eines Kulturforums an dieser Stelle. Der Ort war schon vor dem Krieg von den Nationalsozialisten für die Planung einer monumentalen Nord-Süd-Achse von der historischen Bebauung geräumt worden, dazu kamen die Schäden des Zweiten Weltkrieges. Der Bau der Mauer veranlasste die Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin, nicht länger auf die Wiedervereinigung der Stadt und damit auch auf die Wiedervereinigung der in Ost und West geteilten Sammlungsbestände der Nationalgalerie zu warten. Aus dem Kulturforum wurde zunehmend ein Gegenentwurf zu der für West-Berlin nun nicht mehr zugänglichen Museumsinsel, wo auch die Alte Nationalgalerie steht. Man beschloss die Erweiterung des Projektes von einer „Galerie des Zwanzigsten Jahrhunderts“ zur „Neuen Nationalgalerie Berlin“. Für diese wurde 1965 der Grundstein gelegt. 1967, als das Dach auf die Säulen gehoben wurde, konnte man von der Plattform aus noch die über den Potsdamer Platz führende Mauer sehen. Bei der Eröffnung der Neuen Nationalgalerie 1968 hatte sich der begonnene Bau von Scharouns Staats-bibliothek bereits dazwischengeschoben. QUELLENANGABEN 1. Paul Klee, in Schöpferische Konfession (1918-1920), zitiert nach: neue Nationalgalerie Berlin, Museumsführer, überarbeitete Auflage, München, Berlin, Landon, New York 2008. S. 46 2. 3. 4. 5. 6. 7. Will Grohmann: Franz Marc zum Gedächtnis, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 6. März 1936 zum Text zum Text Wassily Kadinsky: Franz Marc, in Ders.: Essays über Kunst und Künstler, hersg. von Max Bill, Bern 1955 S. 189f. zum Text Otto Dix, zitiert nach Eva Karcher: Dix, Köln 1988. S. 38. zum Text Rudolf Belling, zitiert nach: Winfried Nerdddinger: Rudolf Belling, Berlin 1980. S. 24 zum Text Ludwig Mies van der Rohe, zitiert nach: Claire Zimmerman: Mies van der Rohe. 1886-1969. Die Struktur des Raumes, Köln 2006. S. 17 zum Text Brancusis Anwalt, zitiert nach: Carola Giedion-Welcker: Brancusi, Basel 1958, S. 213 zum Text 37 PLATZ FÜR NOTIZEN UND SKIZZEN 38 INFORMATIONEN ADRESSE Neue Nationalgalerie Potsdamer Straße 50 10785 Berlin ANGEBOTE FÜR SCHULEN UND KITAS Aktuelle Schul- und Kita-Angebote sowie Lehrerfortbildungen finden Sie auf unserer Website unter www.smb.museum In Führungen, Werkgesprächen und praktischen Workshops im Studio MP empfangen wir Sie gerne. Für jede neue Sammlungspräsentation denken wir uns für Ihre Schülerinnen und Schüler und Sie etwas Neues aus. INFORMATION UND ANMELDUNG Informationen erhalten Sie unter: Besucher-Dienste Führungsorganisation eMail: [email protected] Tel.: 030 266-424242 (Mo – Fr, 9 – 16 Uhr) 39