Kanureise Venedig - VCS Verkehrs
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Kanureise Venedig - VCS Verkehrs
SCHWEIZ–ITALIEN Kanu Text und Fotos: Michael Rytz Paddeln auf dem Po? Auf trüben Fluten durch endlose Flächen? Das Abenteuer reizte trotz solcher Bedenken. Und der «König der Flüsse» schwemmte alle negativen Vorurteile gelassen fort. Ein Tagebuch. Auf dem Wasser nach Venedig 1. Tag: Locarno – Cannero Sonntag, 9. Mai 2010: Schwer bepackt fahre ich mit dem Zug meinem Kanu-Natur-PilgerSport-Kultur-Abenteuer entgegen. Geplant waren rund 30 kg, nun schleppe ich gefühlte gute 40 kg. «Geht es in die Luft?», fragt mich eine Mitreisende. Andere lächeln amüsiert beim Anblick des Packesels mit seiner Bootstasche auf Rollen. Lungolago Locarno. In 30 Minuten wird aus dem Bootssack ein schnittiges Seekajak. Trockener Start, dann aber folgt, als wäre der Lago Maggiore nicht schon nahe genug an der Hochwassergrenze, Regen, Regen, Regen. Ich passiere die Grenze, kein Zöllner winkt mich ans Ufer. Kurze Aufhellung, schöne Regenabendstimmung in Cannobio. Ich gönne mir eine Kaffeepause. Regen beim Zeltaufbau in Cannero, Regen in der Nacht und am Morgen. Ein Drittel der Kleider ist schon nass. Ein Handgelenk schmerzt. Im Ristorante bin ich der einzige Gast; der Chef kommt aus Venedig. Fürsorgliche Bedienung und Ermahnung: «Passen Sie auf!» 2. Cannero – Sesto Calende Vorbei an schmucken Häusern mit Swimmingpool und Booten. Zumeist sind die Läden zu. Viele Bäume stehen im Wasser; Vorsicht bei überfluteten Gartenzäunen mit scharfen Kanten. Selbst im Restaurant bleiben die Füsse kalt und nass. Aufgeben? Nein, aber warum nicht einschiffen. Nach Abklärung beim Kapitän, 20 ob ein Faltboot ungefaltet mitdarf, geht’s huckepack von Intra nach Stresa und Arona. Einen Drittel des 60 km langen Sees geschenkt. Caffè e Dolce vor mir, geniesse ich den wolkenverhangenen See. Die Crew kümmert sich rührend um ihren einzigen Gast, hilft das Kajak im Bug des Kursschiffes zu platzieren. Von ihr erhalte ich auch den Hinweis auf eine überspülte Po-Brücke bei Piacenza. Kräftiger Händedruck des Kapitäns: «Buon viaggio!» In Arona boote ich ein und bin wieder mein eigener Kapitän. Ein Einheimischer begleitet mich eine Weile mit seinem Rennkajak. Vor mir liegt Sesto Calende. Der See wird zum Fliessgewässer und gewährt zwei km/h Unterstützung. Der Camping Italia Lido liegt malerisch am Ufer – und der Himmel hat seine Schleusen endlich geschlossen. 3. Sesto Calende – Vigevano Stürmischer Regen die ganze Nacht. Das Zelt hat dicht gehalten. Schlecht geschlafen, gedanklich schon bei dem, was folgt: eine Strecke mit sieben Wehren und einer Portage (hier muss man das Boot an Land «umtragen»). Um sechs lässt der Regen nach. Rasch gepackt, die Spritzdecke um Punkt sieben geschlossen. Die flotte Strömung des Ticino nimmt mich auf, ein paar Paddelschläge, schon liegt Sesto hinter mir. Das erste Wehr von Miorina, das den Seepegel regelt, ist komplett offen und gut befahrbar. Beim gigantischen Wehr Porto Torre folgt eine kurze Landetappe: mit Bootswägelchen durch Regenwald und Pfützenpfade. Die Einstiegsstelle ist versteckt: überall Gehölz, Dornen, Zäune – «Privato»! Endlich findet sich eine günstige Stelle unterhalb des zehn Meter hohen Schrägwehrs Somma Lombardo, Pane perduto. Mammamia: Tosende Wassermassen stürzen herunter, die Strömung ist 20–30 km/h schnell. Wird der ganze Ticino so sein? Ich taste mich vor und fühle mich bald zu Hause auf den Wellen. Grosse Teile der Kiesbanklandschaft sind überschwemmt. Immer wieder wippen Büsche wie Wasserskifahrer im Hochwasser. Zwischendurch teilt sich der Ticino in zwei, drei Arme. Kräftige Kehrwasserwirbel und Verschneidungen erfordern vorausschauendes Fahren, aber es ist Platz für die Ideallinie. Paddle durch und erreiche um halb vier Vigevano. Den Camping gibt es nicht mehr. Weiche auf ein weicheres Nachtlager im Hotel aus. 4. Vigevano – Pavia Sintflutstimmung. Die Frau an der Réception scherzt, ob ich nicht gleich auf dem überschwemmten Parkplatz einbooten möchte. Die Brücke bei Vigevano ist bei der Durchfahrt rechts gut fahrbar. In der Mitte hat sich eine kräftige Wasserwalze gebildet, zur Freude der heimischen Rodeo-Kanuten. Der Ticino weitet sich, zügelt sein Temperament. Stiller Strom, der ein wunderschönes Naturschutzgebiet mit vielen Wasservögeln durchzieht. VCS MAGAZIN / JUNI 2011 SCHWEIZ–ITALIEN Kanu Nach zwölf Tagen harter Paddelarbeit am Ziel und unter Seinesgleichen: mit dem Faltboot auf dem Canal Grande. Kurz vor dem Etappenziel zeigt sich erstmals die Sonne. Die mittelalterliche Stadt: sehr italienisch mit allem Drum und Dran, dazu gemütliches, untouristisches Ambiente. Die Ruinen der Mehrfachschleuse zeugen von der historischen Bedeutung als Wasserweg-Knotenpunkt: Via Pavia gab es eine Schifffahrtsverbindung zwischen Venedig und Mailand, über den Naviglio Pavese. Mit der angereisten Familie verbringe ich drei Tage auf dem Campingplatz. Kurz nach Pavia mündet der Ticino in den Po, dessen Einzugsgebiet fast doppelt so gross ist wie die Schweiz. Bei Hochwasser erreicht er hohe Fliessgeschwindigkeiten; Bauwerke und Stahlseile im Wasser können heikel werden. Programmänderung. Mit Kind und Kegel geht es im Zug heimwärts. Aber die Fortsetzung folgt. VCS MAGAZIN / JUNI 2011 5. Pavia – Monticelli Pavese Zweiter Anlauf. Es ist warm und sonnig. Der Wasserstand an den Pfeilern der gedeckten Brücke von Pavia ist gesunken. Kurz danach strömt der Ticino noch gemächlicher. Ohne zu paddeln, geht es kaum vorwärts. Es bleibt Zeit, die vorbeiziehende Landschaft zu bewundern. Das Flussbett weitet sich noch eindrücklicher. Letzte Kühlung des Sonnenhuts auf den letzten Ticino-Metern. Das Mischresultat zwischen dem klaren Ticinound dem bräunlichen Po-Wasser lautet leider eindeutig «Po». Immerhin ein Vorteil ist festzustellen: Die kleinen Luftblasen an der Wasseroberfläche zeigen an, wo der Po gerade am schnellsten fliesst. Gut zu wissen beim Tempo von höchstens sechs km/h für die verbleibenden 366 Kilometer. Übernachtung auf einer Insel in einer grossen Flussschleife. Im Zelt lausche ich Vogelstimmen, die ich noch nie hörte. Eine kleine Nachtmusik. 6. Monticelli – Cremona Der Po mäandert so grosszügig, dass man leicht die Orientierung verliert. Vor einer halben Stunde schien sie mir noch ins Gesicht, nun wärmt die Sonne den Rücken. Vereinfacht wird die Orientierung durch Brücken. Wie aus einer andern Welt brechen die Autos und Lastwagen – einige hupen mir zu – in die Stille ein. Ja: zeitweise stark industrialisierte Landwirtschaft. Ja: die Wasserqualität lässt zu wünschen übrig. Aus Kanuperspektive aber: liebliche Flusslandschaft noch und noch. Selbst innerhalb von Hochwasserschutzdämmen betätigt der Po sich als Baumeister von Inseln, weiten Kies-, Sandund Lehmbänken mit reicher Ufervegetation. Ich begegne et- lichen Bibern. Fische vollführen Luftsprünge, ein grosses Exemplar setzt über den Bootsspitz. Rast in Piacenza. Die Stahlseile der Hilfsbrücke wären bei Hochwasser nicht ohne gewesen. Nach rund 9 Stunden erreiche ich die Geigenbauerstadt Cremona. Auf dem Domplatz verleiht ein grosser Teller Risotto, begleitet von einem Lombardischen Rosso, neue Energie. 21 Uhr, angenehme Wärme, Cremona sitzt sommerlich gekleidet draussen oder ist am Flanieren. 7. Cremona – Casalmaggiore Morgenstille auf dem Wasser. Nur das Schlagen des rhythmisch eintauchenden Paddels. Die Schwimmweste zischt leise beim Ausdrehen des Oberkörpers. Aus der Ferne Glockengeläut. Den Camping in Casalmaggiore gibt es auch nicht mehr. Egal, mich reizt die abendliche 21 SCHWEIZ–ITALIEN Kanu Weiterfahrt nach Boretto. Und ein «Amico del Po» hat, als ich ihm mein Etappenziel nannte, sofort zum Handy gegriffen und Emilio in Boretto angerufen. Der Gegenwind macht mir zu schaffen, die Muskeln beginnen sich leicht zu verspannen. Doch so schnell wie der Wind kam, ist er wieder weg. Abendsonne, spielgelglatte Wasseroberfläche. Emilio, Präsident des örtlichen Kanuvereins, ist da. Er zeigt mir das schöne Klubhaus inmitten des Museo del Po mit seinen alten Po-Schiffen und Motoren. Ich erhalte die Schlüssel und darf die Nacht bei ihnen verbringen. 8. Boretto – Pellestrina Kaum vorstellbar, so lange im Boot zu sitzen ohne schmerzhaften Po auf dem Po. Aber die Sitzanlage meines Wispers, mit Luftkissen, lässt nichts zu wünschen übrig. Um fünf Uhr bin ich losgepaddelt, 12 Stunden später verpasse ich die Anlegestelle bei Sermide und schlage mein wildes Camp an einem Strand kurz vor Pellestrina auf. Wer sich auf Bootsreise durch die Poebene begibt, muss damit rechnen, die Komfortzone zu verlassen. 9. Pellestrina – Polesella Heute ist ein «Ferientag» angesagt. Ein schwimmendes Restaurant lädt zum Verweilen ein. Der Wirt schenkt mir einen Po-Flussführer mit Schifffahrtsregeln und praktischen Telefonnummern für die Schleusenbedienung. Indem ich mein langes T-Shirt laufend mit Wasser kühle, bleibt die Hitze erträglich. Ich treffe in Polesella ein, bei kochenden 38° C im Schatten. Bekanntschaft mit Giovanni, Maurer, 22 Jahre, Frau und Kind in Rumänien. Alle drei Monate fliegt er für eine Woche nach Hause. Serviert mir ein Mittagessen, bietet Unterkunft an, wünscht sich einen Paddelversuch. Der misslingt gründlich. In jungendlichem Übermut kentert er. Was noch im Boot verstaut VCS MAGAZIN / JUNI 2011 war, ist nass. An der Bar frage ich nach einem Albergo – und werde gleich ins 2 km entfernte Hotel chauffiert. 10. Polesella – Can. Brondolo Zu früher Morgenstunde zu Fuss zur Brücke, wo mein Boot bei der Bar lagert. Kaffeehalt in Polesella, dann ein schöner Abschnitt mit mehr Strömung als erwartet. Bevor der Po durchs Delta ins Meer fliesst, verlasse ich ihn bei der gewaltigen Volta Grimana. Beidseits hohe, dornüberwucherte Mauern. Ein Weg zum Umtragen ist nicht ersichtlich – aber an der Wand ist eine Telefonnummer aufgemalt. Ein Anruf genügt und Sesam öffnet sich knarrend und quietschend. Zwanzig Meter hohe Wände in der kameraüberwachten Schleuse. Das Wasser hebt sich, dann gibt das zweite Tor den Blick frei auf den Fluss Adige und ein kleines Dorf. 25 km Paddeln im Kanal von Chioggia trennen mich noch vom Meer. Am Canale Brondolo steige ich im Bed & Breakfast ab. Eine Oase mit Park, Esel, Pizzaofen, eigenem Bio-Gemüseanbau und herzlichen Gastgebern. Der Sohn schildert das Berlusconi-System als Truman-Show: Wenn man drin ist, merkt man es kaum. 11. Canale Brondolo – Chioggia Sonne, Rückenwind, mutterseelenallein auf dem Kanal. Aus der Idee einer Kanutour durch die Kanäle der kleinen Schwester von Venedig wird nichts, es sind Bauarbeiten im Gang. Ich paddle zum nahe gelegenen Camping mit Strandbar. Am Meer! Mit aufkommendem Wind gesellen sich in der Abendstimmung Skatesurfer hinzu. Ich surfe auf den Wellen mit. 12. Chiogga – Venedig Entlang der langen Insel Pellestrina, die die Lagune schützend vom Meer abtrennt. Die Ebbe zwingt mich, eine neue Einstiegsstelle zu suchen. Satter Meereswind bremst die Fahrt. Zwischen Chioggia und Venedig sind zwei Meereinfahrten zu queren: Aufgepasst auf riesige Kähne und Ebbe-Flut-Strömungen. Die schnellen Boote nehmen Rücksicht, drosseln ihr Tempo. Dann, welch ein Moment, weit vorne im Dunst, die Silhouette von Venedig mit San Marco. Der Wasserweg Locarno–Venedig existiert. Pfähle zeigen eine direkte Route an, mit Verweis auf die Höchstgeschwindigkeit von 14 Knoten. Dann noch heil über die Wasserstrasse der Giudecca, auf der auch die gros- sen Fähren zwischen Italien und Griechenland unterwegs sind. Schon bin ich mitten drin. Das grosse Finale, unter meinesgleichen: Alles fährt Boot. Taxi, Müllabfuhr, der öffentliche Verkehr (Vaporetti), Gemüseschiffe, Ambulanzen. In fünf Minuten sehe ich mehr Boote als auf den 600 Kilometern seit Locarno. Schifffahrtsregeln für Kanuten auf Venedig-Sightseeing? Offenbar keine besonderen, man dürfe einfach nicht stören. Die Orientierung ist auch auf dem Wasser schnell verloren. Um so schöner, wenn man aus einem Engnis unerwartet auf den Canal Grande und die Rialtobrücke stösst. Das Boot ist gefaltet. Im Bahnhof St. Lucia, mit direktem Wasserzugang, wartet der Zug nach Bern. Sechs Stunden Reisezeit zum Träumen – und zum Schmökern im Veloführer zum Po-Radwanderweg. Er spricht von der Chance, eine noch nicht vom Massentourismus eroberte Veloroute zu entdecken. Auf eine Po-Kanutour trifft dies erst recht zu. Eine «Ferieninfrastruktur» gibt es nicht, umso grösser ist der Abenteuerfaktor. Mehr Infos zur Tour und zur Ausrüstung: www.verkehrsclub.ch/touren Einstieg ins Abenteuer am Lungolago bei Locarno. 23