Inhaltsirrtum, § 119 I Fall 1 BGB
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Inhaltsirrtum, § 119 I Fall 1 BGB
Rechtsfolgen von Willensmängeln • Nichtige Willenserklärung (bei bewusster Divergenz) - § 116 Satz 2 (erkannter Vorbehalt) - § 117 (Scheinerklärung) - § 118 (Scherzerklärung) • Anfechtbare Willenserklärung - bei unbewusster Divergenz § 119 I Fall 1 (Inhaltsirrtum) § 119 I Fall 2 (Erklärungsirrtum) § 120 (unrichtige Übermittlung) - bei erheblichen Willensbildungsfehlern § 119 II (Eigenschaftsirrtum) § 123 I Fall 1 (arglistige Täuschung) § 123 I Fall 2 (Drohung) • Gültige Willenserklärung (alle anderen Mängel, insbesondere:) - Sonstige Willensbildungsfehler (Motivirrtum) - § 116 Satz 1 (geheimer Vorbehalt) Vorlesung BGB-AT Prof. Dr. Florian Jacoby Folie 197 Veranschaulichungsbeispiele • A aus Hamburg bestellt in einer Kölner Kneipe einen „halven Hahn“ in dem Glauben, er bekomme damit ein halbes Hähnchen, tatsächlich handelt es sich dabei um ein Roggenbrötchen mit Käse: Inhaltsirrtum (§ 119 I Fall 1 BGB) • K schreit während Vertragsverhandlungen „Ja“ zu einem Vertragsangebot, war aber bereits eingeschlafen: Kein Handlungswille, keine Willenserklärung. • K unterschreibt einen Stapel Briefe, die er allesamt für Weihnachtswünsche hält, tatsächlich ist aber eine Bestellung über Ware an V dabei, die diesem zugeht und die dieser annimmt: Potentielles Erklärungsbewusstsein (§ 119 I BGB analog) • V will dem K ein Buch für 64 € verkaufen, er schreibt/sagt aber irrtümlich 46 €: Erklärungsirrtum (§ 119 I Fall 2 BGB). • B denkt mit X zu sprechen, spricht aber mit Y, bei dem er ein Werk in Auftrag gibt. • X will eine Kette von V für 50 € kaufen, - weil er sie für aus Gold beschaffen hält: Eigenschaftsirrtum (§ 119 II BGB), - weil er sie für wertvoller hält: unbeachtlicher Motivirrtum. Vorlesung BGB-AT Prof. Dr. Florian Jacoby Folie 198 Bewusstes Abweichen von Wille und Erklärung Erklärender will die von ihm erklärte Rechtsfolge nicht, §§ 116-118 BGB: • Geheimer Vorbehalt (§ 116 BGB) - Erklärender behält sich insgeheim vor, das Erklärte nicht zu wollen. - Bei Unkenntnis des Vorbehalts Erklärung im Interesse des Unwissenden gültig, § 116 S. 1 BGB; bei Kenntnis des Vorbehalts Willenserklärung nichtig § 116 S. 2 BGB • Scheingeschäft (§ 117 I BGB) - Erklärender gibt eine empfangsbedürftige Willenserklärung mit Einverständnis des Erklärungsempfängers nur zum Schein ab – „simuliertes Geschäft“ - Scheingeschäft nichtig § 117 I BGB; verdecktes Geschäft gem. § 117 II BGB gültig, wenn es allen Gültigkeitsanforderungen entspricht • Scherzgeschäft (§ 118 BGB) - Erklärung nicht ernsthaft gemeint - Erklärender geht davon aus, Nichternstlichkeit wird erkannt, - Nichtigkeit der Willenserklärung; Schutz des Erklärungsempfängers nach § 122 BGB Vorlesung BGB-AT Prof. Dr. Florian Jacoby Folie 199 Anfechtung • Voraussetzungen - Anfechtungsgrund (§§ 119, 120, 123 BGB) - Anfechtungserklärung Erklärung, § 143 I BGB gegenüber richtigem Anfechtungsgegner, § 143 II – IV BGB rechtzeitig, §§ 121, 124 BGB • Rechtsfolgen - Nichtigkeit ex tunc, § 142 I BGB - Schadensersatz, § 122 BGB Vorlesung BGB-AT Prof. Dr. Florian Jacoby Folie 200 Beispiel • K unterschreibt einen Stapel Briefe, die er allesamt für Weihnachtswünsche hält, tatsächlich ist aber eine Bestellung über 5 Laptops zum Preis von je 500 € an V dabei. • K hatte diese Bestellung eigentlich erst prüfen sollen, die war dann aber so in die Unterschriftsmappe gerutscht. • Die Bestellung geht V zu, der umgehend die Laptops ausliefert. • Seine Lieferbedingung sehen vor, dass er sich das Eigentum an der ausgelieferten Ware bis zur vollständigen Kaufpreiszahlung vorbehält. • Als die Lieferung bei K eingeht, ist er schockiert. Er hatte gerade bei einem anderen Händler Laptops bestellt. Er ruft V an und erklärt, das Geschäft nicht gewollt zu haben und es nun nicht erfüllen zu wollen. Ansprüche des V? Vorlesung BGB-AT Prof. Dr. Florian Jacoby Folie 201 Lösung des Beispiels I Ansprüche des V gegen K I. Auf Kaufpreiszahlung aus Kaufvertrag (§ 433 II BGB) 1. Einigung Auslegung des Schreibens von K ergibt, dass Angebot vorliegt, 5 Laptops zu je 500 € zu kaufen. Annahme stillschweigend durch Ausführung des Vertrags. 2. Nichtigkeit wegen Willensmangels des K nach § 142 I BGB a) Anfechtungsgrund Mangels Erklärungsbewusstsein kein Irrtum nach § 119 I BGB Berechtigt fehlendes Erklärungsbewusstsein zur Anfechtung? Keine ausdrückliche Regelung im BGB, also Lücke, wie soll die Lücke geschlossen werden? Vorlesung BGB-AT Prof. Dr. Florian Jacoby Folie 202 Lösung des Beispiels II (M 1) WE schon nach § 118 BGB analog nichtig, Anfechtung entbehrlich. (M 2) WE liegt bei fehlendem Erklärungsbewusstsein immer vor, ist aber nach § 119 I Fall 1 BGB analog anfechtbar. (M 3) WE liegt vor, wenn der Erklärende bei Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen können, dass sein Verhalten als WE aufgefasst werden könnte; dann anfechtbar nach § 119 I Fall 1 BGB analog. b) Anfechtungserklärung - Telefonanruf des K ist als Anfechtungserklärung, § 143 I BGB, auszulegen - V ist richtiger Anfechtungsgegner, § 143 II BGB - Erklärung erfolgte sofort und damit rechtzeitig, § 121 BGB 3. Ergebnis: Folglich kein vertraglicher Erfüllungsanspruch. Vorlesung BGB-AT Prof. Dr. Florian Jacoby Folie 203 Lösung des Beispiels III II. Auf Rückübereignung der Laptops aus § 812 I 1 Fall 1 BGB Dann müsste K Eigentum erlangt haben, Übereignung nach § 929 Satz 1 BGB war aber nach § 158 I BGB aufschiebend auf die Kaufpreiszahlung bedingt und daher nicht wirksam. V ist noch Eigentümer, hat keinen Anspruch auf Rückübereignung. III. Anspruch auf Herausgabe der Laptops 1. Herausgabe aus § 122 I BGB a) Nichtigkeit einer WE nach § 118 oder §§ 142, 119 BGB b) Vertragerklärung ist Vertragspartner V gegenüberabzugeben c) Kein Ausschluss nach § 122 II BGB d) Schaden: Besitzverlust durch Lieferung ist rückabzuwickeln e) Ergebnis: Anspruch besteht. Vorlesung BGB-AT Prof. Dr. Florian Jacoby Folie 204 Lösung des Beispiels IV 2. Herausgabe aus § 985 BGB a) Besitz des K b) Eigentum des V c) Kein Recht zum Besitz (§ 986 BGB) aus nichtigem Kaufvertrag d) Ergebnis: Anspruch besteht! 3. Herausgabe aus § 812 I 1 Fall 1 BGB a) Besitz erlangt b) Durch Leistung (zur Erfüllung des Kaufvertrags) c) Ohne Rechtsgrund (Kaufvertrag nichtig) d) Ergebnis: Anspruch besteht IV. Anspruch auf Ersatz sonstiger Vertrauensschäden Voraussetzungen des § 122 I BGB liegen vor, Bestehen eines Schadens ist Tatfrage. Vorlesung BGB-AT Prof. Dr. Florian Jacoby Folie 205 Inhaltsirrtum, § 119 I Fall 1 BGB • Irrtum über den Inhalt - Inhalt der (wirksamen) WE (Auslegung): Was hat er erklärt? - (Geschäfts-)Wille des Erklärenden: Was wollte er erklären? - Divergenz (unbewusstes Auseinanderfallen) Zu unterscheiden vom Auseinanderfallen (Dissens) der (zwei) Willenserklärungen der Vertragsparteien (§§ 145 ff. BGB), einen solchen Dissens verhindert regelmäßig Auslegung nach §§ 133, 157 BGB. • Erheblichkeit des Irrtums (Kausalität) Vorlesung BGB-AT Prof. Dr. Florian Jacoby Folie 206 Erklärungsirrtum, § 119 I Fall 2 BGB • Irrtum über den Erklärungstatbestand - Inhalt der (wirksamen) WE (Auslegung): Was hat er erklärt? - (Geschäfts-)Wille des Erklärenden: Was wollte er erklären? - Divergenz (unbewusstes Auseinanderfallen) Zu unterscheiden vom Auseinanderfallen (Dissens) der (zwei) Willenserklärungen der Vertragsparteien (§§ 145 ff. BGB), einen solchen Dissens verhindert regelmäßig Auslegung nach §§ 133, 157 BGB. • Erheblichkeit des Irrtums (Kausalität) Vorlesung BGB-AT Prof. Dr. Florian Jacoby Folie 207 Eigenschaftsirrtum, § 119 II BGB • Sache: weites Verständnis, über § 90 BGB hinaus (Beispiel: Rechtskauf, § 453 BGB) • Eigenschaft: jeder prägende Faktor der Sache selbst • Verkehrswesentlich: für die Wertschätzung objektiv erheblich • Irrtum: Auseinanderfallen von Vorstellung und Wirklichkeit (Motivirrtum) Vorlesung BGB-AT Prof. Dr. Florian Jacoby Folie 208