5.4 Tiefenstrukturelle Konzepte 5.4.1 Objektive Hermeneutik (Ulrich
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5.4 Tiefenstrukturelle Konzepte 5.4.1 Objektive Hermeneutik (Ulrich
5.4 Tiefenstrukturelle Konzepte 5.4.1 Objektive Hermeneutik (Ulrich Oevermann) Oevermanns Konzept einer objektiven Hermeneutik ist neben dem Konzept von Fritz Schütze wohl das erfolgreichste Konzept in der Biographieforschung. Er hat es Anfang der siebziger Jahre im Rahmen der Sozialisationsforschung entwickelt. Folgende Annahmen und Aussagen kennzeichnen diesen Ansatz: 1. Sozialisation findet auch unabhängig von den Intentionen der Beteiligten statt, und zwar durch die (objektiven) Strukturen sozialer Differenzierung. Unter sozialer Differenzierung verstehen wir die Art und Weise, wie Institutionen (Familie, Kindergarten, Schule, Betrieb, Verwaltung, Politik, Ökonomie) in einer Gesellschaft organisiert sind. 2. Sozialisation zeitigt Effekte, die dem einzelnen zunächst unbewußt sind. Wenn Oevermann sagt, diese Effekte können in der Situation von einzelnen innerpsychisch nicht repräsentiert werden, dann meint er, sie sind dem einzelnen bewußtseinsmäßig nicht verfügbar und nicht zugänglich (Ich habe beim Deutungsmusteransatz bereits auf diese Problematik verwiesen). Da sie aber trotzdem da sind, eben nur nicht verfügbar, spricht er von Latenz. Da sie auch unabhängig von der Subjektivität des einzelnen da sind, nennt sie Oevermann objektiv. Deshalb kann er also zusammenfassend von einer objektiven Struktur eines latenten Sinnzusammenhanges sprechen. Eine objektive Hermeneutik zielt somit genau auf diese objektiven latenten Sinnstrukturen. Ein Kind hat jeweils eine bestimmte Sinninterpretationskapazität, je nachdem auf welcher Entwicklungsstufe es sich befindet. Bezogen darauf sammelt es sozusagen überschüssig strukturiertes Erfahrungsmaterial, das im Verlaufe der Lebensgeschichte nachträglich mit subjektivem, der objektiven Struktur adäquatem Sinn aufgefüllt wird. Lernen ist also aus dieser Sicht die subjektivintentionale Realisierung von Lesarten der latenten Sinnstrukturen. Die Auslegung objektiver latenter Sinnstrukturen durch andere (z.B. durch den Forscher) stehen nicht unter dem Diktat der Verifikation durch Rückgriff auf die Bestätigung durch Angaben der beteiligten Personen (vgl. Oevermann 1976, 372ff.). Wenn man nur Daten hätte, die sich aus dem ergeben würden, was die beteiligten Personen selbst realisieren, dann würde man nicht an latente Gehalte herankommen können. Deshalb hat Oevermann zunächst mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung gearbeitet und dichte Beschreibungen und Protokollierungen von Interaktionssituationen vorgenommen. Beispiel aus Oevermann 1976, S. 381ff.: Der 4 ½ jährige Sohn einer Familie hat eine ausgeprägte Angst davor ausgebildet, dass der Vater, was in letzter Zeit häufig geschehen ist, mit einem Schlagbohrer Dübellöcher in die Betonwände der Wohnung bohrt. Die Mutter erklärt diese Angst – 132 – mit Geräuschempfindlichkeit. Zum Zeitpunkt der Beobachtung befand sich der Junge wieder in heller Aufregung, weil der Vater - als Beruhigung für den Sohn gut gemeint - schon angekündigt hatte, dass er im Laufe des Vormittags noch einige Löcher bohren müsse. Schließlich spielt der Junge seinerseits mit einer Spielzeugpistole "Bohren". Die Mutter bestärkt ihn darin, weil sie der Meinung ist, dass er damit "seine Angst ausspiele". K I: (ruft aus dem Kinderzimmer zur Mutter, die in der Küche spült, wo auch die Beobachter sitzen) Da in der Küche ein Loch hin? M: Ja, in der Küche möcht' ich auch'n Loch haben, ich zeig dir mal wo, ich muß da noch was aufhängen, weiß'de K I: und in das Kinderzimmer? M: Ne, da brauch'mer jetzt keins mehr. Hier muß'de 'n bißchen leise bohren, im Schongang (wegen der Tonbandaufnahme) ja? K I: (inzwischen in der Küche): Wo? Zeig mir mal. M: Ja, ich würde sagen, hier woll'n wer noch ein hin haben, hier haste schon mal angefangen, da bohr'n wer noch mal weiter. Hier kommt dann da'n Dübel rein, ne? K I: 'n Dübel? M: Ja K I: "nn (tut so, als ob er verstanden hätte) M: Da woll'n wer jetzt 'n Handfeger und 'n Fegeblech hinhängen. Interpretation: Die objektive Struktur des Interaktionsablaufs bedeutet ein Durchbrechen der Generationendifferenzierung: Das Kind wird zum Erwachsenen. Der Junge wird wie ein männlicher Ehegatte behandelt und füllt diese Figur symbolisch voll aus. Die Angst des Jungen löst eine Interaktion aus, die die latente Sinnstruktur einer geschlechtsspezifischen Kooperation zwischen Mann und Frau im Rahmen der Haushaltsführung konstituiert. Für den Jungen, dem sich seine Angst subjektiv sicherlich nur als Angst vor dem Bohren darstellt, ergibt sich damit ein Rahmen der Sinninterpretation seiner Affekte, der deren objektiv triebdynamische Qualität in sozial Bedeutungsvolles umwandelt und subjektiv langfristig erfahrbar macht. Die Gefährlichkeit des Übermächtigen verschwindet, indem es sinnadäquat nachvollzogen und zum Focus praktischen Handelns gemacht wird. Der Sohn lernt gleichzeitig, wie man als Vater und Ehemann angemessen handelt. Die Identifikation mit dem Vater wird bestärkt, indem von der konkret übermächtigen Person ein paradigmatisches, akzeptables Handlungsmodell abgelöst wird. Durch eine einfache und triviale Interaktionssequenz findet die Identifikationsproblematik eine sinnhafte Lösung in der Struktur des Alltagshandelns. Der Junge wird die latente Sinnstruktur dieser Szene subjektiv nur teilweise realisiert haben, gleichwohl - gestützt auf die damit verbundene Erfahrung der Angstreduktion - ähnliche zukünftige Situationen nach ihrem Muster antizipieren und nachträglich mit zusätzlicher Bedeutung füllen. - Ebenso wird die Mutter nicht intentional eine Verbindung zwischen der Identifikationsproblematik des Jungen und dem von ihr initiierten Rollenspiel hergestellt haben, wie ihr erklärender Hinweis auf die Geräuschempfindlichkeit deutlich zeigt. Gleichwohl hat sie, was auch immer ihre Intention genau gewesen sein mag, eine – 133 – Interaktionssequenz herbeigeführt, deren objektive Sinnstruktur die Motivlage des Sohnes konsistent in eine Deutung integriert und sozial typisiert. Ganz allgemein unterstellen Eltern dem Handeln ihrer Kinder ein Mehr an Intention und subjektiv gemeinten Sinn, als von den Kindern tatsächlich realisiert wird. Das kindliche Subjekt muss ja überhaupt erst lernen, der es objektiv umtreibenden Motivierung intentionale Repräsentanz zu verleihen, die im kompetenten Handeln des Erwachsenenalters von den Interaktionspartnern faktisch vorausgesetzt wird. Dass die Eltern stellvertretend für das Kind und objektiv gesehen - fiktiv dessen Verhalten einen intentionalen Sinn und eine Struktur unterlegen, ist eine entscheidende Bedingung dafür, dass in der Struktur der sozialisatorischen Interaktion sich objektiv jene latenten Sinnstrukturen konstituieren, auf deren Folie das Kind sich als intentional handelndes Subjekt erst zu begreifen lernt. Aufgrund der engen affektiven Bindung zwischen Eltern und Kind, die eine zumindest einigermaßen angemessene intuitive Motivdeutung gewährleistet, wird ein Scheitern dieser Fiktion an der Realität relativ unwahrscheinlich. Elemente der latenten Sinnstruktur werden als Chiffren gespeichert, die nachträglich entschlüsselt und bedeutsam werden können, sogenannte Schlüsselsituationen. Die Erinnerungsspuren als Chiffren der latenten Sinnstruktur früherer Szenen werden nachträglich ausgedeutet und in Erfahrung umgesetzt. Latente Sinnstrukturen können Verhalten, Empfinden und Handeln steuern, und zwar hinter dem Rücken der Akteure. Sie sind nicht auf innerpsychische Vorgänge zu reduzieren. In dem Maße, wie die Aufarbeitung der Schlüsselszenen systematisch behindert wird, können frühere Szenen traumatische Qualität gewinnen. Gegenstand der objektiven Hermeneutik ist die Erstellung von externen Lesarten objektiver latenter Sinnstrukturen. Die Pointe liegt darin, dass durch dieses Verfahren objektive, d.h. unabhängig von den subjektiven Intentionen der Beteiligten sich durchsetzende (kollektive) Strukturen herausgearbeitet werden. Die objektive Hermeneutik zielt zwar auf die Besonderheit des jeweils vorliegenden Falles mit seiner je bestimmten Bildungsgeschichte. Die Gewißheiten des gesellschaftlich-kulturell eingespielten Hintergrundes erhalten jedoch den Stellenwert von Interpretationsfolien, mit deren Hilfe das empirische Material ausgelegt wird. Ein entscheidendes Grundprinzip ist dabei das der gedankenexperimentellen Kontextvariation, um Lesarten zu erzeugen. Diese gedankenexperimentell entworfenen Kontextbedingungen, die zum Zwecke der Interpretation an den Text herangetragen werden, beruhen eben gerade auf kulturell eingespielten Normalitätsvorstellungen, z.B. auf institutionalisierten Verhaltensmustern (Rollenverhalten in der Familie), Alter – 134 – (entwicklungstypische Verhaltensmuster) oder Milieu (milieuspezifische, familiale Verhaltensmuster). Die Normalitätserwartungen und die Besonderheiten des Falles bilden wechselseitig Gegenhorizonte füreinander. Insofern erscheint der jeweils vorliegende Fall immer als Abweichung von der Normalitätsfolie. 5.4.2 Psychoanalytisch orientierte Auswertungsverfahren Bei der psychoanalytischen Textinterpretation (vgl. Lorenzer 1986, Leithäuser/Volmerg 1979) erfolgt ein Zugriff auf verdrängte, abgespaltene Anteile, auf unbewußte Inhalte. Es geht um die Suche nach Indikatoren für Verdrängungen. Systematisch wird hier also der Text als Oberflächenphänomen behandelt und auf die zugrundeliegenden Strukturen hin untersucht, die als Resultate psychischer Vorgänge aufgefaßt werden. Erst wenn die Oberflächenphänomene zusammen mit den sie konstitutierenden zugrundeliegenden Strukturen verstanden werden, kann das zu untersuchende empirische Phänomen, z.B. Kriegsängste und Sicherheitsbedürfnisse (Volmerg u.a. 1983), verstanden werden. Die Technik der Auswertung ist gut entwickelt und hat sich in vielen Forschungsprojekten, die überwiegend im arbeits- und sozialpsychologischen Bereich liegen, bewährt. Technik bei Textmaterial: formale Konsistenzprüfung psychologische Verstehen szenische Verstehen tiefenhermeneutische Verstehen Im ersten Schritt geht es um die Erfassung des manifesten Textes. Dieser wird einer formalen Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung unterzogen (Prüfung, ob auf der textuellen Ebene Widersprüche, Brüche oder Ungereimtheiten auftreten). Solche Inkonsistenzen werden als Indikatoren für verborgenen Sinn, für abgespaltene Gehalte gedeutet. Im zweiten Schritt erfolgt das psychologische Verstehen. Das bedeutet, dass der Text auf die Interviewsituation bezogen und die Interaktion zwischen Interviewer und Interviewtem in den Verstehensprozeß einbezogen wird. Im dritten Schritt erfolgt das szenische Verstehen. Das bedeutet, dass auf der Basis des Erzählten soziale Situationen (Szenen), die in der Vergangenheit für den Erzähler eine wichtige Rolle gespielt haben, rekonstruiert und die Spuren verdrängter Gehalte freigelegt werden. Im tiefenhermeneutischen Verstehen (vierter Schritt) werden diese verdrängten (desymbolisierten) Erfahrungsgehalte erschlossen und somit die Szene vollständig hergestellt. Die systematische Voraussetzung dieses Datenauswertungsansatzes besteht in – 135 – der psychoanalytisch begründeten Annahme, dass menschliches Leben so funktioniert, dass bestimmte traumatische, schuldbelastete oder auch nur unangenehmen Erfahrungen verdrängt und über Gegenbesetzungen in der Verdrängung gehalten werden. 5.4.3 Ausgewählte Literatur Glaser, B.G.; Strauss, A.L. (1967): The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research. Chicago. Deutsche Übersetzung: Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. Bern (Hans Huber) 1998 . Glaser, B. G.; Strauss, A. L. (1998): Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. Bern (Hans Huber). Krüger, H.-H.; Marotzki, W. (Hrsg.) (1995): Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Opladen (Leske + Budrich). Oevermann, U.; Allert, T.; Konau, E. (1980): Zur Logik der Interpretation von Interviewtexten. Fallanalyse anhand eines Interviews mit einer Fernstudentin. In: Heinze/Klusemann/Soeffner (Hrsg.): Interpretationen einer Bildungsgeschichte. Überlegungen zur sozialwissenschaftlichen Hermeneutik. Bensheim; S. 15-69. Riemann, G. (1987): Das Fremdwerden der eigenen Biographie. Narrative Interviews mit psychiatrischen Patienten. München (Fink). Rosenthal, G. (1987): "... Wenn alles in Scherben fällt ..." Von Leben und Sinnwelt der Kriegsgeneration. Opladen (Leske und Budrich). Schütze, F. (1984): Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens. In: Kohli, M./Robert, G. (Hrsg.)(1984): Biographie und soziale Wirklichkeit: Neue Beiträge und Forschungsperspektiven. Stuttgart. S. 78 - 117. Schütze, F. (1987): Das narrative Interview in Interaktionsfeldstudien: erzähltheoretische Grundlagen. Teil I: Merkmale von Alltagserzählungen und was wir mit ihrer Hilfe erkennen können. Hagen (Studienbrief). Schütze, F. (1995): Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretativen Soziologie. In: Krüger/Marotzki (Hrsg.) 1995. S. 116-157. – 136 –