Bücher am Sonntag / 31. August 2008
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Bücher am Sonntag / 31. August 2008
Nr. 8 | 31. August 2008 Max Frisch Zwei Reden in New York | Ingeborg Bachmann – Paul Celan Herzzeit: der Briefwechsel | Robert Kagan Die Demokratie und ihre Feinde Franz Hohler über Peter von Matts Abschiedsvorlesung | Ruth Klüger Unterwegs verloren | Rezensionen zu Kurt Marti, Jacques Chessex, Nelly Mann, Paul Collier und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Zuhause einkaufen Vorteile geniessen. und buch.ch – meine Buchhandlung! UBS Keyclub Partner Mit UBS Keyclubpunkten bezahlen. Miles & More Partner Prämienmeilen beim Einkauf sammeln oder einlösen. Kostenloser Geschenkservice Grusskarte und Geschenkpapier auswählen, Wunschadresse angeben und fertig! Inhalt Vorlesungen in New York und Zürich Max Frisch (Seiten 4/5). Illustration von André Carrilho Max Frisch (1911–1991) war einer der Grossen der Schweizer und der deutschsprachigen Literatur des letzten Jahrhunderts. Nun, 17 Jahre nach seinem Tod, werden erstmals zwei Vorlesungen veröffentlicht, die er 1981 an der New York City University gehalten hat. «Ich bin nicht Schriftsteller geworden aus Verantwortung gegenüber der Gesellschaft», sagt er dort und grenzt sich schroff ab vom politisch engagierten Literaten. Mit Witz und Koketterie «vergnügt und belehrt», ja erheitert er das amerikanische Publikum. Den schwierigen Frisch, den sperrigen, jenen, der sich entzieht – den kennen wir. Weniger jedoch den unterhaltsamen und amüsanten Autor, als den ihn unser Rezensent Adolf Muschg in der Besprechung von «Schwarzes Quadrat» vorstellt (Seiten 4/5). Ebenfalls um eine kurzweilige Vorlesung, allerdings in Zürich, geht es im neuen Buch von Franz Hohler, «Das Ende eines ganz normalen Tages», das nächste Woche herauskommt. Wir drucken daraus das Kapitel, in dem der Solothurner Kabarettist die Abschiedsvorstellung des Germanisten Peter von Matt beschreibt (Seiten 14/15). Mit diesem Appetizer und dreissig weiteren Rezensionen über neue Werke dieses Sommers – solche aus der schönen Literatur wie auch aus der Welt des Sachbuchs – wünschen wir Ihnen viele anregende und interessante Stunden. Urs Rauber Belletristik Kurzkritiken Sachbuch 4 13 Michael Schroeder: Sappho von Lesbos Nr. 8 | 31. August 2008 ! Zwei Reden in New York | $ Herzzeit: der Briefwechsel | Die Demokratie und ihre Feinde # über Peter von Matts Abschiedsvorlesung | % Unterwegs verloren | Rezensionen zu ! " und anderen | " Zitatenlese Max Frisch: Schwarzes Quadrat. Zwei Poetikvorlesungen Von Adolf Muschg 6 7 8 Christiane Hoffmann: Hinter den Schleiern Irans Von Paul Jandl Von Geneviève Lüscher Richard Stark: Fragen Sie den Papagei Christoph Dejung: Widerspruch Von Bruno Steiger Von Urs Rauber Ruth Klüger: unterwegs verloren Dietmar Grieser: Die guten Geister Von Angelika Overath Von Urs Rauber Von Michael Braun 9 Jacques Chessex: Der Vampir von Ropraz Jacques Chessex: Pardon mère Von Urs Rauber Von Geneviève Lüscher Jewgenij Grischkowez: Das Hemd Ingeborg Bachmann − Paul Celan: Herzzeit. Der Briefwechsel 18 Rochus Misch: Der letzte Zeuge. «Ich war Hitlers Telefonist, Kurier und Leibwächter» 19 Kurt Marti: Ein Topf voll Zeit Von Klara Obermüller Thomas Goetz: Poetik des Nachrufs Von Stefan Hauser 20 Kirsten Jüngling: «Ich bin doch nicht nur schlecht». Nelly Mann Von Catherine Newmark Lamya Kaddor, Rabeya Müller: Der Koran Von Monika Jung-Mounib Essay 21 Dieter Thomä: Väter. 14 Spracherheller und Wortprophet 22 Arnold Hottinger: Die Länder des Islam Von Mathias Ninck Von Franz Hohler Von Jürg Bischoff Von Stefan Zweifel Lillian Birnbaum: Transition Von Gerhard Mack 10 Susan Choi: Reue Von Nina Toepfer Martha Grimes: Inspektor Jury lässt die Puppen tanzen 23 Gernot Böhme: Ethik leiblicher Existenz Sachbuch Von Manfred Koch 16 Robert Kagan: Die Demokratie und ihre Feinde Von Jost Auf der Maur Heinz Horat: Seelust 24 Paul Collier: Die unterste Milliarde. Warum die ärmsten Länder scheitern Von Dieter Ruloff Von Peter Durtschi Von Pia Horlacher Ulrich Fellmeth: Pecunia non olet Von Geneviève Lüscher 11 Ursula Krechel: Shanghai fern von wo Von Stefana Sabin 25 Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten. Das Exil im Exil Von Urs Bitterli Kurzkritiken Belletristik 26 Michel Cullin, Primavera Driessen Gruber: Douce France? 12 Gerhard Polt: Drecksbagage. Bühnenmonologe Von Fritz Trümpi Von Manfred Papst Das amerikanische Buch: Meredith M. Brown über den «Frontiersman» Daniel Boone Heinz Janisch: Der König und das Meer Von Regula Freuler Von Andreas Mink Heidi. Nach Johanna Spyri, erzählt von Peter Stamm Von Regula Freuler Agenda Federico Garcia Lorca: Die Gedichte MEDIACOLORS Von Manfred Papst Kolumne 13 Charles Lewinsky Das Zitat von Ernst Rowohlt Die USA und der Westen sind herausgefordert durch die aufstrebenden Mächte Russland und China. 27 China. Vergangenheit − Gegenwart − Zukunft Von Manfred Papst Bestseller August 2008 Belletristik und Sachbuch Agenda September 2008 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Judith Kuckart, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Patrizia Trebbi (Bildredaktion), Joëlle Prochazka (Layout), Ingrid Essig, Rita Pescatore, Benno Ziegler (Korrektorat) Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected] 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X3 Belletristik Poetik Zwei Vorlesungen, die Max Frisch 1981 in New York gehalten hat, erscheinen erstmals in Buchform. Ein dialektisches Kammerspiel, in dem man die Stimme Frischs lebendig wie zum ersten Mal hört Max Frisch: Schwarzes Quadrat. Zwei Poetikvorlesungen. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008. 80 Seiten, Fr. 25.90. Von Adolf Muschg Frisch-Leser wissen es aus der «Skizze eines Unglücks». Es gibt eine Frage, die keine Frau ihrem Partner stellen darf: Bist du sicher? 1981 hatte Frisch mit seiner zweiten Ehe auch die Westberliner Adresse verlassen und lebte in Lower Manhattan mit einer Partnerin, in der man Lynn aus «Montauk» erkennen wollte; daraus war doch «eine Geschichte» geworden. «Dies ist ein wahrhaftiges Buch, Leser», hatte er Montaigne zitiert. Dann erschien «Blaubart», das Selbstverhör eines Autors: Was heisst «Wahrheit», in einem Kriminalfall, aber auch im Fall der Kunst? Ist es überhaupt ihre Sache, Antworten zu geben, oder kommt sie ihrem Stoff, dem Menschen, nur mit immer besseren Fragen bei? Max Frisch Wie tot ist Max Frisch? Sehr tot, sagen jene Lehrer, die ihn nur knurrend im Unterrichtsplan führen. Sehr fern, ist vielleicht von den Anhängern des Antipoden Dürrenmatt zu hören. Andere aber vermissen den 1911 in Zürich geborenen und 1991 dort verstorbenen Max Frisch dringend als politische Stimme. Die beiden nun erstmals veröffentlichten Vorlesungen aus dem Jahr 1981 sind eine Reise durch sein Werk und gleichzeitig eine Selbstbefragung. 4X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 Darüber versuchte sich Frisch im November 1981 Rechenschaft zu geben, in zwei Vorlesungen an der New York City University. Sie sind ein Gastgeschenk; in Europa hätte er sich dies wohl nicht mehr angetan, unter Titeln wie «The Writers Journey from Impulse to Inspiration» oder «The Function of Literature in Society» die Prämissen seiner Arbeit auszubreiten, als spräche sie nicht für sich selbst. Explizieren heisst banalisieren; aber es gehörte zum Aberglauben jener Jahre, dass Sätze der Literatur verbindlicher würden, wenn man ihre Verbindung mit einem literarischen Kontext zerrisse. Schroffer als in New York hat sich Frisch nirgends gegen das sogenannte «Engagement» ausgesprochen: «Ich bin nicht Schriftsteller geworden aus Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.» Damit rennt er bei einem nichteuropäischen Publikum offene Türen ein, darum ist er es sich schuldig, diese Barrikade mit historischem Respekt nachzubauen. Denn für andere welke Evergreens, die er bei Amerikanern vermutet, hat er noch weniger übrig, etwa für Seminarkonstruktionen von Literatur, die Suche nach ihrem Positiven oder gar die Erwartung von Tipps für ihre erfolgreiche Herstellung. «Um es sofort zu sagen: Ich habe keine Theorie.» Damit hat er sich erst mal Luft verschafft – und Raum geschaffen für eine Bühne, auf der sich seine Inkompetenzbehauptung als Komödie inszenieren lässt. Das beginnt bei der Schwierigkeit, die er mit dem Amerikanischen hat. «Es wird anstrengend für Sie», warnte er seine Hörer. Sein Akzent tut scheinbar nichts zur Sache, in Wirklichkeit beleuchtet er sie schärfer und gewinnt das MAX FRISCH-ARCHIV ZÜRICH «Es wird anstrengend für Sie» erheiterte Publikum für den wichtigsten Punkt der Rede: Literatur ist Fremdsprache. Da die älteren Frisch-Zitate, mit denen er operiert, von einem Native Speaker «in perfekter Aussprache» geliefert werden, «damit wir uns hin und wieder erholen können», verwenden die Vorträge für ihren tieferen Sinn die Didaktik des Witzes. Was so geläufig daherkommt, kann schon darum nicht mehr stimmen. Jetzt blickt man in die Werkstatt des Autors. Quasimühsam arbeitet er an Passagen weiter, die längst gelungen genug sind. Jetzt müssen sie sich das Licht später Einsicht gefallen lassen und erscheinen darin lebendiger denn je. So «vergnügt und belehrt» der Redner gleichzeitig – und gehört auch zu den seltenen Kunstrichtern, die (so Hebbel über Schiller) das Gesetz, das sie geben, gleich schon im Geben erfüllen. Nur: Frisch, der Meister, weigert sich auch noch, ein Gesetz zu geben, er erfüllt es nur als Demonstrant gegen jede Perfektion. rin, «aber es würde sehen, dass es noch etwas anderes gibt als die Gesellschaft und den Staat.» Es ist dieses Andere, für das sich Frisch am Ende «engagiert», mit der humoristisch klingenden Begründung: «Wenn man nicht gleichgültig ist, aber wirr, so hat man das natürliche Bedürfnis, ein Manifest zu liefern.» In diesem erst deutsch, dann englisch gelesenen Manifest stehen Sätze wie: «Die Poesie ist zweckfrei (schon das macht sie zur Irritation)» und «Die Poesie ist da oder manchmal auch nicht». Es sind kunstgerechte Sätze, allen übrigen Vorstellungen von Gerechtigkeit können sie nicht dienen; nur insofern sind sie wahr. Und doch ist Frischs «Schwarzes Quadrat» kein Schwarzes Loch, in dem jede weltbürgerliche Hoffnung spurlos verschwindet. Sein Schwarz ist vielmehr die Summe aller Farben, in denen die Widersprüche des Menschen spielen; und die Kunst ist eine Black Box, die sie aufhebt, umfassend, aber unbeschriftet. Alles ist an Bilder gebunden Und so erst, in der Überzeugungskraft des Offenlassens, im Vorstellungsvermögen für das Offenbleibende, kommuniziert Frisch auch mit den klassischen Objekten des Engagements: dem sozialen Elend, der politischen Hoffnung. Aber die Kunst dient keinem von beiden als Werkzeug; nur wer ihre Autonomie recht begriffen hat, begegnet in ihr auch jenem Bild des Menschen, nach dem er niemals nur als Mittel für andere und anderes, immer zuerst und zuletzt als Zweck seiner selbst begriffen wird. Frisch «at his best» Frisch inszeniert sein dialektisches Kammerspiel in der Tonart: «Sie wollen wissen, wie ich heute dazu denke? Das möchte ich auch wissen.» Was ebenso redlich wie kokett klingt, ist zugleich amüsant und glaubwürdig, Frisch «at his best». Auch er selbst streut, an affektiv hoch besetzter Stelle seiner Rede, englische Brocken ein: «ein Buch, that I like very much», «ein anderes Buch, that I love» (es ist «Alice in Wonderland»). Natürlich: Frisch «at his best» ist immer auch Frisch «at his most desperate». «Meine Literatur, ich gebe es zu, ist meistens traurig.» Hinter dem unterhaltsamen, doch radikalen Prozess sokratischer Ent-Täuschung, welche die Kunst jeder Erwartung bereiten muss, steht die Erfahrung, dass einem Geschöpf, das so viel Kunst brauchen muss, eigentlich nicht zu helfen ist. Ist es ein Trost, dass die Kunst mit aller Eigentlichkeit nichts zu schaffen hat und dass sie nicht trotzdem gelingen kann, sondern darum? Das «Schwarze Quadrat», Fluchtpunkt der zwei Reden, ist ein Bild des russischen Abstrakten Malewitsch und war 1981 noch im Keller der Leningrader Ermitage versteckt. Denn würde es gezeigt, zeigte sich zugleich seine Explosivkraft. «Das Volk könnte nicht verstehen, wozu dieses schwarze Quadrat», zitiert Frisch eine sowjetische Kurato- Max Frisch (1911– 1991) während seines Aufenthalts in New York, 1981. Am dritten Tag seines Auftritts stösst Frisch beim Aufräumen seiner literarischen Person an eine kritische Grenze. Seit «Stiller» für sein Bildnisverbot notorisch, hat er in New York gerade vorgeführt, dass alles, was er mit heiligem Respekt «Erfahrung» nennt, an Bilder gebunden bleibt. Und nun entschlüpft ihm in der Kollegendiskussion der Satz: «Es ist nicht ganz weit weg von einem religiösen Glauben.» Ein Wort zu viel; in einem geschriebenen Text hätte er es nicht stehen lassen. Aber nun bleibt es hängen und stimmt nicht nur zu Frischs fast letzten Satz: «Kunst als solche ist transzendent.» Es stimmt auch zu der Abdankung, die sich Frisch zehn Jahre später in der Zürcher Peterskirche verschrieben hat, zwar ohne Pfarrer, aber in jeder Hinsicht «so und nicht ungefähr». Dass es von Max Frisch kein Grab gibt, stimmt auch dazu. Dafür hört man seine Stimme in der Erstausgabe dieser «Poetikvorlesungen» lebendig wie zum ersten Mal – und spürt zugleich, wie sehr man sie vermisst. Peter Bichsel bringt im Nachwort eines Freundes diesen leer gewordenen Raum intensiv zum Schwingen. An die Umstände von Frischs Gastspiel am City College erinnert sich einer der Veranstalter, Mark Jay Mirsky; Herausgeber sind Walter Obschlager, der langjährige Leiter des Frisch-Archivs an der ETH, und Daniel de Vin von der Freien Universität Brüssel. Unermüdlich begleitet er seit vielen Jahren akademisch die neuere Schweizer Literatur; dafür sei ihm nachgesehen, dass sein Vorwort für die Wiedergabe des Spektrums Max Frisch reichlich Regenbogenfarbe verwendet. Er bemüht sich um einen Frisch zum Anfassen. Der Text selbst zeigt einen Frisch, der sich entzieht. Dieser wird bleiben. L Adolf Muschg lebt als Schriftsteller und Literaturwissenschafter in Männedorf und Berlin. Am 15. 9. erscheint sein neuer Roman «Kinderhochzeit» (Suhrkamp). 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X5 Belletristik Début Ein Liebesroman wie ein Road-Movie, das einen ganzen Planeten der Melancholie durchmisst und dennoch nicht vom Fleck kommt Durch die Bars von Moskau Aus dem Russischen von Beate Rausch. Ammann, Zürich 2008. 267 S., Fr. 35.90. Von Paul Jandl Wenn Jewgenij Walerjewitsch Grischkowez auf den Bühnen des Theaters mit verknautschter Miene seine Geschichten zum Besten gibt, dann will man ihm alle Qualen glauben, von denen die Rede ist, und jede Freude. Eine Autobiografie der vielen Leben hat sich der im sibirischen Kemerewo geborene Künstler erfunden. Dass nach seinen berühmten Performances auch sein jetzt ins Deutsche übertragenes Roman-Début «Das Hemd» dazugehört, steht ausser Zweifel. «Das Hemd» ist ein vertrackter, in Moskau spielender Liebesroman. Es ist das Buch einer Stadt, deren Lichter nicht so glamourös blinken wie die in New York oder Paris. Staubig ist der Schnee, durch den die Taxifahrer ihre fragwürdigen Karossen lenken – manchmal mitten ins Unglück hinein. Der Roman, der mit einer nächtlichen Massenkarambolage endet, hat wie im Schlaf begonnen. Seinen Freund Max, der aus der gleichen russischen Provinzstadt stammt wie er, holt der Erzähler, ein nur mässig erfolgreicher Architekt namens Sascha, frühmorgens vom Flughafen ab. Schon auf dem Weg dorthin kann er an nichts anderes denken als an jene Frau, in die er sich vor kurzem verliebt hat. Ein Tag hebt an, der lange dauern soll, ein Tag, an dem ein Mann durch Moskau irrt wie Odysseus übers Meer. Schwankend sind die Planken der zahllosen Bars, in die dieser Held einkehrt, ein schwacher Trost die starken Getränke. Unsicher ist die Heimkehr des Helden, und während seine Penelope, die überdies Angestellte eines Tourismusbüros ist, nur telefonisch im Roman auftritt, wird die Freundschaft mit Max vertieft. Grischkowez’ «Hemd» ist «Ulysses» auf Russisch, ein Road-Movie, das auf den Strassen der grossen Stadt kaum vom Fleck kommt. Mit seinem Freund Max diskutiert Sascha über die ernsten Dinge der Welt. Ein geniesserisches Gespräch über Zigarren, das der Roman im O-Ton wiedergibt, kann sich hinziehen, während man bei Frauen, für diesmal, zurückhaltend bleiben will. Den «Ernest», mit dem die beiden schon beachtliche Erfolge gefeiert haben, werden sie diesmal nicht machen. Zu Ehren des grossen Hemingway geben sie sich bei diesem von ihnen ersonnenen Nicht so glamourös wie in New York oder Paris: Einkehren in Moskauer Nachtclubs. THOMAS PETER/REUTERS Jewgenij Grischkowez: Das Hemd. Spiel wie dessen Helden: unnahbar, souverän. Zwei einsam schwadronierende Herren mittleren Alters trennen sich und finden wieder zusammen, sie klagen einander ihr Leid und trinken auf die Liebe. Da ist dann noch die Sache mit der roten Aktentasche, die Max, wenn er sie nicht gerade wieder verloren hat, bei sich trägt, und der dunkle Mercedes, der den Erzähler verfolgt. Ist es ein Detektiv, der ihn im Namen der geliebten Frau beschattet, oder ein Eifersüchtiger? Weil der Realismus eines Grischkowez eher das Unglaubliche für wahrscheinlich hält als das Wahrscheinliche für glaubwürdig, können diese Dinge alles bedeuten oder nichts. Es ist ein subtiler Roman über die Vergeblichkeit. Wie der Held sich treiben lässt, hoffend und wartend, die Geliebte wenigstens am Telefon zu hören, um dann selbst das Hoffen und Warten wieder zu vergessen, das hat etwas Schwermütiges. Die Schwermut aber durch Witz zu erleichtern, gelingt Grischkowez, weil er vom Pathos nichts wissen will. Am Ende einer langen Nacht, nach all den Gesprächen in den Bars und am Telefon, nach den Sorgen um Max, der sich sinnlos besäuft, und nach einem glücklich überlebten Unfall ist der Erzähler im Morgengrauen dort angekommen, wo seine Fahrt begann: zu Hause. Sein weisses Hemd zieht er aus und hängt es über die Stuhllehne. Dass es ihm für diesen einen Tag eine zweite Haut war, erfüllt ihn mit zärtlicher Trauer. Grischkowez’ Roman ist das vorerst letzte Bekenntnis zu träumerischen Gewissheiten der russischen Literatur: «‹Und welcher Teil von dir ist müde?› fragte ich mich. ‹Die Seele, Euer Wohlgeboren! Die Seele!› liess sich die Antwort vernehmen.» L Kriminalroman Ohne Vornamen, Biografie und Moral: der Berufsverbrecher Parker in Aktion Eine Menschenjagd läuft aus dem Ruder Richard Stark: Fragen Sie den Papagei. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Zsolnay, Wien 2008. 336 Seiten, Fr. 30.90. Von Bruno Steiger Smith nennt sich der wortkarge Fremde, der sich irgendwo in Massachusetts dem Suchtrupp anschliesst. Dieser macht auf der Jagd nach einem Bankräuber die Gegend unsicher. Smiths richtiger Name ist Parker, und dass die Suche ihm selbst gilt, weiss ausser ihm nur der Besitzer jenes Papageis, der die leere Mitte von Richard Starks exzellentem Krimi bildet. Eher Inkarnation eines blinden Flecks denn Dreh- und Angelpunkt, hat der in seinem Käfig von einem Bein aufs 6X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 andere tretende Vogel «alles im Griff, was er im Griff haben musste». Dass die Menschenjagd unter der Regie des Gejagten aus dem Ruder läuft, hat auch für ihn denkbar missliche Folgen. Eine von intelligentem Witz und absurder Logik auf die Spitze getriebene Erfindungslust kennzeichnet alle Romane um den Berufsverbrecher Parker. Ihr Autor ist der heute 75-jährige Amerikaner Donald E. Westlake. Unter dem Pseudonym Richard Stark lancierte er Parker 1962 im Roman «The Hunter». Das Buch wurde fünf Jahre darauf unter dem Titel «Point Blank» von John Boorman verfilmt. Bis 1974 erschienen rund 20 Parker-Titel; nach einer längeren Pause nahm Westlake/Stark gegen Ende der neunziger Jahre die Serie wieder auf. «Fragen Sie den Papagei» ist der bisher letzte Titel der neuen Folge und soll gemäss Verlagsankündigung den Anfang einer umfassenden Parker-Edition bilden. Parker, ohne Vorname, ohne Biografie, ohne Gefühle und ausserhalb aller Moral, zählt zu den eindrücklichsten Gestalten der Kriminalliteratur. Als einen «Mann, der seinen Job macht», charakterisiert ihn sein Erfinder. Sich dem Geschnapptwerden zu entziehen, ist seine Aufgabe im vorliegenden Roman. Ein Nebenjob besteht darin, einem alten Mann beim Überfall auf das Wettbüro einer Pferderennbahn mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Die Coolness, mit der Parker die Sache erledigt, ist gnadenlos zielgerichtet und von derselben grandiosen Sinnlosigkeit geprägt, die all seinen Unternehmungen zugrunde liegt. L Erinnerungen Mit der Fortsetzung ihrer Autobiografie ist Ruth Klüger ein mutiges Buch gelungen Kurze Ärmel in der Sonne Ruth Klüger: unterwegs verloren. Zsolnay, Wien 2008. 238 Seiten, Fr. 38.90. Ruth Klüger, 76, kann Privates und Öffentliches in ihrem Leben nicht trennen. Von Angelika Overath Martin Walser lobte: «Sobald etwas genau genug ist, hört der Streit auf. Man nickt dann. Schweren Herzens.» Das Buch «weiter leben. Eine Jugend» (1992) der renommierten Literaturwissenschafterin über ihre jüdische Kindheit in Wien bis zur Ausreise in die USA wurde zu einem Welterfolg. Ruth Klüger konnte ihre Alltagserfahrungen aus dem Unvorstellbaren anschaulich, «genau genug», vermitteln, weil es ihr gelang, eine ganz eigene Sprache, besser: eine Vielschichtigkeit der Stimmen, zu entwickeln. In wienerischem Duktus plaudert sie, oft stellvertretend für das «Mäderl», das sie war, staunend, auch trotzig lakonisch vom Nicht-Sagbaren, und dann kommentiert sie als erfahrene Essayistin das Erzählte. Schliesslich tritt sie als Person zurück und setzt als Lyrikerin ein Gedicht, das da zu sprechen beginnt, wo das Argumentieren aufhören muss. Diese Literatur erfindet keinen Plot, aber sie ist hochkomplexe erfundene Form. Sie erreicht eine Spannung, ja einen Sog, der den Leser mitnimmt in ein Erleben und Nachdenken. Nun ist, immerhin sechzehn Jahre später, die Fortsetzung erschienen: «unterwegs verloren». Während Ruth Klüger «weiter leben» als Sechzigjährige schrieb, die, zwischen Göttingen und Kalifornien pendelnd, noch mitten in den universitären Verpflichtungen stand, verfasste sie den zweiten Teil der Memoiren als emeritierte Professorin, vierfache Grossmutter und berühmte Autorin. Nun geht es auch um eine Lebensbilanz. Über ihre Auschwitz-Tätowierung, die man der 12-Jährigen in die Haut stach, stellt sie zu Beginn quälend subtil die Frage nach der schuldlosen Schuld der überlebenden Opfer. Sie habe die Nummer als ein Totengedenken getragen, nun im Alter aber beschlossen, das blaue Mal in einer kalifornischen Laserklinik entfernen zu lassen: «Doch als Provokation hatte ich die Nummer auf meinem Arm nie verstanden, auch nicht als Entblössung. Erst als ich sie nicht mehr hatte, fiel mir auf, wie sehr sie beides gewesen war. Eine Selbstverständlichkeit, wie alles am eigenen Körper, auch die Narben oder etwas Missgestaltetes. Doch für andere ein Anstoss, etwas Anstössiges, das man dem, der’s hat, übelnimmt. Und die Kehrseite ist Entblössung. Eigentlich sollte es nur die Entblössung der Naziverbrechen sein. Aber es funktioniert eben anders. Weil es am Körper ist.» Die gelöschte Nummer wird zum Pars pro Toto für die alte jüdische Frau, die den Holocaust überlebte, heiratete, Kinder bekam, eine Scheidung durchlitt und ISOLDE OHLBAUM Auschwitz-Tätowierung dann doch noch, in sehr kleinen Schritten, als alleinerziehende Mutter und gegen immensen machistischen, auch judenfeindlichen Widerstand eine Universitätskarriere machte, die sich selbst aber immer wieder in einem unverdienten Spagat zwischen Provokation und Entblössung erleben musste. Harte und heitere Momente Denn für die, die hätten sterben sollen, aber nicht gestorben sind, war die «Stunde null» ein Mythos. Das Morden ging weiter, weil die Toten fehlten. Das Erinnern hielt sie wach wie Wunden. Die Tätowierung, als Totengedenken ins Intime überhöht, blieb äusserlich zugleich Markierung, «herdenmässige Herabsetzung», ein fortgesetztes Stechen. «Das reichte mir. Nicht länger wollte ich wie die Opfer in Kafkas ‹Strafkolonie› das ungerechte, das absolute, das unverständliche und der Vernunft nicht zugängliche Gesetz eingeritzt im Körper haben. Die Nummer hat immer nur mit mir und den Ermordeten zu tun gehabt, und ich wünschte mir ein paar Jahre mit kurzen Ärmeln in der Sonne.» Ruth Klüger hat ein sehr mutiges Buch geschrieben, in dem sie zeigt, wie sich Privates und Öffentliches in ihrem Leben nicht trennen liessen. Ihre Schwierigkeiten in Princeton, wo sie sechs Jahre als Professorin unterrichtete, waren getränkt von Ressentiments gegen Juden, gegen Frauen, gegen geschiedene Mütter. Und noch wenn sie in bewundernswerter Ehrlichkeit über ihre Kinder und die nachgetragene Liebe zu ihnen schreibt, schliesst sie mit der offenen Frage, ob nicht ihre Prägung durch den Nationalsozialismus selbst dieses Verhältnis belastet hat. Nach Auschwitz war nichts mehr, wie es hätte werden können. Das Buch ist ein unverzichtbares Dokument zur Zeit- und Wissenschaftsgeschichte. Und es enthält wunderbare glasklare, harte und heitere Momente von scharf beobachteter Menschlichkeit. Dass ihr Kritiker wegen mancher Passagen Überempfindlichkeit, ja Ressentiments vorwerfen werden, nimmt sie selbstironisch in Kauf: Zwei Kapitel heissen «Göttinger Neurosen» und «Wiener Neurosen». Und doch bemüht sie sich schmerzhaft um Fairness. Ihre Memoiren sind mit diesem Buch abgeschlossen. Jetzt sollte sich die Lyrikerin Ruth Klüger endlich selber das Wort geben. L 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X7 Belletristik Briefwechsel Die intime Korrespondenz zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan war bisher das bestgehütete Briefgeheimnis der jüngeren Literaturgeschichte Geschichte einer Liebesvergiftung Ingeborg Bachmann – Paul Celan: Herzzeit. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hrsg. u. kommentiert v. Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll u. Barbara Wiedemann. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008. 400 S., Fr. 44.90. Es ist die unheilvollste Liebesgeschichte in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts; die Geschichte zweier Liebender, die an ihrer unerfüllten Sehnsucht zerbrachen und sich dabei oft die schlimmsten Feinde waren. Was Ingeborg Bachmann und Paul Celan jenseits der subtilen poetischen Korrespondenzen innerhalb ihres Werks miteinander verband, verbarg bisher das bestgehütete Briefgeheimnis der jüngeren Literaturgeschichte. Am 16. Mai 1948 hatte die österreichische Philosophiestudentin und aufstrebende Poetin Ingeborg Bachmann den Dichter und staatenlosen Juden Paul Celan kennengelernt, der nach einer strapaziösen Flucht aus Bukarest im Dezember 1947 nach Wien gekommen war. Was nach ihrem ersten Zusammentreffen in Wien geschah, lieferte viele Jahre lang den raunenden Orakeln der Philologie Stoff für Spekulationen. Denn der Briefwechsel des Dichterpaars war mit einer Sperrfrist bis ins Jahr 2025 belegt. Bereits in den vergangenen Jahren waren die Rechteinhaber der Werke Bachmanns und Celans aber von ihrer strikten Linie abgerückt und hatten erste Einblicke in die Hinterlassenschaften der beiden Autoren ermöglicht. Heillos verstrickt Nun ist ein elementares Kernstück für die Literaturgeschichte der Nachkriegszeit vollständig freigelegt worden. Unter dem Titel «Herzzeit», der das erste Wort aus einem Widmungsgedicht an Ingeborg Bachmann aufnimmt, liegt der komplette Briefwechsel zwischen beiden Autoren in einer mustergültig kommentierten Ausgabe vor, ergänzt um die Korrespondenz Celans mit Max Frisch und um die Briefe, die sich die LiebesRivalinnen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange (Celans Ehefrau) geschrieben haben. Was auch immer gegen die Veröffentlichung und Kommentierung so intimer Briefe vorgebracht werden mag: Es handelt sich um ein dramatisches und tief erschütterndes Lebenszeugnis, das keinen Leser unberührt lassen wird. Wohl gegenüber keinem anderen Briefpartner haben sich die beiden Autoren in ihrer emotionalen Zerrissenheit und Schutzlosigkeit so preisgegeben. Es sind in ihrer Mehrzahl verzweifelte Briefe, ein ständiges Flehen um Aufmerksamkeit 8X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 PRIVATNACHLASS INGEBORG BACHMANN Von Michael Braun Ingeborg Bachmann und Paul Celan (r.), 1952 an einer Tagung der Gruppe 47 in Niendorf. und Zuwendung, das in fataler Regelmässigkeit enttäuscht wird. Zwei Unerlöste wissen um die Heillosigkeit ihrer Liebe und hoffen doch auf ein Zeichen der existenziellen Verbundenheit. Das Liebespaar, das sich nach wenigen Wochen des Glücks trennen muss, als Celan im Juli 1948 in seine neue Wahlheimat Paris reist, war sich seiner Randposition im geschichtsvergessenen Literaturbetrieb bewusst. Mit Celan, dessen Eltern von den Nazis in Konzentrationslagern in der Ukraine ermordet worden waren, teilte Bachmann, die Tochter eines ehemaligen NSDAP-Mitglieds, die Überzeugung, dass moderne Dichtung ohne die poetische Referenz auf die Vernichtungsgeschichte des Holocaust nicht mehr möglich ist. Als nach 1959 die haltlosen Plagiatsvorwürfe Claire Golls und die dadurch losgetretene Pressekampagne Celan immer mehr zusetzen, springt Bachmann dem Dichter zur Seite und weist die infamen Attacken öffentlich zurück. Zu diesem Zeitpunkt ist die Liebesbeziehung zwischen den beiden schon längst zerbrochen. Gegenseitige Zermürbung Bereits im September 1950 war Bachmann, die damals von einer unglücklichen Liaison in die nächste stolperte, nach einem Nervenkollaps zusammengebrochen. In ihren Briefen aus dieser Zeit spricht eine nahezu unfassbare Geduld und Leidensbereitschaft, die sich gegenüber dem schweigenden Geliebten bis zur Selbstdemütigung steigern kann. «Ich bin verloren, verzweifelt und verbittert», schreibt sie an Celan in diesen Monaten der grossen Krise – aber das grausame Exerzitium gegenseitiger Zermürbung ist nicht aufzuhalten: «Ich bedaure dich, weil Du, um eine Enttäuschung zu verwinden, den anderen, der Dir diese Enttäuschung gebracht hat, so sehr vor Dir und den anderen zerstören musst.» Celan seinerseits schwankt zwischen euphorischen Liebesbekundungen und tiefem Misstrauen. Mit dem Gedicht «In Ägypten», das den neuen Liebesbund in einer Reflexion auf den Tod jüdischer Frauen spiegelt, hatte er im Juni 1948 den Briefwechsel eröffnet. Solche Innigkeit der Zuwendung wird er später nur noch einmal aufbringen, in den Monaten nach der Wiederaufnahme der Liebesbeziehung im Oktober 1957. Seine «Liebste Ingeborg», der er fünf Jahre zuvor in aller Härte das «unrettbar Verlorene» ihrer Liebe erklärt hat, überschüttet er nun binnen weniger Wochen mit anrührenden Liebesgedichten und pathetischen Bekenntnissen: «Du bist der Lebensgrund, auch deshalb, weil du die Rechtfertigung meines Sprechens bist und bleibst.» Aber bereits im Februar 1958 verdunkelt die Goll-Affäre die neue «Herzzeit» des unglücklichen Paars. Als sich Bachmann im Sommer 1958 in Max Frisch verliebt, ist das der Auftakt zur endgültigen Vergiftung allen Vertrauens. In einem nicht abgeschickten Brief resümiert Ingeborg Bachmann die tiefen Verletzungen, die ihr Celan zugefügt hat – Wunden, die nie mehr verheilten. In ihrer Erzählung «Drei Wege zum See» (1972) hat Bachmann später in verschlüsselter Form das Ausweglose ihrer «grossen Liebe» festgehalten. Ihr weiterer Lebensweg bis zum tödlichen Brandunfall im September 1973 wird hier auf unheimliche Weise antizipiert. Der Geliebte, heisst es da, habe als ein «Exilierter und Verlorener» auch seine Geliebte «in eine Exilierte» verwandelt, «weil er sie, erst nach seinem Tod, langsam mit sich zog in den Untergang». L Roman Jacques Chessex, 1973 Gewinner des «Prix Goncourt», kehrt zurück Die Sprache knirscht so schön wie das Gebälk der Angst Jacques Chessex: Der Vampir von Ropraz. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Nagel & Kimche, Zürich 2008. 96 Seiten, Fr. 23.90. Jacques Chessex: Pardon mère. Editions Grasset, Paris 2008. 218 Seiten, Fr. 36.10. Von Stefan Zweifel Natürlich kann man das Bücherregal nach Farben ordnen, und doch halten sich die meisten Leute brav ans Autoren-Abc. Dabei gibt es Übersetzer, die so bedeutsam sind, dass man sie zwischen die Schriftstellernamen stellen müsste. So gesehen sollten unter «E» Stendhal, Julien Green und auch Jacques Chessex stehen. Denn Elisabeth Edl hat all diese Autoren übersetzt. Sie befreite die verschmockte Version von Stendhals «Rot und Schwarz» mit handkantenhartem Deutsch, raschen Brüchen und Wechseln, kurz: Edl hat Stendhal eingedeutscht. Oder besser: das Deutsche stendhalisiert. Und jetzt also ein kleiner Roman von Jacques Chessex. Weshalb, fragt man sich zunächst, diese simple Geschichte rund um einen Vampir, der 1903 in einem Dorf im Jura sein Unwesen trieb? Wie unzeitgemäss diese wahre Geschichte von CharlesAugustin Favez, dem «Vampir von Ropraz». Weshalb wählte Edl dieses Buch? Sicher nicht, weil es ein überraschender Erfolg in Frankreich war, mit 80 000 verkauften Exemplaren, sondern weil die Sprache so schön knirscht wie das Gebälk der Angst, wie das Ächzen der Vorurteile in einem kleinen Dorf, wie die unter dem weissen Kreuz verborgene Gewalt in der Schweiz, die ausbricht gegen Aussenseiter und Randständige, wobei sich in einer seltsamen Dialektik die Gefühle von Hass und Liebe, Gemeinschaft und Ausschluss, Normalität und Isolation entladen. Der Vampir streift und schweift durch die Wälder des Juras. Il «rôde» – ein Lieblingswort von Chessex. Dieses Schweifen der Lust schlägt jäh um in ein Jagen der Angst, die auch die blanken Knochen der Legenden «abnagt». So spielt der Autor mit Worten und Klängen, ja wenn man den Text selbst laut liest, beginnt die Sprache zu dröhnen, der Kiefer mahlt und hackt der jungfräulichen Sprache die Konsonanten hart in den vokalischen Leib, wie die spitzen Zähne eines Vampirs eben, der Blut saugt und der Grammatik das Rückgrat bricht, genau zwischen Busen und Kopf. Chessex selbst hat einen solchen Kieferknochen-Kopf, wie er ihn einmal im Buch «Les têtes» beim Entrecôte fressenden Fletschen von Georges Bataille beschrieb. Jacques Chessex ist von Bataille fasziniert, der das Sexuelle und Tödliche, Eros und Thanatos zusammenbrachte: Bataille erschreckte mit dem inzestuösen Roman «Ma Mère», jetzt antwortet Chessex darauf mit seinen Erinnerungen an seine Mutter, «Pardon mère». Ein zaghaft zarter, herzspaltender Text, denn Chessex braucht nun ein ganzes Buch, um jenen einzigen einsamen Satz wettzumachen, den er nie über die Lippen brachte: «Ich liebe dich, Mutter.» Mit diesen beiden Büchern hat sich Jacques Chessex zurückgeschrieben in die Aktualität. Hat auch seine Bilder ausgestellt, die den Minotaurus zeigen, die mythische Stiergestalt, umtanzt und umsphinxt von nackten Frauen. Minotaurus, Vampir – den Totentanz des sexuellen Exzesses inszeniert Chessex bestechend, doch nie wirklich rauschhaft, immer etwas verstockt und verhockt, wie es sich für die Schweiz gehört. Es ist eine verdrängte Lust, die aus dem Vampir herausbricht, das Dorf ansteckt, die Phantasie der Bewohner entflammt, ihren Rachedurst. Und dank Edl auch dem Deutsch das Blut aussaugt, bis nur noch der blanke Knochen ausgekocht vor uns liegt. Gelustmordete Sprache. Dabei inszeniert sich Chessex selbst als Opfer: Der Vampir und Mädchenmörder ist sein «Double», sein «Bruder». Er flieht mit ihm in den Wahn der damaligen Irrenanstalt, er flieht hinaus in den Ersten Weltkrieg, wo der vampirische Mädchenmörder an der Seite von Blaise Cendrars kämpfte und die Figur abgab für Cendrars’ Moravagine, jenen global agierenden Lustmörder. Doch Chessex’ Held aus der dörflichen Enge wütet im Verborgenen weiter, er fiel auf dem Schlachtfeld für Frankreich und liegt heute – so die Schlusswendung – als «soldat inconnu» unter dem Arc de Triomphe in Paris. Eine ewige Flamme leuchtet als blasphemische Kerze für seine Seele. Und Edls Sprache leuchtet als vokaler Widerschein und vampirischer Wiedergänger. L Stefan Zweifel lebt als Publizist, Übersetzer und Journalist in Zürich. Er ist Mitglied des «Literaturclubs» von SF. Frühlingserwachen Zwischen Kindheit und Jugend Es ist heiss, Adah und ihre Freundinnen treffen sich in ihrer Freizeit am See. Ein wunderbares Vergnügen, im Wasser Schwere und Leichtigkeit zu erleben. Die Mädchen sind ganz bei sich, und doch ist da mehr, wenn Adah sich am Steg aufrichtet und den Blick zur Fotografin hebt. Lillian Birnbaum hat die Mädchen über mehrere Jahre begleitet. Die 1959 geborene Mode- und Porträtfotografin kennt die Wirkung von Gesten und Blicken. Klischees sind schnell parat. Wie sie im Gespräch mit Doris von Drahten erzählt, war sie bei diesen Bildern aber nicht so sehr vom Bewusstsein der Sexualität fasziniert, das in den Mädchen erwacht, als vielmehr von den Nuancen, in denen sie den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenwerden ausdrücken. Zwischen dem Selbstbewusstsein der 8-Jährigen und der Fragilität der 13-Jährigen liegen fragende Blicke in den Spiegel, ersäufte Puppen im Plastikbeutel und Umarmungen der Freundinnen. «Transition» ist eine behutsame Annäherung an Augenblicke vor dem Erwachen. Gerhard Mack Lillian Birnbaum: Transition. Hatje Cantz, Ostfildern 2008. 128 Seiten, 76 Abb., Fr. 52.–. 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X9 Belletristik Roman Susan Choi lässt in ihrem dritten Buch eine Paketbombe an einer Universität detonieren. Spannung gewinnt das Werk dank psychologischen Einsichten Inszenierungen eines Professors Susan Choi: Reue. Aus dem Amerikanischen von Annette Hahn. Aufbau, Berlin 2008. 480 Seiten, Fr. 35.90. Der Anschlag passiert gleich im ersten Satz und setzt in Susan Chois neuem Roman eine einzigartige erzählerische Spannung frei. Die Bombe, per Post geliefert, tötet den Informatiker und akademischen Shootingstar Rick Hendley. Die Wucht der Explosion erfasst auch dessen Büronachbarn Lee und wirft ihn – zwar unverletzt – zu Boden. Mehr aber erschüttert Lee ein Gedanke, der ihn durchzuckt, noch während die Wände des Instituts wackeln: «Ah, wie gut.» Die 1969 geborene amerikanische Schriftstellerin wurde mit ihrem vorherigen Roman, «American Woman», 2004 für den Pulitzerpreis nominiert. Dieser spielte vor dem Hintergrund der Saga von Patty Hearst, der entführten Enkelin des Medientycoons William Randolph Hearst. In «Reue» ist nun ein Täter unterwegs, der es auf kluge Köpfe abgesehen hat. Choi löst den Fall gekonnt, aber das Aufregende an diesem Roman sind ihre psychologischen Ermittlungen im Fall ihres Protagonisten, des Mathematikers Lee. Dabei sieht zunächst alles unspektakulär aus. Professor Lee, Mitte sechzig, schroff gegenüber sich selbst wie gegenüber seinen vielen möglichen Konkurrenten, ist auf Lebzeiten an einer Universität im amerikanischen Mittelwesten angestellt. Nun bringt ihm der Anschlag zweifelhafte Berühmtheit. Als wichtiger Zeuge des FBI und weil er sich weigert, am offiziellen Trauerzeremoni- SIGRID ESTRADA/CORBIS OUTLINE Von Nina Toepfer Susan Choi, geboren 1969, für den Pulitzerpreis 2004 nominiert. ell teilzunehmen, gerät er auf dem Campus, in der Nachbarschaft und in den nationalen Medien fast automatisch – aber zu Unrecht – unter Verdacht. Das allein böte hinreichend Stoff, Lee aus der Fassung zu bringen. Nur sind die schlimmsten Probleme, in die sich Lee verstrickt, die inneren. Wie sehr trifft ihn eine andere Schuld? Als unerwartete Post von einem ehemaligen Freund eintrifft, beginnt Lees Fassade zu bröckeln. Die Vermutung, er selber stehe im Fadenkreuz des Attentäters, verdichtet sich in seinen Gedanken zur Gewissheit: In einem ausgeklügelten Racheakt soll sein Leben zerstört werden. Choi entwirft in wenigen Sätzen ganze Welten. Sie kümmert sich in oft verschlun- genen, aber fliessenden Sätzen um die Details, während sie die Geschichte weitertreibt. So rückt sie ihrem Professor so nahe wie möglich und benennt mit beeindruckender Sicherheit die Schattierungen seiner Widersprüche und die Variationen der Angst. Dabei zielt sie sowohl ins Innerste der Hauptfigur wie auch auf weiteres Personal (schnell und lebhaft gezeichnet: FBI-Agent Jim Morrison) oder auf Lees materielle Selbstinszenierungen und präzise arrangierte Beiläufigkeiten, etwa wie genau Lee den Türspalt zu seinem Büro bemisst, der zu Sprechstunden einladen soll, ohne seine Studenten allzu aufdringlich um Gesellschaft zu bitten. In Rückblenden blitzt auch Lees Vergangenheit auf. Da ist Lee, der Immigrant aus Asien, der sich unter verschärfter Beobachtung fühlt; da sieht man den Studenten, dessen Clique sich für genial oder sonstwie aristokratisch hält; da verfolgt man den zweifach gescheiterten Ehemann, der mit der ersten Mrs. Lee nach Jahren noch immer imaginäre Gespräche führt. Es ist so unterhaltsam wie aufwühlend, der Lösung des Falls zuzusehen und gleichzeitig Chois Sätzen in die versteckten Winkel von Lees Selbsteinschätzung und -täuschung zu folgen. Zum Schluss kommt Action auf, ein spektakuläres Aufgebot von Sonderkommandos geht zur Überführung des Täters in Stellung. Es scheint, als befreie sich Lee sogar von den Untoten seiner Vergangenheit. Aber Choi lässt einen höchstens mit dem Gedanken spielen. Hingegen hat sie mit der Figur des Professor Lee konkret und packend den Versuch geschildert, wie ein Mensch eine Sicht über sich selbst gewinnt, die Bestand hat. L Kriminalroman Martha Grimes spielt mit skurrilen Figuren und einem tierischen Inventar Mord in der Londoner High Society Martha Grimes: Inspektor Jury lässt die Puppen tanzen. Aus dem Amerikanischen von Cornelia C. Walter. Goldmann, München 2008. 420 Seiten, Fr. 34.90. Von Pia Horlacher Falls Sie Martha Grimes noch nicht kennen, lassen Sie sich auf keinen Fall von den deutschen Titeln abhalten! Denn seit über zwanzig Jahren garantiert die Amerikanerin mit ihrer Inspektor-JuryReihe kluge und witzige Krimiunterhaltung. Wie ihre Landsfrau Elizabeth George, mit der sie den Olymp der englischen Grand Old Ladies of Crime um Barbara Vine und P. D. James teilt, lässt sie ihre Romane in England spielen. Sie erscheinen in jährlichem Rhythmus, sind alle betitelt nach Namen von real 10X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 existierenden Pubs und leben ebenso von gesellschaftskritischer Zeitgenossenschaft wie von typisch britischem, schwarzem Humor. Der melancholische Protagonist Richard Jury wird unterstützt – in durchaus realistischen, manchmal geradezu brutalen Verbrechensfällen – von einem exzentrischen Freundeskreis, der Long Piddleton Clique, die mit skurrilen Figuren und höchster Komik glänzt. Und niemand kann Tiere besser integrieren beziehungsweise britische Tierliebe ironisieren als Grimes, die den Tierschutz sowohl finanziell wie auch mit einer soeben begonnenen neuen USKrimiserie unterstützt. So gehören etwa eine Ziege namens Aghast (deutsch: entgeistert), ein Pferd namens Aggrieved (gekränkt) und natürlich der aggressive Kater Cyril, der Jurys eingebildeten Scot- land-Yard-Chef regelmässig in den Senkel stellt, zum tierischen Inventar. In Grimes’ vorletztem Krimi, eben jenem, wo Jury auf den Hund kommt, gesellte sich der hinreissende Hund Mungo dazu, der neben Schrödingers Katze und andern Theorien der Quantenphysik eine Hauptrolle in einem mysteriösen Vermisstenfall spielt. Im letzten und wieder etwas weniger verspielten Jury-Roman lässt Grimes weder die Stringtheorien des Wissenschaftlers Niels Bohr noch irgendwelche «Puppen tanzen», dafür wird der Inspektor von einem Blitzschlag getroffen – in der Person seiner neuen Kollegin Lu Aguilar. Die leidenschaftliche Begegnung hält das heimliche Liebespaar allerdings nicht davon ab, einen Mordfall zu klären, dessen Hintergründe bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges zurückreichen. L Tatsachenroman Ursula Krechel erzählt von jüdischen Emigranten aus Nazi-Deutschland in Shanghai – ernst, empathisch und humorvoll Die ferne Stadt, in der sich Schicksale kreuzten Ursula Krechel: Shanghai fern von wo. Jung und Jung, Salzburg 2008. 500 Seiten, Fr. 50.90. In den zehn Monaten zwischen der Pogromnacht vom 9. November 1938, als in Deutschland Synagogen und jüdische Geschäfte angezündet und Juden auf offener Strasse verprügelt wurden, und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 gab es für die verfolgten Juden kaum noch ein Land, in dem sie Zuflucht fanden. In Europa war der politische Druck des Deutschen Reiches zu gegenwärtig, als dass sie aufgenommen worden wären; England und die USA behielten auch angesichts der Verfolgung ihre restriktive Einwanderungspolitik bei. Ein Ort, wohin die Juden fliehen konnten, war Shanghai, die chinesische Hafenmetropole, die unter internationaler Verwaltung stand und kein Visum verlangte. Die Juden, die sich die Reichsfluchtsteuer, die Judenabgabe und dann auch noch die Eisenbahnfahrkarte und die Schiffspassage leisten konnten, nutzten diese eine Chance und flohen nach Shanghai. Etwa 19 000 Juden aus Deutschland und den angeschlossenen Gebieten kamen bis 1941 dort an. In grösster Armut, unter ungewohnten klimatischen Bedingungen und trotz zunehmenden Schikanen seitens der nazideutschen Konsularbehörden, die über ihre japanischen Verbündeten Zugriff auf die geflohenen Juden zu bekommen versuchten, blieben diese schliesslich von der systematischen Verfolgung und Ermordung verschont. Shanghai steht für ein Kapitel jüdischer Leidensgeschichte, das auch in der überbordenden Holocaust-Literatur nur selten zur Sprache kommt und dementsprechend wenig bekannt ist. Der neue Roman von Ursula Krechel schliesst also eine Lücke – und erschliesst in einem kunstvollen dokumentarischdramatischen Gewebe eine Welt, die fern und vertraut zugleich ist. Die Shanghailänder «Nach Shanghai.» «Was? So weit?» «Weit von wo?» – Diesem Dialog zwischen zwei Juden beim Aufbruch in die Emigration, den Salcia Landmann als beispielhaft für den melancholischen jüdischen Humor zitiert und damit berühmt, ja sprichwörtlich gemacht hat, hat Krechel den Titel ihres Romans entnommen: «Shanghai fern von wo». Der Roman fusst auf einem gleichnamigen Hörspiel von 1998, das seinerseits auf die Hörfolge «Fluchtpunkte» von 1996 EUGENE HOSHIKO/AP Von Stefana Sabin Juden feiern in der Ohel Rachel Synagoge in Shanghai die erste jüdische Hochzeit nach 60 Jahren, März 2008. zurückgeht. Es ist ein Tatsachenroman, der also auf tatsächlichen Ereignissen beruht. Dokumentarisches Material, das sie in jahrelangen beharrlichen Recherchen in deutschen und israelischen Archiven gesammelt hat, gestaltet Krechel zu einem grossen Panorama der Emigrantenwelt von Shanghai. Sie beschreibt, wie die unheimliche Fremde zur Notheimat aufgerüstet wurde; wie eine Hausfrau aus Wien in einem chinesischen Restaurant Apfelstrudel backt, wie ein Buchhändler aus Berlin europäische Zeitungen vertreibt; wie ein Handschuhmacher aus Nürnberg einen kleinen Lederwarenladen betreibt; wie ein Kunsthistoriker aus Berlin mit chinesischen Aquarellen handelt. «Ein Klein-Deutschland war entstanden mit Werkstätten, Lebensmittelläden und Cafés», heisst es in dem Buch, in welchem sich Bericht, Kommentar und Erzählung souverän abwechseln. Dabei bleibt der Ton immer angemessen: ernst, aber nie belehrend, emphatisch, aber nie bemitleidend, humorvoll, aber nie ironisch. Historische Reflexionen und narrative Episoden ergänzen sich gegenseitig, und allgemeine Weltgeschichte wird als singuläre Lebensgeschichte nachvollziehbar. Vor dem Hintergrund eines grossangelegten Sozialgemäldes nimmt Krechel einzelne Lebensfäden auf und verfolgt und verknotet sie, so dass Shanghai eine Stadt wird, in der sich Schicksale kreuzen: aus Berlinern, Frankfurtern, Breslauern, Wienern wer- den «Shanghailänder». «Es hatten sich wohl nur Grossstädter getraut, nach Shanghai zu reisen, um der provinziellen Erschütterung und Erbitterung der Nazis zu entgehen, das war (...) eine niederschmetternde Erfahrung.» Überlebensgeschichten Mit psychologischer Sorgfalt, doch ohne Psychologismus zeigt Krechel das Emigrantendasein in seinem ständigen Gefühl der Vorläufigkeit und der Gefährdung und macht existenzielle Hoffnungslosigkeit begreifbar. «Die schlechten Nachrichten waren in der guten Nachricht verborgen, kleine Minen, die später explodierten. Jede Nachricht war zunächst vornehmlich eine gute; gut war, dass sie kam, und weil sie kam, war sie willkommen. Liess man sie lange genug auf sich wirken, verwandelte sich jede Nachricht in eine schlechte, bis die nächste gut erscheinende Nachricht kam, die sich bei genauerem Hinsehen vielleicht wieder in eine schlechte Nachricht verwandelte.» Krechel erzählt Lebensgeschichten als Überlebensgeschichten, und es ist die kontrollierte Einfachheit ihrer Erzählung, die den Schrecken des Berichteten erträglich macht. Ihr Tatsachenroman ist von einem Ernst durchdrungen, dem die Geduld der Sache gegenüber ebenso anzumerken ist wie der Wille zur Form. Krechel zeigt, wie historisches Einfühlungsvermögen und dichterische Kraft sich gegenseitig steigern können. L 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X11 Belletristik Kurzkritiken Belletristik Das Buchereignis des Jahres Gerhard Polt: Drecksbagage. BühnenMonologe. Illustrationen von Reiner Zimnik. Kein & Aber, Zürich 2008. 119 Seiten, Fr. 23.90. Heinz Janisch: Der König und das Meer. 21 Kürzestgeschichten. Illustrationen v. Wolf Erlbruch. Sanssouci, 2008. Unpag., Fr. 19.50. Eigentlich muss man den bayrischen Kabarettisten Gerhard Polt sehen und hören. Seine «Anwürfe, Unterstellungen, aber auch Ehrabschneidungen» – so der Untertitel seiner neuesten Sammlung von Bühnen-Monologen – sind indes selbst in gedruckter Form ein helles Vergnügen. Einmal mehr schlüpft Polt in verschiedene Rollen und entlarvt die Überzeugungen seiner Figuren, indem er sie mit Nachdruck vertritt. So beschaut er bei einem Obatztn, einer frischen Brezn und einem Weissbier die schneebedeckten Berge und grünen Matten seiner Heimat, hört die Kuh- und Kirchenglocken, betrachtet den weissblauen Himmel und kommt zum Schluss: «Ein Neger passt da einfach nicht hinein! Dass wir uns nicht missverstehen! Ich mein’s, wie ich’s gesagt hab. Rein farblich. Von der Farbkomposition her. Wir Bayern, wir sind ein äusserst kunstsinniger Menschenschlag.» Manfred Papst Eher für das höhere Alter ist dieses bezaubernde Buch des österreichischen Kinderbuch-Autors Heinz Janisch und des vielfach preisgekrönten Illustrators Wolf Erlbruch. 21 Mal trifft der kleine König auf Naturkräfte, Tiere und Dinge, die sich von seinen menschlichen Machtansprüchen nicht beeindrucken lassen, weder das Meer noch der Hund noch die Vögel in der Baumkrone noch die Trompete noch das Fischernetz. Ohne den moralischen Zeigefinger zu heben, sind diese kleinen Sinn- (und vielleicht auch Unsinn-)Dialoge unaufdringliche Denkanregungen. «Wie geht es dir?», fragt der König zum Beispiel einmal das Buch. «Das frage ich dich schon die ganze Zeit», kommt es prompt zurück. Erlbruchs reduzierte Illustrationen sind dabei kleine Bildphilosophien für sich, die im Gleichtakt mit dem zurückhaltenden Ton der Sprache schwingen. Was für ein beglückendes Büchlein. Regula Freuler Heidi. Nach Johanna Spyri. Erzählt von Peter Stamm. Mit Bildern von Hannes Binder. Nagel & Kimche, Zürich 2008. 48 S., Fr. 29.90. Federico Garcia Lorca: Die Gedichte. Span./Deutsch, ausgewählt von Enrique Beck. Wallstein, 2008. 2 Bände. 748 Seiten, Fr. 82.90. «Ein grosses, kräftig aussehendes Mädchen» sei diese 5-Jährige, die, in mehrere Kleiderschichten eingehüllt, an der Hand ihrer Tante den Berg hinaufstapft. Auf seiner «sonnverbrannten, völlig braunen Haut» glühen rote Wangen. Kaum mehr verrät Johanna Spyri über das Äussere der kleinen Heldin, dieses Wunders an Naturverbundenheit und Reinseeligkeit. Stilbildend für Film- und andere Adaptionen waren bis heute meistens die frühen Illustrationen, die einen dunklen Lockenkopf zeigen. So auch für den Zürcher Illustrator Hannes Binder, der zur Nacherzählung des Schriftstellers Peter Stamm keine wirklich neuen Bilder, vielmehr eine neue optische Atmosphäre hinzufügt. Die dunkel stimmende Schabkartontechnik wird mit dezent gehaltenen Farben ergänzt. Stamm verknappt stark, leider ohne Gewinn, für «Heidi»-Frischlinge, wohl aber ohne Verlust. Alle anderen halten sich länger und lieber bei den Bildern auf. Regula Freuler Die Garcia-Lorca-Übersetzungen des Hannoveraner Werbefachmanns Heinrich (Enrique) Beck (1904–1974), der 1934 als Jude vor den Nationalsozialisten nach Spanien floh und später in Basel lebte, waren lange Zeit ohne Alternative, da Beck sich die Übersetzungsrechte von den Erben des Dichters hatte absichern lassen. Seine Übertragungen sind zwar skrupulös und genau, aber auch auf einen hohen, romantisch-pathetischen Ton gestimmt. Über ihren Rang lässt sich deshalb trefflich streiten. Eine solide Basis dazu liefert der Wallstein-Verlag mit der vorliegenden Edition. Sie präsentiert Becks Übersetzungen erstmals in einer zweisprachigen Ausgabe. Wo der Übersetzer sich vom Originaltext entfernt, wird dies in Fussnoten vermerkt. Nachwort, Anmerkungen, Glossar und Register sind enorme Lesehilfen. Ein Rätsel bleibt indes, weshalb die Edition «Die Gedichte» heisst, obwohl es sich um eine Auswahl handelt. Manfred Papst Vom Autor des Bestsellers »Der Medicus« Deutsch von Klaus Berr 496 Seiten | sFr 34,90 Auch als Hörbuch bei Random House Audio. Gelesen von Christian Brückner. Eine mitreißende Mischung aus Spannungsroman, Familiengeschichte, Liebesdrama und Historienepos. 12X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 Kolumne GAËTAN BALLY / KEYSTONE Charles Lewinskys Zitatenlese Charles Lewinsky, 62, ist Schriftsteller, Radio- und TV-Autor und lebt in Frankreich. Sein neues Buch «Zehnundeine Nacht» ist gerade bei Nagel & Kimche erschienen. Wundere dich nicht, wenn sich dein Autor in den Tagen des Erscheinens seines Buches wie eine schwangere Frau benimmt und der Meinung ist, dass mit dem Stichtag des Erscheinens seines Buches eine neue Zeitrechnung beginnt. Kurzkritiken Sachbuch Michael Schroeder: Sappho von Lesbos. Biografie. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2008. 200 Seiten, Fr. 34.90. Christiane Hoffmann: Hinter den Schleiern Irans. Dumont, Köln 2008. 320 Seiten, Fr. 35.90. «Ist es nicht vermessen, rekonstruieren zu wollen, was ein anderer Mensch in einer anderen Zeit (...) erlebt, getan und gedacht hat?» Nein, vermessen wäre es nicht, würde man dem Produkt die korrekte Bezeichnung verpassen: vielleicht Romanbiografie. Michael Schroeder allerdings bezeichnet sein Buch kurz als Biografie und weckt damit falsche Erwartungen. Eine Biografie der Sappho von Lesbos kann es kaum geben, weil von Leben und Werk dieser Dichterin fast nichts bekannt ist. Schroeder muss also die mageren Fakten mit viel Erfundenem garnieren. Dass er keine Zeitreise antreten konnte, um seiner Dichterin näherzukommen, sei ihm verziehen. Dass er es aber nicht für nötig hielt, wenigstens den Schauplatz ihres Lebens, die Insel Lesbos, zu bereisen, um den «genius loci» zu erspüren, um zu erfahren, was Sappho sehen und wahrnehmen konnte, bleibt unverständlich. Geneviève Lüscher Christiane Hoffmann lebte von 1999 bis 2004 als Journalistin und Frau des schweizerischen Botschafters in Teheran. Sie lernte in dieser Zeit Persisch, gebar zwei Töchter und besiegte eine heimtückische Krankheit. In ihrem Buch schildert sie die zunehmende Verunsicherung einer westlichen Frau in einem muslimischen Land, ihre Versuche, sich anzupassen und gleichzeitig die herrschenden Zwänge, zum Beispiel in der Kleiderfrage, zu unterwandern. Sie beschreibt, wie sich beispielsweise ihr Schamgefühl verändert und sie die europäische «Nacktheit» zunehmend als Provokation empfindet. Letztlich geht es ihr immer um die Frage, «wie man zugleich die Universalität bestimmter Prinzipien aufrechterhalten und die unterschiedlichen Welt- und Menschenbilder der Kulturen respektieren kann». Ein sehr einfühlsames und eindrückliches Buch. Geneviève Lüscher Christoph Dejung: Widerspruch. Auch eine Schweizer Geschichte seit 1945. Huber, Frauenfeld 2008. 272 Seiten, Fr. 39.80. Dietmar Grieser: Die guten Geister. Sie dienten den Grossen: Köchin, Butler, Sekretär. Amalthea, Wien 2008. 272 S., Fr. 36.–. Ein pensionierter Zürcher Gymnasiallehrer, der sich mit Ketzerei und Provokationen befasst, schriftstellerisch ambitioniert ist und 1400 Diensttage auf dem Buckel hat – das ist Christoph Dejung (65), vom Verlag als «unbequemer Historiker aus den Bündner Bergen» präsentiert. Sein Versuch, die Schweizer Geschichte seit 1945 umzudeuten, wirkt über weite Strecken originell und eröffnet durch kühne Gedankensprünge neue Einsichten und Zusammenhänge. Immer wieder aber versteigt sich der Polemiker zu zynischen Auslassungen über vermeintliche Hinterwäldler und politische Gegner, schnitzert auch mal bei den Fakten (wenn er die Ermordung des «sowjetrussischen Ministers Morowski» statt des Diplomaten Worowsky erwähnt), und sein Urteil trieft oft von Kulturpessimismus. Als Einstiegslektüre in die Nachkriegsgeschichte ist das Buch kaum geeignet, als Ergänzung zu einer konventionellen Darstellung jedoch anregend. Urs Rauber Es ist ein Buch in der Art von «100 Schauplätze der Weltliteratur»: das Material aus Biografien zusammengetragen, mit Anekdoten angereichert und leichthändig verfasst. Der österreichische Spurensucher Dietmar Grieser, Autor mehrerer solcher Werke, stellt hier 30 vorwiegend weibliche «Perlen» im Dienst von Prominenten vor: Köchinnen, Butler, Zofen und Faktoten, die den Berühmtheiten das Leben erleichterten. Nicht alle waren froh darüber: Beethoven schimpfte sein Hauspersonal «Bestien», und Goethe behandelte sein Dienstmädchen schäbig. Wohingegen Dostojewski und Alfred Polgar von ihren Sekretärinnen schwärmten. Und amüsiert liest man, dass die Haushälterin von Papst Pius XII., «La Tedesca», derart herrschsüchtig war, dass es selbst dem Heiligen Vater manchmal zu bunt wurde. Die hübschen Miniaturen bilden eine kleine Soziologie des Dienstpersonals der Grossen der Welt. Urs Rauber Ernst Rowohlt Können Sie mir helfen, Herr Doktor? Ich dachte, ich sei geheilt, und überhaupt, das letzte war ein so dickes Buch, und da ist es doch begreiflich, dass man einige leichtere Symptome ... Okay, schwere Symptome. Wenn das in meiner Krankenakte so steht, wird es wohl stimmen. Aber ich dachte wirklich, es sei vorbei. Nach einem so schweren Anfall wie beim letzten Mal müsste man doch eigentlich immun werden, habe ich gemeint. Aber jetzt hat es wieder angefangen. Genau so heftig wie damals. Oder sogar noch schlimmer. Die Symptome? Dieses Kribbeln und natürlich der unwiderstehliche Zwang, durch wildfremde Buchhandlungen zu streifen und ganz unauffällig nachzusehen, ob das Buch schon ausliegt. Kann man da wirklich nichts dagegen machen, Herr Doktor? Eine Erkältung habe ich mir auch geholt. Doch, Herr Doktor, das hat schon etwas damit zu tun. Weil es doch so kalt war und geregnet hat, als ich morgens um vier im Pyjama vor dem Briefkasten stand und auf den Zeitungsausträger wartete. Er kam aber erst um halb sechs. Und eine Besprechung war dann auch nicht im Blatt. Was soll das heissen: «zu früh»? Man kann doch wohl erwarten, dass die Zeitung schon um vier Uhr ... Ah, Sie meinen: «zu früh für eine Kritik»? Weil mein neues Buch doch noch gar nicht richtig erschienen ist? Also, das finde ich überhaupt nicht. Wenn der Verlag die Leseexemplare per Express verschickt hat, und wenn der Kritiker das Buch sofort aus dem Umschlag genommen und noch am selben Tag gelesen und dann auch gleich seine Kritik geschrieben hat ... Wieso unrealistisch? So lang kann es doch nicht dauern, ein paar Adjektive wie «wunderbar», «einmalig» oder «meisterhaft» in den Computer zu tippen. Man kann doch wohl erwarten, dass ... Ach so, Herr Doktor, Sie meinen, das sei schon wieder so ein Symptom. Wie der Zwang, alle Viertelstunden beim Verlag anzurufen und darum zu bitten, dass man die ganze erste Auflage einstampft und neu druckt, weil mir gerade für Seite 112 eine viel bessere Formulierung eingefallen ist. Oder die Manie, alle zehn Minuten den eigenen Namen zu googeln. Ja, mit Baldrian habe ich es probiert. Ohne Erfolg. Ich habe sogar versucht, meine Nerven mit grossen Mengen Schokolade zu beruhigen. Jetzt habe ich auch noch Verstopfung. 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X13 Essay Die Vorlesungen von Peter von Matt waren Ereignisse. Jung und Alt strömte in die Hörsäle der Uni Zürich, um den Schlüsselherrn der Bücherschatzkammer zu hören, erinnert sich Franz Hohler Spracherheller und Wortprophet Als sich die Türen der Aula öffnen und die ersten Studenten der Vorlesung über das Völkerrecht herauskommen, sind sie in keiner Weise auf den Auflauf im Gang vorbereitet. Zu den Türen herein flutet nämlich, ohne jeden Respekt vor denen, die noch hinaus möchten, ein Volk von Ergrauten, Anständigen, Gepflegten, Mappen- und Handtäschchentragenden, welches nun die Stühle des Saales besetzt, bevor sie noch ganz geräumt sind. Gilt dieser Auflauf tatsächlich E. T. A. Hoffmann, dem Vater der phantastischen Literatur? Nein, er gilt dem Professor der Germanistik, dem Wortmächtigen, dem Spracherheller, dem KEYSTONE Franz Hohler Der in Olten aufgewachsene Franz Hohler, geb. 1943, tritt seit den sechziger Jahren als MusikKabarettist im In- und Ausland auf. Für seine Gedichte, Theaterstücke und belletristischen Bücher erhielt er zahlreiche Preise, zuletzt den Salzburger Stier für sein Lebenswerk. Sein Roman «Es klopft» stand monatelang auf der Bestsellerliste. Franz Hohler lebt als Schriftsteller, Kabarettist und Liedermacher in Zürich Oerlikon. – Sein neues Buch, «Das Ende eines ganz normalen Tages» (Luchterhand, 140 Seiten, Fr. 31.90), enthält amüsante und nachdenkliche Geschichten, u. a. den Essay über Peter von Matt, den wir hier als Vorabdruck publizieren. Das Buch ist ab 4. September im Buchhandel. 14X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 Zusammenhangsmagier, den nun die Pensionierung eingeholt hat und der heute zum letzten Mal vor seiner Anhängerschaft in der Aula der Universität auftritt. Die grosse Leinwand ist heruntergelassen, über den Prokischreiber wird darauf die Nachricht projiziert, dass die Vorlesung auch in den Hörsaal 108 übertragen wird, sogar mit Video, und abwechselnd ermahnen Assistentinnen die Menschen, die bereits keinen Platz mehr haben und die Fluchtwege zu überschwemmen beginnen, doch bitte ins andere Auditorium zu gehen, und nach einer Weile trifft die Botschaft ein, auch das andere Auditorium sei nun voll und es sei zusätzlich eine Übertragungsmöglichkeit in den Hörsaal 121 geschaffen worden. Trotzdem ziehen es viele vor, dem Meister stehend zu lauschen, an eine Wand gelehnt oder auf einem Sims sitzend oder, wie vor allem die jungen Leute, die noch wirklich studieren, auf dem Boden hockend. Käme jetzt jemand von der Feuerpolizei, die Veranstaltung fände nicht statt. Aber stattdessen betritt von Matt den Saal, in blauem Jackett und weissem Hemd, aber ohne Krawatte, und wird mit Applaus empfangen, und als er leichten Schrittes die marmorne Pultkanzel ersteigt, seinen Lehrstuhl sozusagen, wird hinter ihm die Leinwand hochgezogen, und es erscheint ein riesiges Fresko, das junge Frauen in togaähnlichen Gewändern zeigt, die sich zusammen mit halbnackten Burschen in einer Waldlichtung versammeln, als hätten auch sie keinen Sitzplatz in der Vorlesung gefunden. Und wenn nun von Matt zu sprechen anhebt und leicht vorgebeugt ins Mikrofon spricht, wirkt er fast gnomenhaft vor den überlebensgrossen allegorischen Figuren in seinem Rücken, aber er verfügt über eine Schatzkammer, über die Schatzkammer der Literatur, und er klimpert zunächst mit den Schlüsseln, spricht über das Gehen und dass es in der Literatur immer etwas bedeutet, wie jemand geht, sei es ein Stifterscher Wanderer oder ein Walserscher Spaziergänger oder seien es Gerhard Meiers Baur und Bindschädler, und fragt dann unver- Der Literaturwissenschafter und Germanist Peter von Matt hält am 1. Juli 2002 seine letzte Vorlesung in der Aula der Universität Zürich. mutet, was das mit E. T. A. Hoffmann zu tun habe. Danach springt er das Thema seiner Vorlesung regelrecht an, indem er darauf hinweist, dass die Protagonisten Hoffmanns nie gehen, sondern immer rennen, hüpfen, Haken schlagen, stolpern, herumhühnern. Während er das sagt, fallen mir über den Türen die beiden rennenden grünen Männlein auf dem Notausgangssignet auf. Und nun lädt uns von Matt zu einem Rundgang durch die Schatzkammer ein, und wenn er die Vorräte darin schildert, ist eine unglaubliche Verheissung in seiner Stimme; Freunde, scheint er uns zuzurufen, da drin gibt’s etwas zu holen, wer Augen hat zu sehen, dem werden sie übergehen von all dem Schimmern und Glitzern des menschlichen Geistes, und er erzählt uns, was Herder über den Unterschied des Menschen zum Affen geschrieben hat, wie er den Menschen als den ersten Freigelassenen der Schöpfung bezeichnete und was Newtons physikalische Erkenntnisse für das menschliche Denken wirklich bedeuteten und wie auf dem Höhepunkt der endlich gewonnenen Klarheit über das Planetensystem und das Wirken der WALTER BIERI/KEYSTONE physikalischen Kräfte, der Entzauberung der Natur somit, auf einmal der phantastische Roman auftaucht, als Gegengewicht, als Nachruf auf das eben Begrabene, als plötzliche Sekunde des Zweifels, und wie in Newtons ausgeleuchtetes Weltbild schwarze Sonnen hineinzuscheinen beginnen, aus dem, was Jean Paul das innere Afrika des Menschen nannte, und wir sitzen, stehen oder kauern und schicken unsere Gedanken ihm nach, wir stützen die «Auch die in Bronze gegossenen Köpfe auf den Marmorkonsolen an den Wänden hören zu, hat nicht sogar Otto Nägeli den Kopf etwas gedreht?» Köpfe in die Hände, wir halten den Zeigefinger an die Nasenwurzel, wir drücken die Finger vor die Stirn oder pressen die ganze Stirn in die flache Hand, dass es uns die Frisuren nach hinten sträubt, wir umrahmen die Lippen mit einem Daumen und einem Zeigefinger, wir halten einen Ellbogen mit einem Arm, wir richten unsere Ohrmuscheln mit der Hand nach vorn, damit uns kein Wort entgeht, und wir schreiben Sätze mit, Zitate, Formulierungen, die wir festhalten möchten, auf Papier, das bereits gelocht ist, damit es sofort einem Ordner anvertraut werden kann, auf linierte und unlinierte A4Blätter, auf kleine, gehäuselte Notizblöcke, auf die Rückseite von ausgedruckten Zugsverbindungen, denn wir möchten ja etwas mit nach Hause nehmen von der Schatzkammer des menschlichen Geistes, dessen Kustos uns durch seine Brillengläser immer wieder so anschaut, als seien wir persönlich gemeint, denn er meint es gut mit uns, er öffnet uns die Türen, er heisst uns eintreten in das funkelnde Geisteshaus, und wir neigen die Köpfe, noch etwas unentschlossen, in unsern Anzügen, in unsern Deux-Pièces und in unsern T-Shirts, auf denen «Festival» steht oder «Sex Pistols», und wenn wir nicht alle gleichzeitig eintreten können, dann hören wir doch zu, auch die in Bronze gegossenen Köpfe auf den Marmorkonsolen an den Wänden hören zu, hat nicht sogar Otto Nägeli den Kopf etwas gedreht, als von Matt vom Kapellmeister Hoffmann und seiner Zeichnung des Geigers Kreisler sprach, und hat nicht Lorenz Oken die Augenbrauen angehoben, als von Newton die Rede war, und hat nicht Karl Moser genickt, als von Matt die Metropolen erwähnte und ihre grosse Bedeutung in der französischen und englischen und ihre geringe Bedeutung in der deutschen Literatur? Die vordersten beiden Konsolen sind noch leer, eine davon sollten wir für ihn reservieren, in der Hoffnung, sie werde noch lange leer bleiben, denn er hat uns alle verzaubert, der Schatzmeister aus der Innerschweiz, der Wortprophet vom Stanserhorn mit seinen literarischen Lockrufen. Und irgendeinmal, als er von den unwahrscheinlichen Begebenheiten spricht, schaue ich zur Decke und sehe hoch über ihm den dicken, schweren Lautsprecher hängen, und ich bin froh, dass die Newtonschen Gesetze so lange in Kraft bleiben, bis er am Schluss mit den Worten «Das wär’s de gsi» sein Manuskript in die Mappe packt, sich verbeugt, die Hände für den entgegenbrandenden Applaus ausbreitet wie ein Schauspieler und dann federnd die Kanzeltreppen hinabsteigt und den grossen Blumenstrauss mitzunehmen vergisst, der die ganze Zeit für ihn auf dem Pult lag und ihn halb verdeckte und den er, ergriffen und gepackt von der Schilderung seiner Schätze, gar nicht gesehen hat. L 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X15 Sachbuch Neue Weltordnung Der amerikanische Politologe Robert Kagan sieht in den aufstrebenden Staaten Russland und China die gefährlichsten Herausforderungen für den Westen. Hunger und Klimawandel sind dagegen kein Thema im Buch des Neokonservativen Weltpolitik als grosses Spiel Robert Kagan: Die Demokratie und ihre Feinde. Wer gestaltet die neue Weltordnung? Siedler, München 2008. 127 Seiten, Fr. 30.90. Von Dieter Ruloff Robert Kagan gilt als einer der einflussreichsten strategischen Denker der USA. Zusammen mit William Kristol gründete Kagan 1997 das Project for the New American Century (PNAC), ein Netzwerk von Neokonservativen, die nach der Wahl George W. Bushs zum US-Präsidenten grossen Einfluss auf dessen Aussenpolitik gewannen, namentlich über Mitstreiter Kagans wie den vormaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Das neueste Werk Kagans liegt nun auch in deutscher Sprache vor, wobei der Verlag den Originaltitel «Return of History and the End of Dreams» in «Die Demokratie und ihre Feinde» geändert hat. Die Übersetzung hat ihre Logik, denn die Adressaten der Analyse sind Europäer nichtenglischer Sprache. Kagan will sie von einer politischen Illusion heilen und gleichzeitig für eine grosse Idee begeistern – das Ganze etwas à contrecœur, weil Kagan den Europäern üblicherweise selbstverschuldete Irrelevanz attestiert. Nun brauchen die USA aber Europa – eine neuere Einsicht der Neokonservativen, nachdem deren Thesen vom unipolaren, quasi amerikanischen Zeitalter und von den grossen, unilateralen Handlungsspielräumen der USA mit dem Irak-Debakel an Plausibilität verloren haben. Kagan beginnt mit einem Rückblick auf die 1990er Jahre und dem, was zu deren Beginn als bevorstehendes «Ende der Geschichte» (Francis Fukuyama) propagiert wurde: Schluss mit den grossen ideologischen Konfrontationen, zuletzt jener zwischen Ost und West; Triumph von Markt und Demokratie; wirtschaftlicher Wettbewerb auf globalisierten Märkten, dank «unsichtbarer Hand» zum Wohle aller; wachsender Wohlstand statt militärischer Rivalität. 16X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 Der Weltfrieden schien in greifbarer Nähe, so wie ihn sich Kant im «Traktat über den ewigen Frieden» vorstellte: «Denn es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann.» Alles blauäugige Illusion der Europäer, so Kagan. Aber diese stammen nach einem oft zitierten Ausspruch des Autors ja ohnehin von der «Venus», während die USA als Macht vom «Mars» mit den notwendigen militärischen Mitteln Sicherheit auch für die Europäer schaffen. Wie sagte damals Georgi Arbatow, der Berater Gorbatschews in den Zeiten des Umbruchs: «Wir werden euch, dem Westen, das Schlimmste antun, das man einem Gegner antun kann: Wir werden euch euren Feind nehmen.» Diese Zeiten sind vorüber, wir haben wieder Feinde, so Kagan, und was für welche! Es sind im Wesentlichen die «Autokratien» in Russland und China, mit denen sich die Demokratien in einem Wettbewerb befinden, darüber hinaus natürlich Iran, Nordkorea und der radikale Islam. Letzterem gibt Kagan aber keine Chance auf Erfolg. Ein Iran mit Nuklearwaffen hingegen würde die Machtgleichung im Nahen Osten komplett verändern. Konventionelle Analyse Das eigentliche Problem für Kagan sind aber nicht Nordkorea, der Iran und die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen, sondern die vermeintliche Herausforderung des Westens durch Russland und China. Einstweilen vermag die amerikanische Hegemonie dem Machtstreben dieser «Autokratien» noch Paroli zu bieten; auf längere Sicht jedoch brauche es mehr, und zwar eine Liga der Demokratien, um der wachsenden Macht der Feinde von Freiheit und Demokratie Einhalt zu gebieten – eine Idee, die Kagan als Berater dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten McCain bereits schmackhaft hat machen können. Insgesamt bietet Kagan eine sehr konventionelle, klassisch-realistische Analyse der aktuellen Lage, ganz im Stile des grossen realistischen Denkers Die USA setzen auf den Triumph von Markt und Demokratie: Kinder im «American Dream Park» in Schanghai. Hans Morgenthau, für den «internationale Politik … wie alle Politik ein Kampf um die Macht» bleibt. Vorwärts in die Vergangenheit heisst Kagans Devise, wobei das 20. Jahrhundert schlicht übersprungen wird und der Leser sich analytisch im 19. Jahrhundert wiederfindet. Diesen Eindruck bestätigt Kagan dann auch explizit, wenn er in der aktuellen Mächtekonstellation «eine Wiederbelebung des neunzehnten Jahrhunderts» sieht. Geschichte ist hier Staatsaktion, Erklärungen verlaufen nach dem «alten Modell nationaler Ambitionen». Viscount Palmerstone, britischer Premier aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, wird mit seinem Ausspruch zitiert, Staaten hätten keine Freunde, sondern bloss Interessen, und diese seien unbeirrbar zu verfolgen. Die Mächte dieser Welt sind gemäss Kagan wieder mit dem beschäftigt, was die Briten im 19. Jahrhundert als great game, Grosses Spiel, bezeichneten, dem Anhäufen militärischer Macht, dem Schachern um Ländereien, Rohstoffe, Einfluss, Kontrolle von Meerengen und Verbündeten: Der Feind meines Feindes ist mein Freund! MARTIN PARR/MAGNUM PHOTOS Weltpolitik ist ökonomisiert Funktioniert die Welt des beginnenden 21. Jahrhunderts wirklich in dieser Weise? Haben wir es mit einem neuen Grossen Spiel zu tun, einer Rückkehr des 19. Jahrhunderts? Wohl kaum. Weltpolitik hat auch heute ihre grossen Risiken, aber sie funktioniert über weite Strecken doch anders. Russland und China sind keine Demokratien, und selbstverständlich betreiben sie Interessenpolitik, wie gegenwärtig im Kaukasus zu sehen. Aber die Regierenden dieser Länder können auch nicht tun und lassen, was sie wollen. Wie Louis-Philippe I. einst die Bürger Frankreichs mit dem «Enrichezvous» bei Laune hielt und damit fern von der Politik, so stehen und fallen die Regimes in Russland und China mit dem wirtschaftlichen Erfolg ihrer Politik. Weltpolitik ist heute ökonomisiert, die Globalisierung hat hier ganze Arbeit geleistet. Und so weiss man auch in Russland und China, dass wir alle im selben Boot sitzen. Staaten wie Nordkorea und der Iran sind sicherlich in der Lage, dieses zum Schaukeln zu bringen. Am Ende überwiegt aber wohl das Interesse der Staatengemeinschaft insgesamt, das Boot nicht kippen zu lassen. Russland und China sind ebenso wenig an einem nuklearen Iran interessiert wie die übrigen Staaten der Region, die Europäer und die USA. Darüber hinaus sind es globale Probleme ganz anderer Art und Dimension, die heute Sorgen bereiten: Energieversorgung, Hunger, Klimawandel und Weltkonjunktur – alles Fragen, die man in Kagans Buch vergeblich sucht. Mehr Zusammenarbeit der Demokratien in diesen Fragen wäre sinnvoll. Aber hier müssten zunächst einmal die USA mit gutem Beispiel vorangehen. L Dieter Ruloff ist Professor für internationale Beziehungen und Leiter des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Zürich. 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X17 Sachbuch Zweiter Weltkrieg Die Geschichte von Hitlers Leibwächter Rochus Misch ist ein faszinierendes Dokument von Nähe und Schrecken Greuel in seltsamer Ferne bis zum 2. Mai 1945: das Leben im Bunker unter der Reichskanzlei, der beim Bezug noch nicht ausgetrocknet war («Es stank ziemlich da unten»). Den «Turnhallenmief». Hitlers körperlichen Verfall. Die depressive Stimmung, Verzweiflung, Orientierungslosigkeit und Angst – eher aus Hitlers Umgebung als vom Führer selbst. «Das Furchtbarste» jedoch, was er in dieser Zeit hautnah miterlebte, war die Tötung der sechs Goebbels-Kinder durch deren Mutter Magda am 1. Mai. Diese Entsetzlichkeit hat den einfachen Wachmann mehr erschüttert als der Selbstmord von Hitler und Eva Braun am Tag zuvor. Am 2. Mai wurde Rochus Misch als letzter Soldat von Goebbels entlassen. Und er zog, bevor er den Bunker verliess, noch alle Stecker heraus. Rochus Misch: Der letzte Zeuge. «Ich war Hitlers Telefonist, Kurier und Leibwächter». Unter Mitarbeit von Sandra Zarrinbal und Burkhard Nachtigall. Mit einem Vorwort von Ralph Giordano. Pendo, Zürich 2008. 335 Seiten, Fr. 35.90. Von Urs Rauber Was für ein irritierendes Buch. Seine Lektüre löst Faszination, aber auch Ratlosigkeit aus. Wie liest man die Chronik einer Person, die fünf Jahre an der Seite Hitlers gelebt, diesen beschützt, bedient und umsorgt hat und dennoch nichts von seinen Verbrechen, von den KZ und der Judenvernichtung erfahren haben will? Und der den unglaublichen, dennoch wahren Satz schreibt: «Ich kenne Hitler nur als Mensch, der mein Chef und dem mein Wohlergehen wichtig war.» Solche Sätze schmerzen. Vor allem die Nachkommen der Opfer. Und dennoch anerkennt der deutsche Publizist Ralph Giordano, ein Holocaust-Überlebender, die Aufrichtigkeit des unpolitischen Wehrmachtsoldaten Misch, der nie Mitglied der NSDAP war und nach einer Kriegsverletzung ins Zentrum der Macht kam, zur Leibstandarte des Führers. Dort leistete der 1,85 Meter grosse Mann ab Mai 1940 Dienst als Kurier, Leibwächter und Telefonist von Adolf Hitler. Bis zum Untergang im Führerbunker. Trotzdem, schreibt Giordano in seinem Vorwort, würde er diesem Mann, sollte er ihm begegnen, «ohne Zögern die Hand geben». Wie ein Doku-Thriller Der 1917 geborene Rochus Misch erzählt die Geschichte der letzten fünf Kriegsjahre aus der Perspektive eines Bediensteten – in einfachen, direkten, schnörkellosen Sätzen. «Ich bin ein unbedeutender Mann, aber habe Bedeutendes erlebt», sagt er. All die grossen Ereignisse – die Wannsee-Konferenz, die Niederlage in Stalingrad, Rudolf Hess’ Englandflug – fanden ihren Niederschlag im Führerhauptquartier in Form von Telefonaten, Kurierberichten und Lagebesprechungen. Doch der Schrecken des Krieges, das Sterben an der Front, die Grausamkeit der Lager – das macht dieses Buch klar – spielten sich in einer seltsamen Ferne ab. Man beginnt zu verstehen, warum so viele Deutsche (mit Ausnahme von Wehrmachtsangehörigen) behaupteten, von den Greueln nichts mitbekommen zu haben. Faszination erzeugt die räumliche Nähe zu einem weltgeschichtlichen Akteur, der im Alltag ein höchst durchschnittlicher Mensch war, kein «Führer», sondern «der einfachste Mensch, den ich kannte». Rochus Misch begleitete Hitler beim Spaziergang, besorgte 18X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 PRIVATARCHIV Hitler ganz nah «Ein unbedeutender Mann», der aber Bedeutendes erlebt hat: Hitlers Leibwächter Rochus Misch, 1941 auf dem Berghof. für ihn Blumen und Geschenke, bot «Auffüll»-Gäste zum Essen auf, wenn der Führer Gesellschaft begehrte, telefonierte für ihn in der Welt herum – «das machte mir Spass». Und er besorgte dem Chef nachts eine Bettflasche, wenn der kalte Füsse bekam. Zwischendurch erlebte er Hitler als traurigen oder einsamsten Mann der Welt – etwa nach einem heftigen Streit mit dem Wehrmachtskommando im September 1942. Auf dem Berghof, Hitlers abgeschiedenem Rückzugsquartier in der Nähe von Salzburg, fühlte sich Misch «wie im Urlaub». Im Führerhauptquartier Wolfsschanze in Ostpreussen faulenzte Hitlers Begleittross im Sommer 1941 – kurz nach dem Angriff auf die Sowjetunion – und spielte Tarock. «Die Meldungen von der Ostfront waren grandios», erzählt der Telefonist. Mit stupendem Erinnerungsvermögen schildert er die letzten 13 Tage des Reiches vom 20. April Es sind diese schieren Gegensätze von lakonischer Alltagsbeobachtung und weltpolitischen Grossereignissen, deren Zusammenhang sich erst dem heutigen Leser in ganzer Wucht erschliesst. Gerade weil der Augenzeuge seine damaligen, nicht die heutigen Empfindungen wiedergibt, nimmt man seinen Bericht als unverfälscht und glaubwürdig wahr. Das Thema Juden und KZ – so Rochus Misch – habe es im Gespräch überhaupt nie gegeben. Von Letzteren habe man nur gewusst, dass es Arbeitslager gewesen seien (was sie zu Beginn auch waren). Der Zeitzeugenbericht verdeutlicht, was schon Daniel Goldhagen, Götz Aly und andere festgestellt haben: dass Hitlers Volksstaat die Zustimmung von Millionen Menschen erhielt, weil er ihnen ökonomische und soziale Versorgungsleistungen bescherte und sie den Krieg als notwendiges Übel in Kauf nahmen, während ihnen gleichzeitig die planmässige Vernichtung in den KZ verborgen blieb. Dennoch fragt sich der heute 91-Jährige, der nach Kriegsende in russische Gefangenschaft geriet und neun Jahre im Gulag verbrachte, warum die Untaten ein so gut gehütetes Geheimnis bleiben konnten. Hitlers Leibwächter schämt sich seiner damaligen Pflichterfüllung nicht, doch es stimmt ihn heute nachdenklich, «dass mir das so selbstverständlich war». Man spürt die Berührungsängste der beiden Biografen, der Juristin Sandra Zarrinbal und des Filmemachers Burkhard Nachtigall, beim behutsamen Aufzeichnen dieser Chronik. Das gut geschriebene Buch mit vielen unbekannten Fotos, teils von Misch selbst geknipst, und einem Namensregister stellt ein einzigartiges Zeitzeugendokument dar und liest sich wie ein Doku-Thriller. Es erstaunt nicht, dass es nach seinem Erscheinen im Juni sogleich den Sprung in die «Spiegel»-Bestsellerliste schaffte und dort seither auf den ersten Plätzen rangiert. L Erinnerungen Der Berner Schriftsteller und Theologe Kurt Marti beschreibt seinen Weg zum Erwachsenen Kurt Marti: Ein Topf voll Zeit. 1928–1948. Nagel & Kimche, Zürich 2008. 240 Seiten, Fr. 38.90. Von Klara Obermüller Die Skepsis ist unverkennbar, die ironische Distanz offensichtlich. Anders hätte dieses Erinnerungsbuch wohl kaum geschrieben werden können. Hinter dem Spott über die unter Rentnerinnen und Rentnern grassierende Epidemie namens «Memoiritis» ist die Scheu dessen zu spüren, der sich mitteilen und dabei doch nicht allzu viel von sich selbst preisgeben möchte. Im Unterschied zum Tagebuch «Unruhe und Ordnung» (1984) versteckt der Autor diesmal sein Ich hinter der dritten Person Einzahl. Er spricht bald vom Buben, bald vom Jüngling oder Studenten und vergrössert so die Distanz, um noch einmal über sich und die wichtigen Stationen seiner Entwicklung zu sprechen. Was den Autor als Heranwachsenden prägte, ist klar zu erkennen: Es ist das politisch und sozial turbulente Klima der Zwischenkriegszeit mit all seinen ideologischen und weltanschaulichen Kontroversen. Es sind die langen, zermürbenden Wochen im Aktivdienst bei der Fliegerabwehr. Und es ist das Studium der Theologie, auf das er sich nach einem kurzen Gastspiel bei den Juristen einlässt. Auffallend ist ein schon frühes, tiefes Misstrauen gegenüber Pathos, Frömmelei und falschen Gefühlen, das ihn gegen die Verführungen seiner Zeit weitgehend immun gemacht zu haben scheint. Es half ihm, ideologische Irrtümer ebenso zu durchschauen wie religiöse Phrasendrescherei. Es wirkte gegen den gestelzten Ernst höherer Offiziere ebenso wie gegen die «symbolische Tiefgründelei» gewisser modischer Dichter und Denker. Und, wie’s aussieht, ist dieses «intellektuelle Immunsystem» bis heute intakt. Wann immer Kurt Marti merkt, dass auch nur eine Spur von Sentimentalität in seiner Erzählung aufzukommen droht, bricht er diese mit einer trockenen Bemerkung oder einem gezielt eingesetzten Dialektausdruck. Dadurch erhalten die Schilderungen seiner militärischen Einsätze etwas wohltuend Nüchternes. Die erotischen Erinnerungen kommen leicht und ohne einen Anflug von Schwüle daher. Auch der Werdegang des angehenden Pfarrers erscheint aus dem Blickwinkel ironischer Distanz plausibel. Es war Wissbegier, nicht irgendeine Form religiöser Erweckung, die den jungen Mann auf der Suche nach seinem Platz in der Gesellschaft das Theologiestudium ergreifen liess. Was ihn antrieb, waren Fragen nach dem Sinn des Leidens und dem Wirken Gottes in dieser von allen guten Geistern verlassenen Welt. In Karl Barth, Albert Schädelin und Walter Lüthi fand er Lehrer, die ihn nicht mit vorschnellen Antworten abspeisten. Von der ersten Ahnung des Buben, «dass die Welt ein Geheimnis birgt», bis zur Einsicht des Studenten, dass Gott «unendlich mehr ist als ein Objekt menschlichen Denkens, nämlich dessen Ursprung und Voraussetzung», war es ALESSANDRO DELLA VALLE/KEYSTONE Werdegang eines Pfarrers Kurt Marti erinnert sich: nüchtern und unsentimental. ein langer Weg. Im Rückblick erscheint er folgerichtig. Noch ist hier das meiste in Frageform formuliert. Doch in den Grundzügen lässt sich schon Kurt Martis späteres Denken erkennen: seine Abneigung gegenüber einem Glauben, der keinen Zweifel zulässt, sein Misstrauen gegenüber einer Theologie, die auch in Leid und Krieg das Wirken Gottes zu erkennen vermeint, und schliesslich das stete Bemühen, «jedes Geschehen und alle Geschichte aus der Perspektive der Opfer zu beurteilen». Endgültige Antworten gibt es in der Welt des jungen Kurt Marti keine, Ahnungen und Spekulationen indes schon. Zum Beispiel solche über die Weiblichkeit Gottes, die ihn im Strudel amouröser Aktivitäten zu beschäftigen beginnt. Unausgegoren, unreif sei das alles gewesen, schreibt er, und nicht in klare Gedanken zu fassen. «Dennoch leuchtete fortan in ihm, was er nicht mitzuteilen wusste.» Später hat der Dichter Kurt Marti eine Sprache gefunden, um der «Passion des Wortes Gott» Ausdruck zu verleihen. Doch davon ist in diesem Band noch nicht die Rede. L Nachrufe Seit der Antike bis heute gelten für Totenreden rhetorische Traditionen Der Nekrolog als Schlüsselszene Thomas Goetz: Poetik des Nachrufs. Zur Kultur der Nekrologie und zur Nachrufszene auf dem Theater. Böhlau, Köln 2008. 281 Seiten, Fr. 65.90. Von Stefan Hauser Der Tod vermag zwar den Sterbenden die Sprache zu rauben, dafür veranlasst er die Nachlebenden zum Reden. Der Literaturwissenschafter Thomas Goetz geht der Frage nach, wie in der abendländischen Kultur über Verstorbene geredet und geschrieben wird. Dabei kommen zunächst Nachrufe zur Sprache, die sich aus Anlass eines aktuellen Todesfalls einer realen Person an eine Öffentlichkeit richten. Es zeigt sich, dass die rhetorische Tradition seit der Antike bestimmte Strukturen festlegt, die bis heute nachweisbar sind (Verlustklage, Darstellung und Würdigung des Lebens des Verstorbenen, Trost der Hinterbliebenen). Auffallend ist, dass sich über Jahrhunderte hinweg nur wenig verändert hat. Illustriert wird dies an zahlreichen Beispielen, etwa an Grillparzers Rede am Grab Beethovens, an Clintons Totenrede auf Yitzhak Rabin oder an Nachrufen anlässlich des Todes von Lady Diana. In der Literatur hingegen äussert sich das Reden über Verstorbene in einem ungleich grösseren Formenreichtum. Wie aus den vielfältigen Belegen aus unterschiedlichen Epochen hervorgeht, gibt es eine faszinierende literarische Tradition, die zwar an die Regeln und Verfahren des Totendiskurses anknüpft, diese aber auch hinterfragt, umdeutet und für eigene Darstellungszwecke umformt. Das besondere Interesse des Verfassers gilt dabei den dramatischen Genres, die den Tod des Helden in Szene setzen. Dabei zeigt sich, dass kaum ein Drama, das mit dem Tod eines Protagonisten endet, auf eine mehr oder weniger ausgebaute Szene verzichtet, die den Abschied der Hinterbliebenen dramaturgisch effektvoll darstellt. Nebst der Todesszene erhält auch die Rede auf den toten Helden einen prominenten Ort. Dass diese aber nicht nur ein Schlüssel zur Bedeutung eines Stückes ist, sondern gleichzeitig auch auf historische und gesellschaftliche Begebenheiten verweist, geht aus dieser kenntnisreichen Darstellung anschaulich hervor. L 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X19 Sachbuch Biografie Nelly Kröger-Mann – neu gewürdigt Kirsten Jüngling: «Ich bin doch nicht nur schlecht». Nelly Mann. Die Biografie. Propyläen, Berlin 2008. 238 S., Fr. 41.50. Von Catherine Newmark Sie war der Inbegriff dessen, was man in der Familie Mann eine «Heinrichbraut» nannte: eine üppige Blonde, grobsinnlich – und nicht ganz «comme il faut». In den grossen Darstellungen der MannFamilie taucht sie nur am Rande auf, als tragische oder auch nur peinliche Witzfigur; und selbst in spezialisierten Heinrich-Mann-Biografien erfährt man oft nur wenig über sie: Nelly Kröger, von 1928/29 bis zu ihrem Tod 1944 Heinrich Manns Lebensgefährtin, seit 1939 seine zweite Frau. Von den intellektuellen Zirkeln der französischen und amerikanischen Emigration verspottet, war sie eine Belastung für Heinrichs Bruder Thomas Mann, der sie unerträglich vulgär fand. Sie war eine unglückliche Frau, auch zeit ihres Lebens zu Depressionen neigend, Alkoholikerin unter zunehmendem Kontrollverlust, die zuletzt nach zahlreichen Versuchen endgültig Suizid beging. Aber doch, immerhin, die Schicksalsgefährtin Heinrich Manns, seine letzte grosse Liebe, die blonde, hellhäutige, von ihm in der Figur der Gabrielle d’Estrées in seinem späten Meisterwerk «Henri IV» verewigt. Kirsten Jüngling gelingt es in bewundernswerter Weise, sich von den vielen abwertenden Urteilen, den Schichten von Tadel, Unverständnis und Spott, die auf Nelly Mann lagern, freizumachen, ohne darob in psychologisierende Einfühlsamkeit zu zerfallen. Sie schreibt vielmehr elegant, knapp und sachlich und oft ein bisschen ironisch, stellt ab und an eine Vermutung in den Raum, aber lässt die Interpretation bei aller Sympathie für ihren Gegenstand doch auch angenehm offen. Schwierigkeiten bereitet der biografischen Annäherung an Nelly Kröger vor allem die Tatsache, dass über ihr Leben vor der Verbindung mit Heinrich Mann wenig bekannt ist. Geboren als uneheliches Kind in der Nähe von Lübeck; eine bescheidene, nicht unglückliche Kindheit und Jugend auf dem Land, eine Schneiderlehre. Dann eine erste Ehe mit einem Berliner namens Schmidt, vielleicht ein Kind, bald die Scheidung. Arbeit als Bar- und Animierdame im fröhlichen Berlin der zwanziger Jahre, daselbst Treffen mit dem alternden Erotiker Heinrich Mann, dem sie bald den gemeinsamen Haushalt führt. Daneben gibt es längere Zeit, anscheinend zur allseitigen Zufriedenheit, einen Liebhaber, Rudi Carius mit Namen, auch er Kommunist. Mit ihm flieht Nelly 1933 über die Ostsee und Dänemark schliesslich nach Südfrankreich zu Heinrich, nachdem sie noch dessen Berliner Angelegenheiten und Wohnung abgewickelt hat. Hier bleibt das Paar – Carius zieht schon bald weiter in den Spanischen Bürgerkrieg –, bis die Deutschen 1940 in Frankreich einmarschieren und sie nach einer abenteuerlichen Flucht über die Pyrenäen in Amerika landen. Dort wird keiner von ihnen mehr richtig heimisch. Als Schriftsteller verfiel Heinrich Mann THOMAS MANN-ARCHIV/KEYSTONE Bardame wird Literatengattin Nelly Kröger und ihr späterer Gatte Heinrich Mann, 1938. zunehmend dem Vergessen, seine Frau ihrer Alkoholsucht. Aber Nelly Mann war nicht nur eine Belastung und Bürde für ihren Mann, wie es ihr ungewogene Zeitgenossen gerne darstellten, sondern sie trug über die Jahre durchaus das Ihre zum Funktionieren des Paaralltags bei. Sei es, dass sie in den verschiedenen Exilstationen Wohnungen besorgte und einrichtete, den Haushalt führte oder auch mit harter körperlicher Arbeit für das ewig unter Geldnöten lebende Paar mitverdiente. Eine effiziente Literatengattin wurde sie nie, dazu fehlte es ihr an allem, nicht zuletzt an Bildung. Aber einfach nur schlecht, das zeigt Jünglings gekonnte Auffächerung der vielen Facetten der Nelly Mann, war sie auf jeden Fall nicht. L Koran Das heilige Buch der Muslime in einer gut lesbaren Ausgabe für Kinder und Erwachsene Kunstvolles Gewebe von Geschichten Lamya Kaddor, Rabeya Müller: Der Koran. Für Kinder und Erwachsene. C. H. Beck, München 2008. 234 Seiten mit Abbildungen, Fr. 34.90. Von Monika Jung-Mounib Das Buch hält, was der Titel verspricht. Tatsächlich unterscheidet sich dieser Koran «für Kinder und Erwachsene» in einem grundlegenden Punkt von anderen Übersetzungen und kommentierten Ausgaben: Er ist klar, verständlich und gut lesbar. Die beiden Autorinnen, die Professorin für islamische Religionspädagogik Lamya Kaddor und die Islamwissenschafterin Rabeya Müller, wollen der verbreiteten Unkenntnis über das heilige Buch der Muslime entgegenwir20X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 ken. Gleichzeitig möchten sie Interessierten mit dieser zum Teil sinngemässen statt wortgetreuen Übersetzung den Weg zum Original ebnen. Das Buch, das den Text des Korans auch in arabischer Sprache wiedergibt, ordnet die Suren in zwölf Kapitel nach zentralen Themen wie Gott, Erschaffung der Welt, der Rolle der Frauen und der Bedeutung von Propheten wie Mohammed, Mose und Abraham. Jedes Kapitel endet mit einem Kurzkommentar und Erläuterungen. Ein sinnvolles Vorgehen, da der Koran ein kunstvolles Gewebe mit vielen Geschichten und Lehren ist, die nicht chronologisch erzählt werden. Für Nicht-Muslime sind wohl vor allem jene Geschichten interessant, die einige ihnen vertraute Gestalten betreffen: den Propheten Musa (Moses) etwa oder Isa (Jesus), den Sohn Maryams (Maria). Der Koran sieht ihn zwar nicht als Sohn Gottes, aber als Propheten, und seine Geburt ist auch aus muslimischer Sicht ein Wunder. Auch hier bringt der Engel Gabriel seiner Mutter die Botschaft von der Schwangerschaft. Hingegen bleibt Maryam bei der Geburt ganz auf sich allein gestellt, nur Gott kommt ihr in dieser schweren Lage zu Hilfe. Wissen und Weisheit werden im Koran immer als Einheit beschrieben. Für Menschen mit spirituellen Interessen kann die Lektüre dieses ansonsten oft verschrienen Werkes deshalb eine berührende Erfahrung sein. Zudem wird beim Lesen klar, dass Muslime, Christen und Juden zwar andere Werte haben, dahinter aber die gleichen Bedürfnisse stecken. L Familie Der deutsche Philosoph Dieter Thomä sieht moderne Väter als Lebenshelfer und Vorbild Väterbeschwörung Dieter Thomä: Väter. Eine moderne Heldengeschichte. Hanser, München 2008. 320 Seiten, Fr. 48.−. Endlich! Endlich kommt ein wenig Licht in die Vaterschaft. Man ist ja schon ganz irr geworden ob all den Büchern und Zeitungsartikeln, die andauernd zum Thema publiziert werden, ob all den ausgerufenen und widerrufenen Megatrends: «Schluss mit der Brut», titelt die «Zeit» und prophezeit die Auflösung der Familie; die NZZ schreibt von der «reproduktionsfaulen Gesellschaft», und auch gemäss «Magazin» stecken die «Männer in der Sackgasse». Andere wiederum stellen eine «Sehnsucht nach Altbewährtem» fest («Beobachter») oder beschreiben eine Entwicklung «vom Patriarchen zum Papa» (eine Dokumentation auf Arte). Und erst in der Erziehungsdebatte! Während die Politik als Folge feministischer Anstrengung Familien- und Berufsleben besser aufeinander abstimmt, geht jetzt wie ein kalter Platzregen die neokonservative Rede von «mehr Erziehung», «Disziplin», vom «Wiederfinden des guten Patriarchats» auf uns nieder. Was nun, sind die Männer noch familienwillig? Oder nicht? Braucht es wieder stärkere Väter? Väter im Berufsexil Es ist Zeit für Dieter Thomä. Der deutsche Philosoph, 49-jährig, Vater zweier erwachsener Kinder, Professor in St. Gallen, legt ein Buch vor, auf das wir – ohne es zu wissen – gewartet haben. Thomä geht von der Frage aus, warum es heute viele Männer dankend ablehnen, eine Familie zu gründen und Vater zu werden, schlägt aber einen weiten Bogen um die hysterischen Debatten in den Medien. Er beleuchtet vielmehr die historischen Umstände der Vaterschaft. Mit grosser Gelassenheit besichtigt er die Väter der letzten dreihundert Jahre, Berühmtheiten aus Politik und Wirtschaft, Normalbürger, Romanfiguren, erkundet und analysiert dabei die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und privatem Leben. So begegnet er zunächst den Patriarchen des 18. Jahrhunderts, die gottähnlich und tyrannisch über Frau und Kinder herrschen; nach der Französischen Revolution sind es dann vor allem Väter, die zwischen barscher Autorität und Sentimentalität schwanken, solche, die hin und her gerissen sind zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und dem Dogma der Distanz. Da gibt es auch viele, die ziemlich verkümmert sind, verlegene Väter, die in ihrer Sprach- und Beziehungslosigkeit gefangen sind. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stellt der Autor ein unproduktives Schwanken zwischen der aufdringlichen Anwesenheit und der anstössigen Abwesenheit der Väter fest, oftmals verkörpert in ein und derselben PLAINPICTURE Von Mathias Ninck «Vaterschaft ist ein Tanz»: zwischen hingerissen und standhaft sein. Person. Nach der Entmachtung der Patriarchen gelingt es offensichtlich nicht, die Neuordnung des privaten Lebens ins Lot zu bringen. Weit verbreitet bis in die Gegenwart ist die Vaterlosigkeit jener Familien, in denen der Vater das Exil in die Berufswelt antritt; in der Familie geistert er nur herum, wird zur Randfigur. Die Söhne suchen dann, traurig und wütend, nach den Vätern, die sie im Alltag vermisst haben. Wohltuender Kontrapunkt Dass viele Männer heute bei der Kinderfrage ins Schwanken geraten, ist also das Resultat einer jahrhundertealten Verunsicherung – Thomä zeichnet sie anschaulich und leichtfüssig nach. Diese glänzend geschriebene Väterbesichtigung ist zwar über weite Strecken eine recht traurige Geschichte, der Autor aber bleibt immer hoffnungsfroh: Er sitzt wie ein Reporter auf der Tribüne und kommentiert freudig den Wettstreit der verschiedenen Lebensformen. Wer gewinnt, ist offen, bei wem seine Sympathien sind, wen er innerlich anfeuert – daran lässt Dieter Thomä keinen Zweifel. Sein Buch ist im Grunde eine Väterbeschwörung, eine Ermutigung für alle, die Vater sind oder es einmal werden. Beim Streifzug durch die Geschichte begegnet Thomä nämlich nebst all den Figuren, die in der Sackgasse enden, auch manchem Vater, der wie ein Vorbote einer fernen Zeit Charakterzüge aufweist, die durchaus kinderfreundlich sind. Aus dem his- torischen Ozean der Ideen, wie zu leben sei, fischt Thomä schliesslich die brauchbaren heraus und montiert sie zu einer Haltung, die für moderne Väter adäquat sein könnte. So sieht er den modernen Vater in erster Linie als Lebenshelfer, wobei diesem Vater «die Anleitung zum Leben» nur gelingt, wenn «er das Leben seiner Kinder aus der Nähe kennt». Ein Vater soll davon träumen, dass seinen Kindern, die von inneren und äusseren Hemmnissen und Verlockungen umringt sind, ihr Wünschen gelinge. Er soll sie mit anderen Worten zum Wollen erziehen. Ein Vorbild sein. «Vaterschaft ist ein Tanz, bei dem zwei Bewegungen aufeinander abgestimmt werden müssen: Hingerissen geht der Vater auf das Kind zu, standhaft zieht er es zu sich hin.» Dieter Thomäs Gelassenheit angesichts der ideologischen Minenfelder in der Politik, sein unverfrorener Überschwang bezüglich Familie sind ein wohltuender Kontrapunkt in der heutigen Zeit, wo sich eine «Kultur des Zögerns» ausbreitet, ein Sich-nicht-festlegen-Wollen, weil man etwas verpassen könnte. L 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X21 Sachbuch Naher Osten Arnold Hottinger liefert einen profunden Überblick über die islamischen Staaten Der Islam ist kein monolithischer Block Arnold Hottinger: Die Länder des Islam. Geschichte, Traditionen und der Einbruch der Moderne. NZZ Libro, Zürich 2008. 379 Seiten, Fr. 48.–. Als Korrespondent der «Neuen Zürcher Zeitung» hat sich Arnold Hottinger in 30 Jahren den Ruf als kompetenter Beobachter und verständlicher Erklärer orientalischer Verhältnisse erworben. Diesem Ruf ist er auch treu geblieben, seit er in den Ruhestand getreten ist und sich nicht mehr mit der täglichen Berichterstattung abmühen muss. Denn Hottinger hat das Beobachten, das Nachdenken und das Erklären nicht aufgegeben. Auf geführten Reisen, in Vorträgen, Interviews und Büchern kommt er damit dem stetig wachsenden Bedürfnis der Öffentlichkeit entgegen, Gesellschaft, Kultur und Politik der Araber und der Muslime zu verstehen. Hottingers aktuelles Buch «Die Länder des Islam» bietet erneut einen guten Überblick über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten bis in die unmittelbare Gegenwart. Die Darstellung folgt dabei einer räumlichen und einer zeitlichen Dimension. Den geographischen Raum teilt der Verfasser einerseits in die «Kernländer des Islam» (vom Niltal über Syrien und Mesopotamien zum iranischen Plateau) und deren «Umfeld» (Zentralasien und Pakistan, Jemen, Nordafrika, Kleinasien), andererseits in die drei Landschaftsformen Flusstal, Wüste und trockene, dank Bewässerung jedoch fruchtbare «Übergangsländer». Dominanz des Westens Hottingers erste Botschaft ist, dass es «den Islam» schlechthin gar nicht gibt. In den Muslimen, die ihre Religion leben, und in den Ländern, in denen diese sich festgesetzt hat, hat der Islam unterschiedliche und sich dauernd wandelnde Formen angenommen. Die Korrektur des im Westen Angst einflössenden Bildes vom Islam als einem monolithischen Block, der auf die äusseren Herausforderungen mit blinder Gewalt antwortet, enthebt den Autor freilich nicht der Aufgabe, die extremistischen politisch-religiösen Strömungen zu erklären, die den zeitgenössischen Islam durchziehen. Er erklärt diese im Wesentlichen als Produkt der Auseinandersetzung mit der seit zwei Jahrhunderten wachsenden politischen, kulturellen und technologischen Dominanz des Westens. Der zentrale Teil des Buches zeichnet nach, wie die muslimischen Länder mit diesem Einbruch des Fremden umgegangen sind, 22X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 ESPEN EICHHOEFER/OSTKREUZ Von Jürg Bischoff Der Islam bleibt nach der Dominanz durch westliche Technologien und Werte das einzig «Eigene» in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. wie sie versucht haben, das Wissen und die Techniken der Europäer zu erwerben und sich gleichzeitig gegen deren politische Herrschaft zu wehren. Im abschliessenden Teil des Buches analysiert Hottinger diese Auseinandersetzung mit der Moderne im Militär, in der Erziehung, in der Wirtschaft und in der Religion. Er vermittelt dabei wertvolle Einsichten, zum Beispiel bei seiner Darstellung der Klientelsysteme, die in zahlreichen Ländern das politische Leben prägen. Auch die Entwicklungen im religiösen Denken sind, wie Hottinger zeigt, nur als Frucht der Auseinandersetzung mit dem aus Europa einströmenden Gedankengut zu erklären. Die Überlegenheit rationalen Denkens, das sich in der technischen und politischen Überlegenheit des Westens manifestiert, hat Reformbewegungen ausgelöst, die den Islam von Mystik, Heiligenverehrung und anderen «abergläubischen» Elementen reinigen wollten, damit aber auch Intoleranz, Dogmatismus und Fundamentalismus förderten. Wertvolle Interpretationen Den Aufstieg des Islamismus zur vorherrschenden politischen Ideologie erklärt Hottinger, im Einklang mit der Meinung der meisten Experten, mit dem Scheitern des Nationalismus und anderer aus dem Westen importierten Weltanschauungen. Dass gerade die Religion als Basis der politischen Aktion über- nommen wurde, schreibt er dem Umstand zu, dass der Islam das einzig «Eigene» ist, das den Muslimen nach der Eroberung ihrer Welt durch die westlichen Armeen, Technologien und Werte geblieben ist. Der Grundwiderspruch scheint für Hottinger weder politisch noch gesellschaftlich, sondern kulturell zu sein, nämlich der zwischen überlieferter Weltanschauung und aufgezwungenen Werten, eigener Tradition und fremden Techniken, deren Kenntnis und Anwendung für eine erfolgreiche Entwicklung aber unabdingbar sind. Ein Ende des Konflikts könne nicht mit Gewalt erreicht werden, sagt Hottinger, sondern nur, indem die «Moderne» nicht mehr als etwas Fremdes, sondern als etwas Eigenes empfunden werden kann. So bietet das Buch, trotz Hottingers didaktischer, etwas hölzerner Sprache, eine wertvolle Quelle für Informationen und Interpretationen zu den muslimischen Ländern. Ärgerlich ist die Unterteilung in kleine Kapitel, die oft kaum eine halbe Seite lang sind, den Text zerstückeln, den Lesefluss stören und oft willkürlich zusammengesetzt erscheinen. An einer Stelle sind sogar zwei Abschnitte irrtümlich vertauscht worden. Offensichtlich hat der Verlag seine Aufgabe vernachlässigt, den Text einem sorgfältigen Lektorat zu unterziehen. Hottinger und seine Leser hätten es verdient. L Biotechnologie Der Philosoph Gernot Böhme plädiert für eine Heimkehr in den Körper – der so zu akzeptieren sei, wie er ist Vom Menschen zum Artefakt Gernot Böhme: Ethik leiblicher Existenz. Über unseren moralischen Umgang mit der eigenen Natur. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008. 253 Seiten, Fr. 18.90. Von Manfred Koch Der Mensch ist dasjenige Naturwesen, das sich so lange neu erfindet, bis es sich eines Tages abgeschafft haben wird. Der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme zeigt in seinem jüngsten Buch, wie das «Projekt der menschlichen Selbstgestaltung» durch die moderne Biotechnologie in absehbarer Zukunft dazu führen könnte, dass es so etwas wie eine «Gattung Mensch» nicht mehr gibt. Dank In-vitro-Fertilisation und Pränataldiagnostik hat die Reproduktionsmedizin den Weg zum hergestellten Kind eingeschlagen; sollte es zum Klonen und zur extrauterinen Aufzucht von Föten kommen, werden die Geschlechter Mann und Frau überflüssig. Wenn die Transplantationsmedizin irgendwann nicht mehr lebende Organe einsetzt, sondern Herzmaschinen und Neurochips, könnten realiter «alte Damen» wie Dürrenmatts Claire Zachanassian die Szene betreten, die durch permanenten Austausch von Ersatzteilen tendenziell unsterblich sind (sprich: unvorstellbare Laufzeiten erhalten). Die Gentechnik schliesslich würde durch Konstruktion des Erbmaterials die Züchtung beliebiger Menschen-Exemplare ermöglichen: «Da kein Menschheitskonsens über wünschenswerte Entwicklungsrichtungen und auszubildende Funktionen des Menschen zu erwarten ist, kann es langfristig zur Auflösung der einen Gattung Mensch kommen.» Ethik hat unter diesen Vorzeichen Konjunktur, allerorten werden Kommissionen gebildet, die klären sollen, ob die sich abzeichnende Verwandlung des Menschen in ein Artefakt mit dem herkömmlichen Verständnis von Menschenwürde vereinbar ist. Hier sind es meist die Philosophen, die gegen die «harten» Naturwissenschafter dafür plädieren, die entfesselte Biotechnik moralisch zu bändigen, am alten Typus des durch zufällige Zeugung entstandenen, fehlbaren, hinfälligen – eben natürlichen – Menschen festzuhalten. Aber die philosophische Ethik hat, wie Böhme in seinem gut verständlichen Buch zeigt, selbst beträchtlichen Anteil an der westlichen Tradition der Naturverachtung, auch und gerade an der Verachtung unserer eigenen Leib-Natur. Der Mensch wurde als «animal rational» definiert, als Mischwesen aus Tier und Geist, der «animalische» Anteil war dabei aber fast immer derjenige, wovon er sich durch Selbstbe- herrschung, Erziehung, Bildung absetzen sollte. Kant hat immerhin von «Pflichten des Menschen gegen sich selbst» gesprochen und darunter auch die Sorge für den eigenen Körper gezählt. Bezeichnend ist jedoch seine Begründung: Ohne leibliches Wohlergehen kann sich die vernünftige Persönlichkeit nicht ausreichend entfalten. Wird das Ross nicht gepflegt, kommt auch der Reiter nicht weit. Bis heute, so Böhme, wird unter Achtung der Menschenwürde vor allem die Respektierung der selbstbewussten, sprachfähigen Person verstanden. Die grundlegende Anerkennung jener Natur, die wir alle als leibliche Wesen sind, die einfach nur atmen, schlafen, essen, trinken und lieben wollen, stehe in der Menschenrechtsdiskussion noch aus. Böhme befasst sich erfreulicherweise auch ausführlich mit der «Leibvergessenheit» im Alltag. Gerade die aktuelle Körperkultur ist ja ein drastischer Beleg für den Willen, den eigenen Leib zu instrumentalisieren, ihn zum blossen Mittel der Selbstinszenierung (Schönheitschirurgie, Fitnessindustrie) oder entfremdeter Leistungsdarbietungen (Doping, Viagra) zu machen. Heerscharen von Ernährungsberatern, Ärzten, Physiotherapeuten und Konditionstrainern geben Anleitungen, wie wir mit unseren Körpern zu verfahren haben. Offenbar spüren wir sie nicht mehr genug, um selber zu wissen, was nottut. Wir müssen, schliesst Böhme, wieder lernen, in unserem Leib, der ja unser Leben ist, zu wohnen, durchaus mit Hilfe von regelrechten Leibesübungen (wie Yoga oder Feldenkrais), vor allem aber durch die Entwicklung einer Daseinshaltung, die souverän auch die negativen Erfahrungen – Schmerz, Krankheit, Schwäche – hinzunehmen erlaubt. Die medizinisch gewartete, störungsfreie Körpermaschine ist ein widersinniges Lebensideal. L Seelust Am Gestade zum Bade Das gesellschaftliche Leben in der Schweiz kommt die meiste Zeit ohne institutionelles öffentliches Baden aus. Und falls es einigen unbotmässigen Knaben einfällt, sich zu mehreren nackt und «gut sichtbar!» in den Vierwaldstättersee zu stürzen, werden sie vom Luzerner Stadtpfarrer Thaddäus Müller verpetzt. Da dem Drang zum Bade aber gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts kein Einhalt mehr geboten werden kann, muss die Badeanstalt erfunden werden. Mit Holzwänden, Kabinen und strikter Trennung der Geschlechter. Der Dresscode: «angethan mit sogenannten Schwimmhosen oder einem Schamtuche». Aber 1919 kommt es zur im ganzen Land eifrig kommentierten Revolution: In Weggis wird das erste offene Strandbad der Schweiz eröffnet, Männer und Frauen dürfen gemeinsam baden! Der Kulturgeschichte des Seebadens und der Badeanstalten gewidmet ist das Buch «Seelust». Ein heiteres Werk, appetitlich geschrieben und illustriert, eine gediegene Sehlust. Die grosse Freude an der neu eroberten Freiheit im öffentlichen Raum ist überall spürbar. Jost Auf der Maur Heinz Horat: Seelust. Badefreuden in Luzern. Verlag hier + jetzt, Baden 2008. 162 Seiten, Fr. 38.–. 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X23 Sachbuch Globalisierung Nur gezielte Unterstützung durch die Industrienationen hilft den Ärmsten der Welt aus der Entwicklungsfalle Paul Collier: Die unterste Milliarde. Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann. C. H. Beck, München 2008. 256 Seiten, Fr. 34.90. Von Peter Durtschi Wir leben in einer Welt, in der eine Milliarde Menschen relativen Wohlstand geniesst. Vier Milliarden halten sich in Ländern auf, die wirtschaftlich mit grosser Geschwindigkeit aufholen. Eine weitere Milliarde lebt in rund fünfzig wirtschaftlich stagnierenden Staaten. Dieser «untersten Milliarde» widmet der britische Ökonom Paul Collier sein Buch. Laut Collier, der an der Oxford University lehrt, stecken diese Staaten in einer oder mehreren von vier Entwicklungsfallen fest: Sie werden erstens von bewaffneten Konflikten heimgesucht, oder – zweitens – ihr Ressourcenreichtum erweist sich als Fluch, weil Rohstoffausfuhren die Wettbewerbsfähigkeit der anderen Exportgüter dieses Landes beeinträchtigen. Sie haben drittens keinen direkten Zugang zum Meer, weshalb sie von ihren Nachbarn an der Küste abhängig sind. Und viertens leiden etliche unter ihnen an einer schlechten Regierungsführung. Der Globalisierungszug sei für diese Staaten abgefahren, schreibt Paul Collier, der in Oxford auch das Centre for the Study of African Economies leitet. China und Indien haben Schlüsselpositionen besetzt. Schlimmer noch: Die unterste Milliarde und die übrigen fünf Sechstel der Weltbevölkerung driften immer weiter auseinander. Nun diagnostiziert Collier nicht nur die Probleme. Er schlägt eine breite Palette von Massnahmen zur Abhilfe vor. Zuerst einmal gelte es, die Entwicklungshilfe noch stärker als bisher auf die Länder der untersten Milliarde zu konzentrieren. Dort hat die Hilfe in den letzten 30 Jahren etwa ein Prozent zum jährlichen Wachstum beigetragen; eindrücklich wird diese Zahl erst angesichts der Tatsache, dass das Wachstum in diesen Staaten nahe bei null lag und somit den Unterschied zwischen Stagnation und schwerer kumulativer Rezession ausmachte. «Die Entwicklungshilfe war ein Rückzugsgefecht, das verhinderte, dass alles zusammenbrach», folgert Collier. Er fordert Aktionen, die bisher nicht zum Arsenal der klassischen Entwicklungshilfe gehört haben: Durch einen Abbau der Handelsschranken seitens der reichen und der ärmsten Länder sowie durch einen zeitlich befristeten Schutz vor asiatischen Staaten soll die unterste Milliarde in die Weltwirtschaft eingebunden werden. «Wachstum ist kein Allheilmittel, aber fehlendes Wachstum zerstört alles. Dieses Scheitern des Wachstumsprozesses ist das gewaltige Problem, das wir lösen müssen», schreibt Collier. Daneben gelte es, auch in Sicherheitsfragen aktiver zu werden – gerade in PHOTOTHEK Aktionen für die Zurückgebliebenen Ausbildung fördert den Wachstumsprozess in den ärmsten Ländern der Welt. Postkonfliktsituationen geben Regimes viele Mittel für die Armee aus. Die reichen Staaten müssten dauerhaftere Sicherheitsgarantien abgeben, verlangt Collier. Er gibt gleichzeitig zu, dass die längere Präsenz ausländischer Armeen nach dem Irakkrieg zu einer noch heikleren Angelegenheit geworden ist als früher. Zur Überwindung der Ressourcenfalle schlägt er unter anderem Transparenzinitiativen für Einnahmen aus natürlichen Ressourcen vor; was der Kimberley-Prozess für die Regulierung des Diamantenhandels bewirkt, könnten internationale Chartas beispielsweise für die Ölförderung leisten. Gefordert sind somit die Regierungen; insbesondere die wichtigsten Industrienationen, die in der G-8 zusammengefasst sind, müssten besser aufeinander abgestimmte Instrumente anbieten. Und vor allem ernsthaft helfen, folgert Collier. Letztlich ist er Moralist: Es sei untragbar, dass eine Milliarde Menschen abgenabelt werde; nicht zuletzt wäre eine solche Welt auch eine unsichere Welt, mahnt Paul Collier. L Wirtschaft im Altertum Neue Perspektiven auf das ökonomische Denken der Antike Anfänge wirtschaftlicher Verhaltensweisen Ulrich Fellmeth: Pecunia non olet. Die Wirtschaft der antiken Welt. WBG, Darmstadt 2008. 192 Seiten, Fr. 67.90. Von Geneviève Lüscher Bis anhin begann – gemäss Ulrich Fellmeth – jede wirtschaftshistorische Darstellung mit dem Verdikt, Wirtschaft sei in der Antike kein eigenständiger Bereich menschlichen Denkens und Verhaltens gewesen. Dieser offenbar weit verbreiteten Ansicht tritt der Autor, Dozent an der Universität Stuttgart, vehement entgegen. Auch wenn es damals weder Grossindustrie noch Wertpapiere oder Aktien, ja nicht einmal Papiergeld gab, so existierte gemäss Fellmeth durchaus ein «funktionierender Wirtschaftsprozess», der nicht einfach nur 24X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 ein sich selbst regulierendes System war, sondern von den Menschen rational geplant und gesteuert worden sei. Allerdings, räumt der Verfasser ein, gab es keine Wirtschaftstheorie, welche das Denken und Handeln regelte und gezielt beeinflusste, wohl aber eine «eigene und tradierte Erfahrung,» die zu planvollem wirtschaftlichem Handeln verhalf. Anhand von Fallbeispielen führt der Autor – leider in einem etwas trockenen Stil und wenig gegliederten Text – die Leserschaft durch die antike Welt vom 8. vorchristlichen bis ins 4. nachchristliche Jahrhundert. Er kann zeigen, dass die Wirtschaft einen nicht unbedeutenden Bereich der alltäglichen Lebenspraxis darstellte und sich im Verlaufe der Jahrhunderte auch strukturell entwickelte. Im Schlusskapitel stellt Fellmeth dann die Frage, inwieweit die Beschäftigung mit der antiken Wirtschaft einen aktuellen Nutzen haben könnte. Er glaubt, dass «am einfach strukturierten Modell die Grundkonstanten wirtschaftlicher Entwicklungen und die elementaren wirtschaftlichen Verhaltensweisen studiert werden können». So hätten wir uns angewöhnt, das Primat der Ökonomie und wirtschaftlicher Interessen in fast allen Bereichen des menschlichen Daseins zu akzeptieren. Das sei in der Antike nicht so gewesen. Sie biete «Beispiele für Gesellschaften, in denen Menschen (...) einen breiteren Horizont hatten als die vom ökonomischen Denken überwucherten heutigen Industriegesellschaften». Die Beschäftigung mit der Antike liefert Denkanstösse zum Thema, ob das menschliche Dasein mehr sein könne als die blosse Funktion von ökonomischen Mechanismen. L Zwischenkriegsliteratur Der Schriftsteller Hans Sahl liefert einen reichen Einblick in die Berliner Kultur der Weimarer Republik Pointierte Porträts, hübsche Anekdoten Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten. Das Exil im Exil. Luchterhand Literatur- verlag, München 2008. 511 Seiten, Fr. 38.90. Unter den deutschen Schriftstellern, die Hitler in die Emigration trieb, ist Hans Sahl einer der weniger bekannten. Erst in hohem Alter fand er den Weg zurück nach Deutschland, und sein episches und lyrisches Werk wirkt seltsam fremd innerhalb der deutschen Nachkriegsliteratur. Sahl wurde 1902 in Dresden geboren, verbrachte einen grossen Teil seines Lebens als Journalist und Übersetzer in New York und starb 1993 in Tübingen. Seine Memoiren, die nun im Luchterhand Literaturverlag neu aufgelegt worden sind, verfasste er im letzten Lebensjahrzehnt. Die schwindende Sehkraft zwang ihn, aufs Tonband zu sprechen, und wenn er auch in flüssigem Parlando formuliert, ist sein Bericht doch zuweilen sprunghaft und nicht frei von Wiederholungen. So besitzen diese Erinnerungen nicht den Rang der klassischen Werke dieses Genres, wie wir sie Stefan Zweig, Elias Canetti, Manès Sperber oder Carl Zuckmayer verdanken. Dennoch möchte man das Zeugnis Hans Sahls nicht missen. Es vermittelt Einblick in die verwirrend reiche Berliner Kultur der Weimarer Republik, und die verhaltene Trauer des Chronisten, der seine Heimat verlor und nie wirklich wieder fand, klingt lange im Leser nach. Berlin der zwanziger Jahre Die Erinnerungen von Hans Sahl sind in zwei Teilen erschienen. Der erste Teil trägt den Titel «Memoiren eines Moralisten» und erfasst die Zeit vor der Flucht aus Deutschland. Sahl entstammte dem wohlhabenden, assimilierten jüdischen Bürgertum und verlebte seine Kindheit in Dresden und Berlin. Er studierte in München, Leipzig und Breslau Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie und arbeitete nach der Promotion als Film- und Theaterkritiker für den «Montag-Morgen», das «TageBuch» und den «Berliner Börsen-Courier». Politisch stand er, wie viele Intellektuelle seines Herkommens, auf der Seite der marxistischen Linken: «Wir glaubten nicht an Demokratie», schreibt er, «wir wussten nicht, was das war. Niemand hatte es uns erklärt.» Für Sahls Erinnerungen ist charakteristisch, dass der Autor sich selbst bescheiden zurücknimmt und vor allem von andern berichtet. Darin sieht er auch das Hauptmotiv zur Niederschrift HORST TAPPE/ULLSTEIN Von Urs Bitterli Hans Sahl (1902– 1993), Autor des sozialkritischen Chorwerks «Jemand», kehrte 1989 aus der USA-Emigration nach Deutschland zurück. seiner Memoiren; er wolle, bemerkt er einleitend, die Toten aus «ihrer Vergangenheit befreien» und ihnen «ihre Identität zurückgeben». Dem Leser werden zahlreiche Persönlichkeiten der damaligen Berliner Kulturszene vorgeführt, längst vergessene und solche, die es geschafft haben, ins Inventar der geschichtlichen Erinnerung aufgenommen zu werden. Wir begegnen politischen Publizisten wie Ossietzky, Tucholsky und Schwarzschild; Regisseuren und Schauspielern wie Leopold Jessner, Max Reinhardt und Erwin Piscator; Schriftstellern wie Brecht, Döblin und Glaeser; Leuten vom Film wie Fritz Lang, Sergei Eisenstein, Peter Lorre und Asta Nielsen. Sahl gelingen pointierte Porträts und hübsche Anekdoten, welche unser Bild vom geistigen Berlin der zwanziger Jahre um eine eigene Nuance bereichern. Uraufführung in Zürich Der zweite Teil von Sahls Memoiren trägt den Titel «Das Exil im Exil». Nach der Übertragung der Macht an Hitler floh Hans Sahl über Prag nach Zürich und von hier nach Paris. In Zürich stieg er in der Pension Bickel an der Plattenstrasse ab und hatte engen Kon- takt mit den Emigranten am Schauspielhaus, mit Kurt Hirschfeld, Ernst Ginsberg, Teo Otto, Leonard Steckel und anderen, die, wie er schreibt, «sich anzupassen suchten an eine Idylle, die ihnen nicht recht zu Gesicht stand, die doch probiert, auswendig gelernt und zu Ende gespielt werden musste». In der Schweiz durfte Sahl nicht bleiben: «Man verfuhr», urteilt er mit jener Altersmilde, die seinen Bericht kennzeichnet, «ein wenig unsanft mit Flüchtlingen, die keine Aufenthaltserlaubnis hatten.» Und doch wurde Zürich zum Schauplatz von Sahls grösstem literarischem Erfolg. Hier wurde sein gesellschaftskritisches Chorwerk «Jemand», mit der Musik von Tibor Kasics, Heinrich Gretler als Sprecher und einigen hundert Sängern, uraufgeführt – ein Höhepunkt in der Geschichte des Schweizer Arbeitertheaters. Die Emigration in die USA gelang mit Hilfe des amerikanischen Fluchthelfers Varian Fry, dessen Komitee in Marseille tätig war und auch andern Schriftstellern wie Franz Werfel, Lion Feuchtwanger und Heinrich Mann die Ausreise aus Frankreich ermöglichte. Der Titel des zweiten Teiles von Sahls Memoiren spielt auf die doppelte Isolation an, welcher der Autor in den USA ausgesetzt war: Er verlor nicht nur seine Heimat, sondern auch, da er sich vom Kommunismus losgesagt hatte, den Kontakt zu den emigrierten Genossen. Hinzu kam die materielle Not; Übersetzungsarbeiten sicherten ein prekäres Überleben. Später arbeitete er als Kulturkorrespondent für deutschsprachige Zeitungen in Europa, darunter auch für die «Neue Zürcher Zeitung», und übersetzte Werke der amerikanischen Schriftsteller Tennessee Williams, Arthur Miller und Thornton Wilder, dem er persönlich besonders nahe stand. Auch in den USA pflegte Sahl die Verbindung mit zahlreichen Intellektuellen, und die Seiten, die er Erich von Kahler und Paul Tillich, Hermann Broch und Erich Maria Remarque, Thornton Wilder und Edmund Wilson widmet, sind aufschlussreich und zuweilen amüsant. Im Jahre 1989, mit 87 Jahren, kehrte Sahl endgültig nach Deutschland zurück. Dem nun vorliegenden Band von Sahls Erinnerungen will der Luchterhand Literaturverlag weitere Werke des Schriftstellers, insbesondere den 1959 erschienenen Emigrantenroman «Die Wenigen und die Vielen» folgen lassen. Im Nachkriegsdeutschland mochte man solche Bücher nicht lesen. Vielleicht findet Sahls Werk heute die Leser, die es verdient. L Urs Bitterli war bis 2001 Professor für neuere Geschichte an der Uni Zürich. 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X25 Sachbuch Exil Für viele Musiker war Frankreich ein Transitland – zur Freiheit oder in die Deportation Flucht aus dem Vorhof der Hölle Michel Cullin, Primavera Driessen Gruber (Hrsg.): Douce France? Musik-Exil in Frankreich 1933–1945. Böhlau, Wien 2008. 544 Seiten, Fr. 82.90. Von Fritz Trümpi Auch Frankreich war kein sicherer Hafen: Wer vor den Nazis fliehen musste, fand dort zunächst zwar oft Aufnahme, war dadurch aber weder vor einer sich fortsetzenden Flucht noch vor der Deportation ins Konzentrationslager gefeit. Der vorliegende Band über exilierte Musiker und Musikerinnen aus Deutschland und Österreich zeichnet in seinen zahlreichen Darstellungen persönlicher Lebenswege Betroffener ein drastisches Bild. Aus ihrem Heimatland vertrieben, wurden sie als «Staatsangehörige feindlicher Staaten» oftmals in Internierungslager gesteckt, kaum hatten sie die Landesgrenze überschritten: Zwischen 1939 und 1946 dürften sich rund 600 000 Internierte auf etwa 200 französische Lager verteilt haben. Angesichts der NS-Todesfabriken beschrieben Überlebende diese Lager zwar gerne als «5-Sterne-Lager», aber wer aus ihnen nicht entweichen konnte, lief Gefahr, früher oder später nach Osten deportiert zu werden, so die Historikerin Dominique Lassaigne. Auch die Herausgeberin des doppelsprachig erschienenen Buches stellt den Transitcharakter Frankreichs ins Zentrum und zeigt dies in zwei biografischen Studien mit unterschiedlichen, aber typischen Ausgängen. Dem Wiener Musiker Erwin Weiss gelang von Frankreich aus die Flucht nach Grossbritannien, während der aus Lodz stammende Kan- tor Samuel Taube nach Frankreich emigrierte, von wo er 1943 nach Auschwitz deportiert wurde. Taube überlebte, weil er einem SS-Offizier mit dem Singen von «Dein ist mein ganzes Herz» imponierte. Wahnwitzige Geschichten, die jedoch exemplarisch sind, auch für das französische Exil. Der französische Schriftsteller André Gide, der die neu angekommenen Künstler 1933 noch damit begrüsste, für Begabung gebe es keinen Einfuhrzoll, stand wenige Jahre später auf verlorenem Posten, als die ersten «Lager für unerwünschte Ausländer» eingerichtet wurden. Einmal mehr erwies sich aber die transatlantische Differenz als wirksam: US-amerikanische Initiativen machten sich daran, möglichst vielen Personen mit Erfolg die Flucht aus dem Vorhof der Hölle zu ermöglichen. L Das amerikanische Buch Daniel Boone – Pionier und Mythos der USA Es erstaunt, dass bislang keine deutschsprachige Lebensgeschichte des Grenzers Daniel Boone existiert, obwohl dieser als Vorbild für James Fenimore Coopers «Lederstrumpf» unsere Vorstellung über die Frühgeschichte der USA prägt. «Frontiersman» leistet Pionierarbeit, indem Brown das Leben seines Protagonisten in die politische, kulturelle und nicht zuletzt rechtliche Landschaft seiner Zeit einordnet. Dabei dient der Titel als Leitfaden. Brown zufolge lebte Boone nicht nur in einer dynamischen, geografischen Grenzzone, die sich von seiner Geburt 1734 bis zu seinem Tod 1820 von der Atlantikküste bis tief hinein nach Missouri bewegt hat. Als Führer einer Pioniersippe und Adoptiv-Indianer «Grosse Schildkröte», als Bodenspekulant, Politiker und Soldat unter britischer, spanischer und amerikanischer Flagge hat der Sohn einer Quäkerfamilie auch einen sozio-kulturellen Grenzraum mitgestaltet, in dem die politischen Rahmenbedingungen und Loyalitäten ebenso fliessend waren wie die Identitäten der handelnden Figuren. Brown 26X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 Er prägt das Bild der Frühgeschichte der USA: Daniel Boone (1734–1820), hier in Kentucky (Zweiter von links). Autor Meredith M. Brown (unten). PHOTO RESEARCHERS/KEYSTONE Mit 13 Jahren war er schon ein ausgezeichneter Schütze und ging in Pennsylvania lieber auf die Hirschjagd, als die Schulbank zu drücken. Aber als Daniel Boone 1767 über das Appalachen-Gebirge in «die dunklen und blutigen Gründe» von Kentucky vorstiess, las er seinen Gefährten aus «Gullivers Reisen» vor. Das erzählt Meredith M. Brown in Frontiersman. Daniel Boone and the Making of America (Louisiana State University Press, 416 Seiten), einer höchst aufschlussreichen, ebenso sorgfältig recherchierten wie unterhaltsamen Biografie des Pioniers. Brown hat an der Harvard University amerikanische Geschichte studiert und danach in New York als Anwalt gearbeitet. arbeitet heraus, wie die Indianer in dieser Grenzzone operierten und sich als Mitspieler im Pelzhandel den Europäern annäherten, während gerade Boone ihre Wesenszüge annahm. Gleichzeitig wurde Boone schon um 1780 eine mythische Figur. Er taucht in populären Romanen und den Reden amerikanischer Politiker auf. Diese missbrauchten ihn als Symbol der «schicksalhaften Bestimmung» der USA, den Kontinent bis zum Pazifik zu unterwerfen. Die Indianer wurden dabei als blutrünstige Wilde gezeichnet, für Brown eine Mischung aus «schlechtem Gewissen und Rechtfertigung für deren Vertreibung und Vernichtung». «Frontiersman» hebt dagegen auf den «homo oeconomicus» Boone ab und erklärt, dass dieser sich zwar exzellent auf die Jagd verstanden hat und Zeit seines Lebens kein Interesse an Ackerbau und Viehzucht empfand. Aber der listen- reiche, mit enormer Ausdauer und körperlicher Kraft gesegnete Waldläufer war kein romantischer Abenteurer, sondern Zulieferer eines lukrativen transatlantischen Handels. Dabei erkannte Boone, dass seine rücksichtslosen Jagdzüge die Grundlage seiner Existenz zerstörten. Er tröstete sich stets mit den unberührten Wildbeständen weiter im Westen. Nach der Ausrottung der Pelztiere und der Austreibung der Indianer wurde das Land selbst zum Gegenstand ungezügelter Gier. Als Vater von zehn Kindern stets auf der Suche nach Einnahmequellen, hat sich Boone in Kentucky als Landvermesser betätigt. Aber er war zu ungeschliffen, um seine Ansprüche gegen Politiker und Juristen durchzusetzen. So war er bis zu seinem Lebensende in Prozesse verwickelt, die ihn finanziell ruiniert haben. L Von Andreas Mink Agenda China Milliardenvolk zwischen Tradition und Moderne Agenda September 08 Basel Dienstag, 9. September, 19 Uhr Lotta Suter: Kein Frieden mehr. Lesung und Gespräch, Fr. 15.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50. Donnerstag, 11. September, 19 Uhr Donnerstag, 18. September, 19 Uhr AP Hansjörg Schertenleib: Das Regenorchester. Buchpremiere und Lesung, Fr. 15.–. Literaturhaus (s. oben). Gilles Leroy: Alabama Song. Lesung, Fr. 15.–. Literaturhaus (s. oben). Dienstag, 23. September, 19 Uhr Adolf Muschg: Kinderhochzeit. Lesung und Gespräch, Fr. 15.–. Literaturhaus (s. oben). Bern Montag, 8. September, 20 Uhr Franz Hohler: Das Ende eines ganz normalen Tages. Lesung, Fr. 12.–. Thalia Bücher, im Loeb, Tel. 031 320 20 20. Kasachische Hirten sehen einer Tänzerin zu, die anlässlich einer Beschneidungszeremonie im AltaiGebirge auftritt. Dieses Bild des Fotografen Reza ist 1996 in Xinjiang Uigur entstanden. Es gehört zu einem reichhaltigen Bild- und Textband, der ein China der extremen Gegensätze zeigt: Ethnische Minderheiten mit ihren archaischen Gebräuchen gehören ebenso zu ihm wie boomende Städte, gewaltige Industriepro- jekte und eine hedonistische Jugend. Klassische Aufnahmen von Henri Cartier-Bresson und Marc Riboud werden kontrastiert mit Meistern der Gegenwart wie Michael Wolf und Tony Law. Kluge Texte von sechs China-Experten ergänzen den sorgsam gestalteten Band. Manfred Papst China. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. Terra Magica/F. A. Herbig, München 2008. 272 Seiten, Fr. 70.–. Mittwoch, 10. September, 20 Uhr Guido & Ueli Schmezer: Ein Berner namens ... Vernissage mit Lesung, Gespräch, Musik, Fr. 12.–. Thalia (s. oben). Freitag, 12. September, 20 Uhr Gunhild Kübler: Noch Wünsche? Lesung, Fr. 15.–. RAUM, Militärstrasse 60. Anmeldung: Tel. 031 332 13 46. Zürich Bestseller August 2008 Mittwoch, 10. September, 20 Uhr Cecelia Ahern: Ich hab dich im Gefühl. 1 Krüger. 416 Seiten, Fr. 29.90. 2 Zsolnay. 608 Seiten, Fr. 48.–. 3 Dumont. 219 Seiten, Fr. 27.50. 4 Heyne. 464 Seiten, Fr. 34.90. 5 Diogenes. 384 Seiten, Fr. 38.90. 6 Diogenes. 352 Seiten, Fr. 38.90. 7 Diogenes. 272 Seiten, Fr. 35.90. 8 Heyne. 384 Seiten, Fr. 34.90. 9 Hoffmann und Campe. 120 Seiten, Fr. 28.50. 10 Bloomsbury. 381 Seiten, Fr. 39.90. Henning Mankell: Der Chinese. Charlotte Roche: Feuchtgebiete. John Grisham: Berufung. Donna Leon: Lasset die Kinder zu mir kommen. Ingrid Noll: Das Kuckuckskind. Martin Suter: Der letzte Weynfeldt. Nicholas Sparks: Bis zum letzten Tag. Siegfried Lenz: Schweigeminute. Khaled Hosseini: Tausend strahlende Sonnen. Sachbuch Rhonda Byrne: The Secret. Das Geheimnis. 1 Goldmann. 237 Seiten, Fr. 30.90. 2 Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 38.80. 3 Malik. 346 Seiten, Fr. 35.40. 4 Goldmann. 398 Seiten, Fr. 27.50. 5 Nymphenburger. 200 S., Fr. 32.–. 6 Droemer/Knaur. 239 Seiten, Fr. 27.50. 7 Gütersloher Verlag. 191 S., Fr. 32.90. 8 Orell Füssli. 848 Seiten, Fr. 39.–. 9 Omega. 136 Seiten, Fr. 19.50. 10 Heyne. 207 Seiten, Fr. 34.90. Der Duden: Die deutsche Rechtschreibung. Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg. Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Rüdiger Schache: Das Geheimnis der Herzmagneten. Samstag, 13. September, 14–19 Uhr MehrDeutschSprachig – Literaturfest Nagel & Kimche. Lesungen und Gespräche, Fr. 20.–. Kaufleuten, Klubsaal, Tel. 044 225 33 77. Dienstag, 16. September, 20 Uhr Adalet Agaoglu: Sich hinlegen und sterben. Lesung, Fr. 15.– inkl. Apéro. Zunfthaus zur Schmiden (s. oben). Bernhard Moestl: Shaolin. Michael Winterhoff: Warum Kinder Tyrannen werden. Dienstag, 16. September, 20 Uhr Alice Schwarzer: Romy Schneider – Mythos und Leben. Lesung, Fr. 35.–. Kaufleuten, Klubsaal (s. oben). Ernst J. Schneiter: Zivilgesetzbuch. Bärbel Mohr: Bestellungen beim Universum. Ulrich Strunz: Die neue Diät. Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 20. 8. 2008. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Bücher am Sonntag 9/08 erscheint am 28. 9. 2008 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X27 SAGNAK Belletristik Franz Hohler und Charles Lewinsky: Gegenseitige Präsentierung der neuen Bücher. Fr. 15.– inkl. Apéro. Zunfthaus zur Schmiden, Marktgasse 20. Literaturhaus, Tel. 044 254 50 00.