SECHS HOTELS

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SECHS HOTELS
SECHS HOTELS
Von
Israel Horovitz
Deutsch von Klaus Chatten
Alle Rechte vorbehalten
Unverkäufliches Manuskript
Das Aufführungsrecht ist allein zu erwerben vom Verlag
__________________________________________________________________________________________
gallissas
theaterverlag und mediaagentur GmbH
wielandstr. 17 – 10629 berlin
fon: 030-31 01 80 60 20 – fax: 030-31 01 80 60 10
SECHS HOTELS
Von
Israel Horovitz
Deutsch von Klaus Chatten
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1. Farnknospen und Liebespaare
PERSONEN
EMMA, um die 30, dunkelhaarig, gutaussehend.
ELSA, um die 30, blond, schrullig.
NOAH, um die 35, klein gewachsen, schrullig.
JERRY, um die 35, groß gewachsen, attraktiv.
ZEIT
Nacht. Gegenwart.
ORT
Ein Hotelrestaurant.
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Im Dunkeln das traurige Solo eines Cellos. Rascher Lichtwechsel auf ein Restaurant.
Gegenüber von Noah, einem Zahnarzt, sitzt Emma, 30, dunkelhaarig, schlank, gutaussehend. Noah
ist etwas älter als Emma und leicht rundlich. Emma befindet sich mitten in einem Satz.
EMMA: ... legt also seine Hand auf meinen Oberschenkel... Wie heißt dieser große, vierteilige
Oberschenkelmuskel hier?
NOAH: Ähm, „Oberschenkel“?
EMMA: Oberschenkel. Und küsst mich, ja, extrem feucht... Und setzt auf einmal diesen seltsam
verwirrten Blick auf und sagt in so einer echt tiefen, verhauchten Nachtprogrammstimme zu mir,
dass ich nach Pflaume schmecke.
NOAH: Allen Ernstes!
EMMA: Allen Ernstes!
NOAH: Nach Pflaume?
EMMA: Und mir war glasklar, dass Schluss ist.
NOAH: Wieso...?
EMMA: Er hat mich zwei Jahre lang nicht geküsst und... Und er hat mit was anderem gerechnet. Er
hat gedacht...
NOAH: Oh...
EMMA: Drei Wochen lang war meine Schwester eingezogen, und dann fand ich...
NOAH: Du hast eine Schwester?
EMMA: Ja. Eine Zwillingsschwester.
NOAH: Das wusste ich wirklich nicht. Wir haben Zwillinge.
EMMA: Ich weiß. Ich hab die Fotos gesehen.
NOAH: Ach, ja. Wirklich komisch.
EMMA: Was?
NOAH: Dieser Zufall. Ganz am Anfang, als ich meine Praxis eröffnet habe, musste ich einer
Patientin
sehr komplizierte Keramikhaftschalen auf die Schneidezähne setzen. Ich bin also wirklich sehr nah
an sie ran, fast in ihrem Rachen, und sie zieht den Kopf zurück und sagt: „Sie riechen nach
Pflaume, Dr. Bellman.“
EMMA: Das ist wirklich passiert?
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NOAH: Ehrenwort.
EMMA: Das denkst du dir nicht aus?
NOAH: Wirklich. Komisch, was? Wir riechen beide nach Pflaume.
EMMA: Sie nicht, oder? So habt ihr euch nicht kennen gelernt?
NOAH: Nein, nein. Ich habe sie erst zwei Jahre später kennen gelernt.
Elsa tritt auf, um die Bestellung aufzunehmen.
ELSA: Bleibt´s bei Leitungswasser, oder wollt ihr auf Kohlensäure umsteigen?
NOAH: Alles okay.
EMMA: Ja.
ELSA: (füllt die Gläser nach) Wollt ihr bestellen? Ich will euch nicht drängeln.
NOAH: Kein Problem.
ELSA: Heute Abend empfehlen wir ganz besonders eine Kombination aus Farnknospen mit auf
Holzkohle gegrilltem Boeuf Stroganoff und in hellbrauner Butter sautiertem Rochen. 26 Dollar.
Oder Farnknospen Dijoner Art mit Hammel. 29 Dollar. Beides wird serviert mit mit Knoblauch
angebratenem Püree aus Yukon-Kartoffeln, Brokkoli und hauseigenen Artischocken.
NOAH: Ich nehme die Farnknospen Dijoner Art mit Hammel, und meine Begleitung...
EMMA: Das nehm ich auch.
ELSA: Sehr gute Entscheidung. Der Hammel ist hervorragend. Und die Farnknospen Dijoner Art
sind nicht von dieser Welt. In der Soße ist allerdings eine ganz leichte Spur entrahmter Buttermilch.
Ich weiß nicht, ob ihr...
NOAH: Wir bleiben bei dem Hammel.
ELSA: Ich stell mich da gerade ein bisschen blöd an. Ja, klar. Wirklich komisch. Muss ich Eric
erzählen. Wir empfehlen heute ganz besonders kalifornischen Wein, Marke Ortolan, Grünen
Veltliner aus Österreich von 2004, hervorragender Jahrgang...
NOAH: Ich nehme einen Côtes-du-Rhône.
ELSA: Ja, das sieht gut aus.
NOAH: (zu Emma) Côtes-du-Rhône okay?
EMMA: Ja. Klar. Okay.
ELSA: Als Hors d´Oeuvre hätte ich einen Salat aus pochierten Erbsen, Gorgonzola und Spinat in
Johannisbeer-Vinaigrette und/oder in Grieß eingelegte Calamari leicht angebraten in Marinara
Sauce und Kapernremoulade. Beides sehr lecker.
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NOAH: Klingt gut. Dann nehmen wir beides. (Zu Emma.) Wenn dir das recht ist?
EMMA: Ja.
NOAH: (zu Elsa) Der Koch kennt sich doch mit Farnknospen aus, oder? (Erklärt es Emma.)
Farnknospen sind nämlich giftig, wenn man sie nicht auf den Punkt kocht. Und man muss sie erst
beim Verzehr auswickeln. Wenn sie sich strecken, können sie dir das Leben kosten.
ELSA: Das gehört wohl eher in den Bereich der Großstadtmythen. Wenn Farnknospen nicht lange
genug gekocht werden, sind sie leicht toxisch, aber nicht giftig. Eric lebt in Hudson, baut seinen
Straußenfarn selbst an und erntet die Farnknospen eigenhändig. Man kann sich nur was holen, wenn
man sie zu kurz kocht. Die empfohlene Zeit liegt bei zehn Minuten, bei uns ist sie bei zwölf. Also,
keinen Grund zur Sorge. Ich heiße übrigens Elsa. (Sie wartet auf eine Antwort, die ausbleibt.) Und
du?
EMMA: Oh, äh, ich bin Emma.
NOAH: Ich bin Noah Bellman. Zahnarzt im kosmetischen Bereich. Wer ist Eric?
ELSA: Besitzer und Küchenchef in Personalunion. Seid ihr zum ersten Mal hier?
NOAH: Ja, gewissermaßen.
EMMA: Ja. Das erste Mal.
ELSA: Schön, euch kennen zu lernen. Ich leite eure Bestellung weiter und wenn ihr sonst noch was
braucht, na, ihr wisst schon: Einfach rufen! Dann nehme ich meine Beine unter die Arme. Ihr habt
einen Freund im Leben mehr. (Lächelt.)
NOAH: Ah, „Love“ von Carole King. Als ich ich klein war, hat meine Mutter „Tapestry“ praktisch
durchgespielt.
ELSA: Und wo bist du aufgewachsen?
NOAH: In der Upper West Side. Und du?
ELSA: In Nevada.
NOAH: Ach, wirklich? Meiner Meinung nach ist mir bis jetzt... Du weißt, was ich...
ELSA: Ein paar von uns sind schon weg. André Agassi ist aus Nevada.
NOAH: Ist er nicht Grieche?
ELSA: Aus Nevada.
NOAH: Bist du so eine Art Veganerin?
ELSA: Das wäre für mich das Allerletzte. Ich bin von gutem Essen nahezu besessen.
„Feinschmeckchen macht Bettelsäckchen“. Das ist mein Mantra.
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NOAH: Bist du Schauspielerin?
ELSA: Um Gottes Willen, nein. Ich bin Kellnerin! Als ich am Anfang nach New York gekommen
bin, musste ich manchmal auf die Bühne, um über die Runden zu kommen, bis ich Arbeit als
Kellnerin gefunden hatte. Dabei ging´s mir nur um die Kohle. Schauspielerei war nur ein Geldjob,
man wird gut bezahlt und hat was Regelmäßiges, aber ich fand´s wirklich immer zum Kotzen.
Kellnern ist meine Leidenschaft. Ich weiß, wie gut es mir geht. Ich habe mir meinen Traum erfüllt.
(Lächelt augenzwinkernd und flirtet ihn heftig an.) Vielleicht kennst du ja das Sprichwort: „Ohne
ein Schwein wird man nie eine Trüffel finden.“
NOAH: (flirtet genauso intensiv zurück) Wirklich wahr.
EMMA: (verärgert über ihre Anmache) Könntest du uns Brot bringen?
ELSA: Ja, das könnte ich. Wir backen unser eigenes Brot. Mehrkorn aus Mais-Grieß mit
Traubenstückchen, Aprikose und Feigenteilchen... (Gefährlich.) Grünkohl- und
Süßkartoffelvariationen. Wenn ihr mir ganz genau sagt, wie viel ihr wovon braucht, müssen wir
nichts wegschmeißen. Tun wir Gutes!
NOAH: Also, dann volles Risiko. Wie immer. Ich nehme zweimal was von der Trauben-AprikosenMischung, okay?
ELSA: Traube, Aprikose und Feige. Wirklich gute Entscheidung! (Zu Emma.) Und...?
EMMA: Das nehm ich auch.
ELSA: Bestellst du immer das Gleiche wie er?
EMMA: Ich... Nein, tue ich nicht. Wenn er mich zuerst hätte bestellen lassen, hätte er genau...
NOAH: Oh Gott! Das tut mir so leid. Ich...
EMMA: Nein, nein. Ich wollte damit nur sagen...
ELSA: Meine Mutter macht das ganz genauso.
Mit dieser unergründlichen Bemerkung tritt sie ab.
Pause.
EMMA: Ich hasse sie wie die Pest. Ich hasse Ökos. Sie ist wie gehirntot.
NOAH: Das Hotel ist von oben bis unten grün. Leute, die sich bewusst ernähren und Umweltfreaks
schwärmen regelrecht hierher. Tamara wäre hier mindestens fünfmal die Woche hin, wenn...
EMMA: Sie war dreimal die Woche mit Jerry hier.
NOAH: Meinst du?
EMMA: Das weiß ich. Die Jahresabrechnung seiner American Express Card...
NOAH: Genau wie bei Tamara...
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EMMA: Sie hat gezahlt.
NOAH: Durchschnittlich zweimal die Woche.
EMMA: Er also dreimal, sie zweimal.
NOAH: Meine Güte! Wen wundert´s, dass sie so fett geworden ist.
EMMA: Von dem Essen hier?
NOAH: Nein, davon, dass sie hier was mit ihm gegessen hat und dann zu Hause wieder was mit
mir.
EMMA: Ich wollte was anderes sagen.
NOAH: Dass sie rappeldürre ist?
EMMA: Auf dem Foto zumindest.
NOAH: Ja, selbst als sie mit den Zwillingen schwanger war...
EMMA: Übervorsichtig?
NOAH: Krankhaft. Sie hat abgenommen. Ihre Hebamme hat mich regelmäßig in der Praxis
angerufen und mich angekeift, als trüge ich dafür die Verantwortung.
EMMA: Sie hat sich eben gesorgt.
NOAH: Sie war panisch. Bei ihrer Geburt waren die Kinder so leicht wie Barbiepuppen.
EMMA: Waren es Frühchen?
NOAH: Ganz im Gegenteil. Sie kamen einen Monat zu spät. Während der ganzen Schwangerschaft
war sie von ihrem Gewicht nahezu besessen.
EMMA: Eine Essstörung eben.
NOAH: Nachweislich. Sie hat die Kinder auf einem Auschwitz-Level gehalten. Jetzt, wo sie bei mir
sind, essen sie sozusagen Häagen-Dazs-Eis zum Frühstück. Nie habe ich...
Elsa tritt wieder mit Brot und Wein auf. Während sie losplappert, setzt sie das Brot ab und öffnet
den Wein.
ELSA: Viermal Trauben-Aprikose-Feigen-Mischung. Wenn euch nach mehr ist, braucht ihr nur
nach mir zu rufen...
NOAH: Und schon nimmst du die Beine unter die Arme.
ELSA: So ist das. Côtes-du-Rhône, Jahrgang 05. Hervorragendes Jahr für jede Rebsorte aus dem
Südosten Frankreichs. Bitte schön. (Sie bietet Noah eine Probe an. Er schnüffelt und schlürft.)
NOAH: Sehr gut.
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ELSA: Einfach eine gute Entscheidung. (Gießt ihren Wein ein.) Wohl bekomm´s!
Elsa verschwindet in die Küche. Noah schwenkt sein Weinglas und trinkt.
NOAH: Oh ja. Côtes-du-Rhône ist für mich wie ein Aphrodisiakum. (Trinkt noch einmal.) Ich
schmecke so was Steinpilzartiges durch. Das hat definitiv einen Pflaumegeschmack.
Emma nippt an ihrem Wein.
EMMA: Für mich schmeckt das nach Apfel.
NOAH: Aha. Da muss ich höflich, aber entschieden widersprechen. Alles im Umkreis von um die
50, 60 Kilometer um das Lubéron-Massiv schmeckt nach Pflaume und nicht nach Apfel.
EMMA: Ja, egal, ist ja auch nicht so wichtig. Könnten wir das Thema wechseln?
NOAH: Ja, könnten wir.
Pause.
EMMA: Mein Großvater war KZ-Überlebender.
NOAH: Wirklich? Ach, so. Meine geschmacklose Andeutung auf Auschwitz. Tut mir leid. Ehrlich
gesagt ist das wirklich erstaunlich. Meine Großmutter war auch KZ-Überlebende.
EMMA: Wirklich?
NOAH: Ja, Treblinka. Die Konsequenz daraus ist gewesen, dass Essen bei uns zu Hause ganz groß
geschrieben wurde.
EMMA: Bei uns nicht. Meine Mutter war ein bisschen überproportioniert. Und in der Pubertät... Du
weißt, was ich meine?
NOAH: Die körperliche Auswirkung auf die Folgegeneration.
EMMA: Genau.
NOAH: Und triffst du dich mit wem?
EMMA: Also, mein Anwalt hat mir geraten, dass ich darüber nicht rede.
NOAH: Oh, nein! Ich meine einen Psychologen. Keinen...
EMMA: Oh! Na, so... (Sie lacht.)
NOAH: Was?
EMMA: Kann ich dir trauen?
NOAH: Na, klar.
EMMA: Ich meine, ernsthaft vertrauen, weil das jetzt wirklich komisch ist.
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NOAH: Ja. Hundertprozentig. Gegen „komisch“ habe ich nichts einzuwenden, es gibt
augenblicklich nicht viel Lustiges in meinem Leben.
EMMA: Ich, äh, ich gehe mit meinem Psychologen aus.
NOAH: Ist das denn legal?
EMMA: Warum soll das nicht legal sein?
NOAH: Ich meine auch nicht „legal“, ich meine eher „ethisch vertretbar“.
EMMA: Na, ja. Er hat mich direkt gefragt. Sehr höflich. Er hat keine Beziehung. Seine Frau ist
gestorben.
NOAH: Ich... Na, super. Ist es was Ernsthaftes?
EMMA: Oh, mein Gott, nein. Er ist weit über achtzig.
NOAH: Oh, wow! Ein ganz schöner Altersunterschied.
EMMA: Fast sechzig Jahre.
NOAH: Wirklich beeindruckend. Und er ist noch so gut im Schuss, dass er Frauen trifft?
(Übergangslos.) Ich kann nicht wirklich glauben, dass ich das gerade gefragt habe.
EMMA: Schon in Ordnung. Mach dir keine Gedanken. - Nein. Ich bin sowieso noch nicht so weit.
Nicht, dass er nicht daran interessiert wäre. Er ist immer noch - wie soll ich sagen - voller Energie.
Aber ich...
NOAH: Ich auch nicht. Du hast mein vollstes Verständnis. Ein Teil von mir will sich das letzte
Fünkchen Verstand wegrammeln... Oh Gott, tut mir wirklich leid. Ich brauche dringend einen
Exorzisten. Zunge und Verstand arbeiten einfach nicht mehr zusammen.
EMMA: Ganz und gar nicht.
NOAH: Aber ich würde das nur machen, wenn sie davon wüsste. Ich meine... Du weißt, was ich
meine... Um für Ausgleich zu sorgen.
EMMA: Ganz nützlicher Hinweis.
NOAH: Es tut so weh.
EMMA: Ja.
NOAH: Hast du ihm getrau...?
EMMA: Nie. Mir war immer schon klar, dass er... Ich bin aus beruflichen Gründen sehr viel im
Ausland unterwegs. Also... Ich... Ehrlich gesagt hat mich das nie gestört. Wir hatten immer schon
unterschiedliche Ansprüche. Kannst du das nachvollziehen?
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NOAH: Ja, vollkommen. Bei uns war es genau das Gleiche. Also, ich habe nie... Also, nicht so wie
sie. Was ich meine: Ich bin Zahnarzt, sie ist Tänzerin. Also, äh, mir war das sozusagen klar, und es
hat mir nichts ausgemacht. Aber sich wirklich zu verlieben.
EMMA: Genau das ist der Punkt.
NOAH: Das überschreitet eine Schmerzgrenze.
EMMA: Ich jedenfalls stand vollkommen unter Schock. Als mir ihr Foto mit deinen Kindern in die
Hände fiel, war mir klar, dass er... (Sie hält inne.) Ich habe ihn angebrüllt und nur ganz vage so
etwas wie „ich bin in sie verliebt“ gehört. Als ich den Gedanken wirklich in mich rein ließ, sind mir
meine Beine weggesackt. Ich bin hingefallen. Er musste mir wieder aufhelfen. Er... (Sie dreht sich
traurig beiseite. Noah sieht sie eine Zeitlang an, dann greift er über den Tisch zu ihr hin und berührt
sanft ihre Hand.) Das einzige Mal, dass er mich in drei Jahren geküsst hat, war, als er sagte, dass ich
nach Pflaume schmecke. Dieses Jahr Valentinstag sind wir neun Jahre verheiratet. Kinderlos. Ich
war damit einverstanden. Jerry hatte keine Lust. Er hat gesagt, dass er keine wollte. Vermutlich
haben sie hier gegessen, dann sind sie nach oben gegangen und haben sich ein Zimmer in dem
Hotel genommen. Aber das Zimmer müssen sie bar bezahlt haben, weil keine...
Sie hält inne. Kurze Pause.
NOAH: Eine Zahnarztfrau zu sein, ist nicht unbedingt der Bringer. Natürlich kann ich ihr nicht
verzeihen, aber mal ehrlich, ich bin nicht sonderlich mitreißend, wie?
Emma sieht Noah an, aber weiß nicht, was sie sagen soll.
NOAH: Ich mache Therapie, und das hilft. Du solltest... Ach, ja. Du hast ja gesagt.
Emma sieht Noah lächelnd an.
EMMA: Mir geht´s gut. Wirklich.
Elsa tritt mit einem Tablett auf, auf dem sich die Vorspeisen befinden. Sie bedient und plappert.
ELSA: Calamari. Pochierte Erbsen. Und weil ihr zum ersten Mal hier seid, lädt Eric euch zur Feier
des Tages zu frischem Porree aus den Appalachen, sautiert in einer Pilzpfanne aus Pfifferlingen und
anderen Köstlichkeiten ein. Ich konnte mich kaum davon abhalten, es nicht selbst zu verdrücken.
Der totale Hammer. (Sie lächelt.) Wohl bekomm´s.
Plötzlich sieht woanders im Restaurant Jerry und ruft nach ihm.
ELSA: Ja, ist das denn die Possibility! Jerry!
Emma dreht sich um. Das Licht wird aufgezogen. Jerry sitzt in einem anderen Teil des Restaurants
allein an einem Tisch.
EMMA: Um Gottes Willen! Das ist er.
NOAH: Wer „er“? Er? Du erlaubst dir einen üblen Scherz.
EMMA: Um Himmels Willen!
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Emma hält ihre Hände vors Gesicht. Elsa geht zu Jerry.
ELSA: Hallo, Jerry.
Sie umarmen.
ELSA: (diskret) Wo ist denn Tammy?
JERRY: Sie kommt gleich.
ELSA: Hast du später noch Zeit?
JERRY: Weiß ich noch nicht.
ELSA: Wenn du es weißt, schick mir doch ne SMS. Gekühltes Bier?
JERRY: Nein, danke, alles in Ordnung. Würdest du Eric bitte ausrichten, dass Tammy und ich letzte
Nacht Magenprobleme hatten. Tammy ist der Meinung, dass die Farnknospen eventuell nicht lange
genug gekocht wurden. Sie...
Jerry´s Blick fällt auf Emma. Er ist sprachlos.
JERRY: Auweia.
ELSA: Bitte?!
Jerry duckt sich und versteckt sich hinter Elsa.
JERRY: Autsch. Autsch.
Licht auf Emma und Noah.
EMMA: Wie konnte ich nur so bescheuert sein, hierher zu kommen?!
NOAH: Wir leben in einem freien Land.
EMMA: Was soll denn der Scheißsatz?
NOAH: Keine Ahnung.
Das Licht geht wieder auf Jerry, der sich hinter Elsa versteckt.
JERRY: Äh, ich... Ich kenne die Frau da.
ELSA: Wer? (Dreht sich mit einem Blick um.) Die in Blau?
JERRY: Ich. Ja, sie. Ja. Das ist meine Frau.
ELSA: Deine was? Sie ist... Ich habe gedacht... Oh.
JERRY: Ich weiß. Tut mir leid, dass ich nichts gesagt habe. Ich hatte wirklich nicht die Absicht.
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Das Licht wird jetzt gleichfalls auf Noah und Emma aufgezogen.
NOAH: Er hat uns gesehen.
EMMA: Scheiße!
NOAH: Soll ich was machen?
EMMA: Was denn?
NOAH: Keine Ahnung.
ELSA: Mann, Jerry! Mann-o-Mann! Ich sage Eric, dass du da bist.
JERRY: Gut. Ja. Gut. Sag Eric Bescheid.
Elsa tritt ab. Jerry tritt an die Bühnenrampe, tippt etwas in sein i-Phone, winkt dann lächelnd Emma
zu, als würde er sich freuen, sie zu sehen.
NOAH: Er winkt dir zu. Er ruft wen an.
EMMA: (dreht sich umsehend um) Was er da gerade macht, ist, dass er deiner Frau eine SMS
schickt.
NOAH: Du meinst so was in der Richtung von, dass sie nicht hierher kommen soll?
EMMA: Würdest du das bitte mit dem „so was“ lassen! Wir sind nicht mehr in den 80ern!
NOAH: Stimmt. Tut mir leid. Er kommt rüber.
Jerry stellt sich zu ihnen hin.
JERRY: Hallo.
EMMA: Hallo, Jerry.
JERRY: Ich... Erstaunlich. Du siehst...
EMMA: Wie ne Pflaume aus?
JERRY: Bitte?
EMMA: Das ist Tamaras Ehemann Noah.
JERRY: Auweia.
EMMA: Noah, Jerry. Jerry ist der Geliebte von Tamara. Sie bumsen nicht nur miteinander, sie sind
auch ineinander verliebt. Das hat er mir zumindest gesagt.
JERRY: Emma, ich...
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EMMA: Würdest du dir bitte diesen Mann anschauen. Nicht nur, dass du seine Frau fickst, du
versaust auch noch seine beiden Kinder. Du...
NOAH: Aus! Schluss! Scht! Hör auf. Bitte. Ich muss mit Jerry über Tamara sprechen. (Zu Jerry.)
Du kannst die Schlampe behalten, Jerry. Ich habe nichts mehr mit ihr am Hut. Ich habe die Kinder.
Du hast Tamara. Mir geht´s gut.
Emma sieht erstaunt hoch.
NOAH: Und noch was, Sportsfreund... Du hast eine Jahrhundertvorlage versemmelt. Und die
verwandle ich jetzt. (Noah küsst Emma.)
JERRY: Was soll der Scheiß?
Emma löst sich geschockt aus der Umarmung. Sie sieht Jerry an, dann Noah. Dann küsst sie Noah
leidenschaftlich. Verblüfft schaut Jerry zu. Pause. Er wendet sich ab und verlässt das Lokal. Noah
bricht den Kuss ab.
NOAH: Tut mir leid. Ich wollte ihm keins auf´s Maul hauen. Meine Hände sind meine
Arbeitsinstrumente.
EMMA: Noch mal!
NOAH: Ernsthaft?
Sie küssen sich erneut.
EMMA: Wann hattest du zuletzt Sex?
NOAH: Letztes Jahr morgens früh am 25. Dezember, und es war Scheiße.
EMMA: Musst du nach dem Essen noch wo hin?
NOAH: Nein.
Sie küssen sich wieder. Noah bricht den Kuss ab.
NOAH: Ich muss dir Recht geben. Ich habe eindeutig einen Apfelgeschmack auf der Zunge.
Sie küssen sich wieder. Elsa tritt auf.
ELSA: Wie sieht´s bei euch aus? (Sieht sie.) Oh. Ohhhhh.
Emma und Noah küssen sich weiter.
Fade Out.
Ende des Stücks.
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2. Gespräche über Ärsche.
PERSONEN
STANLEY, um die 30, Amerikaner.
JEAN-PHILIPPE, um die 30, Franzose.
STELLA, um die 30, Amerikanerin.
VERONICA, um die 30, Engländerin.
ZEIT
Gegenwart und Flashbacks ins vorangegangene Jahr.
ORT
Szenenwechsel zwischen einem Hotelzimmer und einer Hotelbar.
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Im Bühnenhintergrund ein Hotelzimmer mit einem Bett und ein Ganzkörperspiegel. Vorne eine Bar
und Barhocker.
Licht auf Stanley und Jean-Philippe an der Bar. Sie trinken beide ein Stella Artois Bier.
STANLEY: Du bist Franzose?
JEAN-PHILIPPE: Ja, aus Frankreich.
STANLEY: Sprichst du Französisch?
JEAN-PHILIPPE: Äh, ja... Schon.
STANLEY: Mein Gott! Natürlich sprichst du Französisch! Du bist Franzose. Da kommst du ja her.
In meinem Normalzustand bin ich nicht blöde. Ich bin nur depressiv. Und Depression verblödet
mich. Lebst du in Europa oder hier?
JEAN-PHILIPPE: Hier. Ich bin hier auf´s College gegangen und geblieben.
STANLEY: Schön.
Jean-Philippe zündet sich eine Zigarette an, nimmt einen Zug, erinnert sich daran, dass er mit dem
Rauchen aufhören muss und macht sie aus. Er wirft Stanley die Zigarettenschachtel zu.
JEAN-PHILIPPE: Hier. Schenk ich dir. Ich hab vor sechs Wochen mit dem Rauchen aufgehört.
Stanley verstaut die Schachtel in einer Tasche.
STANLEY: Hm, ja. Ich auch. Der Freund meiner Mutter ist am Rauchen gestorben.
JEAN-PHILIPPE: Da bin ich mit durch. Diese Zigarettenabhängigkeit ist zum Kotzen.
STANLEY: Ich weiß. (Nimmt einen Lungenzug und atmet wieder aus.) Ich bin so depressiv.
JEAN-PHILIPPE: Eine Frau?
STANLEY: Eine extrem komplizierte Frau. Sie hat mich sehr verletzt.
JEAN-PHILIPPE: (nickt verständnisvoll) So was machen die.
STANLEY: Ich meine, sie hat mich wirklich verletzt.
JEAN-PHILIPPE: So was machen die auch wirklich.
STANLEY: Ich weiß, dass es mir ohne sie besser geht.
JEAN-PHILIPPE: Am besten geht´s einem vermutlich ganz ohne.
STANLEY: Sie glaubt, dass sie einen fetten Arsch hat.
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JEAN-PHILIPPE: Das glauben sie alle.
Aus einer Gasse an der Bühnenrampe ruft Stella nach Stanley.
STELLA: Sehe ich in dem Kleid fett aus, Stanley?
Licht auf das Hotelzimmer in der Bühnentiefe. Stella, dreißig, ist zu sehen. Sie ist weder dick noch
dünn.
STELLA: Stan? (Keine Antwort.) Hast du mich gehört, Stanley?
STANLEY: (taucht hinten auf) Natürlich habe ich dich gehört.
STELLA: Traust du dich nicht, mir zu antworte?
STANLEY: Warum sollte ich mich nicht trauen, dir zu antworten?
STELLA: Ich hasse dieses Kleid!
Sie reißt sich das Kleid vom Leib, macht einen großen Koffer auf und wühlt in anderen Sachen
herum.
STELLA: Ich hasse alles, was sich in diesem Koffer befindet. Du musst ohne mich gehen.
STANLEY: Du erlaubst dir einen Scherz.
STELLA: Nein.
STANLEY: Es ist die Beerdigung deiner Mutter. Verdammte Scheiße! Kannst du mir mal verraten,
wie ich ohne dich zu der Beerdigung deiner Mutter gehen soll? Soll ich deiner Familie etwa
erklären, dass du findest, dass du in deinem Kleid einen fetten Arsch hast?
STELLA: Du findest also, dass ich einen fetten Arsch habe, ja?
STANLEY: Verdammt noch mal, Stella! Nein. Das denke ich nicht.
STELLA: Es ist so peinlich. Die anderen sehen mich und denken: Sie hat einen fetten Arsch!
STANLEY: Verdammt noch mal, Stella, hör auf! Dein Arsch ist nicht fett.
STELLA: Aber er ist nicht dünn. Kannst du mir direkt ins Gesicht schauen und behaupten, dass
mein Arsch dünn ist? Kannst du das? (Sie begutachtet ihren Hintern im Spiegel.) Ist mein
Gänseblümchen blasser geworden?
STANLEY: Sieht wie immer aus.
STELLA: Warum starrst du so auf meinen Arsch?
STANLEY: Tue ich gar nicht. Ich sehe mir dein Gänseblümchen an.
STELLA: Tust du nicht! Du denkst doch, dass ich einen fetten Arsch habe, Stanley? (Dramatische
Andeutung im Tonfall wie in Tennessee Williams´ „Endstation Sehnsucht“.) STANLEY!
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Stanley verdreht die Augen und ruft laut Jean-Philippe, der immer noch vorne an der Bühnenrampe
sitzt.
STANLEY: (geht langsam nach vorne zur Bar) Es ist unfassbar, wie sehr ich sie vermisse.
Allerdings vermisse ich auch die High School, und das war auch der absolute Albtraum.
JEAN-PHILIPPE: Du solltest diese Frau nicht vermissen. Sie hat dich verletzt. Du solltest froh sein,
dass du sie nicht mehr am Hals hast.
STANLEY: Du hast recht. Am Ende war es das nackte Grauen. ( Pause.) Währenddessen war es
auch das nackte Grauen. (Pause.) Am Anfang war´s gut. (Pause.) Ehrlich gesagt: So gut auch wieder
nicht.
Stella ruft Stanley etwas vom anderen Ende der Bar zu. Jean-Philippe tritt ab.
STELLA: Wieso haben deine Eltern dich Stanley genannt? Stanley ist ein Allerweltsname. Wieso
haben sie ihn für dich ausgesucht?
Stanley setzt sich zu Stella.
STANLEY: Weiß nicht. Ich habe nie gefragt. Ich habe ihn für gegeben hingenommen. Sie haben
„Stanley“ gerufen, ich habe „worum geht´s“ gerufen. Und so ging das weiter. Wie heißt du?
STELLA: Stella.
STANLEY: „Endstation“?
STELLA: Nein, Stella. Wie kommst du auf die Idee, dass meine Eltern mich „Endstation“ nennen
würden?
STANLEY: Du heißt Stella, ich bin Stanley. „Endstation“? Brando?
STELLA: Was für ein „Brando“? Wovon redest du?
STANLEY: Der Film. „Endstation Sehnsucht“.
STELLA: Ja, und?
STANLEY: Ich... Egal. Schöner Name. Stella. Gefällt mir.
STELLA: Auf Italienisch heißt das „Rinderbraten“.
STANLEY: Bist du dir da sicher?
STELLA: Ja. Das haben meine Eltern mir gesagt.
STANLEY: Na, gut. (Lächelt.) Mir wär´s lieber gewesen, meine Eltern hätten mich Stella statt
Stanley genannt.
STELLA: Du machst einen Witz.
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STANLEY: Äh, ja. Mach ich.
STELLA: Aha. Hab ich mir gedacht. Die Leute würden dich auslachen, wenn du Stella hießest.
Stella ist ein Mädchenname.
STANLEY: Ja, ja. Stella ist ein Mädchenname.
Plötzlich hören wir Veronica´s Stimme, die eine Glocke imitiert.
VERONICA: Ding, ding, ding!
Veronica, dreißig, tritt auf. Sie ist Engländerin und hübsch. Sie stammt südlich von London.
VERONICA: Hervorragend, Stella! Absolut hervorragend! Eindeutig ein Punkt für dich!
STANLEY: Hä? Was soll das?
VERONICA: Wir spielen gerade Idiotentest. Und Stella hat sich gerade bis auf die Knochen und bis
zum Anschlag blamiert.
STANLEY: Ich komme nicht mit.
VERONICA: Idiotentest. Du quatscht einen fremden Typen an der Bar an. Und dir bleiben genau
dreißig Sekunden, um dümmer als ein Stück Brot zu sein. Und die Unterlegene lädt die Siegerin auf
einen Drink ein. (Zu Stella.) Herzlichen Glückwunsch, Stella. Was willst du?
STELLA: Wodka Lime.
VERONICA: (zu Stanley) Und du?
STANLEY: Ich? Danke, ich bin versorgt.
VERONICA: Nein, nein. Ich lade dich auf einen Drink ein. So ist die Spielregel.
STANLEY: Okay. Das ist ja nett. Ich nehme das, was die weniger Blöde nimmt.
VERONICA: Wodka Lime.
STANLEY: Okay. Dann das. Nehm ich auch.
VERONICA: (ruft nach einer imaginären Barkeeperin in der Bühnentiefe) Bitte drei Wodka Lime,
Francesca.
STANLEY: Nein, Moment mal. Ich nehm ein frisches Stella Artois! (Ruft in der Stimme von
Stanley Kowalski.) Stellllll-aaaa!
Stella und Veronica verdrehen die Augen. Stanley nimmt das wahr.
STANLEY: Ich fürchte, das ist dir gerade nicht das erste Mal passiert.
STELLA: Nein.
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VERONICA: Doch nur einen Wodka Lime und ein Stella Artois, Francesca, bitte. Ich muss auf´s
Klo. (Sie tritt ab.)
STANLEY: So ist das also. Erstaunlich! Du bist also nicht dumm?
STELLA: Nicht wirklich.
STANLEY: Du hast dich also nur verstellt und mich an der Nase rumgeführt.
STELLA: Hab ich, Stanley. Tut mir leid.
STANLEY: Du bist also wirklich nicht blöd und weißt, wer Brando ist?
STELLA: Brando - Stanley... Stella - Kim Hunter .... Blanche - Vivien Leigh ... Regie - Kazan ...
Und für zehn Bonus-Punkte sage ich dir, wer das Drehbuch geschrieben hat.
STANLEY: Das Drehbuch zu „Endstation Sehnsucht“? Hm, Tennessee Williams?
STELLA: Bzzzt! Falsch! Das Drehbuch stammt von Oscar Saul nach dem Stück von Tennessee
Williams.
STANLEY: Ich bin beeindruckt.
STELLA: Hauptfach Filmgeschichte am Hampshire College. Magister an der Columbia Film
School.
STANLEY: Wow! Du warst auf dem Hampshire?
STELLA: Vor sehr langer Zeit.
STANLEY: Ich war als Undergraduate und Graduate auf der UMass-Amherst. Promoviert habe ich
in Politikwissenschaften, was frei übersetzt nichts anderes bedeutet, als eine Art Abitur für´s
Arbeitsamt. Ich unterrichte auf der Junior High School in Bushwick Englisch.
STELLA: Hast du Lust, mit mir nach oben auf ein Zimmer zu gehen? Ich bekomme einen
Sonderrabatt.
Pause.
STANLEY: (überrascht) Ja, klar.
Jean-Philippe geht diagonal nach vorne auf Stanley zu, als Stella nach hinten verschwindet.
JEAN-PHILIPPE: Bin ich eigentlich oft in diesem Hotel? Ich denke schon. Früher bin ich wirklich
sehr häufig hier gewesen... Mit meiner Freundin.
STANLEY: Ich auch. Hier. Mit meiner Freundin. Jetzt komm ich allein.
JEAN-PHILIPPE: Ich auch.
STANLEY: Tut weh.
23
JEAN-PHILIPPE: Tut weh.
STANLEY: Da bekomm ich Depressionen von.
JEAN-PHILIPPE: Ich auch.
STANLEY: Warum glaubst du, machst du das?
JEAN-PHILIPPE: Hierher kommen?
STANLEY: Hm. Wieso?
JEAN-PHILIPPE: Weil ich ein chien-malade bin.
STANLEY: Tut mir leid. Ich hatte Russisch.
JEAN-PHILIPPE: „Chien-malade“ heißt geprügelter Hund. In jedem Hotel gibt es Millionen von
Erinnerungen. Die meisten sind schmerzhaft.
Licht auf Stella auf die Hinterbühne im Hotelzimmer. Sie ruft in Richtung Bad.
STELLA: Würdest du bitte da raus kommen? Du hast gerade den Guinness-Rekord im Duschen
gebrochen. So dreckig bist du auch nicht gewesen! Das kannst du mir glauben!
Jean-Philippe kommt aus dem Badezimmer und reibt sich mit einem Handtuch die Haare trocken.
JEAN-PHILIPPE: Ich liebe duschen. Ich liebe Regen. Ich liebe die Brooklyn Bridge. Ich liebe
Pastis. Ich liebe Boeuf Tartare. Ich liebe Serge Gainsbourg. Und ich liebe dich, mon amour.
Er lehnt sich nach vorne, um sie zu küssen. Sie entzieht sich ihm.
STELLA: Wir müssen damit aufhören.
JEAN-PHILIPPE: Womit aufhören?
STELLA: Uns zu sehen.
JEAN-PHILIPPE: Wieso?
STELLA: Ich habe die Schnauze voll.
JEAN-PHILIPPE: Was soll das heißen? Was soll das heißen: Ich habe die Schnauze voll, Stella?
STELLA: Ich habe die Schnauze voll, heißt: Ich habe die Schnauze voll. Es tut mir einfach nicht
mehr gut, J.-P.. Ein paar Wochen lang, hat mich der französische Akzent angemacht, aber jetzt ist
Schluss, Kermit.
JEAN-PHILIPPE: Willst du mich verarschen? Ich... Ich...
STELLA: Stell dich nicht an! Jetzt mach hier nicht auf „verletzt“. Die Karawane zieht weiter.
JEAN-PHILIPPE: Ich... Du willst mich verarschen.
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STELLA: Ich muss Ordnung in meinem Leben schaffen, ich brauche mehr Qualität als Quantität.
(Begutachtet sich im Spiegel.) Habe ich einen fetten Arsch?
JEAN-PHILIPPE: Moment mal! Moment mal! Einen Augenblick! Was hat das zu bedeuten: Mehr
Qualität als Quantität? Willst du damit sagen, dass da noch wer ist?
STELLA: Natürlich ist da noch wer! Da ist immer noch wer! Dem werde ich allerdings auch den
Laufpass geben. Ich langweile mich. Ich benötige eine vollständige Grundreinigung.
JEAN-PHILIPPE: Um Himmels Willen, Stella! Redest du hier von Menschen oder von
Staubmäusen?
STELLA: Gibt es da so einen großen Unterschied? Hier hast du meinen Anteil für´s Zimmer. (Wirft
zwei Hundert-Dollar-Scheine auf´s Bett.)
JEAN-PHILIPPE: Oh Gott, Stella! Ich glaub´s einfach nicht.
STELLA: Ich weiß. Es ist wie eine Gehirnerschütterung, stimmt´s? Männer können sich einfach
nicht vorstellen, dass Frauen sich wie Männer benehmen.
Licht auf den betrunkenen Stanley an der Bar.
STANLEY: Warum können wir uns nicht in Frauen verlieben, die uns auch lieben? Ich konnte das
nie. Ich habe immer Frauen geliebt, die mich nicht lieben. (Kurze Pause.) Ich glaube nicht, dass
meine Mutter mich geliebt hat. Sie hat nie was gesagt. Meine Großmutter hat mich gehasst. Sie
haben beide meinen Bruder Arnold geliebt. Er ist Designer für Kleider in Übergröße in Nevada.
Sonst noch Fragen?
JEAN-PHILIPPE: (kommt ebenfalls betrunken zur Bar zurück) Hast du dir diese Starbucksbecher
schon mal richtig angeguckt? (Nimmt einen zerknüllten Starbucksbecher aus seiner Tasche und liest
ab.) „Du kannst niemanden dazu bringen, dich zu lieben, wenn er das nicht bereits tut. Wähle
jemanden, der dich bereits liebt. Wenn du dich für jemanden entscheidest, der dich nicht liebt, ist
das die Art Liebe, die du in deinem Leben haben willst.“
STANLEY: Gott, ist das depressiv!
JEAN-PHILIPPE: Oui. Ich weiß. Das ist mein neues Mantra.
STANLEY: Das trägst du mit dir in der Tasche?
JEAN-PHILIPPE: Ja!
STANLEY: Gott, ist das traurig.
JEAN-PHILIPPE: Es gibt Schlimmeres.
STANLEY: „Nichts ist so schlecht, dass es nicht noch schlechter werden könnte. Nach unten ist
alles offen.“ Beckett.
JEAN-PHILIPPE: „Wir wissen, was traurig ist, um zu erkennen, was Glück bedeutet. Unsere ganze
Erfahrung ist relativ. Wir kennen das Böse, um das Gute zu erkennen, Verlust, um zu begreifen, was
wir besessen haben.“ Jean-Paul Sartre.
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STANLEY: Wir brauchen das Schlechte, um zu wissen, wann es uns am schlechtesten geht. Durch
das Desaster erkennen wir die Katastrophe.
JEAN-PHILIPPE: Wer hat das gesagt?
Eine irritierte, alkoholisierte Pause.
STANLEY: Ich, Stanley.
JEAN-PHILIPPE: Du bist kein glücklicher Mensch.
STANLEY: In meiner ganzen Familie ist noch nie einer glücklich gewesen. Zumindest nicht seit
dem Alten Testament.
JEAN-PHILIPPE: Wie kommst du mit deiner Traurigkeit zurecht?
STANLEY: Ich besauf mich. Ich jammere. Ich plärre. Und du? Wie kommst du mit deiner
Traurigkeit zurecht?
JEAN-PHILIPPE: Neue Frauen. Ich sorge dafür, dass ich viele, viele neue Frauen treffe. Das hilft.
Je suis francais.
Zum anderen Ende der Bar hin ruft Jean-Philippe nach Veronica.
JEAN-PHILIPPE: Wo bist du geboren, Veronica?
Veronica kommt nach vorne zu Jean-Philippe. Stanley tritt nach hinten ab.
VERONICA: Südlich von London. In einem romantischen Dörfchen mit dem passenden Namen
Dulwich - wie im Englischen „dull“ für „öde“.
JEAN-PHILIPPE: Weil es da öde ist?
VERONICA: Weil es da öde ist. Pardon, wie heißt du noch mal? Irgendwas mit Philippe...
JEAN-PHILIPPE: Jean-Philippe.
VERONICA: Jean-Philippe. Jean-Philippe. Jean-Philippe. Cool. Wie schön wär´s gewesen, wenn
meine Eltern mich Jean-Philippe getauft hätten.
JEAN-PHILIPPE: Das wünsche ich mir auch. Ich wünsche mir nur, dass meine Eltern mich
Veronica genannt hätten.
VERONICA: Wieso wünscht du dir das?
JEAN-PHILIPPE: Weil wir dann ein Paar wären und Jean-Philippe und Veronica hießen. Und das
wäre sehr schön.
VERONICA: Ach, süß.
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Sie sehen sich einen Moment lang lächelnd und stumm an.
VERONICA: Deine Augen haben die Farbe eines Swimmingpools. Trägst du gefärbte
Kontaktlinsen?
JEAN-PHILIPPE: Nein, mein Vater war ein Swimmingpool.
VERONICA: Dein biologischer Vater?
JEAN-PHILIPPE: Mein biologischer.
VERONICA: Du bist der erste Franzose mit Humor, den ich je kennen gelernt habe. Du bist
außergewöhnlich.
JEAN-PHILIPPE: Deshalb haben sie mich ja auch ausgebürgert. Ich hatte zu viel Humor. Deine
Freundin spielt richtig gut „blöd“. Ihr habt mich echt an der Nase herumgeführt.
VERONICA: Stella ist die absolute Weltmeisterin im „Idiotentest“. Ich liebe sie. Gestern Abend
haben wir einen Idiotentest in Tribeca Grill durchgeführt. Dieser Franzose da ist also von ihrer
Blödheit völlig ermattet. Er hält drei Finger hoch, fragt sie, wie viel Finger er eben hochhält, und sie
sagt: „Aha. Ist da ein Trick bei?“
JEAN-PHILIPPE: Ähä. Nein. Das war ich! Vor zehn Minuten!
Veronica lächelt. Jean-Philippe begreift langsam.
JEAN-PHILIPPE: Oh! Ohhhhhhh! (Er lacht.) Du bist eine ungewöhnliche Frau, Veronica.
VERONICA: Hast du Lust auf Sex?
JEAN-PHILIPPE: Das könnte ich nie. Ich habe zu viel Respekt vor dir.
VERONICA: Dann gewöhn ihn dir ab.
Veronica lehnt sich nach vorn, um geküsst zu werden. Sobald ihre Lippen sich berühren,
Lichtwechsel auf Stanley. Als Stanley Jean-Philippe ruft, dreht der sich um. Veronica tritt in die
Hoteldekoration ab.
STANLEY: Oh Gott. Das ist super!
JEAN-PHILIPPE: Ich war vollständig entwaffnet.
STANLEY: Das glaube ich. Und wusstest du, dass...
JEAN-PHILIPPE: Mir blieb nichts anderes übrig.
STANLEY: Verstehe. Kann ich dich was Persönliches fragen?
JEAN-PHILIPPE: Bitte.
STANLEY: Was ist deine Durchschnittszahl in der Woche?
JEAN-PHILIPPE: Durchschnittszahl in was?
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STANLEY: Na ja, wie oft machst du´s?
JEAN-PHILIPPE: Ah. Jetzt oder damals?
STANLEY: Jetzt. Aktuell.
JEAN-PHILIPPE: So zehn- bis dreizehnmal.
STANLEY: In der Woche? Durchschnittlich?
JEAN-PHILIPPE: Meine Ex-Freundin musste ganz schön was aushalten.
STANLEY: Mein Rekord liegt bei drei. Ich glaub´s nicht.
JEAN-PHILIPPE: Drei ist nicht schlecht.
STANLEY: Drei ist schlecht! Und das war die beste Woche, die ich je hatte. Oh! Das hat gerade die
Erinnerung an meinen schlimmsten Albtraum losgetreten.
Licht auf Veronica im Hotelzimmer.
VERONICA: Hallo, da drin! Ich muss ins Bad! Hallo! Lässt du mich, bitte, das Badezimmer
benutzen?
Stanley tritt vom Badezimmer aus auf und macht sich mit einem Handtuch die Haare trocken.
STANLEY: Tut mir leid. Jetzt gehört es ganz dir.
VERONICA: Hast du dir da drin einen runtergeholt?
STANLEY: Was?!
VERONICA: Ich hab nur gedacht, dass vielleicht da drin was abgeht, wo schon hier draußen nichts
passiert. Oder?
STANLEY: Habe ich dich recht verstanden? Hast du wirklich gerade das gesagt, was ich glaube,
dass du gesagt hast?
VERONICA: Du hast mich schon verstanden.
STANLEY: Mein Gott, Veronica! Das ist nicht so einfach für mich, verstehst du? Ich gehe sonst
nicht fremd.
VERONICA: Bitte, was?
STANLEY: Ich gehe sonst nicht fremd. Ich habe das einfach nicht...
VERONICA: Bitte, was? Hast du wirklich gerade das gesagt, was ich glaube, dass du gesagt hast?
STANLEY: Ich habe gedacht, Stella ist deine Freundin.
VERONICA: Stella ist meine beste Freundin.
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STANLEY: Wieso hast du mich also hier rein gelockt? Wieso hast du so getan, als ob Stella mich
hier treffen wollte? Wieso?
VERONICA: Ich habe nicht die Absicht, mir eine Gardinenpredigt anzuhören. Besten Dank.
STANLEY: Du fühlst dich also nicht schuldig?
VERONICA: Nicht im geringsten.
STANLEY: Also, du... Du... Du bist wirklich sehr außergewöhnlich.
VERONICA: Hast du schon mal versucht, dich selbst zu ficken?
STANLEY: Das wäre wahrscheinlich interessanter als dich zu ficken, Schätzchen.
VERONICA: Ziehst du jetzt mit Anstand ab oder soll ich die Polizei rufen, du geisteskranker
Schlappschwanz?
STANLEY: Kann mir nichts Schöneres vorstellen.
VERONICA: Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass Stella dir treu ist, oder?
STANLEY: Ich, äh... Doch, das glaube ich.
VERONICA: Das kannst du doch nicht allen Ernstes glauben?
STANLEY: Ich... Ich... Du bist die widerlichste Engländerin, die... Oder gibt´s bei euch nur
Scheißleute?
Licht auf Jean-Philippe an der Bar. Stanley ruft ihm zu.
STANLEY: Hast du jemals eine Frau geschlagen?
Stanley geht wieder zu Jean-Philippe an die Bar. Sie sind sturzbetrunken, nahezu sternhagelvoll.
JEAN-PHILIPPE: Mit meinen Händen?
STANLEY: Händen oder Stock?
JEAN-PHILIPPE: Nein. Du?
STANLEY: Nein. Du?
JEAN-PHILIPPE: Nein. Du?
STANLEY: Nein. Du?
JEAN-PHILIPPE: Nein. Du?
STANLEY: Ich konnte nicht. Ich hoffe, dass ich es irgendwann kann... Aber ich bin geschlagen
worden.
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JEAN-PHILIPPE: Von einer Frau?
STANLEY: Von Frauen. Von vielen.
JEAN-PHILIPPE: Ich bin beeindruckt. Hand oder Stock?
STANLEY: Eindeutig mit der Hand. Vielleicht war auch einmal ein Stock mit im Spiel. (Pause.) Als
ich jung war, war ich wirklich eine richtige Landplage. (Pause.) Und ich habe mich zu einem
wirklich schrecklichen Erwachsenen entwickelt. Bin ganz schön betrunken. Woraus wird Pastis
gemacht?
JEAN-PHILIPPE: Pastis wird aus noch mehr Pastis gemacht.
Irgendwie bringt diese Aussage Jean-Philippe zum Lachen. Er kann sich nicht mehr einkriegen.
JEAN-PHILIPPE: Oh, mein Gott!
STANLEY: Was?
JEAN-PHILIPPE: Normalerweise, wenn ich so besoffen bin wie jetzt, und ich muss lachen, kotze
ich.
STANLEY: Echt? Das ist ja wirklich komisch.
JEAN-PHILIPPE: Ich kann einfach nicht den Gedanken loswerden, was dieser andere Mann hatte,
was ich nicht hatte.
STANLEY: Du liebst sie immer noch, stimmt´s?
JEAN-PHILIPPE: Sie hatte diese Tätowierung.
STANLEY: Ich weiß. Auf ihrem Arsch.
JEAN-PHILIPPE: Dieses kleine Gänseblümchen.
STANLEY: Dieses kleine, gelb-grüne Gänseblümchen.
JEAN-PHILIPPE: Ein gänseblümchenartiges Gänseblümchen! Gänseblümchen sind
Gänseblümchen! (Lacht wieder.) Oh Gott!
STANLEY: Was?
JEAN-PHILIPPE: (lacht hellauf) Und Pastis ist Pastis. (Lacht lauthals.) Oh, Gott!
STANLEY: Kotzt du jetzt?
JEAN-PHILIPPE: (lacht immer noch) Ja.
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Jean-Philippe rennt plötzlich von der Bühne herunter. Stanley zündet sich eine Zigarette an, erinnert
sich, dass er aufgehört hat, macht sie wieder aus. Kurze Pause. Er zündet sich erneut eine Zigarette
an und raucht. Jean-Philippe, ebenfalls mit einer Fluppe auf den Lippen, kommt von der Toilette
zurück, auf der er sich gerade übergeben hat. Stolpernd kommt er zum Stehen und starrt Stanley an.
Sie stellen sich unisono die gleiche Frage, während jeder auf seinen eigenen Hintern zeigt.
STANLEY & JEAN-PHILIPPE: Deine Freundin hat ein Gänseblümchen auf dem Arsch?
Sie begreifen es, klatschen sich beide ihre Hand an die Stirn, drehen sich voneinander weg und
brüllen dreimal stakkatoartig los - animalische Urschreie wie Stanley Kowalski.
STANLEY & JEAN-PHILIPPE: STELLLLLAAAAA!
Sie drehen sich wieder um und schauen einander hilflos an.
Fade Out des Licht.
Ende des Stücks.
31
3. Beirut rocks
PERSONEN
BENJI, Anfang 20.
JAKE, Anfang 20.
SANDY, Anfang 20.
NASA, Anfang 20.
ZEIT
Sommer 2006.
ORT
Hotelzimmer. Beirut.
Für Jake, der es erlebt und für Ollie, die es mir erzählt hat.
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Hotelzimmer, Beirut, Sommer 2006.
Im Dunkeln bedrohlich nahe Flugzeuggeräusche am Himmel. Dann das Zischen eines
vorbeifliegenden Fluggeschosses, das in einiger Entfernung explodiert.
Die Stimme eines Sportreporters, der die British Open, 2006, kommentiert.
Licht auf Benjy Gerson, einem etwa zwanzig Jahre alten, attraktiven, kräftigen Studenten, der live
auf seinem tragbaren MacBook Pro die Golfübertragung verfolgt. Er hat einen Golfschläger in der
Hand und betrachtet mit erheblicher Erregung das Geschehen. Er trinkt Bier der Marke Stella
Artois. Auf dem Schreibtisch stehen zwei leere Flaschen.
Die Tür geht auf und Jake Fenny betritt mit einem großen Rucksack das Zimmer. Er macht einen
besorgten Eindruck. Jake ist ebenfalls um die zwanzig, klein gewachsen, pupsig, mit
engelsgleichem Gesicht und wirkt ängstlich. Er trägt ein Basecap der Boston Red Sox verkehrt
herum auf dem Kopf.
JAKE: Hi. Bist du...?
BENJY: (leicht abgelenkt) Ja, klar. Hi. Hast du mit...?
JAKE: Hm, ja. Sicher. Der Portier hat mich hochgeschickt, wenn ich das recht verstanden habe, hat
man mir diesen Raum zugewiesen. 616?
BENJY: Genau.
JAKE: Ich bin Jake Feeny.
BENJY: (schüttelt gedankenverloren Jake´s Hand) Benjy Gerson. Einen Augenblick... Ich seh mir
da gerade eine Live-Übertragung... (Brüllt aus dem Nichts heraus auf.) Verdammte Scheiße!
JAKE: (erschrocken über Benjy´s Schrei) Was??! Was ist denn passiert??! Was??!
BENJY: Chris DiMarco hat gerade auf 18 Meter eingelocht. DiMarco kann das nach Hause holen!
Das ist unfassbar!
JAKE: (völlig verwirrt) Äh, ich...
BENJY: British Open. Live-Übertragung auf PGA.com. Tiger hat sich einen unglaublichen
Vorsprung rausgespielt und vollständig aus dem Nichts heraus greift DiMarco furios an und kommt
bis auf 4 an Tiger ran. Was wir da gerade zu sehen bekommen, ist vermutlich das spannendste
Open, das es je gegeben hat. (Pause. Grinst.) Entschuldige... Wie heißt du?
JAKE: Jake. Feeny. Ich komme aus Boston. Und du?
BENJY: Benjy Gerson.
JAKE: Nein, ich meine, wo du her kommst?
BENJY: Aus der Bronx.
JAKE: Ich habe dich, glaube ich, schon gesehen. Du bist hier auf der Summer School, stimmt´s?
33
BENJY: Ja, auf der amerikanischen Uni. Ich belege einen sechswöchigen Sprachkurs.
JAKE: Ich auch. Ich bin auch auf der A. U. B..
BENJY: Wo warst du untergebracht? In der Nähe?
JAKE: Ja, ganz nah. Ich habe bei einer Familie in der Nähe des Hafens gewohnt. Wir haben aus
dem Fenster geguckt, wie die israelischen Kriegsschiffe ihre Geschosse abgefeuert haben. Und
Flugzeuge sind direkt über unserem Kopf gewesen. Bei einem Bombeneinschlag hat das ganze
Haus gewackelt.
BENJY: (abgelenkt schaut er auf seinen Computer - abrupt) Ja! (Zu Jake.) Guck dir das an! Das ist
Tiger´s Klasse. DiMarco locht ein, BUMS! Tiger schlägt zurück! BUMS! DiMarco´s Schlag
neutralisiert! (Lächelt leicht verlegen Jake an.) Tschuldige, aber das ist wirklich mein Ding hier. Ich
bin der Co-Käpt´n meines Golf-Teams. Ich bin in Middlebury. Und du?
JAKE: Harvard.
BENJY: (wahrscheinlich gelogen) Ich hatte eine Zusage in Harvard, aber das Angebot in
Middleburry war eindeutig besser. Und davon abgesehen ist die Golf-Mannschaft in Harvard
Scheiße. Mein Favorit ist Stanford gewesen, absolute Spitzenklasse, aber sie haben mich nicht
gewollt. Sollen mich doch am Arsch lecken, verstehst du? Diese Antisemiten! Bei deinem Namen
handelst du dir sicher ne gehörige Portion Scheiße in Beirut ein, Jake. Ich kann bei „Benjy“ immer
noch auf „Benjamin“ ausweichen. Dann lassen sie so Sprüche ab wie: „Aha, aha, Benjamin
Franklin. Also, nicht-jüdisch.“ Aber bei Jake gibt´s keine rhetorische Nebelkerze, hinter der du dich
verstecken kannst. Jake ist eindeutig jüdisch.
JAKE: Ich bin kein Jude. Ich bin halb griechisch, halb irisch.
BENJY: Missverständnis.
JAKE: Kein Problem.
BENJY: Wenn man in dem Teil der Bronx aufwächst, glaubt man entweder, dass alle Juden oder
Schwarze sind. Oder beides. Wie ist dein Nachname?
JAKE: Feeny.
BENJY: Hast du mir das nicht bereits gesagt?
JAKE: Ja, das habe ich.
BENJY: Ich hab nicht richtig zugehört. So bin ich eben. In der Bronx haben wir einen irischen
Abschnitt, ganz bei uns in der Nähe. Irische Bars mit irischem Volkstanz. In diesem Jahrhundert,
Mann! Unglaublich. (Abrupt.) Du stehst nicht auf irische Volkstänze?
JAKE: Doch. (Kurze Pause.) Nein, tue ich nicht.
BENJY: Mein Sozialverhalten ist leicht deformiert. Handelt sich wohl um einen Geburtsfehler. Ich
bin vermutlich ohne diese Drüse geboren, die Taktgefühl ausschüttet. Was studierst du?
JAKE: Hier oder in Harvard?
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BENJY: Sowohl als auch.
JAKE: Hier Arabisch, zu Hause im Hauptfach Politik und Sprachen im Nebenfach. Griechisch und
Arabisch.
BENJY: Hast du dich für Stanford beworben?
JAKE: Ja.
BENJY: Und sie haben dich genommen, stimmt´s?
JAKE: Ja.
BENJY: Ja, hm, freut mich für dich. Muss mir immer wieder darüber im klaren sein, dass bei mir
alles okay läuft. Ich komme von ganz unten. Mein Vater arbeitet in einer Wäscherei in der Bronx.
Ich... Birdie! Wow! Tiger ein Schlag unter Par! Alles total emotional, Mann. Vor ein paar Wochen
ist der Vater von Tiger Woods gestorben. Gerade letzte Woche die Mutter von DiMarco. Sie spielen
also auf diesem absolut vielschichtigem, emotionalem Level.
JAKE: Was hier gerade passiert, macht dich nicht nervös, was?
BENJY: Was meinst du?
JAKE: Glaubst du, dass sie uns hier raus holen?
BENJY: Heute Abend noch? Oder grundsätzlich?
JAKE: Heute Abend oder grundsätzlich?
BENJY: Keine Ahnung, ob das heute Abend noch klappt. Wie viele Jugendliche waren bei dir im
Bus?
JAKE: Hierher? Drei. In einem Taxi. Es gab noch vier andere Taxen. Also, insgesamt in etwa
fünfzehn.
BENJY: Sie evakuieren uns nicht eher, als bis die gesamte Gruppe vollständig ist. Der Typ vom
Internationalen SOS am Auffanglager hat mir das gesagt.
JAKE: Und du bist der Meinung, dass wir hier in Sicherheit sind? In diesem Hotel? Könnte das
nicht ein mögliches Ziel sein?
BENJY: Machst du Scherze? Glaubst du allen Ernstes, dass das Internationale SOS zweihundert
amerikanische Studenten von der Summer School über die Klinge springen lässt? Sie haben das
gesamte Programm versichert. Was ist denn mit der Todesfallklausel? Gehen wir mal davon aus,
dass das 2 Millionen pro Person sind. Meinst du, das Internationale SOS lässt es zu einem
Einschlag kommen, der sie vierhundert Millionen Dollar kostet? Kann ich mir nicht vorstellen.
Glaub mir, Jake. Wir sind in Sicherheit.
JAKE: Sind die Israelis darüber informiert.
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BENJY: Die Israelis sind informiert, Nasrallah ist informiert. Wir sind in Sicherheit. Du kannst mir
glauben.
Ein Klopfen an der Tür. Jake und Benjy tauschen einen besorgten Blick aus. Jake geht zur Tür und
öffnet sie. Zwei junge Frauen warten draußen vor der Tür. Sandy trägt Armyhosen und ein T-Shirt,
Nasa, eine Palästinenserin, Kopftuch und lange, dunkle, palästinensische Kleidung. Beide haben
Rucksäcke umgeschnallt, beide sind sehr hübsch und zwanzig Jahre alt. Sie begrüßen einander
freundlich.
JAKE & BENJY: Hi. Hi.
SANDY & NASA: Hi. Hi.
SANDY: Könnt ihr uns vielleicht sagen, wo das Zimmer des Internationalen SOS ist?
JAKE: Sicher. Da komme ich gerade her. Unter uns im fünften Stock.
SANDY: Oh, vielen Dank.
JAKE: Kein Problem.
Sandy und Nasa treten wieder ab und verschließen die Tür hinter sich.
BENJY: Arabische Schnallen.
JAKE: Ich glaube, ich kenne sie.
Geräusche mehrere Flugzeuge, die verdächtig nahe kommen. Und dann das Zischen eines
Flugkörpers, der sehr nah am Hotel explodiert.
Benjy und Jake gehen beide mit eingezogenen Köpfen in Deckung. Das Licht flackert und
stabilisiert sich wieder.
JAKE: Scheiße! Das war ganz schön dicht!
BENJY: Wir sind in Sicherheit, Jake. Du kannst mir vertrauen.
JAKE: Mir bleibt wohl nicht groß eine andere Wahl, Benjy. Ob ich dir traue oder nicht traue, ist im
Augenblick, glaube ich, nicht von besonders großer Bedeutung. Die libanesische Familie, bei der
ich gewohnt habe, hat man dazu aufgefordert, ihr Haus zu evakuieren. Aber sie wissen nicht, wohin.
Der Großvater ist 95 und sitzt im Rollstuhl, eine Rasselbande von Urgroßenkeln um sich rum. Die
ganze Nachbarschaft ist abgeriegelt worden, aber es bleiben alle da. Man sieht die sich anbahnende
Katastrophe förmlich aufziehen.
BENJY: Ich behaupte ja nicht, dass dieser Dreck irgendwas Gutes an sich hat, aber wenn zwei von
deinen Soldaten gekidnappt werden, musst du einfach handeln oder es hört nie auf. Aus zwei
werden vier, aus vier acht. Da muss man nur seine Rechenaufgaben erledigen.
JAKE: Willst du mich verarschen?
BENJY: Nein.
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JAKE: Die zwei Soldaten sind deshalb gekidnappt worden, weil sie sich dort aufgehalten haben, wo
sie sich nicht aufhalten sollten. Weil sie der Feind sind. Weil Krieg ist. Wie schon vor zweitausend
Jahren. Die Juden sind doch das Volk, bei dem um Auge um Auge und Zahn um Zahn geht, oder?
Sie greifen sich also keinen militantischen Hisbollah raus, oder etwa nicht? Sie bringen kleine
Kinder um, Familien, sie werfen Bombe ab. Das ist Mord!
BENJY: Ach, ja. Und wenn die Hisbollah Raketen nach Haifa schickt?! Was ist das?
JAKE: Das kann ich dir sagen: Das ist das, was drei Tage nach dem passiert ist, nachdem Israel
Beirut beschossen hat.
BENJY: Worauf willst du hinaus?
JAKE: Ich sage, dass die Juden im Unrecht sind.
BENJY: Sagst du, dass die Juden im Unrecht sind oder dass Israel im Unrecht ist?
JAKE: Ich habe gesagt, dass Israel im Unrecht ist.
BENJY: Du hast gesagt, dass die Juden im Unrecht sind.
JAKE: Aber was ich gemeint habe, ist, dass Israel im Unrecht ist.
BENJY: Man hat sich schon für deutlich weniger, die Köpfe eingeschlagen.
JAKE: Du weißt ganz genau, was ich gemeint habe.
BENJY: Ich hab Literatur im Hauptfach. Worte sind mir heilig. Sprache ist mein goldenes Kalb.
Das Geräusch von Flugzeugen über ihnen - gefährlich nah. Dann wieder das Zischen von Raketen,
die sehr nah explodieren. Jake und Benjy gehen wieder in Deckung. Das Licht flackert auf und
stabilisiert sich erneut.
JAKE: Das ist zum Austicken!
BENJY: Bleib ruhig, Benjy, uns passiert nichts. Hier geht´s nicht um uns. (Sieht auf seinen
Bildschirm.) Meine Fresse! Tiger hat gewonnen! Das ist der Hammer!
Jake ist von Benjy´s Schrei erschrocken.
BENJY: (mit Blick auf den Computerschirm) Er heult. Tiger hat seinen seinen Kopf in Stevie´s
Schulter vergraben... Er schluchzt. (Drückt selbst ein Schluchzen weg.) Gott, ist das emotional. Das
geht nicht spurlos an einem vorüber, Mann. Mir kommen echt die Tränen. (Lacht.) Als ich in der
High School war, ist meine Mutter gestorben.
JAKE: Meine Mutter ist dieses Jahr Weihnachten gestorben.
BENJY: Wow! Das tut mir leid, Mann.
JAKE: Sie war nett.
Jake sitzt aufrecht auf dem Bett.
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BENJY: Das ist das Schlimmste. Scheiße! Tut mir wirklich, wirklich leid. (Pause.) Ich bin
vermutlich deshalb auf der Seite von Israel, weil ich Jude bin. Meine Familie ist tief religiös und
ganz tief drinnen denk ich wohl: „Der Holocaust, die sechs Millionen... Als Jude musst du knallhart
sein. Das ist besser als ein toter Jude zu sein.“ Aber, hm, ich kann deinen Standpunkt verstehen. Du
hasst Bush, oder?
JAKE: Ja, was denn sonst?
BENJY: Ich weiß auch, dass nicht alle Libanesen bei der Hisbollah sind. Oder alle Araber. Das ist
mir klar. Ich habe diesen Sommer bei einer wirklich coolen Familie gewohnt. Libanesische Juden,
was natürlich an und für sich schon das absolute Oxymoron ist.
JAKE: Hey, Mann, ich heiße Jake Feeny... Halb griechisch, halb irisch, und ich sehe deutlich
jüdischer aus als du, Alter.
BENJY: Sieh dir Tiger an. Tiger ist die totale Promenadenmischung. Ein Anteil thailändisch, ein
Anteil afro-amerikanisch mit einer wirklich schlechten jüdischen Frisur... Und was ist das Einzige,
was die Leute sehen, wenn er beim US Masters auftaucht?
JAKE: Schwarz.
BENJY: Ein Schwarzer. Die Menschheit ist zum Kotzen.
JAKE: Die Leute sind zum Kotzen. Es kostet mich 45 000 Dollar im Jahr in Harvard Politik zu
studieren, ich reiße mir den Arsch auf, bekomme das beste Stipendium, was du kriegen kannst und
was kommt als Erkenntnis unterm Strich bei raus: Die Menschheit ist zum Kotzen.
BENJY: Der Kostenaufwand von 45 000 Dollar im Jahr, um in Middlebury Literatur studieren zu
können und der Ausdruck „zum Kotzen“ ist die lyrischste Umschreibung für die Welt, in der wir
leben.
JAKE: Das ist zum Kotzen.
BENJY: So was von zum Kotzen.
Wieder ein Einschlag in einiger Entfernung. Benjy sieht zum Fenster hinaus.
BENJY: Warum setzt Bush dem nicht ein Ende? Ist er derart bescheuert? Ich meine, die arabische
Welt hasst uns bereits wie die Pest! Das sieht doch so aus, als ob wir das ständig unterstützen.
JAKE: Das tun wir auch! Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass Israel auch nur einen
Trippelschritt macht, ohne sich vorher mit Bush abzusprechen, oder?
BENJY: Sie machen Helden aus Bin Laden und Nasrallah. Ich habe bei bloggenden Kids auf
Protein Wisdom gelesen, wie sie darüber reden, dass sie T-Shirts mit Che Guevara mit Turban und
mit hässlicher Brille verkaufen. (Bietet Jake einen Schluck von seinem Bier an.) Das ist meine
letzte Flasche. Willst du nen Schluck?
JAKE: Nein, vielen Dank. Ich trinke nicht.
Pause.
38
JAKE: Werden wir hier sterben, Benjy?
BENJY: Glaub mir, Jake. Das Internationale SOS hat sich der Sache angenommen. (Markiert einen
Schlag mit seinem Golfschläger. Er scheint unbeeindruckt.) Heute um Mitternacht werden wir
London sehen. Englische Tussen...
JAKE: Bekommst du die neuesten Nachrichten auf deinem Computer?
BENJY: Ja, klar... Ich habe CNN online geguckt.
JAKE: Und?
BENJY: Die verbreiten nicht sonderlich viel Frohsinn. Tripolis kannst du abhaken.
JAKE: Da kommt die Familie her, bei der ich gewohnt habe. Da wollten sie wieder hin.
BENJY: Da ist wohl nicht mehr viel von übrig.
Erneut Flugzeuggeräusche - gefährlich nah. Das Zischen eines Flugkörpers, der laut in der Nähe des
Hotels explodiert. Das Licht flackert und stabilisiert sich wieder. In einiger Entfernung das
Sirenengeräusch von Krankenwagen. Jake und Benjy werfen sich auf den Boden und halten sich die
Köpfe. Beide zittern.
BENJY: Sehr nah.
JAKE: Verdammt nah. Scheiße!
Ein Klopfen an der Tür. Die Tür wird krachend geöffnet, Sandy steckt ihren Kopf herein. Nasa steht
stumm hinter ihr. Beide haben Angst.
SANDY: Noch mal „hi“. Das hier ist 616, ja?
JAKE: Hi. Ja. 616.
SANDY: Ich bin Sandy, das ist Nasa. Wir sind hier zugewiesen worden, bis weitere Busse kommen.
Ist das für euch okay, wenn wir rein kommen?
BENJY: Ja, sicher.
Sandy und Nasa kommen rasch herein. Nasa schließt die Tür. Sie schütteln sich alle höflich die
Hände.
BENJY: Ich heiße Benjamin.
JAKE: Jake. (Zu Nasa.) Du bist in meiner Arabischklasse, stimmt´s?
NASA: Bin ich.
JAKE: Cool. (Zu Benjy.) Sie ist in meiner Klasse. Ein echter Durchstarter.
NASA: Vielen Dank.
39
SANDY: Wir haben uns gerade am Auffanglager getroffen. Sie haben ein paar von uns mit Taxen
hierher geschickt.
BENJY: Wie viele insgesamt?
SANDY: Die hierher sind? Vielleicht dreißig.
NASA: (exakt) 28.
SANDY: 28. Sobald die Gruppe vollständig ist, soll das Internationale SOS Busse hierher schicken
- heute spät oder heute Nacht.
JAKE: Und wo wollen sie uns hinbringen?
SANDY: Der Typ vom Internationalen SOS hat gesagt, vielleicht nach Syrien. Der Flughafen in
Damaskus ist noch geöffnet.
BENJY: Das habe ich auch gehört. Ich habe Verbindung zu CNN.com online.
SANDY: Seid ihr beide auf der A.U.B.?
BENJY: Ja, und du?
SANDY: Ähä, ich nicht. Nasa. Ich arbeite für den Sommer hier bei einer Ausgrabung. Eine
archäologische Ausgrabung. Die Ausgrabungsstätte ist südlich der Stadt.
JAKE: Wow! Dann warst du ja mitten drin.
SANDY: Was du nicht sagst! Näher dran geht´s nicht. Ich habe drei Tage lang durchgeheult. Ich
hasse Bush so sehr, wie alle ihn hassen, aber ich muss einfach feststellen, dass die Welt schon
vorher am Arsch war. Du kannst den dafür verantwortlich machen, der den Abzug betätigt, den, der
die Bombe wirft, den, der sich in einem Flugzeug, in einem Schulbus in die Luft jagt... Was ich
damit sagen will, ist, dass irgendwer auf eine Art, die wirklich von Bedeutung ist, die
Verantwortung tragen muss. Aber alles, was wir in der Ausgrabungsstätte finden, sind Krieger und
Waffen. Was ich damit sagen will, dass der Karren hier schon seit ziemlich langer Zeit im Dreck ist.
Nasa hört zu, sieht auf, ist anderer Meinung, aber sagt nichts.
BENJY: Wo studierst du?
SANDY: Ich studiere Archäologie in Stanford.
Benjy sieht beiseite. Jake grinst.
SANDY: Und ihr?
JAKE: Harvard.
SANDY: Oh, ich hab gehört, dass der Typ von Internationalen SOS gesagt hat, dass die aus Harvard
zuerst rausgeflogen werden.
40
BENJY: Middlebury.
SANDY: (von der Nachricht aufgebracht) Zwei Cousinen von mir sind in Middlebury!
BENJY: Ach, ja. Wie heißen die?
SANDY: Alice und Sophie Collins? Sie kommen im September ins dritte Semester... Sie sind
Zwillinge. Sehen beide sehr attraktiv aus.
BENJY: (vollkommen begeistert über den Zufall) Ich kenne sie! Alice und Sophie Collins! Ist ja
irre!
Das Geräusch von Flugzeugen über ihnen - verdächtig nah. Dann wieder das Zischen von Raketen,
die sehr nah explodieren. Bis auf Nasa, die aufrecht steht und sich die Ohren zuhält, werfen sich alle
Schutz suchend auf den Boden. Das Licht flackert, es wird etwas dunkler.
SANDY: Meine Güte! Das war knapp!
BENJY: So nah dran war´s noch nie.
NASA: Sie hören nicht auf! Sie hören niemals auf!
BENJY: Beruhige dich! Das Haus ist sicher.
SANDY: Ich persönlich glaube nicht unbedingt, dass ein Hotel mit ein paar hundert privilegierten,
amerikanischen Studenten, die darauf warten, evakuiert zu werden, das ist, was ich ein sicheres
Haus nennen würde, Jake.
JAKE: Ich bin Jake. Er ist Benjy.
SANDY: Entschuldigung.
JAKE: Man kann uns ganz leicht auseinanderhalten: Benjy ist der von uns beiden, der nicht wie
Espenlaub zittert.
BENJY: (geht mit einem Golfschläger in Richtung Bett) Glaubt mir, Bush und Cheney haben das
hier unter Kontrolle. Wenn zweihundert amerikanische Studenten in Beirut getötet werden, bricht
ihr Beliebtheitswert wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Das lassen sie schon nicht zu. Das
Wahljahr steht bald ins Haus. Glaubt mir.
NASA: (kann nicht mehr schweigen) Diese Raketen sind amerikanische Raketen. Die Juden
benutzen amerikanische Raketen.
BENJY: Pardon? Meinst du „Juden“ oder meinst du „Israelis“?
NASA: Worin besteht der Unterschied?
BENJY: Oh, den gibt´s schon. Wo bist du her?
NASA: Ich bin in Palästina geboren. Aufgewachsen bin ich in Massachusetts.
JAKE: Ich bin aus Massachusetts. Aus welcher Stadt kommst du?
41
NASA: Medford. Und du?
JAKE: Ich bin aus Wakefield. Wie ist deine Familie nach Medford gekommen?
NASA: Ich bin von der Cousine meiner Mutter großgezogen worden. Sie ist Professorin in Tufts.
JAKE: Gehst du auch auf die Uni?
NASA: Nein.
JAKE: Wo bist du?
NASA: Ich setze gerade aus.
JAKE: Oh.
BENJY: Was motiviert dich dazu, Arabisch zu studieren, wenn du, na ja, du sowieso Araberin bist?
NASA: Ich bin Englisch aufgewachsen. Ich habe bis jetzt noch nie Arabisch gelernt.
JAKE: Wow, eine Erstsemesterin! Wirklich beeindruckend! Dafür bist du echt der Hammer! (Zu
allen.) Sie hat mit Abstand am meisten von uns allen in der Klasse drauf. Wo bist du zur Uni
gegangen, bevor du deine Auszeit genommen hast?
NASA: In Cambridge. In England.
JAKE: Wow! Cambridge. Super!
SANDY: Super, Nasa! Das wusste ich nicht. (Zu allen.) Wir haben uns erst gestern kennen gelernt.
Das Geräusch von Flugzeugen über ihnen - verdächtig nah. Dann wieder das Zischen von Raketen,
die explodieren. Der Einschlag ist wirklich sehr nah. Jeder - außer Nasa - wirft sich auf den Boden
und geht in Deckung. Das Licht flackert, wird dunkler und stabilisiert sich wieder. Unmittelbar
danach eine weitere Rakete, wieder eine Bombe, noch näher. Alle - außer Nasa - werfen sich auf
den Boden.
JAKE: Scheiße!
BENJY: Das war wirklich extrem nah.
SANDY: (weint) Oh, mein Gott! Oh, mein Gott! Oh, mein Gott! Das war so nah! Tut mir leid. Ich
neige zur Hysterie.
Das Geräusch von Flugzeugen über ihnen - verdächtig nah. Dann wieder das Zischen von Raketen,
die explodieren. Der Einschlag ist noch näher, noch lauter. Alle - außer Nasa - wirft sich auf den
Boden und gehen in Deckung. Das Licht flackert, wird dunkler und stabilisiert sich wieder.
NASA: Sie hören nie auf. Sie wollen, dass alle tot sind.
BENJY: Was soll das heißen „sie“? Wer will, dass alle tot sind?
NASA: Die Juden.
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BENJY: Verzeihung, aber mein Name ist Benjy Gerson. Ich bin Jude. Ich will nicht, dass alle tot
sind.
NASA: Tot oder versklavt. Worin besteht der Unterschied?
BENJY: Entschuldige, bitte. Du hast meine Frage nicht beantwortet. Was ich dich frage, ist, ob
Israel der Feind ist oder Juden im Allgemeinen.
NASA: Ich habe deine Frage mitbekommen.
BENJY: Und was ist deine Antwort?
NASA: Ganz speziell die Juden, nicht im Allgemeinen. Wenn die Welt von Juden befreit ist, ist die
Welt frei.
BENJY: (lacht perplex) Hab ich da richtig gehört?
NASA: Was denn? Willst du damit sagen, dass du nicht die Vernichtung von allen Arabern
unterstützt?
BENJY: Du bist ja hirntot.
NASA: Überleg dir, was du sagst!
BENJY: (wütend) Fick dich!
JAKE: Hey!
SANDY: Moment mal, Leute! Wir stecken hier alle zusammen drin.
BENJY: Sie sollte auf Knien vor mir um Vergebung winseln! Sie sollten mir auf Knien einen
blasen!
SANDY: Hey!
JAKE: Hey, Benjy, das reicht! Chill dich mal wieder ein! (Zu den Mädchen.) Ich habe ihn vor zehn
Minuten zum ersten Mal in meinem Leben getroffen.
BENJY: (voller Wut zu Jake) Du kannst dich auch ins Knie ficken, Alter! Du bist auch noch auf
deren Seite. Du würdest meine Mutter auch in die Luft jagen.
JAKE: Du redest Scheiße, Benjy. Ich habe nicht die Absicht, deine Mutter in die Luft zu jagen.
Nasa befindet sich am Bett und sucht etwas aus ihrem Rucksack.
NASA: Das würde mir das größte Vergnügen bereiten, deine Mutter in die Luft zu jagen. Es würde
mein Leben mit Sinn erfüllen.
BENJY: Und was hast du heute vor? (Er sieht, wie Nasa ihren Rucksack öffnet.) Hast du eine
Bombe da drin? WAS HAST DU HEUTE VOR?
43
SANDY: Oh, mein Gott!
JAKE: Hey!
Nasa greift nach ihrem Rucksack. Urplötzlich springt Benjy auf´s Bett, schubst Nasa beiseite und
bedroht sie mit seinem Golfschläger.
BENJY: (schreit Nasa an) Noch eine Handbewegung, du Nutte, und du segnest das Zeitliche,
Drecksviech! HAST DU MICH VERSTANDEN?
Vorsichtig inspiziert er den Inhalt des Rucksacks.
JAKE: Meine Güte, Benjy, lass das! Was machst du denn?
Benjy hüpft befriedigt ob der Tatsache, dass der Rucksack keine Bombe beinhaltet, vom Bett
herunter. Er starrt auf Nasas weit sitzende Kleidung.
BENJY: Sie ist verkabelt. Die Nutte ist verkabelt! Sie will sich in die Luft jagen! Stimmt´s, du
Drecksviech?
Verängstigt rennt Nasa zur Tür. Benji verfolgt sie und droht ihr, sie mit seinem Golfschläger zu
schlagen. Sandy geht panisch zu Nasa auf Abstand.
BENJY: Eine Bewegung! Eine Bewegung! Und ich knalle dir dein Hirn aus der Rübe, du Nutte!
Gelassen legt Benjy mit seinem Golfschläger auf Nasa an. Voller Angst krümmt Nasa sich vor
Benjy´s offensichtlicher Wut zusammen. Sandy weint. Jake befindet sich in einem Schockzustand
und bemüht sich mutig darum, Benjy aufzuhalten.
JAKE: Benjy, sei vernünftig, Mann. Wir sind alle total gestresst von der Situation. Das, was du da
tust, hat Konsequenzen. Es...
BENJY: (außer Kontrolle) Sie ist verkabelt, du Wichser! Sie hat vor, zweihundert Klugscheißer von
der American University of Beirut umzulegen! Sie ist verkabelt, Arschloch!
JAKE: Sie ist nicht verkabelt. (Zu Nasa.) Sag´s ihm.
NASA: (wütend zu Benjy) Töte mich, Jude! Töte mich! Los!
BENJY: Heb ihr Kleid hoch!
JAKE: Bitte?!
BENJY: Ihre „Bubka“ oder „Burka“ oder wie immer der Lappen da heißt! Heb ihn hoch, Jake!
Beweis mir, dass sie sauber ist. Zeig mir, dass diese arabische Nutte nicht verkabelt ist. Los!
JAKE: Vergiss es, Benjy! Willst du mich mit deinem Golfschläger schlagen? Los! Schlag zu! Das
kannst du vergessen!
BENJY: (droht damit, Nasa mit dem Golfschläger zu töten) Los! Los! (Brüllt.) LOS!
44
SANDY: (brüllt) ICH MACH´S! (Zu Benjy.) Ich mach´s. (Zu Nasa.) Lass mich das machen, Nasa.
Lass das jetzt einfach zu. Du hast doch nichts da drunter, oder? Ich meine, keine Bombe oder so
was? Ich weiß, dass du das nicht hast. Ich glaube dir. Wirklich. Lass mich das einfach machen,
okay?
BENJY: (mit dem Golfschläger über Nasas Kopf) Tu, was sie sagt! Wenn du nur deine
Zehenspitzen bewegst, kannst du dein Hirn von der Wand abkratzen. Hast du mich verstanden?!
SANDY: Lass mich das jetzt bitte machen, Nasa. Lass mich das tun. Lass es einfach zu. Bitte?
NASA: Mach´s!
Sandy kniet vor Nasa und hebt vorsichtig ihr Kleid hoch. Nasa trägt rosafarbene Unterhosen, auf
der kleine, rosafarbenen Herzchen sind. Dazu trägt sie einen passenden BH - verspielt, bunt, typisch
Amerikanisch. Ihr Bauch ist nackt. Keine Bombe. Sandy zieht ihr ihre Kleidung wieder herunter,
dreht sich in Richtung Wand und schluchzt.
SANDY: Da ist nichts. Sie hat nichts an sich. Ich habe dir geglaubt, Nasa. Wirklich. Es tut mir echt
leid.
JAKE: Mein Gott!
SANDY: Da ist nichts. (Schreit Benjy an.) Sie hat nichts!
JAKE: Gott. Oh Gott, oh Gott, oh Gott.
Nasa schluchzt auf. Sie ist über alle Vorstellungskraft gedemütigt. Sandy heult und bewegt sich auf
Nasa zu.
SANDY: Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid. Bitte...
Nasa dreht sich zu Sandy um, spuckt sie an und schlägt ihr ins Gesicht.
SANDY: Bitte, nein, bitte! Es tut mir leid! Es tut mir aufrichtig leid! Es wäre möglich gewesen. Es
wäre wirklich möglich gewesen.
Sandy schluchzt und setzt sich auf´s Bett.
JAKE: (geht auf Nasa zu) Es tut mir leid, Nasa. Es tut mir wirklich, wirklich leid. Das war
furchtbar. Das war wirklich furchtbar.
Jake berührt Nasas Schulter. Nasa schlägt ihn, fühlt sich verraten. Sie ist voller Wut.
JAKE: (zu Benjy) Entschuldige dich bei ihr, Benjy. Gib zu, dass du einen Fehler gemacht hast.
(Tritt wütend gegen das Bett.) Los, sag was!
BENJY: (einfach und ruhig zu Jake) Fick dich!
Aus dem Nichts heraus schlägt Benjy viermal mit voller Wucht gegen das Bett.
BENJY: Fick dich, fick dich, fick dich, fick dich!
Stille. Benjy starrt Nasa an. Sandy sieht sie ebenfalls an. Pause.
45
NASA: (schluchzt aus einer Mischung aus Wut und Tränen; zunächst irrational) Meine Familie ist
von einer israelischen Rakete getötet worden, die aus einem Panzer in unser Haus abgeschossen
wurde. Ich war zweieinhalb. Ich hatte drei Brüder, die alle älter waren als ich. Wir haben in Gaza
gelebt. Mein Vater hatte einen ziemlich erfolgreichen Waschsalon. Viele seiner Kunden waren
Juden. Einer seiner Mitarbeiter war Jude. Man hat mir erzählt, dass mein Vater Politik gehasst hat.
Man hat mir gesagt, dass er ein friedlicher Mensch gewesen ist. Er war sofort tot, genau wie meine
Brüder, meine Großmutter und mein Großvater. Ich habe in einem Schuppen hinter dem Haus
geschlafen. Sie waren tot. Ich nicht. Die Israelis haben geglaubt, dass ein Anführer der Hamas in
dem Haus wohnte. Sie hatten die falsche Adresse. Sie haben meine Familie getötet. Die Hamas hat
die Beerdigung bezahlt. Mein Cousin hat mich geholt und nach Amerika gebracht. Während meiner
ganzen Zeit in der High School habe ich geglaubt, dass die Palästinenser im Unrecht sind. Ich habe
geglaubt, dass die Hamas im Unrecht ist. Ich habe mich für eine Amerikanerin und die Israelis für
die Guten gehalten. Letztes Jahr habe ich angefangen, selbständig zu denken, und mir wurde klar,
dass ich keine Amerikanerin bin. Ich bin Palästinenserin. Ich bin Araberin. Ich studiere also die
Geschichte meines Volkes und lerne ihre Sprache. Ich will meine Familie verstehen, meine Mutter,
meinen Vater und meine Brüder. Ich habe nur Fotos, und darauf sehen sie sehr nett aus. (Zu Benjy.)
Du hättest mich umbringen sollen, weil ich habe nämlich einen Plan. Ich werde eine Märtyrerin
sein. Ich werde meine Mutter und meinen Vater in Ehren halten. Ich werde meine Brüder in Ehren
halten. Ich werde meine Großeltern in Ehren halten. Früher oder später wird es so weit sein. (Auf
Arabisch singt sie laut - den Kopf in den Himmel.) „Allah ist mächtig. Hamas ist mächtig.“ - Töte
mich. Wenn du mich nicht tötest, töte ich deine Familie. An einem nahen oder fernen Tag wird es
geschehen.
Das Geräusch von Flugzeugen über ihnen - verdächtig nah. Dann wieder das Zischen von Raketen,
sehr nah explodiert eine Bombe. Die Hinterwand und die Fenster glühen rot auf. Wir sehen den
Schattenriss von Nasa, die aufrecht und stolz da steht. Sie ist bereit zu sterben.
Fade Out.
Ende des Stücks.
PAUSE.
46
4. Vorsprechen
PERSONEN
ALEXIS, um die 30
REGISSEUR alias ED, um die 30
ZEIT
Gegenwart.
ORT
Tanzsaal eines Hotels, New York City.
Für Victoria und Frank.
47
Im Dunkeln hören wir ein Klavier, das ein Stück spielt, das zu einer langsamen Stepp-JazzTanznummer für ein Vortanzen passt. Wir hören nun die Schrittfolge einer Tänzerin. Scharfes Licht
auf Alexis, die in der Bühnenmitte steht, die sich durch eine ziemliche komplizierte Nummer
durcharbeitet, die sie während des gesamten Stückes durchtanzen wird. Nach einigen Augenblicken
hören wir die Stimme des Regisseurs über Lautsprecher oder sehen dessen Schatten in der ersten
Reihe des Theaters.
REGISSEUR: Wo bist du geboren, Alexis?
Das Klavier klingt aus. Alexis tanzt weiter.
ALEXIS: Wo ich geboren bin?
REGISSEUR: Ja. Wo bist du geboren?
ALEXIS: In Boston.
REGISSEUR: In Boston?
ALEXIS: Ja. Ich bin in Boston geboren. Wieso?
REGISSEUR: Irgendwo unterwegs musst du dir einen ziemlich scheußlichen New Yorker Akzent
eingefangen haben.
ALEXIS: Ja, kann sein. Kann schon mal vorkommen.
REGISSEUR: Kannst du den abstellen?
ALEXIS: Kann ich was abstellen?
REGISSEUR: Den Akzent. Das Stück spielt im tiefsten Süden.
ALEXIS: Ich weiß, dass das Stück im Süden spielt. Der Dialekt liegt mir. Hab ich schon oft
gemacht.
REGISSEUR: Zum Beispiel...?
ALEXIS: Ja, viel eben. Ist alles auf meiner Vita.
REGISSEUR: Wenn du bitte sprechen und mir, wenn du so weit bist, einen sehr starken
Südstaatenakzent geben würdest.
ALEXIS: Ja, klar. Null problemo. (Spricht in einem undefinierbaren Akzent.) Ja, da habe ich wohl
schon ganz viele Südstaatenakzente gesprochen...
REGISSEUR: Zum Beispiel was?
48
ALEXIS: Südstaatenakzent habe ich in „Endstation Sehnsucht“ von dem ehrenwerten Mister
Tennessee Williams gesprochen.
REGISSEUR: Von „Endstation“ steht hier nichts auf deinem Lebenslauf, Alexis. Wo hast du
„Endstation“ gespielt?
ALEXIS: In Boston.
REGISSEUR: Ach, wirklich. Ich bin aus Boston. Und mit wem hast du „Endstation“ gearbeitet?
ALEXIS: (lügt) Außerhalb von Boston. Eine kleine Nudelbrettbühne in Cape Cod.
REGISSEUR: Und wo?
ALEXIS: Wo in Cape Cod?
REGISSEUR: In welchem Theater?
ALEXIS: In einem kleinen Sommertheater. Das haben Sie wahrscheinlich noch nie was von gehört.
REGISSEUR: Ich habe zehn Jahre lang in Sommertheatern in Cape Cod gearbeitet.
ALEXIS: Also, wir waren so eine Art Theater mit Bewirtung. In einem Fischrestaurant. Sehr beliebt
bei Alternativen.
REGISSEUR: Wer hatte die Leitung?
ALEXIS: Über das Restaurant?
REGISSEUR: Über das Stück, Alexis.
ALEXIS: Ach, so. Da kann ich mich nicht erinnern. Mein Cousin Elliot.
REGISSEUR: Elliot Engel?
ALEXIS: Elliot Palumbo.
REGISSEUR: Ich glaube nicht, dass ich den kenne.
ALEXIS: Na, ja, er ist ja auch tot. Tragisch verunglückt.
REGISSEUR: Das kann ich mir vorstellen. Was ist passiert?
ALEXIS: Autounfall.
REGISSEUR: Wie alt ist er gewesen?
ALEXIS: Schon alt. Er hätte das mit dem Trinken sein lassen sollen.
49
REGISSEUR: Du hast hier eine Adaption von „Vom Winde verweht“ aufgelistet. Wo hast du das
gemacht?
ALEXIS: Am gleichen Haus.
REGISSEUR: Und hat das Elliot Palumbo auch inszeniert?
ALEXIS: Hat er. Ja.
REGISSEUR: Sieht fast so aus, als ob alles, was du hier stehen hast, im Süden spielt.
ALEXIS: Na, ja, die Aufführung soll ja im Süden spielen, da habe ich eben alles aufgelistet, was ich
schon im Süden gespielt habe. Haben Sie damit ein Problem?
REGISSEUR: (mit Amüsement in der Stimme) Nein, das ist schon in Ordnung, Alexis. Haben fast
alle dieser Stücke in dem Fischrestaurant für Alternative stattgefunden?
ALEXIS: Ja. Haben sie. Ja.
REGISSEUR: Produziert von Elliot Palumbo?
ALEXIS: Ja. Hm. Ja.
REGISSEUR: Vor seinem tragischen Unfall?
ALEXIS: Nein, nach seinem Tod! Dürfte ich mal erfahren, warum hier so ein Getue um Dialekte
gemacht wird? Ich spreche doch für das Tanz-Ensemble vor, für eine stumme Rolle.
REGISSEUR: Das Tanz-Ensemble wird ab und an etwas rufen müssen.
ALEXIS: Wie zum Beispiel was?
REGISSEUR: Keine Ahnung. Sachen, die man eben so im tiefen Süden ruft.
ALEXIS: Wie sind Sie mit meinem Steppen zufrieden?
REGISSEUR: Okay. Deine Technik ist in Ordnung.
ALEXIS: Ich spreche für das Tanz-Ensemble vor.
REGISSEUR: Es geht eben einfach um den Dialekt. Sonst nichts.
ALEXIS: Was hast du für eine Ahnung vom Süden? Du bist aus Boston.
REGISSEUR: Entsprechen irgendwelche der Angaben hier der Wahrheit?
50
ALEXIS: (hört mit dem Steppen auf und spricht den Regisseur sehr direkt und ernst an) Was du hier
siehst, entspricht der Wahrheit, oder? Brauchst du einen Nachweis von dem, was du vor dir siehst?
Ich habe dreizehn Jahre lang meine Kinder großgezogen. Hast du Kinder, Ed? Streichen wir die
Frage. Du hast doch eine Mutter gehabt, oder? Ich bin dreizehn Jahre lang eine von denen gewesen.
Davor habe ich nichts anderes gemacht als Tanz-, Schauspiel- und Gesangstunden zu nehmen. Seit
fünfzehn Jahren habe ich alleinerziehend diese Mutterscheiße an den Hacken. Ich habe zwei Kinder
durchgebracht und 45 Stunden in dem Restaurant neben unserem Haus gearbeitet. Aber ich habe
jeden Abend in unserem Wohnzimmer getanzt und gesungen, Ed. So heißt du doch, stimmt´s? Ed?
Ed? Ich habe ohne Unterbrechung durchgeprobt, Ed. Und jetzt bin ich so weit. (Rekapituliert die
Stepptanz-Nummer, die während ihrer Rede andauert und in einem beeindruckenden Finale endet.)
Meine Kinder sind gut in der Schule. Aggie ist in der fünften Klasse, Julie in der siebten. Es sind
gute Kinder. Sie wissen, dass es jetzt Zeit für mich ist, dass ich etwas für mich tue, und sie sind
damit einverstanden. Ich will dieses Stück machen, Ed. Du wirst auf der ganzen weiten Welt keinen
Menschen finden, der dieses Stück so gern machen möchte, wie ich es machen möchte. Es ist eine
stumme Rolle in einem Tanz-Ensemble ohne Gewerkschaftsabsicherung in einem winzig kleinen
Theater mit Bewirtung. Du bezahlst kein Geld. (Sie tanzt das große Finale, blitzschnelle
Schrittfolge, Drehungen, Sprünge...) Also, geh mir einfach nicht auf den Sack, okay... (macht in der
Bühnenmitte einen Spagat) ...Ed?
Kurzes Stille.
REGISSEUR: Hast du morgen Zeit, zu einem Callback zu kommen, Alexis?
ALEXIS: (steht still und sieht den Regisseur direkt an) Habe ich.
REGISSEUR: Dann machen wir das so, Alexis. Wie sieht´s morgen um 14 Uhr 30 aus?
ALEXIS: 14 Uhr 30 geht klar, Ed.
REGISSEUR: Sehr gut.
Alexis lächelt.
Fade Out.
Ende des Stücks.
51
5. Im Hotel
PERSONEN
JANICE, um die 30, schön.
CHAD, um die 30, attraktiv.
AARON
ZEIT
Mitternacht. Gegenwart.
ORT
Ein Hotelzimmer.
Für Stephanie Janssen.
52
Licht auf ein Hotelzimmer. Duschgeräusche aus einem Bad, die Tür ist leicht angelehnt. Aaron, um
die 40, groß gewachsen, attraktiv, zieht sich so rasch wie möglich an. Er zählt sechs hundert
Dollarnoten aus seiner Brieftasche ab und legt sie auf die Ablage des Schreibtisches. Er tritt rasch
und leise durch die Zimmertür ab und verschließt sie hinter sich. Er ist fort. Kurze Pause. Nun wirkt
das Zimmer verlassen. Ein ungemachtes Bett ist zu sehen, durchwühltes Bettzeug, Frauenkleidung
auf einem Sessel. Jeans, Oberbekleidung, ein Jackett, in der Nähe Schuhe. Autoschlüssel und die
600 Dollar liegen auf dem Schreibtisch. Die Duschgeräusche enden. Janice´s Stimme ist zu hören.
JANICE: Aaron? Hast du was gesagt?
Kurze Pause. Die Tür geht auf. Janice streckt ihren Kopf ins Zimmer, ihre Haare wie auch ihr
ganzer Körper sind klitschnass. Sie sieht sich um. Sie ist sehr schön.
JANICE: Aaron?
Sie ist offensichtlich fassungslos, dass sie alleine ist. Sie verschwindet ins Bad. Kurze Pause. Sie
betritt das Zimmer, Handtuch um den Kopf und trägt einen hoteleigenen Frottee-Bademantel. Sie
wirft sich auf´s Bett, findet eine Schachtel Zigaretten, will sie sich anzünden, entscheidet sich, nicht
zu rauchen und drückt die Zigarette im Aschenbecher aus.
An der Tür wird geklopft. Sie sieht hoffnungsvoll auf.
JANICE: Aaron?
Von draußen ist Chad´s Stimme zu hören.
CHAD: Zimmerservice.
JANICE: (offensichtlich enttäuscht) Oh. Ja. (Macht den Bademantel zu, setzt sich hin und ruft.)
Okay! Herein! (Stellt sich hin, zurrt den Gürtel des Bademantels noch enger.)
CHAD: (von draußen) Kann ich reinkommen?
JANICE: Klar. Sicher. Herein.
Die Tür geht auf. Chad kommt herein und rollt einen Tisch mit Essen für zwei Personen in den
Raum. Er ist Ende zwanzig, Anfang 30 mit einem hübschen Gesicht, von athletischer Figur.
CHAD: Hi.
JANICE: Hi.
CHAD: Wo soll das hin?
JANICE: Ist mir egal.
CHAD: Am Fenster okay?
JANICE: Ja.
CHAD: Am Fenster okay?
53
JANICE: Ich hab gerade „ja“ gesagt.
CHAD: Tut mir leid. Das hab ich nicht gehört.
JANICE: Am Fenster ist ideal.
CHAD: Gut. Ich kann ihn auch woanders hinstellen. Kein Problem.
JANICE: Am Fenster ist in Ordnung.
CHAD: Na, gut.
Er rollt den Tisch zum Fenster und nimmt die Gerichte darauf herunter.
JANICE: Schon in Ordnung. Ich mach das selbst.
CHAD: Bin schon dabei. Wirklich. Soll ich die Kerze anzünden?
JANICE: Bitte? Oh, ja, sicher. Unbedingt.
Er macht die Kerze an.
CHAD: Parfümiert. Riechen Sie das?
JANICE: Denke schon.
CHAD: Maiglöckchen.
JANICE: Stimmt. Schön.
CHAD: Meine Mutter hat Maiglöckchenparfum benutzt. Ich hab´s aber nicht ausgesucht. Das ist
Zufall. Der offizielle Duft des Hauses ist Maiglöckchen.
JANICE: Das Hotel hat einen offiziellen Duft?
CHAD: Eine offizielle Farbe. Eine offizielle Blume. Ein offizielles Wasser. Geruch. Fragen Sie
mich nicht. Ich arbeite hier nur. Immer wenn ich eine Kerze anmache, muss ich an meine Mutter
denken.
JANICE: Ist sie tot?
CHAD: Äh, äh. Sie lebt in Connecticut. Das nimmt sich nichts.
JANICE: (lächelt) Meine Eltern leben in Connecticut.
CHAD: Ach, ja. Tun sie das? Sollte nur ein Witz sein. Ich habe nichts gegen Connecticut. Wo
genau?
JANICE: Meine Eltern? Kennen Sie sich in Connecticut aus?
CHAD: Nein, nicht besonders. Ich bin dort nicht aufgewachsen. Sollen ich die Speiseglocken auf
den Gerichten lassen?
54
JANICE: Ist egal.
CHAD: Kommt er sofort wieder?
JANICE: Wer?
CHAD: Ich... Tut mir leid. Ich wollte nicht...
JANICE: Ich weiß...
CHAD: Ich hab nur gedacht...
JANICE: Ist wirklich okay...
CHAD: Ich habe ihn gesehen und...
JANICE: Haben Sie?
CHAD: Hab ich. Ja.
JANICE: Wie lange her?
CHAD: Gerade eben. Als ich gerade mit dem Tisch aus dem Aufzug kam...
JANICE: Da ist er rein?
CHAD: Vielleicht vor sechs Minuten. Er hat mir die Tür aufgehalten. Sah wie ein sehr anständiger
Kerl aus. Hat gelächelt und „wie geht´s?“ gefragt. Könnte sein, dass er nur kurz weg ist. Ich
meine... Tut mir leid...
JANICE: Nein, wirklich... Ich... Wirklich.
Chad ist mit dem Tischdecken fertig.
CHAD: So. Fertig. Ich öffne den Wein, damit er atmen kann.
JANICE: Klar. Sicher.
CHAD: Côtes-du-Rhônes. Der offizielle Rotwein des Hotels.
JANICE: Sehr schön.
CHAD: Aus Frankreich, aus dem Lubéron-Massiv. In der Nähe von Avignon. Vollmundig, schmeckt
nach Pflaume und einem leichten Hauch Steinpilz. (Lächelt.) Das sind Dinge, die wir wissen
müssen. Man lernt uns dahingehend an.
JANICE: Hast du Hunger?
CHAD: Wie? Ach, so... Nein. Das kann ich...
JANICE: Wer soll das erfahren?
55
CHAD: Ich... Also... Sind Sie sicher?
JANICE: Bin ich.
CHAD: Muss aber schnell gehen. Bist du dir wirklich sicher?
JANICE: Glaub mir, ich...
CHAD: (setzt sich) Der Wildlachs ist das Beste, was sie hier zu bieten haben. Das Gemüse sind
gegrillte Farnknospen. Dafür ist gerade Saison. Und der Wein ist wirklich gut... Zwar vollkommen
unpassend zu dem Lachs, aber wirklich gut.
JANICE: (setzt sich) Ich heiße Janice.
CHAD: Ich heiße Chad. (Kurze Pause.) Das hab ich mir ausgedacht. Ich meine, mein richtiger
Name lautet anders. Chad habe ich gefunden. Chad und Jeremy? Ein Rock Duo aus den 60ern.
Engländer.
JANICE: Stimmt.
CHAD: „Yesterday´s Gone“, „A Summer Song“, „Willow Weep For Me“, „Four Strong Winds“.
JANICE: Ah. Stimmt.
CHAD: Und du...?
JANICE: Ich bin Jeremy. Nein. Ich bin Janice.
CHAD: Ich bin Chad. Hab ich ja schon gesagt. Na, ja... Jetzt bin ich Chad. Mein Geburtsname ist
Alvin.
JANICE: Ehrlich?
CHAD: Jetzt hast du mich verstanden.
JANICE: Alvy ist okay.
CHAD: Findest du? Probier´s mal aus. Nenn dich mal „Alvy“. Ich bleib bei Chad.
JANICE: Janice und Alvin nehmen sich nichts.
CHAD: Stimmt. Wenn ich Janice hieße, würde ich mich vermutlich davon trennen und mich auf so
was wie - keine Ahnung - Angelina umbenennen.
JANICE: Mein Nachname ist Farina.
CHAD: Gut. In Ordnung. Lassen wir das mit Angelina.
JANICE: Mein Nachname ist nicht Farina. Ich heiße anders.
CHAD: Schwartz?
JANICE: Woher weißt du das?
56
CHAD: Auf der Bestellung. Schwarz auf 1117.
JANICE: Genau.
CHAD: Bist du sicher, dass er nicht zurück kommt?
JANICE: Iss!
CHAD: Du bist nicht aus der Stadt?
JANICE: Bin vor kurzem weg.
CHAD: Ach, so. (Sieht die 600 Dollar auf dem Schreibtisch.) Was ist dein Geschäft?
JANICE: Was ist dein Geschäft? Schauspieler?
CHAD: Ja. Gut... Hm. Letztes Jahr hatte ich drei Wochen Arbeit, vorletztes Jahr zwei. (Isst.) Wenn
ich esse, musst du auch essen.
JANICE: Ich hab keinen Hunger. Hast du eine Freundin?
CHAD: Nein.
JANICE: Einen Freund?
CHAD: Auch nicht.
JANICE: Wieso?
CHAD: Steht nur bei der Arbeit im Weg.
JANICE: Der hier?
CHAD: Ja.
JANICE: Page?
CHAD: Ich arbeite im gleichen Geschäft wie du.
JANICE: Ich kann nicht ganz folgen.
CHAD: Im Wesentlichen. Im Wesentlichen mache ich das Gleiche wie du. Du scheinst es offenbar
nur deutlich besser als ich drauf zu haben.
JANICE: Ich kann dir wirklich nicht folgen.
CHAD: Ich sehe da 600 Dollar auf dem Schreibtisch.
JANICE: Oh, nein... Das ist für das Zimmer. Oh... Du hast geglaubt, ich... Oh... Nein, ich... Das ist
dein Job?
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CHAD: Ja.
JANICE: Oh. Na, gut. Cool.
CHAD: Kommst du damit klar?
JANICE: Ich habe nichts dagegen. Ist doch dein Leben. Na, also...
CHAD: Mein Stundenlohn liegt bei 250.
JANICE: Das ist das Geld für das Hotelzimmer. Ich... Vielleicht bin ich wirklich besser als du.
CHAD: Könnte schon sein. Begehe ich da gerade einen riesengroßen Fehler? Ist er so was wie dein
Ehemann?
JANICE: Er ist so was wie der Ehemann von wem anders.
CHAD: Und du kennst ihn sozusagen bloß?
JANICE: Äh, ja... Ich kenne ihn.
CHAD: Oh. Ohhh. So langsam fällt der Groschen.
JANICE: Wir machen das schon seit vier Jahren.
CHAD: Das hier? Ach, wirklich. Sich in Hotels treffen.
JANICE: Er lässt das Geld für das Zimmer liegen, ich bezahle die Hotelkosten mit meiner
Kreditkarte und zum Ende des Monats mit American Express...
CHAD: Mit seinen sechshundert Dollar.
JANICE: Je nachdem, wie viel das Zimmer kostet. Normalerweise treffen wir uns Downtown, aber
er hatte dieses Geschäftstreffen Uptown, also, haben wir das hier mal ausprobiert.
CHAD: Cool.
JANICE: Kommst du damit klar?
CHAD: Ich habe nichts dagegen. Vier Jahre sind eine lange Zeit.
JANICE: Es macht mir nicht sonderlich viel Freude, über den Zeitraum nachzudenken. Und...
Chad... Treibst du es gerne mit Leuten für Geld?
CHAD: Und wie.
JANICE: In Hotelzimmern.
CHAD: In Hotelzimmern.
JANICE: Frauen kommen dafür hierher.
CHAD: Frauen und Männer.
58
JANICE: Oh. Ohhh. Ach, so.
CHAD: Sie kommen nicht gerade deshalb hierher, aber sie sind wegen irgendeiner beruflichen
Scheiße hier, und sie sind einsam. Und zweihundertfünfzig Dollar sind schnell verdientes Geld.
JANICE: Du benutzt aber Kondome?
CHAD: Bist du mit meiner Mutter befreundet?
JANICE: Bitte? Oh. Klar. Nein, tut mir leid. Das ist mir nur so rausgerutscht. Geht mich nichts an.
Dumme Angewohnheit. Erst reden, dann denken. In der Reihenfolge.
CHAD: Isst du nichts?
JANICE: Verstehst du dich gut mit deiner Mutter?
CHAD: So weit wie möglich. Sie lässt mich ziemlich in Ruhe.
JANICE: Sehr gut. (Isst.)
CHAD: Schmeckt´s?
JANICE: Sehr gut. Fisch ist nicht so mein Ding. (Kurze Pause.) Er schon. (Kurze Pause.) Wie lange
arbeitest du hier?
CHAD: Du meinst das hier oder den Job an sich?
JANICE: Beides.
CHAD: Hier seit fast drei Jahren. Den Job an sich seit sechs.
JANICE: Ach, ja. Cool. Ganz schön lang.
CHAD: Ich denke nicht so.
JANICE: Triffst du dich manchmal noch zu einem richtigen Date?
CHAD: Zu einem Date? So was wie: Heute ist Bingoabend im Burritoville? Nein. Schon lange
nicht mehr.
JANICE: Dafür hab ich Verständnis.
CHAD: Schön. Immer schön, wenn man verstanden wird.
JANICE: Was ich sagen wollte... Auch egal.
CHAD: Ich hatte eine ganze Zeitlang eine Freundin. So was wie achtzehn Monate lang. Dann hatte
ich für ein Jahr einen Freund.
JANICE: Cool.
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CHAD: Wenn du ehrlich bist, findest du das nicht so wirklich cool. Du stellst dir wohl eher die
Frage: „Worauf ist er mehr gestanden?“
JANICE: Quatsch! - Und worauf?
CHAD: Geringfügig mehr auf den Typen. Wenn er mich beleidigt hat, konnte ich ihm eine knallen,
ohne mich schuldig zu fühlen. Ich könnte nie eine Frau schlagen.
JANICE: Wirklich bewundernswert, Al.
CHAD: Ich halt´s mit niemandem aus. Frauen, Männer... Egal. Das ist wie ein Abart von ADS. Ich
hatte zum Beispiel mal einen wirklich niedlichen kleinen Skye Terrier Murphy... Nach drei Monaten
habe ich ihn weggeben.
JANICE: Hunde sind nicht einfach.
CHAD: Dein aufgesetztes Mitgefühl kannst du dir sparen. Das macht mich aggressiv.
JANICE: Du bist wirklich ziemlich empfindlich.
CHAD: Ja.
JANICE: Ich habe dich mit meiner Äußerung verärgert?
CHAD: Ja.
JANICE: Hattest du eine schwere Kindheit?
CHAD: Ich hatte eine Kindheit, die mich empfindlich gemacht hat.
JANICE: Das merkt man.
Chad steht auf, geht auf Janice zu und macht den Eindruck, als ob er sie küssen will.
JANICE: Was machst du da?
CHAD: Ich will dich küssen.
JANICE: Das lassen wir besser sein, okay?
CHAD: Ich möchte aber gerne
JANICE: Ich kann mir dich nicht leisten, Chad.
CHAD: Das war nicht verletzend. Das war unter aller Sau.
JANICE: Also, nach vier Jahren „Beziehung“ mit einem verheirateten Mann und Vater dreier
Kinder zu einem Stricher umzusteigen, der als Page jobbt, könnte sich als Maßnahme herausstellen,
die man mit „unter aller Sau“ bezeichnen würde.
CHAD: Hast du dir schon mal die Frage gestellt, ob es vielleicht für all das einen Grund gibt?
JANICE: Für was?
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CHAD: Für das hier. Für die Handlungskette: Er macht sich vom Acker. Ich komme rein. Nach vier
Minuten essen wir zusammen Wildlachs, den offiziellen Fisch des Hauses, wir amüsieren uns, wir
tauschen fast so was wie Staatsgeheimnisse aus...
JANICE: Der Grund, warum ich hier bin, liegt darin, dass ich mit einem verheirateten
Vertriebsleiter aus der Werbebranche schlafe, der, als ich für ihn zu arbeiten angefangen habe, ein
Kind hatte, zwei, als ich angefangen habe, mit ihm ins Bett zu gehen und jetzt drei hat. Und er will
sich eben gerade aus dem Staub machen. Um bei den Tatsachen zu bleiben, hat er sich aus dem
Staub gemacht. Er ist weg.
CHAD: Davor oder danach?
JANICE: Was denkst du denn?
CHAD: Kann ich dich küssen?
JANICE: Wieso?
CHAD: Weil mich deine Intelligenz anmacht, und du nett bist.
JANICE: Da täuscht du dich sehr. Das bin ich aber nicht.
CHAD: Kann ich dich küssen, Jeremy?
JANICE: Nein! Du kannst mich halten. Wir können ein bisschen kuscheln. Das kann ich gerade gut
gebrauchen.
Sie umarmen sich - lang und zärtlich. Janice fängt an zu heulen.
JANICE: (schluchzt) Nein! Ich wollte nicht weinen! Das ist nur deine Schuld!
CHAD: Das Leben ist zum Kotzen.
JANICE: (lacht und weint) „Das Leben ist zum Kotzen.“
CHAD: (lacht) Hast du nie Beckett gelesen?
JANICE: Und der hat gesagt: „Das Leben ist zum Kotzen.“?
CHAD: (mit gespielter Überraschung) Hat Beckett nicht gesagt: „Das Leben ist zum Kotzen.“?
JANICE: Komm her.
Sie küsst Chad. Ein zärtlicher Kuss. Sie hören damit wieder auf, aber halten sich weiter. Janice
fängt wieder an zu weinen.
JANICE: Es tut mir leid.
CHAD: Es muss dir nicht leid tun.
Chad fängt auch an zu heulen. Janice fühlt seine Tränen auf ihrer Wange.
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JANICE: (tränenerstickt) Weinst du jetzt auch?
CHAD: (tränenerstickt) Sei still. Du bist verletzend. Ich knall dir eine.
JANICE: (schluchzt) Wie konnten wir nur beide so den Karren in den Dreck fahren? Wir sind beide
nicht blöd. Warst du auf der Uni?
CHAD: (schluchzt den Namen seiner Uni) Wesleyan!
JANICE: Na, bitte. Ich hab´s gewusst. Ich war auf der... (schluchzt den Namen ihrer Uni) ... Sarah
Lawrence! Wie konnten wir unsere Leben nur so verkacken?
CHAD: (schluchzt) Ist das jetzt Beckett?
JANICE: (lacht) James Joyce.
CHAD: Scheiße!
JANICE: Was denn?
CHAD: Meine Mutter heißt Joyce.
Sie lachen beide auf. Dann küssen sie sich. Die Tür geht auf. Aaron tritt ein, hält die Karte für die
Zimmertür. Janice und Chad lassen einander los.
CHAD: Verkackt.
AARON: Perfekt!
JANICE: Aaron, das ist Chad. Chad, das ist Aaron.
AARON: Perfekt. Ich bin für zwanzig Minuten weg...
JANICE: Aaron, ich... Nein. Es tut mir nicht leid. Es tut mir nicht leid. Es tut mir nicht leid. Du bist
einfach weg. Warum bist du zurückgekommen?
AARON: Um mit dir zu reden. Ich bin zurückgekommen, um mit dir zu reden! Ich war blöd genug
zu glauben, dass wir reden könnten.
CHAD: Ach, was! Gequirlte Scheiße! Du hast deine Autoschlüssel vergessen. (Zu Janice.) Seine
Autoschlüssel liegen auf dem Schreibtisch.
Chad geht zum Schreibtisch, nimmt Aaron´s Autoschlüssel und liest den Schlüsselanhänger.
CHAD: Subaru, New Jersey. (Wirft Aaron die Schlüssel zu.) Um diese Uhrzeit hast du freie Fahrt
über die Brücke, Kumpel. Blitzschnell bist du zu Hause.
Aaron ballt seine Fäuste und bewegt sich auf Chad zu.
CHAD: Ich kann dir nicht empfehlen, dass du dich mit mir anlegst, Kumpel. Ich hab deutlich mehr
drauf als du.
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Aaron nähert sich Chad, der einen Schlag in Richtung Aaron verfehlt. Aaron versetzt Chad einen
linken Haken, dann serviert Aaron Chad eine Rechte mit optimaler Wirkung. Chad krümmt sich und
taumelt an die Wand.
CHAD: (reibt sich am Kinn - zu Janice) Hat nicht ganz geklappt. (Zu Aaron.) Ich verzieh mich.
Chad geht zur Tür und tritt ab.
JANICE: Du hast deine Schlüssel vergessen?!
AARON: Das ist nicht der einzige Grund, warum ich zurück bin, Janice.
JANICE: Geh nach Hause, Aaron.
AARON: Will ich aber nicht.
JANICE: Das musst du aber. Bitte, Aaron. Entweder du oder ich.
AARON: Wenn ich nicht wieder hierher gekommen wäre, hättest du mit ihm gefickt?
JANICE: Ja.
AARON: Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.
JANICE: Sag „tschüss“. Sag: „Es war ein Fehler.“ Sag: „Zu Hause warten drei kleine Mädchen auf
mich. Das ist alles der totale Irrsinn.“ Und dann geh, Aaron. Bitte, Aaron. Zieh mich da nicht wieder
mit rein. Ich hasse es wie die Pest.
AARON: Ich... Ich bin weg. Du hast das Geld für´s Zimmer.
JANICE: Nimm das Geld. Ich will´s nicht.
AARON: Es sind sechshundert Dollar.
JANICE: Ich kann mir sechshundert Dollar leisten. Damit fühle ich mich deutlich weniger armselig.
Nimm dein Geld, bitte, Aaron.
AARON: Wo hast du es?
JANICE: Es ist...
Erst jetzt bemerkt Janice, dass die sechshundert Dollar weg sind. Chad hat sie genommen.
JANICE: Oh Gott!
AARON: Hat der Page es eingesteckt?
JANICE: (kämpft gegen die Tränen) Geh, Aaron. Bitte. Wenn du noch irgend etwas für mich
empfindest, gehst du jetzt. Bitte, Aaron. Sonst will ich nichts von dir. Geh nach Hause. Bitte.
AARON: Ich...
63
Er beendet den Gedanken nicht. Er bewegt sich rasch zur Tür und tritt ab. Lange Pause. Janice sitzt
regungslos da. Sie geht zum Tisch, setzt sich, trinkt Wein, isst. Sie weint. Ein Klopfen an der Tür.
Voller Hoffnung sieht Janice hoch.
CHAD: (von draußen) Zimmerservice.
Janice lächelt.
JANICE: Herein.
Die Tür geht auf. Chad kommt wieder herein.
CHAD: Zieh dich an. Ich habe sechshundert Dollar, die wir auf den Kopf schlagen können. Heute
ist Bingonacht im Burritoville. Hast du Lust?
Janice lächelt.
Fade Out.
Ende des Stücks.
64
6. Zweite Geige
PERSONEN
EVVIE, um die 30, dunkelhaarig, hübsch.
CATHERINE, um die 30, blond, hübsch.
MARVIN, um die 40, klein gewachsen, kräftig.
SERGEI, um die 60, silbergraue Haare, slawisch, schmierig.
ZEIT
Abend. Gegenwart.
ORT
Ein angrenzendes Zimmer zu einem Ballsaal in einem Hotel.
65
Im Dunkeln ist ein Symphonieorchester zu hören, das Strauss´ Symphonie „Ein Heldenleben“
spielt. Das Orchester wird ausgeblendet. Übrig bleibt eine Geigerin, die das Geigensolo aus „Ein
Heldenleben“ übt. Nach einigen Minuten sauberen Spielens ist ein kleiner Fehler zu hören. Und
dann ein gröberer.
EVVIE: So eine scheiß verkackte Wichse!
Licht auf ein Hotelzimmer. Die Geigerin Evvie, 30, dunkelhaarig, dünn, hübsch. Evvie hat ihre
Geige unter dem Kinn und sitzt Catherine, einer Cellistin, in einem Stuhl gegenüber. Catherine ist
blond, etwas älter als Evvie, etwas rundlich.
Catherine ist gerade dabei, sich ihre Straßenkleidung auszuziehen und sich in ein schwarzes Kleid
zu werfen. Dazu trägt sie die passenden Schuhe. Evvie trägt einen Bademantel. Ein ähnliches
schwarzes Kleid wie das von Catherine hängt an einem Kleiderbügel hinter ihr.
CATHERINE: War doch okay.
EVVIE: Das war nicht okay.
CATHERINE: Das war okay, Evvie.
EVVIE: Das war es nicht, Catherine!
Catherine ist jetzt in Unterwäsche. Die Tür wird plötzlich aufgerissen und Marvin, der Assistent des
Orchesterleiters, streckt seinen Kopf ins Zimmer.
MARVIN: Fünfzehn Minuten, die Damen.
CATHERINE: Danke, Marvin. Sehr schön.
MARVIN: Tschuldigung.
Catherine zieht sich ihr Kleid über den Kopf.
EVVIE: Vielen Dank, Marvin.
MARVIN: (zu Evvie) Brauchst du noch was? Wasser? Einen Quickie auf der Seitenbühne?
EVVIE: Du kannst mich gern bedienen, Marv.
MARVIN: (hoffnungsvoll erstaunt) Ach, wirklich?
EVVIE: Mit dem Wasser, Marv.
CATHERINE: Sieh zu, dass du Land gewinnst, Marv.
MARVIN: Du kriegst das super hin.
EVVIE: Danke schön, Marv.
CATHERINE: Raus!
66
Marvin tritt ab.
EVVIE: Das ist nicht in Ordnung, Catherine. Sergei lässt mich diese 32 Takte zur Eröffnung von
„Heldenleben“ spielen. Er schreibt Richard Strauss um. Der ist geisteskrank. Ein Violinensolo. Ich.
Ich ganz allein. Wenn ich in den ersten fünfzehn Minuten den gleichen Fehler vor den Zuschauern
mache, denkst du dann immer noch, dass es okay ist?
CATHERINE: Versuch´s noch mal.
EVVIE: Oder denkst du dann, dass ich es verschissen habe?
CATHERINE: Dass du´s verschissen hast. Aber auf der Bühne wird dir das nicht passieren. Mach´s
noch mal.
EVVIE: Hätte mir nicht irgendwer gestern Abend mitteilen können, dass unsere Diva, dieses
Miststück, krank ist! Dann hätte ich heute den ganzen Tag üben können. Dann hätte ich irgendwas
zum Vorweisen gehabt.
CATHERINE: Du hast schon was zum Vorweisen. Und in fünfzehn Minuten hast du noch viel
mehr.
EVVIE: In vierzehn.
CATHERINE: In vierzehn.
Evvie spielt die gleiche Phrase noch einmal, kommt an dieselbe Stelle, macht den gleichen Fehler
und reagiert genauso wie vorher.
EVVIE: So eine scheiß verkackte Wichse!
CATHERINE: Na, gut. Okay. Lass es uns durchgehen. Jetzt.
Catherine richtet ihr Cello ein.
CATHERINE: Ein, zwei, drei...
Catherine nickt, senkt ihr Cello. Evvie senkt ihre Geige. Sie spielen in trauter Eintracht, bis der
gleiche Fehler wieder auftaucht.
CATHERINE: Okay, es gibt da ein Problem. Lass es uns zerlegen.
Catherine spielt das Cello und redet gleichzeitig.
CATHERINE: Die erste Note betont und klar spielen, okay? Dann achte darauf, dass die Triole
gleich betont ist. Keine Eile auf den Sechszehntelnoten hier. Akzentuier das deutlicher. Und dann
lass dir bei dem Übergang Zeit. Und dann das hier jetzt, die Noten sind betont, aber sie müssen
trotzdem noch leicht nachschwingen. Mehr Geschwindigkeit, größere Akzentuierung. Tiefes A,
tiefes G, tiefes F, tiefes E...
Evvie spielt und spricht die Wechsel langsam, klar und perfekt mit durch.
EVVIE: Tiefes A, tiefes G, tiefes F, tiefes E... Tiefes A, tiefes G, tiefes F, tiefes E...
67
CATHERINE: Tiefes A, tiefes G, tiefes F, tiefes E...
Evvie spielt zögerlich.
CATHERINE: (spielt und spricht weiter durch) Okay, gut. Besser. Bei der nächsten Phrase wieder
akzentuierter. Und dann ein Crescendo.
Evvie spielt zögerlich.
CATHERINE: Du hast keine Vision auf das Gesamtbild, Ev. Du kannst erst dann wirklich loslegen,
wenn du es langsam abgesichert hast. Los!
Evvie spielt zögerlich.
EVVIE: (während sie spielt) Langsam kann ich´s! Das ist kein Problem. (Beendet das Solo.) Also...
War das besser?
CATHERINE: Viel besser. Hast du gemerkt? Jetzt schnell. Du musst mitatmen. Und hetz dich nicht.
Catherine nickt, beugt ihr Cello. Evvie beugt ihre Geige. In trauter Eintracht spielen sie die gleiche
Stelle, bis wieder der gleiche Fehler auftritt.
EVVIE: Schieß mich ab! Schieß mich einfach ab! Ich will nach Hause. Ich will mich unter meinem
Bett mit meiner Katze verkriechen.
CATHERINE: Hör auf! Du machst dich lächerlich. Das passiert alles nur in deinem Kopf. Du hast
das Stück schon hundert Mal gespielt.
EVVIE: Aber nicht das Solo. Das noch nie. Ich bin die zweite Geige, Catherine. Das ist mein Job.
Ich bin keine Solistin. Ich kann das nicht.
CATHERINE: Ich bin auch keine Solistin, und ich würde für eine solche Chance morden.
EVVIE: Das ist lächerlich! Du könntest, wenn du nur wolltest, jederzeit Solistin sein. Und das
weißt du. Du bist zehnmal talentierter als dieses Pupsgesicht. Und das weißt du, Catherine!
CATHERINE: Ich möchte darüber nicht sprechen.
EVVIE: Oh, oh, oh! Moment mal, Moment, Moment! Du willst nicht darüber sprechen, und ich
muss in... (sieht auf ihre Uhr) ... in zwölf Minuten auf die Bühne, und du sagst mir, dass ich das
schon hinkriege? Gibt´s da vielleicht ein leichtes Gefälle zwischen uns über das, was zur
Diskussion stehen darf und was nicht? Ich spiele Richard Strauss´ Meisterwerk „Ein Heldenleben“
für einen nachweislich Irren rückwärts, weil er glaubt, dass er mehr Ahnung hat als Richard Strauss!
Ich...
An der Tür wird geklopft. Catherine und Evvie schauen auf. Sergei ruft von draußen.
SERGEI: Alles in Ordnung bei euch?
Catherine und Evvie tauschen einen besorgten Blick aus.
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EVVIE: Meinst du, er hat mich gehört?
CATHERINE: Keine Ahnung. (Überfreundlich.) Komm rein, Sergei.
Sergei tritt auf. Er ist ein Herbert-von-Karajan-Imitator, aalglatt, grauhaarig. Er spricht mit
russischem Akzent. Er trägt eine weiße Fliege zum weißen Frack. Er hat einen Taktstock und
Notenpapier bei sich.
SERGEI: (zu Evvie) Ich wollte mir nur noch mal meinen neuen Star ansehen. Um Gottes Willen!
Deine Haare, Evelyn!
EVVIE: Was denn? Stimmt was nicht?
SERGEI: Um Himmels Willen! Wunderbar!
EVVIE: Schön. Mir gefallen sie auch, ich... Danke dir.
SERGEI: Um Himmels Willen! Diese Farbe! Wunderbar! Diese Farbe! Wie heißt diese Farbe?
EVVIE: Braun.
SERGEI: Braun! Wunderbar! (Sieht ihr Kleid an dem Kleiderbügel.) Dein Kleid ist entzückend! Ist
das ein ganz neues Design?
EVVIE: Nein... Also, modern eben. H &M. Ich, äh... (Denkt den Gedanken nicht zu Ende.)
SERGEI: Das wird für uns beide ein ganz außergewöhnlicher Abend.
EVVIE: Ich, äh... Ja, sicher... Ich... Es könnte sein...
SERGEI: Ich liebe Umbesetzungen. Eine Umbesetzung ist immer eine Chance. „Ein Heldenleben“
habe ich schon zwölfmal dirigiert, und es ist immer ein Ereignis gewesen, aber heute Abend...
(Zuckt mit den Schultern.) Heute Abend...?
Es entsteht eine leichte Stille, die Evvie nicht aushält.
EVVIE: Ja?
SEGEI: Ich sehe die Größe des Ereignisses förmlich vor mir. „Ein Heldenleben“ wird heute Abend
in eine Form gebracht, die es wirklich zu einem Meisterwerk macht. Richard Strauss wird vom
Pantheon hinabschauen, und er wird erschaudern, dass nach einer langen, langen Reise „Ein
Heldenleben“ sein wahres Ziel erreicht hat. „Ein Heldenleben“. Das Leben eines Helden! Und du
wirst heute Abend dieser Held sein, Evelyn!
EVVIE: Ich, äh... Ja, also... Es könnte da ein Problem geben, Sergei, ich...
SERGEI: Nein, ich habe mich vertan. Der Held werde ich sein. Und du wirst meine Heldin sein,
Evelyn. Oh Gott! Schau dich an! Du leuchtest!
Sergei küsst Evvie auf die Lippen.
69
SERGEI: Auf der einen Seite das Orchester, auf der anderen ein Auditorium besetzt mit Tausenden
von einflussreichen Menschen, aber für mich, Evelyn, gibt es nur dich und mich... Sergei und
Evelyn! Und sonst niemanden. Oh, mein Gott! Deine Haarfarbe! Und deine Augen! Schau nur, wie
sie mich ansehen! Ich bin süchtig nach ihnen.
Sergei küsst Evvie erneut auf die Lippen und tritt dann ab. Eine leichte Stille, in der die
Überrumpelung der beiden zu spüren ist.
EVVIE: Was war das gerade? Was war das gerade? Was - verdammte Scheiße - ist das gerade
gewesen?!
CATHERINE: Was das gerade war, ist, dass dieser aufgeblasene, russische Eurotrash-Wichser mir
nicht guten Tag gesagt hat. Rein, raus. Und ich hätte mehr menschlichen Kontakt von ihm
bekommen, wenn ich die Türklinke gewesen wäre!
EVVIE: Er hat mir gerade auf die Lippen geküsst, oder? Das hat er gemacht. Ich habe keine
Halluzinationen. Das ist doch wirklich passiert, oder? Wenn du mir, bitte, eine Antwort geben
würdest!
CATHERINE: Er braucht dich.
EVVIE: Tut er das?
CATHERINE: Wenn du da auftrittst und es verkackst, verliert er sein Gesicht.
EVVIE: Scheiße. Er sieht entsetzlich aus.
CATHERINE: Ganz genau.
EVVIE: ICH HALTE DEN DRUCK NICHT AUS!
CATHERINE: Du kriegst das schon hin.
EVVIE: LASS DAS!
Marvin steckt seinen Kopf ins Zimmer.
MARVIN: Zehn Minuten, die Damen!
Marvin schaut Evvie auf ihre Brüste. Die zieht den Gürtel ihres Bademantels enger.
MARVIN: Sergei dreht richtig am Rad. Er hat echtes Fracksausen. Er hat zu Edgar gesagt, dass er
total aufgeregt ist.
CATHERINE: Ach, hör doch auf, Marvin. Sergei ist dauer-aufgeregt. Zumindest seit er bei Oprah
was über „The Secret“ gehört hat. Sergei ist sogar aufgeregt, wenn er seine U-Bahn-Karte locht.
MARVIN: Vermutlich. (Zu Evvie.) Kriegst du das hin, Evvie?
CATHERINE: Sie kriegt das hin, Marv.
70
MARVIN: Das geht auch nicht spurlos an mir vorüber. Das treibt ganz schön die Transpiration
hoch, wenn jemand aus der zweiten Reihe aufsteigt.
CATHERINE: Seit wann bist du Assistent, Marvin?
MARVIN: Ich?
CATHERINE: Ähä, du. Du.
MARVIN: Letzten November sechzehn Jahre. Davon zehn hier unter Sergei.
CATHERINE: Es treibt also wirklich deine Transpiration hoch, wenn du in dem Ballsaal eines
Hotels spielst, um um Spenden zu betteln.
MARVIN: Nicht, dass es mich wirklich aufregt. Aber das Orchester braucht eben das Geld.
CATHERINE: Dieses Orchester braucht nicht nur Geld, Marv. Darf ich dich mal was fragen... Wer
ist ein besserer Orchesterleiter? Du oder Edgar?
MARVIN: Meine Güte, Catherine! Verlang bitte keine Antwort von mir.
CATHERINE: Hast du schon mal ein Konzert selbst organisiert?
MARVIN: Wenn Edgar unpässlich ist?
CATHERINE: Ja.
MARVIN: Ja, sicher. Vielleicht über die Jahre sechs Mal. Eigentlich ist er an Tagen, an denen wir
Vorstellungen haben, nie wirklich krank. Das heißt, er muss dann schon mit einem Fuß im Grab
stehen. Vielleicht sechs Mal in zehn Jahren.
CATHERINE: Wie hat dir das gefallen?
MARVIN: Die Verantwortung zu tragen? - Gut. - Es hat mich zwar beunruhigt, als Edgar sich zwei
Tage frei genommen hat, als seine Mutter gestorben ist... Mir war im vorhinein klar, dass ich drei
Vorstellungen alleine leiten musste, zwei Abendvorstellungen und ein Matinee -, konnte nicht
schlafen, habe am ganzen Leib gezittert. (Lächelt.) Ich bin eben nervös. (Rülpst.) Tschuldigung. Das
war unhöflich. Ich habe im Restaurant da gerade irgendso ein komisches Gemüse gegessen.
Naturbelassenes Essen. Treibt mir die Winde in den Leib. Also, zehn Minuten noch.
Marvin tritt ab. Kurze Stille.
CATHERINE: Du musst da einfach durch. Du kannst das. Du kennst das Stück.
EVVIE: Meine Hände sind eiskalt. Fühl mal.
Evvie streckt Catherine ihre Hände hin, die sie hält.
CATHERINE: Eiskalt.
EVVIE: Hab ich dir doch gesagt.
71
CATHERINE: Aber hier drin ist es heiß.
EVVIE: Ich weiß. Ich habe einfach tierische Angst.
CATHERINE: Du kennst das Stück. Das Problem liegt nicht in der Musik. Das Problem liegt ganz
genau zwischen deinen Ohren. Gehen wir es noch einmal langsam durch.
Catherine nickt, senkt ihr Cello, spielt und spricht gleichzeitig.
CATHERINE: Fangen wir hier an. (Sie fängt an.) Entschlossen und mit Vertrauen. Crescendo hier
auf der Phrase.
Evvie atmet dreimal tief durch.
EVVIE: Ich kann es, ich kann es, ich kann es. Hohes F, tiefes A, hohes A und durch...
Sie senkt ihre Geige, spielt und spricht die Rhythmuswechsel durch, langsam, klar und perfekt.
EVVIE: ...entschlossen ... Crescendo....
CATHERINE: Hetz dich nicht. Intensität erhöhen. Nicht locker lassen. Hier auch nicht. Das will
Sergei, ob er es nun selbst weiß oder nicht.
Catherine und Evvie spielen in trauter Eintracht, bis wieder derselbe Fehler auftritt.
CATHERINE: Nein!
EVVIE: Das ist ja wie im Bermuda Dreieck. Ich weiß, dass es nur in meinem Kopf ist! Ich weiß,
dass es nur in meinem Kopf ist! Ich weiß, dass es nur in meinem Kopf ist! Ich bin total am Arsch.
CATHERINE: Du kriegst das hin.
EVVIE: (schreit) HÖR AUF, MIR DAS ZU SAGEN, CATHERINE. - Tschuldigung. Tut mir leid.
Tut mir echt leid.
Einen Moment lang Stille. Zuerst redet Catherine. Sie ist traurig.
CATHERINE: Ich war auf Alex´ Position, als seine Frau das Kind bekam.
EVVIE: Ich... Ich erinnere mich... Ich... Ich war dabei.
CATHERINE: Schostakowitsch. Erstes Cellokonzert. Ich hab´s total abgewürgt. Ich habe die
Kadenz total versemmelt.
EVVIE: Du hast das schon ganz gut gemacht. - Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade gesagt
habe. Tut mir leid. Vieles war wirklich gut. Durch die ersten beiden Sätze bist du gut
durchgekommen. Der vierte Satz war auch okay. Die Kadenz ist wirklich beinhart. Polyphon. Für
den Cellisten eine echte Qual. Du warst eben nervös und...
72
CATHERINE: (unterbricht sie) Lass es! Ich war perfekt vorbereitet. Ich habe eine Woche lang mit
jemandem gearbeitet. Ich hatte die Kadenz virtuos im Griff. Die zwei Tage vor dem Konzert habe
ich sie fünfzig Mal hinbekommen. Ich hab´s total abgewürgt. Meine Handinnenflächen waren
schweißnass. Ich konnte den Bogen kaum halten. Kein Wunder, dass Sergei mich mit dem Arsch
nicht ansieht. WAS IST NUR MIT UNS LOS?
Eine beträchtliche Pause.
EVVIE: Vielleicht sind Solisten einfach eine andere Gattung Mensch, Catherine.
CATHERINE: Ich bin nicht wie du! Ich habe nichts mit dir am Hut!
Eine kurze Stille.
EVVIE: Okay.
CATHERINE: Tut mir leid. Tut mir wirklich leid. Das ist mir unabsichtlich rausgerutscht. Ich spiele
Cello, seit ich sechs Jahre alt bin. Ich war nie wie die anderen Kinder. Wenn du mich verstehst?
EVVIE: Natürlich tue ich das.
CATHERINE: Das war das Einzige, was meine Eltern immer von mir wollten.
EVVIE: Bei mir auch. Die gleiche Geschichte. - Mein Vater hat bei uns im Gemeindeorchester
Geige gespielt. Er war entsetzlich. Er war Mathelehrer an der Junior High School. Also, das war
sein eigentlicher Beruf, aber... In seinen Träumen war er Geiger. Er liebte das Geigenspiel. Und das
er sich für mich auch so sehr gewünscht. Als ich in Oberlin aufgenommen wurde, hat er geweint.
Obwohl ich zwar ein halbes Stipendium hatte, war es immer noch so teuer, dass er sich einen
Zweitjob suchen musste. Er hat nachts in einem Lebensmittelladen gearbeitet und Waren gestapelt. Wie hätte ich jemals etwas anderes machen können?
Kurze Pause. Und dann, statt zu weinen, senkt Catherine ihr Cello. Das entstehende Geräusch ist
voller Traurigkeit und Verzweiflung. Evvie senkt ihre Geige und schließt sich ihr an. Das Duett ist
zutiefst emotional, vollkommen improvisiert und spontan. Als sie mit dem Spielen aufhören,
schauen sie sich liebevoll an. Beide heulen, ihre Gesichter sind tränenüberströmt. Marvin klopft,
streckt seinen Kopf herein.
MARVIN: Was war das? Das war wunderschön. (Sieht, dass sie aufgewühlt sind.) Alles in
Ordnung?
CATHERINE: Alles in Ordnung, Marvin.
EVVIE: Alles in Ordnung.
MARVIN: Das war wunderschön. Wer hat das geschrieben?
EVVIE: Catherine.
CATHERINE: Evvie.
EVVIE: Wir haben´s zusammen geschrieben.
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MARVIN: Wunderschön. Und so traurig.
CATHERINE: Noch fünf Minuten, Marv?
MARVIN: Wie? Oh. Ja. Noch fünf Minuten, die Damen.
CATHERINE: Vielen Dank, Marv.
EVVIE: Vielen Dank, Marv.
MARVIN: Du wirst das phantastisch hinbekommen, Ev. Ich weiß das. Ich habe ein ganz gutes
Gefühl. Du wirst sie alle umhauen.
EVVIE: Ich... Danke, Marv.
Marvin tritt wieder ab.
CATHERINE: Dieser Typ ist so ein Loser.
EVVIE: Das ist wirklich hart. Ich mag Marvin. Er ist nett.
CATHERINE: Er widert mich an.
EVVIE: Gut, er ist etwas widerlich. Aber er meint es gut. (Sie stimmt ihre Geige.) Mein Bogen ist
feucht.
CATHERINE: Wie oft hat er im letzten Jahr die Garderobentür aufgemacht und ist hier
reingelatscht, als du gerade beim Umziehen warst?
EVVIE: Öfter.
CATHERINE: Wie oft davon bist du in Unterwäsche gewesen oder ganz nackt?
EVVIE: Öfter.
CATHERINE: Und du hältst das für einen Zufall?
EVVIE: Ich habe nie drüber nachgedacht.
CATHERINE: Marvin ist ein Spanner.
EVVIE: Marvin ist schwul, Catherine.
CATHERINE: Das glaubst du doch selber nicht!
EVVIE: Meinst du?
CATHERINE: Er tarnt sich als Schwuler. Aber das ist er gar nicht. Glaub mir.
EVVIE: Meinst du?
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CATHERINE: Einsame, verunsicherte Frauen sind leichte Beute für vereinsamte, unsichere Männer
wie Marvin. Sie drängen sich jeden Abend immer und immer wieder auf und zu guter Letzt knickst
du ein und denkst dir: „ Ach, warum verdammt noch mal denn nicht? Besser, als alleine vor deinem
iMac zu sitzen und „Sex in the City“ DVDs zu glotzen.“
EVVIE: Hast du mit Marv geschlafen?
CATHERINE: Ich bin mit Marv wach geworden, was deutlich schlimmer war. Glaub mir. (Sie
stimmt ihr Cello.) Gott, hörst du den Wolfston, den ich hier habe? Hörst du den?
EVVIE: Ist okay.
CATHERINE: Du meinst, dieser unsaubere, seltsame Ton hier...? Ach, wird schon.
EVVIE: Warum habe ich so eine Panik? Ich habe mich mein ganzes Leben lang darauf vorbereitet.
CATHERINE: Aus dem Grund gibt es Solisten und uns.
EVVIE: Was willst du damit sagen?
CATHERINE: Wenn du zulässt, dir vorzustellen, wie dein Leben einmal sein wird, siehst du dich da
als Star, Evvie?
EVVIE: Ich...
CATHERINE: Ich nicht.
EVVIE: Ob ich mich als Star sehe?
CATHERINE: Ob du dich oder mich als Star siehst?
EVVIE: Worauf willst du hinaus, Catherine?
CATHERINE: Siehst du dich als Solistin? In der ersten Reihe?
EVVIE: Wenn ich mir mein Leben in zehn Jahren vorstelle, habe ich diese große,
undurchdringliche Wolke vor Augen. Ich sehe mir Frauen wie Anne-Sophie Mutter, Sarah Chang,
Pamela Frank, Midori, Sonnenberg an... Werde ich jemals deren Klasse erreichen? Will ich
überhaupt deren Klasse haben? Ist das das Leben, das ich mir für mich vorstelle. Tag und Nacht zu
üben. Nichts sonst. Ich weiß nicht, Catherine. Ich wünsche mir, dass ich endlich Zeit habe, um die
Liebe meines Lebens zu finden, einen wirklich guten Partner... Jemand, auf den ich mich verlassen
kann.
CATHERINE: Du konntest dich auf Elliot verlassen.
EVVIE: Elliot war Musiker. Wir haben den lieben, langen Tag nur miteinander geübt. Und wenn er
nicht mit mir geübt hat, hat er alleine geübt. Ich will jemand Normales. Jemand, der sich wirklich
für mich interessiert, der sich um mich sorgt, der beim Zahnarzt auf mich wartet, wenn ich eine
Füllung bekomme. Ich weiß nicht, ob ich für die Musik auf ein normales Leben verzichten möchte.
Alles, was ich wirklich weiß, ist, dass ich´s nicht weiß. Das ist die Wahrheit.
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CATHERINE: (traurig) Bei mir ist es das Gleiche. Ich weiß es auch nicht wirklich. Es geht mir
genauso. Deshalb sitzt man in der zweiten Reihe: Weil man ein Mensch ist, der sich nicht sicher ist.
Und das sind wir. Wo ist Elliot jetzt?
EVVIE: In Pittsburgh. Ruf ihn an. Ich bin sicher, dass er sich bestimmt über einen Anruf von dir
freuen würde. Ich... Ich... (Sie denkt ihren Gedanken nicht zu Ende, während sie Harz auf ihren
Bogen tut.) Ich ziehe mich besser an. Ich muss da jetzt durch. Es ist hier ganz schön heiß
geworden. Ich schwitze. Schwitzt du?
CATHERINE: Das sind die Nerven.
Von draußen hören wir sich das Orchester aufwärmen. In dem Augenblick, in dem Evvie ihren
Bademantel auszieht und an den Haken hängt, steht sie für einen Moment in ihrer Unterwäsche da.
Plötzlich fliegt die Tür auf, und Marvin steckt seinen Kopf herein
MARVIN: Auf die Plätze, die Damen! (Sieht Evvie an und lächelt.) Ei-ei- ei!
EVVIE: Komm nur rein, Marv. (Dreht sich langsam um und zeigt Marvin ihren Körper.) Und? Was
sagst du?
MARVIN: Hübsch! Wow! Wirklich, wirklich hübsch. Vielen Dank. Sobald du fertig bist, bringe ich
dich zur Bühne.
EVVIE: Ich bin fertig.
MARVIN: Ähm. Und dein Kleid?
EVVIE: Wieso? Meinst du, dass ich das brauche?
MARVIN: Du erlaubst dir einen Scherz, stimmt´s?
EVVIE: Ja. (Schlüpft in ihr Kleid.) Ich bin soweit. Cath?
CATHERINE: Geh. Ich komm dann nach.
Evvie und Marvin treten ab. Catherine sitzt da, weint, schluchzt. Sie trocknet sich die Tränen ab,
überprüft ihr Aussehen im Spiegel und tritt ab. Das Orchester spielt sich weiter ein. Weiterhin volles
Licht auf die leere Garderobe. Das Orchester verstummt langsam. Sergei klopft mit dem
Dirigentenstab auf sein Pult. Evvie ist zu hören, wie sie mit ihrem zweiunddreißig-taktigem
Violinsolo in Sergeis Version von Strauss´ Symphonie „Mein Heldenleben“ beginnt. Nachdem wir
eine Zeitlang reine Töne gehört haben, schleicht sich ein leichter Fehler ein. Und dann ein gröberer.
Fade Out.
Ende des Stücks.
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Anmerkungen zur Inszenierung
„Sechs Hotels“ ist für vier Schauspieler konzipiert. Meine Absicht ist es, daß die
Verwandlungsfähigkeit der Darsteller zu einem erheblichen Teil zum Vergnügen der Aufführung
und der Zuschauer beitragen soll. Was die Besetzung von „Sechs Hotels“ anbelangt, schlage ich
vier Schauspieler im Alter zwischen 30-32 vor. Zwei Frauen, eine davon im klassischen Sinne
gutaussehend (Schauspielerin #1), die andere leicht schrullig und süß (Schauspielerin #2); zwei
Männer, einer im klassischen Sinne attraktiv (Schauspieler #3), der andere leicht verschroben und
nett (Schauspieler #4). Alle Schauspieler sollten äußerlich ansprechend sein.
Folgende Besetzung halte ich für ratsam:
„Farnknospen und Liebespaare“: Emma (#1), Elsa (#2), Noah (#4), Jerry (#3).
„Gespräche über Ärsche“: Stanley (#4), Jean-Philippe (#3), Stella (#2), Veronica (#1).
„Beirut rocks“: Benjy (#3), Jake (#4), Sandy (#2), Nasa (#1).
„Vorsprechen“: Alexis (#2), Regisseur (#3).
„Im Hotel“: Janice (#1), Chad (#3), Aaron (#4).
„Zweite Geige“: Evvie (#2), Catherine (#1), Marvin (#4), Sergei (#3).
Die Auf- und Abgänge der Stücke sind bewusst gewählt, ebenso der emotionale Bogen des Abends.
Spielen Sie erst gar nicht mit dem Gedanken, den Abend mit „Beirut rocks“ zu beschließen. Das
Publikum mit dieser Szene in die Pause zu schicken, ist unabdingbar.
Eine Pause ist aus zwei Gründen unbedingt notwendig: 1) Der Abend ist ohne Pause für die
Zuschauer einfach zu lang. 2) Das Bühnenbild und die Requisiten müssen von der Technik
ausgewechselt werden, die Schauspieler müssen sich umkleiden.
Die Bühnenbilder. Eine Drehbühne wäre von großem Vorteil, aber realistischerweise tun es auch
zwei Aufbauten nebeneinander. Bühnenbild #1 auf der rechten Bühnenhälfte besteht aus Tischen
und Stühlen. Bei Bühnenbild # 2 auf der linken Bühnenhälfte handelt es sich um ein Hotelzimmer
mit einem Bett, Nachtkonsole, Spiegelkommode, Schreibtisch. Schauspieler und Licht wechseln
von einer Dekoration zur anderen. „Vorsprechen“ sollte in der Mitte der Bühne in einem engen,
weißen Spot aufgeführt werden. Die Position des Regisseurs befindet sich in der Mitte des
Publikums. Er spricht in ein Live-Mikrofon. Für „Zweite Geige“müssen in der kurzen Pause die
Notenständer und Musikinstrumente aufgestellt werden. Ich schlage vor, dass das Cello in einem
schwarzen Tuch eingeschlagen wird, damit man es nicht sofort erkennt.
Die Kostüme sollten anziehend, aber einfach sein. Um Kostümwechsel zu sparen, sollten sie
übereinander getragen werden. Im zweiten Teil beispielsweise sollte Schauspieler #3 eine schwarze
Smokinghose und ein schwarzes Kapuzenshirt anhaben, um damit sein Pagen-Outfit, das aus einem
Smokinghemd, Krawatte, Smokinghose und einer bunten Weste bestehen sollte, zu kaschieren. Für
„Zweite Geige“ ersetzt Schauspieler #3 die Weste durch ein Smokingoberteil und einen weißen
Seidenschal und ist also somit bereit, Sergei zu spielen. Was größere Kostümwechsel anbelangt, so
sind diese zeitlich im Aufbau des Stückes berücksichtigt.
Musik. Meiner Meinung nach ist gelungenste Lösung, wenn die Musik für alle Stücke Variationen
von Strauss´ „Ein Heldenleben“ wäre.
Die Arbeit an „Sechs Hotels“ war ein einziges Vergnügen. Ich hoffe, Ihnen wird es mit dem Stoff
ebenso ergehen.
Israel Horovitz,
Cloucester, Mass., Juli 2008.
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