Vorschau/Download - Wasser

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Vorschau/Download - Wasser
Nr. 7/2015
Unterwegs auf Festivals in
Deutschland und Frankreich
• Eb Davis, Marc Broussard, Richard Bargel & Dead Slow
Stampede, Wu Tang Clan
• Album des Monats:
• Feuilleton: Interviews mit Jürgen Landt und Kai Pohl &
Clemens Schittko
• Mit Erzählungen von Constanze John und G.K. Chesterton
2
EDITORIAL
IMPRESSUM
Die Wasser-Prawda ist ein Projekt
des Computerservice Kaufeldt
Greifswald. Das pdf-Magazin
erscheint in der Regel monatlich.
Es wird kostenlos an die registrierten Leser des Online-Magazins
www.wasser-prawda.de verschickt.
Wasser-Prawda Nr. 7/2015
Redaktionsschluss: 23.07.2015
Titelseite: Selwyn Birchwood
(Foto: Janet Patience)
links: Robert Cray (Karsten Spehr)
rechts: Earl Thomas, Eb Davis
(Fotos: Karsten Spehr), Richard
Bargel (Raimund Nitzsche)
REDAKTION:
C he f r e d a k t e u r : R a i mu nd
Nitzsche (V.i.S.d.P.)
Redaktion: Mario Bollinger,
Bernd Kreikmann, Matthias
Schneider, Dave Watkins, Darren
Weale
Mitarbeiter dieser Ausgabe:
Christopher Gottschalk, Iain
Patience, Christophe Rascle,
Karsten Spehr
Die nächste Ausgabe erscheint am
28. August 2015.
Adresse:
Redaktion Wasser-Prawda
c/o wirkstatt
Gützkower Str. 83
17489 Greifswald
Tel.: 03834/535664
[email protected]
Anzeigenabteilung:
[email protected]
Wasser-Prawda | Juli 2015
I N H A LT
3
INHALT
JULI 2015
3
4
Inhalt
Editorial
Musik
5 Dr. Feelgood & Feeling Good Good Good
7 Im Diner mit Ebylee „Eb“ Davis
11 Muddy Lebt in Lieberose
16 Impressionen beim Cognac Blues Passion
18 24. Bluesfest in Gaildorf
25 Richard Bargel28 Marc Broussard: Live
und unter vollen Segeln
34 Wu Tang Clan: Die Hoffnung in der Zukunft
37 Blueskalender
Platten
43 Lazer Lloyd – Lazer Lloyd
44 Rezensionen A bis Z
Feuilleton
49 Jürgen Landt im Gespräch (2012)
52 Sophia Schröder Im Gespräch mit Kai Pohl
und Clemens Schittko
Sprachraum
56 Constanze John: Jeder muss sehen
58 C.K. Chesterton: Die Purpurfarbene
Perücke
66 Die Vestalinnen
79 English Articles
Wasser-Prawda | Juli 2015
4
EDITORIAL
EDITORIAL
VON MARIO BOLLINGER UND RAIMUND NITZSCHE
Ein wesentlicher Teil der Wasser-Prawda-Redaktionsarbeit
ist die Rezension von Musikproduktionen, also das
Beschreiben einer CD nach erfolgter Produktion.
Nur wenige Leser vermögen zu ahnen, wieviel
Zeit und Aufwand hinter eine Musikproduktion
steht. Musikpiraterie und Dumpingpreise auf dem
Downloadmarkt tragen das ihre bei, dem Konsumenten
vorzugaukeln, Musik sei einfach da, um auf das
Smartphone für lau geladen und in minderer Qualität
gehört zu werden. Um das Verständnis über die
Wertigkeit dieser Produktionsarbeit etwas zu verbessern
und den Musikverbrauchern den Arbeitsaufwand einer
Musikproduktion nahezubringen, starten wir einen neue
Reihe bei der Wasser-Prawda, die wir Werkstattberichte
nennen.
Angelehnt an die Arbeitsprotokolle einer Werkstatt in
Tagebuchform werden wir Musikern die Gelegenheit
geben, ihre Arbeit hier darzustellen. Um die
Musikproduktionsarbeit so realistisch wie möglich
zu zeigen, begleiten wir die Arbeit der Musiker durch
das Posten von Zeitdokumenten wie Textfragmente,
Notizschnipsel, Bilder, Videos oder Mitschnitte der täglichen Aufnahme- und Produktionsarbeit. Wir freuen
uns auf diese enge Zusammenarbeit mit Musikern, die
bereit sind, bereits im Vorfeld der CD-Veröffentlichungen
etwas von ihren Geheimnissen preiszugeben.
Den German Blues Award haben wir nicht bekommen
- in der Medienkategorie hat die Sendung „On Stage“
das Deutschlandfunks das Rennen gemacht, für das in
den letzten Jahren (jedenfalls dort, wo es um Blues ging)
Leo Gehl verantwortlich war. Der hat den Preis ganz
sicher verdient. Herzlichen Glückwunsch dazu - und
einen schönen Ruhestand mit viel guter Musik!
Womit ich allerdings nicht gerechnet hätte, ist das
Editiorial in der aktuellen Ausgabe der „Bluesnews“.
Offenbar hat die Redaktion unsere Glückwünsche in der
April-Nummer falsch verstanden. Keinesfalls lag es in
Wasser-Prawda | Juli 2015
unserer Absicht, dieses Magazin respektlos zu beschimpfen. Nur kam die Verwendung des Begriffs „Monopolist“
offenbar so an. Das tut mir wirklich Leid. Eigentlich
hatte ich ihn als Kompliment gemeint: Hier hat eine
Redaktion über einen langen Zeitraum es geschafft, zum
fast alleinigen Maßstab zu werden. Da kann man nur
seinen Hut ziehen. Auch kam der angedeutete Vorwurf
eines schlechten Journalismus in unserem Beitrag überhaupt nicht vor. Es ging eigentlich um das Bedauern
darüber, dass man mit einem vierteljährlich erscheinenden Blatt niemals so schnell reagieren kann wie etwa mit
einem Monatsmagazin.
Wobei man eines mal wieder sagen muss: Was die
Wasser-Prawda und ihre vielen Autoren machen, funktioniert nur als Selbstausbeutung. Bis auf ein paar wenige
Werbeaufträge, mit denen man Teile der Serverkosten
abdecken kann, passiert hier alles ohne Geld: Technik,
Recherchen und Interviews, Fotos, Schreiben und
Layouten. Wie lange sich das noch durchhalten lässt,
weiß ich wirklich nicht. Denn auch die anderen
Nebenjobs als Journalist oder DJ, die mir in den letzten
Jahren die Zeit gelassen haben, so ein Projekt zu verfolgen, lassen immer mehr nach. Und irgendwann sollte
ich wohl doch auf meine alten Eltern hören, die meinen:
Such Dir doch mal wieder einen richtigen Job!
MUSIK
5
Willie Lee „Piano Red“ Perryman (Foto: Tony Paris Archives)
DR . F E E LG OOD & FE E L I NG
G O OD G OOD GOOD
DARREN WEALES 16. BRIEFAUS DEM VEREINIGTEN KÖNIGREICH
Letztlich hörte ich bei
BBC Radio London eine
DJ namens Jo Good.
Ihr Familienname ließ
einige Gedanken über
Musik, sich gut zu fühlen
und Musik, in der das
Wort „good“ vorkommt,
au auchen.
Dr. Feelgood, und die Band nannte
sich selbst nach ihm. Im Netz kann
Eine nette Verbindung gibt es man Reds Song „Dr. Feelgood“
zwischen dem amerikanischen finden.
Humoristen und Boogie-Pianisten In „Dr Feelgood“ nutzt Piano Red
Piano Red (William Lee Perryman) frohgemut die Worte Good Good
und der britischen Pub Rock Band Good als einen Refrain, daher der
Dr. Feelgood. Red war bekannt als Titel des Briefes. Und so wie er
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6
MUSIK
die Wörter singt, legt das nicht die
Verwendung von Kommas nahe.
Und so werden sie auch hier nicht
verwendet. Der Rekord für die
Verwendung des Wortes „Good“ in
einem Song aus der letzten Zeit geht
an Mavis Staples, die letztens nicht
nur in Glastonbury sondern auch
im Clapham Grand gespielt hat. In
einem Stück sang sie: „Good God
Good God, Good Good Almighty,
Good God“.
Jools Holland sagte letztens in seiner
Fernsehsendung „Later … with
Jools Holland“, dass die Lieder des
gestorbenen BB King ihn immer
dazu gebracht haben, sich gut zu
fühlen. Und Jo Good meinte in
ihrer Sendung, dass Musik allgemein ihr ein gutes Gefühl verschaffe.
Georgie Fame meinte letztens bei
einem Autritt in Kent: „Der Blues
muss nicht traurig sein“ und spielte
weiter, damit sich das Publikum gut
fühlen konnte.
Das haben auch einige amerikanische Bands gemacht, die kürzlich im
Vereinigten Königreich zu erleben
waren. So war die Billy Walton
Band aus New Jersey auf ausgiebiger Tour und ist das nächste Mal
schon im Januar zu sehen. Auch
Hamilton Loomis und andere wie
Mud Morganfield und Debbie Band
kommen entweder regelmäßig über
den Teich geflogen oder sind noch
immer hier unterwegs. Debbie ist es
auf jeden Fall. Und sie ist eine gute,
gute, gute, otimistische Blues-Lady.
Debbie hat eine Menge für den
Alabama Blues getan. Lil‘ Jimmy
Reed ist ein weiterer Amerikaner, der
während des Schreibens auf Tour ist.
Es
gibt
so
viele
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Gute-Laune-Blues-Acts, die man
sich anschauen kann. Wenn etwa
mick Kolassa, der das irre Album
„Mississippi Mick“ produziert
hat, jemals nach Großbritannien
kommen sollte, wird er den Leuten
hier zu guter Laune verhelfen. Auch
die britische Band Red Butler, die
letztens gemeinsam mit Billy Walton
tourte, ist fröhlich und optimistisch. Das konnte man spätestens
bei einer Zugabe im Prince Albert
in Brighton erleben, wo die beiden
Bands gemeinsam auf einer kleinen
Bühne durch die Gegend hüpften.
Auch The Original Blues Brothers
touren weiter hin und jeder, der
schon mal Steve Cropper gehört hat,
wie er die ersten Noten von „Soul
Man“ spielt, kann verstehen, was das
für ein Erlebnis sein kann. Auch The
Royal Southern Brotherhood sind
wieder unterwegs und produzieren
einen reichhaltigen und geschmackvollen Sound-Gumbo. Klar, im
Blues gibt es viele Bands, deren
Gitarristen einem die Trommelfelle
zerstören wollen und Solokünstler,
die einen dazu bringen, in sein
Bier zu weinen. Aber dazwischen
gibt es Künstler, die ihre Aufgabe
darin sehen, Dir die Last des Blues
abzunehmen mit ihrem Auftritt,
nicht sie noch schwerer zu machen.
Viele kann man bei den zahlreichen Sendungen der Independend
British Blues Broadcasters auf UKW,
im Internetstream oder als Podcast
entdecken.
Also: Ab nach draußen und schaut
Euch paar britische oder aus
Übersee kommende Blueskünstler
an und fühlt Euch einfach gut dabei!
Schließlich muss der Blues nicht
immer traurig sein, er kann auch
dafür sorgen, dass Du Dich good
good good fühlst.
Debbie Bond & Shar Baby (Foto: Robin McDonald)
INTERVIEW
7
IM DINER MIT EBYLEE „EB“ DAVIS
TEXT: MARIO BOLLINGER, FOTOS: KARSTEN SPEHR
Ebylee Davis war im
Frühjahr dieses Jahres
ein Telefongast der
Radiosendung Crossroad
Café bei 98eins.
Doch die Technik im
funk onierte an dem
Abend nicht rich g, so
dass das Gespräch recht
kurz bleiben musste.
Daher vereinbarte ich
mit ihm ein Treffen
bei meinem nächsten
Aufenthalt in Berlin
für ein ausführliches
Gespräch Mit seiner
Superband ist er viel
vor allem im Berliner
Raum unterwegs und
spielt samt Hornsec on
Soul und Blues. S lecht
trafen wir uns in einem
echt amerikanischen
Dinerlokal zu guten
Hamburgern.
WP: Wie sprechen Dich die Leute
an? Ebylee, Ee Be oder EB?
Ebylee Davis: Eb!
WP: Du bist Amerikaner. Was
hast Du früher in USA gemacht?
ED: Musik! Ich habe mit 9 Jahren
schon in der Kirche bei einem
Gospelchor gesungen. Mit 10 oder
11 habe ich dann den Blues entdeckt. Vorher hatte ich keine solche
tiefgreifende Musik gehört. Ich hatte
einen Nachbarn und er war immer
auf der Terrasse gesessen und hat
Blues gespielt und gesungen. Ich
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8
INTERVIEW
war immer total fasziniert von dieser
Musik. Meine Eltern haben gesagt,
dass ich von dieser Musik wegbleiben soll, weil es des Teufels Musik
ist.
WP: Deine Eltern waren religiös?
ED: Sehr. Und dann habe ich mir
gedacht, wie so eine vielversprechende
Musik Teufelsmusik sein kann. Das
habe ich nicht geglaubt. Und dann
war ich war immer wieder da. Ich
habe jede Möglichkeit genutzt, da zu
sein, ohne dass es die Eltern wussten.
Ich habe den Nachbarn gebeten, es
mir zu zeigen. Er hat mir viel beigebracht. In der Schule habe ich
dann mit einem Schulfreund eine
kleine Band zusammengestellt und
in der Schule gespielt. Jedes Woche
und jedes Wochenende haben wir
gespielt.
WP: Und wann haben Dir Deine
Eltern es dann erlaubt, Blues zu
spielen?
ED: Sie haben es nie erlaubt. Aber
meine Mutter wusste, dass ich
damit ein paar Dollar damit verdienen konnte. Sie war nicht glücklich
darüber, aber sie hat aber auch nicht
viel darüber geredet. Als wir dann
später richtige Konzerte hatten, ist
sie nie gekommen. Aber als sie meine
erste Platte im Radio gehört hatte,
war sie richtig stolz. Sie hat es nicht
gesagt, aber man konnte es sehen
und sie hat auch Nachbarn erzählt.
Das Stück lief immer im Radio und
das war mein Song.
WP: Wann bist Du erstmals nach
Berlin gekommen?
ED: 1982 war ich zum ersten Mal
in Deutschland, aber vorher war
ich in London. Da habe ich jemand
kennengelernt und sie hat gesagt,
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dass es in Berlin eine Band namens
Bayou Blues Band gibt und die war
sehr gut und ziemlich bekannt.
Diese Band brauchte einen guten
Frontman. Ich bin dann gekommen und habe sofort angefangen.
Ein paar Jahre später habe ich mit
vier deutschen Musikern die erste
Bluesband gegründet. Die hieß The
Radio Kings. Dann haben wir einen
kleinen Plattenvertrag bekommen.
WP: Und dann hast Du entschieden, zu bleiben?
ED: Es lief ziemlich gut. Dann habe
ich für den Botschafter gespielt.
Ich durfte vor dem Mauerfall mit
Seminaren und Workshops in der
DDR etwas von unserer Kultur
zeigen.
Konzerte spiele ich in USA. Das
ist viel einfacher, hier zu sein, weil
die Veranstaltungen in der Schweiz,
Österreich oder auch Frankreich
leicht erreichbar sind. Eine Tour in
USA oder von USA aus kostet sehr
viel Geld. Im Oktober spiele ich
z.B. auf dem King Biscuit Festival
in Arkansas. Das ist ein großes
Festival über 3 Tage mit mehr als
70000 Tausend Besuchern. Ich
spiele da regelmäßig seit fast 15
Jahren. Sie wechseln zwar jedes
Jahr das Programm, aber es gibt
ca. 6 oder 8 feste Standardbands,
die immer wieder da sind und ich
habe das Glück, dass ich einer der
Standardbesetzung bin. Übermorgen
bin ich dann in Chorzów Polen.
WP: Das heißt, Du als amerikanischer Klassenfeind in der DDR
Kulturarbeit leistest?
ED: Ja, ich glaube, sie wollten zeigen,
dass Amerika nicht der Feind ist und
sich so mal eine andere Seite zeigen.
Es war mein Glück, dass ich zur
richtigen Zeit an der richtigen Stelle
war. Sie haben es nie gesagt, aber ich
glaube, dass meine Hautfarbe eine
große Rolle spielte. Natürlich war
die DDR Propaganda so, dass die
Schwarzen noch die Sklaven waren.
WP: Hast Du in Deutschland
immer als Musiker gearbeitet?
ED: Ja, immer. Ich war als
Kulturbotschafter auch in Russland
WP: Als Soldat?
ED: Ja, mit Uniform und Training.
WP: Du bist nur hier im Norden
unterwegs. Traust Du Dich nicht
in den Süden?
ED: Doch, ich spiele in November
in Idar-Oberstein.
WP: Das ist aber noch nicht der
Wilde Süden?
WP: Was war für Musiker wie ED Am Tag darauf sind wir in
Dich in Deutschland anders als Chemnitz und vorher spielen wir in
in USA?
Osnabrück.
ED: Das ist eine schwere Frage, weil WP: Deine Webseite ist da aber
ich auch in Amerika arbeite. Ich nicht sehr aktuell.
habe regelmäßig Auftritte auch in ED. Da muss ich auf meine Frau
den USA.
warten, dass sie es aktualisiert
WP: Wo spielst Du mehr?
WP: Aber da sind Postings von
ED: 70% der Konzerte spiele ich 2008. Wie hältst Du Kontakt zu
in Deutschland und 30% der
INTERVIEW
9
Deinen Fans?
ED: Mit Email und Facebook
WP: Dürfen wir fragen, wie alt
Du bist?
ED: Ich bin 73.
WP: Respekt, Du schaust nicht
danach aus.
ED: Ich muss es auch immer beweisen, weil die Leute es mir nicht
glauben.
WP: Wieviel Konzerte machst Du
dann im Jahr?
ED: So zwischen 80 und 100
Konzerte. Ich mache nicht alles mit,
manchmal sage ich nein, weil ich
auswählen kann. Ich habe mit dem schon lange auf meine Konzerte
Blues angefangen, um nicht reich zu kam. Aber damals habe ich mehr
werden. Keiner meiner Bekannten auf ältere Frauen geschaut.
ist mit dem Blues reich.
WP: Deine letzte CD von 2009
WP: War BB King reich?
heißt „ The EB Davis Gospel
ED: Nein, der war bestimmt nicht Quartett”.
reich, aber er musste nicht hungern. ED: Nein, die neueste ist seit Wochen
Buddy Guy ist reich.
erhältlich und heißt „EBsolutely“
WP: Wie verdienst Du Dein Geld? WP: Ich habe sie nicht auf Deiner
EP: Ich komponiere meine eigenen Webseite gefunden.
Songs und schreibe auch für Andere. ED: Wenn Du im Internet suchst,
Ansonsten mache ich nur Musik. musst Du auf meine Seite gehen.
Ich habe mal für einen Mitarbeiter WP: Was findet man auf diese
von „Herr der Ringe“ ein Stück CD?
komponiert.
ED: Es ist total gemischt aber es ist
WP: Du bist mir Nina Davis Blues. Es ist eine Live-CD aus dem
verheiratet, einer anerkannte A-Trane.
Pianistin. Was war zuerst da, die WP: Würdest Du für so was ins
Studio gehen?
Liebe zur Musik oder zur Frau?
ED: Ich habe sie durch die Musik ED: Ich bin gerade im Studio
kennengelernt. Sie spielte in einer und arbeite unter dem Label Soul
anderen Band und ich bin da mal Defender. Ich habe schon 3 CDs mit
hingegangen. Es hat mich fasziniert, dem Label gemacht.
dass eine weiße Frau eine solche WP: Warum geht’s Du jetzt ins
Begeisterung für die schwarze Musik Studio oder warum nicht live?
hat. Ich kam mit ihr ins Gespräch ED: Im Studio gibt es bestimmte
und sie hat mit erzählt, dass sie Sachen, die kann man kontrollieren.
Live fehlt manchmal die Kontrolle
und man nicht mehr viel ändern.
Was da ist, ist da. Man kann noch
mal drüber spielen, aber meistens
klappt das nicht.
WP: Wenn Du im Studio bist,
arbeitest Du dann kontinuierlich
dran?
ED: Wir hören das 40-50 mal an,
machen Notizen und gehen wir
wieder ins Studio und ändern die
Dinge im Studio. Für eine gute CD
steckt man viel Geld rein für Studio
und Musiker und nicht zu vergessen: GEMA
WP: Auch wenn es Deine Songs
sind?
ED: Auch dann! Es spielt keine Rolle.
Es kommt nur auf die gespielte Zeit
an. Es hat sie nicht interessiert, dass
die meisten Songs von mir sind.
WP: Wann kommt dieses Album
raus?
ED: ich weiß noch nicht, aber
ich schätze so im Oktober oder
November diesen Jahres.
WP: Du hast es vorhin schon
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10
INTERVIEW
angesprochen. Warum bist Du in
Osteuropa so populär?
ED: Das wenn ich wüsste. Die
Jazzclubs sind immer ausverkauft.
Die Leute merken halt, wenn man
sein Bestes gibt und ich hoffe, das
bleibt noch ein paar Jahre.
Da zum Interview die neueste CD
EBsolutely gerade erschienen ist,
möchte ich das Interview mit einer
Rezension der CD beschließen.
Eb Davis hat dazu ein Konzert im
Berliner A-Trane aufgenommen. Als
Musiker hat Eb Davis dabei gehabt:
Nina T. Davis (piano/organ), Willie
Pollock (sax), Jay ‚BowWow‘ Bailey
(guitar), Ben Perkoff (Sax), Tom
Blacksmith (bass), Lenjes ‚The Duke‘
Robinson (drums).
Die CD ist eine Mischung aus
Soul und Blues. Wegen der zwei
Bläser ist die CD stark soullastig
und auch deutlich geprägt durch
Eb Davis melodiöse Stimme. Für
meinen Geschmack ist es trotz der
Beteuerung von Ed Davis, das es
Wasser-Prawda | Juli 2015
Blues sei, mehr eine ansprechende
Soul-CD geworden. Eb predigt
weniger den Blues. Vielmehr singt
er im Gospelsound seine Soulsongs.
Ein live aufgenommenes Album ist
zwar immer ein Glücksspiel, ob der
Sound und die Stimmung gut eingefangen werden. Wenn es aufgenommen ist, dann kann man nicht viel
nachträglich ändern. Aber in diesem
Fall springt der Funke von Eb Davis
schnell und leicht auf das Publikum
des A-Trane über. Die CD enthält 17
Nummern, davon sind 9 Nummern
mit der Beteiligung von Eb und
Nina T. Davis entstanden. Bei den
restlichen Nummern hat er sich bei
anderen Autoren angelehnt. Wer
Eb Davis im A-Trane verpasst hat,
findet hier 100% Livestimmung.
Mein Favorit, vor allem weil er von
u.A. vom Botschafter des Blues Eb
Davis mitkomponiert wurde, ist:
„EBsolutely“ . Nomen est Omen.
Auf Tour
•
•
•
•
•
•
•
29.07. Cotton Club
Hamburg (EB Davis, Nina
T. Davis, Lenjes Robinson)
10.10. King Biscuit Blues
Festival
Helena. Arkansas (USA)
(EB Davis, Nina T. Davis,
Jay Bailey and Band)
21.10. Yorckschloesschen
Berlin (EB Davis & The
Superband)
06.11. 29. Idar-Obersteiner
Bluesnacht (EB Davis & The
Superband)
23.11. Britzer Mühle, Berlin
Britz
(The EB Davis
Quartet)
25.12. EB‘s annual Birthday
Bash 2015, Badenscher
Hof Berlin (EB Davis &
The Superband and special
guests)
MUSIK
11
Carolyn Wonderland
MUDDY LEBT IN LI E B E R OS E
DER ZWEITE TAG DES ERSTEN MUDDY LIVES FESTIVALS. TEXT
UND FOTOS: KARSTEN SPEHR
Ende Mai diesen Jahres
gab es eine Premiere:
die Agentur Muddy
Lives um Bernd Schulte
und sein en Partner
Roberto Kuhnert von
der Bluesini a ve
Weißwasser inszenierten
ein zweitägiges
Blues Fes val unter
gleichem Namen
im wunderschönen
Spreewald - in Lieberose
auf der Waldbühne.
Allein das Line up machte neugierig.
Chilly Willy, Micke Bjorklof & Blues
Strip, Kai Strauss Electric Blues und
Johnny Mastro & Mamas Boy‘s am
ersten Tag und am zweiten Tag und
da war ich dann anwesend, standen
Two Timer, Carolyn Wonderland,
Jürgen Kerth sowie die Nick Moss
Band und Mason Rack im Trio auf
dem Programm.
Ein tolles Gelände mit Campingplatz,
Ferienhäusern und guter Versorgung
– alles im Wald – das konnte sich
sehen lassen. Vom ersten Tag
erfuhr ich nur von einigen, das
der ursprünglich aus Long Beach/
Kalifornien stammende und nun in
New Orleans lebende Johnny Mastro
& Mama‘s Boys erwartungsgemäß
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MUSIK
Jürgen & Stefan Kerth
rechte Seite oben: Michael Ledbetter & Nick Fane. unten: Nick Moss & Patrick Seals
eine mörderische Show abgezogen
haben müssen.
Irgendwann hatte ich die tief im
Wald versteckte Bühne gefunden und die aus verschiedensten
Himmelrichtungen angereisten Fans
begannen sich bei etwas durchwachsenem Wetter (mal warm, mal kalt)
in der Nähe der Bühne zu versammeln, denn pünktlich um 15 Uhr
gab die junge Band Two Timer aus
Polen den Auftakt für den zweiten
Festivaltag. Die fünf Jungs aus dem
Nachbarland, deren aktuelles Album
„Two Timer“ 2014 in Polen aus
besten Blues Album geadelt wurde,
schlugen sich beachtlich mit rotzfrechem mundharmonikalastigem
Wasser-Prawda | Juli 2015
Garagenblues der in die Beine ging
und Spaß machte. Die ersten Fans
ließen sich da auch nicht lange
bitten, war es doch auch offensichtlich das besagter Johnny Mastro zu
den Vorbildern der Jungs von Two
Timer gehört.
Nun folgte eine Frau, die mich eigentlich besonders interessierte, sie einmal
live zu sehen: Carolyn Wonderland
aus Austin Texas. Leider hatten wir
da alle nicht so gute Karten, denn
Frau Wonderland erschien ziemlich fertig und missmutig auf dem
Gelände. Zu näheren Umständen
kann ich nicht wirklich etwas sagen,
unübersehbar war leider nur, das
sie am liebsten gar nicht auftreten
würde. Ein Glück das ich da nicht
in der Haut des Veranstalters steckte!
Schließlich betrat der Rotschopf
deren Stimme gelegendlich etwas
von der Joplin hat, doch die Bühne
mit ihrem Trio Cole El-Saleh an
den Keys und Rob Hooper an den
Drums. Ansatzweise konnte man
die eigentlichen Fähigkeiten der
Multiinstrumentalistin erahnen,
aber auch ihre Stimme war nicht
in Höchstform. Leider! Sie gab
schließlich einen vermutlich kleinen
Querschnitt ihres Könnens in einer
Mischung aus Delta-CountryMississippi-und Soul-Blues, Gospel
und Funky Stuff, holte für zwei,
drei Stücke auch die Lapsteel hervor
MUSIK
13
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14
MUSIK
und verließ dann aber nach einer
knappen Stunde die Bühne wieder.
Schade!
Nun war der Mann aus Erfurt, den
man gern auch als Urgestein der
DDR-Blues-Rock-Szene betitelt,
am Zug: Jürgen Kerth mit Stefan
Kerth am Bass und Tony Natale am
Schlagzeug. Die erste Viertelstunde
seines Auftritts gestaltete sich arg
nervig: der ostdeutsche Altmeister
spielte zu lange und vollkommen
übersteuert mit seiner Elektronik
rum und ich wollte es eigentlich
schon abhaken. Aber dann hatten
sie sich plötzlich im Griff und es
folgte ein wunderbarer mit vielen
Improvisationen versehener Auftritt
der Erfurter. Respekt, das machte
Spaß und die Fans dankten es ihm
mit reichlich Gehippel vor der
Bühne. Irgendwann nach gefühlten zwei Stunden mussten die
Veranstalter dann doch das Ende
dieses guten Auftritts einleiten, denn
es standen ja noch Nick Moss und
Mason Rack auf dem Programm.
Nick Moss das Schwergewicht des
Chicago-Blues, der schon bei Buddy
Scott und Jimmy Dawkins spielte
und dem Willy Big Eyes Smith
schließlich empfahl, vom Bass zur
Lead-Gitarre zu wechseln, dessen
Freund und Mentor ein Jimmy
Rogers war, fand in dem charismatisch, stimmgewaltigen Sänger und
Gitarristen Michael Ledbetter vor
ein paar Jahren einen starken musikalischen Partner und so waren sie
mit der Nick Moss Band am Start
und ließen kaum Wünsche offen.
Druckvoll aber auch ganz leise
brillierte die Band mit feinstem
Chicago-Blues, souligen Balladen
Wasser-Prawda | Juli 2015
Mason Ruck. Rechte Seite: Jamie Roberts.
und etwas Rock‘n Roll. Das riss mit!
Der 46 jährige Moss selbst bediente
mehr die bluesigen Songs und der
für einige Jahre bei der Chicago
Opera tätige Michael Ledbetter
gab dem Konzert eher den souligen
Anstrich der Motown-Legenden.
Natürlich fehlte auch ein Tribut für
den kürzlich verstorbenen B.B. King
nicht. Alles in allem ein großartiger
Auftritt einer Band, die man unbedingt auf dem Schirm haben sollte.
Wieder einmal stellte sich kurz vor
Mitternacht die Frage: Was sollte
da noch kommen? Aufgrund der
inzwischen doch relativ kühlen
Temperaturen hatte ich schon überlegt, den langen Heimweg Richtung
Sachsen anzutreten. Zum Glück tat
ich es nicht! Mason Rack, den aus
Brisbane stammenden Australier,
eine Urgewald des Roots-BluesRock muss man gesehen und
gehört haben. Sein Trio, zu dem
Gitarristen und Sänger noch Jamie
Roberts (bass/voc ) und Kristian
Rousell (drums/voc) gehören, hängt
die ganze Zeit am Starkstrom.
Ruck passt in keine Schublade.
Seine Stimme ist irgendwo zwischen Howlin Wolf und Tom Waits
angesiedelt. Mit enormer Intensität
schleudert er seine Musik zwischen
Blues, Rock, Jazz und Gospel ins
Publikum. Nachdem die Musiker
während des Konzertes einmal sämtliche Instrumente getauscht hatten,
endete der Auftritt in einer akrobatischen Percussions-Show: Die drei
Musiker schlugen mit ihren Sticks
auf alles ein, was ihnen in die Quere
kam. Wow, was für ein gewaltiger Auftritt! Dieser gipfelte dann
schließlich in der dritten Zugabe,
nachdem das tobende Publikum ihn
am liebsten noch eine Stunde gehört
hätte in einer unglaublichen eigenen
Version des Led Zeppelin -Klassikers
„Who Lotta Love“ - absolut irre. Wir
dürfen also gespannt sein ob und wie
es im Spreewald weitergeht.
MUSIK
15
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16
MUSIK
Selwyn Birchwood
IMPR ESSIONEN B E I M COGNA C
B LUES PA SSION 2015
TEXT: IAIN PATIENCE, FOTOS: JANET PATIENCE
Cognac Blues Passions ist mit Leich gkeit
eine der wich gsten jährlichen
Bluesveranstaltungen in Frankreich.
Viele meinen, es sei das wich gste
Event des Landes. Dieses Jahr wurde die
22. Auflage des Fes vals in Jarnac mit
einem mitreißenden Konzert des tollen
jungen Bluesman Selwyn Birchwood und
seiner Band aus den USA eröffnet.
Wasser-Prawda | Juli 2015
Birchwood hat 2013 so ziemlich alles bei der
International Blues Challenge in Memphis abgeräumt,
als er den Albert Collins Award für Gitarristen ebenso
einsackte wie den Preis für seine Band im Wettbewerb.
Er stammt aus Florida, der Heimat der verstorbenen
Legende Arthur Black. Aber die letzten paar Jahre hat
er ziemlich ohne Unterbrechung auf Tour in den USA
und Europa verbracht, wo die Läden ebenso wie auch
sein Ruf jedes Mal immer größer wurden. Eingeführt in
die Musik und unterrichtet wurde er von Sonny Rhodes.
Und jetzt erntet er die Vorteile seines anwachsenden
MUSIK
17
tollen zehnköpfigen Band mit
Bläsern, Gitarre, zwei Keyboards,
Schlagzeug - gespielt von Rodd
Bland, dem Sohn des verstorbenen
Bobby Blue Bland (ein Mann, von
dem Clay mir gegenüber scherzhaft
bemerkte, er sei im Tourbus zur Welt
gekommen), Bass und dem selten zu
sehenden Chor von drei Blues/SoulLadies war Clay einfach fantastisch.
Er zeigte schlicht und einfach, dass
Qualität von Erfahrung und der
Leidenschaft für die Musik kommt.
Es war einfach passend, dass sein
Otis Clay
Auftritt mit neuen und altbekannRufs, einen coolen, modernen Blues stürmische Applaus nach ihrem ten Soul- und Bluesnummern
zu spielen unter anderem mit einem einstündigen Auftritt war mehr als den Abend beschloss. Als Zugabe
tollen Plattenvertrag mit Alligator verdient.
brachte er das mittlerweile riesige
Records in Chicago.
Zum Schluss der ersten Nacht betrat Publikum dazu, gemeinsam den
Er bestätigt, dass sich die Dinge für eines der echten Schwergewichte der Gospel „Amen“ zu singen, der
ihn sehr schnell verändert haben amerikanischen Szene die Bühne nahtlos in Steve Croppers Klassiker
seit dem Erfolg bei der IBC und er und zeigte allen, wofür Jahre der „Dock of The Bay“ überging, damals
genießt deutlich jede Minute, die er Erfahrung gut sind. Otis Clay mag ja ein Welthit für einen anderen Otis
auf Tour ist, besonders seit er größere inzwischen schon in den 70ern sein, und der perfekte Abschluss für eine
Festivals und vor mehr Publikum seine Stimma aber ist dynamisch, Nacht voller großartiger Musik.
spielt. Sein Eröffnungsset beim kraftvoll und reinster Samt für die
Cocgnac brachte ihm viele neue Seele. Begleitet von einer einfach
Fans ein mit einer Mischung als
Blues-Standards und Stücken seines
hochgelobten aktuellen Albums
„Don‘t Call No Ambulance“. Wie
immer griff er zum Schluss des Gigs
zu seiner kleinen Lap-Slide-Gitarre
- zumindest für mich der beste Teil
der Show.
Birchwoods flammender Darbietung
folgte die tolle kanadische Sängerin
Shakura S‘Aida. Eine echte Lady
mit einer bemerkenswerten Stimme,
brachte sie ihr Programm vor einem
ständig wachsenden Publikum zu
gehör. Ihr glitzernder Glamour-Look
lockte die Leute ebenso an wie ihre
rauchig-jazzig-soulige Bluesstimme
Shakura S‘Aida
den Platz zum Kochen brachte. Der
Wasser-Prawda | Juli 2015
18
MUSIK
B EIM 24. BLUES FE S T I N GA I L D OR F
TEXT UND FOTOS: KARSTEN SPEHR
Am 3.und 4. Juli war
es wieder soweit, das
kleine schwäbische
Fachwerkstädtchen
Gaildorf im BadenWür embergischen
Ländle mu ert zum
24. Mal - seit 1991 im
Zweijahresrhythmus zu einem Mekka des
Blues. Das Line up
ließ wie immer ein
großes Musikereignis
erwarten und vor
dem unglaublichen
Engagement und
Organisa onstalent der
Kulturschmiede Gaildorf
e.V. samt ihren vielen
Helfer konnte man schon
immer den Hut ziehen.
Die im Vorfeld prophezeite
Hitzewelle mit Temperaturen an
die 40° traten schließlich auch ein,
taten dem Zuspruch zum Festival
aber kaum Abbruch, strömten doch
wieder Tausende aus ganz Europa
an die Kocherwiese um auf einem
der größten und schönsten Blues
Festivals Deutschlands trotz gleisender Temperaturen dem Zwölftakter
und seinen artverwandten Spielarten
zu frönen.
Der Opener Tastenmann Bruce
Katz und sein Trio (Chris Vitarello
Wasser-Prawda | Juli 2015
- Gitarre und Ralph Rosen - Drums)
hatten ein schweres Los gezogen
und hätten es sicher anders verdient. Hielt sich die Menge trotz
feinem swingendem Blues und einer
virtuos agierenden Band insbesondere des Bandleader‘s Katz an seiner
Hammond B3 doch lieber vor dem
Zelt als vor der Bühne auf. Und ich
stimme Farmer John vom Blues
Road Radio vorbehaltlos zu, wenn
er sinngemäß schreibt, dass der Band
ein charismatischer stimmgewaltiger
Sänger/in, der die Menge zu packen
weiß, zu wesentlich mehr verdienter
Aufmerksamkeit verhelfen könnte.
Nun war es an Earl Thomas &
The Royal Guard, den HitzeBann zu brechen und das Zelt an
der Kocherwiese zum Rocken zu
bringen. Ich glaube, eine bessere
Herausforderung für den großartigen Soul-und Blues-Entertainer der
ersten Garde kann es kaum geben.
Mit seiner hervorragend agierenden
Royal Guard, (einzig der großartige Drummer und Bandleader Pat
Levett ist dabei eine feste Größe. Alle
anderen waren wie so oft gewohnt
neu besetzt: Matt White – guitar,
Kevin Allwhite – bass, Joe Glossop hammond organ und es waren zwei
Bläser Bob Dowell – trombone und
Neil Waters – trumpet dabei, die
den Sound noch fetter machten) und
seiner unglaublichen Stimm- und
Bühnenpräsenz brachte Earl Thomas
Bridgeman Jr. das Zelt zum Toben.
Mit großer musikalischer Vielfalt
zwischen Blues, Soul aber auch
Gospel- und Rock-Elementen und
gefühlvollen Balladen sowie gekonnt
aufgebautem Spannungsbogen mit
wunderbaren Tempowechseln, weiß
der heute in San Diego lebende
Künstler, der schon Songs für Etta
James, Solomon Burke oder Tom
Jones schrieb, immer wieder das
Publikum in seinen Bann zu ziehen.
Und da ist es egal, ob das in einem
Club ist wie kürzlich in Chemnitz
oder vor Tausenden in Gaildorf.
Seine energiegeladene Performance
ist eine Klasse für sich.
Leider mußte er dann, trotz lautstark
applaudierenden Publikums, relativ
schnell die Bühne räumen, weil der
einem „Rockzirkus“ ähnelnde aufgeblasene Tross um Herrn Cray hinter
der Bühne drängelte und dann
doch verhältnismäßig ewig für den
Umbau brauchte, ehe Robert Cray
die Bühne betrat. Bei dem 61jährigen aus Columbus/Georgia, der
seine Scheiben millionenfach verkaufte, scheiden sich deutlich die
Geister. Die einen bejubeln ihn frenetisch trotz gewohnt stoischem
Auftritts und weichgespültem
Soulsounds. Die anderen lehnen
ihn komplett ab. Ich fühle mich
bei ihm auch besonders hin und
her gerissen, wohl wissend, dass er
Ende der Achtziger Bluesgeschichte
schrieb und ein hervorragender
Musiker ist (auch hier gab es in der
MUSIK
19
Earl Thomas (mit Schlagzeuger Pat Levett)
Wasser-Prawda | Juli 2015
20
MUSIK
Mud Morganfield
erweckte mit seiner
europäischen
Begl eitband d e n
Geist seines Vaters
Muddy Waters zum
Leben. Ähnlichkeiten
in Aussehen und
Stimme liegen hier
eindeutig in der
Familie.
Wasser-Prawda | Juli 2015
MUSIK
Besetzung Richard Cousins – bass,
Les Falconer – drums und Dover
Weinberg – keyboards handwerklich nichts zu deuteln!), ist mir sein
Sound in den letzten Jahren viel
zu soft und farblos, obwohl er im
ziemlich langen zweiten Set deutlich
härtere bluesigere Töne anschlug.
Alles in allem nichts wesentlich
Neues von Robert Cray dafür aber
zuviel Primbamborium drumherum.
Zum Schluß des ersten Abends
dann Mud Morganfield, der älteste
Sohn von Muddy Waters (McKinley
Morganfield) mit einer hervorragend
aufspielenden europäischen Band an
der Seite. Als da wären: West Weston
– harp, Ronni Buysack-Boysen –
guitar, Ian Jennings - double bass,
Mike Hellier – drums, Eric Ranzoni
– keys. Eine Mugge die einfach Spaß
macht, ist es doch der Sound eines
Muddy Waters der da zum Besten
gegeben wird, auch wenn es eigentlich ein klassischer Cover-Auftritt
ist. Mud sieht seinem Vater nicht nur
in gewissen Posen sehr ähnlich, auch
stimmlich liegt er ziemlich nahe
und die wohlbekannte Gestik des
berühmten Papa‘s fehlt nicht, wenn
auch letztere etwas zu oft bemüht
wird. Nichts desto trotz trägt der
imposant charismatisch wirkende
Mud den Geist seines Dad‘s in sich
und versteht ihn mit seiner virtuos
spielenden Band auf die Masse zu
übertragen, die trotz später Stunde
und immer noch fast unerträglich herrschender Hitze mehrere
Zugaben fordert um dann zufrieden
den ersten Abend zu beschließen.
Am Samstag geht es dann schon
17 Uhr mit der erst 26 jährigen aus
Kansas City stammenden Samantha
Fish los. Zur Zeit ist sie eine der angesagtesten Gitarristinnen in Sachen
Bluesrock. Es ist keinesfalls frischer
geworden, eher im Gegenteil. Aber
die junge Lady, die spätestens seit
ihrem Blues Caravan-Auftritt 2011
nicht nur in der Männerwelt zu einer
Art Publikumsliebling aufgestiegen
ist und sich seither spürbar weiterentwickelt hat, schafft es mit ihren
beiden Mitstreitern Christopher
Morgan Alexander am Bass und
Go-Go Ray an den Drums - das Zelt
schon zu so früher Stunde zu füllen
und zu rocken.
Es folgen der aus St. Louis stammende und in Texas lebende Mike
Zito & The Wheel. Der seit seinem
spektakulären Auftritt mit der
Royal Southern Brotherhood vor
zwei Jahren nun mit seiner eigenen
Band auf der Gaildorfer Bühne
die Zuhörer vielseitig mit feinstem
Texas-Bluesrock gepaart mit leichten Country-Einflüssen zu überzeugen weiß. Zwischendurch holt
er Samantha Fish zum Duett auf
die Bühne, deren Produzent er im
übrigen ist und verausgabt sich vor
johlendem Publikum mit mehreren
Zugaben fast völlig. Ein Auftritt der
kaum Wünsche offen ließ.
Nun sollte eine Frau folgen auf
die ich persönlich schon lange
gespannt war. Die erst 30 jährige
Nikki Hill aus North Carolina gilt
als Shootingstar der Roots-Rock‘n‘
Roll Szene. Innerhalb von nur drei
Jahren katapultierte sie sich fast
aus dem „Nichts“ mit ihrer Band
(die sie selbst ihre Pirate Crew
nennt) - Ehemann Matt Hill an der
Gitarre, Ed Strohsahl am Bass und
Charles Jones an den Drums - auf
21
die großen Festivals dieser Welt.
Das ist geballte Energie mit einer
rauhen erdigen Stimme (die in der
Tat gelegentlich an die RockabillyQueen Wanda Jackson erinnert) in
Gestalt einer bildhübschen jungen
Sängerin. Nikki (in ihrer Heimat
auch liebevoll „Southern Fireball“
genannt) und ihre Mitstreiter sind
ein Donnerschlag (wie es so schön
im Programmheft heißt). So war
es dann auch – sehr cool, sexy
und unglaublich energiegeladen
rockte sie das Festzelt mit rauer
erdiger Stimme, im Stil der Blues
& Rockabilly-Shouter der 50er verbunden mit ihrer unglaublichen
Stax-Soul Dynamik,(angelehnt an
die namenhaften Soulkünstler des
alten Stax-Labels aus Memphis das
in den 60er und 70ern Maßstäbe
für die Soulmusik setzte). Der treibende Sound von Matts Gitarre
und Nikki‘s Stimme verschmolzen mit ihren beiden rhythmusgebenden Jungs. Strohsahl und Jones
boten einen Sound wie er authentischer kaum sein kann. Spätestens
hier fanden auch längst abtrünnig
gewordene zurück zum Rock‘n Roll.
Konnte es da noch einen drauf
geben? Ja, denn jetzt war der aus
Amarillo Texas stammende 2-MeterMann Sugaray Rayford der sich
in seinem Song „Texas Bluesman“
seiner herrvorragenden aktuellen
Scheibe „Southside“ folgerndermaßen selbst beschreibt: „..six foot tall,
300 pounds, ..black cadillac and I
got four dolls...,I‘m a texas bluesman, baby...“, betrat mit seinem
Sextett - Gino Matteo – guitar,
Ralph Carter – bass, Lavell Jones
– drums, Allan Walker – tenorsax,
Wasser-Prawda | Juli 2015
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MUSIK
Wasser-Prawda | Juli 2015
MUSIK
Christian Altehülshorst - trumpet
sowie der kurzfristig aus Aachen eingesprungene junge Simon Oslender
an den keyboards. Großes Kino
von einem großen Mann mit einer
großen Stimme mit unglaublicher
Energie und Bewegungsfreudigkeit
(die normale Europäer nur erblassen läßt) trotz gleißender Hitze.
Spätestens nach dem zweiten Song
stand Sugaray komplett vom Schweiß
durchnässt auf der Bühne, was ihn
aber in keinster Weise daran hinderte
seine Show durchzuziehen während
seine Crew dazu fett groovte. Es hieß
Partytime! Hier bekam man das
gesamte Programm von Mississippi
über Chicago, Texas bis zu feinstem modernen Soul-Blues mittels
urwüchsiger Energie und großem
schwarzen Entertainment geboten.
Kleine Bemerkung am Rande dieses
phänomenalen Auftritts, der erst 17
jährige Simon Oslender wurde erst
am Morgen für den ausgefallenen
Keyboarder gebucht und schlug sich
sehr beachtlich! Er hatte eigentlich
einen Auftritt im Schloßgarten am
Mittag mit den Özdemirs und kam
so zu großen Ehren. Nach dieser
gewaltigen Show und ordentlich
Zugaben wurde das Zelt doch etwas
leerer, denn was konnte jetzt noch
kommen?
Diese relativ undankbare Aufgabe
nach Sugaray auftreten zu müssen fiel
Tommy Castro & The Painkillerrs
zu, der allerdings in seiner Heimat
als einer der besten Liveacts gilt. Es
brauchte zwar ein gewisse Zeit aber
dann hatte Castro mit seiner angenehmen Mischung aus Blues, Rock
und Soul die noch reichlich verbliebenen Nachtschwärmer im Griff.
23
links oben; Mike Zito & Jimmy Carpenter, links unten: Matt & Nikki Hill
oben: Nikki Hill
Unterstützend bat er für ein paar
Titel Samantha Fish auf die Bühne,
die sich wunderbar in die Band
einfügte und später kamen noch
Simon Oslender und Sugaray, die
Tastenmann James Pace tatkräftig
unterstützten, dazu. Castro und seine
Mannen- Randy McDonald – bass,
James Pace -keyboards und Bowen
Brown – drums, boten letztendlich
wunderbaren Gitarren-Blues, der alle
Durchhaltenden ziemlich entspannt
zu nächtlich heißer Stunde aus dem
24. Gaildorfer Bluesfest entließ und
gespannte Vorfreude auf das 25. in
zwei Jahren entstehen ließ.
Alles in allem haben die Jungs
und Mädels der Gaildorfer
Kulturschmiede wieder mit viel
Herzblut ein perfektes Festival hingelegt, wo es weder Hänger gab noch
Wünsche offen ließ., um so erstaunlicher das ein solches Festival beim
German Blues Award noch nie einen
Preis bekommen hat.
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MUSIK
Sugaray Rayford & Band
unten: Tommy Cast ro &
Samantha Fisch
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MUSIK
25
WITZ IG, ROMA NT I S CH U ND
MIT DER G E WA LT E I NE R
DUR CHGE HEND EN R I ND E R HE R D E
18. JULI: RICHARD BARGEL & DEAD SLOW STAMPEDE IN
GREIFSWALD. TEXT UND FOTOS: RAIMUND NITZSCHE
Die echten
Geschichtenerzähler
im Blues sind heute
ziemlich selten geworden.
Richard Bargel ist einer,
ein Songschreiber, der
in seinen Liedern seinen
Blick auf die Welt, das
Leben und den ganzen Rest
schildert, mal e raurig,
mal mit bi erbösem
Humor, mal einfach nur
ergreifend. Gemeinsam
mit seiner Band Dead Slow
Stampede (Geert Roelofs
- dr,perc, Jo Didderen b und Fabio Ne ekoven
- g, mand) spielte er
Wasser-Prawda | Juli 2015
26
MUSIK
am 18. Juli sein erstes
Konzert in Greifswald.
Auf dem Programm standen vor
allem Stücke des aktuellen Albums
„It‘s Crap!“. Aber auch ältere Songs des
seit 45 Jahren aktiven Songwriters,
Gitarristen, Schauspielers und
Konzertveranstalters waren zu
hören. Nur wer auf Stücke, die
Bargel gemeinsam mit Klaus
„Major“ Heuser aufgenommen
hatte, gewartet hat, wurde etwas
enttäuscht. Dead Slow Stampede
sind überhaupt nicht die Band, um
Wasser-Prawda | Juli 2015
irgendwelche Rockexzesse zu veranstalten. Was natürlich nicht heißt,
dass diese Band nicht auch gehörige
Power verbreiten kann.
Wer sich auf einen ruhigen und
besinnlichen Abend eingerichtet hatte, wurde überrascht: Diese
Band entwickelt live eine Wucht, die
zeitweise wirklich an eine durchgehende Rinderherde erinnern kann.
Zwischen klassischem Blues, ein
wenig Country oder Americana
und manchmal sogar jazzigen
Ausflügen haben diese vier Musiker
eine Intensität entwickelt, die jedes
Bluesrocktrio vor neid erblassen
lässt. Das ist Blues, wie er sein sollte:
Kraftvoll, zeitgemäß, persönlich und
voller Energie!
Wer sich fragt, wie so ein
Ausna hmekünstler den Weg
nach Greifswald fand: Gerhard
Heims, seit mittler weile 25
Jahren mit seiner „Fundgrube“ als
Schallplattenhändler in der Stadt und
weit darüber hinaus bekannt und
beliebt, hat für seine Stammkunden
und Geschäftspartner ein großes
Kontingent von Karten geordert.
Und vor allem die waren es, die
MUSIK
27
den Weg in die Brasserie Hermann Einen solchen Laden gibt es zwigefunden haben - und in der schen Berlin und Hamburg nicht
Pause und hinterher sich über tolle noch mal.
Vinylausgaben von Bargels Platten
gefreut haben. Schade nur, dass
Gerhard Heims mittlerweile daran
denkt, in den Ruhestand zu gehen.
rechts: Gerhard Heims, seit 25 Jahren Chef der „Fundgrube“, des besten Plattenladens zwischen Berlin und Hamburg.
Wasser-Prawda | Juli 2015
28
MUSIK
M AR C BROUSSA R D : LI V E U ND
UNTER VOLLEN SEGELN
TEXT: MARIO BOLLINGER. FOTOS: CHRISTOPHE RASCLE
Am 25.6.15 gas erte
Marc Broussard
im Backstage Club
in München. Wer
regelmäßig unsere
Ar kel liest, weiß, wie
begeistert wir von ihm
als Support von JJ Grey
& Mofro waren.
Aber zu Marc Broussard kommen wir
gleich. Der Abend wurde von Ingo
Wasser-Prawda | Juli 2015
Lechner eröffnet, der sich als 50%
von Mighty Steel Leg Experience
vorstellte. Lediglich mit seiner
Gitarre und ohne seinem Bernhard
präsentierte er akustischen Indiefolk.
Mit eigenen Stücken, die sich
irgendwo um Simon & Garfunkel
herum einordnen lassen, konnte
er das max. 40 Personen umfassende Publikum durchaus begeistern. Spätestens wenn das nächste
Album im Spätsommer erscheint,
werden wir wieder von Mighty Steel
Leg Experience berichten.
Dann aber trat Marc Broussard
die Bühne. Seine Band besteht bis
auf seinem Drummer aus gecasteten europäischen, in der Schweiz
ansässigen Musikern. Wie wir
beim Interview erfahren haben, hat
diese Band nie vorher geprobt. Und
Marc Broussard eröffnete gleich mit
schweren Geschütz. Den Folksänger
hat er zu Hause gelassen. Stattdessen
präsentiert er sich von der bluesig
rockigen Seite. Das erste Stück geht
nahtlos in ‚Hey Joe‘ über gefolgt von
MUSIK
Stücken der älteren CDS wie ‚Save
me‘.
Wer seine letzte Live CD ‚Live at Full
Sail University“ gehört hat, kennt
die Art, wie Marx Broussard seine
Songs präsentiert - Eine Geschichte
vorab, persönlich und intim. Er
erzählt, wie er beim Autofahren
einer Radiosendung über einen verstorbenen bekannten Comedien
zuhört. Er war so ergriffen, was ihn
zu dem Song ‚ Man ain‘t supposed
to cry‘ inspirierte.
Aber das Beste ist immer wieder
Marcs Stimme: Schreiend, weinend,
melodiös und soulig. Wenn man die
Augen schliesst, kann man sogar
gelegentlich Stevie Wonder hören.
Dann von der neuen Live CD ‚
Lonely night in Georgia‘. Marc
Broussard geniert sich auch nicht,
Cover Versionen wie ‚Lovely Day‘
zu spielen. Da geht er wohl mit
seiner gecasteten Begleitband auf
Nummer sicher. Zur Band gehören
der aus Venedig stammende Bassist
Mr PC oder Pierangelo Crescenzio,
der Lausanner Keyboard Martin
Chabloz und der aus Zürich stammende Gitarrist Cyrill Camenzind.
Für mich allerdings ist das Rückgrat
der Band Marcs Drummer Chat
Gilmore. Er gibt die wichtigen Nuancen, um die Songs zu
Marc Broussard Songs zu machen.
Tempowechsel, Wechsel von R&B
zu Reggae und zurück.
Unter Berücksichtigung, dass es
nur ca. 40 Besucher waren, hätte
man den Abend als Probetermin
29
für eine Band abtun können, die
sich noch nie getroffen hat. Aber
weit gefehlt: Die Band präsentierte
sich als kompakt, flexibel und routiniert. Marc variierte schon mal
z.B. meinen Favoriten ‚‘Dyin‘ Man‘,
wo man noch ein Stück über eine
Improvisation anhängt.
Die begeisterten Besucher bereiteten Marc Broussard noch einen
schönen Abgang aus dem fast leeren
Backstage Club, indem sie ihm noch
2 Zugaben abforderten. So spielte
Marc Broussard noch ‚Blue Bird‘
und ‚Waiting in vain‘. Nach dem
Konzert kam Marc Broussard noch
zu uns, um die zwei Gewinner der
Tickets persönlich zu begrüßen.
Wasser-Prawda | Juli 2015
30
INTERVIEW
L OUIS IA NA , BÄ RT E U ND FI NA NZ E N
MARIO BOLLINGER IM GESPRÄCH MIT MARC BROUSSARD.
FOTOS: CHRISTOPHE RASCLE
Wie bereits berichtet
gas erte Marc
Broussard am 25.6.15
im Münchener
Backstage Club. Marc
Broussard stellte
sich als professionell
und kommerziell
effek ver Musiker
dar, der sehr bewusst
Kosten kontrolliert
und seine Mi el sehr
geschickt einsetzt.
Auch konnten wir in
Wasser-Prawda | Juli 2015
Marc Broussard einen
Musiker entdecken,
der die Natur, die
Kultur und Tradi onen
von Louisiana
respek ert. Wir trafen
ihn, als er gerade im
Backstagebereich seine
Gitarre neu besaitete
und sich durch das
Interview überhaupt
nicht stören hat lassen.
WASSER-PRAWDA: Hallo Marc
Broussard, herzlich willkommen
in München. Was kennst Du
schon von München?
Marc Broussard: Ähm, nichts. Wir
hatten aber letzten Abend ein leckeres italienisches Abendessen.
WP: Das ist OK, wir sind ja
quasi Norditalien. Hattest Du
Gelegenheit, durch Bayern zu
reisen und Dir was anzuschauen?
Marc Broussard: Nein, wir sind
direkt von Houston eingeflogen.
Ich habe 4 Kinder und eine Frau zu
Hause und die möchten mich immer
so schnell wie möglich zurückhaben. Daher verschwende ich nicht
INTERVIEW
Deine Songs im Konzert ankündigst, kann man sehen, wie Du
WP: Du kommst aus Louisiana. Dein Herz und Deine Seele
Was ist das Beeindruckenste aus öffnest. Hast Du keiner Angst, zu
Louisiana?
viel aus Deinem privaten Leben
MB: Ich glaube unsere Kultur ist das zu erzählen?
Beeindruckenste. Das ist eine Kultur, MB: Nein, als Mensch bin ich ein
welche älter als die Amerikanische offenes Buch. Ich war mein ganzes
Verfassung ist. Meine Vorfahren Leben so. Ich habe nichts zu verstekamen ca. 1750 nach Louisiana cken und ich bin kein böser Junge.
und der spanische und französische Es gibt also für mich kein Risiko,
Einfluss ist immer noch sehr tief.
mein Leben der Öffentlichkeit
W P: Deine Vorfahren waren auszusetzen.
französisch?
WP: Ich habe JJ Grey gefragt,
MP: Korrekt
was er über Dich zu berichWP: Wie wichtig sind Louisiana ten weiß und er antwortete: „Er
und seine Schönheit für Deine kennt alle Akkorde!“. Bist Du der
Songs?
Akkordspezialist und wie viele
MB: Extrem wichtig. Das viele Reisen Akkorde kennst Du?
hat mir eine hohe Wertschätzung MB lacht: Ich liebe JJ, er ist ein großüber das gegeben, wo ich herkomme. artiger Kerl. Ich weiß nicht, wie viele
Wenn ich beim Schreiben beein- Akkorde ich kenne und ich weiß
flusst bin, dann durch das, wo ich nicht, ob ich alle Akkordwechsel
herkomme, beeinflusst: Ja, da ist sehr kenne. Mein Vater ist dafür verbeeinflussend.
antwortlich. Er hat mir alle die
WP: JJ Grey hat uns ebenfalls Akkordwechsel beigebracht. Er ist
erzählt, dass er von der Natur und ein hochtalentierter Musiker und ist
der Umgebung beeinflusst ist. Ist durch Jazz und Fusion beeinflusst.
das typisch für Louisiana?
WP: Deine letzten Alben gibt es
MB: Ich glaube es ist mehr als alles nur also Download. Gibt es auch
Andere eine Sache den Südens. Ich CDs in Hardware?
kann es aber nicht genau sagen. MB: Ja, wir haben für die Tour
James Taylor singt über Berkshires CDs dabei. Aber ich glaube, es ist
und John Denver hat über Rocky ein totes Medium. CD-Verkäufe
Mountain High gesungen. Es ist nehmen weltweit ab und außer bei
also nicht endemisch eine Sache den Tourverkäufen machen CDs
des Südens, aber als Mann des nicht mehr viel Sinn.
Südens sind wir ein bisschen mehr
sehr mit unseren Wurzeln verhaftet, W P: E s i s t a l s o De i ne
weil diese Wurzeln einfach sehr weit Marketingtaktik, nur noch online
zu verkaufen?
zurückgehen.
WP: Wenn man Deinen Songs MB: Absolut! Nach einiger Zeit
zuhört und auch die Art, wie Du wird nichts mehr übrig bleiben.
Alle Marktindikatoren zeigen auf
viel Zeit an den Spielorten.
31
die digitale Revolution.
WP: Ich liebe es, CDs aufzumachen, das Booklet zu lesen.
MB: Ich genauso. Ich liebe das
Kunstwerk und das Gefühl, etwas
in den Händen zu halten. Ich
lehne das nicht ab genau so wie ich
Vinylplatten und daren Comeback
mag. Ich werde auch weiterhin CDs
machen, weil wir möchten, dass die
Fans etwas mit nach Hause nehmen.
WP: Ein deutscher CD Händler
verkauft bereits mehr als 50%
Vinyl.
MB: Das ist überraschend! Auch
Mascot-Provogue verkauft bereits
sehr viel Vinyl.
WP: Das Album “Live in Full
Sail University” kam nach der
DVD. Was war der Grund für eine
Audioversion zur DVD?
MB: Beide kamen zusammen, das
Audio kam ohne weiteres Material.
Wir wollten etwas Verkaufbares für
Alle machen. Nicht jeder hat einen
BlueRay-Player und nicht jeder mag
ein Livekonzert anschauen.
WP: Kommst Du öfters nach
Europa oder Deutschland?
MB: Absolut!
WP: Wie oft warst Du schon hier?
MB: Wir kommen seit ca. 7 Jahren.
Wir haben unsere CDs wie z.B.
„SOS“ bei einem holländischen
Label untergebracht. Also habe
ich in 2008 angefangen, rüber zu
kommen. Danach ist es ein wenig
eingeschlafen. Ich kann nicht mal
sagen, warum das so passiert oder ob
das Managmen nicht die gleichen
Ziele hatte wie ich. Ich hatte immer
den starken Wunsch, hier zu sein
und Musik zu machen. Der Plan ist
Wasser-Prawda | Juli 2015
32
INTERVIEW
jetzt, so oft wie möglich zu kommen.
WP: Dein Manager Doug hat mir
sofort angeboten, ein Meet&Greet
mit Fans zu machen. Ist das ein
üblicher Weg für Dich, Fans zu
treffen?
MB: Ich habe überhaupt nichts
dagegen, Fans so zu treffen und ich
versuche mich, so verfügbar wie
möglich zu machen. Ich komme
gern nach der Show raus und hänge
mit Fans ab. Ich liebe meine Fans
und der erstaunlichste Aspekt von
meinem Tun ist die Fähigkeit, mich
mit den Menschen zu verbinden.
Der Punkt hier ist, wie meine Musik
ihr Leben beeinflusst. Das bestätigt
mir, dass ich das tue, was man von
mir erwartet. Der Vater, der mir bei
einem Konzert erzählt, dass er jahrelang nicht mit seinem achtzehnjährigen Sohn zu Recht kam, bis er
und sein Sohn eine Aufnahme von
mir gemeinsam hörten. Oder der
Typ in L.A., der 30 Tage im Koma
lag, bis seiner Freundin ihm „Home“
von mir im Radio vorspielte. Das
erfüllt meine Seele als Künstler und
zeigt mir, wo ich bin und sein sollte.
WP: Tedeschi Trucks führten
JJ Grey als supporting act und
Freunde von ihnen ein. JJ Grey
erzählte von Dir als Freund und
Mitglied der South East Mafia
oder Southies. Was weist Du über
Deinen Opener Ingo Lechner und
Mighty Steel Leg Experience?
MB: Ich habe keine Ahnung. Ich
wusste nicht mal, dass wir einen
Supporting Act haben.
W P: Warum haben so junge
Männer wie Du so mächtige
Wasser-Prawda | Juli 2015
Bärte?
MB: Well… Für mich gibt es nur
einen Grund: Meine Frau ist ein
großer Fan meines Bartes. In den
Augen meiner Frau ist das sexy und
je länger er wird und so sexier werde
ich ihn ihren Augen.
WP: Let’em grow!
MB: Yes. Let the f…. beard grow!
PC und Cyril letzten November auf
Tour für die SEAT Music Sessions
in der Schweiz getroffen. Beide spielten in der Hausband. Als ich dann
mit JJ wieder kam, hatte ich ein paar
Soloshows . Ich habe PC angerufen,
damit er ein paar Shows mit mir
macht. Und dieses Mal hat er seinen
Freund Martin Chabloz für die
Keyboards mitgebracht. Und wenn
WP: Stellst Du uns Deine Band wir am Samstag in Holland spielen,
vor?
nehme ich ein paar holländische
MB: Klar. Wir haben hier aus Genf Musiker mit und in London nehme
am Bass den aus Venedig stammende ich ein paar englische Musiker.
Bassist Mr PC oder Pierangelo WP: Nimmst Du immer lokale
Crescenzio. An den Tasten haben Musiker?
wir aus Lausanne Martin Chabloz MB: Yes, Sir! Und das läuft erstaunund an der Gitarre Cyril Camenzind lich gut. Wir buchen immer die
aus Zürich.
besten Musiker der Gegend und
WP: Und der letzte im Reigen?
die Jungs kommen immer Bestens
MB: Der Drummer ist Chet Gilmore vorbereitet, wenn Du die Besten
aus New Orleans/Louisiana. Chet anheuerst.
spielt mit mir seit 12 Jahren.
WP: Gibt es da eine Probe vorher?
WP: Wie kam es, dass Ihr zusam- WB: Das braucht es nicht. Wir
menspielt? Ist das nur für die proben vielleicht mal einen Schluss
Tour?
oder kleine Teile der Songs, aber
MB: Ja, nur für die Tour. Ich habe ich vertraue den Jungs, dass
INTERVIEW
33
kann und mit 150 Shows und 500
Besuchern pro Konzert machen
kannst, dann machst Du einen
enormen Gewinn. Es kommt darauf
an, wie hart Du arbeitest. Als wir
mehrere Hunderttausend Dollar zur
Verfügung hatten, haben wir Geld
bei aufkommenden Problemen im
Studio verbrannt. Als wir weniger
Geld zur Verfügung hatten, wurden
wir bei aufkommenden Problemen
stattdessen kreativ. Daher bin ich
überzeugt, dass ein finanzielles
Kostenlimit eine gute Sache ist sowohl was die kreative wie auch
die finanzielle Seite betrifft. Es
kann sein, dass die Verdienste von
den Musikanbietern sehr klein sind,
aber es gibt wohl noch kein Modell,
was sowohl den Künstlern wie auch
den Musikanbietern gerecht wird.
Wir können das hier jetzt nicht vertiefen, weil es eine komplett neue
Geschichte wäre. Aber zusammenfassend kann man sagen, dass wir
uns in eine Richtung bewegen, die
Vorteile sowohl für den Musiker wie
auch den Musikanbieter bringen
muss. Ich bin sicher, dass man heute
ein Album für 30000 Dollar produzieren kann. Das Geld muss bei
den Musikern und bei einem guten
Produzenten ausgeben werden. Das
Geld darf nicht in Studios ausgeben werden. Wir sind in der digitalen Revolution, um Aufnahmen
zu machen und da muss man keine
Hunderttausende von Dollars
ausgeben.
sie vorbereitet sind und ihre über den Verkauf von Musik und
Hausaufgaben gemacht haben.
es gibt einen Grundtenor der
Beschwerde, dass die Umsätze
WP: Wir waren sehr beeindruckt, beim Musikvertrieb gering sind.
dass Du als Solist nur mit einer Wie siehst Du das?
Gitarre in der Hand die Show M B : I c h h a t t e m e h r e r e
für JJ Grey&Mofro eröffnet hast. Plattenverträge in meiner Karriere.
Machst Du solche Soloshows Einige waren sehr große Verträge
öfters?
über mehrere Hunderttausend
MB: Nicht sehr oft. Ich habe das Dollars für ein Album. Der letzte
früher gerne gemacht. In solchen Vertrag war verhältnismäßig klein
Fällen ist es vor einem kleinen und der wahre Punkt hier ist folPublikum irgendwo in einem gender: Als ich 2008 oder 2009
Kellerlokal gewesen.
425000 Dollars für ein Album als
WP: Wann machst Du Soloshows Produktionskosten ausgeben habe,
und wann gehst Du mit einer haben wir das meiste Geld im Studio
Band auf Tour?
ausgeben. Bei dem letzten Album
MB: Kommt wirklich auf die haben wir nur 40000 Dollar ausSituation an. Das hängt von den ver- geben und das hauptsächlich in die
fügbaren Ressourcen ab. Geld spielt Musik gesteckt. Das meiste Geld
eine Rolle. Ich möchte die Jungs hier wird also auf der Produzentenseite
nicht fragen, umsonst oder für wenig ausgegeben. Wenn Du also das
Geld spielen. Dann spiele ich lieber Album für “fast Nichts“ oder
WP: Vielen Dank für das intersolo anstatt die Jungs mit einer mini- unter 30000 Dollars produzieren
essante Interview und wir sehen
malen Gage zu beleidigen.
kannst und 15000 Alben verkaufen
uns nach der Show für das
WP: Wir reden viel mit nationa- kannst, wenn Du eine Fangemeinde
Meet&Greet mit den beiden Fans.
len und internationalen Bands hast, die man auf Tour abgrasen
Wasser-Prawda | Juli 2015
34
MUSIK
DIE H OFFNUNG LI E GT I M M E R
IN DER ZUKUNFT
24. JUNI: DER WU TANG CLAN IN BERLIN.
TEXT: CHRISTOPHER GOTTSCHALK.
Kommt zusammen für
ein besseres Morgen.
Die Hoffnung liegt ja
immer in der Zukun
und dauert bei den
sehr op mis schen
Wasser-Prawda | Juli 2015
Zeitgenossen ewig an.
Die Hoffnung und der
Wu-Tang Clan – wer
oder was hält sich sonst
noch ewig? „Wu Tang
Is Forever“ – so weiß
man es seit 1997 in der
gesamten HipHop-Welt.
Nun ha e ich dieses Jahr
die Chance eine meiner
liebsten und von mir am
meisten gehörten HipHop
Acts live zu erleben.
MUSIK
Die legendären Mitglieder vom
Wu-Tang Clan besuchten am
24.06.2015 die Hauptstadt Berlin.
Offiziell kamen sie im Namen ihres
neuen und wahrscheinlich letzten
Albums „A Better Tomorrow“.
Allerdings stellte sich heraus, dass
das Beste an der A Better Tomorrow
Tour ( insgesamt 5 Konzerte in
Deutschland) die Abwesenheit
jeglicher Tracks von ebendiesem
Album ist. Das letzte Werk des
Clans ist nicht schlecht. Es hat seine
Höhepunkte in langsam dahintrabenden Beats, die durchsetzt sind mit
den altbekannten Samples aus den
Kung Fu Filmen der 70er Jahre und
den Momenten, in denen Method
Man und Ghostface Killah zeigen,
dass sie musiktechnisch in all den
Jahren nichts eingebüßt haben. An
die rohe Energie des ersten Albums
allerdings kam der Wu Tang Clan
als Gruppe nie mehr heran. Und so
schlägt man sich vor einem Konzert
von Legenden mit der Sorge herum,
ob die Helden der Jugend mit der
voranschreitenden Zeit nicht doch
etwas von ihrer Energie eingebüßt
haben. Ob der kreative Funke noch
zündet. Denn wer will schon Roger
Waters solo hören, wenn es „Shine
On You Crazy Diamond“ gibt?
Als ich mit zwei Freunden beim
Konzert ankam, fiel mir zuerst auf,
dass der Clan noch immer Zugkraft
hat. Es sind zwar keine 70.000 Leute,
wie sie AC/DC am Tag danach ins
Berliner Olympiastadion holten,
aber immer noch genug um das
35
Konzert aus der Columbiahalle in die
ARENA Berlin zu verlegen. Wobei
man hier fragen sollte: warum? Zum
einen scheint die ARENA nicht in
der Lage zu sein, einen vernünftigen Sound herzustellen. In meiner
akustischen Weltsicht sind Bässe
und ein paar Höhen und sonst
NICHTS kein gutes Klangerlebnis.
Zum anderen lässt sich auf pure
Gier schließen, wenn man bedenkt,
dass in der ARENA mehr Tickets
verkauft werden konnten, obwohl
die Veranstalter den Fans eines
vorher verschwiegen hatten: Der
Wu-Tang Clan war nicht komplett
in Deutschland. Dazu gleich mehr.
Bei der Ankunft sah ich eine große
Menge Menschen, die alle hauptsächlich schwarze Sachen trugen,
aufgehellt von Ol Dirty Bastard
Portraits oder dem ikonischen
„W“ im Batman-Stil. Es war eine
unerwartet gemischte Menge aus
Männern und Frauen, den üblichen
Verdächtigen – die Kopfnicker und
Backpacker- , Punks, Hipster, die
das W mit beiden Händen schon vor
Wasser-Prawda | Juli 2015
36
MUSIK
dem Konzert auf Facebook verewigen wollten und einer Person, dessen
exzessives Nasenpiercing aus mehreren Ringen den Eindruck eines
merkwürdigen Oberlippenbärtchens
auslöste und alle diese Menschen
tranken Bier, rauchten und warteten auf das Konzert von HipHopLegenden, die noch nicht Mythos,
aber schon Teil der Mythologie sind.
Dieses Geräusch der Schwerter und
das amerikanische Gemurmel aus
den fiktiven Shaolintempeln des
Hongkongkinos der 70 Jahre eröffnete das Konzert. Es ist der unbestreitbare, im HipHop Gedächtnis
festgenagelte Klangteppich der
36 Kammern der Shaolin. „All I
Can Try Is My Wu Tang Style….
Bring The Motherfucking Ruckus“.
Der Wu Tang Clan eröff nete das
Konzert mit dem ersten Track ihres
Debütalbums und gab danach „Da
Mystery Of Shadowboxin“ zum
Besten. Beide Tracks wurden von
den Leuten um mich herum Wort
für Wort mitgerappt und zelebriert.
Man sah den Gesichtern an, dass das
hier gerade ein großer Moment ist.
Auf der Bühne standen Ghostface
Wasser-Prawda | Juli 2015
mit, antwortete auf „Do You Like
HipHop“ mit „Hell Yeah“ und stand
mit Begeisterung da als Cappadonna
mit einem fünfminütigen Acapella
brillierte und hielt ihre Hände hoch
als der Beatlesrefrain von „Come
Together“ eingespielt wurde. Ein Wu
Tang Clan Konzert lohnt sich. Wu
Tang – HipHop ist eine Mischung
aus Nostalgie und Aktualität, er
bewältigt die Aufgabe, HipHop 42
Jahre nach seiner Geburt durchs
Erwachsenendasein und in die
Moderne zu führen. Der Abend bot
weitere Tracks von GZA, U-God
Killah, GZA, Inspektah Deck, und einen Überraschungsauftritt
U-God, Masta Killa, Cappadonna und Freestyle von Jeru The Damaja.
und Street Life. Nicht dabei waren Ich hoffe, dass die Crew aus Staten
Method Man, Raekwon und RZA, Island noch viele Jahre auf der
der Architekt des Clans. Für mich Bühne steht.
hat das dem Abend nicht geschadet.
Schande über den Veranstalter, der
die Fans darüber im Dunkeln ließ
und gleichzeitige Bewunderung an
die restlichen Wu Tang Leute für
diese Show. Die Jungs haben auch
nach zwei Dekaden im Geschäft
ihren Hunger nicht verloren und
wollen performen bis die Klamotten
vor Schweiß triefen. Das fordern
sie auch von ihrem Publikum.
Ghostface Killah forderte das
Publikum auf, die verdammte „low
Über den Autor
energy“ zu beenden und mit der Christopher Gottschalk, 24 Jahre
gleichen Energie zu feiern, die dann alt, ist momentan Student der
von der Bühne zurück kommt. Mit Politikwissenschaft. Er ist ein
Klassikern wie dem doppeldeuti- Anhänger der Literatur Hunter
gen „Ice Cream“, dem basslastigen S. Thompsons und würde selbst
„Daytona 500“, einer acapella einge- gerne Gonzo schreiben.
leiteten Version des immer noch fri- Seine Interessen sind breit gefäschen „Wu Tang Clan Ain’t Nuthin chert: Was interessant ist, sollte
Ta Fuck Wit“ und einer insgesamt aufgeschrieben werden.
runden Mischung aus Clan- und
Solosongs stieg die Energie dann
auch. Die Menge schrie die Refrains
B L U E S K A L E N D E R 37
BLUESKALENDER
Zusammenstellung: Matthias Schneider (blueskalender.
blogspot.de)
1928
1953
1957
Robert Cray
1946
1948
1969
01.08.
Piano Slim aka Robert T. Smith*
Robert Cray*
Deitra Farr*
02.08.
Inga Rumpf*
Andy Fairweather Low*
René Edmond Lutz*
Rusty Wright*
Internationaler Tag des Blues
03.08.
1915
1971
Mercy Dee Walton*
Ronnie Shellist *
Matthew Skoller *
1901
2003
2005
2014
Louis Armstrong*
Big Al Dupree+ *1923
Little Milton+
Lynwood Slim+
1947
1957
2003
Rick Derringer*
Joe Hill Louis+
J.W. Warren+
1900
1922
1949
1954
1973
2001
Willie Brown*
Willie Nix*
Lillian Boutté*
Corey Stevens*
Memphis Minnie+
Larry Adler+
04.08.
Inga Rumpf
05.08.
Memphis Minnie
06.08.
Memphis Minnie
38
BLUESKALENDER
07.08.
1937
1944
1957
1984
1984
1984
Magic Slim*
Denny Freeman*
Nuno Mindelis*
Eddy Ghossein*
Esther Phillips+
Harmonica Frank+
08.08.
Magic Slim
1910
1923
1953
1953
1955
1962
1967
Lucky Millinder*
Jimmy Witherspoon*
Tim Gaze*
Lady Bianca*
Caroline Aiken*
Deak Harp*
Erkan Özdemir*
1908
1947
1960
1963
2005
Robert Shaw*
Trudy Lynn*
Hart Wand+
Tony Spinner*
Detroit Junior+
09.08.
10.08.
Jimmy Witherspoon
1947
1948
1948
1962
1992
Dellie Hoskie Jr.*
Lucille Bogan+
Mick Clarke*
Ras Smaila*
Annisteen Allen+
1887
1926
1966
1984
1989
Sam Collins*
Eddie Tigner*
Peg Leg Howell+
Percy Mayfield+
Sonny Thompson+
Nico Wayne Toussaint*
11.08.
12.08.
1920
1934
Percy Mayfield
Percy Mayfield*
Roy Gaines*
B L U E S K A L E N D E R 39
1947
1969
1974
1997
2008
Albie Donnelly*
Albert Castiglia*
Pink Anderson+
Luther Allison+
Hosea Leavy+
1919
1921
1943
1965
1971
Baby Boy Warren*
Jimmy McCracklin*
Geoff Muldaur*
Jimi Bott*
King Curtis+
1937
1942
1957
1960
1984
1988
1990
Terry Evans*
Son Seals*
B.J. Sharp*
Pat Thomas*
Bobo Jenkins+
Roy Buchanan+
Lafayette Leake+
13.08.
14.08.
Luther Allison
Roy Buchanan
1911
1942
1957
1958
1959
1961
1972
1995
1995
2009
1915
1923
1925
1935
1938
1951
1967
Erix Bibb
15.08.
Buster Brown*
Pete York*
Hawk Levy*
Big Bill Broonzy+
Paul Cox*
Stick McGhee+
Baby Tate - Charles Henry Tate+
Jesse Thomas+
Erbie Bowser+
Jim Dickinson+
16.08.
Melvin „Lil‘ Son“ Jackson*
Eddie Kirkland*
Edna Hicks+
Bobby Mitchell*
Robert Johnson+
Eric Bibb*
Dan Pickett+
40
BLUESKALENDER
1939
1943
1969
1984
1906
1928
17.08.
Luther Allison*
Dave „Snaker“ Ray*
Woodstock Festival 15.-18.08.1969
Hammie Nixon+
18.08.
Curtis Jones*
Barkin‘ Bill Smith*
Steve Lury*
Taylor Scott*
Ronnie Keith Owens*
19.08.
Luther Allison
1935
1939
1953
1953
1959
2013
2014
Earl Gaines*
Ginger Baker*
Lynwood Slim*
Willie Love+
Blind Willie McTell+
Fritz Rau+
James Kinds+
Mel Melton*
1935
1944
1952
1971
2008
2008
J.J. Malone*
Uncle John Turner*
John Hiatt*
Heike Matzer*
Little Arthur Duncan+
Phil Guy+
Allen Vega*
Jimi Barbiani*
1939
1951
1953
1963
1977
1981
James Burton*
Bobby D. Benison*
Doug James*
Dave Specter*
Matt Schofield*
Amedee Frederick*
20.08.
Ginger Baker
21.08.
Matt Schofield
B L U E S K A L E N D E R 41
1920
1922
1923
1931
1952
1978
1979
1987
22.08.
John Lee Hooker*
Sonny Thompson*
Carolina Slim*
Roscoe Shelton*
Debbie Davies*
Lillian Glinn+
John Lee Granderson+
Leonard „Baby Doo“ Caston+
1924
1947
1953
1963
Wynona Carr*
Mike Harvey*
Orville Johnson* 1)
Frank Plagge*
1905
1953
1964
1991
Arthur Crudup*
Ron Holloway*
Oteil Burbridge*
Washboard Willie+
23.08.
John Lee Hooker
24.08.
1950
1976
1985
2000
25.08.
Willy DeVille*
Castro Coleman aka Mr. Sipp „The Mississippi Blues
Child!“*
Dani Wilde*
Allen Woody+
Erin Harpe*
Arthur Crudup
26.08.
1903
1943
1950
1994
Jimmy Rushing*
Tadeusz Nalepa*
Don Baker*
Sebastian Kleene*
1926
1934
1954
1975
1990
Odie Payne*
Joe Weaver*
Martin Pyrker*
Hop Wilson+
Stevie Ray Vaughan+
Mike Milligan*
27.08.
Stevie Ray Vaughan
42
BLUESKALENDER
1903
1906
1937
1961
Dinah Washington
1924
1955
1976
2007
2011
1934
1999
2013
David Honeyboy Edwards
Van Morrison
1907
1937
1938
1945
1945
1955
1962
2000
2009
28.08.
Montana Taylor* +unknown
Monkey Joe* +unknown
James Wheeler*
Tarry „Harmonica“ Bean*
Shaun Booker*
29.08.
Dinah Washington*
Nelsen Adelard*
Jimmy Reed+
Kip Anderson+
David Honeyboy Edwards+
30.08.
Luther „Snake Boy“ Johnson*
Brewer Phillips+
John „Juke“ Logan+
31.08.
Dan Pickett*
Bobby Parker*
„Spider“ John Koerner*
Bob Welch*
Van Morrison*
Kay Kay Greenwade*
Joanna Connor*
Saunders King+
Jesse Fortune+
Steve Edmonson*
Michael Juan Nunez*
A L B U M D E S M O N A T S 43
LAZER L L OYD –
LAZER L L OYD
ALBUM DES MONATS JULI 2015
Letztens brachte ein Songschreiber in einem Gespräch
die Unterscheidung auf zwischen Party-Blues und
dem Blues, der ein tiefes persönliches Anliegen des
Musikers ist. Der seit den 90er Jahren in Israel ansässige Gitarrist und Songwriter Lazer Lloyd gehört zur
zweiten Kategorie. Sein drittes Soloalbum lotet in 12
Songs die verschiedensten Lebens- und Leidenslagen
aus. Doch die Musik ist kein depressiver Blues, der
einen nur zum Heulen bringt, sondern es ist kraftvoller Blues, der der ursprünglichen Funktion einer heilenden Musik nahe kommt.
“I’m a crazy Jew, rocking in the Holy Land,” singt
Lloyd. “This is where I stand, this is part of God’s plan.
Zeilen wie diese finden sich häufiger auf dem Album:
Hier ist einer, der den Glauben wie selbstverständlich
durch seine Musik weiterträgt. Hier ist jemand, dem
betretene Blicke der ach so agnostisch-aufgeklärten
Zuhörer nicht scheut: Blues ist nur dann wirklich echt,
wenn man ihn mit Leib und Seele, mit Haut und Haaren
zelebriert. Wer sich hinter Floskeln und Klischees versteckt, wird es nie weiter bringen als zu einem PartyBlueser oder akademisch gebildeten Kopisten.
Dieser Blues ist geistliche Musik ebenso wie persönliches Bekenntnis, ist Predigt ebenso wie Klage an Gott
angesichts der Härten des Lebens. Einen großen Teil
der Klage übernimmt bei Lloyd die rauh verzerrt kreischende Gitarre. Sie macht erst wirklich deutlich, was
an brodelnden Gefühlen sich hinter der Oberfläche verbirgt: Die tiefe Depression, die einen im Bett festhält
ebenso wie die Sehnsucht nach Freiheit, die Gewissheit,
dass man im Leben niemals ohne Gott ist wie der Wille,
anderen zu helfen, denen es ähnlich geht.
Manche haben die spirituelle Kraft der Songs mit
Alben etwa von Carlos Santana verglichen. Aber mir
als Christen fallen dazu eher die Gospelbluesmen von
damals bis heute, von Blind Willie Johnson und Son
House bis hin zu Reverend Peyton oder Kelly Joe Phelps
ein. Wobei Lloyd mit seiner rockenden E-Gitarre gleich
noch die ganze Bluesgeschichte von Howlin Wolf
bis hin zum psychedelischen Heavy-Blues-Rock von
GravelRoad mit in die Mixtur einbringt. Und da wird
selbst eine so bekannt und häufig gecoverte Nummer
wie „Dock of the Bay“ zu einer Neuentdeckung: Wo
Otis Redding und Steve Cropper vom Sound her sich
an verspielten Nummern etwa der Beatles orientierten,
macht Lloyd den eigentlichen Kern des Songs hör- und
fühlbar: das Gefühl, einfach verdammt zu sein, seine
Zeit zu verschwenden, weil man einfach nicht mehr
weiter weiß.
Intensiv, persönlich, und voller Spiritualität und
Ehrlichkeit: Genau so muss Blues sein!
Raimund Nitzsche
Wasser-Prawda | Juli 2015
44
P L AT T E N
REZENSIONEN A BIS Z
Symbole
8 Ball Aitken – The New Normal 44
B
Bey Paule Band – Not Going Away
44
D
David Michael Miller – Same Soil 45
Deb Ryder – Let It Rain 45
K
Kern Pratt – Broken Chains 46
S
Samantha Fish – Wild Heart 46
W
Wellbad – Judgement Day 46
Z
Zoe Schwarz Blue Commotion – I’ll
Be Yours Tonight. Live 46
Wasser-Prawda | Juni 2015
P L AT T E N
dabei immer in der Gefahr stehen,
Hoffnung und Mitgefühl zu verlieren. Früher nannte man Country
auch den Blues des weißen Mannes.
Und Aitken singt und schreibt heute
genau solche Musik. Mal ist es mehr
Blues, mal mehr Country - aber
immer sind es großartige Songs!
Eine große Empfehlung!
Nathan Nörgel
8 Ball Aitken – The New
Normal
Aus dem Norden Australiens ist
er mittlerweile umgezogen nach
Nashville. Und dort entstand auch
das aktuelle Album von 8 Ball
Aitken namens „The New Normal“.
Wobei diese Normalität auch für die
fortschreitende Transformation des
Songwriters vom Bluesman zum
Countrymusiker stehen könnte.
Im Video zur aktuellen Single „Shut
The Front Door“ wird 8 Ball mit seiner Band von hübschen Pinup-Girls
verprügelt. Und auch der Song selbst
versprüht die Art von Humor, die
man auch in Filmen von Tarantino
oder Rodriguez finden kann. Doch
das ist nicht das „Normale“ in seinen
aktuellen Songs. 8 Ball Aitken singt
heute auch über korrupte Politiker,
Gebrauchtwagenhändlerinnen, über
miese Jobs mit noch weniger Geld,
über das Suchen und Finden von
dem Ort, den man Zuhause nennen kann. Gerade hier merkt man
den Liedern an, wo die Sympathien
Aitkens liegen: Bei denen, die man
in der heutigen Zeit gerne übersieht, bei den Menschen, die um
ihr Überleben kämpfen müssen und
Bey Paule Band – Not Going
Away
Bei dem Namen könnte man denken,
die Band kommt aus Berlin. Weit
gefehlt, denn die Band kommt aus
Napa, Kalifornien und „Not Goin‘
Away“ ist bereits das dritte Album
der Band. Die Bey Paule Band sind:
Sänger Frank Bey, Gitarrist Anthony
Paule, Paul Revelli (dr), Paul Olguin
(b), Tony Lufrano (keyb) und die
Hornsection mit Nacy Wrigt (sax),
Mike Rinta (tb) und Tom Poole an
der Trompete.
Die Bluesmusik der Bey Paule Band
steht auf vier Säulen. Als erstes muss
man die charismatische Stimme von
Frank Bey nennen. Das ist für mich
die Hauptsäule der Band.
Beachtenswert ist, dass sich die
Band eine Bläsergruppe leistet. Die
Kombination der Stimme von Frank
Bey mit dieser Bläsergruppe sorgt
45
für den unverwechselbaren Sound
der Truppe.
Dann ist da noch Tony Lufrano an
den Keyboards. Ob Pianoklänge
(„Right in Front of You“) oder
feine Orgelklänge („Noel‘s Haze“),
Tony Lufranon setzt Akzente und
ist damit die dritte Säule der Band.
Tja und dann ist da noch Anthony
Paule an der Gitarre. Dieser ist sich
nicht zu schade auch einmal nur
Rhythmus mit dem Basser und dem
Schlagzeuger zu machen, glänzt aber
auch durch virtuoses Gitarrenspiel
(„Ballad of the Lover Man“), oder
durch eine wunderbare Slide Guitar
(„This Party‘s Done“).
Alles in allem ergibt die Mischung
den bemerkenswerten Sound der
Band, den man sich nicht entgehen
lassen sollte.
„Right in Front of You“ ist für mich
der beste Titel dieses Albums gefolgt von „This Party‘s Done“ und
“Don‘t Ask Me How I Feel“.
Die Musik ist mal langsam, fast
schon schnulzig („Next to My
Heart“) und mal dynamisch („Kiss
Me Like You Mean It“). Auch ein
ziemlich kommerzieller Titel ala
Tom Jones („Kiss Me Like You
Mean It“) ist dabei. In „Someone
You Use“ finde ich den Einsatz von
Saxophon und Gitarre gelungen.
„Noel‘s Haze“ ist fast schon jazzig, ich musste jedenfalls an New
Orleans denken.
Matthias Schneider
Wasser-Prawda | Juni 2015
46
P L AT T E N
am ehesten in Chicago vermuten.
Aber eigentlich wohnt er im Staate
New York. Sein Slide-Spiel wiederum kommt ohne Umweg aus der
Kirche: das ist feinstes Sacred Steel
Spiel, wie man es auch von Robert
Randolph und anderen zu hören
bekommt.
Allerdings - und das macht „Same
Soil“ zu einer echten Empfehlung:
Miller und seine Band lassen sich
einfach nicht auf einen bestimmten
Stil festlegen. „Friend of Mine“ etwa
David Michael Miller – Same
ist eine durchaus jazzige Ballade mit
Soil
röhrendem Saxophon und jeder
Schon mit seinem Solodebüt Menge Soul in der Stimme. Und bei
„Poisons Sipped“ hatte Songwriter/ Stücken wie „Born To Loose“ wird
Gitarrist David Michael Miller ein zünftiges Funk-Gewitter losgenachhaltig auf sich aufmerksam ge- treten, ohne jemals die Blueswurzeln
macht. Auch sein zweites Album zu verraten.
„Same Soil“ ist wieder eine abso- Ein absolut hochklassiges Album!
lut empfehlenswerte Scheibe von Unbedingt anhören!
starken Bluessongs mit deutlichen
Nathan Nörgel
Gospelwurzeln.
Der ultimative Test für ein Album
ist für mich, es unvorbereitet etwa
Kunden in einem Laden vorzuspielen. Wenn sich dann die Köpfe
unwillkürlich drehen oder gar
Nachfragen danach kommen, wer
da läuft und wo man dieses Album
bekommen kann, dann ist die Musik
nicht nur was für Genrespezialisten.
„Same Soil“ hat diesen Test mit
Bravour bestanden. Schon beim
Opener „All The Blues To You“
und noch mehr bei der wundervol- Deb Ryder – Let It Rain
len Slide-Nummer „Just Ride“ hat Sie wohnt in Kalifornien. Doch
er die Hörer gepackt. Und wenn ihre erste Begegnung mit dem Blues
dann bei „Got Them Blues“ Miller hatte Deb Ryder in Chicago. Und
mit seiner Band das Tempo anzieht, so hört man in ihren Songs sowohl
dann bleibt keiner mehr ruhig sit- das Erbe von Etta James als auch
zen. That‘s the boogie!
von Koko Taylor, sowohl den Blues
Musikalisch könnte man Miller von B.B. King als auch den von Taj
Wasser-Prawda | Juni 2015
Mahal.
In den 70er Jahren eröffnete Deb
Ryder regelmäßig Konzerte für Neil
Young aber auch für Taj Mahal, Big
Joe Turner oder Charlie Musselwhite.
Vor allem die Bluesmusiker traten regelmäßig in The Topanga
Corral, dem Rockclub ihres Vaters
auf. Denn Big Joe Turner organisierte dort einen wöchentlichen
Bluesabend. Und wenn man dann
noch weiß, dass auch Bob Hite von
Canned Heat zu den regelmäßigen
Gästen des Hauses gehörte, dann
kann man sich vorstellen, was für
eine hervorragende Schule das für
eine junge Sängerin gewesen sein
musste. Allerdings konnte mich
nichts wirklich darauf vorbereiten,
in ihr auch eine der herausragenden
Songwriterinnen des Blues heutzutage zu finden: Ob sie drüber singt,
ob sie sich an der Geliebten ihres
Mannes rächen soll oder ob sie mit
der Power einer Gospelpredigerin
ihre Gemeinde auffordert, ihr Licht
hoch zu halten, damit die Welt geheilt werden kann: Das sind Lieder,
die zwar musikalisch und von den
Themen her ganz dicht dran sind
am Erbe des klassischen Blues.
Doch mit der Ehrlichkeit, mit der
persönlichen Verletzlichkeit, die
sie in ihren Stücken zeigt, ist sie
eben weit davon entfernt, lediglich
ein weiterer Retro-Act zu sein, der
Konzerte für ein nach rückwärtsgewandtes Publikum spielt. Nein,
Deb Ryder ist eine Bluessängerin
und Songwriterin im eigentlichen
Wortsinn: Sie nimmt ihr Leben,
ihre Wut und Trauer, ihre Hoffnung
auch und macht daraus allgemeingültige Stücke, die beim Publikum
P L AT T E N
ebenso persönliche Erlebnisse ansprechen können.
„Let It Rain“ ist für mich eines der
überraschenden Fundstücke des
Bluesjahres 2015. Es verdient eine
dicke Empfehlung!
Raimund Nitzsche
hört zu den jungen Bluesmen,
für die geografische oder stilistische Begrenzungen unwichtg sind,
die die ganze Bandbreite der verschiedensten Spielweisen studiert
haben und sie in ihren Sound integrieren können. Und da gehört
der Soulblues (gern auch mit funkigen Untertönen) ebenso dazu wie
klassischer Deltablues in akustischem Gewand. Highlights sind für
mich das treibende „Soul Shake“
und „Greenville Mississippi Blues“
mit dem tollen Boogie-Piano von
Eden Brent. Für Freunde der klassischen Bluessounds ist das eine echte
Empfehlung!
Nathan Nörgel
Kern Pra – Broken Chains
Als Kind wuchs Kern Pratt im
Mississippidelta auf und hörte dort
die ganze Bandbreite des Blues
vom rauhen Sound von T Model
Ford bis zúm Soulblues von Bobby
Rush. Und schon mit 16 Jahren
war er als Gitarrist schon so gut,
dass er seine ersten Profiauftritte
in Las Vegas bekam. Auf „Broken
Chains“, einem Album mit eigenen
Songs und Bluesklassikern präsentiert er sich als toller Gitarrist und
als Sänger mit einer einprägsam rauchigen Stimme. Unterstützt wurde
er bei den Aufnahmen unter anderem von Pianistin Eden Brent oder
dem Resonatorspieler Wes Lee.
Mal spielt Kern wie Albert Collins,
mal konzentriert er sich ganz auf
die akustische Gitarre, mal wird
die Band von fetten Bläsern angetrieben, mal treibt ein Boogiepiano
den Song nach vorn: Pratt ge-
47
Nein: die deftigen Riffgewitter des
letzten Albums sind nicht mehr so
im Vordergrund. Pech für die reinen
Bluesrocker. Samantha Fish ist jetzt
als Musikerin und Songschreiberin
so erwachsen, dass sie von rockig
treibenden Stücken bis hin zu sehnsuchtsvollen Balladen nahtlos hin
und her wechseln kann. Man merkt
ihr an, dass sie in den letzten Jahren
viel mit Mike Zito, einem der profiliertesten Songschreiber für mich
in der gegenwärtigen Szene, unterwegs war. Sie hat keine Angst
davor, Verletzlichkeit und Schwäche
ebenso zu zeigen wie Power und
Direktheit.
Das macht aus „Wild Heart“
ein wirklich tolles Album zwischen Blues, Bluesrock, souligen Anklängen und einem Schuss
Americana. Reinhören, kaufen und
gerne auch verschenken! Damit
kann man auch Bluesneulinge erreichen. (ruf/in-akustik)
Raimund Nitzsche
Samantha Fish – Wild Heart
Es ist ungeheuer spannend, die
Entwicklung junger Musikerinnen
und Musiker zu beobachten.
Samantha Fish wurde von Thomas
Ruf erstmals als eines der Girl With
Guitars beim Blues Caravan hierzulande präsentiert. Und schon
ihr Solodebüt „Runaway“ machte
neugierig auf mehr. Mit „Black
Wind Howling“ hatte sie sich
hauptsächlich den heftig dreckigen Bluesrocksounds verschrieben.
Album Nummer drei ist jetzt ihr
bisheriges Meisterstück.
Wellbad – Judgement Days
Die einen hören die Zukunft des
Blues aus deutschen Landen. Für
andere ist die Hamburger Band
Wellbad überhaupt kein Blues mehr.
Für beide Sichtweisen kann man
Wasser-Prawda | Juni 2015
48
P L AT T E N
Belege auf dem zweiten Album der
Band finden.
Originell und eigenständig, waren
zwei Worte, die Hörern bei der
German Blues Challenge spontan
einfielen. Aber auch: Diese Stimme
nervt auf die Dauer. Und: Das ist eigentlich kein Blues mehr. Und tatsächlich sollte man die Warnung
für Bluespolizisten aussprechen:
Wellbad kann zu Wutausbrüchen
führen, wenn man stur auf die heiligen zwölf Takte wartet. Wer aber
auch Songwriter wie Tom Waits in
der Nähe seiner Bluessammlung aufzubewahren, hat hier ein wirklich
spannendes Album zu entdecken.
Es ist düster, Liebespaare enden in
einem Sarg für zwei, Gott ist vorübergehend außer Betrieb und überlässt das Gericht anderen. Kleine
Schmerzen werden als Weckmittel
empfohlen. Denn eigentlich ist kein
Mensch in der Lage, eine gute Welt
auszuhalten.
Das sind Geschichten, auf die
man sich erst mal einlassen muss,
die aber auf Dauer eine düstere
Schönheit offenbaren. Musikalisch
geht es hier teils akustisch, teils
elektrisch zu. Manchmal hört man
in den Instrumenten noch die
Bluesanklänge. Doch eigentlich sind
Wellbad solche Kategorien egal: Der
Song steht im Zentrum. Und die
die wirklich immer wieder an Waits
erinnernde Stimme, die mal knurrend leise ist, dann wieder wütend
losbrüllt.
„Judgement Days“ ist eine
Empfehlung für Fans absolut eigenständiger und toller Songs. Wie
diese allerdings bei der International
Blues Challenge ankommen werWasser-Prawda | Juni 2015
nössischen Blues. Schwarz fordert
„Let Me Sing The Blues“, erzählt
von den Vorteilen von „Liberated
Women“ oder singt Balladen, deren
Gefühl nicht mal von ferne dem
Kitschverdacht ausgesetzt sind.
Faszinierend, wie bei dem Album
selbst kleine Nuancen der Stimme
und der Instrumente nachzuverfolgen sind: Hier sind Musiker am
Werke, die sich auf der Bühne hörbar wohl fühlen, die sich gegenseitig
Ideen zuspielen oder auf das Spiel
ihrer Kollegen feinfühlig reagieren.
Wer bei Blues nicht nur an Bluesrock
Zoe Schwarz Blue Commo on denkt, wer auf banale Soloorgien
– I’ll Be Yours Tonight. Live
auch bei Live-Aufnahmen verzichSchon das vierte Album in eben- ten kann, der ist hier genau richsovielen Jahren hat die britische tig. „I‘ll Be Yours Tonight“ ist bisSängerin Zoe Schwarz mit ihrer lang eines der besten Live-Alben, die
Band Blue Commotion 2015 veröf- 2015 in der Redaktion ankamen.
fentlicht. Wobei die Live-Aufnahme
Nathan Nörgel
von „I‘ll Be Yours Tonight“ ursprünglich gar nicht geplant war.
Mitgeschnitten wurde im November
2014 ein Auftritt beim „Tuesdaying
Night Music Club“.
Die ersten zwei Songs machen
schon mal die Bandbreite deutlich,
die nicht nur Schwarz als Sängerin
sondern auch die tolle Band (Rob
Koral - g, Peter Whittaker -org,
Paul Robinson - dr, Si Genaro mharm, Ian Ellis - sax und Andy
Urquhart - tp) drauf haben: Vom
riffgetriebenen Bluesrock (Your Sun
Shines Rain) bis hin zum jazzigen
Blues (Fine & Mellow), bei dem
Zoe Schwarz ihrem Vorbild Billie
Holiday ein würdiges Denkmal
setzt geht das Programm. Und egal
in welchem Stil gerade musiziert
wird: die von Schwarz gemeinsam
mit Koral geschriebenen Songs sind
wirkliche Kostbarkeiten im zeitgeden, wage ich nicht zu beurteilen.
Raimund Nitzsche
F E U I L LTO N
49
VOM W I E D E R F I N D E N D E R
S PRA C HE . JÜ R GE N L A N D T
IM GESPRÄCH (2012)
Ende Juli/Anfang August erscheint nach
„alles ist noch zu begreifen“ (2012)
und „Letzter Stock im Feuer“ (2014)
mit dem Hardcover „Als das Dasein
sich verpfiff“ das nunmehr dri e Buch
von Jürgen Landt im freiraum-verlag.
2012 habe ich mit dem 1983 aus der
DDR ausgebürgerten Autoren über
die DDR, die Sank onen, denen er
unterworfen war, und seinen Roman
„Sonnenküsser“ gesprochen. Von
Erik Münnich. Foto: Ole Schwabe.
ERIK MÜNNICH: Du bist in der DDR groß geworden, hattest einige Schwierigkeiten mit dem System …
Ich habe mich immer eingeengt gefühlt und da ich
auch nicht das Naturell hatte, mich anzupassen, bin
ich natürlich schnell in Konflikte geraten. Und das war
ja nicht nur das System im Großen, sondern auch im
Kleinen – das fängt im Schulsystem an, im Elternhaus,
im Mief der Kleinstadt. Es war eine unbeschreibliche
Enge, die nur schwer zu ertragen war. Und eigentlich
bin ich kein politischer Mensch. Wenn man im Leben
seine Sensoren ständig lügen lässt und nur gezwungenermaßen empfängt, dann kommt man gar nicht daran
vorbei, die Stimmung einzufangen in der Umgebung,
in der man lebt. Und dann mit Anfang, Mitte 20 habe
ich die ersten Texte geschrieben – die sich natürlich mit
dieser Thematik in der DDR auseinandersetzten. Wenn
einem das einfach unerträglich war, dann hatte man
vielleicht dadurch einen Platz gefunden, da irgendetwas für sich abzulassen.
ERIK MÜNNICH: Das Gefühl, eingeengt zu sein,
ging bei dir schon ziemlich früh los …
Ich habe so einen inneren Druck gehabt als Jugendlicher
durch die stupiden Drangsalierungen, die von allen
Seiten kamen. Ein anderer verletzt sich selbst und bei
mir ging der Druck nach draußen. Dann habe ich
mich regelrecht freigeschlagen. Das wurde dann als
Rowdytum hingestellt. Und wenn man erst einmal
drin war, kam man leider auch unter staatliche
Kontrollmaßnahmen – ist den Ausweis losgeworden,
hat den Paragraphen 48 gekriegt, Meldepflicht. Man
durfte die Stadt nicht verlassen, nicht mit bestimmten
Leuten verkehren. Das spitzte sich dann immer mehr zu.
Hat die Sache nicht besser gemacht. Dann bin ich mit
17 oder so schon im Zuchthaus gewesen und wenn man
danach wieder zur Schule gehen soll, da kann einem
ein Staatsbürgerkundelehrer auch nichts mehr erzählen. Und vorher hatte man immer noch ein eingebläutes, komisches Bild gehabt, das die einem ja eingetrichtert haben von Anfang an – das ist die bessere Welt, sie
kümmert sich um Menschen und was weiß ich, mal
ganz profan ausgedrückt. Und wenn man so verklärt
in den Strafvollzug der DDR kommt – danach war es
gänzlich vorbei. Da hat man nochmal eine andere Welt
in dem furchtbaren Staat spüren können.
ERIK MÜNNICH: Musstest du als Schreibender
Sanktionen fürchten und hast du auf vermeintliche Sanktionen hin – also Sanktionen, mit denen
du gerechnet hast – dein Schreiben angepasst, eine
Geheimsprache entwickelt, wie das andere gemacht
haben, und Verstecke für deine Texte gesucht? Oder
hast du einfach gesagt: Okay, ich setze mich hin und
hau’ das jetzt rein?
Wasser-Prawda | Juni 2015
50
F E U I L LTO N
Ich habe anfänglich mit der Hand
geschrieben – mit dem Stift.
Irgendwann habe ich so eine
Plastikschreibmaschine bekommen über Beziehungen aus Berlin
– es war ja nicht möglich, einfach
eine Schreibmaschine zu kaufen. Da
gab es einen Durchschlagbogen und
dann hatte man ein, zwei Abzüge,
die oft kaum noch leserlich waren,
die habe ich auch außer Haus
geschaff t, weil dann zwischendurch
auch mal eine Hausdurchsuchung
war. Da wurde gesagt: Wir haben
den Verdacht, dass Sie an irgendeinem Einbruch beteiligt waren. In
Wirklichkeit war es ein Zuträger,
der den Leuten gesagt hat, ich würde
Gedichte schreiben, danach haben
sie dann gesucht und dann anbei
noch einen Schuhabdruck genommen – das war mir alles zu doll und
zu blöd. Und ich hatte auch keine
Lust, wirklich in den Knast zu
gehen – das ist die Sache nicht wert
gewesen, da gab es genug andere
Anlässe, für die ich hätte wieder
reingehen können. […]
ERIK MÜNNICH: 1983 bist du
ausgebürgert worden, vielmehr hast
du dich ausbürgern lassen – wie
kam es dazu?
Ich habe ja in der dritten Haftzeit
– ich war viereinhalb Monate in
U-Haft – aus der Haft heraus
einen Ausreiseantrag gestellt und
dann hat der Anwalt gesagt: Ja, du
kriegst eigentlich einen Freispruch
vom Bezirksgericht, […] aber
den kriegst du nicht, wenn dein
Ausreiseantrag läuft, also den musst
du schon zurückziehen. Dann habe
ich den zurückgezogen, ich dachte:
Naja, viereinhalb Monate in dem
Wasser-Prawda | Juni 2015
Loch – dann zieh mal den Antrag
zurück, den kannst du auch von
draußen irgendwann wieder stellen.
Und dann habe ich den Freispruch
bekommen, aber wegen meiner politischen, moralischen Einstellung
keine Haftentschädigung. Und
dann draußen wieder – es wurde
ja nicht besser für mich – habe
ich wieder Ausreiseanträge gestellt
und da wurde aber immer gesagt
von der Abteilung Inneres: Keine
Formulare, dem wird nie stattgegeben und nichts und gar nichts. Und
irgendwann habe ich schon gedacht:
Naja, das wird wohl so sein und so
bleiben, aber nach ein paar Jahren
ging einer der Anträge dann doch
durch und ich musste innerhalb
von zwölf Stunden die Deutsche
Demokratische Republik, wie sie
es immer ganz längs ausgesprochen
haben, verlassen. An der Grenze
habe ich dann zwei Frauen angesprochen, weil ich nicht zu Fuß rüber
durfte, dann hätten sie mich wieder
eingesperrt, und die haben gesagt:
Na klar, wir nehmen Sie mit. Dann
habe ich so eine Identitätskarte
bekommen und dann gefragt: Na,
wo fahren wir denn hin? Die sind
nach Hamburg gefahren und dann
bin ich halt mitgefahren. Wären die
nach Bremen, Lübeck oder sonst wo
hingefahren, wäre ich da gelandet.
ERIK MÜNNICH: Gab es in
der Zeit einen Bruch in deinem
Schreiben?
Ja, ich habe dann Type-Arts gemacht
– ich habe die Typografien von der
Erika benutzt und diese Bilder auf
der Schreibmaschine gemacht.
Vielleicht war ich auch zu der Zeit
sprachlos und hatte dann aber trotzdem genug, um irgendetwas ausdrücken zu wollen. Ja, das Sprachrohr
war mir da zu eng …
ERIK MÜNNICH: Wann hast du
deine Sprache wiedergefunden?
1985 dann wieder. Es hatte auch
etwas mit der Ruhelosigkeit zu tun,
man muss ja erstmal einen Raum
F E U I L LTO N
finden, wo man sich sammeln kann.
Und wenn man zehn Monate ohne
eigene Wohnung und nur mit seinem
Wandergepäck ist, ist das schon
schwierig. Und trotzdem möchte
man irgendwo etwas machen, aber
das ging nicht.
ERIK MÜNNICH: Du bist nach
der Wende zurück nach Greifswald,
also in die Region, aus der du
stammst …
Ja, weil ich ja noch genug Verwandte
und auch eine Tochter hier hatte.
Und dann hatte ich nach diesen
sechs, sieben Jahren, als ich hier
in Stralsund ankam und meine
Schwester mich abholte, auch wieder
einen Kulturschock […] Wieder
zuhause, wieder im Kinderzimmer
gehockt bei den Eltern. Ich habe
immer gedacht, es ging da ein bisschen vorwärts mit den Leuten – die
waren genau auf demselben Level
von damals, außer dass sie vielleicht
auch ein bisschen gesagt haben: Toll,
wir haben jetzt Kohl. Ansonsten war
es dasselbe. Ich wollte in der Nacht
da schon wieder weg, bloß ich kam
nicht weg, ich hatte kein Auto, es
gab kein Telefon, nichts. Da habe ich
nur gesagt: Ich fahre hier nie wieder
her. Irgendwann war ich dann doch
immer wieder häufiger hier, weil
ich viele Dinge mitbringen sollte
für andere Leute. Ich war gerade
mit einer Frau zusammen, die war
richtig geschäftstüchtig, die hatte
Läden auf der Reeperbahn, die hat
mir das Auto voller Ware gepackt,
die habe ich dann irgendwo abgeliefert und bin dann hier wieder versackt. Obwohl ich eine Wohnung bis
1998 noch in Hamburg hatte.
ERIK MÜNNICH: Spielt für dich
jetzt die Vergangenheit noch eine
Rolle?
Ja, vor allem irgendwie nach
meinem Roman „Sonnenküsser“,
da war ich nachher auch ziemlich
platt, weil ich mich ja immer in
der Rolle und der Entwicklung des
Protagonisten, sprich des Kindes
bis zum Jugendlichen, reinversetzen musste. Das bin ich ja gewesen,
das ist ja total authentisch. Und da
kamen natürlich die ganzen Dinge
wieder hoch. Es ist ja nicht nur so,
dass man das sieht, sondern man
fühlt es ja auch. Dann musste ich
eben immer auch so schreiben, wie
der Sechsjährige das sieht oder wie
ich es damals gesehen habe – sieben,
acht, neun, zwölf Jahre alt – und
nach dem Roman war ich platt wie
ein Fahrradschlauch.
ERIK MÜNNICH: Wie lange
hast du daran gearbeitet an dem
Roman?
22 Monate durchweg und 50 hat
es dann insgesamt gebraucht, bis
er erschienen ist, weil es noch
Verzögerungen gab, da jemand
vorgezogen wurde […]. Und
nach einem halben Jahr sagte der
Lektor dann, ich solle eine zweite
Erzählperspektive einbauen, da hatte
ich eigentlich schon abgeschlossen
mit dem Ding.
ERIK MÜNNICH: Rückblickend
betrachtet, das gibt es ja bei
vielen Menschen, dass sie die
Vergangenheit entweder verklären
oder verteufeln. Kannst du dich
dazwischen einordnen?
Weder verkläre noch verteufele
ich etwas. Das war eine anstrengende Zeit. Und ich versuche das
so rüberzubringen, wie es gewesen
51
ist, wie ich mich dort in dem Leben
zurechtgefunden habe. Ich habe
genug Themen, bei denen ich so hart
am Graben schreibe und mich an
Grenzen abarbeite – und die sind für
mich wichtig, das macht das Leben
aus. Alles wird ja irgendwo immer
verdrängt und diesen Dingen widme
ich mich – nicht, weil ich sage, ich
will das tun, sondern ich muss es
einfach.
ERIK MÜNNICH: Aufgrund
deiner Erfahrungen in der DDR, in
Westdeutschland ab 1983 und nach
der Wende hast du dich also dafür
entschieden, politische Themen als
Schriftsteller zu meiden?
Ja, das war aber schon immer so für
mich eigentlich. Aber solche Themen
wurden mir immer aufgezwungen,
weil ich da mitten drin lebe, eigentlich ist ja jeder abhängig von der
Politik. Aber es gibt Systeme, da
ist es aushaltbar. Und wenn ich die
DDR als Vergleich sehe oder noch
davor das Dritte Reich – dagegen ist
das für mich jetzt sehr erträglich. Ich
will auch nicht sagen, dass das eine
gerechte Gesellschaft ist, das nicht
– aber das ist nicht zu vergleichen
mit dem anderen Scheiß, den ich
durch habe. Und irgendwann wird
man auch nicht jünger. Irgendwann
ist das dann auch schon fast egal,
dass man sich da irgendwo aus der
Vergangenheit versucht, abzusetzen und zu lösen, aber das schaffst
du ja so auch nicht wirklich. Und
jetzt ist es für mich einfach nur noch
wichtig, ein paar Jahre irgendwie
durchzuhalten und die Dinge aufzuzeigen, die hier laufen. Clemens
Schittko und Kai Pohl im Gespräch
Wasser-Prawda | Juni 2015
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F E U I L LTO N
I N EINE R ZEIT D E R S TÄ ND I GE N
U M ETI KE TTIE RU NG V ON D I NGE N.
S O PH IA SC HRÖD E R I M GE S P R Ä CH M I T
KAI POHL UND CLE M E NS S CHI T T KO
Im September 2014 erschien die
Anthologie „my degenera on. the very
best of WHO IS WHO“ von Benedikt
Maria Kramer, Robert Mießner, Kai Pohl,
Clemens Schi ko u. a. Die ersten Texte des
Bandes verfasste Kai Pohl bereits 2004 in
der Auseinandersetzung mit literarischen
Cut-up- und Montagetechniken, die
teilweise auf Suchmaschinenergebnissen
beruhten. Einige Jahre später erhielt
Clemens Schi ko für sein Langgedicht „Who
is who/is who or what“ einen Lyrikpreis.
Andere befreundete Autoren schickten
ihre Varia onen zum Thema. Sogar der
Bund katholischer Dichter beteiligte sich
– freilich ohne sein Wissen – an diesem
Konvolut. Anlässlich der Lesung von Kai
Pohl und Clemens Schi ko aus diesem
Band im Literaturzentrum Vorpommern
gaben beide radio 98eins ein Interview,
das wir hier mit deren freundlicher
Genehmigung veröffentlichen:
wo die vier Köpfe der Bandmitglieder abgebildet sind,
in gewisser Weise übernommen. Von daher war das
schon ein bisschen beabsichtigt. Es ist eigentlich nicht
viel tiefgründiger als eben diese Verballhornung dieses
Plattentitels.
SOPHIA SCHRÖDER: Muss ja nicht immer alles so
tiefgründig sein, oder?
Kai Pohl: Genau, finde ich auch. Schon Wolf Dieter
Brinkmann hat gesagt: „Was hindert uns daran, an die
Oberfläche der Dinge zurückzukehren?“
SOPHIA SCHRÖDER: Wenn Euch jetzt jemand
danach fragt, worum es in eurem Werk geht und was
der Antrieb war, das zu versammeln, das zu schreiben
– was würdet ihr dann in ein paar knackigen Sätzen
antworten?
Clemens Schittko: Der Ausgang zu dieser Anthologie
war auf jeden Fall ein Satz wie: „Raider heißt jetzt Twix.“
Das war halt eine ganz bekannte Werbung oder ein
Slogan in den Neunzigerjahren – die Älteren kennen
das vielleicht noch – und aus diesem Konstrukt A
heißt jetzt B kann man sehr viel machen. Und da sich
ja Sprache wirklich immer schneller heute verändert
und Bezeichnungen auch, obwohl die Dinge an sich,
die benannt werden, irgendwie doch gleich bleiben, war
das für uns interessant, etwas zurückzugewinnen und
SOPHIA SCHRÖDER: Als ich den Titel eures Bandes vielleicht zu zeigen, Moment, das kann einfach nicht so
das erste Mal gehört habe und nicht wusste, worum umbenannt werden. Oder wenn, dann können wir es
es geht, habe ich unweigerlich an The Who gedacht vielleicht noch mehr übertreiben.
– ich dachte das wäre eine Band-Biografie. Ist diese Kai Pohl: Wir leben in einer Zeit der ständigen
Umetikettierung von Dingen und im Grunde bleiben
Assoziation beabsichtigt?
Kai Pohl: Naja, es ist so, dass der Titel sich schon an die Dinge ja doch gleich – wie Clemens eben auch schon
dem Compilation-Album „My Generation“ von The sagte. Also nur der Name ändert sich meistens, ständig
Who orientiert. Wir haben dann auch dieses Cover, und viel zu oft. Dahinter steckt im Grunde zumindest
Wasser-Prawda | Juni 2015
F E U I L LTO N
die Andeutung, dass die Sprache nicht fix ist – wenn sich
Begrifflichkeiten ändern, ändert sich ja meistens auch
irgendwie der Sinn, der damit übertragen werden soll,
obwohl das eben meistens gar nicht der Fall ist. Es ist
also auch eine spielerische Annäherung an die Sprache,
die einen im Alltag umgibt – was jetzt nicht unbedingt
heißt, dass es eine Alltagssprache ist, sondern es sind
eben alle möglichen Jargons, die vorkommen, und es
gibt auch Überschneidungen zwischen den einzelnen
Jargons oder eine irgendwie völlige Abgeschottetheit
von bestimmten Sprechweisen oder Dialekten. Es wird
sozusagen alles genommen als Material für diese merkwürdigen Umetikettierungen.
Clemens Schittko: Vielleicht könnten wir jetzt mal
Beispiele bringen: Früher hat man von Putzfrauen
gesprochen, heute sagt man Raumpflegerin. Schaffner
heißen jetzt Zugbegleiter und sowas. Aber letztlich ist ja
der Beruf an sich gleich geblieben. Es wird dann irgendwie aufgewertet sprachlich, um den Leuten zu signalisieren: Aha, ihr macht ja was ganz Tolles, aber die, die in
den Berufen arbeiten, die empfinden sich vielleicht gar
nicht als Zugbegleiter oder Raumpfleger. Und das aufzudröseln, das war irgendwie unser Anliegen.
Kai Pohl: Ja, mich hat das sogar auf einer noch viel
banaleren Ebene interessiert. Zum Beispiel diese
Geschichten wie Direktsaft oder Echtgold. Ich meine,
wenn es Echtgold ist, was soll dann Gold sein? Durch
diese zugespitzten Begrifflichkeiten wird ja im Grunde
genommen die ursprüngliche Bedeutung des Wortes
umdeterminiert. Das heißt, Direktsaft ist heutzutage
das, was früher Saft war, und das, was heute Saft ist, ist
eigentlich kein Saft.
Clemens Schittko: Uns ist auch aufgefallen – oder
mir jetzt gerade –, dass Begriffe wie Verantwortung
dann eben einfach nachgelassen haben in ihrer Kraft,
zu wirken. Also heute spricht man dann halt von
Eigenverantwortung. Einfach zu sagen, jemand trägt
Verantwortung, ist schon zu wenig. Dann sagt man eben
Eigenverantwortung. Da wird immer noch eins draufgesattelt und Sprache dadurch aufgerüstet, weil eben
damit schon gar nicht mehr die Wirklichkeit erreicht
wird. Das fanden wir durchaus interessant.
SOPHIA SCHRÖDER: Dieses Phänomen, dass
Sprache, die ja sowieso sehr dynamisch ist und immer
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im Fluss und im Wandel, eine Gesellschaft reflektiert
oder auch industrielle Phänomene … Habt ihr auch
eine politische Meinung, die da irgendwie durchschimmern soll oder die euch am Herzen liegt?
K ai Pohl: Das entscheidende Moment bei
dieser Geschichte ist, glaube ich, dass eben viele
Transformationen sich in Sprache reflektieren, also
es sind ja gesellschaftliche Transformationen, die sich
reflektieren. Plötzlich gibt es eine Computersprache, die
es vor dreißig Jahren so gar nicht gab. Die gab es vielleicht damals unter Fachleuten. Das eigentliche Moment,
was mich interessiert an diesen Geschichten – ob man
es jetzt politisch nennen sollte, weiß ich gar nicht so
genau –, ist, statt dieser ganzen merkwürdigen Scheinund Pseudosprachen eine echte, eine ernst gemeinte
Transformation zumindest verbal erstmal anzupeilen –
also Transformation von Zuständen oder unhaltbaren
Zuständen, die sich eben in Sprache reflektieren.
SOPHIA SCHRÖDER: Aber vieles ist ja auch ein
Wasser-Prawda | Juni 2015
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F E U I L LTO N
Resultat von Werbesprache, von der wir ja auch zugedröhnt werden Tag für Tag. Es geht ja viel um Kaufen
und Verkaufen, um Bewerben und Anpreisen usw. Und
das spiegelt sich natürlich auch in der Sprache wider.
Kai Pohl: Genau, im Grunde genommen ist
dieses Schreiben in gewisser Weise ein Akt der
Selbstbehauptung. Und in dem Falle eben mit der
Aneignung dieser ganzen merkwürdigen, dröhnenden
Werbe- und Propagandasprache. Wir lassen uns davon
nicht überwältigen, sondern nehmen es als Material und
bauen daraus was Eigenes.
SOPHIA SCHRÖDER: Das Wort „bauen“ finde
ich hier ganz passend, denn ihr habt Cut-up- und
Montagetechniken verwendet. Könnt ihr dazu vielleicht etwas sagen?
Clemens Schittko: Ich sehe als vorherrschendes
Prinzip eine Art Aufzählstil. Das sind serielle Texte,
Aufzählungen, wie sie als Reihungsstil auch schon im
Expressionismus bekannt geworden sind. Eben wie beim
ganz bekannten Gedicht „Weltende“ von Jakob von
Hoddis. Da werden ja eben ganz normale Hauptsätze
behauptet. Aber Cut-up kommt als Weiterentwicklung
natürlich auch darin vor. Man kann gerade über Google
sich seine Sätze zurechtbasteln oder eben dann den
Werbesprech wieder leicht verändern – etwas runter
nehmen, etwas mehr drauf packen und das hintertreiben.
Kai Pohl: Ich muss schon sagen, dass zumindest die
Ursprünge der Texte, die jetzt in diesem Buch erschienen sind, schon so eine Art Cut-up waren. Obwohl heute
der Begriff ja auch für viele Leute immer noch recht
schwammig daherkommt. Man kann sich viel darunter vorstellen. Ich subsummiere darunter verschiedenste
Formen der Montagetechnik. In der Musik findet man
das schon viel länger. Da gibt es das Sampling und das
Remixen. Und diese Sachen kann man natürlich auch in
oder mit der Sprache machen, weil man eben die digitalen Medien hat, die das ja in gewisser Weise unterstützen. Wenn sie nicht gerade abstürzen …
SOPHIA SCHRÖDER: Ihr habt den Band zusammen mit vier weiteren Autoren geschrieben, sozusagen in Kollektivarbeit. Wie kam es dazu und was war
der Anreiz?
Kai Pohl: Die ersten Texte sind mehr oder weniger –
wie Texte eben entstehen – sporadisch entstanden, für
sich genommen. Es war nicht die Absicht dahinter, dass
daraus mal irgendwann ein Zyklus wird. Dass es dann
doch dazu kam, lag daran, dass Clemens halt irgendwann diese ersten Who-is-Who-Texte zu Gesicht bekam,
in welcher Form auch immer, und daraus dann selber
einen sehr langen Text als Replik geschrieben hat – „who
is who/is who or what“, für den er den lauter niemand
preis für politische lyrik bekommen hat. Das war auf
jeden Fall erstmal so ein Schlagabtausch auf textlicher
Ebene zwischen Clemens und mir. Und später haben wir
dann andere Autoren gefragt, ob sie nicht auch etwas
dazu beisteuern wollen und so kam es dann letztendlich zu diesem Konvolut von Texten.
SOPHIA SCHRÖDER: Wenn man das jetzt
mal ein bisschen platter formulieren würde, diese
Montagetechniken, die teilweise, wie ihr auch selber
sagt, auf Suchmaschinenergebnissen beruhen –
das hat ja auch viel von Recycling irgendwie, also
Reproduktion von bereits Vorhandenem. Inwiefern
SOPHIA SCHRÖDER: In diesem Zusammenhang
würde mich mal interessieren, wie ist das mit dem Text
„Advent statt Event“ vom Bund katholischer Dichter
– wie ist der da reingeraten?
Kai Pohl: Den habe ich bei einer Webrecherche, also
nicht ganz zufällig, nach sozusagen artverwandten
Wasser-Prawda | Juni 2015
ist es möglich, da noch seine persönliche Note reinzubringen in den Text?
Clemens Schittko: Eigentlich relativ einfach. Man kann
eben große Firmen wie BMW, VW, Coca Cola usw. mit
gewissen Personen koppeln, die wir privat nur kennen.
Wir sagen dann: Ne, BMW ist gar nicht so bekannt,
wir sagen jetzt XY, der unser Freund ist, der steht auf
der gleichen Ebene … Das einfach so zu koppeln und
dann entsteht da was Neues – und diese Hierarchie, die
es vielleicht gibt, dass jetzt Coca Cola bekannt ist, die
wird halt von uns nicht anerkannt.
Kai Pohl: Die persönliche Note entsteht ja schon
dadurch, dass man letztendlich – woher auch immer
man sein Material, das sprachliche Material, bezieht –
immer irgendwie interessensgeleitet ist. Man hat eigene
Erfahrungen, Erlebnisse, die dazu führen, dass eben
bestimmte Dinge einen mehr ansprechen als andere.
Und dadurch entsteht die persönliche Färbung.
F E U I L LTO N
Texten gefunden – da ist der mir aufgefallen und dann
dachte ich, wenn man schon sowas macht, dann sollte
der irgendwie Bestandteil dieser Sammlung sein, weil
der auf jeden Fall sehr interessant ist. Er ist nur leider
sozusagen unter „No Name“ – man weiß nicht genau,
wer der Autor ist.
Clemens Schittko: Und das ist auch so ein Prinzip
des Bandes – wir machen sehr viel NamedroppingGeschichten, wir erwähnen Namen oder legen denen
Zitate in den Mund, die sie nie gesagt haben. Und es gibt
auch einige Vorwörter oder Motti von Leuten, die auch
gar nicht wissen, dass sie da mit einem Motto erwähnt
werden.
SOPHIA SCHRÖDER: Ist die ganze Geschichte
für Euch mehr ein Spiel, ist der Ernst so ein bisschen
hinten angestellt?
Kai Pohl: Das Spiel muss Spaß machen. Man kann ja
nicht wirklich in einem ernsten Modus ernst sein. Also,
man sollte es schon ernst meinen, aber man kann trotzdem spielerisch rangehen.
SOPHIA SCHRÖDER: Man sollte nicht in einem
ernsten Modus ernst sein …
Kai Pohl: Genau, sondern im spielerischen Modus den
Ernst anpeilen vielleicht. Das Lesen der Texte soll ja
auch Spaß machen, obwohl das jetzt nicht heißt, dass
es jetzt irgendwie öde Unterhaltungsliteratur sein soll.
Darum geht es natürlich auch nicht, aber es ist auch
nicht der bittere Ernst.
SOPHIA SCHRÖDER: Habt ihr euch den Band mal
vollständig von vorne nach hinten durchgelesen?
Clemens Schittko: Ich nicht. Ich habe ja schon
Schwierigkeiten gehabt, meinen eigenen 40-Seiten-Text
komplett in einem Stück zu lesen, weil man nach zehn,
fünfzehn Seiten verrückt wird. Man muss zumindest
absetzen, weil man so zugeballert ist von den ganzen
Aufzählungen, dass man erstmal Ruhe braucht.
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mich zumindest, ich kann jetzt ja nicht für Clemens
sprechen – bei mir eher eine Art Montieren. In dem
Falle würde ich aber wirklich nicht „schreiben“ sagen,
sondern eher montieren. Der Künstler-Ingenieur eben,
wie das in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts in
den Avantgarden gebräuchlich war. Das Vortragen der
Texte selber, also quasi der Ergebnisse, ist schon etwas
ganz anderes und man kann mit dem Publikum schon
wirklich Spaß daran haben.
Und ich habe das Buch auch noch nicht komplett von
vorne bis hinten durchgelesen. Das ist aber letztendlich auch das Elend desjenigen, der die Texte alle schon
kennt. Warum soll man Texte, die man schon kennt,
dann nochmal von vorne bis hinten durchlesen?
SOPHIA SCHRÖDER: Ich habe jetzt die Worte
„Ingenieur“, „Montage“, „bauen“ usw. gehört. Ist das
Ganze vielleicht mehr Handwerk als Dichtung?
Clemens Schittko: Zumindest ging es mir beim
Schreiben auch darum, das Handwerk offenzulegen.
Dass man zeigt, dass eigentlich ein Text immer gebaut
ist aus Sprache. Mir geht es bei sogenannten realistischen
Texten, die einfach nur erzählen wollen, irgendeine
Handlung erzählen wollen, oft so, dass ihre Gemachtheit
verschleiern. Und das will ich dann auch schon offenlegen. Ich denke, Kai geht es auch so.
Kai Pohl: Ja, letztendlich geht das ja zurück auf die
Komplexität des menschlichen Wahrnehmungsapparates.
Man denkt immer, das Gehirn braucht man, um sich
die Welt bewusst zu machen. Im Grunde genommen
ist das Gehirn ja nur ein großer Filter des Vergessens.
Also, wenn man alle Eindrücke, die man im Moment
aufnimmt, wirklich präsent hätte, würde man sofort verrückt werden. Und eigentlich sind diese Who-is-WhoTexte ein bisschen die Erinnerung daran, was eben noch
alles da ist, was man eben sonst nicht wüsste oder sonst
nicht wahrnehmen würde, weil man es eben gerade
durch den Filter ausblendet. Und ich hoffe, dass man
da dann nicht verrückt wird, wenn man es liest.
SOPHIA SCHRÖDER: Genau darauf wollte ich
nämlich hinaus. Ist es für euch anstrengender, die
Texte zu schreiben oder sie selber zu lesen beziehungsweise laut vorzulesen?
Kai Pohl: Ich glaube, das Schreiben ist ja eigentlich kein
Schreiben in dem Sinne, sondern es ist eher – also für
Wasser-Prawda | Juni 2015
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SPRACHRAUM
JEDER MUSS SE HE N
VON CONSTANZE JOHN
Constanze John, Jahrgang 1959, schreibe „spielerisch
und gleichzei g knapp und lakonisch, fast nachtwandlerisch möchte man sagen, mit Humor und Ironie, ohne
jede nervenaufreibende Besessenheit vom realis schen
Detail, eine schnellbewegliche, dynamische Prosa“,
sagte der Leipziger Lyriker und Übersetzer Roland Erb
über ihre Texte. Und weiter: „Sie deutet nur an, wenn es
um Ursachen und Hintergründe geht, sie betreibt keine
ausdrückliche Gesellscha sanalyse, sie beschwört skurrile, ja groteske Situa onen in höchst eindrucksvollen
Erzähltexten voller überraschender Wendungen, die mitunter surreal anmuten […].“
Im Herbst erscheint ihr Buch „Blaue Zimmer“ im freiraum-verlag.. Der Band versammelt Prosa und Lyrik, die
in den Jahren zwischen 1983 und 2014 entstanden sind.
Einige dieser Texte wurden bereits einer Öffentlichkeit
vorgestellt. Dazu gehört auch „Jeder muss sehen“, den
wir hier vorab veröffentlichen.
Wasser-Prawda | Juni 2015
„Jeder muss sehen, wo er bleibt“, spricht es neuerdings
in der Stadt. Wie aus einem Munde.
Anna und Marie bleiben. Und während sie immer nur
bleiben, wechseln die Winde, wie die großen Zwänge
sich drehen.
Anna und Marie bleiben weiter – in der Stadt der vereinzelten Häuser. Und das Meer rauscht auf althergebrachte Weise. Und der Wind schlägt sich durch Lücken
und um Ecken.
Seltsam, so die Stadt wie aus einem Munde spricht,
klingt es nach Wahrheit. Und Anna prüft den Satz, sagt
auch, was jeder sagt, und fühlt sich gleich älter als ihr
Name.
Aber da ist auch Marie. Und die macht sie wieder jung.
Weil es mit jedem großen Muss so eine Sache sei. Und
Anna erinnert sich, dunkel, wieder, da sie beide doch
schon an die siebzig Jahre an diesem Leben sind.
SPRACHRAUM
57
Anna und Marie gehen längst schräg gegen den Wind.
Ihre Hände stecken tief in ihren Taschen. Jeder muss
sehen.
„Sieh nur“, sagt Anna. „Sieh nur, diese jungen Männer!“
Und Marie schaut vom Weg zu den jungen Männern
mit den kahlen Köpfen auf. Sie kommen ihnen entgegen. Sie tragen festgeschnürte Stiefel. Einer fängt an.
Am Ende brüllen alle.
Vielleicht, dass sie einfach nur brüllen. Vielleicht, dass
sie keine Worte mehr haben. Anna und Marie verstehen sie nicht.
Die jungen Männer kommen ihnen trotzdem näher. Die
Frauen sind alt genug, ihnen nicht mehr ausweichen
zu können. In Erwartung schweigen alle. Nur der eine
brüllt noch, dessen Stiefel gegen den Müllkübel tritt.
Anna und Marie sehen noch sehr gut. Nichts verschwemmt ihnen mehr den Blick. Anna und Marie
sehen schon das Meer. Die Wellen schlagen hoch. Doch
die breite Mauer der Mole liegt höher.
Die beiden Frauen nehmen diesen letzten Weg über die
Mauer, da die Mole selbst schon unterm Wasser liegt.
Sie balancieren wie Kinder, während das Wetter zunehmend heftig geschieht.
Jeder ihrer Schritte nach vorn verliert an Verstand. Sie
gehen immer weiter. Schräg und bestimmt gehen sie auf
die Spitze der Landzunge zu.
„Das Meer ist schon zu riechen. Die Luft schmeckt nach
Salz.“
Anna und Marie holen das Brot aus den Taschen. Sie
füttern das Meer, die Fische oder die Schwäne, die bei
anderem Wetter wieder zu dieser Stelle sein müssten.
Anna und Marie müssen immer sehen, wo sie bleiben. Anna und Marie füttern blind die Wellen. Und das geht
Sie gehen und die Männer mit den kahlen Köpfen lassen gut so.
sie auch bleiben.
Aber das geht nur so lange gut, bis der Wind unerwartet
Ein Martinshorn tönt.
umschlägt. Anna verliert ihr Gleichgewicht und tritt ins
Der Himmel wird grau wie das Meer.
Wasser. Das Meer ist schon … Als ob das Wasser Balken
Spaziergänger schlagen sich weiter durch diesen einen hätte. Und sie ruft nach Hilfe, als ob ihr da noch einer
Sonntag und schweigen nicht selten.
helfen könnte.
Für Anna und Marie ist Sonntag wie Montag. Sie gehen
täglich, das Meer zu füttern. So regelmäßig, wie andere Jeder muss sehen, wo er bleibt. Aber Marie bleibt bei
ihren Hund füttern oder ihr Kind.
der Anna, was da auch kommen mag. Und die Männer
„Das Meer ist schon zu hören.“
mit den kahlen Köpfen treten die Tür zum Stadtcafé ein.
Jeder muss sehen, wo er bleibt. Anna bleibt bei Marie. Und die Frau mit den noch gottvoll glänzenden Augen
Da sind sie sich eins. Und beide bleiben in der zu ver- hebt den Kopf, um an der Tür zu läuten, die sich nicht
gessenden Stadt. Wer da auch kommen mag.
noch einmal für sie öffnen wird. Und es ist vier Uhr und
fünfzehn Minuten, und der Fremde weiß nicht mehr,
Da kommt aus der Kirche eine einzelne Frau mit gott- wie er das Geld weiter ausgeben kann, das er am Montag
voll glänzenden Augen. Und während sie sich das Tuch aufs Neue verdienen wird.
bindet, senkt sie den Kopf, um dann langsam in einen Und immer mal wieder tauchen Anna und Marie aus
ihrer nächsten Träume zu gehen.
dem Wasser auf. Sie rufen nach der Hilfe, die nicht
Da kommt ein Fremder aus dem Stadtcafé. Einer der kommt und ziehen sich dann in die Tiefe.
Fremden ist es mit den genauen Armbanduhren und
den geputzten Schuhen. Es ist vier Uhr.
Dort in der Tiefe ist es vorerst feucht und kalt, aber
helle, ausgewaschene Steine sind zu sehen, und die ersten
„Das Meer ist schon zu sehen.“
kleinen Fische …
Wasser sprüht durch den Wind und den Frauen ins (1995)
Gesicht. Dort liegen die tiefsten Falten, und das Wasser
fließt ab wie ungewollte Tränen. Jeder muss sehen.
Wasser-Prawda | Juni 2015
58
SPRACHRAUM
D IE PURPURFA RB E NE P E R Ü CK E
VON GILBERT KEITH CHESTERTON
Herr Edward Nutt, der rührige Chefredakteur der Zeitung
»The Daily Reformer«, saß an seinem Schreibtisch, las Briefe
und korrigierte Bürstenabzüge, begleitet von den heiteren
Klängen einer Schreibmaschine, die von einer kraftvollen
jungen Dame bearbeitet wurde.
Er war ein etwas beleibter, blonder Mann in Hemdsärmeln;
seine Bewegungen waren energisch, sein Mund entschlossen und sein Ton gebieterisch; doch seine runden, beinahe
kindlich blauen Augen sahen verwirrt, ja oft sogar ängstlich in die Welt, was mit seinem sonstigen Gesichtsausdruck
in heftigem Widerspruch stand. Dieser Eindruck war auch
nicht ganz irreführend. Denn man konnte von ihm, wie von
beinahe allen Journalisten, mit vollem Recht sagen, daß seine
gewöhnliche Gemütsverfassung die einer ununterbrochenen
Angst war: Angst vor Verleumdungsklagen, Angst vor entgangenen Sensationen, Angst vor Druckfehlern, Angst vor
Entlassung.
Sein Leben war eine Reihe von aufreibenden Kompromissen
zwischen dem Eigentümer der Zeitung, einem senilen
Seifensieder mit drei unausrottbaren fixen Ideen im Kopf,
und dem sehr tüchtigen Stab von Mitarbeitern, den er sich zur
Führung der Zeitung gesammelt hatte; einige davon waren
wirklich erfahrene und ausgezeichnete Leute, die sogar, was
noch schlimmer war, einen aufrichtigen Enthusiasmus für
die politische Überzeugung des Blattes hatten.
Ein Brief von einem dieser Männer lag in diesem
Augenblick vor ihm und – so entschlossen und schnell er
sonst in seinen Handlungen war – jetzt schien er beinahe
zu zögern, bevor er den Brief öffnete. Er nahm statt dessen
einen kurzen Bürstenabzug zur Hand, überflog ihn mit
blauen Augen und einem blauen Bleistift, änderte das Wort
»Unzucht« in »Ungehörigkeit« um und das Wort »Jude« in
»Ausländer«, läutete dann und schickte die Korrektur in die
Druckerei hinauf.
Hierauf riß er mit etwas nachdenklicheren Blicken den
Brief eines seiner hervorragenderen Mitarbeiter auf; der
Poststempel war von Devonshire, und der Brief lautete
folgendermaßen:
»Lieber Nutt, da ich sehe, daß Sie Spuk- und
Geistergeschichten bringen, wie wärs mit einem Artikel
Wasser-Prawda | Juni 2015
über jene Aff äre der Eyres von Exmoor oder, wie die
alten Weiber hier sagen: ›Das Teufelsohr der Eyres‹? Das
Haupt der Familie ist, wie Sie wissen, der Herzog von
Exmoor; er ist einer der wenigen wirklich alten, steifen
Tory-Aristokraten, die wir noch haben, ein verkrusteter,
alter wirklicher Tyrann, und es läge so richtig auf unserer
Linie, mit ihm Streit anzufangen. Ich glaube, ich bin auf
der Spur einer Geschichte, die Staub aufwirbeln wird.
Natürlich glaube ich nicht an die alte Legende von
James I., und was Sie anbelangt, so glauben Sie ja überhaupt an nichts, nicht einmal an den Journalismus. Die
Legende handelt, wie Sie sich wohl erinnern werden, von
jenem dunkelsten Stückchen der englischen Geschichte,
der Vergiftung Overburys durch diese behexte Schlange
Frances Howard und dem ganz unerklärlichen, geheimnisvollen Schrecken, der den König zwang, den Mördern
zu verzeihen. Es wurden da noch eine Menge durch
Zeugenaussagen beglaubigte Hexereien mit der Geschichte
in Zusammenhang gebracht, und man erzählte sich, daß
ein Diener, der während einer Unterredung zwischen
dem König und Carr am Schlüsselloch gehorcht hatte,
die Wahrheit erfuhr; doch das Geheimnis, das der Mann
erlauschte, war so entsetzlich, daß sein Ohr zu riesenhafter und monströser Gestalt anwuchs. Und wenn man
ihn auch mit Ländereien und mit Gold überschütten
mußte und ihn zum Ahnen eines Herzogsgeschlechtes
machte, so ist das durch Zauberkraft geformte Ohr doch
in der Familie geblieben. Nun, Sie glauben nicht an
Zauberei, und wenn Sie es täten, so könnten Sie es nicht
als Manuskript verwenden. Wenn in Ihrem Büro ein
Wunder geschähe, so müßten Sie es vertuschen, jetzt, da
so viele Bischöfe Agnostiker sind. Aber das gehört nicht
zur Sache. Tatsache ist, daß mit dem Exmoor und seiner
Familie wirklich etwas Merkwürdiges los ist; irgend
etwas ganz Natürliches wahrscheinlich, aber etwas ganz
Abnormes. Und das Ohr spielt irgendeine Rolle dabei,
glaube ich; entweder als Symbol oder als Täuschung oder
als Mißgestalt oder Verkrüppelung oder sonst etwas. Es
gibt auch noch eine andere Legende, die besagt, daß die
Kavaliere kurz nach James I. anfingen, das Haar lang
zu tragen, nur um das Ohr des ersten Lords von Exmoor
zu bedecken. Das ist sicherlich auch nur Einbildung.
Der Grund, warum ich Ihnen das erzähle, ist der: ich
SPRACHRAUM
halte es für einen Fehler, wenn wir die Aristokratie
immer nur um ihres Champagners und ihrer Diamanten
willen angreifen. Die meisten Leute bewundern die vornehme Gesellschaft darum, weil es ihr so gut geht; und
ich glaube, wir ergeben uns zu früh, wenn wir zugeben,
daß die Aristokratie auch nur die Aristokraten glücklich
gemacht hat. Ich schlage eine Reihe von Artikeln vor,
in denen dargelegt wird, wie trübselig, wie unmenschlich, ja wie geradezu diabolisch auch nur der Hauch der
Atmosphäre einiger dieser großen Häuser ist. Es gibt eine
Menge von Beispielen, aber man könnte kaum mit einem
besseren beginnen als mit dem Ohr der Eyres. Ende der
Woche hoff e ich Ihnen die Wahrheit über diese Sache
mitteilen zu können.
Mit besten Grüßen Ihr ergebener Francis Finn.«
Herr Nutt starrte auf seinen linken Stiefel und überlegte
einen Augenblick lang; dann rief er mit starker, lauter und
vollkommen lebloser Stimme, in der eine Silbe wie die andere
klang: »Fräulein Barlow, bitte, nehmen Sie einen Brief für
Herrn Finn auf.
›Lieber Finn, ich glaube, es wird gehen. Das Manuskript
müßte Samstag mit der zweiten Post hier sein.
Ihr E. Nutt.‹«
Diese vollendete Epistel sprach er so aus, als bestünde sie
aus einem einzigen Wort, und Fräulein Barlow ratterte sie
nieder, als bestünde sie aus einem einzigen Wort. Dann nahm
er einen anderen kleinen Bürstenabzug und einen blauen
Bleistift zur Hand und machte aus dem Wort »übernatürlich« ein »wunderbar« und änderte den Ausdruck »niederreißen« in »Einhalt tun«.
Mit derlei nützlichen und heiteren Arbeiten verbrachte Herr
Nutt seine Zeit, bis ihn der darauffolgende Samstag an demselben Schreibtisch, wo er demselben Schreibmaschinenfräulein
diktierte und denselben blauen Bleistift benützte, vor der
ersten Teillieferung der Enthüllungen des Herrn Finn sitzen
fand. Der Anfang war ein gesundes Stück zermalmender
Schmähungen über die üblen Geheimnisse der Fürsten und
die in den höchsten Kreisen der Gesellschaft herrschende
Verrottung. Der Artikel war, obwohl wuchtig und temperamentvoll, in tadellosem Englisch geschrieben. Doch der
Chefredakteur hatte, wie gewöhnlich, jemand anderem die
Aufgabe zugewiesen, diese Einleitung in einzelne überschriftartige Sätze zu zerstückeln, die etwas würziger klangen, wie
»Verbrechen und Verdienst«, »Adel und Angst«, »Ohr und
Orden« oder »Die Eyres und ihr Eigentum« und so weiter in
59
hundert glücklichen Wendungen. Dann folgte die Legende
des Ohrs, ausgemalt nach dem Inhalt von Finns erstem Brief,
und dann der Bericht seiner späteren Entdeckungen, wie
folgt:
»Ich weiß, das Wesen des Journalismus besteht darin, das
Ende einer Geschichte an den Anfang zu stellen und das eine
Überschrift zu nennen. Ich weiß, Journalismus besteht zum
größten Teil darin, zu sagen: ›Tod des Lord Jones‹, und zwar
zu Leuten, die niemals wußten, daß Lord Jones gelebt hat.
Ihr augenblicklicher Mitarbeiter ist jedoch der Meinung, daß
dies, wie viele andere journalistische Gewohnheiten, schlechter Journalismus ist und daß der ›Daily Reformer‹ ein besseres Beispiel in derlei Dingen geben sollte. Ich unternehme es
daher, die Geschichte so zu erzählen, wie sie sich Schritt für
Schritt zugetragen hat. Ich werde die wirklichen Namen der
Personen nennen, die gewiß bereit wären, meine Aussage zu
bezeugen. Was nun die Überschriften und die sensationellen Ankündigungen anbelangt – so werden diese erst zum
Schluß kommen.
Ich schritt einen öffentlichen Weg entlang, der durch einen
privaten Obstgarten in Devonshire führte und ganz den
Anschein erweckte, zu einem guten Devonshire-Apfelwein
hinzuführen, als ich plötzlich schon vor einem ebensolchen
Ort stand. Es war ein langes, niedriges Wirtshaus oder
eigentlich ein Häuschen und zwei Schuppen; das Stroh ihrer
Dächer sah aus wie bräunlichgraues Haar aus irgendwelcher
vorsintflutlichen Zeit. Vor der Türe war ein Schild, wonach
das Wirtshaus ›Zum blauen Drachen‹ hieß, und unter dem
Schild stand einer jener langen Bauerntische, die früher vor
den meisten guten, freien englischen Wirtshäusern zu stehen
pflegten, bevor Abstinenzler und Bierbrauer miteinander die
Freiheit zerstörten. Und an diesem Tisch saßen drei Herren,
die vor hundert Jahren hätten leben können.
Jetzt, da ich sie näher kenne, ist es nicht schwer, die
Eindrücke zu entwirren; aber gerade damals sahen sie wie
drei leibhaftige Gespenster aus. Die dominierende Gestalt –
dominierend, weil der Mann nach allen drei Dimensionen
hin der größte war, und auch, weil er in der Mitte des langen
Tisches gerade mir gegenübersaß – war ein großer, dicker
Mann, ganz schwarz gekleidet, mit einem runden, apoplektischen Gesicht und kahler, bekümmerter Stirne. Als
ich ihn genauer ansah, konnte ich nicht mit Bestimmtheit
sagen, was eigentlich diesen Eindruck des Altertümlichen an
ihm erwecke, ausgenommen der altmodische Schnitt seiner
weißen, priesterlichen Krawatte und die querlaufenden Falten
über seiner hohen Stirne.
Noch schwerer zu definieren war der Eindruck in bezug
auf den Mann am rechten Tischende, der, offen gestanden,
Wasser-Prawda | Juni 2015
60
SPRACHRAUM
ein ganz alltäglich aussehender Mensch war, wie man ihn
stündlich allüberall sehen kann, mit einem runden, braunhaarigen Kopf und einer runden Stumpfnase, doch war auch
er in kirchliches Schwarz gekleidet. Erst als ich seinen breiten,
geschwungenen Hut auf dem Tisch neben ihm liegen sah,
wurde es mir klar, warum er in mir die Vorstellung von
etwas Altertümlichem erweckt hatte. Er war ein römischkatholischer Priester.
Vielleicht hatte der dritte Mann am anderen Ende des
Tisches eigentlich mehr damit zu tun als alle übrigen,
obwohl er in physischer Hinsicht schmächtiger und in seiner
Kleidung unauffälliger war. Seine hageren Glieder steckten
in enganliegenden grauen Ärmeln und Hosenbeinen, oder
besser gesagt, sie waren hineingezwängt; er hatte ein langes,
adlerartiges Gesicht, welches irgendwie darum noch melancholischer aussah, weil seine hohlwangigen Züge von einem
Kragen und Halstuch umschlossen waren, wie sie von vergangenen Geschlechtern getragen wurden, und sein Haar
hatte einen trüben, rötlichen Schimmer, der im Verein mit
seinem gelben Gesicht mehr purpurn als rot wirkte. Die
zwar nicht auffallende, aber doch ungewöhnliche Farbe war
um so bemerkenswerter, als sein Haarwuchs beinahe unnatürlich gesund war und er das Haar lang und lockig trug.
Doch wenn ich recht überlege, rührte mein erster Eindruck
des Altmodischen wohl hauptsächlich von den hohen, altmodischen Weingläsern her, die neben einigen Zitronen und
langen Pfeifen auf dem Tisch standen.
Da es anscheinend ein öffentliches Wirtshaus war, mußte
ich als abgehärteter Reporter nicht erst viel von meiner
Unverschämtheit zusammenraffen, um an dem langen Tisch
Platz zu nehmen und ein Glas Apfelwein zu bestellen. Der
große Mann in Schwarz schien sehr gelehrt, insbesondere
in bezug auf die lokalen Altertümer; der kleine Mann in
Schwarz überraschte mich, obwohl er weit weniger sprach,
durch sein noch größeres Wissen, so daß wir uns bald ganz
gut miteinander unterhielten. Doch der dritte Mann, der alte
Herr mit der engen Hose, schien ein wenig unnahbar und
hochmütig, bis ich auf das Thema des Herzogs von Exmoor
und seiner Ahnen zu sprechen kam.
Es kam mir so vor, als brächte dieses Thema die beiden
anderen ein wenig in Verlegenheit, doch jedenfalls brach
es in sehr erfolgreicher Weise bei eben diesem Dritten den
Bann des Schweigens. Er sprach zurückhaltend und mit dem
Gehaben eines ungemein wohlerzogenen Herrn, paff te von
Zeit zu Zeit an seiner langen Pfeife und erzählte mir einige
der entsetzlichsten Geschichten, die ich je in meinem Leben
gehört habe: wie einer der Eyres in früheren Zeiten einmal
seinen eigenen Vater erhängt und ein anderer seine Frau, an
einen Wagen gebunden, durchs Dorf hatte schleifen lassen;
Wasser-Prawda | Juni 2015
wie ein anderer wieder eine Kirche angezündet hatte, die
voller Kinder war, und so weiter.
Einige von diesen Geschichten sind wirklich nicht zur
Veröffentlichung geeignet. So zum Beispiel die Geschichte
von der scharlachroten Nonne oder die abscheuliche
Geschichte von dem gefleckten Hund, oder das Geschehnis
im Steinbruch. Und diese ganze rote Sündenliste kam
in beinahe geziertem Ton von seinen schmalen, vornehmen Lippen, während er dasaß und den Wein in kleinen
Schlückchen aus dem hohen, dünnen Glase schlürfte.
Ich sah wohl, daß der große Mann mir gegenüber sich
bemühte, ihn womöglich zu unterbrechen. Doch augenscheinlich hatte er zu großen Respekt vor dem alten Herrn
und wagte es nicht, plötzlich einzufallen. Auch der kleine
Priester am anderen Ende des Tisches, obwohl er von ähnlichen Gefühlen der Angst oder Verlegenheit frei zu sein
schien, blickte unverwandt auf den Tisch und hörte der
Erzählung scheinbar mit großem Unbehagen zu – was ja
begreiflich war.
›Sie scheinen‹, sagte ich zu dem Erzähler, ›dem Geschlecht
der Exmoor nicht sehr wohlgesinnt zu sein?‹
Er sah mich einen Augenblick lang an, den Mund anfangs
noch zu liebenswürdigem Lächeln verzogen, doch bald
wurden seine Lippen bleich und schmal. Dann plötzlich
zerschlug er seine Pfeife und sein Glas auf dem Tisch und
erhob sich – das wahre Bild des vollendeten Edelmannes im
aufflammenden Zorn eines Unholdes.
›Diese Herren‹, rief er, ›werden Ihnen sagen, ob ich Grund
habe, dies Geschlecht zu lieben. Der Fluch der alten Eyres
lag schwer über diesem Lande, und viele hatten darunter
zu leiden. Sie wissen, daß keiner von ihnen so sehr darunter zu leiden hatte wie ich!‹ Und damit zertrat er einen herabgefallenen Splitter des zerbrochenen Weinglases mit dem
Absatz, während er im grünen Zwielicht der flimmernden
Apfelbäume davonschritt.
›Das ist ein merkwürdiger alter Herr‹, sagte ich zu den
beiden anderen. ›Wissen Sie vielleicht, was die Familie der
Exmoor ihm angetan hat? Wer ist er?‹
Der große Mann in Schwarz starrte mich mit der bestürzten Miene eines erschreckten Stieres an; er schien es anfangs
gar nicht zu begreifen. Dann endlich sagte er: ›Wissen Sie
nicht, wer er ist?‹
Ich versicherte, keine Ahnung zu haben, worauf abermals ein Schweigen eintrat. Dann sagte der kleine Priester,
SPRACHRAUM
immer noch auf den Tisch starrend: ›Das ist der Herzog
von Exmoor.‹
Hierauf, bevor ich mich noch sammeln konnte, fügte er
ebenso ruhig, doch in einem Tonfall, als wolle er die Dinge
nun in Ordnung bringen, hinzu: ›Mein Freund hier ist Dr.
Mull, Bibliothekar des Herzogs. Mein Name ist Brown.‹
›Aber‹, stammelte ich, ›wenn das der Herzog ist, warum
verdammt er die alten Herzöge so sehr?‹
›Er scheint wirklich der Meinung zu sein‹, antwortete der
Priester namens Brown, ›daß sie ihm einen Fluch hinterlassen haben.‹ Dann fügte er anscheinend zusammenhanglos
hinzu: ›Darum trägt er auch eine Perücke.‹
Es dauerte einige Augenblicke, bevor der Sinn dieser Worte
in mir aufzudämmern begann. ›Sie meinen doch nicht jenes
Märchen von dem Ohr?‹ fragte ich. ›Ich habe natürlich davon
gehört, aber es kann doch nur eine abergläubische Geschichte
sein, die aus einer viel einfacheren Tatsache entstanden ist.
Ich habe manches Mal daran gedacht, ob es nicht irgendeine
phantastische Version einer jener Verstümmlungsgeschichten
ist. Man pflegte doch im sechzehnten Jahrhundert den
Verbrechern oft ein Ohr abzuhauen.‹
›Ich glaube nicht, daß es das war‹, antwortete der kleine
Mann nachdenklich, ›doch widerspricht es weder dem
Naturgesetz noch der gewöhnlichen wissenschaftlichen
Erfahrung, daß irgendeine Deformation in einer Familie
häufig wiederkehrt – und zum Beispiel ein Ohr größer ist
als das andere.‹
Der große Bibliothekar hatte seine große kahle Stirn in
seine großen roten Hände gelegt wie einer, der sich bemüht,
ernstlich seine Pflicht zu erwägen. ›Nein‹, stöhnte er endlich,
›Sie tun dem Mann eigentlich unrecht. Ich habe keine
Ursache, ihn zu verteidigen, verstehen Sie mich wohl, und
auch keine Verpflichtungen ihm gegenüber. Er war gegen
mich, ebenso wie gegen alle anderen Leute, immer ein richtiger Tyrann. Glauben Sie nur ja nicht einfach darum, weil
Sie ihn hier sitzen sahen, daß er nicht im übelsten Sinn des
Wortes ein großer Herr sei. Er würde einen Menschen eine
Meile weit herbeiholen, um an einer Glocke zu läuten, die
eine Elle weit entfernt ist – wenn er damit einen anderen
Mann aus einer drei Meilen weiten Entfernung herbeirufen könnte, um sich eine Zündholzschachtel bringen zu
lassen, die drei Ellen weit liegt. Er braucht einen Diener, der
seinen Spazierstock trägt; einen Kammerdiener, um sich sein
Opernglas halten zu lassen ...‹
›Aber keinen Bedienten, der seine Kleider bürstet‹, warf der
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Priester in seltsam trockenem Tone ein, ›denn sonst würde
dieser Bediente auch die Perücke bürsten wollen.‹
Der Bibliothekar wendete sich dem Priester zu und schien
meine Anwesenheit gänzlich vergessen zu haben. Er war
sehr erregt und wohl ein wenig vom Wein erhitzt. ›Ich weiß
nicht, woher Sie es wissen, Pater Brown‹, sagte er, ›aber Sie
haben recht. Er läßt die ganze Welt alles für sich tun – mit
einer Ausnahme: ihm beim Ankleiden behilflich zu sein. Das
muß in einer Einsamkeit geschehen, die einer Einöde gleichkommt. Jeder wird ohne Zeugnis aus dem Hause gejagt, der
auch nur in der Nähe der Tür zu seinem Ankleidezimmer
angetroffen wird.‹
›Scheint ein lustiger alter Kauz zu sein‹, bemerkte ich.
›Nein‹, erwiderte Dr. Mull ganz schlicht. ›Und das eben
meinte ich, als ich sagte, Sie täten ihm unrecht. Meine
Herren, der Herzog empfindet wirklich all diesen Groll über
den alten Fluch, so wie er es eben zeigte. Mit aufrichtiger
Scham und ungeheucheltem Schrecken verbirgt er unter
dieser purpurfarbenen Perücke irgend etwas, dessen Anblick
seiner Meinung nach jeden Sterblichen vernichten müßte.
Ich weiß, daß es so ist. Und ich weiß auch, daß es keine
gewöhnliche, natürliche Verunstaltung ist wie zum Beispiel
die Verstümmelung eines Verbrechers oder die vererbte
Mißgestaltung eines Körperteils. Ich weiß, daß es schlimmer ist als all dies, ich weiß es von dem Augenzeugen einer
Szene, die kein Mensch erfunden haben konnte, wo ein stärkerer Mann als irgendeiner von uns versucht hatte, dem
Geheimnis zu trotzen und davor zu Tode erschrocken ist.‹
Ich öffnete den Mund, um zu sprechen, doch Mull fuhr –
meine Anwesenheit gänzlich vergessend – aus der Höhlung
seiner Hände hervor zu sprechen fort. ›Ich sage es Ihnen
unverhohlen, Pater Brown, weil es eigentlich mehr den
Herzog verteidigen heißt als ihn verraten. Haben Sie je von
jener Zeit gehört, da er beinahe alle seine Güter verlor?‹
Der Priester schüttelte den Kopf, und der Bibliothekar
fuhr fort, seine Geschichte zu erzählen, wie er sie von
seinem Amtsvorgänger gehört hatte, seinem Vorgesetzten
und Lehrer, dem er vorbehaltlos zu vertrauen schien. Bis zu
einem gewissen Punkt war es die gewöhnliche Geschichte
des Vermögensverfalls einer großen Familie, die Geschichte
des Advokaten einer großen Familie. Doch dieser Advokat
war klug genug, wenn man so sagen darf, auf ehrliche Weise
zu betrügen. Anstatt anvertrautes Gut anzutasten, machte
er sich die Nachlässigkeit des Herzogs zunutze und versetzte
die Familie in eine finanzielle Zwangslage; so daß es für
den Herzog notwendig werden mochte, den Advokaten die
Besitztümer tatsächlich übernehmen zu lassen.
Wasser-Prawda | Juni 2015
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SPRACHRAUM
Der Advokat hieß Isaak Green, doch der Herzog nannte
ihn Eliesa, wahrscheinlich im Hinblick auf die Tatsache, daß
er, obwohl sicherlich nicht älter als dreißig, vollständig kahl
war. Er war sehr schnell aus sehr schmutzigen Verhältnissen
emporgewachsen, Spion und Denunziant gewesen und dann
Wucherer; aber als Rechtsfreund der Eyres war er klug genug,
nach außen hin korrekt zu bleiben, bis er soweit war, den
entscheidenden Schlag zu führen. Dies geschah eines Tages
beim Abendessen; und der damalige Bibliothekar erzählte,
er werde niemals das Bild vergessen, wie der kleine Advokat
vor den Lampenschirmen und Weinkaraffen mit ruhigem
Lächeln dem großen Gutsherrn vorschlug, den Besitz mit
ihm zu teilen. Die Folge war jedenfalls nicht zu übersehen;
denn der Herzog schlug, ohne ein Wort zu sagen, mit einem
plötzlichen Ruck dem kleinen Advokaten eine Weinflasche
an den kahlen Kopf, genau so, wie wir es ihn eben hier im
Obstgarten haben tun sehen, als er das Glas auf dem Tisch
zerschlug. Eine große, dreieckige Wunde blieb am Schädel
des Advokaten zurück, seine Augen wurden trübe, doch nicht
sein Lächeln.
Er erhob sich taumelnd und schlug zurück, wie solche Leute
zurückzuschlagen pflegen. ›Ich bin froh, daß es so gekommen
ist‹, sagte er, ›denn jetzt kann ich den ganzen Besitz nehmen.
Ich werde ihn von Gesetzes wegen bekommen.‹
Exmoor soll aschfahl gewesen sein, nur seine Augen funkelten. ›Das Gesetz wird Ihnen den Besitz zusprechen‹, sagte
er, ›aber Sie werden ihn nicht nehmen ... Warum nicht?
Nun, weil das für mich der Jüngste Tag wäre; und wenn Sie
ihn nehmen, so nehme ich meine Perücke ab ... Sehen Sie,
Sie erbärmlicher, gerupfter Vogel, jeder kann Ihren kahlen
Schädel sehen. Aber niemand wird je den meinen schauen
und weiterleben!‹
Nun, Sie mögen sagen, was Sie wollen, und darüber
denken, was Sie wollen. Mull beschwört feierlich die Tatsache,
daß der Advokat, nachdem er eine Weile lang verzweifelt
die geballten Fäuste in der Luft geschüttelt hatte, einfach
aus dem Zimmer hinausrannte und nie mehr wieder in der
ganzen Umgebung auftauchte. Und seither wurde Exmoor,
der Zauberer und der Hexenmeister, mehr gefürchtet als
vorher der Gutsherr und der Beamte.
Doktor Mull erzählte wohl die ganze Geschichte mit
etwas übertrieben theatralischen Bewegungen und mit
einer Leidenschaft, die ich zumindest für parteilich hielt.
Ich war mir der Möglichkeit wohl bewußt, daß das Ganze die
Übertreibung einer alten Aufschneiderei und eines überlieferten Geschwätzes sei. Doch ehe ich diese erste Hälfte meiner
Entdeckungen beschließe, halte ich es für meine Pflicht,
Wasser-Prawda | Juni 2015
zu berichten, daß meine ersten beiden Nachforschungen
diese Erzählung bestätigt haben. Ich erfuhr von einem alten
Apotheker im Dorfe, daß einmal des Nachts ein kahlköpfiger
Mann, der sich Green nannte, im Frack zu ihm gekommen
war, um sich eine dreieckige Wunde auf der Stirne mit einem
Pflaster schließen zu lassen. Und ich fand aus alten Zeitungen
und Gerichtsdokumenten, daß ein gewisser Green einmal ein
gerichtliches Verfahren gegen den Herzog von Exmoor angestrengt oder zumindest in die Wege geleitet hatte.«
Herr Nutt, Chefredakteur des »Daily Reformer«, schrieb
einige im höchsten Grade unangemessene Worte an die
Spitze des Manuskriptes und einige im höchsten Grade
geheimnisvolle Zeichen an den Rand desselben, dann rief
er mit derselben lauten, monotonen Stimme wie sonst zu
Fräulein Barlow hinüber: »Bitte, nehmen Sie einen Brief an
Herrn Finn auf.
›Lieber Finn, Ihr Manuskript wird gehen, aber ich mußte
einige Überschriften dazusetzen lassen; auch würde
unser Publikum niemals einen römischen Priester in der
Geschichte dulden – man darf die Vorstadt nicht aus
dem Auge verlieren. Ich habe einen Spiritisten namens
Brown aus ihm gemacht.
Ihr E. Nutt.‹«
Einen oder zwei Tage später befand sich derselbe rührige
und kritische Redakteur mit immer runder und runder
werdenden blauen Augen bei der Überprüfung der zweiten
Teilsendung von Herrn Finns Schauergeschichte aus der
höchsten Gesellschaft. Sie begann mit den Worten:
»Ich habe eine erstaunliche Entdeckung gemacht.
Allerdings ist es ganz etwas anderes, als was ich mir vorgestellt habe, aber es wird das Publikum noch weit mehr in
Erstaunen setzen, als ich gedacht hatte. Ich wage ohne allzu
große Eitelkeit zu behaupten, daß man die Worte, die ich
hier schreibe, in ganz Europa und sicherlich in ganz Amerika
und in allen Kolonien lesen wird. Und doch erfuhr ich alles,
was ich zu erzählen habe, noch bevor ich jenen unscheinbaren hölzernen Tisch in jenem Apfelbaumgarten verließ.
Ich verdanke alles jenem kleinen Priester Brown. Das ist
ein ganz ungewöhnlicher Mensch. Der große Bibliothekar
hatte den Tisch verlassen, vielleicht ein wenig beschämt
wegen seiner Geschwätzigkeit, vielleicht auch beunruhigt
ob des Zorns, in dem sein geheimnisvoller Herr verschwunden war. Jedenfalls folgte er schweren Schrittes den Spuren
des Herzogs und entschwand zwischen den Bäumen. Pater
Brown hatte eine der auf dem Tisch liegenden Zitronen
SPRACHRAUM
zur Hand genommen und besah sie mit merkwürdigem
Vergnügen.
›Was für eine wunderschöne Farbe so eine Zitrone hat!‹
sagte er. ›Der Herzog hat etwas an sich, was mir nicht gefällt:
die Farbe seiner Perücke.‹
›Ich glaube, ich verstehe Sie nicht recht‹, antwortete ich.
›Er muß wohl seinen guten Grund haben, warum er seine
Ohren bedecken will wie König Midas‹, fuhr der Priester in
einem heiteren, schlichten Ton fort, der mich unter den gegebenen Umständen als ein wenig oberflächlich berührte. ›Ich
kann mir gut vorstellen, daß es hübscher ist, seine Ohren
mit Haaren zu bedecken als mit Messingplättchen oder
Lederlappen. Aber wenn er Haare verwendet, warum will
er dann nicht, daß es wie Haar aussieht? Es hat noch niemals
auf der ganzen Welt Haare von dieser Farbe gegeben. Es sieht
eher aus wie eine Abendwolke, die bei Sonnenuntergang
durch die Bäume schimmert. Warum versteckt er den
Familienfluch nicht geschickter, wenn er sich dessen wirklich so sehr schämt? Darum, weil er sich dessen nicht schämt.
Er ist sogar stolz darauf.‹
›Es ist eine häßliche Perücke, auf die man nicht stolz zu
sein brauchte – und eine häßliche Geschichte‹, sagte ich.
›Überlegen Sie einmal‹, sagte der merkwürdige kleine
Mann, ›wie Sie selbst über derlei Dinge denken. Ich nehme
an, Sie sind nicht mehr versnobt und nicht angekränkelter
als wir anderen; aber haben Sie nicht irgendwie das Gefühl,
daß es eigentlich eine ganz feine Sache ist, einen echten alten
Familienfluch zu besitzen? Würden Sie sich dessen schämen,
oder wären Sie nicht eher ein wenig stolz darauf, wenn der
Erbe aller Schrecken der Glamis Sie seinen Freund hieße oder
wenn Byrons Familie Ihnen allein die üblen Abenteuer ihres
Geschlechtes anvertraut hätte? Seien Sie nicht zu streng mit
den Aristokraten, wenn ihre Köpfe ebenso schwach sind, wie
die unseren es sein würden, und sie bezüglich ihrer eigenen
Sorgen und Kümmernisse Snobs sind.‹
›Bei Gott!‹ rief ich, ›das ist wirklich wahr. In der Familie
meiner Mutter gab es einen Geist, und wenn ich es mir
ehrlich überlege, so hat mich das in mancher trüben Stunde
getröstet.‹
›Und denken Sie nur‹, fuhr er fort, ›was für ein Strom
von Blut und Gift bereitwillig von seinen schmalen Lippen
drang, sowie Sie nur seine Ahnen erwähnten! Warum sollte
er jedem Fremden gleich jene Schreckenskammern zeigen,
wenn er nicht stolz auf sie wäre? Er verbirgt weder seine
Perücke noch sein Blut, noch den Familienfluch, noch die
63
Verbrechen seiner Familie – aber ...‹
Die Stimme des kleinen Mannes veränderte sich so plötzlich, seine Hände krampften sich so schnell zusammen, und
seine Augen blitzten auf einmal so eulenhaft rund und leuchtend auf, daß das Ganze wie eine kleine Explosion am Tische
wirkte.
›Aber‹, schloß er, ›er verbirgt wirklich das Geheimnis seiner
Toilette.‹
Es paßte irgendwie zu dem Schauer, der meine erregten
Nerven ergriffen hatte, daß der Herzog in diesem Augenblick
wieder unter den flimmernden Bäumen auftauchte. Er kam
mit leisen Schritten und seinem abendrotfarbenen Haar in
Gesellschaft des Bibliothekars um die Ecke des Hauses. Ehe
er in Hörweite gelangte, hatte Pater Brown noch vollkommen ruhig und erwägend hinzugefügt: ›Warum verbirgt er
das wirkliche Geheimnis mit dieser purpurfarbenen Perücke?
Weil es nicht solcherart ist, wie wir vermuten.‹
Der Herzog kam näher und nahm mit der ganzen ihm
angeborenen Würde seinen Platz am Tische wieder ein. Der
Bibliothekar tanzte vor lauter Verlegenheit wie ein großer
Bär auf den Hinterbeinen. Der Herzog wendete sich mit
tiefem Ernst an den Priester. ›Pater Brown‹, sagte er, ›wie mir
Doktor Mull mitteilt, sind Sie hergekommen, um irgendwelche Nachforschungen anzustellen. Ich will nicht vorgeben, daß ich die Religion meiner Väter hochhalte. Doch
um ihretwillen und um der früheren Tage willen, da wir
einander schon begegneten, bin ich gerne bereit, Sie anzuhören. Aber ich nehme an, es wird Ihnen lieber sein, wenn
dies privat geschähe.‹
Alles, was ich noch von einem Gentleman in mir habe,
hieß mich aufstehen und den Tisch verlassen. Doch alles, was
ich von einem Journalisten in mir hatte, hieß mich bleiben.
Noch ehe dieser Augenblick des Schwankens entschieden
war, hatte der Priester eine Bewegung gemacht, die mich
zurückhielt. ›Wenn Euer Gnaden meine eigentliche Bitte
erfüllen wollten‹, sagte er, ›oder wenn ich das Recht hätte,
einen Rat zu erteilen, so würde ich darauf dringen, daß so
viele Leute wie nur irgend möglich anwesend sein sollten. Ich
habe in dieser ganzen Gegend Hunderte von Leuten gefunden, sogar unter meiner eigenen Gemeinde, deren ganzes
Denken vergiftet wird von diesem Bann, den zu brechen ich
Sie beschwöre. Ich wollte, wir könnten ganz Devonshire hier
haben, um zuzusehen, wenn Sie es tun.‹
›Wenn ich was tue?‹ fragte der Herzog mit emporgezogenen Augenbrauen.
Wasser-Prawda | Juni 2015
64
SPRACHRAUM
›Wenn Sie die Perücke herunternehmen‹, sagte Pater
Brown.
Das Gesicht des Herzogs blieb unverändert, aber der gläserne, stiere Blick, mit dem er den Bittsteller ansah, gab
seinem Gesicht einen so entsetzlichen Ausdruck, wie ich
ihn nie zuvor an einem Menschen gesehen hatte. Ich sah, wie
die langen Beine des Bibliothekars unter ihm zu schwanken
anfingen gleich den Schatten von Zweigen über einem Teich;
und ich konnte die Vorstellung nicht loswerden, daß in der
herrschenden Stille die Bäume ringsumher sich langsam mit
Teufeln an Stelle von Vögeln füllten.
›Ich will Sie verschonen‹, sagte der Herzog schließlich mit
dem Tonfalle übermenschlichen Mitleides. ›Ich weigere mich.
Gäbe ich Ihnen den schwächsten Wink all jener Last des
Entsetzens, die ich allein zu tragen habe, so lägen Sie jammernd zu meinen Füßen und schrien, daß Sie nicht mehr
wissen wollten. Ich will Sie mit diesem Wink verschonen.
Sie sollen den ersten Buchstaben dessen nicht entziffern, was
auf dem Altar des unbekannten Gottes geschrieben steht!‹
›Ich kenne den unbekannten Gott‹, sagte der kleine Priester
mit der unbewußten Gebärde einer unbedingten Sicherheit,
die wie ein granitner Turm emporragt. ›Ich kenne seinen
Namen, er heißt Satan. Der wahre Gott war aus Fleisch
und Blut geschaffen und lebte in unserer Mitten. Und ich
sage Ihnen, wo immer Sie Menschen finden, die bloß von
einem Geheimnis beherrscht werden, so können Sie sicher
sein, daß es das Geheimnis des Bösen und der Sünde ist.
Wenn Ihnen der Teufel sagt, daß etwas zu schrecklich sei,
um geschaut zu werden, so schauen Sie es an! Wenn er sagt,
daß es zu schrecklich sei, um gehört zu werden, so hören Sie
es an! Wenn Sie etwas für unerträglich halten, so ertragen
Sie es! Ich beschwöre Euer Gnaden, diesem Nachtmahr jetzt
ein Ende zu machen, gleich hier an dem Tische.‹
›Wenn ich es täte‹, sagte der Herzog mit leiser Stimme, ›so
würden Sie und all Ihr Glaube und all das, wodurch allein
Sie leben, als erstes zunichte. Es würde einen Augenblick
lang das große Nichts über Sie kommen, bevor Sie stürben.‹
›Das Kreuz Christi stehe zwischen mir und irgendwelchem
Übel‹, sagte Pater Brown. ›Nehmen Sie Ihre Perücke ab!‹
Ich beugte mich in unbeherrschbarer Erregung weit über
den Tisch. Während ich diesem Wortgefecht lauschte, war
ein halber Gedanke in mir erwacht. ›Euer Gnaden‹, rief ich,
›Sie bluffen. Nehmen Sie die Perücke ab, oder ich reiße sie
herunter!‹
Wasser-Prawda | Juni 2015
Ich glaube, man kann mich wegen Überfalls belangen,
aber ich bin sehr froh, daß ich es getan habe. Als er mit derselben steinernen Stimme wiederholte: ›Ich weigere mich‹,
da sprang ich einfach auf ihn los. Drei lange Sekunden lang
wehrte er sich, als hülfe ihm die ganze Hölle, doch ich beugte
seinen Kopf so weit zurück, bis die Haarmütze abfiel. Ich gebe
zu, daß ich während des Ringens die Augen schloß, als die
Perücke herunterfiel.
Ein Schrei des Doktor Mull, der in diesem Augenblick
auch neben dem Herzog stand, erweckte mich. Doktor
Mulls Kopf war zusammen mit dem meinen über den kahlen
Schädel des Herzogs gebeugt. Dann wurde das Schweigen
plötzlich durch den Ausruf des Bibliothekars unterbrochen:
›Was soll das bedeuten? Ja, der Mann hatte doch nichts zu
verbergen. Seine Ohren sind genau so wie die aller anderen
Menschen!‹
›Gewiß‹, sagte Pater Brown, ›das war es, was er zu verbergen hatte.‹
Der Priester ging geradewegs auf den Herzog zu, doch
blickte er seltsamerweise gar nicht nach seinen Ohren.
Er starrte mit beinahe komischem Ernst auf seine kahle
Stirn. Dann deutete er auf eine dreieckige, längst verheilte,
doch noch wahrnehmbare Narbe und sagte höflich: ›Herr
Green, glaube ich, und er hat also doch den ganzen Besitz
bekommen.‹
Und jetzt will ich den Lesern des ›Daily Reformer‹ sagen,
was ich an der ganzen Geschichte für das Merkwürdigste
halte. Diese Verwandlungsszene, die Ihnen so verworren
und purpurfarben wie ein persisches Märchen vorkommen
wird, war von allem Anfang an – bis auf meinen regelrechten
Überfall – streng gesetzmäßig und rechtlich. Dieser Mann
mit der wunderlichen Narbe und den gewöhnlichen Ohren
ist kein Betrüger. Obwohl er in einem gewissen Sinn eines
anderen Mannes Perücke trägt und vorgibt, eines anderen
Mannes Ohr zu besitzen, so hat er doch nicht eines anderen
Mannes Adelstitel gestohlen. Er ist tatsächlich der einzige
Herzog von Exmoor, den es gibt. Es ist folgendes geschehen: Der alte Herzog hatte wirklich ein leicht verunstaltetes
Ohr, was wirklich mehr oder weniger in der Familie erblich
war. Er war in dieser Beziehung etwas angekränkelt, und es
ist sehr wahrscheinlich, daß er diese körperliche Mißbildung
als eine Art Fluch anrief in jener heftigen, zweifellos vorgefallenen Szene, in der er Green die Flasche an den Kopf
warf. Doch der Streit endete ganz anders. Green bestand
auf seiner Forderung und bekam den Besitz; der enteignete
Edelmann erschoß sich und starb ohne Nachkommen. Nach
einem angemessenen Zeitablauf ließ unsere schöne englische
SPRACHRAUM
65
Regierung den ›erloschenen‹ Adelstitel der Exmoor wieder
erneuern und verlieh ihn, wie gewöhnlich, dem bedeutendsten Mann, dem Mann, dem die Besitztümer der alten
Exmoors gehörten.
Dieser Mann machte sich die alte Familienlegende
zunutze – wahrscheinlich beneidete und bewunderte er in
seinem versnobten Herzen die Leute wirklich darum. Und
so zittern Tausende von armen englischen Leuten vor einem
geheimnisvollen Oberhaupt mit einem Ahnenschicksal
und einem Diadem von Sündensternen – während sie in
Wirklichkeit vor einem Schurken aus der Gosse zittern, der
erst Winkeladvokat und vor noch kaum zwölf Jahren ein
Pfandleiher war. Dieser Fall erscheint mir ungemein bezeichnend für den wirklichen Stand unserer Aristokratie, wie sie
heute ist und wie sie immer sein wird bis zu dem Tage, da
Gott uns tapferere Männer schickt.«
Herr Nutt legte das Manuskript beiseite und rief mit
ungewöhnlicher Strenge: »Fräulein Barlow, bitte, nehmen
Sie einen Brief an Herrn Finn auf.
›Lieber Finn, Sie müssen verrückt sein; auf so etwas
können wir uns nicht einlassen. Ich wollte Vampire und
die schlechte alte Zeit und die Aristokratie Hand in Hand
mit dem Aberglauben. Das hat man gern. Aber es muß
Ihnen doch klar sein, daß die Exmoors uns das nie verzeihen würden. Und was würden unsere Leute dann sagen,
möcht ich nur wissen? Ja, Sir Simon ist einer der besten
Freunde der Exmoors; und es wäre der Ruin jenes Vetters
der Eyres, der für uns in Bradford arbeitet. Außerdem
war der alte Seifensieder unglücklich genug, daß er im
vergangenen Jahr keinen Adelstitel bekommen konnte;
er würde mich telegrafisch hinauswerfen lassen, wenn
ich es ihm mit solchen Verrücktheiten für diesmal verdürbe. Und was wäre mit Duff ey? Der schreibt einige
klingende Artikel für uns über »Die Fußstapfen der
Normannen«. Und wie kann er über die Normannen
schreiben, wenn der Mann ein Advokat ist? So seien Sie
doch bitte vernünftig!
Ihr E. Nutt.‹«
Während Fräulein Barlow den Brief lustig herunterratterte, knüllte Nutt das Manuskript zusammen und warf es
in den Papierkorb, doch erst, nachdem er ganz mechanisch
und nur infolge der Macht der Gewohnheit das Wort »Gott«
in »die Umstände« korrigiert hatte.
Wasser-Prawda | Juni 2015
66
SPRACHRAUM
DIE
VESTALINNEN
Eine Reise um die Erde. Abenteuer zu Wasser und zu Lande. Erzählt
nach eigenen Erlebnissen. Band 1. Von Robert KraŌ
26. DAS ZEICHEN DES MEISTERS
Nick Sharp saß in einer Stube des Quartiers und blätterte in einem Notizbuch. Bald schrieb er etwas nieder,
bald strich er etwas aus.
»Stimmt nicht,« murmelte er unwillig. »Seit der
Liebelei mit diesem verfluchten Weib bin ich ganz
konfus geworden.«
Es klopfte an der Thür.
»Herein!« rief Sharp und dachte nach. »Ist es Sir
Williams, so kann er hierbleiben, ist es ein anderer, so
schmeiße ich ihn hinaus.«
Marquis Chaushilm trat ins Zimmer. Der Detektiv
schaute wieder in sein Buch.
»Guten Morgen, Steuermann, ist Kapitän Hoffmann
hier?« fragte der junge Herzog den Detektiv, welcher allgemein als zweiter Steuermann des ›Blitz‹ galt.
»Sehen Sie einmal da unter der Kommode nach,«
brummte der Gefragte, der wegen seiner furchtbaren
Grobheit berühmt geworden war.
»Ich wollte dem Kapitän nur das Neueste erzählen,«
fuhr aber der redselige Marquis unbeirrt fort. »Wissen
Sie es schon, daß Abudahm erzählt hat, wenn ihm das
Leben versprochen wird, so wolle er ein Geständnis von
der größten Wichtigkeit machen?«
»Ist mir ganz egal.«
Der Detektiv fuhr zu rechnen fort.
»Ich möchte aber gern erfahren, was das eigentlich
Wasser-Prawda | Juni 2015
ist. Bedenken Sie einmal, er sagt, er könne durch ein
Geständnis Tausenden von Europäern das Leben retten.«
»Dann mal los!«
»Jede Stunde wird das Schreiben vom britischen
Gouvernement erwartet, welches ihm das Leben zusichert, wenn seine Aussagen wirklich sehr wichtig sind.«
»So.«
»Wir sind alle gespannt, wie –«
»Wie ein Regenschirm,« unterbrach ihn der Detektiv
und klappte das Buch mit einer Heftigkeit zu, daß der
Herzog zusammenfuhr.
»Meine Sprechstunde ist aus, Herr Marquis!«
»Aber Herr Steuermann –«
»Kein Wort weiter, meine Sprechzeit ist vorüber!«
Der Detektiv stand auf und öffnete die Thür.
»Bitte,« sagte er mit einer nicht mißzuverstehenden
Handbewegung.
Das ging dem jungen Herzog doch über die Schnur.
»Ihre Grobheit ist denn doch etwas zu arg,« brauste
er auf. »Ich bin der Marquis von Chaushilm, Sohn des
Herzogs von Chaushilm, und wer sind denn Sie, daß
Sie so mit mir zu sprechen wagen?«
»Ich bin der Steuermann Claus Uhlenhorst, zweiter
Sohn des Kaisers von China,« konnte der Herzog noch
hören, dann befand er sich schon auf dem Korridor, und
die Thür fiel hinter ihm ins Schloß.
SPRACHRAUM
Chaushilm stand noch stumm vor Staunen mit ausgespreizten Fingern da, als sich die Thür wieder öffnete,
und der Steuermann in wunderbar freundlichem Tone
sagte:
»Lieber Herzog Chaushilm, ich bitte Sie, wenn Sie
Sir Williams sehen, so sagen Sie ihm doch, er möchte
einmal zu mir kommen. Ich bitte sehr darum!«
»So,« brummte der Detektiv und setzte sich wieder,
»den wäre ich los. Weiter fehlte nichts, als daß mich der
erste Beste hier mit seinem Schwatzen belästigen könnte.
Hm, was mag denn dieser Abel oder Adam oder wie er
heißt, eigentlich für ein furchtbares Geheimnis ausplaudern wollen? Na, werde es bald genug erfahren. Weiß
Gott, da kommt wirklich Charles, der Herzog hat ihn
also doch gerufen. Ja, mit Speck fängt man Mäuse.«
»Wissen Sie schon das Neueste, Uhlenhorst?«
Mit dieser Frage kam Charles in das Zimmer gestürzt.
»Ja,« antwortete der Gefragte und zog eine entsetzlich
schmutzige Tabakspfeife aus der Tasche.
»Was heißt das?«
»Ich habe keinen Tabak mehr.«
Lachend reichte ihm der Baronet seinen gefüllten
Beutel. Dann fuhr er ernst fort:
»Unser Fakir ist aus seiner Zelle entsprungen.«
»Was kostet von dem das Pfund?« fragte der Detektiv
und stopfte die Pfeife.
»Fünfzig Pfund Sterling, wer ihn lebendig einliefert. Er wird von Abudahm als der Mörder Majubas
bezeichnet.«
»Fünfzig Pfund Sterling kostet dieser Tabak, das ist
ein bißchen viel, Williams,« meinte der Detektiv.
»Zum Teufel mit Ihrem Tabak!« rief Charles. »Ich
spreche von dem Fakir und Majuba.«
»Zum Teufel mit allen Fiakern und Majoren, ich
spreche aber von Tabak. Sie rauchen eine gute, doch
viel zu leichte Sorte.«
»Himmel und Hölle!« Charles sprang erregt auf.
»Wollen Sie mich vielleicht foppen, dann ist unsere
Freundschaft aus! Hören Sie doch nur, unser Fakir ist
entsprungen!«
»Nun fluchen Sie einmal etwas lauter und passen
Sie auf, der Flüchtling kommt gleich wieder.« sagte
der Detektiv und lehnte sich bequem in einen Stuhl.
»Denken Sie denn etwa, ich fahre nun gleich in die
67
Stiefeln, bürste den Hut ab, binde einen Shlips um und
renne wie ein Wilder hinterher?«
Charles kratzte sich bedenklich hinter dem einen Ohr.
Es war nicht das erste Mal, daß ihm der Detektiv eine
Lehre gab. Jetzt war er schon wieder seinem Grundsatz:
›Weinen hilft nichts!‹ untreu geworden.
»Wie schön hätte das geklungen, mein lieber
Williams,« fuhr der Detektiv fort, »wenn Sie hübsch
langsam zu mir ins Zimmer gekommen wären und
gesagt hätten, ›Guten Morgen, Herr Uhlenhorst, der
Fakir ist fort, trinken Sie in der Kantine ein Glas Bier
mit mir?‹ Na, schadet nichts, Williams, ich werde Sie
schon noch zu einem brauchbaren Menschen ausbilden.«
»Es wird aber die höchste Zeit,« seufzte Charles, »ich
werde mit jedem Tage älter.«
»Sagen Sie einmal, Williams, wie geht es Miß
Thomson?«
»Danke, ausgezeichnet! Ich habe gesehen, wie sie
heute morgen zum Frühstück, vier Butterbrote, zwei
Scheiben Schinken, drei Scheiben Wurst und drei Eier
gegessen hat.«
»Alles aufgegessen?«
»Nun, die Schalen nicht mit. Interessieren Sie sich
dafür oder fühlen Sie Brotneid?«
»Hm, Sir Williams, wenn Sie einmal so einen
Stellvertreter brauchen, Sie wissen schon, wie ich es
meine, dann können Sie mich engagieren. Ich mache
es billiger als alle anderen.«
»So etwas verbitte ich mir, Herr Uhlenhorst,« rief
Charles, aber durchaus nicht aufgebracht.
»Und wie geht es dem jungen Werden? Das Kerlchen
hat mir Respekt eingeflößt. Alle Wetter noch einmal,
wie er den Rajah Dingsda so von der Mauer herunter holte, obwohl er kaum selbst auf den Beinen stehen
konnte, das lasse ich mir gefallen. Ein sehr nützlicher
Mensch! Wie geht‘s ihm?«
»Es macht sich, er erholt sich sichtlich.«
»Und Miß Rosa?«
»Die erholt sich neben ihm.«
»Und Lucille?«
»Die ist eine Seligkeit und Wonne.«
»Hinkt Ihr Pferd noch?«
»Nicht mehr so sehr.«
»Essen Sie lieber Weinbeeren oder Kokosnüsse?«
Wasser-Prawda | Juni 2015
68
SPRACHRAUM
Charles sprang vom Stuhle auf.
»Nun ist es aber genug!« rief er. »Denken Sie vielleicht,
ich lasse mich von Ihnen zum Narren halten? Ich bin
weder ein Adreßbuch, noch ein Fragenautomat.«
»Nun, nun,« beruhigte ihn lächelnd der Detektiv,
»sehen Sie, wenn ich über etwas nachdenken will, und
es kommt jemand zu mir, der mich mit Redereien quält,
so stört mich das ungemein; wenn ich aber Fragen stellen
kann, deren Antworten ich nicht anzuhören brauche, so
stört mich das durchaus nicht.«
»Ich danke sehr für diese Schmeichelei, aber warum
in der Welt haben Sie denn da Chaushilm gebeten, mich
zu Ihnen zu rufen?«
»Warum?« fragte der Detektiv erstaunt. »Das war doch
gleich meine erste Frage. Ich wollte eine Pfeife Tabak
von Ihnen haben.«
Da wurde die Thür aufgerissen, und Chaushilm
stürzte ins Zimmer.
»Meine Herren,« rief er atemlos, »Abudahm ist ermordet in seiner Zelle gefunden worden. Ein Offizier hat
ihn noch gesprochen, gerade als das Schreiben vom
Gouvernement eingetroffen ist, und als er nach fünf
Minuten wieder in die Zelle trat, um dem Abudahm
diese Mitteilung zu machen, war er tot, er hat einen
Dolchstich ins Herz bekommen.«
»Wer?« fragte der Detektiv.
»Abudahm. Das Merkwürdigste aber ist, daß er an der
Stirn einen sonderbaren Stempel aufgedrückt bekommen hat.«
Der Detektiv hatte schon den Hut in der Hand.
»Ich muß gehen, sonst tragen sie heute noch ganz
Sabbulpore fort und mich dazu. Vorwärts, meine
Herren, ich will zuschließen!«
Ohne weiteres schob er die Herren zur Thür hinaus
und schloß ab. – –
Eine Viertelstunde später schritt Charles durch den
Garten des Quartiers, als er den Detektiv sich entgegenkommen sah, der unter dem Arm einen in Papier gewickelten Gegenstand trug.
»Halloh, Mister Uhlenhorst, was wollen Sie hier?«
»Nach dem Quartier. Kommen Sie mit?«
»Nein, ich warte auf jemanden.«
»So, na dann amüsieren Sie sich gut!« Der Detektiv
wollte gehen.
Wasser-Prawda | Juni 2015
»Was haben Sie denn da eigentlich?« fragte ihn
Charles. »Das sieht ja fast wie eine Kegelkugel aus.«
»Ist auch eine, ich will heute abend in meiner Stube
Kegel schieben.«
»Aber hier kommt ja Blut heraus?« fragte Charles
mißtrauisch.
»Ja,« meinte der Detektiv kaltblütig, »sie ist noch nicht
ganz ausgetrocknet.«
Damit ließ er die Hülle fallen und hielt dem erschrocken zurückfahrenden Baronet das noch blutende Haupt
des ermordeten Abudahm an den Haaren hin.
»Sharp,« stammelte Charles, »wozu denn das?«
»Ich interessiere mich für anatomische Präparate.
Im übrigen, mein lieber Williams, wenn in einigen
Minuten der Ruf erschallen sollte, daß dem Abudahm
der Kopf gestohlen worden ist, so brauchen Sie nicht
gleich meinen Namen zu nennen. Sie verstehen mich
doch, nicht wahr?«
»Natürlich, ich weiß von nichts. Wenn Ihnen nun
aber ein anderer als ich begegnet wäre und hätte Sie
nach dem Inhalte des Pakets gefragt? Das herauströpfelnde Blut deutet auf nichts Gutes.«
Der Detektiv lächelte.
»Was Nick Sharp nicht sehen lassen will, das sieht
niemand,« sagte er und ging.
In seinem Zimmer angekommen, schloß er sorgfältig die Thür ab und verhängte das Schlüsselloch mit
einem Tuch, dann zog er sich die Jacke aus, streifte die
Hemdsärmel auf und schälte den abgeschnittenen Kopf
mit einer Vorsicht aus der Hülle, als wäre derselbe ein
rohes Ei. Lange betrachtete er das kleine Siegel, das auf
dessen Stirn eingebrannt war. Es stellte einen Galgen
vor, um welchen herum die Worte ›Tod dem Verräter‹
standen.
»Nick Sharp,« sagte er endlich zu sich, »du bist einmal
ein großer Esel gewesen. Diese Evelyn, die gar nicht
so schwer zum Geständnis zu bringen war, hätte dir
viel mehr von der Bedeutung dieses Siegels erzählen
können. Aber nein, du bist damit zufrieden, daß sie
Dir etwas über Lucille und die Gefangenen gesteht.
Wer denkt auch gleich an alles, und ich fand überdies
unter ihren Briefschaften nichts Verdächtiges. Also
Abudahm und der Fakir gehörten auch mit dazu; merkwürdig, hier in Indien! Dieser Fakir war neuengagiert
SPRACHRAUM
als Bursche von Oberst Walton, in der That aber vom
Rajah angestellt, um den Obersten zu beobachten. Doch
der Fakir hatte diesen Posten nur nebenbei angenommen, um wieder Abudahm zu beobachten, weil von
diesem Verrat gefürchtet wurde. Von wem hatte aber
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letzterer einen Auftrag bekommen? Denn daß dies so
ist, bin ich sicher, sein Streit mit dem Rajah verriet es.
War derselbe eingeweiht oder nicht, war es Evelyn?
Wer ist der Fakir, der jetzt seine Fesseln zum zweiten
Male abstreift und einen Plaudernden zum Schweigen
Wasser-Prawda | Juni 2015
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SPRACHRAUM
bringt? Ein undurchdringlicher Schleier verhüllt noch
das Ganze; vielleicht, daß dieses Siegel mir ein Schlüssel
zu manchem Geheimnis wird!«
Er legte den abgeschnittenen Kopf auf den Tisch und
zog unter dem Bett einen Koffer hervor, dem er Papier
und Instrumente entnahm. Dann fing er an, den eingebrannten Stempel auf das genaueste abzuzeichnen;
fortwährend maß er mit dem Zirkel die Stärke, die
Entfernung der Buchstaben, bis er den Stempel vor sich
auf dem Papier zu seiner vollständigen Zufriedenheit
wiedergegeben hatte.
»So,« sagte er endlich, »heute noch werde ich die
Zeichnung in Kupfer ätzen.«
Er wickelte den Kopf Abudahms wieder ein und
verbarg ihn so geschickt am eigenen Körper, daß an
ihm nichts Auffallendes zu sehen war. Nachdem er sich
dem Koffer ein Ledertäschchen, wie das Besteck eines
Arztes aussehend, entnommen hatte, ging er auf den
Hof. Langsam, die Hände in den Hosentaschen, schlenderte er nach einem kleinen Gebäude, vor dessen Thür
ein englischer Soldat mit geschultertem Gewehr auf- und
abging. In diesem Häuschen lag die Leiche des ermordeten Abudahm.
»Ein langweiliger Posten, was?« redete der Detektiv
den Soldaten an. »So jemanden zu bewachen, der doch
nicht ausreißen kann.«
»Es ist der Dienst. Ob ich nun hier verwendet
werde oder wo anders, ist mir gleichgiltig,« war die
Antwort; »lieber ist mir aber schon, wenn ich in dem
freundlichen Quartierhof sein kann, als zwischen den
Festungsmauern.«
»Und dann sehen Sie immer fremde Gesichter, denn
Abudahm wird wohl von vielen besucht?«
»Es ist nicht so schlimm, die Offiziere, wie die Gäste
scheinen andere Dinge im Kopfe zu haben.«
»So? Wie viele sind denn zum Beispiel da gewesen,
seit ich mir den Kerl angesehen habe?«
»Wie viele?« sagte der Soldat nachdenkend. »Auch
nicht ein einziger.«
»Hm. hm.«
Der Detektiv nahm die Pfeife zwischen die Lippen
und griff in die Tasche.
»Da habe ich vorhin meine silberne Streichholzbüchse
drin liegen lassen, ich kann doch wohl noch einmal
Wasser-Prawda | Juni 2015
hineingehen?«
»Gewiß,« antwortete der Soldat.
Der Detektiv ging hinein und kam nach fünf Minuten
wieder heraus.
»Ich habe sie höllisch lange suchen müssen,« sagte er,
»sie war unter einen Schrank gefallen, und ich konnte
sie nicht finden.«
In diesem Augenblicke kam Charles um die Ecke des
Hauses gegangen.
»Sie hier, Mister Uhlenhorst? Ich wollte mir eben
einmal den Abudahm ansehen. Kommen Sie mit?«
»Meinetwegen,« sagte der Detektiv und schickte sich
an, abermals in das Haus zu treten.
»Sharp,« flüsterte Charles, als sie durch den kleinen
schmucklosen Raum schritten, in welchem die Bahre
mit dem Leichnam stand, »bis jetzt ist noch nichts laut
geworden.«
»Was denn?« fragte der Detektiv unschuldig.
»Die Geschichte mit dem Kopf.«
»Mit welchem Kopf denn, mein lieber Williams?
Sprechen Sie doch deutlicher!«
Sie standen jetzt beide vor dem mit einem Tuche
bedeckten Leichnam. Charles faßte das Tuch an einem
Zipfel und schlug es zurück. Sein erster Blick fiel auf
das fahle Antlitz des Toten.
»Was!« sagte Charles und prallte förmlich zurück, »der
Kerl hat ja einen Kopf!«
»Nun ja,« lächelte der Detektiv kalt, »haben Sie
Abudahm vielleicht jemals ohne Kopf herumlaufen
sehen?«
Charles faßte die Haare des Schädels und zog daran,
er untersuchte den Hals, aber er konnte nichts finden,
was daran erinnerte, daß er vor einer halben Stunde den
abgeschnittenen Kopf in den Händen des Detektiven
gesehen hatte. Kopfschüttelnd wendete er sich ab.
»Der Teufel mag wissen, wie das zugeht,« sagte er
beim Hinausgehen, »ich kann es mir nicht erklären.«
Beide promenierten zusammen in den schattigen
Gängen des Haines.
»Haben Sie schon mit Bestimmtheit erfahren, wann
die Gäste von hier aufbrechen?« fragte der Detektiv.
»Einige Tage werden wohl noch vergehen. Die
Wunden müssen doch erst etwas heilen, ehe die Gäste
eine längere Reise zu Pferd machen können!«
SPRACHRAUM
»Wohin soll‘s denn gehen?«
»Habe keine Ahnung! Das machen die Damen unter
sich aus.«
»Und die Herren rennen dann hinterher! Schönes
Vergnügen das!«
»Wenns Ihnen nicht paßt, so kommen Sie eben nicht
mit. Aber sagen Sie mal, um Gottes willen, mein lieber
Uhlenhorst, wie haben Sie das eigentlich angefangen,
den Kopf Abudahms abzuschneiden und ihn dann
wieder so aufzusetzen, daß selbst meine vorzüglichen
Augen keine Spur eines Schnittes feststellen konnten?«
»Taschenspielerkunststückchen, weiter nichts,«
schmunzelte der Detektiv.
»Es wird mir ordentlich unheimlich in Ihrer Nähe,«
meinte Charles. »Nächstens könnten Sie mir schließlich
auch einmal in aller Freundschaft den Kopf abschneiden, und ihn dann wieder anleimen.«
»Unsinn,« brummte der Detektiv, »ich muß jetzt
gehen, auf Wiedersehen heute abend! Erst geben Sie
mir aber noch eine Pfeife Tabak.«
»Sehr gern! Haben Sie keinen mehr bei sich?« Charles
reichte ihm den Beutel.
»Er ist mir ausgegangen, und der, den man hier in der
Kantine zu kaufen bekommt, schmeckt mir nicht. Nur
der Ihrige ist nach meinem Geschmack.«
Der Detektiv stopfte sich sorgsam seine Pfeife.
»So nehmen Sie sich eine Hand voll heraus,« meinte
Charles, »ich habe genug mitgenommen.«
»O, ich danke,« entgegnete der Detektiv, schnürte
den Beutel wieder zu und gab ihn zurück; »wenn ich
keinen Tabak mehr auftreiben kann, komme ich zu
Ihnen. Thanks, Sir Williams, auf Wiedersehen!«
Der Detektiv ging.
Charles schlenderte noch etwas in‘s Gebüsch hinein
und warf sich unter einem schattigen Baum in das
weiche Gras.
»Sharp hat eigentlich recht,« sagte er nach einer Weile
zu sich, die Ellbogen auf den Boden gestützt und den
Kopf in die Hände legend, »es ist ein rechter Unsinn, so
immer hinter dem Mädchen herzulaufen, mir wird die
Sache auch bald über. Ich werde einmal mit Sharp darüber
sprechen, ob es nicht geht, daß ich auf eigene Faust die
ganze Mädchengesellschaft auseinandersprenge, und
mit Gewalt eins davon wegführe, das mir am liebsten
71
ist. Dann mögen sie meinetwegen weiterreisen, ich gehe
nach England, wo es jetzt schon hübsch kühl ist, setze
mich mit meiner Frau vor das offene Kaminfeuer und
lasse mir von ihr Indianergeschichten vorlesen – viel
gemütlicher, als wenn man selbst mitmacht.«
Sinnend blickte er vor sich hin.
»Ein komischer Mensch, dieser Detektiv!« fuhr er
dann in seinem Selbstgespräche fort. »Einmal ist er grob
wie Bohnenstroh, nimmt jemandem, wenn er rauchen
will und nichts hat, einfach die Pfeife aus dem Munde
und paff t selbst weiter, und dann ist er so bescheiden,
daß er nicht einmal eine Handvoll Tabak nehmen will.
Als ob es mir auf ein paar Pfund ankäme.«
Er holte die Pfeife und den Tabaksbeutel hervor, um
zu rauchen. Langsam griff er in den letzteren, doch plötzlich nahmen seine Züge einen verblüff ten Ausdruck an;
er sah in den Beutel.
»Jetzt hat mir der Kerl ein Taschentuch hineingestopft.«
Er zog dasselbe heraus.
»Da schlag‘ aber doch Gott den Teufel tot!« rief er.
»Das ist auch noch dazu mein eigenes.«
Er drehte den Beutel um und schüttelte ihn in die
leere Hand aus.
»Und mir hat er auch nicht ein Krümelchen Tabak
übrig gelassen. Ein verfluchter Kerl, dieser Detektiv!«
27. Eine Gauklervorstellung.
Schellenbesetzte Tamburins rasselten; dumpfe
Trommeltöne erschollen, und gellende Männerstimmen
luden ein, der Vorstellung beizuwohnen. Die Gäste eines
Hotels in Madras, welche im Garten den Abend verbrachten, verließen ihre Stühle und strömten einem
freien Rasenplatze zu, auf welchem eine Gesellschaft
von indischen Gauklern und Schlangenbeschwörern
Anstalten traf, sich mit Erlaubnis des Hotelsbesitzers
den Gästen zu produzieren.
In der Mitte des Platzes stand ein kleiner, mit
Leinwand überzogener Wagen, aus welchem die Gaukler
die zu ihren Vorführungen notwendigen Gerätschaften
auspackten. Die Männer waren fast nackt; nur ein Tuch
wand sich um ihre Hüften, sodaß die Zuschauer die
muskulös gebauten und doch zugleich geschmeidigen
Gestalten bewundern konnten. Einige zogen unter der
Plane des Wagens Körbe aus Rohrgeflecht, Kästen und
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SPRACHRAUM
allerhand kleine Gegenstände hervor und bauten sie in
einem Halbkreis auf, während andere rings am Boden
hockten und mit Tamburins und langen, dünnleibigen
Trommeln eine sehr unmelodische Musik erzeugten, um
durch dieselbe die Aufmerksamkeit der Gäste zu erregen.
Von einer langen Tafel erhoben sich die Herren und
Damen, welche sich bis jetzt unter heiteren Gesprächen
die Zeit vertrieben hatten, und näherten sich der
Gesellschaft der Gaukler.
»Geben Sie acht, Miß Petersen,« sagte ein junger Herr
zu einer Dame, »Sie werden einer Zaubervorstellung beiwohnen, wie sie eine solche für alles Gold der Welt weder
in Europa, noch in Amerika von einem Professor der
Magie vorgeführt bekommen können. Gaukler treiben
sich zwar in ganz Indien umher, aber die aus der Gegend
von Madras sind die berühmtesten; sie gleichen selbst
den Schlangen, welche sie abrichten.
»Wenn dies eine ebensolche Vorstellung wird, wie ich
sie schon einmal mit ansah, so werden Sie wunderbare
Dinge zu sehen bekommen.«
»Und Sie, Miß Thomson,« bemerkte ein Herr zu einer
anderen Dame, »geben Sie acht, daß der Zauberer nicht
etwas in seinen Rockärmel verschwinden läßt und es mir
dann aus der Nase holt.«
Die Dame lachte laut auf, denn jene braunen Burschen
dort waren nicht einmal im Besitze eines Hemdes, in
dem sie etwas verbergen konnten.
Bald hatte sich um die Gaukler ein großer Kreis
von Zuschauern gebildet; die Musikanten hörten
einen Augenblick in der Bearbeitung ihrer greulichen
Instrumente auf und begannen dann wieder mit großer
Gewalt, bis sie plötzlich mit einem mißtönenden Akkord
kurz abbrachen. In die Mitte des Kreises trat ein Mann,
der in jeder Hand eine Holzplatte hielt.
Der kleine, wunderbar zierliche und doch muskulöse
Indier, der überhaupt während der ganzen Vorstellung
den Erklärer machte, setzte in fließendem Englisch auseinander, daß er mit einer Anziehungskraft ausgestattet sei, der zufolge alle hölzernen Gegenstände an ihm
haften blieben, wenn er es wolle; den Beweis werde er
an diesen beiden Holzplatten liefern.
»Alte Sachen,« meinte Charles, betrachtete aber ebenso
wie die anderen eine der Platten. Sie waren ziemlich
groß, die eine Seite rauh, die andere aber spiegelglatt
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und poliert.
Der Indier ließ seine Fußsohlen besichtigen, um
zu zeigen, daß er keinen klebrigen Stoff daran habe.
Dann legte er die Platten auf den Boden, trat darauf
und begann unter den Klängen der Trommeln und
Tamburins einen grotesken Tanz, ohne daß sich die
Tafeln dabei gehoben hätten, da aber klatschte er in die
Hände, und wie durch Zauber blieben die Holzplatten
plötzlich an den nackten Füßen hängen. Er sprang
meterhoch, stampfte auf, überschlug sich, nichts konnte
ihre Lage verändern. Ja, er ließ sich sogar von seinen
Gefährten festhalten und die Zuschauer an den Tafeln
ziehen – sie waren wie an die Füße genagelt. Er ging
nach der Mitte des Platzes zurück, hob ein Bein hoch,
klatschte in die Hände, und das Holz fiel wieder vom
Fuße ab, dann ebenso das andere. Kurz, er konnte nach
Belieben die Platten an die Sohlen heften und wieder
fallen lassen.
»Wie geht das zu?« fragte Ellen den Lord Harrlington.
»Es ist dies die Produktion, welche jede Vorstelluug
einleitet, ebenso wie der Zauberkünstler bei uns zuerst
seine Handschuhe verschwinden läßt. Der Indier dort,
kann seine Fußballen hohl machen, dadurch wird, wenn
er auf den glatten Hölzern steht, ein luftleerer Raum
erzeugt, und die Platten bleiben haften.«
Der Gaukler ging nach den Körben, um sich zu seiner
nächsten Produktion vorzubereiten, und zwei andere
füllten die Zwischenpause mit ihren Leistungen aus.
Auf die Schulter eines Mannes von riesigen Umrissen
stellte sich ein kleinerer von schmächtiger Gestalt, und
beide begannen ein Spiel mit vierundzwanzig kupfernen
Kugeln, welche sie in der Luft allerlei Figuren beschreiben ließen. Dann stellte sich der Oberste auf, den Kopf
seines lebendigen Piedestals, dasselbe beugte sich mehr
und mehr, während jener nach unten glitt, bis er selbst
auf dem Kopfe stand und der Kleine auf jenes Füßen;
das alles geschah, ohne das Kugelspiel dabei zu unterbrechen. Ebenso richtete sich der Große wieder auf,
und der Kleine stellte sich mit dem Kopfe auf den des
Partners, ohne sich dabei mit den Händen festzuhalten, denn diese mußten unausgesetzt die vierundzwanzig Kugeln treiben. Ein Bravorufen belohnte diese fabelhafte Geschicklichkeit.
Jetzt kam der erste Indier wieder mit einem irdenen
SPRACHRAUM
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SPRACHRAUM
Krug, den er von Hand zu Hand wandern ließ, damit
sich alle überzeugten, daß es nur ein ganz gewöhnlicher,
gebrannter Lehmtopf sei. Als er ihn zurückbekam, bog
er sofort den Kopf zur Seite und goß sich aus demselben
Topf, der völlig leer gewesen war, Wasser erst in das eine
Ohr, dann in das andere und spie es durch den Mund
wieder aus. Er kehrte den Topf um, setzte ihn wieder anf
die Erde und murmelte einen Spruch, und siehe da, er
konnte abermals einen Wasserschwall ausgießen. Dann
schüttete er vor den Augen der Zuschauer aus einem
anderen Topf Wasser in den ersteren, nahm diesen auf,
stülpte ihn um – aber kein Tropfen floß heraus. Er zerschlug den Topf und ließ die völlig trockenen Scherben
herumgehen.
»Können Sie dies erklären?« fragte Ellen.
»Nein,« entgegnete Harrlington, »ich habe es wohl
öfters schon gesehen, weiß aber nicht, welcher Handgriffe
sich der Gaukler dabei bedient.«
Der Indier ging nach dem Wagen und kam mit einem
hohen Korb zurück, hinter sich einen alten, entsetzlich
mageren Hund am Stricke ziehend.
Er stülpte den Korb über den Hund, welcher ganz
von demselben bedeckt wurde, murmelte einen Spruch,
und sofort ertönte das helle Quieken eines Schweines.
Als er den Korb emporhob, war an Stelle des Hundes ein
Ferkel sichtbar. Rufe der Verwunderung brachen unter
den Zuschauern aus, denen dieses Kunststück neu war.
Diejenigen, welche schon längere Zeit in Indien lebten,
hatten es wohl bereits gesehen, aber erklären konnte es
niemand, denn diese indischen Gaukler verraten ihre
Geheimnisse um keinen Preis.
»Passen Sie auf, Miß Thomson,« meinte Charles zu
seiner Nachbarin, »das nächste Mal erscheint das Ferkel
gebraten.«
Der Indier bedeckte wieder das Ferkel, ein quiekendes Zetergeschrei ward unter dem Korbe hörbar, und
als sich derselbe hob, lag das Schweinchen mit durchschnittener Kehle da. Man sah, wie aus dem Halse noch
das rauchende Blut floß.
»Ach so,« sagte Charles, »ehe man es bratet, muß es
ja erst totgemacht werden.«
»Aber wie kommt das nur?« fragte Miß Thomson
ihren Begleiter. »Kann denn dieser Mann wirklich
zaubern?«
Wasser-Prawda | Juni 2015
»Ich weiß es, aber ich sage es Ihnen nicht,« entgegnete Charles, »sonst zaubern Sie mir auch meinen Tabak
aus der Tasche.«
Miß Thomson verstand ihn nicht, sie fragte ihn auch
nicht weiter, denn schon stülpte der Gaukler abermals
den Korb über das tote Ferkel, hob ihn alsbald, und der
magere Hund stand wieder lebendig da.
»Meine Herrschaften,« sagte der Inder, »diese bisher
gezeigten Kunststücke werden Sie auch von anderen
Gauklern gesehen haben, aber nicht das, was ich Ihnen
jetzt vorführen werde. Ich, meine Diener, wir alle sind
in der glücklichen Lage, keiner Speise mehr zu bedürfen, denn dieser Zauberkorb macht alle Nahrung überflüssig. Wir legen uns einfach darunter, und stehen wir
nach einer Minute wieder auf, so ist selbst der hungrigste Magen bis zum Platzen gefüllt mit den leckersten
Sachen. Da ich jetzt keinen Hunger habe, werde ich die
Zauberkraft des Korbes an diesem Hunde beweisen.«
»Thut ihm auch sehr nötig,« brummte Lord Hastings,
der um Haupteslänge unter den Zuschauern hervorragte.
Der Gaukler hob den Korb empor, und ein allgemeines Erstaunen bemächtigte sich der Zusehenden. Der
Hund stand noch da, es war unbedingt derselbe, aber
er war jetzt rund wie eine Kugel.
»Warum steckt er denn nicht seinen Gaul einmal darunter, dem könnte so eine Kur auch nichts schaden,«
meinte Hastings, welcher der einzige war, den dieses
Kunststück nicht in Extase versetzte, und wies nach
dem klappernden Wagenpferd des Indiers.
»Das geht nicht unter den Korb,« entgegnete Charles,
»sonst könnten Sie sich auch ‚mal drunter setzen und
sich einen Kopf kleiner machen lassen.«
Beim nächsten Ueberdecken schrumpfte der Hund zu
seiner ursprünglichen Gestalt zusammen. Jetzt brachte
der vorige starke Hindu einen sargähnlichen Korb und
setzte ihn in die Mitte des Kreises. Dann wurde der Mann
von seinem Meister an Händen und Füßen gebunden,
in ein engmaschiges Netz gewickelt und in den Korb
gelegt, der ihn eben aufnehmen konnte. Nachdem der
kleine Indier den Deckel geschlossen hatte, erzählte er
der Gesellschaft, daß dieser Mann ein großer Verbrecher
sei, der unbedingt sterben müsse, nahm einen Säbel und
führte einen Hieb nach dem Korbe aus, stach auch noch
einige Male tief hinein. Sofort quoll ein roter Strom von
SPRACHRAUM
Blut hervor.
»Lebet wohl, ich bin unschuldig getötet worden!« rief
eine Stimme aus den Lüften.
Unwillkürlich richteten sich aller Augen nach oben.
»Seine Seele ist entflohen, nun wollen wir den toten
Körper begraben,« sagte der Indier und öff nete den
Korbdeckel. Da aber sprang munter und unversehrt,
der Banden ledig, der Mann heraus. Das Netz lag aufgewickelt in einer Ecke des Korbes, ebenso die Stricke.
Wie sich dieser große Mensch, der gerade in den
Behälter hineinging, nicht nur freimachen, sondern
auch noch dem Säbelhiebe und den Stichen ausweichen konnte, war allen ein Rätsel.
Charles fühlte sich leise am Arme berührt. Er drehte
sich um und schaute in das treuherzige Gesicht von
Claus Uhlenhorst, der, ebenso wie Kapitän Hoffmann,
sich der Gesellschaft angeschlossen hatte.
»Nun kann ich mir erklären, wie sich unser Fakir
zweimal befreit hat,« flüsterte der verkleidete Detektiv,
»bei diesen Gauklern gehe ich noch einmal in die Lehre.«
»In etwas sind Sie denselben doch über,« entgegnete
Charles ebenso leise.
»In was?«
»Im Stehlen.«
»Hoho,« lachte der Detektive, »ich kann auch noch
verschiedenes andere, was mir niemand nachmacht.«
»Köpfe abschneiden und wieder anleimen.«
»Seien Sie stille, sonst schneide ich den Ihren ab und
setze ihn nicht wieder drauf.«
Er entfernte sich und mischte sich unter die Zuschauer,
welche die Gegenstände des Zauberers untersuchten.
»Wann fängt denn nun die Schlangenbeschwörung
an?« fragte Ellen. »Die Sonne will schon untergehen.«
»Diese Vorstellung wird stets bis zuletzt aufgehoben,«
erklärte Harrlington, »die Schlangen werden erst dazu
vorbereitet.«
»Wie das?«
»Diese Gaukler verwenden bei den Schlangentänzen
die Brillenschlange, das giftigste Reptil Indiens. Um
nun doch einmal sicher zu gehen, reizen sie vor der
Vorstellung die Tiere heftig, bis diese vor Wut zu wiederholten Malen in einen vorgehaltenen Lappen beißen,
und so erst das Gift ausspritzen.«
»Ich glaubte, man bräche ihnen überhaupt die
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Giftzähne aus.«
»Nur denen, welche bei Kunststücken angegriffen werden. Aber geschickte Gaukler, wie dieser einer
zu sein scheint, unterlassen auch dies und lassen die
Schlangen, welche tanzen sollen, nur einmal vorher
in ein Tuch beißen. Je wagehalsiger er mit den giftigen Tieren umgeht, desto größer ist der Ruhm des
Schlangenbändigers, und darnach strebt er, wie jeder
andere Mensch.«
»Ein gefährliches Handwerk,« meinte Ellen.
Der Gaukler gab noch einige seiner Kunststücke zum
besten: er ließ aus einer enghalsigen Steinflasche, in der
kaum ein Huhn Platz hatte, zwölf Tauben herausfliegen,
warf drei Kugeln in die Luft, welche spurlos verschwanden und erst auf Kommando auf einen bestimmten Ort
des Platzes niedergesaust kamen, u.s.w. alles Sachen, wie
man sie in den Häfen Vorderindiens täglich ausgeführt
sehen kann.
Welche wunderbare Geschicklichkeit der indische
Jongleur im Balancieren besitzt, mag nur ein Beispiel
zeigen. Er setzt eine lange Leiter senkrecht auf den
Boden, ohne sie irgendwo zu stützen, klettert hinauf,
stellt sich auf die oberste Sprosse und beginnt ein
Kugelspiel, wobei er also außer sich selbst noch die Leiter
im Gleichgewicht zu erhalten hat.
Ein Kunststück erregte bei den Zuschauern sowohl
Bewunderung, wie Grausen. Der größte Hindu nahm
eine Bambusstange, an deren vorderem Ende ein sehr
schweres, spitzes Stahlstück mit Widerhaken lose aufgesetzt war, und schleuderte diese Lanze mit riesiger
Kraft in die Luft. Als sie den höchsten Punkt erreicht
hatte, drehte sie sich um, die Stahlspitze löste sich ab
und sauste mit ungeheurer Schnelligkeit nach unten,
während das Bambusrohr langsam nachgeschwirrt kam.
Der Indier verfolgte den Lauf der Lanze, stellte sich
einige Schritte weiter nach rechts und senkte sofort,
als die Spitze abfiel, den Kopf zu Boden. Im nächsten Augenblick stürzte das Stahlstück herab und riß
ihm ein kleines Stück Zeug aus dem Turban. Nur um
einen einzigen Zoll sollte er sich geirrt haben, und der
Stahl wäre ihm durch den Kopf geschlagen, aber diese
Gaukler berechnen die Flugbahn des Geschosses mit
einer solchen Kaltblütigkeit und Sicherheit, daß man
nie von einem Unglücksfall hört.
Wasser-Prawda | Juni 2015
76
SPRACHRAUM
Endlich wurden die Vorbereitungen zum
Schlangentanz getroffen.
Einige der Leute trugen einen zugedeckten Korb
in die Mitte des Kreises und hielten den Deckel zu,
während der kleine Indier in kurzen Worten die
Gefährlichkeit der Brillenschlange schilderte, und zwar
ohne Uebertreibung. Ein Biß von ihr, sagte er, tötet den
Menschen innerhalb einer, den stärksten Ochsen in zwei
Minuten, kleinere Tiere in einigen Sekunden, und zwar
ist er absolut tödlich; denn selten einmal gelingt es, den
Gebissenen, in dessen Blut das Gift bereits übergegangen ist, zu retten. Allerdings besitzen die Eingeborenen
Indiens Mittel, um den Biß der Brillenschlange, wie sie
sagen, unschädlich zu machen, hauptsächlich Kräuter;
wirken diese aber nicht, so schieben sie die Schuld
nicht dem Mittel, sondern bösen Geistern zu, welche
die Rettung dieses Menschen nicht haben wollen. Eines
der besten derartigen Mittel ist der Schlangenstein,
ein poröser Stein, der an die Bißwunde gelegt wird
und das noch nicht tief eingedrungene Gift aussaugt
und eine Gegenwirkung auf dieses ausübt. Diese
Schlangensteine sind aber äußerst selten. Der Besitzer
eines solchen hütet ihn wie einen Schatz, und daher
werden von den Schlangenbeschwörern andere Steine
als echte verkauft, welche sich zwar auch an der Wunde
festsaugen, ohne aber eine Vergiftung abzuwenden.
Nur der Schlangenbeschwörer selbst kann den echten
Schlangenstein von einer Imitation unterscheiden.
Jetzt setzte sich der Indier mit gekreuzten Beinen
auf den Boden nieder und begann auf einer Art
Dudelsackpfeife eine eintönige, schwermütige Weise
zu spielen. Nach einigen Minuten fi ng der Deckel
des Korbes an, sich zu bewegen, er klappte mehrmals auf und nieder, bis zuletzt der kleine Kopf einer
Brillenschlange mit den funkelnden Augen herauslugte.
Immer weiter kroch sie heraus, der schildartige Hals
wurde sichtbar, dann folgte der ganze Körper, bis sie
endlich völlig aus dem Korbe war, und nun, die Augen
unverwandt auf den Spielenden gerichtet, die gespaltene
Zunge in fortwährend spielender Bewegung haltend,
auf den Mann zukroch. Ihr folgten nach und nach fünf
der einen bis einundeinenhalben Meter langen Tiere.
Als sich alle um den Gaukler geschart hatten, begann
dieser plötzlich eine raschere Melodie zu spielen und
Wasser-Prawda | Juni 2015
wiegte sich taktmäßig hin und her. Sofort richteten sich
die Schlangen hoch empor, bis sie auf den umgebogenen Schwänzen standen, bliesen den Hals bis zur vollen
Weite auf und ahmten, den Blick immer starr auf die
Augen des Indiers gerichtet, dessen Bewegungen nach,
das heißt, sie wiegten sich ebenso hin und her. Nach
einiger Zeit erklang wieder eine klagende Melodie,
die Schlangen sanken zusammen; die Dudelsackpfeife
gab sonderbar lockende Töne von sich, und die Tiere
näherten sich dem Indier, krochen an seinem Körper
empor, schlangen sich um seine Arme, um seinen Hals,
schmiegten zärtlich den Kopf an die spielende Hand,
an das Gesicht und bezüngelten es.
»Ein grauenerregendes Schauspiel,« sagte Miß
Thomson. »Ich bin froh, daß mein Vater mich nicht als
Schlangenbändiger hat lernen lassen,« meinte Charles,
»ich wäre wahrhaftig aus der Lehre gelaufen. Viel lieber
wäre es mir, wenn ...
SPRACHRAUM
»Was ist denn das?« unterbrach er sich plötzlich. »Was
krabbelt mir denn zwischen den Beinen herum?«
Er bückte sich, um das Ding näher zu betrachten, da
stieß die Dame neben ihm einen schwachen Wehruf
aus, und Charles schrie vor Entsetzen laut auf – an ihrer
Hand hing ein meterlanges Reptil, eine Brillenschlange.
Ein furchtbares Gedränge entstand, die Zuschauer
stoben auseinander, der Ruf: »Eine Schlange ist entschlüpft!« jagte sie, wie von Furien gepeitscht, davon,
die Indier sprangen nach der Stelle, woher der Schrei
kam, und hemmten so die Fliehenden, während der
Schlangenbändiger sich erst von den Schlangen freimachen mußte. Ellen war die erste, welche den
Unglücksplatz erreichte. Da lag ihre Freundin auf dem
Rücken, das Gesicht und die Lippen schon blau und die
Augen gläsern. Neben ihr kniete Charles und saugte mit
aller Kraft an der Wunde, um das Gift zu entfernen,
während er noch mit der Hand den Hals der Schlange
gepackt hielt, die sich mit krampfhaften Bewegungen
um seinen Arm wand. Ratlos blickte Ellen den herbeieilenden Harrlington an, der im Laufen das Messer
aufklappte, aber ehe er noch die Stelle erreichte, sprang
schon ein junger Indier hinzu, ergriff die Schlange beim
Schwanze und riß sie Charles mit einem Rucke aus der
Hand. Sausend flog das Reptil durch die Luft und lag
mit zerschmettertem Kopf auf der Erde.
»Es ist zu spät!« schrie Harrlington. »Wo ist der
Bändiger?«
Der junge Indier, der eben die Schlange getötet,
drängte Charles mit Gewalt von dem Mädchen weg.
»Was willst du thun?« rief Charles außer sich, als er wie
ein Kind zur Seite geschoben wurde. Er sprang auf und
schien Lust zu haben, den Hindu zu Boden zu schlagen,
der ruhig in ein am Gürtel hängendes Täschchen griff.
»Laßt ihn,« sagte aber der Gaukler, der seine Schlangen
im Korbe untergebracht hatte und jetzt herzukam, »nur
er kann helfen; das Mädchen wird gerettet.«
Der fremde Indier, der nicht zu der Gesellschaft des
Gauklers gehörte, nahm einen kleinen Stein aus dem
Täschchen und legte ihn an die Wunde der Hand, wo
er sofort hängen blieb und sich immer mehr anschloß.
Atemlos harrten die Umstehenden des Ergebnisses.
»Zwei Minuten sind vorbei,« sagte Harrlington leise,
»und der Tod ist noch nicht eingetreten.«
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Der Indier schüttelte lächelnd das Haupt.
»Die Miß wird nicht sterben,« sagte er mit scharfer
Betonung.
Noch war keine Minute verstrichen, als die blaue
Farbe im Gesicht einer fahlen Blässe Platz machte; der
erst fast gar nicht mehr fühlbare Puls fing wieder an
zu schlagen, und die Brust hob und senkte sich wieder
gleichmäßig. Mit einem Male fiel der Stein von selbst ab
und wurde von seinem Besitzer aufgehoben und wieder
eingesteckt.
»Sie kann selbst nach Hause gehen,« sagte der Indier,
»aber mein Stein hätte nicht mehr geholfen, wenn nicht
dieser gleich das Gift ausgesaugt hätte.« Er wies dabei auf
Charles. Während die Herren und Damen das völlige
Erwachen des Mädchens aus ihrer Betäubung abwarteten, wendete sich der junge Indier an den Gaukler, der
mit zerknirschter Miene zugeschaut hatte.
»War die Schlange eine der deinigen?« fragte er ihn.
»Sie war es,« erwiderte der Gaukler ganz bestürzt.
»Ist sie aus deinem Korbe entwischt?«
»Nein, aus einem Korbe mit Schlangen, die nicht
gebraucht wurden.«
»Wer sollte diese beobachten?«
»Der Mann ist geflohen?«
»Wer war es?«
Der Gaukler schwieg, sichtlich verlegen.
»Wer war es, kennst du ihn nicht?«
»Nein, es war ein fremder Hindu,« stammelte der
Gaukler endlich.
»Wie?« fuhr der junge Inder auf. »Du hast einen
Fremden angenommen? Kennst du meine Befehle nicht?
Lieferst du ihn mir bis morgen Mitternacht nicht aus,
so triff t dich seine Strafe.«
Er wendete sich kurz ab und ging.
Ellen hatte die Unterhaltung, welche auf indisch
geführt worden war, nicht verstanden, aber das befehlende Auftreten des jungen Hindu war ihr aufgefallen.
Sie blickte der graziösen Gestalt, die mit elastischen
Schritten davonging, so lange nach, bis sie dieselbe aus
den Augen verlor.
»Wer war das?« fragte sie den Gaukler, welcher dem
noch immer liegenden Mädchen etwas Branntwein
einflößte.
»Mukthar heißt er.« antwortete er kurz.
Wasser-Prawda | Juni 2015
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SPRACHRAUM
»Mukthar, der Schlangenkönig?« rief Ellen erstaunt.
Der Hindu hielt plötzlich in seiner Beschäftigung
inne und blickte überrascht auf. »Woher kennst du ihn?«
fragte er.
»So ist er es wirklich? Schade, daß ich ihn nicht gleich
gesprochen habe. Doch nein, besser so,« fügte sie nachdenklich hinzu. »Er ist nicht der König der Gaukler
selbst, sondern nur dessen Sohn,« sagte der Hindu und
setzte seine Bemühungen um Miß Thomson fort. Bald
kam ein Wagen, nm das fast wiederhergestellte, aber
noch schwache Mädchen, das nicht sprechen konnte,
nach dem Hotel zu bringen, wohin Ellen es begleiten
wollte. Ehe sie in den Wagen stieg, drehte sie sich um,
gab Charles die Hand und sagte:
»Ich danke Ihnen vorläufig im Namen von
Miß Thomson für Ihre Hilfe. Wenn Sie nicht die
Geistesgegenwart und Thatkraft gehabt hätten, so
würden wir jetzt –«
Sie brach schnell ab und stieg ein.
»Geistesgegenwart? Thatkraft?« wiederholte Charles,
als der Wagen davonfuhr. »Lord Hastings, schreiben Sie
das auf, und lernen Sie das auswendig, damit Sie mich
nicht mehr einen unnützen Menschen nennen! Zum
Teufel, Uhlenhorst,« fuhr er den neben ihm stehenden
Steuermann an, der seiner Pfeife dicke Dampfwolken
entlockte, »Sie rauchen ja einen ganz pestilenzialisch
stinkenden Tabak.« Und Charles mußte sich mehrmals
mit dem Tuche über die Augen fahren.
»Meine Herren,« nahm Lord Harrlington das Wort,
»Miß Petersen ladet uns zu morgen früh ein, mit den
Damen einen Ritt zu Pferd in die Gegend von Madras
zu machen,«
»Hm, hm,« brummte Hastings, »wieder so ein
Jagdausflug mit Geparden? Zum zweiten Male lasse ich
mich nicht gefangen nehmen, auch bade ich mich nicht
gern in Kleidern.«
»Es soll nicht weit sein, etwa eine Stunde zu Pferd.
Miß Petersen scheint ein Geheimnis daraus zu machen.«
»Na ja,« meinte aber der mißtrauische Hastings,
»gerade wie damals. Erst sahen wir zu, wie gejagt
wurde, dann jagten wir, und schließlich wurden wir
selbst gejagt?«
»Esel!« bemerkte Charles. »Wir schließen uns an
und nehmen zur Vorsicht Badehosen mit. Was mag
Wasser-Prawda | Juni 2015
indessen Miß Ellen vorhaben?« wandte er sich fragend
an Uhlenhorst.
»Sie schleppt doch immer ein Mädchen mit sich ‚rum,
das damals Herr Hoffmann zugleich mit Lucille nachbrachte, nicht wahr?« antwortete der Gefragte.
»Ja,« sagte Charles,»und was ist mit diesem?«
»Das soll gewiß abgeladen werden.«
»Ach so, das könnte allerdings sein. Aber ich finde,
lieber Uhlenhorst, Sie haben eine wunderbar zarte
Ausdrucksweise: rumschleppen und abladen – wirklich sehr schön!«
»Und ich finde, Sir Williams,« entgegnete der Detektiv,
»Sie lecken immerwährend mit der Zunge die Lippen
ab. Schmeckt das Schlangengift so gut?«
Charles konnte ein leichtes Erröten nicht unterdrücken.
»Na, na, Sie brauchen nicht gleich rot zu werden,«
sagte der Detektiv trocken, »ich bin früher auch einmal
jung gewesen.«
»Sie,« rief Charles entrüstet. »Wie alt sind Sie denn
eigentlich? Fünfundzwanzig Jahre, he?«
»Das auszurechnen ist ein schwieriges Kunststück.
Neulich war ich vierzig Jahre alt, dann wieder dreißig,
ungefähr fünfunddreißig, das macht allein schon hundertundfünf Jahre.«
»Nun hören Sie aber auf,« unterbrach Charles den
Detektiven, der heute gerade recht gut aufgelegt war.
»Uebrigens schulden Sie mir noch für den Tabak, den
sie mir gestohlen haben,«
»Dafür war doch ein Taschentuch im Beutel.«
»Das war ja mein eigenes.«
»Na, glauben Sie etwa, ich werde Ihnen meines hineinstopfen? Sie können den Tabak von den hundert
Pfund abziehen, die Sie mir für die Wette schulden.«
»An« rief Charles und kratzte sich hinter den Ohren,
»an die habe ich gar nicht mehr gedacht.«
»Oder bezahlen Sie hier einmal ein Glas Bier, das ist
mir ebenso lieb,« meinte der Detektiv und schleppte
Charles in eine Restauration.
»Finden Sie nicht auch,« sagte der Detektiv, als beide
am Tisch saßen, »daß dieser Gaukler ein recht dummer
Kerl war?« »Wieso?«
»Wenn ich so einen Topf hätte, der immer voll bleibt,
wenn ich nur einmal etwas hineingieße, dann hätte ich
ihn doch nicht mit Wasser, sondern mit Bier gefüllt.«
ENGLISH
79
Willie Lee „Piano Red“ Perryman (Foto: Tony Paris Archives)
D R . F E E LG OOD & FE E LI NG
GOOD GOOD GOOD
DARREN WEALES 16TH LETTER FROM THE UK
Lately I’ve gotten into listening to a BBC Radio
London DJ named Jo Good. Her surname sparked
off some thoughts about music and feeling good and
where the word good crops up.
One lovely connection is between Piano Red, the
American humourist and Blues-boogie pianist
and British Pub Rock band, Dr Feelgood. Red was
known as Dr Feelgood, and the band named them-
selves after him. Hear his song Dr Feel-good here.
Johnny Kidd and the Pirates covered the song too –
listen here.
In that song Dr Feel-good, Piano Red cheerfully
uses the words Good Good Good as a refrain, hence
the choice of blog title. The way he sings the words
doesn’t suggest the use of commas, so they’re not
used here. The record for use of the word good in a
Wasser-Prawda | Juni 2015
80
ENGLISH
song recently must go to American Mavis Staples, who recently
played both Glastonbury and the
Clapham Grand. In one of her
vocally supercharged she sings
‘Good God, Good God, Good
God Almighty, Good God’.
Jools Holland recently said on
his Later… with Jools Holland
TV show that the late BB King’s
songs always made him feel good.
Jo Good herself on her show
referred to music making her feel
good. Georgie Fame on a recent
appearance in Kent said “The
Blues doesn’t have to be miserable” and proceeded to make the
audience feel good.
A series of American bands have
been in the UK lately making British listeners feel good. The Billy
Walton Band from New Jersey
toured extensively and departed
until January, as did Hamilton
Loomis, but others, like Mud
Morganfield and Debbie Bond are
either popping across the Atlantic with some frequency or still
touring. Debbie certainly is, and
she is a good good good, upbeat
Blues lady. Her tour continues at
time of writing and we came across her tour press release. Debbie
has done a lot for Alabama Blues
so it is good to feature. Lil’ Jimmy
Reed is another American touring
at time of writing.
There are so many feelgood Blues
acts to see. If American Mick
Kolassa, who produced a stonking
album named Mississippi Mick,
ever comes to the UK, he’ll make
people feel good. British act Red
Wasser-Prawda | Juni 2015
Butler, who recently toured with
Billy Walton, are bright and upbeat. Seeing the two acts bounce
up and down together on a small
stage for an encore at the Prince
Albert in Brighton recently certainly showed that. The Original
Blues Brothers Band still tours,
and anyone has heard Steve Cropper hit the opening notes of Soul
Man will understand what a blast
they can be. The Royal Southern
Brotherhood, also on tour now,
produce a gumbo of sound, rich
and tasty. Those are a few examples. Certainly, the Blues has many
a band with guitarists who like to
flay the ears, and solo guitar folk
capable of making you weep into
your beer, but in between there is
an array of performers who exist
to take away your personal load
of Blues, not add to them. Many
appear on the numerous shows of
the Independent British Broadcasters Association on FM, inter-
net stream and podcast – here.
So, get out and see some live
British of overseas touring Blues
performers, and feel good. After
all, the Blues doesn’t have to be
miserable. It can make you feel
good good good.
Debbie Bond & Shar Baby (Foto: Robin McDonald)
ENGLISH
81
Selwyn Birchwood
CO GNA C BLUE S PA S S I ON 2015
BY IAIN PATIENCE, PICTURES BY JANET PATIENCE
Cognac Blues
Passions is easily
one of France‘s
most important
annual blues
events. In many
eyes, the premiere
event in the country.
This year, the 22nd,
the legendary, late Arthur Blake,
Birchwood has spent the past few
years almost constantly on the road
with a storming
in the USA and Europe with the
venues growing bigger, like his repuset from leading
tation, each time. Introduced to the
young US bluesman music and coached and nurtured by
Sonny Rhodes, he is now reaping the
Selwyn Birchwood
benefits of a growing reputation for
delivering cool, modern sassy blues
and his band.
Birchwood pretty well swept the and a rewarding recording deal with
board back in 2013 at the IBA in Chicago‘s Alligator Records.
Memphis where he picked up the He confirms that things have moved
Albert Collings Guitarist award fast for him since his IBA success
as well as a band award for his and is clearly loving every minute
efforts. From Florida, the home of of his time on the road, now playing
opened at Jarnac
Wasser-Prawda | Juni 2015
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should close the show after a lengthy
set of both new and old, standard
soul-blues material. For an encore he
had the by now huge crowd singing
alongside him with the gospel track
‚Amen‘ segueing seamlessly into
Steve Cropper‘s solid-gold classic
‚Dock Of The Bay‘ - a formidable
hit for another great Otis back in the
day and the perfect closer to a night
of great music.
Otis Clay
bigger festivals and larger crowds.
His opening set at Cognac introduced him to many new fans with
a range of blues standards together
with an emphasis on his highly regarded current release ‚Don‘t Call No
Ambulance‘. As usual, he reached for
his small laptop slide guitar to close
the gig - probably the finest part of
his show, for me at least.
Folowing Bichwood‘s blazing heels
came a very fine Canadian singer
Shakura S‘Aida. A classy lady with a
voice to match, she strutted her stuff
to an ever-increasing crowd. Her
glitzy, glamourous look appealing
to most, her soulful, jazzy, smokey-blues voice ripped the place up,
gaining her a well-deserved avalanche of applause at the close of her
hot, steamy hour-long set.
To close the night, one of the USA‘s
true heavy hitters took to the stage
and showed everyone what years of
experience brings to the table. Otis
Clay may be in his seventies these
days but his voice remains vibrant,
strong and pure soul-velvet. Backed
by a simply superb ten-piece band
including Horns, Guitar, two sets of
Wasser-Prawda | Juni 2015
Keys , Drums - here played by Rodd
Bland, son of the late Bobby Blue
Bland (a guy Otis joked to me ‚who
was born on the tour bus!) - Bass
and that old, now seldom seen, scorching blues/soul-lady chorus - provided by his three ‚soul-girls‘, Clay was
truly marvellous. He showed simply
and expertly how quality comes
from experience and a passion for the
music. It was only fitting that Clay
Shakura S‘Aida