Die bedingungslose Lust auf Leben
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Die bedingungslose Lust auf Leben
kultur. BaZ | Donnerstag, 8. Juli 2010 | Seite 37 Nick Grace meinekulturwoche Militärmusiker. Lieutenant Colonel Nick Grace ist der Principal Director of Music der britischen Band of her Majesty’s Royal Marines, die am 14. Juli beim Galakonzert Basel Tattoo in Concert im Stadtcasino auftritt. Foto LA(PHOT) Dieser Song begleitet mich diese Woche: Der kulturelle Höhepunkt in meiner kommenden Woche: «Candide», denn damit beschäftige ich mich gerade. Vielleicht nicht besonders kulturell, aber sehr aktuell: Ich kann mir den WM-Final nicht entgehen lassen. Dieses Buch liegt auf meinem Nachttisch: «The Associate» von John Grisham. Da muss ich nicht dabei sein: Mein kulinarischer Geheimtipp: Bei Reisen durch die Wüste – viel zu heiss. Falls Sie mal nach Schottland kommen: Auf der Insel Kerrera gibt es ein ausgezeichnetes Fischrestaurant. Das wollte ich mir schon lange mal anschauen: Die Chinesische Mauer. Diese DVD wünsche ich mir zum Geburtstag: Alle Harry-Potter-Filme. Die bedingungslose Lust auf Leben einkehren Sibel Kekilli spielt in «Die Fremde» eine von der Familie verstossene Türkin sie zu zeigen.» Dass das nicht immer funktioniert, hat sie bereits am eigenen Leib erfahren: aufgewachsen in Heilbronn als Tochter «recht moderner muslimischer Eltern» – sie geht ins Freibad, weder sie noch ihre Mutter tragen Kopftuch – macht Kekilli die mittlere Reife, arbeitet als Verwaltungsfachangestellte bei der Stadt. Doch sie will mehr vom Leben, zieht nach Essen und jobbt dort, unter anderem, als Verkäuferin, Türsteherin, Promoterin. KARRIERE. Zum Film kommt sie zufäl- Kämpferisch. Sibel Kekilli engagiert sich für die Rechte der (muslimischen) Frauen – nicht nur im Film. Foto Christian Hüning MOIRA LENZ Sibel Kekilli hat es satt, die «Türkin vom Dienst» zu spielen. Für das Spielfilmdebüt von Feo Aladag machte sie zum Glück eine Ausnahme. Umay dreht sich um. Acar, ihr 16-jähriger Lieblingsbruder, kommt auf sie zu. Beide lächeln. Plötzlich zieht der junge Mann eine Pistole. Umay bleibt wie angewurzelt stehen, an der Hand ihren kleinen Sohn. In der nächsten Einstellung sitzt Acar im Bus, verschwitzt, verstört, mit tränenüberströmtem Gesicht. Er dreht sich um, blickt durch die Heckscheibe, erstarrt. Mit dieser Szene beginnt «Die Fremde», das Spielfilmdebüt der österreichischen Regisseurin Feo Aladag. Umay, bedingungslos authentisch gespielt von Sibel Kekilli, lebt mit ihrem Mann in einem Vorort von Istanbul. Beim Beischlaf liegt sie wie tot unter ihm, es wird kaum gesprochen, immer wieder kommt es zu Gewalt. Irgendwann hält sie es nicht mehr aus, flieht zu ihrer Familie nach Berlin, zusammen mit ihrem Sohn. Nach und nach wird allen klar, dass sie nicht wieder zurückkehren wird. Sie will die Schule beenden, studieren, lieben – leben! Eine Deutschtürkin, die gegen die Moralvorstellungen der Familie aufbegehrt – das erinnert an Kekillis Schauspieldebüt: In Fatih Akins «Gegen die Wand» gibt sie eine junge Türkin aus Hamburg, die gegen ihr Elternhaus rebelliert. Fortan will Sibel Kekilli nicht mehr «die Türkin vom Dienst» spielen, sucht nach anderen Rollen. Aber dann hält sie das Drehbuch zu «Die Fremde» in der Hand: Hier wird es keinen Kom- promiss geben, der Kampf für die Selbstbestimmung der Frau widerspricht zu vielen patriarchalen Normen. Umay hat die Ehre der Familie verletzt und es gibt nur einen Weg, diese wieder herzustellen. MODERN. Auf 5000 jährlich schätzt die UNO die Zahl der Ehrenmorde – die Einzelschicksale hinter dieser Zahl, die statische Rolle der Männer aus konservativen Familien, die Unausweichlichkeit der Katastrophe, das zeigt dieser Film mit einer Heftigkeit, die sprachlos macht. Für Sibel Kekilli, seit vielen Jahren bei Terre des Femmes für Frauenrechte engagiert, bedeutet Ehre, mit erhobenem Haupt durchs Leben zu gehen. «Es ist wichtig, andere zu respektieren und zu tolerieren, nicht mit dem Finger auf lig: Mitten auf der Strasse in Köln wird sie von einer Castingagentur entdeckt, spricht für einen Film von Fatih Akin vor. Und plötzlich geht für die damals 23-Jährige alles ganz schnell: «Gegen die Wand» gewinnt bei der Berlinale 2004 den Goldenen Bären, Sibel Kekilli wird über Nacht berühmt und gilt fortan als Vorzeigetürkin. Genüsslich verbreitet daraufhin die deutsche Boulevardzeitung «Bild» Details aus ihrer Vergangenheit als PornoActrice. «Es war wirklich so, wie es immer heisst: Ich war jung und brauchte das Geld», kommentiert Kekilli ihr Vorleben – also alles nicht so schlimm? Zu viel für die Eltern: Sie brechen den Kontakt zu ihrer Tochter ab. SELBSTZERSTÖRERISCH. Spätestens ab hier fällt es schwer, keine Parallelen zwischen der Schauspielerin und der Filmfigur zu ziehen – eigentlich könnte man sagen, Kekilli spielt sich selbst: Deutschtürkin, von der Familie verstossen. «Das ist Umay – das bin nicht ich», betont die 30-Jährige immer wieder. Es sei nur eine Rolle. Aber diese Rolle spielt die zarte, fast zerbrechlich wirkende Frau so bedingungslos, so überzeugend selbstzerstörerisch, dass es unmöglich scheint, sie würde nicht aus eigener Erfahrung schöpfen. Für die Rolle der Umay erhielt Sibel Kekilli völlig zu Recht den Deutschen Filmpreis Lola. Und künftig soll sie in der deutschen Krimiserie Tatort spielen – diesmal wohl nicht die Türkin vom Dienst, sondern die Türkin im Dienst. | ★★★★☆ | Atelier, Basel nachtbad Kollektiv den Kopf verlieren TARA HILL FUSIONIERT. Deutschland, morgens um halb zehn: Über dem mit Sand aufgeschütteten Dancefloor erklingt eine sehnsuchtsvolle Stimme. Abertausende barfüssige Menschen schliessen die Augen, halten den Atem an. Die Sonne strahlt vom wolkenlosen Himmel. Einen kurzen Moment befindet sich das Kollektiv im Schwebezustand, dann setzt der Viervierteltakt ein – und die grünen Hangars des ehemaligen Militärflughafens erbeben, als die Menge wild zu tanzen beginnt. Es ist einer der wenigen Augenblicke im Leben, wo alles perfekt scheint – ein Moment, wie ihn nur das Fusion-Festival bieten kann. Seit 1997 wird im Norden Deutschlands jedes Jahr eine Parallelgesellschaft im Geiste von Woodstock zelebriert: Auf über 20 Bühnen läuft (vornehmlich elektronische) Musik, werden neben DJ-Sets und Konzerten aber auch Theater, Cabaret, Filme geboten, wandeln die Besucher durch mit Statuen garnierte Feenwälder, baden in kleinen Seen, vergnügen sich auf Schaukeln und Hängematten: ein Abenteuerspielplatz fernab des Alltags. Die friedliche Feieridylle der Fusion ist ein Partygeheimnis. Die 60 000 Tickets waren innert weniger Tage ausverkauft, obwohl das Programm erst beim Betreten des Areals bekannt gegeben wird. Auf grosse Headliner verzichten die Organisatoren genauso wie auf Werbung. «Feiern bis zur Kernschmelze des Systems» lautete dagegen das Motto, oder: «Vier Tage Ferienkommunismus». Zu diesem verrückten Happening pilgern alljährlich auch ein paar Hundert Basler. Sollten Sie in den nächsten Tagen auf jemanden treffen, der leicht entrückt, gar verzaubert scheint, flüstern Sie ihm verschwörerisch zu «Fusioniert?» – und wenn er nickt, und Sie selber bereit sind, vier Tage lang im Kollektiv den Kopf zu verlieren, dann fangen Sie schon jetzt gemeinsam an, die Reise ins Wunderland zu planen, dorthin, wo die Fusionsrakete 2011 zum 15. Mal abheben wird. [email protected] Mit dieser Kolumne tauchen wir jeden Donnerstag in das Nachtleben ein. Landgasthof Klus in Aesch. Unterm Lindenbaum URSULA SCHNEIDER Grüne Wiesen, sanfte Hügel, Baumwipfel, die sich in einem lauen Lüftchen bewegen: Für Städter ist es fast wie Ferien, wenn sie jetzt raus aufs Land kommen. Zum Beispiel in die Rebberge von Aesch. Hier, im Garten des Landgasthofs Klus, sitzt man unter schattenspendenden Lindenbäumen und lässt es sich gut gehen. Das Wirtepaar Christine und Pierre Mergel sorgt dafür, dass weder sportliche Biker, Wanderer noch motorisierte Ausflügler hungrig nach Hause gehen müssen. Die saisonale Speisekarte enthält Fisch- und Fleischgerichte zwischen 30 und 40 Franken, ausserdem werden jeweils zwei vegetarische Gerichte offeriert – alles in Bio-Qualität. Wochentags ist zum Zmittag auch ein Menü für Fr. 18.50 zu haben. Zum Beispiel eine Tagessuppe, geschnetzeltes Rindfleisch, Spätzle und Gemüse. Und natürlich werden in der «Klus» Weine der Domaine Nussbauer von vis-à-vis angeboten. Sinnvoll ergänzt durch schöne povenienzen, etwa einen Chianti Classico von Corzano & Paterno oder einen Trace di Sassi von Werner Stucky. EINFACH GUT. Wir setzen auf den Nachbarn – und bestellen von der Domaine einen Cuvée Nussi 02 (Fr. 64.–/Fl.). Zum leicht gekühlten Blauburgunder lässt sich mein Begleiter ein saftiges Cordon bleu vom Schwein schmecken, würzig gefüllt mit Ziegenkäse, Oliven und Rohschinken (Fr. 32.–). «Grad so, wies sein muss», sagt er. Der Rest ist Schweigen, bei ihm ein gutes Zeichen. Als Beilage werden butterzarte Kartöffelchen an Rosmarin serviert. Ich wähle mariniertes Kaninchenfilet an Zitronen-Vinaigrette mit pochiertem Ei, Emmentaler und Blattsalat (Fr. 37.–). Das Fleisch ist von guter Qualität, die Saisonsalate sind knackig, die Sauce frisch zubereitet. Convenience-Produkte sind im Landgasthof zum Glück tabu. Hier wird eine regionale, einfach gute Küche in ordentlichen Portionen zelebriert, eine Küche ohne viel Firlefanz. Alles in allem eine zufriedene Sache, diese «Klus». Und bestens geeignet für kleine Fluchten aus der sommerlichen Hitze in der Stadt. > Landgasthof Klus, Klusstrasse 178 in Aesch. Telefon 061 751 77 33. Mi bis So 10.30–23 Uhr; Mo und Di geschlossen. www.landgasthofklus.ch