Tutwiler - Dallas - Michigan: 100 Jahre Blues? - Wasser

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Tutwiler - Dallas - Michigan: 100 Jahre Blues? - Wasser
Magazin
Wasser Prawda
Tutwiler - Dallas - Michigan:
100 Jahre Blues?
Louisiana Red (1932-2012)
Greg Nagy: Michigan Blues
David Foster Wallace
Der Sieg der Depressiven oder: Ein wunderschöner Weltuntergang
w w w. f r e i r a u m - ve r l a g. d e
i n f o @ f r e i r a u m - ve r l a g e. d e
G ü t z kowe r S t r a ß e 8 3 1 7 4 8 9 G r e i f s wa l d
Te l . : 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Fa x 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4
Unsere Leser empfehlen:
Greg Nagy - Fell Toward None
Wer angesichts solch großartiger Songs
noch der Meinung ist, dass Blues heute
keine zeitgemäße Musik sei, der muss von
Blind- und vor allem: Taubheit befallen
sein. Wer azf der Suche ist nach einem
Sänger und Gitarristen, der im Blues seine
ganz eigene Stimme gefunden hat - hier
kann er bedenkenlos zugreifen.
Henning Pertiet:
Masterpieces Vol. 1
(Stormy Monday)
Immer wieder überrascht einen Pertiet:
So kommt dann nach dem frisch gerockten Honky Tonk Train Blues von Meade
Lux Lewis ein Ausflug in die abstrakten
Klangwelten von Theolonius Monk.
Ray Bailey - Cruisin‘
For A Bluesin‘ (Tondef )
Cruisin For A Bluesin von dem kalifornischen Gitarristen Ray Bailey ist nur
bedingt ein Bluesalbum für entspanntes
Cruisen durch die kalifornische Sonne.
Die elf Songs drehen sich viel häufiger
um harte Schicksalsschläge und die Unfairness des Lebens überhaupt.
Cologne Blues Club
Our Streets (pepper
cake/ZYX)
Eine wirklich beeindruckende Scheibe
haben die fünf Kölner da abgelegt. Völlig zu Recht wurden sie von den Lesern
unseres Magazins auf Platz 2 der besten
elektrischen Bluesalben (national) gewählt.
Editorial
te als erster je veröffentlichter Blues. Seither ist
diese Musik überall in der Welt zu hören. Jedenfalls, wenn man sich Mühe gibt. Denn eigentlich
scheinen die Medien ja kaum mehr etwas für diese Wurzel der gesamten westeuropäischen Popmusik mehr übrig zu haben. Eine gute Nachricht
für den Blues gab es in den letzten Wochen: Für
ihre „Erfindung“ des American Folk Blues Festivals werden Horst Lippmann (1927-1997) und
Fritz Rau Anfang Mai in die Blues Hall of Fame
aufgenommen. Für mich war das Grund genug,
mal wieder die alten Aufnahmen etwa aus dem
Berliner AMIGA-Studio 1964 mit Willie Dixon
und Hubert Sumlin zu hören und dabei gegen
einen akuten Nostalgie-Anfall zu kämpfen. Auch
wiederveröffentlichte Alben wie „Blues Mandolin Man“ von Yank Rachell oder „Lucky Man“
von Henry Gray können solche Anfälle auslösen.
Und wenn man sich dann noch durch sämtliche
im Archiv auffindlichen Platten von Louisiana
Red gehört hat, ist man für neue Platten erst mal
kaum empfänglich. Was war das damals noch
Es war wohl im März 1912, als Hart Wand in für eine lebendige Musik! Und wie nachgemacht
Oklahoma eine kleine Komposition zu Papier und lieblos klingt heute so vieles, was neu auf
brachte. Als „Dallas Blues“ gilt die Nummer heu- dem Markt erscheint.
Aber zum Glück längst nicht alles. So lange es
Inhalt
Impressum
Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Computerservice Kaufeldt Greifswald. Das pdf-Magazin wird in Zusammenarbeit mit dem freiraum-verlag
Greifswald veröffentlicht und erscheint monatlich. Es wird kostenlos
an die registrierten Leser des Online-Magazins www.wasser-prawda.de
verschickt.
Musik
Wie irrelevant ist Blues eigentlich?
4
Louisiana Red (1932-2012)
6
Hörempfehlungen 7
Nachruf von Didi Dynamite
8
Lippmann & Rau in Blues Hall of Fame
9
1912-2012 - 100 Jahre Blues?
10
Lightnin‘ Hopkins (1912-1982)
14
Greg Nagy: Michigan Blues
16
Shawn Starski18
Blindheit und Gospel19
Album des Monats: blau: - güntside
21
Rezensionen22
Klassiker neu gehört: Henry Gray, Yank Rachell
27
Redaktion:
Chefredakteur: Raimund Nitzsche (V.i.S.d.P.)
Leiter Feuilleton: Erik Münnich
Mitarbeiter dieser Ausgabe: Robert Klopitzke
Adresse:
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Gerne schicken wir Ihnen unsere aktuelle Anzeigenpreisliste und die Mediadaten für das Online-Magazin und die pdf-Ausgabe der Wasser-Prawda
zu. Anzeigenschluss für das pdf-Magazin ist jeweils der 1. Werktag des
Erscheinungs-Monats.
Die nächste Ausgabe erscheint am 19. April 2012.
Literatur
Mehr als nur unendlicher Spaß: David Foster
Wallace28
Dostojewski: Weiße Nächte30
Film
Lars von Triers wunderschöner Weltuntergang
Musiker wie den Gitarristen und Sänger Greg
Nagy - oder auch das norddeutsche Duo blau: gibt, braucht man sich eigentlich nicht wirkliche
Sorgen um den Blues zu machen. Oder doch?
Denn immer weniger tourende Musiker machen
auch Abstecher nach Deutschland. Scheinbar
trauen sich immer weniger Veranstalter, Konzerte auch mit aufstrebenden Bluesmen zu veranstalten. Nur noch bei Altstars und hochgelobten
Bluesrockgitarristen gibt es scheinbar keine Krise. Ab sofort spendieren wir aktuellen Alben und
ihren Künstlern online und hier im Magazin vier
kostenlose Werbeplätze. Wer diese erhält, bestimmen die Leser. In diesem Monat haben gewonnen: Henning Pertiet, Cologne Blues Club, Greg
Nagy und Ray Bailey. Herzlichen Glückwunsch!
Die Idee ist großartig und ein wenig größenwahnsinnig; Unser Feuilleton-Chef beginnt in
der jetzigen Ausgabe eine Artikelserie, die in den
nächsten Monaten das Gesamtwerk von David
Foster Wallace vorstellen wird.
Weltuntergangsfilme haben zur Zeit Konjunktur. Ebenso wie allgemein das apokalyptische
Untergangsgerede. Grund genug, sich die beiden
letzten Filme von Lars von Trier in diesem Zusammenhang anzuschauen.
32
Ziemlich beste Freunde: Entführung in ein vergessenes Leben 35
Roman Polanski: Der Gott des Gemetzels
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© wasser-prawda
Meinung
Will Shade
Wie irrelevant ist Blues
eigentlich?
Mit den Grammies kommen in jedem Jahr auch vom Mainstream-Radio
ignorierte Musikstile zu ein wenig Aufmerksamkeit. Jazz etwa oder Bluegrass und Folk. Der Blues allerdings ist dort fast nicht mehr zu finden. Ist
die Wurzel der gesamten westlichen Pop- und Rockmusik inzwischen nur
noch eine Fußnote für die Musikindustrie und die Medien? Unmaßgebliche
Bemerkungen von Raimund Nitzsche.
Schon vor Monaten hatten einige amerikanische
Webseiten, die über Blues schreiben, bekannt
gegeben, sich nicht mehr mit den Grammies zu
beschäftigen. Ursache war die Entscheidung des zukommen zu lassen. Versteckt in der Kategovergebenden Gremiums, in Zukunft dem Blues rie der amerikanischen Roots-Musik findet sich
nur noch eine der begehrten Auszeichnungen da der Preis für das beste Blues-Album. Vorher
4
© wasser-prawda
Musik
hatte der Blues zumindest zwei Kategorien oder
noch mehr. Ist das eigentlich angemessen, wenn
es für jeglichen Sonderfall von RnB, Pop, Videos,
Solo-, Duo,..... -performances eigene Grammies
bekommt? Nein, meinten die Bluesblogger und
Bluesmagazine. So kann man mit dieser Musik
einfach nicht umgehen. Denn so wird man der
Bedeutung des Blues für die Entstehung und
Entwicklung sowohl von Rock und Soul als
auch des zeitgenössischen RnB und Hiphop niemals gerecht. Eine solche Entscheidung ist einfach völlig ignorant und arrogant. Man könnte
sie verstehen, wenn es bei diesen hochgelobten
Musikpreisen lediglich um Verkaufszahlen ginge. Doch das ist ja nicht der Fall: Anders als der
deutsche „Echo“ sind die Grammies ein Kritikerpreis. Und wer Musikkritik betreibt dürfte so
eine Entscheidung niemals unterstützen.
Aber Blues findet halt in der medialen Öffentlichkeit nicht mehr statt. Es sind meist nur noch
Spezialisten, die darüber schreiben. Und wenn
etwa eine etablierte Tageszeitung in Chicago im
letzten Jahr eine mehrteilige Serie zur Gegenwart
und Zukunft des Blues veröffentlicht, dann ist
deren Fazit: Der Blues, so wie wir ihn kennen,
stirbt und wird höchstens noch in einer Nische
überleben wie etwa die europäische Musik des
14. Jahrhunderts. Und Schuld darin ist vor allem
das Desinteresse der Hörer.
Es sind Enthusiasten, die noch immer in dieser
Musik ihre musikalische Audsdrucksform sehen.
Und sie sind bereit, auf das schnelle und große
Geld (gibt es das in der Musik eigentlich wirklich
noch?) zu verzichten und statt dessen jahrelang
auf der Suche nach dem eigenen Ton und Stil zu
verbringen. Es sind zahllose Musiker, von denen
man außerhalb ihrer Heimatregionen kaum etwas hört, auch wenn sie selbst großartige Alben
veröffentlichen. Es sind Musiker, die jahrelang
durch Clubs und Kneipen tingeln. Und die mit
Programmen wie „Blues @ School“ Kindern
und Jugendlichen etwas über die Wurzeln der
heutigen Popmusik beibringen. Bluesmusiker,
so müsste man es eigentlich ausdrücken, sind so
etwas wie Denkmalschützer oder Restauratoren
für die bildende Kunst und Architektur. Und die
Bluesfans? Auch das ist eine spezialisierte und
kaum marktrelevante Gruppe. Zeiten, als Bluesalben auch in den Popcharts auftauchten, gab
es lange nicht mehr. Und ein neues Bluesrevival
ist nicht in Sicht. Und so haben auch Petitionen
und Proteste gegen die Grammies nichts genützt.
Schlimm auch, dass die Nominierungen für das
Bluesalbum des Jahres von einer gewaltigen Ignoranz zeugten. Es wurden Alben nominiert, die
zwar gut sind („Low Country Blues“ von Gregg
Allman beispielsweise) aber eben nicht die wirklichen und unerwarteten Glanzpunkte des Jahres. Und gewonnen hat mit „Revelations“ von
der Tedeschi Trucks Band eine Scheibe, die mit
bekannten Namen glänzt, die aber ansonsten
2011 im Vergleich höchstens gutes Mittelmaß
war. Da kann man die Grammies als Bluesfan
wirklich nur noch ignorieren. Und statt dessen
berichtet man über die Blues Music Awards oder
ähnliche Spezialpreise. Obwohl man damit leider
den Blues eben niemals aus seiner Nische heraus
bekommt.
Bessie Smith (Foto: Carl van Vechten 1936)
Blatt für Blues und verwandte Musik. Wenn der
„Rolling Stone“ mal wieder einen längeren Artikel über Bluesmusiker veröffentlicht, dann ist das
ein Tag, den man rot im Kalender anstreichen
muss. Und die Bluessendungen im Radio sind
bis auf die beim Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur eigentlich fast alle auf die Frequenzen von Offenen Kanälen und das Internet
beschränkt.
Klar gibt es in ganz Deutschland etablierte BluesClubs, die regelmäßig Konzerte veranstalten.
Doch von einer flächendeckenden Clubszene
kann man längst nicht mehr sprechen. Das hat
zur Folge, dass zahlreiche Künstler inzwischen
bei ihren Tourneen durch Europa um Deutschland einen Bogen machen. Denn immer weniger
Veranstalter können oder wollen das Risiko mit
unbekannteren Musikern eingehen.
Und was meiner Meinung nach wirklich fehlt, ist
eine deutschlandweite Organisation für Musiker,
Fans und Medienvertreter. Da gibt es mittlerweile derartigen Kleinkrieg wenn es etwa um Ehrungen wie die German Blues Awards oder um
die Teilnehmer und Sieger bei der German Blues
Wobei die Situation in Deutschland wohl noch Challenge geht, dass es einfach nur peinlich ist.
prekärer ist. Neben den etablierten „Blues-News“ Da wird gegen die Entscheidungen eines wirkgibt es eigentlich kein regelmäßig erscheinendes lich engagierten Vereins wie dem in Eutin geläs-
5
tert ohne wirklich eigene Vorschläge zur Verbesserung anzubieten. Und damit würde man sich
in der Öffentlichkeit lächerlich machen, wenn
diese sich denn für einen solchen (man verzeihe
mir den Ausdruck) Weitpisswettbewerb interessieren würde. Scheinbar gibt es nur zwei Vereine
im Lande, die bislang Mitglied in der Blues Federation sind. Und die sitzen eben komischerweise
beide in Eutin. Wie sieht es mit der Bluesszene
Berlins etwa aus? Oder mit der in NordrheinWestfalen? Gibt es da Trägervereine oder „wurstelt“ im Endeffekt jeder vor sich hin?
Wie man es schaffen kann, Blues prominent in
die Medien zu bekommen, hat vor kurzem ausgerechnet Präsident Barack Obama vorgemacht:
Nicht nur veranstaltete er eines der am besten besetzten Blueskonzerte der letzten Jahre im Weißen Haus. Nein, zu der Veranstaltung gehörten
auch Workshops für Schüler, die unter anderem
von der amerikanischen First Lady und dem
ausgewiesenen Bluesexperten Robert Santelli betreut wurden. Da kann man nur neidisch nach
Amerika blicken. Aber wahrscheinlich muss man
hierzulande wirklich erst wieder die Öffentlichkeit für den Blues interessieren. Dann klappt das
auch mit B.B. King im Kanzleramt.
PS.: Kommentare, Kritiken, Beschimpfungen
und ähnliches erreichen mich unter [email protected]
© wasser-prawda
Musik
Louisiana Red (1932-2012)
Er war ein wandelndes Vermächtnis des Mississippi-Blues. Der 1932 geborene Louisiana Red war einer der letzten überlebenden Vertreter des Blues aus
der Zeit von Muddy Waters oder John Lee Hooker. Am 25. Februar 2012 ist
er in einem Krankenhaus in Deutschland gestorben.
Seine früheste Kindheit verbrachte er in zahlreichen Waisenhäusern. Denn seine Mutter war
eine Woche nach seiner Geburt gestorben. Und
sein Vater war vom Ku Klux Klan gelyncht worden. Als er mit elf Jahren seine erste Gitarre in
der Hand hielt, wusste Louisiana Red, dass er seinen Platz in der Welt gefunden hatte.
Driver nahm ihn bei sich in Pitsburgh auf. Doch
ihr Freund hasste ihn und misshandelte ihn fast
täglich. Aber mit der Gitarre in der Hand fand er
eine Möglichkeit, sich bei all dem erlittenen Leid
auszudrücken.
Seinen ersten „Unterricht“ erhielt er von einem
Maurer - und zuerst versuchte er, Leute wie
Muddy Waters, Lightnin Hopkins oder John
Als Iverson Minter wurde er am 23. März 1932 Lee Hooker zu imitieren. Als 14jähriger spielte
in Vicksburg (Mississippi) geboren. Den Wai- er auf der Straße mit Orville Witt am einsaitigen
senhäusern entkam er erst, als seine Großmutter Bass und Frank Flovers an der Harp. Beide waren
ihn zu sich holte. Doch nach ihrem Tod ging für stadtbekannte Trinker.
ihn das harte Leben weiter, dass ihn als Blues- Noch als Teenager begann er sein Leben als wanman für immer geprägt hat. Seine Tante Corrine dernder Musiker, um der Gewalt zu Hause zu
6
entkommen. Doch als Farbiger war man damals
noch jeglicher Willkür ausgesetzt. So wurde er
für ein Verbrechen, dass er nicht begangen hatte,
zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Mit 16 Jahren trat er in die Army ein und diente in Korea.
Als er zurück kam, stellte sein Großvater ihn
Muddy Waters vor. Das Treffen führte zu Aufnahmen mit Waters und Little Walter. Doch seine erste Aufnahme wurde unter dem Namen von
Playboy Fuller auf Fullers Label veröffentlicht.
Eine Session für das Chess-Unterlabel Checker
brachte als Single „Soon One Morning“ hervor. Und für Chess entstand „Funeral Hearse At
© wasser-prawda
Musik
My Door“ mit Little Walter an der Harmonica.
Doch keine der Aufnahmen war außerhalb Chicagos wirklich erfolgreich. Und so zog er nach
Detroit, wo er vor allem mit Eddie Kirkland und
John Lee Hooker spielte und sich seinen Ruf als
Gitarrist erwarb.
tenerzähler im Blues im 20. Jahrhunderts wie
kaum ein zweiter fortsetzte: Im Traum kann er,
der farbige Musiker, den Politikern klar machen,
woran es in dieser Welt noch fehlt. Und dass man
doch vieles einfach dadurch verbessern könnte,
wenn man Musiker in die Regierung nehmen
würde.
Und um Vertragsklauseln bei den Plattenfirmen Neben eigenen Aufnahmen stand er immer wiezu umgehen trat er ähnlich wie Hooker unter der auch mit Kollegen im Studio. So spielte er
zahllosen Pseudonymen auf: Cryin‘ Red, Elmo- etwa mit dem Pianisten Roosevelt Sykes oder
re James Jr, Guitar Red, Iverson Bey, Playboy Brownie McGhee.
Fuller, Richard Lee Fuller, Rocky Fuller, Rockin‘ Red, and Walkin‘ Slim.
1981 zog er schließlich nach Deutschland und
fand in Hannover eine neue Heimat. Was zu
1960 erschienen dann seine ersten Aufnahmen der Entscheidung führte, ist letztlich irrelevant.
unter dem Namen Louisiana Red. Er war nach Einerseits lebte er hier ganz in der Nähe seines
New Jersey gezogen und hatte dort einen Vertrag Freundes Champion Jack Dupree. Und er fand
bei Atlas unterschrieben. Doch erst 1962 fiel er hier seine Ehefrau, mit der er bis zu seinem Tode
überregional auf: Sein Album „Lowdown Back- zusammen lebte. Und - für einen Musiker das
porch Blues“ (erschienen bei Roulette) wurde Wichtigste: In Deutschland und in ganz Eurovon den Kritikern gelobt (und später von etlichen pa bot sich ihm die Möglichkeit zu ausgiebigen
anderen Firmen neu veröffentlicht). Roulette Touren und Plattenveröffentlichungen. Und diegehörte dem zur Mafia gehörenden „Geschäfts- se Aufnahmen zeigen ihn entweder als einfühlsamann“ Morris Levy, der seine Künstler gnadenlos men akustischen Gitarristen oder auch als heftibetrog. So sah Red von seinem über eine Million gen Kneipenblueser in der Juke-Joint-Tradition
Mal verkauften Single-Hit „Red‘s Dream“ nicht von Mississippi oder der South Side von Chicaeinen Cent Tantiemen. Dieses Lied ist ein Bei- go. Und damit wurde er langsam auch in seiner
spiel dafür, wie Red die Tradition der Geschich- amerikanischen Heimat anerkannt und erhielt so
1983 den ersten W.C. Handy Award als Traditioneller Blueskünstler des Jahres.
Seit den 90ern hat Red auch endlich in den USA
den verdienten Erfolg. Immer wieder ist er auf
Tourneen in seiner Heimat, spielt bei Festivals im
ganzen Land. Er wurde geschätzt als einer der letzten überlebenden Vertreter des Mississippi-Blues
nach dem Zweiten Weltkrieg, die Verbindung zu
einer Zeit, als Muddy Waters, John Lee Hooker
oder Elmore James als Modernisierer der Musik
Anerkennung fanden. Und er war ein Musiker,
der nicht nur über sein privates Leben sang, sondern sich immer auch politisch in seinen Liedern
äußert, auch wenn ihm das in der Vergangenheit
nicht immer nur Freunde gemacht hat.
In Europa war er außer als Solist in den letzten
Jahren vor allem mit zwei Bands immer wieder
auf Tour. Einerseits mit Little Victor‘s Juke Joint
aus Norwegen (mit denen er zwei seiner letzten
Alben bei Ruf Records eingespielt hat), andererseits mit der deutschen Bluesrockband Dynamite
Daze.
Raimund Nitzsche
Hörempfehlungen
Von Nathan Nörgel
Little Victor‘s Juke Joint „Back to
the Black Bayou“ ein.
Unwillkürlich fühlt man sich in die
ländlichen Regionen im Norden
Mississippis zurück versetzt. Dort
lebt der rauhe, direkte Blues noch,
den Red hier mit seinen Begleitern
zelebriert. Keine Künstlichkeit, keine Politur: Blues als direkt auf den
Bauch und die Köpfe zielende Musik.
Die Stücke, die Gitarrist Little Victor für die Session ausgesucht hat,
sind zum größten Teil aus den vergangenen Jahrzehnten von Reds
Karriere („Ride on Red,“ „Too Poor
Die Musik, die bei diesen Sessions to Die,“ „I Come from Louisiana“).
entstanden ist, ist mit ihrem fetten Doch wie sie hier gespielt werden,
Bläsersound und der swingenden sind sie meilenweit von dem akustiBegleitung absolut überraschend schen Country-Blues entfernt, den
aber in jeder Sekunde überzeu- man sonst auf Reds Platten zu högend. Für mich der Geheimtipp in ren bekam. Die Power der Session
der langen Discographie von Loui- ist am ehesten zu vergleichen mit
siana Red.
Buddy Guy‘s „Sweet Tea“-Album.
Auch das hatte ja höchst eindrücklich versucht, den Juke Joint-Blues
auf Platte zu bannen.
Höhepunkte von Black Bayou
sind der Gospel „Don‘t Miss That
Train“ und der Slow-Blues „Sweet
Leg Girl“, bei dem Louisiana Red
mit seiner klagenden Stimme und
der kreischenden Slide klar macht,
warum er einer der besten Bluesmen der Gegenwart ist. Und das ist
Back to the Black Bay- eindeutig keine Frage der Jugendou
lichkeit. Sondern von Erfahrung
2009 spielte er in Norwegen mit und Ehrlichkeit.
ger Musiker. Neben Helm, der bei
einigen Nummern am Schlagzeug
saß ist so etwa auch Band-Mitglied
Garth Hudson an Orgel und Saxophon zu hören.
Wie viele Platten Louisiana Red
im Laufe seiner langen Karriere
gemacht hat, ist wohl kaum einem
wirklich bekannt, da ja gerade die
Aufnahmen aus seiner Frühzeit unter den verschiedensten Pseudonymen erschienen sind. Und so soll
auch hier lediglich auf ausgewählte
Alben hingewiesen werden.
Ashland Avenue Blues
The Lowdown Back
Porch Blues (1963)
Viele Kritiker halten Reds Solodebüt noch immer für sein bestes überhaupt. Begleitet von einer
spartanischen
Rhythmusgruppe
singt er hier neben ein paar traditionellen Songs etliche seiner besten
eigenen Lieder. Neben dem Singleerfolg „Red‘s Dream“ findet sich
da etwa das sozialkritische „I‘m Too
Poor To Die“ oder die swingende
Nummer „Sugar Hips“, die er beide Zeit seines Lebens immer wieder
in Konzerten gesungen hat.
Im Mai 1992 traf Louisiana Red
in einem Kölner Studio mit The
Chicago All Stars (unter anderem
mit dem Pianisten Erwin Helfer,
Bassist „Truck“ Perham und Darlene Payne-Wells am Schlagzeug) zusammen. Hier hatte er endlich mal
wieder eine klassische Besetzung
für Chicago-Blues hinter sich. Und
so sind auch Songs wie der Ashland
Avenue Blues“ oder „East Street
Bridge“ nicht nur von den Texten
her eine Erinnerung an die Zeiten
mit Muddy Waters. Schön auch die
zwei Gospelnummern „Call Him
By His Name“ und „This Little
Lamp of Mine“, die Red gemeinsam mit Katherine Davis singt.
Different Shade of Red
2002 entstanden im Studio von
Levon Helm (The Band) in Woodstock die Aufnahmen zu A Different Shade of Red. Begleitet wurde
er dabei von einer Menge ansässi-
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© wasser-prawda
Musik
Wir hatten gehofft, er
sei unsterblich
Wir hatten alle gehofft er sei unsterblich, doch
jetzt hat uns die Realität eingeholt.
Wenn ich an Louisiana Red denke, sehe ich diesen Felsen von Mann, mit dem sanften Gemüt
eines Kindes.
Seine bittere Jugend und sein hartes Leben hatten Ihn geprägt und eine gewisse Schwermut
war sein Begleiter. Aber seine Augen begannen
zu strahlen, wenn es um den Blues ging, wenn
er eine neue Idee hatte und besonders, wenn er
wieder einmal eine Gitarre ausprobieren konnte.
Dann hörte ich oft den Satz. „Didi, do you know
what I want for Christmas? ....This Guitar“.
Red lebte und atmete den Blues. Selbst beim
Soundcheck vor einem Konzert war er kaum zu
stoppen und sein Lieblingsthema war das nächste Konzert, oder ein neuer Song. Red zeigte mir,
was der Blues wirklich ist. Blues ist keine traurige
Musik, es ist der Weg aus dem Kummer heraus.
Red hielt sich mit seiner Musik nie an die gewohnten Grenzen, er komponierte spontan und
suchte immer den genialen Augenblick. Dieser
Augenblick war es dann auch der jeden Menschen, der ein Herz hat, berühren musste. Seine Stimme war ein mächtiges Instrument, sein
Gitarrenspiel unverwechselbar und seine Ausdruckskraft war einzigartig. Wer ein Konzert von
Red erlebt hat, weiß wovon ich rede.
Man könnte sagen dieser geniale Musiker hatte
den Blues, doch das wäre nicht genug, denn Louisiana Red war „Der Blues“. Ich kann nur schwer
verstehen, dass er jetzt nicht mehr unter uns ist.
Aber uns allen bleibt die Hoffnung, dass die da
drüben eine gute Gitarre für Ihn bereithalten.
Dynamite Didi
(Sänger und Harpspieler der Band Dynamite
Daze)
Erinnerungen von
Thomas Ruf
„Ich bin sehr traurig, dass mein Freund RED
uns verlassen hat. Er war der erste Blues-Künstler, dem ich persönlich begegnet bin und spielte
das erste Konzert, dass ich jemals promotet habe
als ich 19 Jahre alt war. Red war einer der letzten
Giganten der Blues, der ständig und spontan seine Meinung mit einer neuen Versen und Melodien ausspach, jeden Tag, ob auf oder hinter der
Bühne. Er war ein permanenter Quell des reinen
Blues. Und er war ein sehr großzügiger Mensch.
Meine Gedanken sind bei seiner Frau Dora, die
mit ihm die letzten 30 Jahre zusammengehalten
hat sowie bei seinen Kindern und der Familie.
Wenn Du zu den glücklichen Menschen gehörst,
die eine Platte dieses Blues-Giganten besitzen: es
ist eine gute Zeit sie zu spielen und den Mann zu
würdigen, den wir gerade verloren haben.
Fotografien von Reto Toscano
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© wasser-prawda
Musik
Blues Hall of Fame
würdigt Lippmann & R au
Die beiden deutschen Konzertveranstalter Horst Lippmann und Fritz Rau
werden am 9. Mai 2012 in die „Blues Hall of Fame“ aufgenommen. Zu
den außerdem in diesem Jahr Geehrten gehören die Gitarristen Matt „Guitar“ Murphy und Mike Bloomfield, der Harpspieler Billy Boy Arnold und
der legendäre Produzent und Pianist Allen Toussaint aus New Orleans.
Mit dem „American Folk Blues Festival“ haben
Lippmann & Rau in den 60er Jahren den Blues
eigentlich erst in Europa heimisch gemacht und
damit den Lauf der Musikgeschichte auch in den
USA gewaltig beeinflusst. Endlich nahm man
große Künstler wie Howlin Wolf, Muddy Waters oder auch J.B. Lenoir in ihrer Heimat wieder
ernst. Und mit ihren Tourneen beeinflussten sie
nicht nur die gesamte britische Bluesszene. Auch
etwa in der DDR hinterließen die Konzerte in
den 60er bis 80er gewaltige Spuren.
Ihr umfangreiches Archiv ist heute Teil des in
Eisenach ansässigen Lippman+Rau Musikarchivs
(bis 2009: Internationales Jazz-Archiv Eisenach),
das von der Lippman+Rau-Stiftung unterhalten
wird. Im Mai wird Rau in Eutin beim dortigen
Blues Baltica über das AFBF erzählen.
Wer Matt Murphy lediglich als Teil der legendären Blues Brothers in Erinnerung hat, der kennt
den Gitarristen nicht wirklich. Als Sidemann
spielte Murphy unter anderem mit Howlin Wolf,
Sonny Boy Williamson, Muddy Waters, Memphis Slim oder Chuck Berry zusammen. Als Solist war er leider bislang nie so erfolgreich.
Mike Bloomfield gehörte zu den Gründungsmitgliedern der legendären Paul Butterfield Blues
Band, einer der ersten Bluesbands, wo Schwarze
und Weiße gleichberechtigt miteinander spielten. Später gründete er die Band Electric Flag
und war auch als Solokünstler erfolgreich. Jedenfalls so lange, bis Alkohol und Drogen seinem
Leben 1981 ein vorzeitiges Ende setzten.
Seit Jahrzehnten gehört Billy Boy Arnold in Chicago zu den wichtigsten Mundharmonikaspielen.
Auch wenn er nie wieder die Popularität wie in
den 60er Jahren erreichen konnte, werden seine
Platten gerade seit Beginn des 21. Jahrhunderts
von Kritikern und Fans gleichsam gefeiert.
Über die Bedeutung von Allen Toussaint braucht
man eigentlich kaum noch Worte zu verlieren. Er
ist einfach einer der wichtigsten Produzenten, die
es in New Orleans je gab. Ohne ihn sind die Karrieren etwa von Fats Domino und anderen nicht
vorstellbar. Und auch seine eigenen Veröffentlichungen zwischen Rhythm & Blues und Jazz
zählen zu den besten, die in der Stadt am Mississippi seit den 50er Jahren gemacht wurden.
Aufgenommen in die Hall of Fame werden Anfang Mai außerdem noch die Musiker Buddy &
Ella Johnson, Lazy Lester, Furry Lewis und Frank
Stokes, der Radiomacher Pervis Spann (Chicago)
sowie der legendäre Songwriter Doc Pomus.
9
Als Bücher werden „Bessie“ von Chris Albertson
und „The Voice of the Blues: Classic Interviews
from Living Blues Magazine“ (Hg.: Jim O‘Neal
& Amy van Single) gewürdigt.
Und wie jedes Jahr werden auch wieder prägende
Alben und Songs in die Hall aufgenommen. 2012
sind das das 1991 erschienene „Damn Right, I‘ve
Got The Blues“ (Buddy Guy) und „Bad Influence“ (1984, Robert Cray) sowie die Singles „It
Hurts Me Too“ von Tampa Red (1940), „Pine
Top‘s Boogie Woogie“ von Pine Top Smith
(1928) und das 1957 erschienene Lied „All your
Love“ von Magic Sam.
Die Aufnahmezeremonie wird traditionell am
Tag vor der Vergabe der Blues Music Awards
stattfinden. 2012 ist das am 9. Mai. Die Blues
Foundation, die die Hall of Fame ebenso wie die
Awards ins Leben gerufen hat, ist zur Zeit übrigens dabei, für die bislang nur virtuelle „Hall
of Fame“ in Memphis einen echten Standort zu
finden. Das Projekt allerdings wird mit mehr als
3 Millionen Dollar veranschlagt. Wie lange man
also dafür Spenden sammeln muss, ist noch nicht
ganz abzusehen.
Big Joe Williams beim AFBF 1972 in Hamburg (Foto: Heinrich Klaffs)
© wasser-prawda
Musik
1912: Der erste Blues?
Wann der Blues als wiedererkennbarer Musikstil wirklich entstanden ist,
darüber diskutieren Wissenschaftler noch immer. Unstrittig ist aber, dass
im Jahre 1912 gleich drei Stücke mit der Bezeichnung „Blues“ im Titel veröffentlicht wurden. Eine historische und biografische Spurensuche nach
den Anfängen des Blues von Raimund Nitzsche.
Was könnte dem Anschein nach leichter sein als
der Blues? Zwölf Takte, in drei Zeilen zu je vier
Takten aufgeteilt, von denen die zweite gewöhnlich die Wiederholung der ersten ist. Jeder, der
ein Musikinstrument beherrscht, kann in verhältnismäßig kurzer Zeit lernen, etwas zu spielen, das wie Blues klingt. Es wird etwas sein, das
allerdings nur so klingt wie der Blues. Etwas zu
spielen oder zu singen, das man als Blues empfindet, kann ein ganzes Leben dauern.1
Unzählige Definitionen gibt es dafür, was Blues
ist, und noch mehr Sprüche, die erklären, der
Blues sei dies und nichts anderes. Einige Definitionen sind musikalischer Natur und beschreiben
die Form in Begriffen ihrer Rhythmen, Tonarten
und Harmonien.
Andere sind ethnisch-musikalischer oder historischer Art und folgen der Spur der musikalischen
und rhythmischen Elemente des Blues bis zu verschiedenen Wurzeln in Afrika oder in Europa. Einige sind ihrem Wesen nach politisch und sehen
im Blues das kollektive Tagebuch der schwarzen
Unterklassen in ihrem Kampf ums Überleben in
einem rassistischen, kapitalistischen „Babylon“.
Wieder andere sind erst einmal emotional und
halten am Konzept des Blues als einem Seelenzustand fest:
„If it ain‘t a sad song, it
ain‘t the blues“
darauf besteht Robert Cray, einer der wichtigen
Vertreter des zeitgenössischen Blues seit den 80er
Jahren. Und gerade unter Musikern ist die Haltung verbreitet, dass man nur einen Blues singen
kann, wenn man ihn selbst auch erlebt hat.
Dann gibt es noch die psychologische Interpretation, die die reinigende Funktion der Musik in
den Mittelpunkt setzt. Die Soziologen verfolgen
auf den Landkarten die Wanderungsbewegungen vom ländlichen Süden in die großen Städte.
Und die Abteilung der Sprachforscher produziert
ihre eigenen Analysen der Country-Blues-Dichtung. Das reicht, damit man sich nach einem
Haufen Alben von Muddy Waters, Little Walter
und Buddy Guy und nach einer großen Flasche
Whisky sehnt.
Der Gebrauch des Wortes
„Blues“
1
Dieser Beitrag ist eine überarbeitete
und erweiterte Fassung eines Textes aus dem
Buch „Talkin My Blues Pt. 1“ (Greifswald,
2008). Als Quellen wurden verwendet: Robet
Santelli, Big Book of Blues; Samuel Charters,
The Country Blues; Theo Lehmann: Blues and
Trouble und natürlich das Internet.
für eine besondere Stimmung oder ein Gefühl ist
sehr alt und geht weit über die Musik hinaus. Er
geht bis ins 16. Jahrhundert zurück. Im 19. Jahrhundert war der Ausdruck in den Vereinigten
Staaten allgemein verbreitet, obwohl man sich
nicht ganz einig darüber war, was es eigentlich
bedeutete, „blue“ zu sein. 1924 war „ein Anfall
des Blues“ gleichbedeutend mit „seelischer Depression“. 1853 empfahl die Bostoner Zeitung
Yankee Blade einen humoristischen Roman mit
den Worten: „... für alle, die zum Blues neigen
oder zur Langeweile.“ In den fünfziger Jahren des
19. Jahrhunderts meinte man damit also Langeweile, ab den achtziger Jahren Unglücklichsein:
„Komm zu mir , wenn du den Blues hast.“ Und
es wurden gar medizinische Bücher zur Heilung
des Blues veröffentlicht.
Doch eigentlich will ich nicht dozieren über den
Blues, sondern erzählen. Denn die Bluesmen
sind für mich zuallererst Erzähler. Und so fange
ich erst mal mit mir an.
Persönlicher Rückblick
Eine Landschaft. Der Fluss im Tal noch von Nebel verhüllt. Die Felder bepflanzt mit Mais, Gerste oder Kartoffeln. Der Kirchturm mit seiner barocken Zwiebelhaube ist im Hintergrund. Dazu
spielt die Mundharmonika: entweder bringt sie
in zahllosen Versuchen etwas hervor, was entfernt an den ”Reichsbahnblues“ erinnert. Oder
sie variiert ewig über das ”Lied vom Tod“. Es ist
morgens gegen dreiviertel sieben, irgendwann so
um 1983/84, mitten in Sachsen. Ich bin auf dem
Schulweg, fahre freihändig auf dem Fahrrad. Die
Hände brauche ich für die Harmonika. Und ich
hab den Blues.
Es muss irgendwann Anfang der 80er Jahre gewesen sein. Meine ältere Schwester hatte versprochen, mich in mein erstes Konzert mit zu
nehmen. Nicht ins Sinfoniekonzert, sondern
in ein ”richtiges“ Rockkonzert. Und so saß ich
Ahnungsloser dann unter massenhaft langharigen Jugendlichen in einer Kirche in Sachsen und
hörte ”Solaris“. Nie gehört von der Truppe? Hatte ich vorher auch nicht. Doch das ging wahrscheinlich nicht nur mir so. Solaris aus Berlin
spielte Blues und Rock und ein paar christliche
Lieder. An der Gitarre Matthias Gemeinhardt,
der mir später noch häufig als Begleiter von
Bernd Kleinow begegnen sollte. Höhepunkt für
mich war: das Schlagzeugsolo. So was hatte ich
bis dahin nicht gesehen oder gehört. Das völlige
Ausrasten eines Musikers und der Zuhörer. Die
spontanen Interaktionen zwischen Künstler und
Publikum. Die Bereitschaft, in der Musik und in
der Gemeinschaft völlig aufzugehen.
Wenig später erlebte ich die ersten Sessions mit
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Hart Wand‘s „Dallas Blues“
als Benefizsingle neu veröffentlicht
Lieder wie der Memphis Blues oder noch
mehr der Dallas Blues werden heute kaum
noch als „Blues“ wahrgenommen und daher
auch eher im Jazz-Kontext gespielt. Doch
hundert Jahre nachdem Hart Wand die Noten zu seinem „Dallas-Blues“ veröffentlichte,
haben Brad Vickers & His Vestapolitans das
Stück in ganz klassischer Manier neu eingespielt in einer Besetzung für zwei Geigen,
Gitarre, Gesang Klarinette, Saxophon,
Mandoline, Bass und Schlagzeug. Und so
ist der Cake-Walk, der das Stück trotz seiner
zwölftaktigen Form eigentlich ist, wieder ein
Stück für den Tanzboden geworden.
Die als Download bei verschiedenen Portalen im Internetz zu erwerbende Single ist
nicht nur ein Geburtstagsgeschenk für den
Blues an sich sondern vor allem auch ein
Benefizprojekt. Sämtliche Einnahmen durch
den Verkauf der Single gehen nämlich an
den „HART“-Fund der Blues Foundation
im Memphis. Diese Einrichtung (HART
steht für Handy Artists Relief Trust) unterstützt in Not geratenen Bluesmusiker und
ihre Familien etwa bei Erkrankungen und
fehlendem Versicherrungsschutz oder auch
zur Finanzierung einer würdigen Bestattung
für verstorbene Musiker.
• Brad Vickers & His Vestapolitans: http://
www.BradVickers.com
• Download „Dallas Blues“ bei cdbaby.
com: http://www.cdbaby.com/cd/bradvickersdallasblues
• Der Titel ist auch bei itunes. cdbaby koordiniert sämtliche Verkäufe und führt
die Einnahmen dann an die Blues-Foundation ab.
© wasser-prawda
Musik
Seine erste, gekauft auf einem Flohmarkt. Und
so weiter bis heute...
Afrikanische Spuren
Ed Young spielt die fife. (Foto: Alan Lomax Collection/Library of Congress)
gleichgesinnten Jugendlichen. Irgendjemand
ging immer ans Klavier oder das Harmonium.
Andere griffen zur Gitarre oder der Mundharmonika. Und dann rollten die Boogierhythmen.
Texte wurde spontan improvisiert, wenn niemand mehr weiter wusste. Irgendwann zog jemand einen Kalender aus der Tasche und sang
einfach die offziellen Gedenktage der DDR herunter: eine halbe Stunde Blues ”Walter Ulbricht:
geboren und gestorben“. . .
Das war etwas anderes als die damals in den Hitparaden um ein bisschen Frieden jammernde Nicole oder auch der bewusst auf Spaßgesellschaft
getrimmte NDW-Sound. Das war handgemachte
Musik. Das war Ton gewordene Stimmung zwischen Frust und Freude. Der Blues hatte mich.
Er machte neugierig über die Hitparaden- oder
Diskothekenmusik hinaus. Und brandmarkte einen gleichzeitig zum schrägen Außenseiter. Ein
Image, das mit Holzperlenketten und gebatikten Windeln als Halstuch noch kultiviert wurde.
Schließlich fanden die Lehrer weder mein Uniformhemd der Polizei von San Francisco noch
den Gürtel mit der verchromten Smiley-Schnalle
als passend für die DDR-Schule. Gegen Blues,
die Musik der unterdrückten Farbigen, konnten
sie nichts einwenden. Und die Mundi spielte ich
glücklicherweise nur zweimal bei Schulveranstaltungen. Mehr hätte man mir sicherlich als Kör-
perverletzung auslegen können. Zum offiziellen
und amtlichen Outfit eines Bluesers hat es bei
mir nie gereicht, da war Mutter dagegen: keine
Tramperlatschen, kein Parka, kein Hirschbeutel,
und schon gar keine langen Haare. Nicht so lange
ich noch zu Hause wohnte. So blieb die Mundi,
und die nach und nach vom Munde abgesparten
Platten und Kassetten: Diestelmanns Dritte, die
ich irgendwann mal an einen palästinensischen
Kommunisten verborgte und nie wieder bekam.
Im Nordost Mississippi Hill County kann man
heute noch eine Musik hören, deren Spuren bis
zurück nach Afrika einerseits, andererseits aber
auch bis zur britischen Militärmusik des 18. Jahrhunderts verfolgt werden können. Die Fife and
Drum-Bands der Region klingen noch urtümlicher als der Blues von John Lee Hooker: selbstgeschnitzte Querflöten spielen Melodien und werden von einer Gruppe von Trommeln begleitet.
Endlos können sich die Rhythmen hinziehen, zu
denen die Menschen bis zu Extase tanzen.
Schon der Leibdiener des amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson soll eine kleine derartige
Band geleitet haben, um die Begeisterung für die
Befreiungskriege gegen die Briten anzuheizen.
Doch in den Händen der afrikanischen Sklaven
und ihrer Nachfahren mutierte die Militärmusik.
Afrikanische Synkopen und Polyrhythmen veränderten die Marschmusik auf ähnliche Weise,
wie sie später auch bei der Entstehung von Jazz
und Blues zu erleben war. In einer Zeit, wo den
Sklaven das Spiel auf Trommeln aus Angst vor
unerlaubter Kommunikation verboten war, war
die Fife and Drum Musik eine akzeptierte Ausnahme, die sogar von konförderierten Truppen
während des Bürgerkriegs verwandt wurde.
Tutwiler in Mississippi zählt zu den
vielen Orten, die für sich in Anspruch
nehmen, der Geburtsort des Blues zu
sein. Dabei berufen sich die Einwohner der 1000-Seelen-Städtchen auf die
Autobiografie Handys. Inzwischen
gibt‘s die Bahn dort aber nicht mehr.
Auf dem Bild ist der Highway 49 zu
sehen, der sich in Tutwiler spaltet. Wer
nach Westen fährt, kommt zum berüchtigten Mississippi State Penitentiary (Parchman Farm) und zur Dockery
Plantation. Nach Osten gelangt man
nach Greenwood.
Oben: Das Bahndepot von Claksdale
Anfang des 20. Jahrhunderts beherbergt heute das Delta Blues Museum.
11
© wasser-prawda
Musik
aus einer Arbeitsrotte, wenn einer der Männer
ein paar Worte rief, die dann von anderen weitergerufen wurden; manchmal bloß ein „wo bist
du“, das ein einsamer Arbeiter einem anderen auf
einem entfernten Feld zurief.
Huddie Ledbetter, besser bekannt als Leadbelly,
spielte eine Reihe von Hollers und Worksongs
ein, darunter „Whoa Back Buck“, „Julia Ann
Johnson“ und „Line ´em“.
Um das Jahr 1904 sammelte ein gewisser Newman White in Auburne, Alabama, auf den Feldern Worksongs; in ihnen erfasste er die meisten der einfachen Sätze, die den Kern der frühen
Blues bildeten:
„Some folk say de fo‘
day blues ain‘t bad But
de fo‘ day blues am der
wust I ever had.“
Die Elm Street in Dallas im Jahre 1944.
Als Martin Scorsese vor wenigen Jahren für sein
Dokumentarfilmprojekt ”The Blues“ in der Region filmte, lebte Otha Turner noch. Der damals
schon über 90jährige Flötenspieler galt als letzter
Leiter einer derartigen Band. Seine Vorgänger
wurden die in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts von Alan Lomax erstmals auf Platte dokumentiert. In seinem Buch ”Das Land wo der
Blues begann“ erinnerte er sich 1993:
”In Voodoo-Zeremonien machen Tänzer Hüftbewegungen hin zum Drummer, um die heilige Musik zu ehren, die sie inspiriert. Ich hätte
nie erwartet, dieses afrikanische Verhalten in den
Hügeln von Mississippi zu finden, nur ein paar
Meilen südlich von Memphis.“
Diese urtümlich eindringliche Musik strahlt
auch auf den Blues der Region aus. Und sie wurde auch von DJs aufgenommen und in elektronischer Form abgewandelt. Zu hören ist das etwa
auf Aufnahmen, die R.L. Burnside auf seiner CD
”I Wish I Was In Heaven Sittin’ Down“ veröffentlicht hat. Aber auch das Album ”Sweat Tea“
von Buddy Guy ist ganz von der Urtümlichkeit
der Musik in dieser Ecke von Mississippi geprägt.
Ein Ausflug in die Geschichte
Gehen wir zurück ins Jahr 1903, auf den Bahnhof von Tutwiler, einem Nest irgendwo in Mississippi. Der Orchesterleiter W.C. Handy wartete auf einen Zug, der neun Stunden Verspätung
hatte und schlief ein.
„Dann (so schreibt er in seiner Autobiographie)
packte mich das Leben plötzlich bei der Schulter
und weckte mich mit einem Ruck.“
Ein Schwarzer hatte angefangen, auf seiner Gitarre zu spielen. Beim Spielen drückte er ein Messer
an die Saiten. Sein Lied hatte nur eine Zeile, die
endlos wiederholt wurde:
Goin‘ where the Southern cross the Dog
Der Mann sang darüber, dass er zu einer Kreuzung zweier Bahnlinien unterwegs war.
Damit sind wir noch nicht am Anfang dessen,
was wir heute Blues nennen. Aber doch schon
ziemlich nahe dran. Denn auch wenn manche
Autoren viel Zeit damit verbringen, den Blues
als afrikanische Musik zu klassifizieren: der Blues
als Musikform entstand im Süden der USA. Und
zwar irgendwann an der Wende vom 19. zum 20.
Jahrhundert. Und er wäre nicht denkbar ohne
die jahrhundertlangen Erfahrungen von Sklaverei und Knechtschaft, wie ihn die Schwarzen
dort erlebt hatten.
Eine Wurzel des Blues war die Arbeit oder besser die Lieder, die die Sklaven und ihre Nachfahren bei der Arbeit sangen. Grob gesagt lassen
sich diese Lieder als Worksongs und Field Holler klassifizieren. Worksongs waren Ruf-undAntwort-Songs, mit denen ein Takt angegeben
wurde, um rhythmisch koordinierte Teamarbeit
beispielsweise beim Entladen von Wagen oder
beim Bau von Straßen zu erleichtern. Viele Beispiele davon wurden auf Platten aufgezeichnet,
und der Worksong hielt sich noch lange nachdem der Blues bereits die schwarze Folk Music
dominierte. Die Ballade von „John Henry“, die
so einprägsam von Furry Lewis in Memphis aufgenommen wurde, ebenso wie von John Hurt in
Mississippi und von Jesse Fuller aus Georgia (um
nur einige von vielen zu nennen) war ursprünglich ein Worksong. Und Howlin‘ Wolf, einer der
größten Mississippi-Bluesmen, erzählte 1967
von den Worksongs, die er in seiner Kindheit gehört hatte:
„Einige der Männer erfanden Songs wie ‚I
Worked Old Maude and I Worked Old Belle‘:
solche Sachen eben. Die sind einfach da raus
und sangen bei der Arbeit. Songs zum Pflügen,
Songs um Maultiere anzutreiben. Morgens zogen
die los und fingen an zu pflügen und zu brüllen
und zu singen. Diese Lieder erfanden die einfach
so nebenbei. Die machten Geräusche und Musik, wie es ihnen gerade passte. Die Worksongs
machten die einfach frei Schnauze. Ein Worksong enthielt die Zeile ‚I got the blues but I‘m
too damned mean to cry‘.“
Was Wolf gehört haben muss, war eine Mischung
aus Worksongs und Field Hollers. Oftmals waren das lediglich musikalisch klingende Zurufe
12
war einer Texte, die er fand. Das Lied wurde an
anderen Orten mit einem leicht abgewandelten
Text gesungen: „Some folks say de Memphis
Blues ain‘t bad“, oder „Some folks say de St Louis
blues ain‘t bad“.
Das Wort tauchte gelegentlich auch in Liedertiteln auf, jedoch nur als Slangausdruck ohne jegliche Beziehung zu einem musikalischen Stil.
Die ersten als Blues bezeichneten Kompositionen
wurden 1912 veröffentlicht:
„Dallas Blues“ von Hart Wand (1887-
1960), einem weißen Musiker aus Oklahoma
City. Die Melodie besteht aus einer einfachen
zwölftaktigen Tonfolge, die in drei viertaktige
Phrasen unterteilt ist und dem späteren BluesSchema sehr ähnelt. Auch bei der Tempoangabe
heißt es „Tempo di Blues. Very Slowly. Ursprünglich hat Wand den „Dallas Blues“ für eine
klavierspielende Freundin geschrieben. Er selbst
hatte eine traditionelle Stringband und war Geiger. Innerhalb kurzer Zeit war das Stück damals
längs des Mississippi ein Hit, der von den verschiedensten Bands gespielt wurde. Der heute
noch verwendete Text wurde von Lloyd Garrett
1918 geschrieben. Heute wird der Dallas Blues
meist als Ragtime oder Dixieland gespielt.
Wand selbst blieb nicht lange im Musikgeschäft.
Später war er mit der „Wand & Son“-Maschinenfabrik ziemlich erfolgreich und verkaufte
seine Produkte bis nach Europa und Asien.
Von Oklahoma verlegte er sein Geschäft später nach Chicago und ab 1920 etwa lebte er in
New Orleans, wo er 1959 Samuel B. Charters
noch ein Interview für sein Buch „The Country Blues“ gab. Darin meinte er, die Idee für
den Songtitel sei von einem der Arbeiter seines
Vaters gekommen. Der sagte beim Hören des
Stücks, die Melodie gebe ihm
„the blues to go back to
Dallas“
Im Sommer 1912 wurde dann der „Baby
Seals‘ Blues“ von Arthur „Baby“ Seales,
veröffentlicht. Das ist musikalisch eine klassi-
© wasser-prawda
Musik
W.C. Handy (Foto: Carl van Vechten)
sche Vaudeville-Nummer oder auch ein Folksong, hat mit dem Blues als Musik aber nichts
zu tun. Allein schon die Verwendung des Titels
zeigt, dass damals einfach die Zeit reif war für
den Blues.
Der Memphis Blues und der
„Vater des Blues“
Der bekannteste und am besten dokumentierte
dieser drei Blues-Songs des Jahres 1912 ging
schließlich im September in Druck. Der Memphis Blues war von der Form her auch kein
Blues, sondern ein Cakewalk, der ursprünglich
nach Angaben des Komponisten für eine Wahlkampagne für Edward Crump in Memphis
entstanden sein soll2.
William Christopher Handy (1873-1958) war
damals einer der beliebtesten Orchesterleiter in
Memphis und bezeichnete sich später immer
als „Vater des Blues“. Er war aber erst der dritte
Komponist, der einen „Blues“ in Druck gab. Allerdings kann man ihn als Songschreiber kaum
unterschätzen. Und auch seine Rolle bei der Popularisierung der Musik der Farbigen im Musikmarkt hat er riesige Verdienste. Allerdings bezog
er die eigentliche Musik der Farbigen erst relativ
spät mit in seine Kompositionen In seiner 1941
erschienenen Autobiografie erinnert er sich:
„Ich gestehe, dass ich nur zögernd die einfachen,
volkstümlichen Formen verwandte ... Für mich
als Leiter vieler respektabler konventioneller Kapellen war es nicht leicht, zuzugeben, dass eingewöhnlicher slow-drag der Rhythmus selbst sein
könnte... Aufgeklärt wurde ich in Cleveland,
Mississippi, wo jemand bei einer Tanzveranstaltung eine seltsame Bitte zu uns herauf schickte. Auf dem Zettel stand, ob wir nicht ‚unsere
Eingeborenenmusik‘ spielen könnten. Ein paar
Augenblicke kam schon die nächste Bitte herauf.
Ob wir etwas dagegen hätten, wenn eine hiesige
farbige Kapelle ein paar Stücke spielen würde?
2
Hier streiten sich die Gelehrten aber, ob
in Handys Erinnerung sich nicht zwei Lieder vermischen. Denn die Lyrics, die sich auf
Crump beziehen und mit dem Memphis Blues
verbreitet wurden, passen einfach nicht zur
Komposition.
Ob wir etwas dagegen hätten: Wir amüsierten
uns. Welcher Hornist konnte während der bezahlten Stunden etwas gegen eine Zigarettenpause haben? Wir verließen dankbar das Podium,
und die Neuankömmlinge traten auf. Sie wurden von einem langbeinigen, schokoladebraunen
Jungen angeführt. Ihre Band bestand nur aus einer uralten Gitarre, einer Mandoline und einem
heruntergekommenen Bass. Die Musik die sie
machten, entsprach genau ihrem Aussehen. Sie
begannen mit einer jener sich immer und immer
wiederholenden Phrasen, die keinen deutlichen
Anfang und ganz gewiss kein Ende zu haben
schienen. Der Rhythmus war quälend monoton,
aber es ging weiter und weiter \dots Ein Regen
von Silberdollars fiel zwischen die stampfenden
Füße. Die Tänzer gebärdeten sich wie toll. Dollars, viertel Dollars und halbe Dollars, der Regen wurde dichter und dauerte an, während ich
den Hals verrenkte, um besser sehen zu können.
Dort vor den Jungen lag mehr Geld als meine
neun Musiker für den ganzen Abend bezahlt bekamen.“
Die einsamen Rufe von den Feldern und die
Arbeitsgesänge waren bei den Farbigen in den
Städten mittlerweile fast vergessen, Die Trommelrhythmen aus Afrika ebenso. Doch der Gesangsstil und die emotionale Direktheit der Mu-
sik hatte sich erhalten. Man sang die neuesten
Schlager nach, und als sich die starke Tradition
der Plantagenmusik mit der konventionelleren
Stadtmusik berührte, trat in beiden Stilen eine
Wandlung ein. Die Stadtmusik wurde ausdrucksvoller, und die Plantagenmusik benutzte lockerere Reime und einen stetigeren Rhythmus. Handy hat die Melodien der von ihm für primitiv
gehaltenen „Eingeborenen“ genommen, eigene
Stücke daraus gebaut und in einem Jazzarrangement verpackt. Und sowohl der Memphis Blues,
als auch der St. Louis Blues wurden zu Welthits
mit immer neuen Interpretationen bis in die Gegenwart.
Handy selbst hatte vom „Memphis Blues“ allerdings nicht sehr viel. Denn er hatte das Stück an
den Verleger Theron Bennett in New York verkauft, der es in New York verschiedenen Orchestern andiente. Allerdings erst als 1914 die ersten
Plattenaufnahmen des Komposition erschienen,
begann der Memphis Blues seinen Weg wirklich.
Mit den drei 1912 veröffentlichten Blues begann
eine regelrechte Blues-Welle. Alle Schlagerkomponisten begannen „Blues“ zu schreiben. Gesungen wurden diese vor allem von Frauen, zunächst
sogar meist von weißen. Musikalisch waren die
Stücke, sofern sie nicht einfache Schlager mit
dem Wort „Blues“ im Titel waren, eine Verknüpfung von traditionellem Jazz mit Blues. Begleitet wurden die Sängerinnen meist von Pianisten
oder von Jazzbands verschiedener Besetzung.
Davon deutlich unterschieden ist der CountryBlues, die Musik der fahrenden Musiker der
Südstaaten zwischen Texas, Mississippi-Delta
und der amerikanischen Ostküste. Hier dominierten eindeutig Männer, die sich allein auf
Gitarre und Mundharmonika begleiteten. Oder
es bildeten sich kleine Gruppen, die zum Tanz
aufspielten. Rhythmisch und textlich war dieser
Blues wesentlich rauer und ungeschliffener. Er
sprach nicht die Besserverdienenden an, die sich
den Besuch in Theatern oder den Kauf von Platten leisten konnte. Sondern er spiegelte direkt
das harte Leben auf den Baumwollfeldern oder
den Holzfällerlagern wider. Für Städter war diese
Musik eindeutig etwas unfeines. Doch zum Tanz
am Wochenende im Holzfällerlager oder auf der
Plantage war das genau das Richtige.
W. C. Handy mit seinem Orchester im Jahre 1918.
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© wasser-prawda
Musik
Lightnin‘ Hopkins
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© wasser-prawda
Musik
Sam Hopkins (1912-1982), der zu Beginn der zwanziger Jahre als Wandermusiker durch
Texas zieht, muss sich seinen Lebensunterhalt in Bars, Kneipen, Holzfällerlagern usw. verdienen. Als sein musikalischer Haupteinfluss gilt Blind Lemon Jefferson, dessen berühmte
Arpeggio-Technik des Call-Response-Schemas (Ruf-Antwort) er weiterentwickelt und zu
einem Individualstil verarbeitet. Von Raimund Nitzsche
Geboren wurde er am 15. März 1912 in Centerville, Texas. Als er acht Jahre alt war, traf er
Blind Lemon Jefferson bei einer kirchlichen
Veranstaltung. Und das war der Zeitpunkt, wo
er merkte, dass der Blues in ihm steckte und begann Unterricht bei seinem entfernten Cousin
Alger „Texas“ Alexaner zu nehmen. Und er fing
an, bei Kirchentreffen als Begleiter von Jefferson
zu spielen. Und das will schon was heißen denn eigentlich hat dieser erste Star des Country
Blues nie jemanden anderes neben sich spielen
lassen.
Eine Gefängnisstrafe auf der Houston County
Prison Farm (wofür er verurteilt wurde, ist heute
nicht mehr bekannt) in den dreißiger Jahren
stellt einen tiefen Einschnitt in seinem Leben
dar. Die sklavenähnliche Situation auf der Farm
reflektiert er im später aufgenommenen “Penitentiary Blues“:
Lord I just couldn’t help myself
You know a man can’t help but feel bad
When he’s doin’ time for someone else.
Nach seiner Entlassung arbeitete er in seiner
Heimatgemeinde zunächst als Hilfsarbeiter auf
einer Farm. 1946 vermittelt ihm die Talentsucherin Lola Ann Cullum seine ersten Plattenaufnahmen für das Aladdin-Label in Los Angeles.
Als Begleiter bringt Hopkins Wilson Smith, der
seines kraftvollen Pianospiels wegen “Thunder“
(Donner) Smith genannt wird, ins Studio. Aus
Gründen der Werbewirksamkeit nennt man Sam
“Lightnin’“ (Blitz). Die Aufnahmen sind national recht erfolgreich, und Ligthnin’ Hopkins
nimmt bis 1954 eine ganze Reihe von Platten
auf, in denen er von unerfüllter und erfüllter Liebe, Glücksspiel (dem er mit Leidenschaft frönt),
dem Leben im Gefängnis, den “Vorzügen“ und
Gefahren des Alkohols, seinen Eltern, seinem
Vorbild Blind Lemon Jefferson und anderen
Themen singt. Auch nationale und internationale Ereignisse finden ihren Niederschlag. In ”War
Is Starting Again“ gibt er seine ganz persönliche
Meinung zum Korea-Krieg wieder:
You know this world is in a tangle,
baby Yeah I feel they’re gonna start war again
Yes there’s gonna be many mothers and fathers
worryin’
Yes there’s gonna be as many girls that lose a
frien’ I got the news
this morning, right now They’d need a million
men You know I been
overseas, woman Po’ Lightnin’ don’t want to go
there again.
vor seinen afroamerikanischen Landsleuten auf.
1964 kommt er mit dem AFBF erstmals nach
Europa und findet auch hier ein begeistertes Publikum. Als er 1982 an Krebs stirbt, hinterlässt er
über fünfzig LPs. In einem Nachruf schreibt der
Filmemacher Les Blank:
”Er war einer der weisesten und liebenswürdigsten Menschen, die ich je das Glück hatte kennenzulernen. Er war Clown und Orakel, gewitzt und
ein Gauner. Er hatte Verständnis für alle Menschen und ihre Gefühle. Ob er nun Lieder von
anderen sang oder, wie es noch häufiger geschah,
einen Song improvisierte, Lightnin’ Hopkins war
ein Mann aller Hautfarben und Klassen und von
allen Zeiten. Er war der beredte Sprecher für die
menschliche Seele, die uns allen innewohnt.“
Schon zu Lebzeiten wurde sein Leben in verschiedenen Dokumentationen wie „The Blues
Accordin‘ To Lightnin‘ Hopkins“ und auch in
einem Spielfilm gewürdigt. Zur Zeit entsteht in
Houston ein neuer Dokumentarfilm über diese
Blues-Legende. „Where Ligtnin‘ Strikes“ soll neNachdem das Interesse an seiner Musik bereits ben Interviews mit Familien und Kollegen auch
erloschen zu sein scheint und er für einige Jahre die Einflüsse von Hopkins auf bildende Künstler
aus der ¨Offentlichkeit verschwunden ist, wird und Literatur erzählen. Wann der Streifen fertig
er 1959 vom Bluesforscher Sam Charters ”wie- sein wird, ist allerdings auf der Homepage noch
derentdeckt“. Sein Publikum setzt sich jetzt vor nicht vermerkt.
allem aus Weißen zusammen, die beginnen, sich
für die ureigenen Volksmusikformen ihres Lan- „Lightnin Hopkins“ (Porträt von Jules Granddes zu interessieren. Er ist Star vieler Universi- gagnage)
täts- und Folklorefestivals und tritt weiterhin Statue von Lightnin Hopkins in Texas
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© wasser-prawda
Musik
Michigan Blues
Greg Nagy ist der erste Bluesmusiker aus Flint in Michigan, der es in meinen Player geschafft hat. Welche Bands dort in den in Clubs unterwegs sind?
Keine Ahnung. Eine Annäherung von Nathan Nörgel.
Blues aus Michigan? Klar: John Lee Hooker begann seine großartige Karriere in Detroit. Und
auch andere Musiker zogen die Jobs in der Autoindustrie in die Gegend. Und frühen Rockbands
wie MC5 oder die Stooges konnte man immer
noch ihre Blueswurzeln anhören. Vom Soul eines
Mitch Ryder mal ganz zu schweigen. Und mit
Motown begann ja ein ganz eigenes Kapitel der
farbigen Musik. Heute ist Detroit für Musikerinnen wie Joanne Shaw Taylor die Wunschheimat.
Aber was ist eigentlich außerhab von Motorcity?
Flint kenne ich ehrlich gesagt nur über „Roger and Me“ von Michael Moore. Eine Stadt
mit Problemen, gegen die die Wirtschaftskrise
selbst im ländlichen Raum Vorpommerns wie
eine leichte Magenverstimmung wirken. Eine
Großstadt ohne eigene Tageszeitung. Tausende
Wohnungen wurden schon abgerissen, um leere
Stadtviertel verschwinden zu lassen. Perspektiven
gibt es nicht wirklich. Und alle paar Jahre muss
die Stadt, wo Ende der 70er noch 80.000 Menschen Autos für General Motors montierten, unter finanzielle Zwangsverwaltung gestellt werden.
Heut gibts wohl noch 8000 Autobauer in Flint.
Buick City, die riesige Fabrik von GM wurde vor
einiger Zeit abgerissen. Im Internet findet man
noch Fotos der riesigen Brachlandschaft.
Eigentlich eine ideale Gegend für den Blues.
Jedenfalls für Musiker, in heute noch in dieser
antiquierten Sprache ihr Mittel der Wahl sehen.
Für den Gitarristen und Sänger Greg Nagy ist
es das sicherlich. Blues, Soul, Funk und Gospel
verschmelzen bei ihm zu einer mitreißenden Einheit. Natürlich ist Muddy Waters ein Einfluss.
Aber noch mehr bei Nagy die Gitarrensounds
von Albert und Freddie King. Und natürlich
Motown aus der Nachbarschaft und Stax aus
dem fernen Memphis.
2007 und 2008 kamen dann noch „Change Our
Ways“ und „Live At The Cadillac Club“. Alle
drei Scheiben wurden von der Kritik gelobt und
im Radio gespielt und brachten der Band Einladungen über die Region hinaus.
Doch Greg verließ die Truppe im Guten, um
eine Solokarriere zu beginnen. Und die brachte ihm 2009 gleich eine Nominierung für das
„Best New Artist Debut“ bei den Blues Awards
Geboren wurde Nagy 1963 in Flint. Und natür- in Memphis ein.
lich wuchs er mit all dem wunderbaren Sound
aus Soul, Rock, Funk und natürlich Motown auf, War schon sein Solodebüt „The Thin Fine Line“
der damals noch aus jedem Radio zu hören war. ein Juwel für jede Bluessammlung, so ist sein
Allerdings machten auf den jungen Studenten 2011 erschienenes Nachfolgealbum „Fell Toward
damals Muddy Waters oder Albert King schon None“ eigentlich ein Pflichtkauf für Freunde
mehr Eindruck als die neuesten Hits aus der zeitgemäßer Bluesmusik.
Nachbarschaft. Aber ein Dasein als Musiker war
für ihn damals noch nicht wirklich die Wahl der Das geht schon los mit dem einzigen Cover der
Stunde. Nach dem College ging Nagy erstmal Scheibe, einer ziemlich am Original orientierten
zum Militär. Und erst ab den frühen 90er Jahren Version von Freddie Kings „Pack It Up“, wird
begann er fin diversen Blues- oder Funkbands aber erst so richtig klar bei Nagys eigenen Stüsieben Tage die Woche zu spielen. Root Doctor cken.
soll, so meinen regionale Kritiker jedenfalls, zu
der Zeit die beste Bluesband des ganzen Bundes- „Wishing Well“ etwa, wo Nagy eines seiner bestaates gewesen sein. Und so konnte Nagy 2004 eindruckenden Solos irgendwo zwischen Henderen Angebot, als Gitarrist einzusteigen, schwer drix und den Kings hinlegt. Tempo-Shuffle par
ablehnen. Und er brachte Sänger Freddie Cun- excellence. Und als nächstes kommt gleich eine
ningham und den Rest der Band dazu, nicht nur Soulnummer: „Be With You“, die gut auch irendlich ihr Debüt mit dem programmatischen gendwo in Memphis oder Muscle Shoals entstanTitel „Been a long time coming“ aufzunehmen. den sein könnte. Während Nagys Gesang hier
16
© wasser-prawda
Musik
Der Flint River in Flint (Michigan) (oben). Auf dieser riesigen Fläche befand sich bis vor einigen Jahren Buick City, die Autofabrik von General Motors in Flint (unten).
manche gar an Ray Charles erinnert. Oder das
funkige „Can‘t Take It No More“ oder gar „Let
It Roll“, wo Nagy gleich ganz in das Territorium
von James Brown wechselt. Unterschiedliche Stile aber alle gleichermaßen großartig gemeistert.
Unterstützt wird Nagy bei dem Album neben
seiner eigenen Band immer wieder auch von den
Motor City Horns, die das nötige Blech liefern.
Schwächere Songs? Gibt es kaum. Wenn man
nicht „Facebook Mama“ als solchen ansehen will.
Manchen ist die witzige Geschichte einfach zu
blöd. Aber das ist Geschmackssache. Und manchen ist ein Song wie „For a broken heart“ mit
seinen unerwarteten Wechseln zu wenig eingängig. Die sind einfach nicht darauf gefasst, dass
ein Bluesman heutzutage auch seine Jazz-Skalen
gelernt haben könnte. Und die Gebrochenheit
und Unberechenbarkeit macht gerade Nummer
zu einer der spannendsten des ganzen Albums.
Wer angesichts solch großartiger Songs noch der
Meinung ist, dass Blues heute keine zeitgemäße
Musik sei, der muss von Blind- und vor allem:
Taubheit befallen sein. Wer azf der Suche ist
nach einem Sänger und Gitarristen, der im Blues
seine ganz eigene Stimme gefunden hat - hier
kann er bedenkenlos zugreifen.
Wer allerdings in Nagys Stücken zeitkritische
Kommentare zu Flint in Michigan sucht, wird
wahrscheinlich enttäuscht sein. Denn eines ist
Nagy nicht: Er ist nicht der nächste Dylan.
Wer unbedingt eine Schublade braucht: Ich persönlich sortier Nagy in der Nachbarschaft von
Philipp Fankhauser und Ray Bailey im Grenzgebiet von Blues & Soul ein. Schlagwort: Flint,
Michigan. Zur baldigen Wiedervorlage markiert.
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Musik
Neuanfang als Chef
Als Gitarrist und Songschreiber der Band „New Blood“ von Jason Ricci war
Shawn Starski jahrelang unterwegs. Aber irgendwann reichte es ihm. Und
nach zwei Jahren legt der 1979 geborene Gitarrist jetzt sein selbstbetiteltes
Debüt vor. Von Raimund Nitzsche
Es gibt Musiker, die den größten Teil ihres Lebens immer in der zweiten Reihe bleiben. Hubert
Sumlin etwa war es lange zufrieden, der Gitarrist
hinter Howlin Wolf zu sein. Und selbst als der
Chef gestorben war, konnte er sich lange nicht
wirklich von diesem übergroßen Vorbild lösen.
Für Shawn Starski kam der Durchbruch als Gitarrist, als er Mitglied von New Blood, der Band
des Bluesharp-Punks Jason Ricci wurde.
Sieben Jahre und vier Alben lang war er nicht nur
der Gitarrist der von Kritikern und Fans hochgelobten Band. Sondern er wurde immer mehr
auch zum wichtigen Songschreiber der Truppe.
Doch man kann sich auch als Außenstehender
gut vorstellen, dass das Auftreten Riccis mit seinen Drogen- und Alkoholexzessen einem irgendwann die Lust an einer solchen Zusammenarbeit
nimmt. Oder auch der Hang zu einem seltsamen
Okkultismus, wie er sich auf Alben wie „Done
With The Devil“ zeigte.
Besonders wenn man wie Starski seine ersten
musikalischen Schritte in einer Kirchenband unternommen hat. Erst die Anregung seines Bruders brachte ihm den Blues nahe.
In Bands wie The Shadowcasters und später The
Regulators spielte er jede Form blueslastiger Gitarrenmusik zwischen Jump-Blues und Bluesrock. Nachdem 2010 New Blood aufgelöst war,
tat er sich mit der Sängerin Kelly Hunt ebenso
zusammen wie mit Otis Taylor. Mit ihm wird er
auch in Europa zu erleben sein, wenn Taylor sein
neues Album „Contraband“ hier präsentiert.
Doch vor allem hat Starski die letzten zwei Jahre genutzt, um endlich auch ein eigenes Album
aufzunehmen. Das selbstbetitelte Debüt ist eine
Visitenkarte seiner Vielseitigkeit geworden. Eine
sehr hörenswerte noch dazu.
Die zehn Songs pendeln zwischen swingendem
Shuffle-Rock, klassischem Texas-Blues&Boogie
und jazzigen Instrumentals. Starski lässt im Studio zum Glück nicht seiner Lust an ausufernden Improvisationen seinen Lauf sondern spielt
präzise und auf den Punkt, wie es die einzelnen
Songs brauchen. Live kennt man ihn ja als einen Musiker, bei dem Stücke gerne viel länger als
zehn Minuten dauern. Doch auf „Shawn Starski“
bleiben die meisten Stücke unter fünf Minuten.
Auf zwei Stücken kann man noch dazu eine Sängerin entdecken, die bei manchem spontan eine
Assoziation zu Größen wie Nina Hagen auslöst:
Elle ist Starskis Frau und außerdem eine Bluessängerin, die man in den nächsten Jahren unbedingt genauer verfolgen sollte. „Cry Baby“ mit
ihr ist für mich zumindest der absolute Höhepunkt des Albums.
18
© wasser-prawda
Musik
Nicht in dieser Welt:
TriBeCaStan
TriBeCaStan wird man so schnell in keinem konventionellen Atlas finden.
Auch gutinformierte politische oder geografische Faktensammlungen wie
etwa Fischers Weltalmanach sind überfragt. Denn wenn TriBeCaStan in
einem Atlas auftaucht, dann höchstens in einem musikalischen.
Von Nathan Nörgel
Es begann alles vor einigen Jahren, als zwei
Nomaden aus Amerika begannen, die Lande der
Musik ohne Regeln oder Sinn für Grenzen zu
erforschen. Beide waren Fans von ungewöhnlichen Klängen, seltsamen Instrumenten und
von deren Spielern, denen sie auf ihren Reisen
begegneten. Inzwischen ist aus dem Duo eine
große Band geworden.
„Out of this Wold Beat“ ist als Genre-Bezeichnung gar nicht mal so schlecht. Denn was die
Band um John Kruth und Jeff Greene auf ihrem
neuen Album „New Deli“ anrichtet, vereint derartig viele Einflüsse, dass man mit dem Aufzählen gar nicht mehr hinterher kommen würde.
Oder sollten wir es doch versuchen: Da trifft
Jazz a la Ornette Coleman auf nordafrikanische
Rhythmen und ein wenig Balkan Brass. Traditionelle indische Instrumente spielen plötzlich im
Kontext einer Surf-Rock-Band. Und afghanische
Hirtenmusik trifft auf die Folklore der Appalachen. Das liest sich fürchterlich. Das sieht auf
dem Papier aus wie eine tote Kopfgeburt. Aber
zum Glück ist keiner zum Lesen gezwungen.
Wenn man es aber hört (am besten nicht im
Sitzen sondern in Tanzhaltung), dann scheinen
plötzlich selbst die absurdesten Sprünge logisch
und absolut nachvollziehbar. Wenn etwa im
Opener „Song for Kroncha“ die fast gemütlich
dahin plätschernden Linien der Flöten von einer
wüsten Free-Jazz-Attacke hingerichtet werden.
Oder dass „Don‘t Let Me Be Misunderstood“
mehr nach dem Vorderen Orient als nach der
Fassung der Animals klingt. Auch wenn der
Sänger eindeutig ein Fan von Eric Burdon zu
sein scheint. Und „Jovanka“ verschmilzt ShantySeligkeit mit Anklängen an Mariachi-Trompeten in Beirut. Während die Frau des Gehinrchirurgen ein Dinner serviert, was einfach nur noch
vom kompletten Wahnsinn Zeugnis ablegen
kann.
Das alles ist von einem zappaesken Humor
durchdrungen, dass das Grinsen im Gesicht der
Eingeweihten permanent zu werden droht, je
weiter das Album sich voranwagt auf der seltsamen Speisekarte des „New Deli“. Doch wo
Zappa zumeist noch abstrakt bleibt, brodelt
bei Tribecastan überall ein Tanzgroove, der für
intellektuelle Glasperlenspielereien einfach keine
Zeit lässt.
Photos: Paul Hoelen & Mandarine Montgomery
19
© wasser-prawda
Musik
Heavenly Sight oder: Der
Blick in den Himmel
Blind Willie Johnson, Blind Gary Davis oder
die Blind Boys of Alabama - auf ihre je eigene
Art haben diese Musiker ihren Glauben in Töne
gesetzt. Und sie waren ebenso blind wie etwa
Ray Charles und haben es auf die harte Tour
lernen müssen, mit ihrer Einschränkung in Gesellschaft und Musikindustrie zu überleben.
Manche Menschen meinen, es gebe eine direkte
Verbindung zwischen Blindheit und der Empfänglichkeit für spirituelle Erkenntnis. Über
den Wahrheitsgehalt dieser Aussage kann man
durchaus streiten. Klar allerdings ist, dass gerade
blinde Musiker in den Vereinigten Staaten immer wieder großen Einfluss auf die Entwicklung
nicht nur des Gospel sondern auch im Blues
oder Soul hatten. „Heavenly Sight“ dokumentiert die Schicksale und Erfahrungen blinder
Gospelmusiker.
Usprünglich war das eine rund einstündige
Radiosendung, die David Marash für die New
Yorker Produktionsfirma Murray Street erstellt
hat. Dabei ging es nicht nur um die Musik
sondern eben auch darum, wie blinde Musiker
damals und heute in Gesellschaft und Musikindustrie ihren Weg fanden. Es sind spannende
Einzelschicksale, die Marash zusammengetragen
hat:
Die Blind Boys of Alabama waren ursprünglich
eine Gruppe des Talladega Institute for the Negro Deaf and Blind. Und diese staatliche Schule
war weit davon entfernt, die Schüler auf ein
eigenständiges Leben vorzubereiten. Was man
dort lernen konnte war aber der Gesang. Und
wer in die Gruppe aufgenommen wurde, konnte
so zumindest zeitweise den fast gefängnisartigen
Zuständen entkommen.
Als Straßenmusiker war Blind Gary Davis
immer wieder um seine überlebenswichtigen
Gitarren bestohlen worden. Daher entwickelte
er einen schon fast legendären Hang zu Schusswaffen. Selbst Nachts soll er immer mit einer
Pistole in der Hand geschlafen haben.
Blind Willie Johnsons klagende Slide-Gitarre?
Kaum jemand gibt es, der von diesen Klängen
nicht tief im inneren berührt ist. Hier klagt
einer Gott sein Leid mit einer Hingabe, die
einzigartig war.
Man könnte hier noch jede Menge Musiker und
auch Musikerinnen nennen. Ray Charles etwa
mit seiner „Erfindung“ der Soulmusik durch die
Profanisierung des Gospel. Hinter jeder Aufnahme verbergen sich Lebensläufe, die scheinbar
nur eines gemeinsam haben: Den Musikern
fehlte oder fehlt das Augenlicht. Und so wie die
Menschen damit unterschiedlich umgegangen
sind, so wie jeder persönliche Glaube einzigartig
ist, so sind es auch viele einzigartige Blicke in
den Himmel, die es zu entdecken gilt.
Jetzt soll aus der Radiosendung aber - und das
macht das Projekt noch interessanter - ein Webauftritt werden, wo über die in der Sendung
vorgestellten Musiker hinaus Biografien, Videos
und Bildmaterial blinder Gospelmusiker gesammelt und für Sehende und Blinde zugänglich
gemacht werden sollen. Dafür wurde jetzt bei
kickstarter ein Projekt gestartet, um notwendige
Gelder zu sammeln. Und dann soll die bislang
noch sehr auf den farbigen Gospel zentrierte
Sichtweise von heavenlysight.org schrittweise
auch die Erfahrungen blinder Musiker überall
auf der Welt reflektieren.
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Fotos: Blind Boys of Alabama, Ray Charles
(1990) und Blind Willie Johnson (ca. 1920)
© wasser-prawda
Platte Des Monats
blau:
güntsied
Blues auf Platt oder besser: Weltmusik mit plattdeutschen Texten hat sich das Duo blau: verschrieben. So treffen auf ihrem aktuellen Album
„güntsied“ Taj Mahal und Ry Cooder auf norddeutsches Fernweh.
Shantyklänge oder gar Anspielungen auf das Musikantenstadl wird man nicht hören. Statt dessen
sind die Songs von Gitarrist Werner Willms und
Günter Orelli (Sousaphon, perc) mit aktuellen
Stücken etwa von Hubert von Goisern zu vergleichen.
Die Debatte wird tatsächlich heute noch immer
geführt, ob Weiße in der Lage sind, Blues zu spielen. Wenn sich namhafte Magazine wie „Living
Blues“ weiter weigern, sich mit der Musik von
Musikern zu beschäftigen, weil diese eben nicht
farbig sind, dann hat das nichts mit einem umgedrehten Rassismus zu tun. Im Hintergrund steht
da eher eine Kombination aus zwei Fragestellungen. Die eine betrifft die Frage der Authentizität.
Kann jemand, der nicht zumindest über seine
Vorfahren die Erinnerung an die Sklavenarbeit
auf den Baumwollfeldern in sich trägt, wirklich
den Blues nachvollziehen? Ist nicht jeder Versuch
schon zum Scheitern verurteilt? Diese Einstellung geht davon aus, dass der Blues eben mehr ist
als eine besondere Form der Musik wie etwa die
Gregorianik, böhmische Polka oder argentinischer Tango. Der Blues ist das Vermächtnis und
die Erinnerung eines ganzen Teils des amerikanischen Volkes. Das Leid der Sklaven kann man
nicht ersetzen durch andere erlittene Schicksalsschläge. Der Blues wäre dann nicht authentisch.
Dieses Argument muss man meiner Meinung
nach nicht mehr wirklich ernst nehmen. Denn
das ist eine Konstruktion, die in der Realität der
Bluesmusiker nie wirklich zutraf. Schon immer
gab es einen Austausch zwischen weißen und
farbigen Musikern, sangen Farbige Country und
übernahmen Weiße Bluessongs ihrer Kollegen.
Und spätestens seit Bands wie der Paul Butterfield Bluesband waren Weiße auch von ihren
Kollegen als gleichwertige Mitstreiter anerkannt.
Das andere Argument ist schon schwerer zu entkräften: Weiße Bluesmusiker haben es auf dem
begrenzten Markt einfacher, mit ihrer Musik
Geld zu verdienen. Und ihre farbigen Kollegen
bleiben auf der Strecke. Ob da ein immanenter
Rassismus bei Konzertveranstaltern und Plattenkäufern verantwortlich ist, kann man schlecht
entscheiden. Auf jeden Fall verkaufen sich komischerweise Platten weißer Bluesrocker oder auch
weißer Bluesmen besser. Und sie werden eher
in der Öffentlichkeit wahrgenommen, wie man
etwa aktuell an der Nominierung und der letztlichne Vergabe des Blues-Grammy sehen kann.
In so einer Hinsicht wäre ein Album wie „güntsied“ von Anfang an zu scheitern verurteilt.
Baumwolle wächst nun mal nicht in der Moorlandschaft zwischen Bremen und der holländischen Grenze. Doch seltsamer- oder besser:
glücklicherweise - funktioniert „güntsied“ ebenso
wie etwa die Musik von Goisern. Hier sind Musiker, die ganz tief in ihren regionalen Kulturen
verwurzelt sind aber gleichzeitig eben die Musik
der amerikanischen Weiten in sich aufgenommen und verarbeitet haben. Das Ergebnis mag
kein authentischer Mississippi-Blues sein. Das
soll es auch gar nicht. blau: stehen statt dessen
für eine neue regional verwurzelte Weltmusik.
Die Texte von „güntsied“ sind Alltagsgeschichten
zwischen Erinnerungen an eine vergangene Jugendzeit und den heutigen Ärger mit Beziehungen., Und sie spielen mit den geschichtlichen
Traditionen der Region, der Auswanderung in
ein mythisches Amerika, die großen Zeiten des
Fischfangs auf den Weltmeeren oder auch mit
Ereignissen aus der Zeit vor der Gründung des
Deutschen Reiches. Das ist für Willms und Orendi ihr „Wilder Westen“, ihre Zeit der kulturellen Verwurzelung. Die Bluesanklänge etwa durch
die Slide-Gitarre von Willms klingen weniger
nach Robert Johnson als nach Ry Cooder oder
auch Hank Shizzoe. Und wenn das Akkordeon
erklingt, dann oszilliert es zwischen den spontan
aufkommenden Shantyassoziationen und einer
Tex-Mex-Fröhlichkeit, die letztlich immer die
21
Oberhoheit behält.
Dass man als Außenstehender die Texte nicht
sofort versteht, ist komischerweise kein Manko. Denn selbst als Sachse fühlt man sich in den
Songs zu Hause und ernstgenommen. „güntsied“ ist daher ein absolut empfehlenswertes Album nicht nur für Norddeutsche und auch nicht
nur für Bluesfans. Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
Platten
wird. Hinzu kommen dann noch
George Papailys an der Gitarre und
Keyboarder Tim Alleyne.
Raimund Nitzsche
lung wert. Und man darf gespannt
sein, ob in diesem Jahr noch ein
Live-Album erscheint, was einen so
gefangen nehmen kann. (Blind Pig/
Fenn Music)
Raimund Nitzsche
Big James and the Chicago Playboys - The Big
Payback
Bläsergetriebener Blues mit jeder
Menge Funk: Big James and The
Chicago Playboys haben in den letzten Jahren nicht nur als Begleitband
für Stars wie Buddy Guy oder Eric
Clapton gespielt sondern sich als
eine der besten Soulbluesbands etabliert. Ein Konzert aus dem Pariser
Lionel Hampton Jazz Club wurde
jetzt als „The Big Payback“ veröffentlicht.
„We had a band powerful enough
to turn goat piss into gasoline.“
Den Vergleich von Donald „Duck“
Dunn über den Sound der Blues
Brothers könnte man eigentlich
auch auf Big James and The Chicago Playboys anwenden. Die Band
um Sänger und Posaunist „Big“
James Montgomery hat in den letzten Jahren einen Sound für sich gefunden, der Chicago-Blues nahtlos
mit Soul und Funk verschmilzt.
Und das Ergebnis ist eine bläsergetriebene Mixtur, die einen von den
ersten Tönen des Albums „The Big
Payback“ wünschen lässt, man wäre
bei dem Konzert dabei gewesen.
Genau so muss für mich eine klassische Rhythm & Blues-Show einfach sein: Eine großartig eingespielte Band (Joe „Goldie“ Blocker
– keyb, Mike „Money“ Wheeler – g,
Charles „Richard“ Pryor – tp, Larry
„L-Dub“ Williams – bg, Cleo Cole
– dr) legt mit dem programmatischen Opener „The Blues Will Never Die“ (eine der drei von Montgomery geschriebenen Nummern
des Albums) los und lässt den Hörer
bis zum Schluss nicht von der Angel
entfliehen. Ob sie dafür nun Klassiker des Funk wie den von James
Brown stammenden Titelsong oder
George Clinton‘s „I‘ll Stay“ abfeuern oder Bluessongs wie „All Your
Love“ einstreuen – Band und Publikum haben hörbar eine Menge
Spaß. Und selbst eine totgecoverte
Rocknummer wie „Smoke on the
Water“ wird bei den Playboys einfach zum Soulblues-Instrumental
umfunktioniert.
Für Blues- und Soulfans ist „The
Big Payback“ eine echte Empfeh-
The Harmonious Five
- Wanna Hear You Say
„Yeah!“
Sie sind Fans des swingenden
Rhythm & Blues der späten 50er/
frühen 60er Jahre. Auf „Wanna
Hear You Say Yeah!“ haben die
vier Musiker der Harmonious Five
gleich 17 meist unbekannte Nummern zwischen den 5 Royales und
obskuren Tanzstilen versammelt.
Bettye LaVette ist schon ein erklärter Fan der Band. Und wenn man
diese eingängige Mixtur klassischer
Tanznummern hört, kann man das
gut nachvollziehen. Was die vier
broadwaygestählten Musiker hier
vorgelegt haben, dürfte eine der
interessantesten Scheiben für Fans
von Swingklängen und klassischem
Rhythm & Blues sein, der 2012
bislang erschienen ist. Besonders
beeindruckend ist dabei nicht nur
die instrumentale Meisterschaft der
vier sondern vor allem die Harmoniegesänge, mit denen sie wie selbstverständlich die große Tradition der
Vocalgroups der von ihnen geliebten Zeit fortschreiben: Da gibt es
zwischen Doo Wop, Rock & Roll
und Pop alles, was der Retro-Fan
begehren kann.
Wer also demnächst eine Tanzparty plant, sollte dieses Album eingepackt haben, um die Massen in
Stimmung zu bringen. Und wer
bei John Waters „Hairspray“ vor
dem Fernseher tanzt, braucht diese
Scheibe auch unbedingt. (Haywire)
Raimund Nitzsche
Carolyn Fe Blues Collective - Original Sin
Blues aus Kanada - oder besser:
zumeist düsterer Bluesrock findet
sich auf „Original Sin“. Das Album
wurde 2011 vom Carolyn Fe Blues
Collective veröffentlicht und hätte
eigentlich auf die Nominierungsliste für die besten Bluesalben gehört.
22
Klar gibt es die alten und jungen
Bluesmen noch immer. Aber spannend wird es für mich immer gerade
dann, wenn da eine Frau ihre Geschichten in Blues verwandelt.
Wobei „Original Sin“ musikalisch
eher mit Alben wie Mariella Tirotto & The Blues Federation als mit
Samantha Fish oder gar Hip Shakin
Mama vergleichbar ist. Viele der
Lieder auf dem Album sind Songs,
die oftmals nur noch der Stimmung
nach Blues aber ansonsten eindeutig
Rock sind. Düsterrock zudem. Oft
rauh, dreckig und gemein. Denn es
sind nicht wirklich die harmlosen
sonnigen Geschichten, die Songwriterin Carolyn Fe mit ihrer Band
da hören lässt. Da wird heftig abgerechnet mit miesen Mitmenschen
(großartig allein so eine Zeile aus
„Rant“: “You’re just one of Satan’s
Army brats”). Da gibt‘s Bezüge zur
Bibel (nicht nur zur Erbsünde und
den Apfel sondern auch zur Offenbarung des Johannes), Und überhaupt gibt es für den Blues ja von
früh bis spät Gründe. Doch Carolyn Fe ist keine der Blueser, die
ihren Kopf hängenlässt und weint,
sondern eine die wie Big Mama
Thornton ihren Blues herausbellt
und schreit, wenn es nötig ist.
Carolyn Fe zeichnet als Sängerin für
die meisten Texte der Songs verantwortlich zeichnet. Und als EInflüsse
nennt sie nicht nur die Klassiker des
Blues sondern auch so verschiedene
Musiker wie Patsy Cline, Richard
Wagner oder Philipp Glass. Wobei
man hier dessen Minimal-Music
ebensowenig zu hören bekommt
wie sinnlosen Wagnerschen Bombast. Viel einleuchtender sind für
mich Assoziationen zu Indierockbands wie den Yeah Yeah Yeahs
oder so. Denn mit einer ähnlich
umwerfenden Energie geht sie hier
zur Sache. Und wird dabei von einer
hervorragenden Band unterstützt,
deren Mitglieder allesamt auch am
Songwriting beteiligt sind.. Da ist
Dan Lagault als Schlagzeuger und
Mitgründer der Band), der von den
treibenden Rochrhythmen bis hin
zu Anspielungen auf Tex-Mex alles
hinbekommt und dabei von Bassist
Oisin Little congenial unterstützt
Sean Poluk - Never
Zuletzt spielte Sean Poluk mit dem
Trio Papasean Johnson Bluesrock.
Sein jetzt veröffentlichtes Album
„Never“ geht musikalisch weiter
zurück in die Geschichte des Blues.
Die zehn Songs spielen in einer
musikalischen Welt zwischen Louisiana, Chicago und Memphis. Entstanden sind sie aber in Kanada.
Das geht ja schon mal gut los: Wenn
Poluk „Even when you‘re wrong“,
den Opener von „Never“ anstimmt,
dann ist gleich da dieses Zucken in
den Füßen. Dieser treibende Song
mit der heulenden Bluesharp und
Poluks klaren Gitarrenlinien legt
die Latte für das Album gleich ganz
schön hoch. Auch Songs wie „Hell
Yeah“ oder „You‘re My Drug“ sind
mehr als angenehme Entdeckungen. Und dann erst der absolute
Höhepunkt „What You Mean To
Me“: Wenn man sich dabei an die
Aufnahmen seiner alten Band Papasean Johnson erinnert, dann ist man
versucht von einem echten Quantensprung in seiner Entwicklung zu
sprechen.
Sean Polluk ist wirklich ein guter
Songschreiber geworden, der sich
ziemlich souverän zwischen Blues,
Soul und ein wenig Funk oder
Rock&Roll bewegt. Aber das aufgesetzte Muckertum des aufrechten
Bluesrockers hat er fast vöölig abgelegt. Bei „Whish You‘d Stay“ macht
er sogar Ausflüge in den Reggae.
Allerdings muss das nicht wirklich
sein - der Song zählt neben dem für
mich langweiligen Schmachtfetzen
„Never“ zu den schwächeren Songs
eines guten Albums.
Begleitet wurde Poluk bei den Aufnahmen von einer Auswahl kanadischer und spanischer Musiker. Erwähnen muss man hier unbedingt
JORDAN MC NEIL – BOBB an
der Mundharmonika. Der Mann
ist schon für sich eine echte Entdeckung.
Kaufen kann man „Never“ über
cdbaby. Für den Herbst sind Konzerte auch in Deutschland mit Sean
© wasser-prawda
Platten
Poluk geplant. Wenn er dann eine
ähnlich gute Band hat wie im Studio, dann sollte man sich auf eine
wirklich große Bluesshow gefasst
machen.
Raimund Nitzsche
Cologne Blues Club Our Streets
Großstadtblues kann auch fern von
Memphis oder Chicago entstehen.
Selbst in Köln ist das möglich, wie
der Cologne Blues Club 2011 mit
seinem Debüt Our Streets eindrucksvoll belegte.
Für die Qualität von Bluesalben hab
ich einen bemerkenswerten Indikator gefunden. Jedes Mal, wenn mein
Webmaster sich bei den täglichen
Musikberieselungen anerkennend
mit Fragen oder Bemerkungen meldet, kann die Scheibe schon mal
nicht schlecht sein. Wenn er aber
gar selbst in meiner Abwesenheit
ein Album ohne Zwang selbst in
den Player legt und anhört, dann ist
das ein echter Knaller. Denn er ist
nun sicher alles, aber kein erklärter
Bluesfan. „Our Streets“ hat diesen
Status in unserer Redaktionn von
Anfang an erreicht.
Der Grund liegt ganz einfach darin,
dass der Cologne Blues Club einen
absolut eingängigen und niemals
aufdringlichen Blues spielen, wo die
Brillianz der Musiker niemals ein
Selbstzweck ist sondern immer nur
so weit in Erscheinung tritt, wie es
die Songs brauchen. Und die zwölf
Songs - halb Klassiker wie „Shame
Shame Shame“ oder „Gotta Get It
Worked On“, halb eigene Geschichten aus dem Leben heute in Köln
am Rhein - sind durchweg mehr als
gelungen. Die Stimme von Sänger
Geza Tenyi (auch an der Bluesharp
für mich eine echte Entdeckung)
muss nicht mit ihrer Power protzen
sondern bleibt eindringlich und einschmeichelnd in jedem Tempo. Und
die zwei Gitarristen Micka Kunze
(slide) und Thilo Hornschild bilden
ein derartig eingespieltes Doppel,
dass manche Kollegen sich an Bands
wie Delta Moon erinnert fühlen.
Klar ist auf jeden Fall: so was gab es
im deutschen Blues lange nicht. Die
Rhythmusgruppe (Michael Bebhart
- b, Axel Hahn - dr) liefert dazu die
passenden Grooves, die mal nach
aktuellem Chicago-Blues, mal auch
nach Funk aus Memphis klingen.
Für mich sind es gerade die eigenen
Songs, die „Our Streets“ so besonders machen. Sei es der rockige
Opener „Back for Blues“, sei es die
unwiderstehlich groovende Nummer „Let us roll“ oder die Geschichte vom „Cologne City Man“.
Hier haben Musiker ihren Blues,
fernab der historischen Baumwollfelder, gefunden und überzeugend
in Lieder verpackt. Und wenn man
das mal sagen darf: Sie klingen
dabei so deutsch, wie Hank Shizzoe
oder Philipp Fankhauser nach der
Schweiz klingen. Nämlich überhaupt nicht.(pepper cake/ZYX)
Nathan Nörgel
kann, Philip Sayce als Bluesrocker
zu bezeichnen, erschließt sich mir
beim Hören von „Steamroller“ in
keiner Weise. Und auch die Vergleiche zu Walter Trout. Nichts gegen
seine Qualitäten als Gitarrist. Auch
nichts gegen ihn als Sänger. „Steamroller“ ist eindeutig ein Hardrockalbum mit Metal-Anklängen im Stil
der 70er Jahre. Hier ist kein Blues
zu erkennen. Noch nicht mal in
fernen Andeutungen am Horizont.
Und seien wir ehrlich: „Steamroller“
ist noch nicht einmal ein wirklich
gutes Hardrockalbum.
Klar: Die Scheibe rockt ordentlich.
Die Grooves sind deftig. Aber durch
die Produktion wurden sämtliche
vielleicht vorhandenen Nuancen
der einzelnen Lieder gnadenlos in
Richtung eines düster stampfenden
Soundeinerleis zermatscht. Nur ein
Titel hat für mich einen Erinnerungswert. Und der heißt „Beautiful“. Das ist eine amtliche Rocknummer, deren Riffs ins Ohr gehen
und wo der Gesang aus dem Einerlei
heraussticht. Den Rest hätte ich mir
gern erspart. (Mascot/rough trade)
Nathan Nörgel
Philip Sayce - Steamroller
Gerne wird Philip Sayce als Shooting Star in der Gilde der Bluesrock-Gitarristen gefeiert. Doch die
Blueswurzeln sucht man auf seinem
aktuellen Album „Steamroller“ vergebens. Die Scheibe ist eindeutig
Hardrock/Metal im Stile der 70er
Jahre.
Irgendwann tauchte die lange unwidersprochen gebliebene Aussage auf,
Weiße könnten keinen Blues spielen. Für mich liegt einer der Gründe
dafür in der Gilde der jungen weißen Gitarristen, die zwar technisch
in der Lage wären, Blues zu spielen
die aber dennoch eigentlich Rocker
sind. Genauer gesagt: Led Zeppelin konnten Blues spielen. Doch
die zahllosen Nachahmer kopierten
bloß deren Härte und sorgten dafür,
dass die Rockmusik - besonders der
Hardrock/Heavy Metal - irgendwann eine bluesfreie Zone wurde.
AC/DC waren mal eine wirklich
gute Bluesrock-Band. Und selbst
bei Motörhead kann man die Wurzeln noch erahnen.
Doch heute werden von Fans und
Kritikern technisch brilliante Gitarristen vorschnell in die Riege der
Bluesrocker geschoben, sobald in
ihren Stücken auch nur von ferne
eine Bluesskala herauszuhören ist.
Das ist eine Marketing-Masche, die
mich wirklich ärgert.
Wie man etwa auf die Idee kommen
Charlie and the Fez
Kings - It‘s Good To Be
The King
Charlie and the Fez Kings aus Nebraska versetzen ihren Blues gerne mal mit überraschenden Dosen
Progressiv-Rock. Ihr zweites Album
„It‘s Good To Be King“ enthält 11
vom Gitarristen Charlie Glasgow
geschriebene Songs zwischen klassischem Blues, ZZ-Top und Classic
Rock.
Wie viele Wege gibt es eigentlich,
das auf dem Papier starre Korsett
des Blues aufzulösen ohne dabei den
Blues selbst zu zerstören? Meiner
Meinung nach nicht allzuviele. Da
bin ich mit Musikern wie Ana Popovic einer Meinung: Wenn man zuviel am Blues herumexperimentiert,
dann geht er schnell vor die Hunde.
Dann wird aus Blues ganz schnell
Rockmusik, der man im besten Fall
ihre Verwurzelung im Blues anhört.
Was uns zu Charlie And The Fez
Kings bringt: Charlie Glasgow und
seine Mitstreiter sind klar im Blues
verwurzelt. Man nimmt ihnen ab,
23
dass sie jahrelang in den Clubs in
den Staaten unterwegs sind - allein
oder jetzt mit der 2010 gegründeten Band. Aber wer beim Hören
der elf Songs von „It‘s Good To Be
The King“ sich an Bands wie Styx,
Saga oder manchmal gar Steely Dan
erinnert fühlt, der liegt mit seiner
Einschätzung nicht ganz daneben.
Gitarrenlinien und Keyboards verdanken der Rockmusik der 70er
und frühen 80er Jahre eine ganze
Menge. Und auch die ausgefeilten
harmonischen Veränderungen in
Liedern wie „Shelter“ sind ohne
dieses Erbe undenkbar. Und beim
Opener „Another Time Another
Day“ kommen dann auch jazzige
Klänge zum Tragen, die man sonst
eher beim kalifornischen Blues erwartet. Das kann man insgesamt
als Verrat an der reinen Blues-Lehre
anprangern. Oder man freut sich
darüber, dass hier eine Band ihre
eigenen Klangwelten erforscht,
ohne sich um kleinkarierte Kritik zu
kümmern.
Die elf Lieder auf dem zweiten Album der Band funktionieren als
Rocksongs prima. Und sie sind eine
wirkliche Abwechslung zum meisten, was sonst im Bluesrock gerade
passiert. Höhepunkte sind für mich
„Play Me Some Blues“ und „Overdrive“ mit seinem ZZ-Top-Groove.
Und auch das wunderbar funkige
„Sugar Daddy“ zeigt, wie dicht diese Band noch an den Blueswurzeln
ist. „It‘s Good To Be The King“ ist
im Bereich des Bluesrock ein erfrischend eigenständiges Album mit
guten Songs. Erhältlich ist das Album zur Zeit lediglich als Download. Eine „echte“ CD soll im Laufe
des Jahres folgen.
Raimund Nitzsche
Jan Hirte‘s Blue Ribbon feat. Nayeli - Singing The Blues
Sie haben beides: Blues und Soul.
Was Jan Hirte mit seiner Band Blue
Ribbon im Oktober letzten Jahres
im Berliner Yorkschlösschen auf
die Bühne gebracht hat, hat Stormy Monday als Album veröffentlicht. Unterstützt wird die Band des
Gitarristen dabei von der famosen
© wasser-prawda
Platten
Sängerin Nayeli.
Jan Hirte‘s Blue Ribbon gehört sicherlich mittlerweile zu den besten
Live-Bands nicht nur der Berliner
Blues-Szene. Das kann man wunderbar an „Singing The Blues“ nachhören: Jan Hirte gehört nun gerade
nicht zu den Gitarristen, die sich
überall mit ihrer Fertigkeit in den
Vordergrund schieben muss. Doch
wenn er mal ein Solo spielt, dann
ist es stimmig und einprägsam zu
jedem Zeitpunkt. Ansonsten hält er
mit seinem Instrument den Laden
zusammen und treibt seine Kollegen voran. Hier merkt man die jahrelange Erfahrung als Begleitmusiker etwa von Tommy Schneller oder
anderen Musikern. Und auch die
Erfahrung der Band als solcher, die
traditionsgemäß die Blues-Sessions
im Yorkschlößchen eröffnen.
Ein großer Teil des Programmes ist
denn auch mit Klassikern gefüllt:
„Hold On, I‘m Coming“ findet sich
ebenso wie „Chain Of Fools“ oder
„My Babe“. Die Band spielt wie aus
einem Guss, gibt nicht etwa eine
billige Blues-Brothers-Kopie sondern bringt immer in den Solos die
eigenen Ideen in die Werke ein. Und
dann gibt es immer Wieder Stücke,
bei denen man sich verwundert
fragt: Woher kenne ich diese Nummer eigentlich? Dabei kennt man
sie wohl eher doch nicht. Denn sie
stammen aus der Feder von Hirte („I
Always Will“, „Barefootin‘ In The
Sand“) oder auch von Sanger/Bassist Uli Wagner („Mr. Nice Guy“).
Und da merkt man dann auch, dass
Blue Ribbon eben auch eine gute
Jazzband ist und keine reine Soul-/
Blues-Band.
Wenn auf „Singing The Blues“ etwas besonders heraussticht, dann
ist das die unwahrscheinliche Stimme von Nayeli. Dass man von ihr
außerhalb Berlins bislang noch wenig gehört hat (zumindest nicht im
Raume Vorpommern), dann liegt
das einfach daran, dass sie zur Zeit
noch an ihrem ersten Album arbeitet. Wenn sie darauf ebensolche
Gänsehaut fabrizieren kann wie
bei „Jealous Girl“ „All I Could Do
Was Cry“, dann steht da eine große
Soulsängerin zur Entdeckung an.
Insgesamt ist „Singing The Blues“
ein prima Live-Album aus hiesigen Landen voller Spielfreude und
ohne Klischees. (Stormy Monday/
in-akustik)
Raimund Nitzsche
xen ausgewählt hat. Auf dem nur
als Download erhältlichen Album
„Black and Tan Edits“ finden sich
daher 18 Stücke, die auf Originalen
von rauhen Blues-Puristen wie Big
Boo Davis, Big George Jackson oder
Billy Jones beruhen.
sie in ihren Liedern aufgreift. In
„Small Miracles“ etwa geht es um
ungewollte Kinderlosigkeit, „Creepy“ berichtet von Problemen mit
Stalkern. Und den alltäglichen Terror in den Schulen widmet sie sich
in „Scars“. Was Clare Free leider
in meinen Ohren nicht ist, ist eine
große Sängerin. Dafür fehlt ihr die
Wandlungsfähigkeit und auch die
Energie, um ein Album wie „Dust
and Bones“ auf Dauer spannend zu
halten. Aber das ist wie immer eine
Geschmacksfrage.
Nathan Nörgel
Blues vor. Und ebenso: So oder ähnlich sollte Blues-Rock klingen, den
ich unbedingt in meiner Sammlung
haben muss. (Blue Bella)
Nathan Nörgel
Bruce Springsteen Wrecking Ball
Wie schon bei seinem Debüt hat
der Holländer es wiederum verstanden, diese Rauhheit auch in ihrem
Dance-Kleid zu bewahren. Und er
verstärkt die schon in den Originalen angelegten fast hypnotischen
Grooves so weit, dass die Tracks für
den Einsatz im hippen Electro-Club
geeignet sind. Doch auch der Bluesfan kann seine Freude am Ergebnis
haben. Sollte das der richtige Weg
sein, ein neues Blues-Revival zu befördern? Wenn ja, dann kann man
das nur unterstützen. Und natürlich
dabei tanzen.
Nathan Nörgel
Clare Free - Dust and
Bones
Traditioneller Blues wechselt sich ab
mit rockigen Klängen und ab und
zu paar funkigen Episoden. Mit ihrem zweiten Album „Dust and Bones“ wird sich die britische Gitarristin und Sängerin sicherlich einen
festen Platz nicht nur in der dortigen Bluesszene erspielen können.
Wenn es um die zur Zeit immer
mehr in den Blickpunkt rückende
Frauen-Power im Blues geht, dann
kann Clare Free da in Zukunft sicherlich ein gewichtiges Wort mitreden. Als Gitarristin kann man sie
miX&dorp - Black and irgendwo in den Regionen zwischen
Stevie Ray Vaughan und zeitgenössiTan Edits
schem Bluesrock ansiedeln. BemerEs sind wiederum Bluesaufnahmen
kenswerter allerdings ist sie für mich
des niederländischen Labels Black
allerdings noch mehr als Songwrite+ Tan, die sich miX&dorp für sein
rin. Denn es sind nicht unbedingt
zweites Album mit Blues-Remidie „klassischen“ Bluesthemen, die
24
Nick Moss - Here I Am
Mit „Here I Am“ setzt Nick Moss
seinem auf dem Album „Privileged“
begonnenen Weg ohne die langjährige Begleitband The Flip Tops fort.
Manche Kritiker sehen den Sänger
und Gitarristen aus Chicago schon
in der legitimen Nachfolge von Musikern wie Buddy Guy.
„Why You So Mean?“ fragt Nick
Moss. Und seine Gitarre schreit
dazu gequält. Einer dieser Eröffnungstitel, die einen sofort gefangen nehmen. Und man merkt
gar nicht, dass diese Tour de force
sechseinhalb Minuten lang ist: Hier
ist einfach keine Note zu viel. Und
die Energie von Moss und seiner
Band lässt einen einfach nicht zu
Atem kommen. Wenn Blues über
miese Beziehungen singt: So sollte
es heute klingen. Eine Mixtur aus
dem Erbe (Muddy) mit der Energie
von Leuten wie Hound Dog Taylor
und den Gitarrensounds von allen
zwischen Buddy Guy, Hendrix und
Stevie Ray Vaughan.
Zwischen hartem Gitarrenblues,
Rock und ausgedehnten Jams pendeln auch die anderen Stücke von
„Here I Am“. Nick Moss hat hier
sämtliche Sicherungen rausgenommen und spielt ohne Netz und doppelten Boden. Und er lässt den Hörer - ob in den Liedern oder seinen
schneidenden Gitarrensolos einen
Blick in die Gefühlswelt blicken.
Und das ist großartig, auch oder gerade wenn - es weh tut. Und wenn
das Album mit „I‘ll Turn Around“
schließt, dann wird Moss gar zum
eindringlichen Gospelprediger. So
stelle ich mir wirklich ehrlichen
Wenn Songwriter eine Botschaft
zu verkünden haben, sträuben sich
mich schnell die Nackenhaare. Ich
hasse erhobene Zeigefinger oder
selbsternannte Messiasse. Doch
Bruce Springsteen hat glücklicherweise noch niemals zu dieser Kategorie von Musikern gehört. Selbst
die Betroffenheit eines Albums wie
„The Rising“ war dank der großartigen Musik eindrücklich und bewegend. Wobei man gleich anmerken
sollte: „Wrecking Ball“ ist wesentlich großartiger geworden.
Es ist der Blick auf den Alltag, auf
die Kleinstadt, auf den „normalen“
Menschen da auf der Straße, der
die musikalischen Beobachtungen
Springsteens von Anfang an auszeichnet. Genau diese haben Songs
wie „Born to Run“ oder „The River“ zu Hymnen ganzer Generationen gemacht. Und Lieder wie „My
Hometown“ hatten den fast resignierten Blick auf den Verfall, den
man überall sofort verstehen konnte.
Jetzt, so macht „Wrecking Ball“ von
Anfang an klart, ist Springsteen aber
wirklich wütend geworden: Überall
das Rennen nach dem schnellen
Geld, der schließlich zum „Death
of My Hometown“ führt. Der Abriss der vertrauten Umgebung und
das völlige Fehlen von Perspektiven
lassen das Pendel zwischen Wut und
Resignation ausschlagen.
Dass Springsteen jetzt musikalisch
viel häufiger auf Folk-Klänge als
auf seinen patentierten Rock setzt,
macht das Hörvergnügen noch
größer. Manchmal fühlt man sich
an die „Seeger-Sessions“ erinnert,
manchmal gar an irgendeine schräge
Zirkuskapelle bei einer Beerdigung.
Selbst ein Gospelchor war eingeladen. Doch ehe man sich zu heimisch fühlt, werden auch elektronische Klänge oder gar Rapeinlagen
eingestreut: „Wrecking Ball“ ist kein
Wohlfühlalbum. Es ist ein wütendes
Werk eines zornigen und desillusionierten Musikers. Ein Rockalbum,
© wasser-prawda
Platten
wie es lange keines mehr gab.
Nathan Nörgel
Jay Farrar, Will Johnson, Anders Parker,
Yim Yames - New Multitudes
Dass ausgewählte Songwriter in
der Hinterlassenschaft nach unvertonten Texten von Woodie Guthrie
suchen dürfen, kommt mittlerweile
schon fast ohne den Novitäteneffekt
daher. Doch ob nun Billy Bragg,
The Klezmatics oder Hans-Eckardt
Wenzel: Es sind immer wieder neue
Schwerpunkte, die diese in dem
Berg hinterlassener Lyrics finden.
Vor dem 100. Geburtstag wurden
jetzt vier Sänger aus der aktuellen
Americana Szene eingeladen.
Für Jay Farrar (Son Volt), Yim Yames
(My Morning Jacket), Will Johnson
(Centro-matics) und Andres Parker
haben sich für „New Multitudes“
jetzt vor allem Liebeslieder und anderes Texte ausgewählt. die Guthrie
in den 30er Jahren in Kalifornien
schrieb.
Da finden sich der „Talkin Empty
Bed Blues“ oder „Careless Reckless
Love“ mit ihrer Sehnsucht nach einer passenden Begleiterin. Und die
soll dann - schließlich ist auch das
Private politisch - des Sängers revolutionären Sinn erleichtern.
Außerdem finden sich unter den
zwölf Stücken (je drei von jedem
als Leadsänger vorgetragen) Lieder,
mit denen Guthrie die Menschen
damals ermutigen wollte und die
auch heute noch ihre Kraft behalten
haben - auch wenn man Metaphern
wie die einer „Hoping Machine“
als gnadenlos kitschig erscheinen
mag. Doch ohne Hoffnung ist es ja
nicht möglich, an den Verhältnissen etwas zu ändern. Und das war
damals schon eines der wichtigsten
Ziele des Dichters. Und damit ist er
erschreckenderweise heute immer
noch so aktuell wie damals.
Mit „New Multitudes“ haben die
vier Sänger damit nicht nur ein
würdiges Geburtstagsgeschenk für
das große Vorbild als Songwriter
vorgelegt sondern auch eines der
wichtigsten Americana-Alben des
Jahres. (Rounder/Universal)
Raimund Nitzsche
schen New York und Burg Waldeck
zu Hits werden, ist eigentlich schade.
Nathan Nörgel
Chico Schwall - Then
What‘s It For?
Ein Folkalbum, das so auch in den
frühen 60er Jahren veröffentlicht
sein könnte ist „Then What‘s It
For?“. Chico Schwall bringt auf dieser Scheibe eine Mixtur aus Blues,
Gospel, irischen Folksongs und ein
paar Anklängen aus Klezmer und
Weltmusik.
Manchmal muss man einfach seinen
Willen durchsetzen. Auch wenn es
scheinbar gegen jede Vernunft geschieht. Denn seien wir mal ehrlich:
Einen Markt für traditionelle Folkalben gibt es heute bestenfalls noch
in den absoluten Nischenregionen
der Musikszene. Was natürlich kein
Argument gegen eine solche Musik
ist sondern bestenfalls dagegen, sich
in diesem Feld zu engagieren, wenn
man nicht eine so große Fangemeinde etwa wie die Chieftains hat. Und
selbst die bringen ihre Alben in den
letzten Jahren ja zumeist dadurch in
die Medien, dass sie mit allen möglichen Größen zwischen Country
und Independent-Rock ins Studio
gehen.
Chico Schwall scheinen solche
Überlegungen allerdings völlig egal
zu sein. Denn „Then What‘s It For?“
ist weder spektakulär noch auf den
ersten Blick aktuell. Hier erklingen
Folksongs aus den verschiedensten
Regionen der Welt. Sie sind traditionell arrangiert und schielen garantiert auf keine Hitparaden. Hier
ist offensichtlich ein Künstler am
Werke, der unerbittlich an das Gute
im Menschen und an die Qualität
seiner Musik glaubt.
Schwall ist ein anerkannter Meister
auf den diversen Saiteninstrumenten zwischen Gitarre, Banjo und
Mandoline. Und mit seinen selbstgeschriebenen Songs bringt er die
verschiedensten Stile zwischen Klezmer, Irish Folk, Blues und Gospel
in ein Klanggewand, dass den Folk
in den Status einer Zeitlosigkeit erhebt. Und die politischen und gesellschaftlichen Statements in seinen
Liedern sind ebenso zeitlos, wie es
die gesellschaftlichen Werte wie Gerechtigkeit und Freiheit sein sollten.
Dass heute solche Lieder nicht mehr
wie damals in den Folk-Zirkeln zwi-
milien und Freunde der Getöteten
diesen Song und sang ihn erstmals
zu diesem Anlass.
„F**k All The Pefect People“ ist ein
Album über unvollkommene Menschen, eine Sammlung von Liedern
voller Verständnis für ihre Schicksale und voller Bereitschaft zur Vergebung. Und es ist verdammt nah
dran, ein absolut perfektes Album
zu sein. Eines, das man nur wirklich guten Freunden vorspielt, die
auch verstehen, warum man ab und
zu bei Musik ins Weinen kommt.
(Train Wreck)
Nathan Nörgel
Chip Taylor & The
New Ukrainians - F**k
All The Perfect People
Mit „Wild Thing“ hat Chip Taylor
schon seinen Platz in der Musikgeschichte sicher. Dass er aber einer
der eindrücklichsten Songschreiber
im Country geworden ist, beweist
er gemeinsam mit seiner norwegischen Band „The New Ukrainians“
auf dem aktuellen Album „F**k All
The Perfect People“.
Ist eine Kombination aus Johnny
Cash und Leonard Cohen überhaupt vorstellbar? Eigentlich nicht.
Aber genau die kam mir als erste Assoziation, als diese Scheibe erstmals
im Player rotierte. Da ist diese vom
Alter gebrochene Stimme, Lieder
voller Melancholie und Auflehnung
und vor allem: eine lyrische Grundstimmung, die den Bogen vom
Country zu den Chansons von Cohen andeutet. Absolut faszinierend.
Vom äußerlichen her ist „F**k“ erstmal ein Zyklus von Songs über das
Unterwegssein. Klassischer Stoff für
Countrysänger also. Und genau das
Thema, bei denen man wie beiläufig die kleinen Alltagsbeobachtungen einfließen lassen kann, die einem links und rechts der Straße ins
Auge stechen. So tauchen dann die
junge Gastarbeiterin oder der polnische Heimarbeiter, denen Taylor
in New York begegnete ebenso auf
(„Me And Rohillio“) wie britische
Zollbeamte, die seinen Pass einkassieren und von ihm Verbrecherfotos
machten. Aber auch Bars und Gefängnisse, junge Mädchen bei einer
Bar Mizwa oder Beschwerden über
unfähige Musikkritiker. All das mit
einer Melancholie und einer Herzenswärme vorgetragen, dass es einem zuweilen die Tränen in die Augen zu treiben droht.
Besonders kann das passieren beim
Bonus-Track „This Darkest Day“.
Taylor war kurz vor dem brutalen
Anschlag vom 22. Juli für ein Festival nach Norwegen gekommen. Als
der Auftritt abgesagt wurde, schrieb
er für ein Benefizkonzert für die Fa-
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Digger Barnes - Every
Story True
Und noch so ein Album über das
Leben unterwegs. Digger Barnes.
bei dem man nie sicher sein kann,
ob als Adresse Hamburg oder sein
Wohnwagen irgendwo „on the
road“ gilt, hat mit „Every Story
True“ ein Album vorgelegt, das am
besten irgendwann spät in der Nacht
funktioniert, wenn man eigentlich
schlafen möchte, aber nicht darf.
Es sind neun Lieder über die Rastlosigkeit, über Niederlagen und die
ewige Suche nach einem Ort, den
man vielleicht auch Heimat nennen
könnte. Auch wenn man eigentlich
nur auf der Suche nach dem Platz
ist, wo man sich nicht falsch vorkommt. Und es sind Geschichten
der Leute, die einem bei solch einem Nomadenleben begegnen. In
den Raststätten an der Straße etwa.
Oder den dunklen Ecken.
Manchmal sind das Songs, die auch
Tom Waits hätte schreiben können
etwa vor 20 Jahren. Andere erinnern
in ihrer Düsternis an die 16 Horspepower (wenn auch ohne deren
Härte). Doch niemals sind sie verzweifelt. Höchstens fatalistisch. Es
kann im Leben zwar abwärts gehen.
Doch schaut den Schnee an: Der ist
tief gefallen. Und er sieht prima aus.
(„So Low“).
Nathan Nörgel
Bonnie Guitar - Intimate Session
Mit „Dark Moon“ hatte die Sängerin und Gitarristin Bonnie Guitar 1957 ihren ersten großen Hit.
© wasser-prawda
Platten
1959 unterschrieb sie einen Plattenvertrag bei RCA. Und dafür spielte
sie in Los Angeles mehrere Sessions
ein, die zum größten Teil unveröffentlicht blieben. Bear Family hat
sie jetzt unter dem Titel „Intimate
Sessions“ herausgebracht.
Es war die Zeit, als Julie London
oder Peggy Lee ihre Hits hatten, als
gleichzeitig der „Nashville Sound“
im Contry sich herausbildete. Und
genau dahinein gehört Bonnie Guitar bei ihren Sessions für dieses :
Eine einscheichelnde Sängerin, die
ihre Gretsch-Gitarre streichelt. Bei
einigen Stücken wird sie von eine
Streichergruppe überzuckert, bei
anderen begleiten sie BackgroundSänger bei ihrem Programm zwischen eigenen Stücken, Popstandards der Zeit („Maybe“, „The
Fool“) oder Stücken von Hal David,
Jeff Barry oder Harlan Howard. „Intimate“ sind diese Sessions wirklich.
Denn man glaubt mit der Sängerin
irgendwo in einer verträumten Kaminbar zu sitzen. Und scheinbar
richtet sie sich dabei direkt an einen
selbst mit ihren verliebten oder melancholischen Liedern.
Völlig unverständlich, warum nur
vier der Stücke damals als Singles
vröffentlicht wurden. Aber zum
Glück gibt es ja Bear Family, die
„Intimate Session“ jetzt als Teil ihrer
Serie „The Velvet Lounge“ vorlegen.
Dass die CD wieder mit einem ausführlichen Booklet mit Discografie
und allem Zubehör herauskommt,
darauf kann man bei diesem Label
sich ja immer verlassen. (Bear Family)
Nathan Nörgel
Soul, Funk oder Funkjazz zu sammeln. Doch mittlerweile dürfte das
Feld der „Rare Grooves“ mittlerweile ziemlich abgegrast sein. Das jedenfalls sollte man annehmen nach
den diversen Wiederveröffentlichungsreihen (etwa aus dem MojoClub oder auch von DJs wie Tobias
Kirmayer). Dass gegen den ersten
Augenschein aber doch noch echte
Raritäten zu finden sind, die bislang
noch nicht auf Samplern wiederverwertet wurden, zeigt die Nummer 4
von Kirmayers Serie „Movements“,
die mittlerweile auf seinem eigenen
Label Tramp Records herauskommt.
Auf der CD (auch als Doppel-Vinyl
und Download erhältlich) finden
sich 16 Nummern, die vor allem
eines sind: absolute Tanzflächenknaller. Ob das nun jazzige Instrumentals sind wie „Cissy Popcorn“
von Preston Love & His Band oder
Soul-Kracher wie „Ooh Wee Baby“
von The D.M. Movements. Einer
der persönlichen Höhepunkte für
mich ist dabei „Night Club“ des
Dave Harris Trio mit seinem ein
wenig an Al Jarreau gemahnenden Sänger. Auch „Machine Gun“
von der Odyssey Group mit seinen
schneidenden Orgellinien konnte
sich sofort in den Gehörgängen festsetzen. Allen Songs gemein ist dieser
Groove, der eigentlich kein hörendes Wesen unberührt lassen kann.
Und wie man das bei Veröffentlichungen des Münchnel Labels inzwischen gewohnt ist, kommt auch
dieses Album wieder mit einem
Booklet, was über die Geschichte der einzelnen Bands informiert
und damit selbst ein Stück Musikgeschichtsschreibung ist. Nicht nur
DJs sondern alle Fans von der so
knapp als Rare Grooves bezeichneten Musik werden an Movements 4
ihre Freude haben. (Tramp)
Raimund Nitzsche
Deep Jazz - Heaven &
Earth
Movements 4
Wer wirklich viel Geld hat, kann
eine Menge dafür ausgeben, wirklich rare Singles aus den Bereichen
Einen meditativen und gleichzeitig
anregenden Jazz spielt das Nonett
Deep Jazz des Münchner Bassisten
Jerker Kluge. Die elf Stücke des Albums „The Meeting“ sind geprägt
von zweistimmigem Gesang und
einer einmaligen Besetzung (un-
ter anderem mit Harfe, Flöte und
Bassklarinette).
In den 60er Jahren waren es Veröffentlichungen etwa von John
Coltrane oder Charles Mingus, die
die modale Spielweise im Jazz etablierten. Alben wie „A Love Supreme“ brachten zudem eine spirituelle Ebene in den Jazz. Maßgeblich
dafür waren Label wie „Blue Note“
und „Impulse!“.
Was Jerker Kluge mit Deep Jazz
spielt, knüpft an diese Traditionen
an und schreibt sie fort. „The Meeting“ vereint neun Kompositionen
Kluges mit zwei neu arrangierten
Klassikern. Entstanden ist der
Songzyklus zunächst für ein Konzert beim Bayrischen Rundfunk im
Jahr 2010. Die elf Stücke faszinieren nicht nur durch die ungewöhnliche Besetzung der Band und
die unbestreitbare Meisterschaft
der einzelnen Musiker. Was beeindruckt ist die Leichtigkeit, mit der
einen Songs „No Doubt“ oder der
Opener „Little Sunflower“ selbst
ohne ein abgeschlossenes Studion
der Harmonielehre gefangen nehmen. Ganz unwillkürlich wird man
von den eleganten Melodielinien
mitgerissen, lauscht der warmen
Stimme von Julia Fehenberger
oder dem dreistimmigen Satz der
Holzbläser. Und wenn dann die
Percussion die Musik leicht in
Richtung Lateinamerika verschiebt
und dazu Andrea Hermenau am
Klavier einsteigt, dann ist jegliche
Frage nach dem Hintergrund dieser
Musik einfach nebensächlich.
„The Meeting“ ist eines der wenigen Jazzalben der letzten Jahre,
die mich mit dem zeitgenössischen
Jazz versöhnen können. Denn es
stehen eindeutig die Musik und die
Improvisation im Vordergrund und
nicht eine aufgesetzte AvantgardeVorstellung, die den Hörer von
vornherein auszuschließen bereit
ist. (Perfect Toy)
Nathan Nörgel
die EP von dem 17jährigen Schlagzeuger Tito Pascoal und seinem
Vater Tim am Keyboard mit Unterstützung von Jazz-Größen wie Bob
Mintzer.
Wie ist das eigentlich im Umgang
mit Wunderkindern? Mit gerade
einmal 12 Jahren hatte der portugiesische Schlagzeuger Tito Pascoal
sein erstes Album veröffentlicht und
war in der Szene vor allem für seine
unglaubliche Präzision gefeiert worden. Fünf Jahre später hat er prominente Endorsement-Verträge und
unterrichtet inzwischen selbst. Und
er hat in der gemeinsamen Band mit
seinem Vater vier neue Stücke veröffentlicht, denen man widerum das
jugendliche Alter des Drummers in
keiner Sekunde anhört. So weit so
gut. Tito Pascoal ist ein wirklich begnadeter Schlagzeuger. Punkt.
Von der Kritik wurde schon von
Anfang an der Jazz-Rock, FusionJazz oder welche Schubladen man
auch immer erfand, kritisch beäugt.
Jedenfalls von der intellektuellen
Jazz-Kritik: Wie kann man nur so
populistisch sein und Musik einspielen, die so hemmungslos auf den
Massengeschmack der Rockhörer
zielt? Wobei der normale Rockhörer ja nun wirklich nicht unbedingt
zu den Käufern von den Alben von
Miles Davis, Chick Corea‘s Return
to Forever oder dem Mahavishnu
Orchestra griff. Schnell hatte sich in
der öffentlichen Wahrnehmung diese Mode überlebt. Wenn man mal
von Ausnahmebands wie Weather
Report absieht.
All die hier genannten Namen
könnte man gut als Referenzen für
„The Sun Stood Still“ anführen.
Denn beim Hören fühlt man sich
unwillkürlich in diese Zeit der frühen 70er Jahre versetzt: Atmosphärische Keyboards, melodische Basslinien, und dann noch Bob Mintzers
Saxophon beim Titelsong und dem
letzten Stück „The Land Of Honey And Milk“. Das ist Fusionjazz
fernab von der Tendenz zu reiner
„Fahrstuhlmusik“. Hier passiert Jazz
in dem Sinne, dass die Musiker improvisierend interagieren. Und die
Einflüsse aus Funk, Latin oder Soul
passen dazu. Komponiert wurden
die Stücke sämtlich von Keyboarder
Tim Pascoal. Und - hier ein Argument gegen die „Wunderkind“Schreiberei: Zwar ist das Schlagzeug
von Tito immer präsent und prägTim & Tito Pascoal nant. Doch niemals werden die vier
The Sun Stood Still
Nummern zu reinen Show-Acts für
Fusion-Jazz im Stile der 70er Jahre ihn. Er ist einfach Teil einer eingefindet sich auf der leider nur vier spielten Band. Und das ist gut so.
Stücke umfassenden Scheibe „The
Nathan Nörgel
Sun Stood Still“. Eingespielt wurde
26
© wasser-prawda
Klassiker neu gehört
Gray voller Spielfreude bei eigenen und fremden
Titeln. Hier rollt sein heftiger Boogierhythmus
wie damals, als er bei Howlin Wolf war. Und
man kann auch noch die Einflüsse seines Mentors Big Maceo und der ganzen Generation der
Boogiepianisten vor ihm hören. Und zu keinem
Zeitpunkt stellt sich die Frage nach dem Alter
des Solisten. Denn der ist offensichtlich auf dem
Höhepunkt seiner Schaffenskraft. Wer nach zeitlosem Pianoblues sucht, hier ist er an der richtigen Stelle!
Henry Gray - Lucky
Man
Als Pianist war Henry Gray prägend sowohl für
den Chicagoblues ab den 50er Jahren als auch für
den „Swamp Blues“ Louisianas. Und noch heute
ist der 1925 geborene Musiker mit seiner Band
oder als Solist ständig unterwegs. Blind Pig hat
jetzt sein 1988 erschienenes amerikanisches Solodebüt „Lucky Man“ neu veröffentlicht.
Und so war es auch folgerichtig, dass das Album ihm endlich eine neue Karriere als Solist
und Bandleader auch in Amerika ermöglichte.
Gemeinsam mit Henry Gray & The Cats war er
aber auch jedes Jahr wieder in Europa. Mick Jagger hatte ihn etwa für die Ausgestaltung seiner
Party zum 55. Geburtstag engagiert.
Sein bislang letztes Album erschien 2009 und
enrhält unter anderem den „Barack Obama Boogie“. Allerdings ist das in Deutschland zur Zeit
leider nicht lieferbar. Da er diese Alben auf eigenem Label veröffentlicht, ist das allerdings kein
Wunder. Nur halt sehr schade. Aber gut, dass
wenigstens mit „Lucky Man“ ein zeitloser KlassiIn einer Zeit, wo immer mehr der Gründungs- ker neu in den Handel gebracht wird.
väter des Nachkriegsblues sterben, ist es wichtig,
sich nicht nur an die noch lebenden Musiker
Raimund Nitzsche
zu erinnern und sie entsprechend zu würdigen.
Notwendig ist es auch, die auf Platten dokumentierte Geschichte des Blues nicht in Vergessenheit
Titel
geraten zu lassen.
1. My Girl Josephine
Als 1988 „Lucky Man“ von Henry Gray er- 2. Cold Chills
schien, da war das komischerweise das amerika- 3. Gray‘s Bounce
nische Solodebüt dieses Pianisten. Dabei hatte er 4. Out On The Road
seit den 50er Jahren schon auf zahllosen Platten 5. Lucky, Lucky Man
mitgespielt von Jimmy Reed, Howlin Wolf und 6. I‘ll Be Up Again Someday
anderen Giganten des Chicago-Blues. Und er 7. Mojo Boogie
zählte genauso zu den Musikern, die bei Excello 8. Mean Old World
Records den „Swamp“-Blues Louisianas definiert 9. I‘m Talkin‘ About You
10. It Ain‘t No Use
hatten.
11. Boogie In The Dark
Jahrelang war er der Bandleader von Wolf, schei- 12. Finger Snappin‘ Boogie
terte aber nach dessen Tod daran, die Gruppe zusammen zu halten. Denn inzwischen waren nicht
nur in den USA die Zeiten für den Blues härter
geworden.
Und so war er zurück nach Louisiana gegangen,
wo er tagsüber in „normalen“ Jobs arbeitete, um
seine Familie zu ernähren. Klavier spielte er damals hauptsächlich im lokalen Umfeld des Staates, war etwa von Gründung des Festivals an bei
jedem New Orleans and Jazz Heritage Festivals
zu erleben. Und dort war er Mitte der 70er Jahre
vom deutschen Promoter Rolf Schubert entdeckt
und zu Tourneen nach Europa geholt worden.
Wie so viele Blueskünstler war in Europa für
lange Jahre populärer als in seiner Heimat. Das
änderte sich erst Mitte der 80er Jahre durch Auftritte in landesweiten Fernsehprogrammen und
beim Chicago Blues Fest 1987. Nach Chicago
hatte man ihn jahrelang nicht eingeladen - die
Organisatoren des Festivals waren davon ausgegangen, dass Gray schon längst tot sei....
„Lucky Man“, eingespielt mit Chicagorer Bluesmusikern wie Willie Smith am Schlagzeug, zeigt
Aufnahmen nach 1966 bekam ich aber lange Zeit
nicht zu hören. Doch jetzt hat Blind Pig „Blues
Mandolin Man“ aus dem Jahre 1986 neu veröffentlicht. Und dieses Album kommt für mich einer völligen Neuentdeckung Rachells gleich.
Erstmals war er für diese Aufnahmen im Studio
von einer Rhythmusgruppe (g, b, dr) begleitet
worden. Während die Bassgitarre von Rachells
Enkelin Sheena Rachell gespielt wird, war für die
Bluesharp Peter „Madcat“ Ruth zuständig. Und
Yanks Mandoline klingt dank elektischem Strom
längst nicht mehr nach verstaubten Holzhütten
im Delta etwa um 1929 sondern ganz eindeutig
nach dem elektrischen Chicago-Blues der Nachkriegszeit. Stücke wie „Moonshine Whiskey“
sind zwar historisch in der Zeit von Anfang des
Jahrhunderts angesiedelt, wirken aber so frisch
und drängend wie am ersten Tag. Wenn es nicht
ziemlich respektlos wäre, müsste man sagen: Rachell rockt hier zuweilen ganz gehörig. Besonders
in „Bugle Call“, wo er sich mit Gittarrist Peter
Roller die musikalischen Bälle zuspielt und das
Stück aus dem Hintergrund mit Anfeuerungsrufen immer am Kochen hält. Keine Spur davon,
dass er damals schon 76 Jahre alt war!
Ein faszinierendes Dokument hat Blind Pig mit
dieser Scheibe neu veröffentlicht - eine Empfehlung nicht nur für Historiker des Blues.
Raimund Nitzsche
Besetzung
Andy Cornett Bass
Steve Freund Guitar, Producer
Henry Gray Composer, Piano, Vocals
Willie Smith Drums
Bob Stronger Bass
Yank Rachell - Blues
Mandolin Man
Ich kann mich noch genau erinnern, wann ich
erstmals die faszinierendste Mandoline im Blues
gehört habe. Es war auf den zwei LPs, die bei
AMIGA mit dem Konzert des American Folk
Blues Festival 1966 veröffentlicht worden waren. Hier war Yank Rachell noch gemeinsam mit
Sleepy John Estes, seinem langjährigen Partner
zu höeren gewesen. Und ihre Stücke atmeten damals schon den Hauch einer längst vergangenen
Zeit. Als ich dann nach der Wende erfuhr, dass
Rachell noch immer am Leben und musikalisch
aktiv war, kam das einem Schock gleich.
27
© wasser-prawda
Feuilleton
Mehr als nur unendlicher Spaß: David Foster
Wallace und ein schier
unfassbares Werk
Literaturwissenschaftler, Rezensenten und Leser neigen dazu, mit Superlativen zu operieren: Dieser oder jener Schriftsteller sei der Größte seiner Zunft,
dieser oder jene Roman das Sinnbild einer Epoche. Bei David Foster Wallace
wäre jede dieser Zuschreibungen unzutreffend: David Foster Wallace nämlich ist der Superlativ! Anlässlich seines Geburtstages setzt sich Erik Münnich in Form von Fortsetzungsbeiträgen mit dem Werk des Autors, seiner
Wallace-Lektüre und den damit verbundenen Eindrücken auseinander.
I: Meine erste Begegnung mit
David Foster Wallace
meintlich nebensächliche Banalität entgeht, und
die Fähigkeit, all diese Beobachtungen präzise,
mit einer gewissen Ironie und auf eine schwer
zu beschreibende, aber immer spielerische Weise
– im Sinne von: im Spiel mit dem Gegenstand,
den dazugehörigen Motiven, Einstellungen, Vorurteilen, Sichtweisen usw. – umzusetzen. Dieses
Buch hat bei mir eingeschlagen wie eine Bombe,
weil ich – auch wenn das sehr kitschig klingen
mag – immer auf der Suche nach solch einem
Ton, solch einer Sprache, solch perfektem Zusammenspiel zwischen Inhalt und Form war.
Am 21. Februar wäre der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace fünfzig Jahre alt geworden, wenn er sich nicht am 12. September
2008 das Leben genommen hätte. Für mich als
Leser wäre das Leben im Konjunktiv ein schönes,
dann könnte ich mich auf weitere Neuerscheinungen von ihm freuen, diese verschlingen, begeistert wie sprachlos sein, wie ich es immer war,
seitdem ich ihn zum ersten Mal vor vier Jahren
gelesen habe.
Damals – ich muss gestehen, von ihm bis dahin noch nie etwas gehört zu haben – habe ich
seinen Erfahrungsbericht über eine Kreuzfahrt
– Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne
mich – geschenkt bekommen. Schon dieser für
Wallace Verhältnisse schmale, in seiner Konzeption recht einfach zu überschauende Band hat das
vereint, was für ihn typisch ist und für mich in
jedem weiteren Band offen zu Tage trat: eine genaue Beobachtungsgabe, der keine noch so ver-
Ein Autor, der den Auftrag, eine Kreuzfahrt zu
unternehmen und darüber zu schreiben, annahm und dann genau das Gegenteil davon tat,
was Auftraggeber und Leser erwarten (könnten):
ein Bericht, der die Gewohnheit, Kreuzfahrten
zu unternehmen und die Welt darüber zu entdecken, spitzfindig, ironisch, sarkastisch und
fernab der üblichen Konventionen des Genres
auf´s Korn nimmt. Der darüber hinaus die Vermarktung – die dezidierte Auseinandersetzung
mit dem Werbeprospekt der Reederei, die eini-
28
© wasser-prawda
Feuilleton
ge Kapitel in Anspruch nimmt und die damit
verbundenen Absurditäten darstellt und mit der
„Wirklichkeit“ abgleicht – den Service – das permanente Erstaunen über die Unsichtbarkeit des
Servicepersonals, das es immer wieder schaffte,
seine Kabine zu reinigen, auch wenn er eigentlich
immer anwesend war – die eigenen emotionalen
Dispositionen – DFW, wie er von Fans liebevoll
genannt wird, war depressiv und hatte große Probleme, unter Menschen „zu gehen“, was sicher
nicht gerade vorteilshaft für eine Unternehmung
wie diese ist – seine Ein- oder Ausfälle – ich muss
hier sofort an das Captain´s Dinner denken, wo
Wallace anstelle des geforderten Fracks ein TShirt mit aufgedrucktem Schlips trug und (nicht
beabsichtigte) Aufmerksamkeit auf sich zog, was
ihn so peinlich berührte, dass er sich sofort sicher
war, solch einen Fauxpas nie wieder zu begehen
– die im Rahmen einer solchen Kreuzfahrt angebotenen Freizeitaktivitäten – die TischtennisDuelle mit einem Mitglied des Bord-Personals,
die von einem sportlichen Ehrgeiz geprägt waren
und zu verbalen Auseinandersetzungen führten,
wie sie von, vor allem, Tennisspielern bekannt
sind; der Umstand, dass DFW in seiner Jugend
als hoffnungsvolles Tennisnachwuchstalent galt,
spielt hier sicher eine Rolle – verschiedene Gespräche mit anderen Reisenden – vor allem die
Dialoge, die sich im Rahmen der abendlichen,
teils zwanghaften, teils aber auch spontanen
Tischkonversation ergeben haben, treiben einem
die Tränen in die Augen und deuten das an, was
für Wallace als typisch gelten kann: die Wiedergabe tatsächlicher, nicht fingierter Gespräche,
die Unterbrechungen, Denkpausen, Miss- und
Unverständnisse usw. übersetzen und niemals
begradigen, was allerdings in diesem Buch noch
lange nicht so ausgeprägt ist, wie in seinen anderen Werken – präzise wie detailverliebt – und das
ist ganz bestimmt nicht negativ gemeint, sondern
grundlegende Bedingung für Erzähltexte – beschreibt, reflektiert, resümiert, übertreibt, bricht
und dabei eine sprachliche Brillanz aufweist, die
nicht oft anzutreffen ist.
Anmerken will ich an dieser Stelle, dass der
Übersetzer etwas zu weit über das Ziel hinausgeschossen ist: ein Markenzeichen von David
Foster Wallace ist die Fußnote, welche Handlungen, Aussagen, Begriffe und dergleichen kommentiert, einordnet, erklärt usw. und so weitere
Handlungsebenen eröffnet. Die Gefahr, dass der
Lesefluss unterbrochen wird – man ist geneigt,
die Lektüre zu unterbrechen, weil man Angst
hat, wichtige Anmerkungen oder Erläuterungen zu verpassen – ist natürlich gegeben, spielt
aber, hat man sich daran gewöhnt – was schnell
geschieht – nur eine untergeordnete Rolle. Und
hier kommt der Übersetzer ins Spiel: er hat eine
Fußnote, die im Originaltext nicht angelegt ist,
hinzugefügt. Ich finde, dies ist ein unnötiger,
weil für den Text in keiner Weise erforderlicher,
Eingriff. Das aber nur am Rande.
Nach dieser ersten Begegnung mit David Foster war für mich sofort klar, dass ich mehr von
ihm lesen musste. Das Angebot der Greifswalder
Buchhandlungen enttäuschte allerdings. Nur
Weiland hatte einen Erzählungsband von ihm
vorrätig – nach dem Erscheinen seines Romans
Unendlicher Spaß, der von vielen Rezensenten wie Wissenschaftlern irrtümlicherweise für
In der nächsten Folge
Das Schaffen David Foster Wallace´ wird gern
mit seinem, von vielen für sein Hauptwerk
gehaltenen Roman Unendlicher Spaß gleichgesetzt. Seinen Erzählungen wird dabei nicht
so viel Gewicht beigemessen. Dabei sind diese unter Berücksichtigung inhaltlicher wie
formeller Aspekte diesem ebenbürtig.
Tipps für Greifswald
und Umgebung
Binz; 30.03., 21 Uhr Late Night Blues im
Hotel Loev mit den Crazy Hambones (Eintritt:
9,50 Euro. Reservierung: 038393/39-0)
sein Hauptwerk gehalten wird (dieser mag der
bedeutendste Roman von DFW sein, diese Zuschreibung neigt allerdings dazu, seine anderen
Werke in den Hintergrund zu rücken), hat sich
dies freilich geändert. Da ich Bestellungen „nur
zur Ansicht“ grundsätzlich abgeneigt bin, habe
ich den Band Kleines Mädchen mit komischen
Haaren gekauft.
Ich habe diesen Erzählungsband auf der Fahrt
nach Hause – übliches Szenario: übervoller Zug,
Stehplatz – ausgelesen. Und die Erwartungen,
die ich nach der Lektüre meines ersten Buches
von Wallace an eben jenen Autor und seine Texte hatte, wurden nicht nur erfüllt, sondern weit
übertroffen: einen solchen Ton hatte ich noch
nie vernommen. Die Vielseitigkeit seiner Themen – viele Autoren scheinen auf einen festen
Bestand von Themen festgelegt – das schon bei
Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich
angelegte und in den zu diesem Band gehörigen
Erzählungen viel differenziertere Erzählungsrepertorium – ob das nun die Charakteristik verschiedener Figuren betrifft, die Gestaltung von
Dialogen, verschiedene in die einzelnen Texte integrierte Erzählebenen oder auch die immer wiederkehrenden und für mich wichtigen Brüche
– sein Hang zum Grotesken, zur Überspitzung
und der mit diesen einhergehende und nicht für
jeden Leser nachvollziehbare Humor – ich kann
mich hier an ein Ereignis erinnern: eine Busfahrt
in Berlin mit meiner besten Freundin, der ich
die Titelgeschichte vorlesen sollte, weil sie wissen wollte, warum ich denn so viel lachen müsste
bei der Lektüre eines großen Literaten, die aber
nicht nachvollziehen konnte, wie man lustig finden könnte, wenn durchgeknallte Freunde, die
sich bei einer Party der Republikaner kennenlernen, diese sprengen, in Folge durch gemeinsamen Drogenkonsum und die Vorliebe für Verstümmlungen viel Zeit miteinander verbringen,
sich irgendwie lieb gewinnen und schlussendlich
bei einem Keith Jarret Konzert landen und auch
hier nicht den Erwartungen, die mit Besuchern
eines solchen Konzerts verbunden sind, gerecht
werden – hat mich überrascht, begeistert und
einfach sprachlos gemacht. Und keine seiner Arbeiten hat mich enttäuscht.
29
Am 19.04.2012 wird Jürgen Buchmann seine
Memoiren eines Münsterländer Mastschweins
um 20 Uhr in der wirkstatt vorstellen. Ergänzt
wird diese Lesung durch eine Vernissage zur
Ausstellung der Grafikerin Isabel Wienold.
Musikalische Begleitung: Gerhard Kaufeldt
(Klavier.)
Datum: 19.04.2012; 20 Uhr
Ort: wirkstatt (Gützkower Straße 83, Greifswald)
Eintritt: 3/2 Euro
Am 26.04.2012 wird Jürgen Landt sein Buch
alles ist noch zu begreifen um 20 Uhr im
Falladahaus vorstellen. Abgerundet wird diese
Lesung durch eine Vernissage zu seiner Ausstellung mit verschiedenen Typearts.
Datum: 26.04.2012; 20 Uhr
Ort: Falladahaus (Steinstr. 59; Greifswald)
Eintritt: 5/3 Euro
DEFA zwischen Staatsauftrag und Kunst 2:
Die Hexen von Salem (1957)
Um das internationale Ansehen der DEFA zu
steigern, entstehen zwischen 1956 und 1959
vier Koproduktionen mit Frankreich. Für die
„Hexen von Salem“ (1957) konnten Simone
Signoret, Yves Montand und Mylène Demongeot gewonnen werden. Die Regie lag in den
Händen des Belgiers Raymond Rouleau und das
Drehbuch verfasste der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre. Die Filmmusik komponierte Hanns Eissler.
Jürgen Maier wird die historischen Hintergründe der Kooproduktion erläutern und Vergleiche
zu späteren Verfilmungen von Millers Stück
ziehen.
Mittwoch, 30. Mai 2012, 19.30 Uhr, wirkstatt
(Gützkower Str. 83)
Radio Days
Crossroad Cafe (Blues, Soul, Swing & more)
27. März, 10. April, 24. April: 20-22 Uhr auf
radio 98eins (www.98eins.de bzw. in Greifswald
auf 98,1 MHz)
Jazz Mondo (Jazz & Weltmusik)
20. März, 3. April, 17. April: 20-22 Uhr auf
radio 98eins (www.98eins.de bzw. in Greifswald
auf 98,1 MHz)
© wasser-prawda
Feuilleton
Weiße Nächte oder: Keine Angst vor tausend
Seiten
Dostojewski gehört zu den Größen innerhalb der russischen Klassik. Mit
seinem Namen ist in der Öffentlichkeit sofort das Werk „Schuld und Sühne“ verknüpft, das viele zwar vom Titel her kennen, es wegen seines beträchtlichen Umfangs leider nie wirklich in Angriff genommen haben.
Der aufgeschlossene, doch an Zeitmangel leidende Leser ist auch schnell
enttäuscht, wenn er sich andere Eckpfeiler Dostojewskis Oeuvre nähern
möchte: „Die Brüder Karamasow“ oder „Der Idiot“ sind Bücher, die ebenfalls nicht ohne ihre ca. 1000 Seiten auskommen. Robert Klopitzke will
mit der Erzählung „Weiße Nächte“ den Leser neugierig machen auf das
Werk des russischen Autoren.
Am 22. Dezember 1849 wurde auf dem St.
Petersburger Semenowskplatz im allerletzten
Moment ein Verbrechen verhindert, dass der
Menschheit einen seiner wertvollsten Künstler
beraubt hätte. Unmittelbar vor der Hinrichtung
erreicht die Begnadigung des Zar Nikolaj I. den
Richtplatz und lässt somit mehrere Männer am
Leben; unter ihnen befindet sich der zu diesem
Zeitpunkt 28-jährige Dostojewski, dem durch
diese Gnade eine Frist von weiteren 42 Lebensjahren geschenkt, welche er nutzt, um der Welt
ein literarisches Werk zu hinterlassen, das seines
gleichen sucht. Dieser vereitelte Mord war es Stefan Zweig wert, ein Kapitel in seinen „Sternstunden der Menschheit“ zu widmen. In lyrischer
Form beschreibt er den dramatischen Hergang
und endet mit der Strophe:
„Soldaten reißen ihn weg vom Pfahl.
Fahl
Und wie verloschen ist sein Gesicht.
Schroff
Stoßen sie ihn in den Zug zurück.
Sein Blick
Ist fremd und ganz nach innen gesenkt,
Und um seine zuckenden Lippen hängt
Das gelbe Lachen der Karamasow.“
Dostojewski gehört zu den Größen innerhalb
der russischen Klassik. Mit seinem Namen ist in
der Öffentlichkeit sofort das Werk „Schuld und
Sühne“ verknüpft, das viele zwar vom Titel her
kennen, es wegen seines beträchtlichen Umfangs
leider nie wirklich in Angriff genommen haben.
Der aufgeschlossene, doch an Zeitmangel leidende Leser ist auch schnell enttäuscht, wenn er sich
andere Eckpfeiler Dostojewskis Oeuvre nähern
möchte: „Die Brüder Karamasow“ oder „Der Idiot“ sind Bücher, die ebenfalls nicht ohne ihre ca.
1000 Seiten auskommen. Natürlich würden die
Werke ihre Geltung und Wert durch Streichun-
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© wasser-prawda
Feuilleton
Dostojewskis Erzählweise inspirieren zu lassen
und sich hoffentlich anschließend nicht mehr
an Umfang und Gewicht der großen Romane zu
stören.
Bei einem Besuch der Klassiker-Ecke in Buch- Es ist die Geschichte eines Träumers, die Doshandlungen findet man oft seine Erzählung tojewski ein Jahr vor den Ereignissen auf dem
„Der Großinquisitor“, welche zwar eine in sich Semenowskplatz (also 1848) niederschrieb und
geschlossene Erzählung darstellt, jedoch ledig- trägt den Titel: „Weiße Nächte“. Er ist eine Anlich das herausgegriffene fünfte Kapitel aus dem spielung auf das Phänomen, das sich im Sommer
fünften Buch der „Brüder Karamasow“ ist – eine in allen Regionen, die zwischen dem Nordpol
Geschichte, die Iwan seinem Bruder Aljoscha er- und dem 57° nördlicher Breite liegen, beobachzählt. Die Erzählung ist wunderbar komponiert ten lässt: es wird nie ganz dunkel.
und kann für sich alleine stehen, gewinnt an voller Kraft aber nur dann, wenn man ihre kontex- In einem solchen Sommer streift der namenlotuelle Einbettung (damit den ganzen umfangrei- se Protagonist durch die Stadt und meidet jeden
chen Roman) kennt.
Kontakt zu seinen Mitmenschen; seine Träumereien und die Pseudobekanntschaft mit einigen
Eine andere kleine Erzählung, die nirgends ei- Häusern scheinen ihm zu genügen, bis er eines
nem übergeordneten Werk entnommen wurde, Nachts die junge Nastjenka kennen lernt. In eisoll hier kurz vorgestellt werden und dem aufge- ner Eigencharakteristik stellt er sich als ein Träuschlossenen, sich aber unter Zeitbedrängnis be- mer vor: „Was soll ihm noch unser wirkliches Lefindenden Leser die Möglichkeit bieten, sich von ben!...da er selber der Künstler seines Lebens ist
gen einbüßen, da der von Dostojewski eröffnete
Erzählkosmos eben genau diese Anzahl an Seiten
benötigt.
und es zu jeder Stunde nach neuer Laune sich erschaffen kann. Wie leicht und wie selbstverständlich wird diese märchenhafte, phantastische Welt
erschaffen!... Man könnte in mancher Minute
fast glauben, dass dieses Leben nicht etwa nur
eine Erregung der Gefühle sei, kein Gaukelspiel,
kein Trug der Einbildung, sondern dass es geradezu das wirkliche wahrhaftige und rechte Leben
ist!“ In nur vier Nächten wird der Träumer durch
eine zufällige Bekanntschaft zu einem existenten Menschen in die wirkliche Welt gerissen, die
auch keine vollständig echte ist. Wie denn auch,
wenn selbst die Nächte nicht mal richtig dunkel
sind? Und wer diese vier kurzen Nächte ( plus
den letzten darauf folgenden Morgen) durchgelesen hat und damit kurz in den wunderbaren Erzählkosmos Dostojewskis eintreten durfte, wird
auch die großen Romane nicht mehr scheuen.
„Mein Gott! Ein voller Augenblick der Seligkeit!
Ist das etwa zuwenig für ein ganzes Menschenleben?“ – wie es im letzten Satz der Erzählung
schließlich heißt.
Fjodor Dostojewski - Weiße
Nächte
Verlag: Insel Verlag; Auflage: 9 (27. Mai 2002)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3458345345
ISBN-13: 978-3458345343
6,00 Euro
Abbildungen
Wassili Perow - Porträt von Dostojewski 1872
Weiße Nächte in St Petersburg:
Michail Davidovich Natarevich (1907-1979):
Eine Jugend (1957)
31
© wasser-prawda
Film
Der Sieg der Depressiven
oder: Ein wunderschöner Weltuntergang
Depression und Weltuntergang - in seinen beiden letzten Filmen hat Lars
von Trier Bilderwelten gefunden, die das Seelenleben der Protagonisten in
einer surreal faszinierenden Außenwelt abbilden. Von Robert Klopitzke.
Mit Fotografien von Christian Geisnes.
Der mittelalterliche Theologe Joachim von Fiore
berechnete zum Ende des 12. Jahrhunderts den
Weltuntergang auf das Jahr 1260. Seine Weltalterlehre mit der darin gipfelnden Apokalypse
war so zu seiner Zeit so populär, dass sich der
Franziskanerorden beinahe gespalten hätte. Die
Erde drehte sich dennoch 752 weitere Male um
die Sonne, aber die Untergangspropheten ließen
trotz mangelnden Erfolgen nicht nach, immer
neue Prognosen, gespeist aus obskuren Berechnungsgrundlagen, unter das endzeitsüchtige Volk
zu bringen.
Das Dilemma des ständig neu erwarteten und
stets ausbleibenden Weltuntergangs hat sich
tief in die abendländische Seele gegraben. Mit
der Durchsetzung des Christentums in Europa
wurde auch dessen lineares Zeitkonzept, welches
mit dem Schöpfungsmorgen beginnt und dem
Jüngsten Gericht endet, allmählich etabliert. Die
Antike kannte noch mehrere Modelle, wo z.B.
ein zyklisches System ebenfalls denkbar war; jeder durfte sich seinen Präferenzen entsprechend
ein Zeittypus auswählen. So erwies sich die
wendig gewesen wäre, die man ohnehin schon
ausschloss. Das Ausbleiben der unmittelbaren
Parusie (Wiederkunft Christi) änderte die Situation und man musste sich also doch vorerst auf
der sich beharrlich stabil zeigenden Erde einrichten und gewisse Vorkehrungen für eine Zukunft
treffen, von der man zwar immer noch nicht
wusste, wie weit sie reichen wird, aber dass sie irWenn die Zeit schon endlich strukturiert ist, gendwann enden wird, wurde zu einer intuitiven
wäre es auch von Vorteil, zu wissen, wo man sich Gewissheit.
gerade auf dem Zeitstrahl befindet und wann
die Welt nun tatsächlich untergeht, was allein Der Weltuntergang blieb bisher aus, das Bedürflebenspraktische Belange besser planbar macht. nis seinen Zeitpunkt zu bestimmen, erregt die
Die ersten Anhänger Jesu, unmittelbar nach sei- Menschen nach wie vor. Gerade zu Ereignissen
nem Tod, erwarteten seine Wiederkunft und das wie der Sonnenfinsternis über weiten Teilen in
damit einhergehende Weltenende noch zu ihren Europa 1998, die Jahrtausendwende zwei Jahre
Lebtagen. Die Apokalypse konnte also in den später oder der 11. September 2001 sind ideal
nächsten fünf Jahren, innerhalb des laufenden deutbare Zeichen eines sich scheinbar auflösenJahres oder sogar an diesem Nachmittag stattfin- den Kosmos. Nur allzu sichtbar wirkt in solchen
den. Das hatte ganz praktische Konsequenzen: Momenten die gewohnte Ordnung durch ein
man musste den neu entstanden Glauben nicht höheres Prinzip durchbrochen zu werden, selbst
erst mit Schriften und Riten kanonisieren, da wenn man diese Abweichungen ganz rational im
dies ja nur für eine fern liegende Zukunft not- Voraus prognostiziert hat; die Fazitnation am beÜbernahme des durchaus sympathischen Christentums mit dem Beharren auf der Alleingültigkeit seines Zeitmodells in großen antiken Bevölkerungsschichten als schwierig, da diese Form
des Paternalismus schon weit reichend war. Als
größtes Problem ergab sich die Zeitbestimmung
der unausweichlichen endgültigen Apokalypse.
32
© wasser-prawda
Film
vorstehenden Ende behält die Oberhand, selbst
wenn es in den Vorstellungen der meisten Menschen nicht mehr in der Form biblischen Schilderung, wie sie in der Offenbarung des Johannes
dargelegt wurde, abläuft. Längst wurde die Apokalypse durch Atomkrieg, Klimawandel, internationalen Terrorismus und Killerviren säkularisiert. In diesem Jahr hat das Ende der Zeit und
ihre Verkünder mal wieder Hochkonjunktur; am
21. Dezember 2012 endet der Maya-Kalender.
Dass es ein reiner Zufall sein könnte, dass die
vorläufigen Berechnungen einer Hochkultur, die
schon vor Jahrhunderten aufhörte zu existieren,
enden, scheint den Untergangspropheten weniger sinnvoll zu sein, wie es der gesunde Menschenverstand eigentlich nahe legt. Das Urbedürfnis nach einer exakten Bestimmbarkeit des
Weltenendes, gegründet auf der Vorstellung in
einer endlichen Zeit zu leben, ist eben stärker als
sein vernunftgemäßes ausklammern.
Neben Hobbymathematikern und immer wieder
neuen Nostradamusexegeten setzen sich insbesondere Künstler mit dem Weltuntergang in ihren Werken auseinander, die mittlerweile so vielfältig sind, dass eine Kulturgeschichte derselben
mehrere Bände füllen könnte. So steht man allein
in der bildenden Kunst vor einem Ensemble von
Gemälden, die von damals theologisch geltenden
und streng ausformulierten Vorstellungen (z.B.
„Das jüngste Gericht“ von Hieronymos Bosch)
bis hin zu apokalyptisch anmutenden Phänomenen der Gegenwart, wie im Fall des Triptychon
„Der Krieg“ von Otto Dix reichen. Auch die
Filmkunst hat außerhalb der Zombiewelt, die
beinahe schon als selbstständiges Apokalypsensubgenre gelten kann und schlichten Unterhaltungsfilmen wie Roland Emmerichs „2012“, wobei der Titel natürlich mit dem erwähnten Ende
des Maya-Kalenders spielt, einiges zu bieten.
Besonders hervorheben möchte ich hierbei eine
ziemliche Überraschung des vergangenen Kinojahres: Lars von Triers „Melancholia“.
Jener Film behandelt zwar u. a. den Weltuntergang, jedoch bildete er nicht den thematischen
Schwerpunkt, sondern hat vielmehr die Funktion, menschliches Seelenleben in der denkbar
schwersten Katastrophe abzubilden. Der Regis-
seur bedient sich dabei einem gut aufeinander
abgestimmten Instrumentarium an Bildern,
Plot, Musik, Akteuren, Landschaften usw., die in
ihrem Zusammenspiel eine apokalyptische Stimmung evozieren, die vielmehr auf das menschlich
Innere als auf die faktisch äußere Welt abzielt.
So beginnt der Film mit dem Augenaufschlag
der einen Protagonistin namens Justine (gespielt
von Kirstin Dunst), der in ihren trüben Blick
schauen lässt; um sie herum stürzen die Vögel
in Zeitlupe vom Himmel. Es folgt die Aneinanderreihung von surrealistischen Bildern, wo sich
beispielsweise Justin in ihrem Hochzeitskleid versucht fortzubewegen, während schwarze Schnüre
ihre Beine umfangen halten; einige Bilder werden später im Film erläutert, mit anderen bleibt
der interpretationsgereizte Zuschauer allein. Nebenher gibt es Aufnahmen aus dem All, wo zu sehen ist, wie sich ein wunderschön blauer, riesiger
Planet direkt auf die um ein vielfaches kleinere
Erde zu bewegt, um irgendwann schlussendlich
mit ihr zu kollidieren.
Musikalisch begleitet wird dieser Bildzusammenschnitt von der Ouvertüre „Tristan und Isolde“
Wagners – übrigens die einzige Filmmusik, da
dasselbe Motiv in darauf folgenden Szenen immer wieder in unterschiedlicher Länge aufgegriffen wird. Nach dem Crash beginnt der eigentliche Plot, der zweigeteilt ist. Der erste Part ist mit
dem Titel „Justine“ überschrieben und behandelt
die Hochzeitsfeier eben jener auf dem üppigen
Anwesen ihres Schwagers (Kiefer Sutherland).
Die Feier gerät zum Fiasko und allmählich wird
erkennbar, dass die Braut schwer depressiv ist,
was ihre Familienangehörige nicht davon abhält,
in ihrem Auftreten – jeder auf seine Art – zu versagen. Am Ende des Abends hat sie weder den
gerade geheirateten Ehemann, noch ihren Chef,
der sie zu Beginn der Feierlichkeiten beförderte,
ganz zu Schweigen von ihrer Kernfamilie: Die
Mutter, welche mit einer zynischen Ansprache
beim Essen für den ersten Eklat der Feierlichkeiten sorgt, bleibt in ihrer Generalabsage an
alle Formen zwischenmenschlicher Beziehungen
allein, ebenso wie der Vater in seiner neuen Rolle als alternder Galant mit zwei weiblichen Begleitungen seiner nach Hilfe suchender Tochter
nicht zu helfen vermag. Ihre Schwester Charlotte
versucht als Ausrichterin des Abends die Etikette
33
der in sich maroden Hochzeitsgesellschaft in aller
Strenge zu wahren, was angesichts der Ereignisse
unmöglich wird. Sie ist auch die Namensgeberin
der zweiten Filmhälfte: „Charlotte“.
Gespielt von Charlotte Gainsbourg (der Tochter
des berühmten französischen Chanson-Sängers
Serge Gainsbourg) zeigt der zweite Part ihre Pflege und Bemühungen um die depressive Schwester Justine, die einige Zeit nach der Hochzeit
eine Art Totalzusammenbruch erlitten hat und
sich nun wieder auf dem Anwesen von Charlotte
und dessen Ehemann befindet. Dies erweist sich
als schwieriges Unterfangen, da die Patientin die
elementarsten Lebensbereiche wie Körperhygiene nicht mehr allein bewältigen kann. Selbst
das Lieblingsessen weist sie mit der im Schluchzen vorgetragenen Aussage „Das schmeckt nach
Asche“ zurück. Währenddessen rückt der bedrohliche Planet Melancholia vermehrt in die
abgebildete Lebenswelt. Der Ehemann Charlottes bzw. Schwager Justines kann die Ankunft
des Himmelskörpers kaum erwarten, da er es
für ein harmloses – aber gigantisch zu betrachtendes – Naturschauspiel hält und bereitet sich
mit seinem Sohn auf das Ereignis des vermeintlichen ‚Vorbeiflugs’ mit der Akribie eines HobbyNaturwissenschaftlers vor. Charlottes Angst vor
dem bevorstehenden Ereignis werden durch Gerüchte aus dem Internet geschürt, doch die Beschwichtigungsversuche ihres Mannes beruhigen
sie vorerst…
Mit der zunehmenden Gewissheit des unabwendbaren Weltuntergangs verschiebt sich das
Kräfteverhältnis. Die einst durch ihre Depressionen geschwächte Justine gewinnt mit anwachsender Bedrohung an Stärke, auch ihrer Schwester
gegenüber, die beinahe an Grausamkeit grenzt.
Charlotte versucht sich an jeden hoffnungsversprechenden Strohhalm zu klammern, was ihre
Schwester in der neu gewonnenen Stellung zu
vereiteln weiß. In einem Dialog, in dem Charlotte Spekulationen über mögliches anderes Leben
im Universum anstellt, weist sie ihre Schwester
kühl zurück: „Es gibt Dinge die ich weiß. Und
wenn ich sage, dass da nichts ist, dann ist das
so.“ Justine kann zwar ihrer Schwester und dessen Sohn keine vergeblichen Hoffnungen mehr
machen, hilft ihnen aber insgesamt die grausame
© wasser-prawda
Film
Tatsache so gut wie möglich zu ertragen.
Wer Filme von Lars von Trier kennt, fühlt sich
unweigerlich an sein Vorgängerwerk „Antichrist“
erinnert. Das kommt nicht von ungefähr und
liegt nicht ausschließlich daran, dass in diesem
Film auch Charlotte Gainsbourg eine Hauptrolle spielt. Die Bildsprache und viele andere wesentliche Elemente sind schon hier auffindbar. In
diesem Film geht es um ein Ehepaar, dass den
Tod ihres kleinen Sohnes, der sich während ihres
Beischlafes aus dem Fenster stürzt, zu verarbeiten
sucht. Die Trauer der Frau scheint kein Ende zu
nehmen und ihr Mann entschließt sich irgendwann zu einem Tabubruch, indem er seine eigene Frau im abgelegenen Familiendomizil namens
„Eden“ mitten im Wald therapiert.
Die Bilder, die dem Zuschauer dargeboten werden, sind in ihrer schwermütigen Stimmung denen von „Melancholia“ gleich. Nur arbeitet von
Trier hier mit einer Art von Vexierbildern, wenn
z.B. ein einsames Reh auf einer idyllischen Lichtung zu sehen ist, beim zweiten Blick aber ersichtlich wird, dass beim gleichen Reh eine Fehlgeburt
am hinteren Ende des Körpers heraushängt. Es
sind schizophren-schöne Aufnahmen, die einerseits das von Menschen in die Natur hineingelegte Idyll bekräftigen, aber auch sofort den Fokus
auf das grausame Unverhandelbare in der amoralischen Natur lenkt. So sagt die Protagonistin an
einer Stelle ganz pointiert: „Die Natur ist Satans
Kirche.“ Hier wird die Wunde offen zur Schau
gestellt, die der Depressive zu tragen hat. An
nichts mehr Freude entwickeln zu können, selbst
an vordergründig unschuldigen Dingen, wie der
unvoreingenommenen Betrachtung der Natur ist
schon an sich nicht möglich, da die ‚unvoreingenommene Betrachtung’ nur eine Fiktion ist; man
legt schon eine Empfindung mit hinein.
Oder mit den Worten von Roger Willemsen:
„Dann überlegten wir, ob man Landschaften
überhaupt anders als symbolisch betrachten
könne, korrespondiert doch jeder Hügelzug, jeder schimmernde See, jede Lichtstimmung über
dem Tal einer inneren Situation, sei sie lieblich
oder fahl oder roh. Eigentlich nimmt man doch
jede Landschaft musikalisch, als eine Manifestation von etwas Seelischem.“ Dank des Vexierbildes lässt uns Lars von Trier durch die Brille des
Depressiven auf mutmaßlich harmlose oder gar
angenehme Dinge einen Abstand zu unserer eigenen trainierten Naturwahrnehmung gewinnen. In „Melancholia“ verfährt er nach einem
gewissermaßen spiegelverkehrten Konzept: Die
evident bedrohlich zerstörerischen Elemente
werden überhöht und in solch einer Weise ästhetisiert, dass sie für den kurzen Moment der
Darstellung überhaupt nicht mehr bedrohlich,
sondern nur noch für vorurteilsfrei schön gelten
können. So rekelt sich in einer Nacht-Szene Justine nackt am Flussufer unter dem blauen Licht
des der Erde bereits sehr nahen Planeten, der für
die Vernichtung der Menschheit verantwortlich
sein wird. Es ist ein derart aufgeladenes Bild, das
ohne Kenntnis des Kontextes sogar als kitschig
missdeutet werden könnte.
zen sehr verloren, wie einzelne Bilder immer wieder sehr deutlich machen; so wie der Mensch im
Bewusstwerden seiner Existenz in einem schier
unendlichen All. Es wird ebenso auf Fernsehbilder aus aller Welt genau wie auf Illustrationen
einer urbanen Massenpanik verzichtet, die den
Unterhaltungsfilmen immer viel Spielraum für
Spezialeffekte liefern. Die individuellen menschlichen Tragödien in ihrem Gefüge zueinander
sind genugsam der globalen Katastrophe ein
menschliches Antlitz zu geben. Dem Dänen Lars
von Tier attestiere ich, sein Vorhaben gelungen
umgesetzt zu haben, welches darin bestand „einen wunderschönen Film über den Weltuntergang“ zu drehen.
Nach Eigenaussage des Regisseurs wollte von
Trier in „Antichrist“ seine eigene Depression thematisieren und mit „Melancholia“ therapieren.
Es ist somit kein klassischer ‚Weltuntergangsfilm’,
der auf das Bedürfnis eingeht, ganz plastisch die
Apokalypse darzustellen oder sogar ihren Zeitpunkt zu bestimmen. Er stellt eher der Versuch
dar, das Leiden an der Welt in einem künstlerischen Prozess zu sublimieren, auch wenn dies
den (in diesem Fall sehr schönen) Untergang
jener leidensvollen Welt zur Folge hat. In dem
Verhältnis des Individuums zur Welt ist auch die
Kräfteverschiebung der Schwestern zu verstehen,
denn wer das Leben in all seinen Erscheinungsformen für nichtig hält, wird auch mit dessen
totalen Auslöschung besser zurecht kommen, als
jemand, der sein Glück, seine Hoffnungen und
Zukunftsaussichten in diese hineingelegt hat.
Ein weiteres Indiz, das gegen das klassische Weltuntergangsdrama Hollywoods spricht, ist der fest
abgegrenzte Raum, in welchem sich die Figuren
bewegen. Das weitläufige Anwesen mit dem ihm
umgebenen Golfplatz ist alleiniger Spielraum,
in dem die geschilderten menschlichen Schicksale ablaufen. Ein Ausritt der beiden Schwestern
endet an einem Bach, den das Pferd Justines
auch unter heftigsten Schlägen nicht überqueren
möchte. Auch die verzweifelte Irrfahrt der Mutter mit ihrem Kind im Golfwagen endet genau
an dieser Stelle.
Trotz der räumlichen Einschränkung im Film
wirken die Akteure in ihren großzügigen Gren-
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© wasser-prawda
Film
Entführung in ein vergessenes Leben
Eine Freundschaft zwischen einem vermögenden, querschnittsgelähmten
Pariser und einem farbigen, kriminellen Pariser Vorstädter mutet kitschig an
und bietet viel Raum für Klischees und Stereotypen. Der Film Ziemlich beste Freunde aber hat nichts von dem. Er ist eine begeisternde Abwechslung
im Meer der Neuerscheinungen. Von Erik Münnich
Der Film lief die ersten fünfzehn Minuten und
mir kam dieser Gedanke schon zum zweiten Mal:
Der Film ist leider schon bald wieder vorbei! Das
lag nicht daran, dass ich dazu neige, mir die vermeintliche Zeitlichkeit schöner Dinge immer
und immer wieder bewusst machen zu müssen,
sondern daran, dass nur wenige Minuten genügt
haben, um mich davon zu überzeugen, dass dies
ein ganz besonderer Film ist. Und solche Filme
sind – man denke an den ganzen Schrott, der jedes Jahr den Markt flutet – leider selten.
Zu Beginn war ich, ehrlich gesagt, skeptisch: Filme, die von Minderheiten handeln, dazu noch
von Krankheit und Liebe, sind meistens ein Feuerwerk von Stereotypik, Kitsch, Dramatik und
was sonst noch alles dazu gehört. Da bin ich
geprägt vom deutschen Fernsehen, welches auf
der einen Seite gern Filme produziert, deren Plot
schon im Titel (Unter Umständen verliebt, Im
Brautkleid durch Afrika) offen zu Tage tritt und
bei denen es immer (nach ca. einer Stunde!) eine
Zuspitzung gibt, die ein Happy End nicht ganz
sicher erscheinen lässt, welches aber natürlich
eintritt, denn im Leben der deutschen Fernsehmacher und des deutschen Fernsehpublikums ist
immer alles gut. Auf der anderen Seite kaufen die
deutschen Fernsehsender auch gerne Filme aus
dem Ausland ein, die den eben beschriebenen
Eigenschaften in keiner Weise nachstehen, im
Der vermögende, querschnittsgelähmte Philippe
sucht einen neuen Pfleger und lädt potentielle
Kandidaten zu einem Vorstellungsgespräch in
seine Villa. Auch Driss ist da. Der farbige Vorstädter, der gerade einen sechsmonatigen Gefängnisaufenthalt verbüßt hat, will sich eigentlich nur
auf einem Schreiben des Arbeitsamts bestätigen
lassen, dass er Initiative bei der Jobsuche zeigt.
Schnell ist er genervt von der Warterei und drängelt sich vor.
Driss ist davon überzeugt, sowieso keine Chance bei diesem Auswahlverfahren zu haben und
entgegnet auf die Frage der besorgten Adoptivtochter von Philippe, ob er Referenzen habe:
„Ja, durchaus, Referenzen habe ich. Kool & The
Gang, Earth, Wind and Fire. Als Referenz nicht
zu verachten, he?“ Philippe kenne diese nicht,
Driss meint: „Also, wenn Sie die nicht kennen,
haben Sie keine Ahnung von Musik!“ Philippe,
der von sich behauptet, auf musikalischem Gebiet nicht ungebildet zu sein, stellt eine Gegenfrage: „Und Sie: Kennen Sie Chopin, Schubert,
Berlioz?“, welche Driss zu der Aussage hinreißt,
Gegenteil, diese noch viel theatralischer umset- „Ob ich Berlioz kenne? Es würde mich wundern,
zen und noch dazu mit Stars besetzt sind, was wenn Sie Berlioz kennen!“ „Auf diesem Gebiet
natürlich viel rausholt.
bin ich spezialisiert!“, sagt Philippe und Driss
Ich war also skeptisch. Doch das ohne Grund. entgegnet: „Ah ja. Und was kennen Sie da? WelDer Film Ziemlich beste Freunde ist wunderbar ches Gebäude?“, was Philippe wiederum dazu
anders.
verleitet, ausführlich zu erklären, wer Berlioz
35
© wasser-prawda
Film
war, bevor er einem Stadtviertel als Namenspatron diente. Driss stellt daraufhin fest, dass er
wisse, wer Berlioz war: „Aber mit dem Humor
ist es wie mit der Musik. Davon haben Sie keine
Ahnung!“ Das Interesse von Philippe wird durch
das forsche Auftreten geweckt, er bittet Driss, am
nächsten Tag wiederzukommen und stellt ihn für
einen Probemonat ein.
„Nimm Dich in Acht, solche Leute kennen kein
Mitleid!“ Dieser Rat eines befreundeten Rechtsanwalts steht sinnbildlich für die sich im Anschluss entwickelnde Beziehung zwischen „Pfleger“ und „Patient“. Philippe will kein Mitleid,
sondern ernst genommen, nicht immer auf seine
Behinderung reduziert und folglich bevormundet werden.
Driss macht genau dies: er bricht mit den Grundsätzen der bisherigen Pflege; er entscheidet sich
für den Maserati anstelle des langweiligen Minivans bei gemeinsamen Ausfahrten – schon bei
der ersten macht er dem immer wieder das Parkverbot vor der Einfahrt ignorierenden Nachbarn
unmissverständlich klar, dass er vor der Einfahrt
nicht zu parken hat – er begegnet den Panikattacken Philippes mit Spaziergängen und Joints und
führt ihm die lächerlichen Besonderheiten seines
elitär anmutenden Umfelds vor Augen. Kurz:
Driss entführt ihn in ein vergessenes Leben.
Doch auch er profitiert von seiner neuen Tätigkeit: Driss bekommt ein ordentliches Gehalt,
Kost und Logis; Philippe vermittelt ihm die Bedeutung der ein oder anderen Tugend, führt ihn
in die klassische Musik und in die Kunst ein, inspiriert ihn sogar zum Malen und verkauft sein
erstes Bild für 11.000 Euro an den oben erwähnten Rechtsanwalt.
Nebenbei schreiben Sie Briefe an Philippes Brieffreundin Éléonore, versuchen sie zu treffen –
was auf Grund der Unsicherheit Philippes nicht
klappt – fliegen Tandem – hier liegt übrigens der
Grund für die Querschnittslähmung: nach einem Paragliding-Unfall ist Philippe vom dritten
Halswirbel an abwärts gelähmt – feiern Philippes
Geburtstag und lachen viel, wovon der Zuschauer niemals ausgeschlossen ist.
Drehbuchautoren zeugt – Olivier Nakache und
Éric Toledano , die auch Regie geführt haben
– steht diesem in nichts nach. Die ruhige, mit
wenigen Bewegungen auskommende Kameraführung schafft eine Umgebung, in der sich die
Figuren, deren Handlungen und Gespräche eindrucksvoll entwickeln können. Erstere sind liebevoll gezeichnet und werden von den einzelnen
Darstellern – u.a. François Cluzet (Philippe),
Omar Sy (Driss), Anne Le Ny, Audrey Fleurot,
Clotilde Mollet und Christian Ameri – einfühlsam und sehr sympathisch verkörpert.
benen Vorstellungsgesprächen, wo nur einzelne
Aussagen der Bewerber pointiert wiedergegeben werden, welche aber gerade deswegen einen
Überblick über die fragwürdigen gesellschaftlichen Einstellungen zu Behinderung und Pflege
ermöglichen – schaffen im Zusammenspiel mit
längeren, ausführlicheren Passagen – beispielsweise der Besuch der Oper, währenddessen Driss
gelingt, die manchmal mit solch einem Ereignis verbundenen Absurditäten pointiert auf den
Punkt und den Opernliebhaber Philippe nicht
nur zum Lachen, sondern auch zum Vergessen
der mit diesem Ereignis verbundenen Etikette
Die beiden anderen kommen ohne Klischees zu bringen – eine in sich stimmige Erzählung,
und Stereotypik aus, sind teils ironisch, teils die nie langweilig und vorhersehbar ist, sondern
wunderbar überspitzt, aber nie übertrieben. zu jedem Zeitpunkt Freude bereitet, bei der aber
Die filmische Umsetzung des Plots, der auf einer Die nicht selten im Film integrierten Raffun- auch die kritische Auseinandersetzung der mit
wahren Geschichte beruht und von großartigen gen – beispielsweise bei den eingangs beschrie- diesen Themen angesprochenen Probleme nicht
zu kurz kommt.
Kurz: Dieser Film ist ein Muss, weil er eine begeisternde Abwechslung im Meer der Neuerscheinungen ist!
Ziemlich beste Freunde
Originaltitel:
Intouchables
Herstellungsland: Frankreich
Erscheinungsjahr: 2011
Regie: OlivierNakache, Eric Toledano
Darsteller: François Cluzet
Omar Sy
Anne Le Ny
Audrey Fleurot
Fotos: Senator Film 2012.
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Film
Zwei Elternpaare, die sich, nachdem ihre Kinder in einen Kampf miteinander verwickelt waren, zusammensetzen und über ihr weitere Vorgehehen
„beraten“. Roman Polanski hat Yasmina Rezas Der Gott des Gemetzels verfilmt. Der Film ist gelungen, aber was hätte mit solch einer Starbesetzung
auch schief gehen können? Von Erik Münnich
Auf der einen Seite zwei Jungen – der Eine hat
dem Anderen mit einem Ast niedergestreckt und
ihm zwei Zähne ausgeschlagen. Auf der anderen
Seite die Eltern der Jungen – Penelope und Michael Longstreet sowie Nancy und Alan Cowan
– die in der Wohnung der Ersteren – den Eltern
des vermeintlichen Opfers – mal zusammenstehen, mal zusammensitzen und über Tathergang, tatsächliche und vermeintliche Schäden,
Bedeutung und Folgen des Geschehenen, Buße
und Wiedergutmachung und sich selbst „ins Gespräch kommen“.
schriftlichen Fixierung des eingangs beschriebenen Vorfalls verbunden ist, führt zu einer ersten
kleineren Konfusion: dieses oder jenes Wort der
Beschreibung des Tathergangs und der Folgen
scheint zu drastisch oder doch zu harmlos; die
Schuldfrage und der Umgang mit dieser führt
zu keinem Konsens und so wird die Hoffnung,
dieses Treffen schnell zu einem befriedigenden
Ende zu bringen, enttäuscht. Die schon im Gehen begriffenen Cowans werden durch spitze
Bemerkungen der Gastgeberin, die im Kontext
unbedachte Äußerung des Gastgebers, er habe
den Hamster der Kinder ausgesetzt, und das AnDiese Grundkonstellation ist typisch für Stücke gebot, den fulminanten Apfel-Birnen-Cobbler
der französischen Schriftstellerin Yasmina Reza. bei einer Tasse Kaffee zu probieren, zum Bleiben
In diesen geht es um das Mit- oder Gegeneinan- bewegt.
der von Menschen, menschliche Abgründe und,
vorsichtig formuliert, die Liebe oder das, was da- Was sich in Folge ereignet, ist das für Reza tyvon übrig bleiben kann. Rezas Stücke sind weit pische Szenario: immer hefigere Kontroversen,
über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt die die Einstellungen und Abgründe der hangeworden und wurden in unzähligen Theatern delnden Figuren offen legen – der Rechtsanwalt
gespielt – von bleibender Erinnerung ist hier Alan Cowan, der einen Pharmakonzern bei desvor allem die Wiener Inszenierung von Drei Mal sen Schwierigkeiten mit den Nebenwirkungen
Leben mit Susanne Lothar, Ulrich Mühe, And- eines Medikaments berät; die Investmentbankerea Clausen sowie Sven-Eric Bechtolf. Die Ver- rin Nancy Cowan, die um die Erziehung ihres
filmung ihres Stückes Der Gott des Gemetzels, Sohnes bemüht immer und immer wieder von
für die sie gemeinsam mit dem Regisseur Roman ihrem Mann allein gelassen wird; die BuchhändPolanski auch das Drehbuch schrieb, wird ganz lerin Penelope Longstreet, die nach strikten Mosicher zu weiterer Bekanntheit dieser Schriftstel- ralvorstellungen lebt, die sich nur schwer mit delerin beitragen.
nen anderen Menschen verbinden lassen und der
Haushaltwarenhändler Michael Longstreet, dem
Das liegt zum Einen an dem wunderbaren Plot, das Leben egal scheint – und von ständig wechder die in der Bühnenfassung angelegten Kon- selnden Allianzen der vier Personen geprägt sind
flikte, Handlungsverläufe und Dialoge auf das – die beiden Männer symphatisieren miteinander
Medium Film überträgt.
auf Grund gemeinsamer Jugendidole; die beiden
Frauen verbünden sich gegen ihre ständig telefoDas vermeintlich unkomplizierte Treffen der nierenden Männer. Diese eskalieren schließlich,
beiden Elternpaare, das mit dem Versuch einer als sich Nancy auf die kostbaren Kunstkataloge-
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von Penelope erbricht. Im weiteren Verlauf der
Handlung tritt deutlich zutage, dass nicht die
Kinder die Ursache „allen Übels“ sind, sondern
die Eltern, die nicht in der Lage sind, die an ihre
Kinder gestellte Forderung, eine Auseinandersetzung human beizulegen, umzusetzen. Im Gegenteil: durch ihren Sarkasmus, ihre mangelnde
Kompromissfähigkeit und fehlende Emphatie
gießen sie immer neues Salz in die Suppe.
Zum Anderen liegt das an den großartigen Schauspielern, die für diese Verfilmung gewonnen werden konnten. Jodie Foster (Penelope Longstreet),
Kate Winslet (Nancy Cowan), Christoph Waltz (Alan Cowan) und John C. Reilly (Michael
Longstreet) hauchen ihren Figuren nicht nur das
gern geforderte Leben ein, sondern animieren
sich gegenseitig zu Höchstleistungen. Die beschriebenen Figurenkonstellationen, Konflikte
und Abgründe werden so phänomenal umgesetzt. Dadurch wird der Film zu einem Meisterwerk, der ohne Spezialeffekte und eine Vielzahl
von Handlungsorten – er spielt ausschließlich in
der Wohnung der Longstreets - auskommt und
dennoch 80 Minuten fesselt.
Der Gott des Gemetzels (F 2011)
Originaltitel Carnage
Regie Roman Polański
Drehbuch Roman Polański, Yasmina Reza
Jodie Foster: Penelope Longstreet
Kate Winslet: Nancy Cowan
Christoph Waltz: Alan Cowan
John C. Reilly: Michael Longstreet
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Jürgen Buchmann:
Memoiren eines Münsterländer
Mastschweins
ISBN: 978-3-943672-00-8
54 Seiten; 14,8 x 21 cm
12,95 Euro
jürgen landt
alles ist noch zu
begreifen
jürgen landt:
alles ist nochzu begreifen
ISBN: 978-3-943672-01-5
120 Seiten 14,8 x 21 cm
13.95 Euro
edition plüsch aus