Tutwiler - Dallas - Michigan: 100 Jahre Blues? - Wasser
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Tutwiler - Dallas - Michigan: 100 Jahre Blues? - Wasser
Magazin Wasser Prawda Tutwiler - Dallas - Michigan: 100 Jahre Blues? Louisiana Red (1932-2012) Greg Nagy: Michigan Blues David Foster Wallace Der Sieg der Depressiven oder: Ein wunderschöner Weltuntergang w w w. f r e i r a u m - ve r l a g. d e i n f o @ f r e i r a u m - ve r l a g e. d e G ü t z kowe r S t r a ß e 8 3 1 7 4 8 9 G r e i f s wa l d Te l . : 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Fa x 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Unsere Leser empfehlen: Greg Nagy - Fell Toward None Wer angesichts solch großartiger Songs noch der Meinung ist, dass Blues heute keine zeitgemäße Musik sei, der muss von Blind- und vor allem: Taubheit befallen sein. Wer azf der Suche ist nach einem Sänger und Gitarristen, der im Blues seine ganz eigene Stimme gefunden hat - hier kann er bedenkenlos zugreifen. Henning Pertiet: Masterpieces Vol. 1 (Stormy Monday) Immer wieder überrascht einen Pertiet: So kommt dann nach dem frisch gerockten Honky Tonk Train Blues von Meade Lux Lewis ein Ausflug in die abstrakten Klangwelten von Theolonius Monk. Ray Bailey - Cruisin‘ For A Bluesin‘ (Tondef ) Cruisin For A Bluesin von dem kalifornischen Gitarristen Ray Bailey ist nur bedingt ein Bluesalbum für entspanntes Cruisen durch die kalifornische Sonne. Die elf Songs drehen sich viel häufiger um harte Schicksalsschläge und die Unfairness des Lebens überhaupt. Cologne Blues Club Our Streets (pepper cake/ZYX) Eine wirklich beeindruckende Scheibe haben die fünf Kölner da abgelegt. Völlig zu Recht wurden sie von den Lesern unseres Magazins auf Platz 2 der besten elektrischen Bluesalben (national) gewählt. Editorial te als erster je veröffentlichter Blues. Seither ist diese Musik überall in der Welt zu hören. Jedenfalls, wenn man sich Mühe gibt. Denn eigentlich scheinen die Medien ja kaum mehr etwas für diese Wurzel der gesamten westeuropäischen Popmusik mehr übrig zu haben. Eine gute Nachricht für den Blues gab es in den letzten Wochen: Für ihre „Erfindung“ des American Folk Blues Festivals werden Horst Lippmann (1927-1997) und Fritz Rau Anfang Mai in die Blues Hall of Fame aufgenommen. Für mich war das Grund genug, mal wieder die alten Aufnahmen etwa aus dem Berliner AMIGA-Studio 1964 mit Willie Dixon und Hubert Sumlin zu hören und dabei gegen einen akuten Nostalgie-Anfall zu kämpfen. Auch wiederveröffentlichte Alben wie „Blues Mandolin Man“ von Yank Rachell oder „Lucky Man“ von Henry Gray können solche Anfälle auslösen. Und wenn man sich dann noch durch sämtliche im Archiv auffindlichen Platten von Louisiana Red gehört hat, ist man für neue Platten erst mal kaum empfänglich. Was war das damals noch Es war wohl im März 1912, als Hart Wand in für eine lebendige Musik! Und wie nachgemacht Oklahoma eine kleine Komposition zu Papier und lieblos klingt heute so vieles, was neu auf brachte. Als „Dallas Blues“ gilt die Nummer heu- dem Markt erscheint. Aber zum Glück längst nicht alles. So lange es Inhalt Impressum Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Computerservice Kaufeldt Greifswald. Das pdf-Magazin wird in Zusammenarbeit mit dem freiraum-verlag Greifswald veröffentlicht und erscheint monatlich. Es wird kostenlos an die registrierten Leser des Online-Magazins www.wasser-prawda.de verschickt. Musik Wie irrelevant ist Blues eigentlich? 4 Louisiana Red (1932-2012) 6 Hörempfehlungen 7 Nachruf von Didi Dynamite 8 Lippmann & Rau in Blues Hall of Fame 9 1912-2012 - 100 Jahre Blues? 10 Lightnin‘ Hopkins (1912-1982) 14 Greg Nagy: Michigan Blues 16 Shawn Starski18 Blindheit und Gospel19 Album des Monats: blau: - güntside 21 Rezensionen22 Klassiker neu gehört: Henry Gray, Yank Rachell 27 Redaktion: Chefredakteur: Raimund Nitzsche (V.i.S.d.P.) Leiter Feuilleton: Erik Münnich Mitarbeiter dieser Ausgabe: Robert Klopitzke Adresse: Redaktion Wasser-Prawda c/o wirkstatt Gützkower Str. 83 17489 Greifswald Tel.: 03834/535664 www.wasser-prawda.de mail: [email protected] Anzeigenabteilung: [email protected] Gerne schicken wir Ihnen unsere aktuelle Anzeigenpreisliste und die Mediadaten für das Online-Magazin und die pdf-Ausgabe der Wasser-Prawda zu. Anzeigenschluss für das pdf-Magazin ist jeweils der 1. Werktag des Erscheinungs-Monats. Die nächste Ausgabe erscheint am 19. April 2012. Literatur Mehr als nur unendlicher Spaß: David Foster Wallace28 Dostojewski: Weiße Nächte30 Film Lars von Triers wunderschöner Weltuntergang Musiker wie den Gitarristen und Sänger Greg Nagy - oder auch das norddeutsche Duo blau: gibt, braucht man sich eigentlich nicht wirkliche Sorgen um den Blues zu machen. Oder doch? Denn immer weniger tourende Musiker machen auch Abstecher nach Deutschland. Scheinbar trauen sich immer weniger Veranstalter, Konzerte auch mit aufstrebenden Bluesmen zu veranstalten. Nur noch bei Altstars und hochgelobten Bluesrockgitarristen gibt es scheinbar keine Krise. Ab sofort spendieren wir aktuellen Alben und ihren Künstlern online und hier im Magazin vier kostenlose Werbeplätze. Wer diese erhält, bestimmen die Leser. In diesem Monat haben gewonnen: Henning Pertiet, Cologne Blues Club, Greg Nagy und Ray Bailey. Herzlichen Glückwunsch! Die Idee ist großartig und ein wenig größenwahnsinnig; Unser Feuilleton-Chef beginnt in der jetzigen Ausgabe eine Artikelserie, die in den nächsten Monaten das Gesamtwerk von David Foster Wallace vorstellen wird. Weltuntergangsfilme haben zur Zeit Konjunktur. Ebenso wie allgemein das apokalyptische Untergangsgerede. Grund genug, sich die beiden letzten Filme von Lars von Trier in diesem Zusammenhang anzuschauen. 32 Ziemlich beste Freunde: Entführung in ein vergessenes Leben 35 Roman Polanski: Der Gott des Gemetzels 37 w w w. f r e i r a u m - ve r l a g. d e i n f o @ f r e i r a u m - ve r l a g e. d e G ü t z kowe r S t r a ß e 8 3 1 7 4 8 9 G r e i f s wa l d Te l . : 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Fa x 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 3 © wasser-prawda Meinung Will Shade Wie irrelevant ist Blues eigentlich? Mit den Grammies kommen in jedem Jahr auch vom Mainstream-Radio ignorierte Musikstile zu ein wenig Aufmerksamkeit. Jazz etwa oder Bluegrass und Folk. Der Blues allerdings ist dort fast nicht mehr zu finden. Ist die Wurzel der gesamten westlichen Pop- und Rockmusik inzwischen nur noch eine Fußnote für die Musikindustrie und die Medien? Unmaßgebliche Bemerkungen von Raimund Nitzsche. Schon vor Monaten hatten einige amerikanische Webseiten, die über Blues schreiben, bekannt gegeben, sich nicht mehr mit den Grammies zu beschäftigen. Ursache war die Entscheidung des zukommen zu lassen. Versteckt in der Kategovergebenden Gremiums, in Zukunft dem Blues rie der amerikanischen Roots-Musik findet sich nur noch eine der begehrten Auszeichnungen da der Preis für das beste Blues-Album. Vorher 4 © wasser-prawda Musik hatte der Blues zumindest zwei Kategorien oder noch mehr. Ist das eigentlich angemessen, wenn es für jeglichen Sonderfall von RnB, Pop, Videos, Solo-, Duo,..... -performances eigene Grammies bekommt? Nein, meinten die Bluesblogger und Bluesmagazine. So kann man mit dieser Musik einfach nicht umgehen. Denn so wird man der Bedeutung des Blues für die Entstehung und Entwicklung sowohl von Rock und Soul als auch des zeitgenössischen RnB und Hiphop niemals gerecht. Eine solche Entscheidung ist einfach völlig ignorant und arrogant. Man könnte sie verstehen, wenn es bei diesen hochgelobten Musikpreisen lediglich um Verkaufszahlen ginge. Doch das ist ja nicht der Fall: Anders als der deutsche „Echo“ sind die Grammies ein Kritikerpreis. Und wer Musikkritik betreibt dürfte so eine Entscheidung niemals unterstützen. Aber Blues findet halt in der medialen Öffentlichkeit nicht mehr statt. Es sind meist nur noch Spezialisten, die darüber schreiben. Und wenn etwa eine etablierte Tageszeitung in Chicago im letzten Jahr eine mehrteilige Serie zur Gegenwart und Zukunft des Blues veröffentlicht, dann ist deren Fazit: Der Blues, so wie wir ihn kennen, stirbt und wird höchstens noch in einer Nische überleben wie etwa die europäische Musik des 14. Jahrhunderts. Und Schuld darin ist vor allem das Desinteresse der Hörer. Es sind Enthusiasten, die noch immer in dieser Musik ihre musikalische Audsdrucksform sehen. Und sie sind bereit, auf das schnelle und große Geld (gibt es das in der Musik eigentlich wirklich noch?) zu verzichten und statt dessen jahrelang auf der Suche nach dem eigenen Ton und Stil zu verbringen. Es sind zahllose Musiker, von denen man außerhalb ihrer Heimatregionen kaum etwas hört, auch wenn sie selbst großartige Alben veröffentlichen. Es sind Musiker, die jahrelang durch Clubs und Kneipen tingeln. Und die mit Programmen wie „Blues @ School“ Kindern und Jugendlichen etwas über die Wurzeln der heutigen Popmusik beibringen. Bluesmusiker, so müsste man es eigentlich ausdrücken, sind so etwas wie Denkmalschützer oder Restauratoren für die bildende Kunst und Architektur. Und die Bluesfans? Auch das ist eine spezialisierte und kaum marktrelevante Gruppe. Zeiten, als Bluesalben auch in den Popcharts auftauchten, gab es lange nicht mehr. Und ein neues Bluesrevival ist nicht in Sicht. Und so haben auch Petitionen und Proteste gegen die Grammies nichts genützt. Schlimm auch, dass die Nominierungen für das Bluesalbum des Jahres von einer gewaltigen Ignoranz zeugten. Es wurden Alben nominiert, die zwar gut sind („Low Country Blues“ von Gregg Allman beispielsweise) aber eben nicht die wirklichen und unerwarteten Glanzpunkte des Jahres. Und gewonnen hat mit „Revelations“ von der Tedeschi Trucks Band eine Scheibe, die mit bekannten Namen glänzt, die aber ansonsten 2011 im Vergleich höchstens gutes Mittelmaß war. Da kann man die Grammies als Bluesfan wirklich nur noch ignorieren. Und statt dessen berichtet man über die Blues Music Awards oder ähnliche Spezialpreise. Obwohl man damit leider den Blues eben niemals aus seiner Nische heraus bekommt. Bessie Smith (Foto: Carl van Vechten 1936) Blatt für Blues und verwandte Musik. Wenn der „Rolling Stone“ mal wieder einen längeren Artikel über Bluesmusiker veröffentlicht, dann ist das ein Tag, den man rot im Kalender anstreichen muss. Und die Bluessendungen im Radio sind bis auf die beim Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur eigentlich fast alle auf die Frequenzen von Offenen Kanälen und das Internet beschränkt. Klar gibt es in ganz Deutschland etablierte BluesClubs, die regelmäßig Konzerte veranstalten. Doch von einer flächendeckenden Clubszene kann man längst nicht mehr sprechen. Das hat zur Folge, dass zahlreiche Künstler inzwischen bei ihren Tourneen durch Europa um Deutschland einen Bogen machen. Denn immer weniger Veranstalter können oder wollen das Risiko mit unbekannteren Musikern eingehen. Und was meiner Meinung nach wirklich fehlt, ist eine deutschlandweite Organisation für Musiker, Fans und Medienvertreter. Da gibt es mittlerweile derartigen Kleinkrieg wenn es etwa um Ehrungen wie die German Blues Awards oder um die Teilnehmer und Sieger bei der German Blues Wobei die Situation in Deutschland wohl noch Challenge geht, dass es einfach nur peinlich ist. prekärer ist. Neben den etablierten „Blues-News“ Da wird gegen die Entscheidungen eines wirkgibt es eigentlich kein regelmäßig erscheinendes lich engagierten Vereins wie dem in Eutin geläs- 5 tert ohne wirklich eigene Vorschläge zur Verbesserung anzubieten. Und damit würde man sich in der Öffentlichkeit lächerlich machen, wenn diese sich denn für einen solchen (man verzeihe mir den Ausdruck) Weitpisswettbewerb interessieren würde. Scheinbar gibt es nur zwei Vereine im Lande, die bislang Mitglied in der Blues Federation sind. Und die sitzen eben komischerweise beide in Eutin. Wie sieht es mit der Bluesszene Berlins etwa aus? Oder mit der in NordrheinWestfalen? Gibt es da Trägervereine oder „wurstelt“ im Endeffekt jeder vor sich hin? Wie man es schaffen kann, Blues prominent in die Medien zu bekommen, hat vor kurzem ausgerechnet Präsident Barack Obama vorgemacht: Nicht nur veranstaltete er eines der am besten besetzten Blueskonzerte der letzten Jahre im Weißen Haus. Nein, zu der Veranstaltung gehörten auch Workshops für Schüler, die unter anderem von der amerikanischen First Lady und dem ausgewiesenen Bluesexperten Robert Santelli betreut wurden. Da kann man nur neidisch nach Amerika blicken. Aber wahrscheinlich muss man hierzulande wirklich erst wieder die Öffentlichkeit für den Blues interessieren. Dann klappt das auch mit B.B. King im Kanzleramt. PS.: Kommentare, Kritiken, Beschimpfungen und ähnliches erreichen mich unter [email protected] © wasser-prawda Musik Louisiana Red (1932-2012) Er war ein wandelndes Vermächtnis des Mississippi-Blues. Der 1932 geborene Louisiana Red war einer der letzten überlebenden Vertreter des Blues aus der Zeit von Muddy Waters oder John Lee Hooker. Am 25. Februar 2012 ist er in einem Krankenhaus in Deutschland gestorben. Seine früheste Kindheit verbrachte er in zahlreichen Waisenhäusern. Denn seine Mutter war eine Woche nach seiner Geburt gestorben. Und sein Vater war vom Ku Klux Klan gelyncht worden. Als er mit elf Jahren seine erste Gitarre in der Hand hielt, wusste Louisiana Red, dass er seinen Platz in der Welt gefunden hatte. Driver nahm ihn bei sich in Pitsburgh auf. Doch ihr Freund hasste ihn und misshandelte ihn fast täglich. Aber mit der Gitarre in der Hand fand er eine Möglichkeit, sich bei all dem erlittenen Leid auszudrücken. Seinen ersten „Unterricht“ erhielt er von einem Maurer - und zuerst versuchte er, Leute wie Muddy Waters, Lightnin Hopkins oder John Als Iverson Minter wurde er am 23. März 1932 Lee Hooker zu imitieren. Als 14jähriger spielte in Vicksburg (Mississippi) geboren. Den Wai- er auf der Straße mit Orville Witt am einsaitigen senhäusern entkam er erst, als seine Großmutter Bass und Frank Flovers an der Harp. Beide waren ihn zu sich holte. Doch nach ihrem Tod ging für stadtbekannte Trinker. ihn das harte Leben weiter, dass ihn als Blues- Noch als Teenager begann er sein Leben als wanman für immer geprägt hat. Seine Tante Corrine dernder Musiker, um der Gewalt zu Hause zu 6 entkommen. Doch als Farbiger war man damals noch jeglicher Willkür ausgesetzt. So wurde er für ein Verbrechen, dass er nicht begangen hatte, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Mit 16 Jahren trat er in die Army ein und diente in Korea. Als er zurück kam, stellte sein Großvater ihn Muddy Waters vor. Das Treffen führte zu Aufnahmen mit Waters und Little Walter. Doch seine erste Aufnahme wurde unter dem Namen von Playboy Fuller auf Fullers Label veröffentlicht. Eine Session für das Chess-Unterlabel Checker brachte als Single „Soon One Morning“ hervor. Und für Chess entstand „Funeral Hearse At © wasser-prawda Musik My Door“ mit Little Walter an der Harmonica. Doch keine der Aufnahmen war außerhalb Chicagos wirklich erfolgreich. Und so zog er nach Detroit, wo er vor allem mit Eddie Kirkland und John Lee Hooker spielte und sich seinen Ruf als Gitarrist erwarb. tenerzähler im Blues im 20. Jahrhunderts wie kaum ein zweiter fortsetzte: Im Traum kann er, der farbige Musiker, den Politikern klar machen, woran es in dieser Welt noch fehlt. Und dass man doch vieles einfach dadurch verbessern könnte, wenn man Musiker in die Regierung nehmen würde. Und um Vertragsklauseln bei den Plattenfirmen Neben eigenen Aufnahmen stand er immer wiezu umgehen trat er ähnlich wie Hooker unter der auch mit Kollegen im Studio. So spielte er zahllosen Pseudonymen auf: Cryin‘ Red, Elmo- etwa mit dem Pianisten Roosevelt Sykes oder re James Jr, Guitar Red, Iverson Bey, Playboy Brownie McGhee. Fuller, Richard Lee Fuller, Rocky Fuller, Rockin‘ Red, and Walkin‘ Slim. 1981 zog er schließlich nach Deutschland und fand in Hannover eine neue Heimat. Was zu 1960 erschienen dann seine ersten Aufnahmen der Entscheidung führte, ist letztlich irrelevant. unter dem Namen Louisiana Red. Er war nach Einerseits lebte er hier ganz in der Nähe seines New Jersey gezogen und hatte dort einen Vertrag Freundes Champion Jack Dupree. Und er fand bei Atlas unterschrieben. Doch erst 1962 fiel er hier seine Ehefrau, mit der er bis zu seinem Tode überregional auf: Sein Album „Lowdown Back- zusammen lebte. Und - für einen Musiker das porch Blues“ (erschienen bei Roulette) wurde Wichtigste: In Deutschland und in ganz Eurovon den Kritikern gelobt (und später von etlichen pa bot sich ihm die Möglichkeit zu ausgiebigen anderen Firmen neu veröffentlicht). Roulette Touren und Plattenveröffentlichungen. Und diegehörte dem zur Mafia gehörenden „Geschäfts- se Aufnahmen zeigen ihn entweder als einfühlsamann“ Morris Levy, der seine Künstler gnadenlos men akustischen Gitarristen oder auch als heftibetrog. So sah Red von seinem über eine Million gen Kneipenblueser in der Juke-Joint-Tradition Mal verkauften Single-Hit „Red‘s Dream“ nicht von Mississippi oder der South Side von Chicaeinen Cent Tantiemen. Dieses Lied ist ein Bei- go. Und damit wurde er langsam auch in seiner spiel dafür, wie Red die Tradition der Geschich- amerikanischen Heimat anerkannt und erhielt so 1983 den ersten W.C. Handy Award als Traditioneller Blueskünstler des Jahres. Seit den 90ern hat Red auch endlich in den USA den verdienten Erfolg. Immer wieder ist er auf Tourneen in seiner Heimat, spielt bei Festivals im ganzen Land. Er wurde geschätzt als einer der letzten überlebenden Vertreter des Mississippi-Blues nach dem Zweiten Weltkrieg, die Verbindung zu einer Zeit, als Muddy Waters, John Lee Hooker oder Elmore James als Modernisierer der Musik Anerkennung fanden. Und er war ein Musiker, der nicht nur über sein privates Leben sang, sondern sich immer auch politisch in seinen Liedern äußert, auch wenn ihm das in der Vergangenheit nicht immer nur Freunde gemacht hat. In Europa war er außer als Solist in den letzten Jahren vor allem mit zwei Bands immer wieder auf Tour. Einerseits mit Little Victor‘s Juke Joint aus Norwegen (mit denen er zwei seiner letzten Alben bei Ruf Records eingespielt hat), andererseits mit der deutschen Bluesrockband Dynamite Daze. Raimund Nitzsche Hörempfehlungen Von Nathan Nörgel Little Victor‘s Juke Joint „Back to the Black Bayou“ ein. Unwillkürlich fühlt man sich in die ländlichen Regionen im Norden Mississippis zurück versetzt. Dort lebt der rauhe, direkte Blues noch, den Red hier mit seinen Begleitern zelebriert. Keine Künstlichkeit, keine Politur: Blues als direkt auf den Bauch und die Köpfe zielende Musik. Die Stücke, die Gitarrist Little Victor für die Session ausgesucht hat, sind zum größten Teil aus den vergangenen Jahrzehnten von Reds Karriere („Ride on Red,“ „Too Poor Die Musik, die bei diesen Sessions to Die,“ „I Come from Louisiana“). entstanden ist, ist mit ihrem fetten Doch wie sie hier gespielt werden, Bläsersound und der swingenden sind sie meilenweit von dem akustiBegleitung absolut überraschend schen Country-Blues entfernt, den aber in jeder Sekunde überzeu- man sonst auf Reds Platten zu högend. Für mich der Geheimtipp in ren bekam. Die Power der Session der langen Discographie von Loui- ist am ehesten zu vergleichen mit siana Red. Buddy Guy‘s „Sweet Tea“-Album. Auch das hatte ja höchst eindrücklich versucht, den Juke Joint-Blues auf Platte zu bannen. Höhepunkte von Black Bayou sind der Gospel „Don‘t Miss That Train“ und der Slow-Blues „Sweet Leg Girl“, bei dem Louisiana Red mit seiner klagenden Stimme und der kreischenden Slide klar macht, warum er einer der besten Bluesmen der Gegenwart ist. Und das ist Back to the Black Bay- eindeutig keine Frage der Jugendou lichkeit. Sondern von Erfahrung 2009 spielte er in Norwegen mit und Ehrlichkeit. ger Musiker. Neben Helm, der bei einigen Nummern am Schlagzeug saß ist so etwa auch Band-Mitglied Garth Hudson an Orgel und Saxophon zu hören. Wie viele Platten Louisiana Red im Laufe seiner langen Karriere gemacht hat, ist wohl kaum einem wirklich bekannt, da ja gerade die Aufnahmen aus seiner Frühzeit unter den verschiedensten Pseudonymen erschienen sind. Und so soll auch hier lediglich auf ausgewählte Alben hingewiesen werden. Ashland Avenue Blues The Lowdown Back Porch Blues (1963) Viele Kritiker halten Reds Solodebüt noch immer für sein bestes überhaupt. Begleitet von einer spartanischen Rhythmusgruppe singt er hier neben ein paar traditionellen Songs etliche seiner besten eigenen Lieder. Neben dem Singleerfolg „Red‘s Dream“ findet sich da etwa das sozialkritische „I‘m Too Poor To Die“ oder die swingende Nummer „Sugar Hips“, die er beide Zeit seines Lebens immer wieder in Konzerten gesungen hat. Im Mai 1992 traf Louisiana Red in einem Kölner Studio mit The Chicago All Stars (unter anderem mit dem Pianisten Erwin Helfer, Bassist „Truck“ Perham und Darlene Payne-Wells am Schlagzeug) zusammen. Hier hatte er endlich mal wieder eine klassische Besetzung für Chicago-Blues hinter sich. Und so sind auch Songs wie der Ashland Avenue Blues“ oder „East Street Bridge“ nicht nur von den Texten her eine Erinnerung an die Zeiten mit Muddy Waters. Schön auch die zwei Gospelnummern „Call Him By His Name“ und „This Little Lamp of Mine“, die Red gemeinsam mit Katherine Davis singt. Different Shade of Red 2002 entstanden im Studio von Levon Helm (The Band) in Woodstock die Aufnahmen zu A Different Shade of Red. Begleitet wurde er dabei von einer Menge ansässi- 7 © wasser-prawda Musik Wir hatten gehofft, er sei unsterblich Wir hatten alle gehofft er sei unsterblich, doch jetzt hat uns die Realität eingeholt. Wenn ich an Louisiana Red denke, sehe ich diesen Felsen von Mann, mit dem sanften Gemüt eines Kindes. Seine bittere Jugend und sein hartes Leben hatten Ihn geprägt und eine gewisse Schwermut war sein Begleiter. Aber seine Augen begannen zu strahlen, wenn es um den Blues ging, wenn er eine neue Idee hatte und besonders, wenn er wieder einmal eine Gitarre ausprobieren konnte. Dann hörte ich oft den Satz. „Didi, do you know what I want for Christmas? ....This Guitar“. Red lebte und atmete den Blues. Selbst beim Soundcheck vor einem Konzert war er kaum zu stoppen und sein Lieblingsthema war das nächste Konzert, oder ein neuer Song. Red zeigte mir, was der Blues wirklich ist. Blues ist keine traurige Musik, es ist der Weg aus dem Kummer heraus. Red hielt sich mit seiner Musik nie an die gewohnten Grenzen, er komponierte spontan und suchte immer den genialen Augenblick. Dieser Augenblick war es dann auch der jeden Menschen, der ein Herz hat, berühren musste. Seine Stimme war ein mächtiges Instrument, sein Gitarrenspiel unverwechselbar und seine Ausdruckskraft war einzigartig. Wer ein Konzert von Red erlebt hat, weiß wovon ich rede. Man könnte sagen dieser geniale Musiker hatte den Blues, doch das wäre nicht genug, denn Louisiana Red war „Der Blues“. Ich kann nur schwer verstehen, dass er jetzt nicht mehr unter uns ist. Aber uns allen bleibt die Hoffnung, dass die da drüben eine gute Gitarre für Ihn bereithalten. Dynamite Didi (Sänger und Harpspieler der Band Dynamite Daze) Erinnerungen von Thomas Ruf „Ich bin sehr traurig, dass mein Freund RED uns verlassen hat. Er war der erste Blues-Künstler, dem ich persönlich begegnet bin und spielte das erste Konzert, dass ich jemals promotet habe als ich 19 Jahre alt war. Red war einer der letzten Giganten der Blues, der ständig und spontan seine Meinung mit einer neuen Versen und Melodien ausspach, jeden Tag, ob auf oder hinter der Bühne. Er war ein permanenter Quell des reinen Blues. Und er war ein sehr großzügiger Mensch. Meine Gedanken sind bei seiner Frau Dora, die mit ihm die letzten 30 Jahre zusammengehalten hat sowie bei seinen Kindern und der Familie. Wenn Du zu den glücklichen Menschen gehörst, die eine Platte dieses Blues-Giganten besitzen: es ist eine gute Zeit sie zu spielen und den Mann zu würdigen, den wir gerade verloren haben. Fotografien von Reto Toscano 8 © wasser-prawda Musik Blues Hall of Fame würdigt Lippmann & R au Die beiden deutschen Konzertveranstalter Horst Lippmann und Fritz Rau werden am 9. Mai 2012 in die „Blues Hall of Fame“ aufgenommen. Zu den außerdem in diesem Jahr Geehrten gehören die Gitarristen Matt „Guitar“ Murphy und Mike Bloomfield, der Harpspieler Billy Boy Arnold und der legendäre Produzent und Pianist Allen Toussaint aus New Orleans. Mit dem „American Folk Blues Festival“ haben Lippmann & Rau in den 60er Jahren den Blues eigentlich erst in Europa heimisch gemacht und damit den Lauf der Musikgeschichte auch in den USA gewaltig beeinflusst. Endlich nahm man große Künstler wie Howlin Wolf, Muddy Waters oder auch J.B. Lenoir in ihrer Heimat wieder ernst. Und mit ihren Tourneen beeinflussten sie nicht nur die gesamte britische Bluesszene. Auch etwa in der DDR hinterließen die Konzerte in den 60er bis 80er gewaltige Spuren. Ihr umfangreiches Archiv ist heute Teil des in Eisenach ansässigen Lippman+Rau Musikarchivs (bis 2009: Internationales Jazz-Archiv Eisenach), das von der Lippman+Rau-Stiftung unterhalten wird. Im Mai wird Rau in Eutin beim dortigen Blues Baltica über das AFBF erzählen. Wer Matt Murphy lediglich als Teil der legendären Blues Brothers in Erinnerung hat, der kennt den Gitarristen nicht wirklich. Als Sidemann spielte Murphy unter anderem mit Howlin Wolf, Sonny Boy Williamson, Muddy Waters, Memphis Slim oder Chuck Berry zusammen. Als Solist war er leider bislang nie so erfolgreich. Mike Bloomfield gehörte zu den Gründungsmitgliedern der legendären Paul Butterfield Blues Band, einer der ersten Bluesbands, wo Schwarze und Weiße gleichberechtigt miteinander spielten. Später gründete er die Band Electric Flag und war auch als Solokünstler erfolgreich. Jedenfalls so lange, bis Alkohol und Drogen seinem Leben 1981 ein vorzeitiges Ende setzten. Seit Jahrzehnten gehört Billy Boy Arnold in Chicago zu den wichtigsten Mundharmonikaspielen. Auch wenn er nie wieder die Popularität wie in den 60er Jahren erreichen konnte, werden seine Platten gerade seit Beginn des 21. Jahrhunderts von Kritikern und Fans gleichsam gefeiert. Über die Bedeutung von Allen Toussaint braucht man eigentlich kaum noch Worte zu verlieren. Er ist einfach einer der wichtigsten Produzenten, die es in New Orleans je gab. Ohne ihn sind die Karrieren etwa von Fats Domino und anderen nicht vorstellbar. Und auch seine eigenen Veröffentlichungen zwischen Rhythm & Blues und Jazz zählen zu den besten, die in der Stadt am Mississippi seit den 50er Jahren gemacht wurden. Aufgenommen in die Hall of Fame werden Anfang Mai außerdem noch die Musiker Buddy & Ella Johnson, Lazy Lester, Furry Lewis und Frank Stokes, der Radiomacher Pervis Spann (Chicago) sowie der legendäre Songwriter Doc Pomus. 9 Als Bücher werden „Bessie“ von Chris Albertson und „The Voice of the Blues: Classic Interviews from Living Blues Magazine“ (Hg.: Jim O‘Neal & Amy van Single) gewürdigt. Und wie jedes Jahr werden auch wieder prägende Alben und Songs in die Hall aufgenommen. 2012 sind das das 1991 erschienene „Damn Right, I‘ve Got The Blues“ (Buddy Guy) und „Bad Influence“ (1984, Robert Cray) sowie die Singles „It Hurts Me Too“ von Tampa Red (1940), „Pine Top‘s Boogie Woogie“ von Pine Top Smith (1928) und das 1957 erschienene Lied „All your Love“ von Magic Sam. Die Aufnahmezeremonie wird traditionell am Tag vor der Vergabe der Blues Music Awards stattfinden. 2012 ist das am 9. Mai. Die Blues Foundation, die die Hall of Fame ebenso wie die Awards ins Leben gerufen hat, ist zur Zeit übrigens dabei, für die bislang nur virtuelle „Hall of Fame“ in Memphis einen echten Standort zu finden. Das Projekt allerdings wird mit mehr als 3 Millionen Dollar veranschlagt. Wie lange man also dafür Spenden sammeln muss, ist noch nicht ganz abzusehen. Big Joe Williams beim AFBF 1972 in Hamburg (Foto: Heinrich Klaffs) © wasser-prawda Musik 1912: Der erste Blues? Wann der Blues als wiedererkennbarer Musikstil wirklich entstanden ist, darüber diskutieren Wissenschaftler noch immer. Unstrittig ist aber, dass im Jahre 1912 gleich drei Stücke mit der Bezeichnung „Blues“ im Titel veröffentlicht wurden. Eine historische und biografische Spurensuche nach den Anfängen des Blues von Raimund Nitzsche. Was könnte dem Anschein nach leichter sein als der Blues? Zwölf Takte, in drei Zeilen zu je vier Takten aufgeteilt, von denen die zweite gewöhnlich die Wiederholung der ersten ist. Jeder, der ein Musikinstrument beherrscht, kann in verhältnismäßig kurzer Zeit lernen, etwas zu spielen, das wie Blues klingt. Es wird etwas sein, das allerdings nur so klingt wie der Blues. Etwas zu spielen oder zu singen, das man als Blues empfindet, kann ein ganzes Leben dauern.1 Unzählige Definitionen gibt es dafür, was Blues ist, und noch mehr Sprüche, die erklären, der Blues sei dies und nichts anderes. Einige Definitionen sind musikalischer Natur und beschreiben die Form in Begriffen ihrer Rhythmen, Tonarten und Harmonien. Andere sind ethnisch-musikalischer oder historischer Art und folgen der Spur der musikalischen und rhythmischen Elemente des Blues bis zu verschiedenen Wurzeln in Afrika oder in Europa. Einige sind ihrem Wesen nach politisch und sehen im Blues das kollektive Tagebuch der schwarzen Unterklassen in ihrem Kampf ums Überleben in einem rassistischen, kapitalistischen „Babylon“. Wieder andere sind erst einmal emotional und halten am Konzept des Blues als einem Seelenzustand fest: „If it ain‘t a sad song, it ain‘t the blues“ darauf besteht Robert Cray, einer der wichtigen Vertreter des zeitgenössischen Blues seit den 80er Jahren. Und gerade unter Musikern ist die Haltung verbreitet, dass man nur einen Blues singen kann, wenn man ihn selbst auch erlebt hat. Dann gibt es noch die psychologische Interpretation, die die reinigende Funktion der Musik in den Mittelpunkt setzt. Die Soziologen verfolgen auf den Landkarten die Wanderungsbewegungen vom ländlichen Süden in die großen Städte. Und die Abteilung der Sprachforscher produziert ihre eigenen Analysen der Country-Blues-Dichtung. Das reicht, damit man sich nach einem Haufen Alben von Muddy Waters, Little Walter und Buddy Guy und nach einer großen Flasche Whisky sehnt. Der Gebrauch des Wortes „Blues“ 1 Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung eines Textes aus dem Buch „Talkin My Blues Pt. 1“ (Greifswald, 2008). Als Quellen wurden verwendet: Robet Santelli, Big Book of Blues; Samuel Charters, The Country Blues; Theo Lehmann: Blues and Trouble und natürlich das Internet. für eine besondere Stimmung oder ein Gefühl ist sehr alt und geht weit über die Musik hinaus. Er geht bis ins 16. Jahrhundert zurück. Im 19. Jahrhundert war der Ausdruck in den Vereinigten Staaten allgemein verbreitet, obwohl man sich nicht ganz einig darüber war, was es eigentlich bedeutete, „blue“ zu sein. 1924 war „ein Anfall des Blues“ gleichbedeutend mit „seelischer Depression“. 1853 empfahl die Bostoner Zeitung Yankee Blade einen humoristischen Roman mit den Worten: „... für alle, die zum Blues neigen oder zur Langeweile.“ In den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts meinte man damit also Langeweile, ab den achtziger Jahren Unglücklichsein: „Komm zu mir , wenn du den Blues hast.“ Und es wurden gar medizinische Bücher zur Heilung des Blues veröffentlicht. Doch eigentlich will ich nicht dozieren über den Blues, sondern erzählen. Denn die Bluesmen sind für mich zuallererst Erzähler. Und so fange ich erst mal mit mir an. Persönlicher Rückblick Eine Landschaft. Der Fluss im Tal noch von Nebel verhüllt. Die Felder bepflanzt mit Mais, Gerste oder Kartoffeln. Der Kirchturm mit seiner barocken Zwiebelhaube ist im Hintergrund. Dazu spielt die Mundharmonika: entweder bringt sie in zahllosen Versuchen etwas hervor, was entfernt an den ”Reichsbahnblues“ erinnert. Oder sie variiert ewig über das ”Lied vom Tod“. Es ist morgens gegen dreiviertel sieben, irgendwann so um 1983/84, mitten in Sachsen. Ich bin auf dem Schulweg, fahre freihändig auf dem Fahrrad. Die Hände brauche ich für die Harmonika. Und ich hab den Blues. Es muss irgendwann Anfang der 80er Jahre gewesen sein. Meine ältere Schwester hatte versprochen, mich in mein erstes Konzert mit zu nehmen. Nicht ins Sinfoniekonzert, sondern in ein ”richtiges“ Rockkonzert. Und so saß ich Ahnungsloser dann unter massenhaft langharigen Jugendlichen in einer Kirche in Sachsen und hörte ”Solaris“. Nie gehört von der Truppe? Hatte ich vorher auch nicht. Doch das ging wahrscheinlich nicht nur mir so. Solaris aus Berlin spielte Blues und Rock und ein paar christliche Lieder. An der Gitarre Matthias Gemeinhardt, der mir später noch häufig als Begleiter von Bernd Kleinow begegnen sollte. Höhepunkt für mich war: das Schlagzeugsolo. So was hatte ich bis dahin nicht gesehen oder gehört. Das völlige Ausrasten eines Musikers und der Zuhörer. Die spontanen Interaktionen zwischen Künstler und Publikum. Die Bereitschaft, in der Musik und in der Gemeinschaft völlig aufzugehen. Wenig später erlebte ich die ersten Sessions mit 10 Hart Wand‘s „Dallas Blues“ als Benefizsingle neu veröffentlicht Lieder wie der Memphis Blues oder noch mehr der Dallas Blues werden heute kaum noch als „Blues“ wahrgenommen und daher auch eher im Jazz-Kontext gespielt. Doch hundert Jahre nachdem Hart Wand die Noten zu seinem „Dallas-Blues“ veröffentlichte, haben Brad Vickers & His Vestapolitans das Stück in ganz klassischer Manier neu eingespielt in einer Besetzung für zwei Geigen, Gitarre, Gesang Klarinette, Saxophon, Mandoline, Bass und Schlagzeug. Und so ist der Cake-Walk, der das Stück trotz seiner zwölftaktigen Form eigentlich ist, wieder ein Stück für den Tanzboden geworden. Die als Download bei verschiedenen Portalen im Internetz zu erwerbende Single ist nicht nur ein Geburtstagsgeschenk für den Blues an sich sondern vor allem auch ein Benefizprojekt. Sämtliche Einnahmen durch den Verkauf der Single gehen nämlich an den „HART“-Fund der Blues Foundation im Memphis. Diese Einrichtung (HART steht für Handy Artists Relief Trust) unterstützt in Not geratenen Bluesmusiker und ihre Familien etwa bei Erkrankungen und fehlendem Versicherrungsschutz oder auch zur Finanzierung einer würdigen Bestattung für verstorbene Musiker. • Brad Vickers & His Vestapolitans: http:// www.BradVickers.com • Download „Dallas Blues“ bei cdbaby. com: http://www.cdbaby.com/cd/bradvickersdallasblues • Der Titel ist auch bei itunes. cdbaby koordiniert sämtliche Verkäufe und führt die Einnahmen dann an die Blues-Foundation ab. © wasser-prawda Musik Seine erste, gekauft auf einem Flohmarkt. Und so weiter bis heute... Afrikanische Spuren Ed Young spielt die fife. (Foto: Alan Lomax Collection/Library of Congress) gleichgesinnten Jugendlichen. Irgendjemand ging immer ans Klavier oder das Harmonium. Andere griffen zur Gitarre oder der Mundharmonika. Und dann rollten die Boogierhythmen. Texte wurde spontan improvisiert, wenn niemand mehr weiter wusste. Irgendwann zog jemand einen Kalender aus der Tasche und sang einfach die offziellen Gedenktage der DDR herunter: eine halbe Stunde Blues ”Walter Ulbricht: geboren und gestorben“. . . Das war etwas anderes als die damals in den Hitparaden um ein bisschen Frieden jammernde Nicole oder auch der bewusst auf Spaßgesellschaft getrimmte NDW-Sound. Das war handgemachte Musik. Das war Ton gewordene Stimmung zwischen Frust und Freude. Der Blues hatte mich. Er machte neugierig über die Hitparaden- oder Diskothekenmusik hinaus. Und brandmarkte einen gleichzeitig zum schrägen Außenseiter. Ein Image, das mit Holzperlenketten und gebatikten Windeln als Halstuch noch kultiviert wurde. Schließlich fanden die Lehrer weder mein Uniformhemd der Polizei von San Francisco noch den Gürtel mit der verchromten Smiley-Schnalle als passend für die DDR-Schule. Gegen Blues, die Musik der unterdrückten Farbigen, konnten sie nichts einwenden. Und die Mundi spielte ich glücklicherweise nur zweimal bei Schulveranstaltungen. Mehr hätte man mir sicherlich als Kör- perverletzung auslegen können. Zum offiziellen und amtlichen Outfit eines Bluesers hat es bei mir nie gereicht, da war Mutter dagegen: keine Tramperlatschen, kein Parka, kein Hirschbeutel, und schon gar keine langen Haare. Nicht so lange ich noch zu Hause wohnte. So blieb die Mundi, und die nach und nach vom Munde abgesparten Platten und Kassetten: Diestelmanns Dritte, die ich irgendwann mal an einen palästinensischen Kommunisten verborgte und nie wieder bekam. Im Nordost Mississippi Hill County kann man heute noch eine Musik hören, deren Spuren bis zurück nach Afrika einerseits, andererseits aber auch bis zur britischen Militärmusik des 18. Jahrhunderts verfolgt werden können. Die Fife and Drum-Bands der Region klingen noch urtümlicher als der Blues von John Lee Hooker: selbstgeschnitzte Querflöten spielen Melodien und werden von einer Gruppe von Trommeln begleitet. Endlos können sich die Rhythmen hinziehen, zu denen die Menschen bis zu Extase tanzen. Schon der Leibdiener des amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson soll eine kleine derartige Band geleitet haben, um die Begeisterung für die Befreiungskriege gegen die Briten anzuheizen. Doch in den Händen der afrikanischen Sklaven und ihrer Nachfahren mutierte die Militärmusik. Afrikanische Synkopen und Polyrhythmen veränderten die Marschmusik auf ähnliche Weise, wie sie später auch bei der Entstehung von Jazz und Blues zu erleben war. In einer Zeit, wo den Sklaven das Spiel auf Trommeln aus Angst vor unerlaubter Kommunikation verboten war, war die Fife and Drum Musik eine akzeptierte Ausnahme, die sogar von konförderierten Truppen während des Bürgerkriegs verwandt wurde. Tutwiler in Mississippi zählt zu den vielen Orten, die für sich in Anspruch nehmen, der Geburtsort des Blues zu sein. Dabei berufen sich die Einwohner der 1000-Seelen-Städtchen auf die Autobiografie Handys. Inzwischen gibt‘s die Bahn dort aber nicht mehr. Auf dem Bild ist der Highway 49 zu sehen, der sich in Tutwiler spaltet. Wer nach Westen fährt, kommt zum berüchtigten Mississippi State Penitentiary (Parchman Farm) und zur Dockery Plantation. Nach Osten gelangt man nach Greenwood. Oben: Das Bahndepot von Claksdale Anfang des 20. Jahrhunderts beherbergt heute das Delta Blues Museum. 11 © wasser-prawda Musik aus einer Arbeitsrotte, wenn einer der Männer ein paar Worte rief, die dann von anderen weitergerufen wurden; manchmal bloß ein „wo bist du“, das ein einsamer Arbeiter einem anderen auf einem entfernten Feld zurief. Huddie Ledbetter, besser bekannt als Leadbelly, spielte eine Reihe von Hollers und Worksongs ein, darunter „Whoa Back Buck“, „Julia Ann Johnson“ und „Line ´em“. Um das Jahr 1904 sammelte ein gewisser Newman White in Auburne, Alabama, auf den Feldern Worksongs; in ihnen erfasste er die meisten der einfachen Sätze, die den Kern der frühen Blues bildeten: „Some folk say de fo‘ day blues ain‘t bad But de fo‘ day blues am der wust I ever had.“ Die Elm Street in Dallas im Jahre 1944. Als Martin Scorsese vor wenigen Jahren für sein Dokumentarfilmprojekt ”The Blues“ in der Region filmte, lebte Otha Turner noch. Der damals schon über 90jährige Flötenspieler galt als letzter Leiter einer derartigen Band. Seine Vorgänger wurden die in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts von Alan Lomax erstmals auf Platte dokumentiert. In seinem Buch ”Das Land wo der Blues begann“ erinnerte er sich 1993: ”In Voodoo-Zeremonien machen Tänzer Hüftbewegungen hin zum Drummer, um die heilige Musik zu ehren, die sie inspiriert. Ich hätte nie erwartet, dieses afrikanische Verhalten in den Hügeln von Mississippi zu finden, nur ein paar Meilen südlich von Memphis.“ Diese urtümlich eindringliche Musik strahlt auch auf den Blues der Region aus. Und sie wurde auch von DJs aufgenommen und in elektronischer Form abgewandelt. Zu hören ist das etwa auf Aufnahmen, die R.L. Burnside auf seiner CD ”I Wish I Was In Heaven Sittin’ Down“ veröffentlicht hat. Aber auch das Album ”Sweat Tea“ von Buddy Guy ist ganz von der Urtümlichkeit der Musik in dieser Ecke von Mississippi geprägt. Ein Ausflug in die Geschichte Gehen wir zurück ins Jahr 1903, auf den Bahnhof von Tutwiler, einem Nest irgendwo in Mississippi. Der Orchesterleiter W.C. Handy wartete auf einen Zug, der neun Stunden Verspätung hatte und schlief ein. „Dann (so schreibt er in seiner Autobiographie) packte mich das Leben plötzlich bei der Schulter und weckte mich mit einem Ruck.“ Ein Schwarzer hatte angefangen, auf seiner Gitarre zu spielen. Beim Spielen drückte er ein Messer an die Saiten. Sein Lied hatte nur eine Zeile, die endlos wiederholt wurde: Goin‘ where the Southern cross the Dog Der Mann sang darüber, dass er zu einer Kreuzung zweier Bahnlinien unterwegs war. Damit sind wir noch nicht am Anfang dessen, was wir heute Blues nennen. Aber doch schon ziemlich nahe dran. Denn auch wenn manche Autoren viel Zeit damit verbringen, den Blues als afrikanische Musik zu klassifizieren: der Blues als Musikform entstand im Süden der USA. Und zwar irgendwann an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Und er wäre nicht denkbar ohne die jahrhundertlangen Erfahrungen von Sklaverei und Knechtschaft, wie ihn die Schwarzen dort erlebt hatten. Eine Wurzel des Blues war die Arbeit oder besser die Lieder, die die Sklaven und ihre Nachfahren bei der Arbeit sangen. Grob gesagt lassen sich diese Lieder als Worksongs und Field Holler klassifizieren. Worksongs waren Ruf-undAntwort-Songs, mit denen ein Takt angegeben wurde, um rhythmisch koordinierte Teamarbeit beispielsweise beim Entladen von Wagen oder beim Bau von Straßen zu erleichtern. Viele Beispiele davon wurden auf Platten aufgezeichnet, und der Worksong hielt sich noch lange nachdem der Blues bereits die schwarze Folk Music dominierte. Die Ballade von „John Henry“, die so einprägsam von Furry Lewis in Memphis aufgenommen wurde, ebenso wie von John Hurt in Mississippi und von Jesse Fuller aus Georgia (um nur einige von vielen zu nennen) war ursprünglich ein Worksong. Und Howlin‘ Wolf, einer der größten Mississippi-Bluesmen, erzählte 1967 von den Worksongs, die er in seiner Kindheit gehört hatte: „Einige der Männer erfanden Songs wie ‚I Worked Old Maude and I Worked Old Belle‘: solche Sachen eben. Die sind einfach da raus und sangen bei der Arbeit. Songs zum Pflügen, Songs um Maultiere anzutreiben. Morgens zogen die los und fingen an zu pflügen und zu brüllen und zu singen. Diese Lieder erfanden die einfach so nebenbei. Die machten Geräusche und Musik, wie es ihnen gerade passte. Die Worksongs machten die einfach frei Schnauze. Ein Worksong enthielt die Zeile ‚I got the blues but I‘m too damned mean to cry‘.“ Was Wolf gehört haben muss, war eine Mischung aus Worksongs und Field Hollers. Oftmals waren das lediglich musikalisch klingende Zurufe 12 war einer Texte, die er fand. Das Lied wurde an anderen Orten mit einem leicht abgewandelten Text gesungen: „Some folks say de Memphis Blues ain‘t bad“, oder „Some folks say de St Louis blues ain‘t bad“. Das Wort tauchte gelegentlich auch in Liedertiteln auf, jedoch nur als Slangausdruck ohne jegliche Beziehung zu einem musikalischen Stil. Die ersten als Blues bezeichneten Kompositionen wurden 1912 veröffentlicht: „Dallas Blues“ von Hart Wand (1887- 1960), einem weißen Musiker aus Oklahoma City. Die Melodie besteht aus einer einfachen zwölftaktigen Tonfolge, die in drei viertaktige Phrasen unterteilt ist und dem späteren BluesSchema sehr ähnelt. Auch bei der Tempoangabe heißt es „Tempo di Blues. Very Slowly. Ursprünglich hat Wand den „Dallas Blues“ für eine klavierspielende Freundin geschrieben. Er selbst hatte eine traditionelle Stringband und war Geiger. Innerhalb kurzer Zeit war das Stück damals längs des Mississippi ein Hit, der von den verschiedensten Bands gespielt wurde. Der heute noch verwendete Text wurde von Lloyd Garrett 1918 geschrieben. Heute wird der Dallas Blues meist als Ragtime oder Dixieland gespielt. Wand selbst blieb nicht lange im Musikgeschäft. Später war er mit der „Wand & Son“-Maschinenfabrik ziemlich erfolgreich und verkaufte seine Produkte bis nach Europa und Asien. Von Oklahoma verlegte er sein Geschäft später nach Chicago und ab 1920 etwa lebte er in New Orleans, wo er 1959 Samuel B. Charters noch ein Interview für sein Buch „The Country Blues“ gab. Darin meinte er, die Idee für den Songtitel sei von einem der Arbeiter seines Vaters gekommen. Der sagte beim Hören des Stücks, die Melodie gebe ihm „the blues to go back to Dallas“ Im Sommer 1912 wurde dann der „Baby Seals‘ Blues“ von Arthur „Baby“ Seales, veröffentlicht. Das ist musikalisch eine klassi- © wasser-prawda Musik W.C. Handy (Foto: Carl van Vechten) sche Vaudeville-Nummer oder auch ein Folksong, hat mit dem Blues als Musik aber nichts zu tun. Allein schon die Verwendung des Titels zeigt, dass damals einfach die Zeit reif war für den Blues. Der Memphis Blues und der „Vater des Blues“ Der bekannteste und am besten dokumentierte dieser drei Blues-Songs des Jahres 1912 ging schließlich im September in Druck. Der Memphis Blues war von der Form her auch kein Blues, sondern ein Cakewalk, der ursprünglich nach Angaben des Komponisten für eine Wahlkampagne für Edward Crump in Memphis entstanden sein soll2. William Christopher Handy (1873-1958) war damals einer der beliebtesten Orchesterleiter in Memphis und bezeichnete sich später immer als „Vater des Blues“. Er war aber erst der dritte Komponist, der einen „Blues“ in Druck gab. Allerdings kann man ihn als Songschreiber kaum unterschätzen. Und auch seine Rolle bei der Popularisierung der Musik der Farbigen im Musikmarkt hat er riesige Verdienste. Allerdings bezog er die eigentliche Musik der Farbigen erst relativ spät mit in seine Kompositionen In seiner 1941 erschienenen Autobiografie erinnert er sich: „Ich gestehe, dass ich nur zögernd die einfachen, volkstümlichen Formen verwandte ... Für mich als Leiter vieler respektabler konventioneller Kapellen war es nicht leicht, zuzugeben, dass eingewöhnlicher slow-drag der Rhythmus selbst sein könnte... Aufgeklärt wurde ich in Cleveland, Mississippi, wo jemand bei einer Tanzveranstaltung eine seltsame Bitte zu uns herauf schickte. Auf dem Zettel stand, ob wir nicht ‚unsere Eingeborenenmusik‘ spielen könnten. Ein paar Augenblicke kam schon die nächste Bitte herauf. Ob wir etwas dagegen hätten, wenn eine hiesige farbige Kapelle ein paar Stücke spielen würde? 2 Hier streiten sich die Gelehrten aber, ob in Handys Erinnerung sich nicht zwei Lieder vermischen. Denn die Lyrics, die sich auf Crump beziehen und mit dem Memphis Blues verbreitet wurden, passen einfach nicht zur Komposition. Ob wir etwas dagegen hätten: Wir amüsierten uns. Welcher Hornist konnte während der bezahlten Stunden etwas gegen eine Zigarettenpause haben? Wir verließen dankbar das Podium, und die Neuankömmlinge traten auf. Sie wurden von einem langbeinigen, schokoladebraunen Jungen angeführt. Ihre Band bestand nur aus einer uralten Gitarre, einer Mandoline und einem heruntergekommenen Bass. Die Musik die sie machten, entsprach genau ihrem Aussehen. Sie begannen mit einer jener sich immer und immer wiederholenden Phrasen, die keinen deutlichen Anfang und ganz gewiss kein Ende zu haben schienen. Der Rhythmus war quälend monoton, aber es ging weiter und weiter \dots Ein Regen von Silberdollars fiel zwischen die stampfenden Füße. Die Tänzer gebärdeten sich wie toll. Dollars, viertel Dollars und halbe Dollars, der Regen wurde dichter und dauerte an, während ich den Hals verrenkte, um besser sehen zu können. Dort vor den Jungen lag mehr Geld als meine neun Musiker für den ganzen Abend bezahlt bekamen.“ Die einsamen Rufe von den Feldern und die Arbeitsgesänge waren bei den Farbigen in den Städten mittlerweile fast vergessen, Die Trommelrhythmen aus Afrika ebenso. Doch der Gesangsstil und die emotionale Direktheit der Mu- sik hatte sich erhalten. Man sang die neuesten Schlager nach, und als sich die starke Tradition der Plantagenmusik mit der konventionelleren Stadtmusik berührte, trat in beiden Stilen eine Wandlung ein. Die Stadtmusik wurde ausdrucksvoller, und die Plantagenmusik benutzte lockerere Reime und einen stetigeren Rhythmus. Handy hat die Melodien der von ihm für primitiv gehaltenen „Eingeborenen“ genommen, eigene Stücke daraus gebaut und in einem Jazzarrangement verpackt. Und sowohl der Memphis Blues, als auch der St. Louis Blues wurden zu Welthits mit immer neuen Interpretationen bis in die Gegenwart. Handy selbst hatte vom „Memphis Blues“ allerdings nicht sehr viel. Denn er hatte das Stück an den Verleger Theron Bennett in New York verkauft, der es in New York verschiedenen Orchestern andiente. Allerdings erst als 1914 die ersten Plattenaufnahmen des Komposition erschienen, begann der Memphis Blues seinen Weg wirklich. Mit den drei 1912 veröffentlichten Blues begann eine regelrechte Blues-Welle. Alle Schlagerkomponisten begannen „Blues“ zu schreiben. Gesungen wurden diese vor allem von Frauen, zunächst sogar meist von weißen. Musikalisch waren die Stücke, sofern sie nicht einfache Schlager mit dem Wort „Blues“ im Titel waren, eine Verknüpfung von traditionellem Jazz mit Blues. Begleitet wurden die Sängerinnen meist von Pianisten oder von Jazzbands verschiedener Besetzung. Davon deutlich unterschieden ist der CountryBlues, die Musik der fahrenden Musiker der Südstaaten zwischen Texas, Mississippi-Delta und der amerikanischen Ostküste. Hier dominierten eindeutig Männer, die sich allein auf Gitarre und Mundharmonika begleiteten. Oder es bildeten sich kleine Gruppen, die zum Tanz aufspielten. Rhythmisch und textlich war dieser Blues wesentlich rauer und ungeschliffener. Er sprach nicht die Besserverdienenden an, die sich den Besuch in Theatern oder den Kauf von Platten leisten konnte. Sondern er spiegelte direkt das harte Leben auf den Baumwollfeldern oder den Holzfällerlagern wider. Für Städter war diese Musik eindeutig etwas unfeines. Doch zum Tanz am Wochenende im Holzfällerlager oder auf der Plantage war das genau das Richtige. W. C. Handy mit seinem Orchester im Jahre 1918. 13 © wasser-prawda Musik Lightnin‘ Hopkins 14 © wasser-prawda Musik Sam Hopkins (1912-1982), der zu Beginn der zwanziger Jahre als Wandermusiker durch Texas zieht, muss sich seinen Lebensunterhalt in Bars, Kneipen, Holzfällerlagern usw. verdienen. Als sein musikalischer Haupteinfluss gilt Blind Lemon Jefferson, dessen berühmte Arpeggio-Technik des Call-Response-Schemas (Ruf-Antwort) er weiterentwickelt und zu einem Individualstil verarbeitet. Von Raimund Nitzsche Geboren wurde er am 15. März 1912 in Centerville, Texas. Als er acht Jahre alt war, traf er Blind Lemon Jefferson bei einer kirchlichen Veranstaltung. Und das war der Zeitpunkt, wo er merkte, dass der Blues in ihm steckte und begann Unterricht bei seinem entfernten Cousin Alger „Texas“ Alexaner zu nehmen. Und er fing an, bei Kirchentreffen als Begleiter von Jefferson zu spielen. Und das will schon was heißen denn eigentlich hat dieser erste Star des Country Blues nie jemanden anderes neben sich spielen lassen. Eine Gefängnisstrafe auf der Houston County Prison Farm (wofür er verurteilt wurde, ist heute nicht mehr bekannt) in den dreißiger Jahren stellt einen tiefen Einschnitt in seinem Leben dar. Die sklavenähnliche Situation auf der Farm reflektiert er im später aufgenommenen “Penitentiary Blues“: Lord I just couldn’t help myself You know a man can’t help but feel bad When he’s doin’ time for someone else. Nach seiner Entlassung arbeitete er in seiner Heimatgemeinde zunächst als Hilfsarbeiter auf einer Farm. 1946 vermittelt ihm die Talentsucherin Lola Ann Cullum seine ersten Plattenaufnahmen für das Aladdin-Label in Los Angeles. Als Begleiter bringt Hopkins Wilson Smith, der seines kraftvollen Pianospiels wegen “Thunder“ (Donner) Smith genannt wird, ins Studio. Aus Gründen der Werbewirksamkeit nennt man Sam “Lightnin’“ (Blitz). Die Aufnahmen sind national recht erfolgreich, und Ligthnin’ Hopkins nimmt bis 1954 eine ganze Reihe von Platten auf, in denen er von unerfüllter und erfüllter Liebe, Glücksspiel (dem er mit Leidenschaft frönt), dem Leben im Gefängnis, den “Vorzügen“ und Gefahren des Alkohols, seinen Eltern, seinem Vorbild Blind Lemon Jefferson und anderen Themen singt. Auch nationale und internationale Ereignisse finden ihren Niederschlag. In ”War Is Starting Again“ gibt er seine ganz persönliche Meinung zum Korea-Krieg wieder: You know this world is in a tangle, baby Yeah I feel they’re gonna start war again Yes there’s gonna be many mothers and fathers worryin’ Yes there’s gonna be as many girls that lose a frien’ I got the news this morning, right now They’d need a million men You know I been overseas, woman Po’ Lightnin’ don’t want to go there again. vor seinen afroamerikanischen Landsleuten auf. 1964 kommt er mit dem AFBF erstmals nach Europa und findet auch hier ein begeistertes Publikum. Als er 1982 an Krebs stirbt, hinterlässt er über fünfzig LPs. In einem Nachruf schreibt der Filmemacher Les Blank: ”Er war einer der weisesten und liebenswürdigsten Menschen, die ich je das Glück hatte kennenzulernen. Er war Clown und Orakel, gewitzt und ein Gauner. Er hatte Verständnis für alle Menschen und ihre Gefühle. Ob er nun Lieder von anderen sang oder, wie es noch häufiger geschah, einen Song improvisierte, Lightnin’ Hopkins war ein Mann aller Hautfarben und Klassen und von allen Zeiten. Er war der beredte Sprecher für die menschliche Seele, die uns allen innewohnt.“ Schon zu Lebzeiten wurde sein Leben in verschiedenen Dokumentationen wie „The Blues Accordin‘ To Lightnin‘ Hopkins“ und auch in einem Spielfilm gewürdigt. Zur Zeit entsteht in Houston ein neuer Dokumentarfilm über diese Blues-Legende. „Where Ligtnin‘ Strikes“ soll neNachdem das Interesse an seiner Musik bereits ben Interviews mit Familien und Kollegen auch erloschen zu sein scheint und er für einige Jahre die Einflüsse von Hopkins auf bildende Künstler aus der ¨Offentlichkeit verschwunden ist, wird und Literatur erzählen. Wann der Streifen fertig er 1959 vom Bluesforscher Sam Charters ”wie- sein wird, ist allerdings auf der Homepage noch derentdeckt“. Sein Publikum setzt sich jetzt vor nicht vermerkt. allem aus Weißen zusammen, die beginnen, sich für die ureigenen Volksmusikformen ihres Lan- „Lightnin Hopkins“ (Porträt von Jules Granddes zu interessieren. Er ist Star vieler Universi- gagnage) täts- und Folklorefestivals und tritt weiterhin Statue von Lightnin Hopkins in Texas 15 © wasser-prawda Musik Michigan Blues Greg Nagy ist der erste Bluesmusiker aus Flint in Michigan, der es in meinen Player geschafft hat. Welche Bands dort in den in Clubs unterwegs sind? Keine Ahnung. Eine Annäherung von Nathan Nörgel. Blues aus Michigan? Klar: John Lee Hooker begann seine großartige Karriere in Detroit. Und auch andere Musiker zogen die Jobs in der Autoindustrie in die Gegend. Und frühen Rockbands wie MC5 oder die Stooges konnte man immer noch ihre Blueswurzeln anhören. Vom Soul eines Mitch Ryder mal ganz zu schweigen. Und mit Motown begann ja ein ganz eigenes Kapitel der farbigen Musik. Heute ist Detroit für Musikerinnen wie Joanne Shaw Taylor die Wunschheimat. Aber was ist eigentlich außerhab von Motorcity? Flint kenne ich ehrlich gesagt nur über „Roger and Me“ von Michael Moore. Eine Stadt mit Problemen, gegen die die Wirtschaftskrise selbst im ländlichen Raum Vorpommerns wie eine leichte Magenverstimmung wirken. Eine Großstadt ohne eigene Tageszeitung. Tausende Wohnungen wurden schon abgerissen, um leere Stadtviertel verschwinden zu lassen. Perspektiven gibt es nicht wirklich. Und alle paar Jahre muss die Stadt, wo Ende der 70er noch 80.000 Menschen Autos für General Motors montierten, unter finanzielle Zwangsverwaltung gestellt werden. Heut gibts wohl noch 8000 Autobauer in Flint. Buick City, die riesige Fabrik von GM wurde vor einiger Zeit abgerissen. Im Internet findet man noch Fotos der riesigen Brachlandschaft. Eigentlich eine ideale Gegend für den Blues. Jedenfalls für Musiker, in heute noch in dieser antiquierten Sprache ihr Mittel der Wahl sehen. Für den Gitarristen und Sänger Greg Nagy ist es das sicherlich. Blues, Soul, Funk und Gospel verschmelzen bei ihm zu einer mitreißenden Einheit. Natürlich ist Muddy Waters ein Einfluss. Aber noch mehr bei Nagy die Gitarrensounds von Albert und Freddie King. Und natürlich Motown aus der Nachbarschaft und Stax aus dem fernen Memphis. 2007 und 2008 kamen dann noch „Change Our Ways“ und „Live At The Cadillac Club“. Alle drei Scheiben wurden von der Kritik gelobt und im Radio gespielt und brachten der Band Einladungen über die Region hinaus. Doch Greg verließ die Truppe im Guten, um eine Solokarriere zu beginnen. Und die brachte ihm 2009 gleich eine Nominierung für das „Best New Artist Debut“ bei den Blues Awards Geboren wurde Nagy 1963 in Flint. Und natür- in Memphis ein. lich wuchs er mit all dem wunderbaren Sound aus Soul, Rock, Funk und natürlich Motown auf, War schon sein Solodebüt „The Thin Fine Line“ der damals noch aus jedem Radio zu hören war. ein Juwel für jede Bluessammlung, so ist sein Allerdings machten auf den jungen Studenten 2011 erschienenes Nachfolgealbum „Fell Toward damals Muddy Waters oder Albert King schon None“ eigentlich ein Pflichtkauf für Freunde mehr Eindruck als die neuesten Hits aus der zeitgemäßer Bluesmusik. Nachbarschaft. Aber ein Dasein als Musiker war für ihn damals noch nicht wirklich die Wahl der Das geht schon los mit dem einzigen Cover der Stunde. Nach dem College ging Nagy erstmal Scheibe, einer ziemlich am Original orientierten zum Militär. Und erst ab den frühen 90er Jahren Version von Freddie Kings „Pack It Up“, wird begann er fin diversen Blues- oder Funkbands aber erst so richtig klar bei Nagys eigenen Stüsieben Tage die Woche zu spielen. Root Doctor cken. soll, so meinen regionale Kritiker jedenfalls, zu der Zeit die beste Bluesband des ganzen Bundes- „Wishing Well“ etwa, wo Nagy eines seiner bestaates gewesen sein. Und so konnte Nagy 2004 eindruckenden Solos irgendwo zwischen Henderen Angebot, als Gitarrist einzusteigen, schwer drix und den Kings hinlegt. Tempo-Shuffle par ablehnen. Und er brachte Sänger Freddie Cun- excellence. Und als nächstes kommt gleich eine ningham und den Rest der Band dazu, nicht nur Soulnummer: „Be With You“, die gut auch irendlich ihr Debüt mit dem programmatischen gendwo in Memphis oder Muscle Shoals entstanTitel „Been a long time coming“ aufzunehmen. den sein könnte. Während Nagys Gesang hier 16 © wasser-prawda Musik Der Flint River in Flint (Michigan) (oben). Auf dieser riesigen Fläche befand sich bis vor einigen Jahren Buick City, die Autofabrik von General Motors in Flint (unten). manche gar an Ray Charles erinnert. Oder das funkige „Can‘t Take It No More“ oder gar „Let It Roll“, wo Nagy gleich ganz in das Territorium von James Brown wechselt. Unterschiedliche Stile aber alle gleichermaßen großartig gemeistert. Unterstützt wird Nagy bei dem Album neben seiner eigenen Band immer wieder auch von den Motor City Horns, die das nötige Blech liefern. Schwächere Songs? Gibt es kaum. Wenn man nicht „Facebook Mama“ als solchen ansehen will. Manchen ist die witzige Geschichte einfach zu blöd. Aber das ist Geschmackssache. Und manchen ist ein Song wie „For a broken heart“ mit seinen unerwarteten Wechseln zu wenig eingängig. Die sind einfach nicht darauf gefasst, dass ein Bluesman heutzutage auch seine Jazz-Skalen gelernt haben könnte. Und die Gebrochenheit und Unberechenbarkeit macht gerade Nummer zu einer der spannendsten des ganzen Albums. Wer angesichts solch großartiger Songs noch der Meinung ist, dass Blues heute keine zeitgemäße Musik sei, der muss von Blind- und vor allem: Taubheit befallen sein. Wer azf der Suche ist nach einem Sänger und Gitarristen, der im Blues seine ganz eigene Stimme gefunden hat - hier kann er bedenkenlos zugreifen. Wer allerdings in Nagys Stücken zeitkritische Kommentare zu Flint in Michigan sucht, wird wahrscheinlich enttäuscht sein. Denn eines ist Nagy nicht: Er ist nicht der nächste Dylan. Wer unbedingt eine Schublade braucht: Ich persönlich sortier Nagy in der Nachbarschaft von Philipp Fankhauser und Ray Bailey im Grenzgebiet von Blues & Soul ein. Schlagwort: Flint, Michigan. Zur baldigen Wiedervorlage markiert. 17 © wasser-prawda Musik Neuanfang als Chef Als Gitarrist und Songschreiber der Band „New Blood“ von Jason Ricci war Shawn Starski jahrelang unterwegs. Aber irgendwann reichte es ihm. Und nach zwei Jahren legt der 1979 geborene Gitarrist jetzt sein selbstbetiteltes Debüt vor. Von Raimund Nitzsche Es gibt Musiker, die den größten Teil ihres Lebens immer in der zweiten Reihe bleiben. Hubert Sumlin etwa war es lange zufrieden, der Gitarrist hinter Howlin Wolf zu sein. Und selbst als der Chef gestorben war, konnte er sich lange nicht wirklich von diesem übergroßen Vorbild lösen. Für Shawn Starski kam der Durchbruch als Gitarrist, als er Mitglied von New Blood, der Band des Bluesharp-Punks Jason Ricci wurde. Sieben Jahre und vier Alben lang war er nicht nur der Gitarrist der von Kritikern und Fans hochgelobten Band. Sondern er wurde immer mehr auch zum wichtigen Songschreiber der Truppe. Doch man kann sich auch als Außenstehender gut vorstellen, dass das Auftreten Riccis mit seinen Drogen- und Alkoholexzessen einem irgendwann die Lust an einer solchen Zusammenarbeit nimmt. Oder auch der Hang zu einem seltsamen Okkultismus, wie er sich auf Alben wie „Done With The Devil“ zeigte. Besonders wenn man wie Starski seine ersten musikalischen Schritte in einer Kirchenband unternommen hat. Erst die Anregung seines Bruders brachte ihm den Blues nahe. In Bands wie The Shadowcasters und später The Regulators spielte er jede Form blueslastiger Gitarrenmusik zwischen Jump-Blues und Bluesrock. Nachdem 2010 New Blood aufgelöst war, tat er sich mit der Sängerin Kelly Hunt ebenso zusammen wie mit Otis Taylor. Mit ihm wird er auch in Europa zu erleben sein, wenn Taylor sein neues Album „Contraband“ hier präsentiert. Doch vor allem hat Starski die letzten zwei Jahre genutzt, um endlich auch ein eigenes Album aufzunehmen. Das selbstbetitelte Debüt ist eine Visitenkarte seiner Vielseitigkeit geworden. Eine sehr hörenswerte noch dazu. Die zehn Songs pendeln zwischen swingendem Shuffle-Rock, klassischem Texas-Blues&Boogie und jazzigen Instrumentals. Starski lässt im Studio zum Glück nicht seiner Lust an ausufernden Improvisationen seinen Lauf sondern spielt präzise und auf den Punkt, wie es die einzelnen Songs brauchen. Live kennt man ihn ja als einen Musiker, bei dem Stücke gerne viel länger als zehn Minuten dauern. Doch auf „Shawn Starski“ bleiben die meisten Stücke unter fünf Minuten. Auf zwei Stücken kann man noch dazu eine Sängerin entdecken, die bei manchem spontan eine Assoziation zu Größen wie Nina Hagen auslöst: Elle ist Starskis Frau und außerdem eine Bluessängerin, die man in den nächsten Jahren unbedingt genauer verfolgen sollte. „Cry Baby“ mit ihr ist für mich zumindest der absolute Höhepunkt des Albums. 18 © wasser-prawda Musik Nicht in dieser Welt: TriBeCaStan TriBeCaStan wird man so schnell in keinem konventionellen Atlas finden. Auch gutinformierte politische oder geografische Faktensammlungen wie etwa Fischers Weltalmanach sind überfragt. Denn wenn TriBeCaStan in einem Atlas auftaucht, dann höchstens in einem musikalischen. Von Nathan Nörgel Es begann alles vor einigen Jahren, als zwei Nomaden aus Amerika begannen, die Lande der Musik ohne Regeln oder Sinn für Grenzen zu erforschen. Beide waren Fans von ungewöhnlichen Klängen, seltsamen Instrumenten und von deren Spielern, denen sie auf ihren Reisen begegneten. Inzwischen ist aus dem Duo eine große Band geworden. „Out of this Wold Beat“ ist als Genre-Bezeichnung gar nicht mal so schlecht. Denn was die Band um John Kruth und Jeff Greene auf ihrem neuen Album „New Deli“ anrichtet, vereint derartig viele Einflüsse, dass man mit dem Aufzählen gar nicht mehr hinterher kommen würde. Oder sollten wir es doch versuchen: Da trifft Jazz a la Ornette Coleman auf nordafrikanische Rhythmen und ein wenig Balkan Brass. Traditionelle indische Instrumente spielen plötzlich im Kontext einer Surf-Rock-Band. Und afghanische Hirtenmusik trifft auf die Folklore der Appalachen. Das liest sich fürchterlich. Das sieht auf dem Papier aus wie eine tote Kopfgeburt. Aber zum Glück ist keiner zum Lesen gezwungen. Wenn man es aber hört (am besten nicht im Sitzen sondern in Tanzhaltung), dann scheinen plötzlich selbst die absurdesten Sprünge logisch und absolut nachvollziehbar. Wenn etwa im Opener „Song for Kroncha“ die fast gemütlich dahin plätschernden Linien der Flöten von einer wüsten Free-Jazz-Attacke hingerichtet werden. Oder dass „Don‘t Let Me Be Misunderstood“ mehr nach dem Vorderen Orient als nach der Fassung der Animals klingt. Auch wenn der Sänger eindeutig ein Fan von Eric Burdon zu sein scheint. Und „Jovanka“ verschmilzt ShantySeligkeit mit Anklängen an Mariachi-Trompeten in Beirut. Während die Frau des Gehinrchirurgen ein Dinner serviert, was einfach nur noch vom kompletten Wahnsinn Zeugnis ablegen kann. Das alles ist von einem zappaesken Humor durchdrungen, dass das Grinsen im Gesicht der Eingeweihten permanent zu werden droht, je weiter das Album sich voranwagt auf der seltsamen Speisekarte des „New Deli“. Doch wo Zappa zumeist noch abstrakt bleibt, brodelt bei Tribecastan überall ein Tanzgroove, der für intellektuelle Glasperlenspielereien einfach keine Zeit lässt. Photos: Paul Hoelen & Mandarine Montgomery 19 © wasser-prawda Musik Heavenly Sight oder: Der Blick in den Himmel Blind Willie Johnson, Blind Gary Davis oder die Blind Boys of Alabama - auf ihre je eigene Art haben diese Musiker ihren Glauben in Töne gesetzt. Und sie waren ebenso blind wie etwa Ray Charles und haben es auf die harte Tour lernen müssen, mit ihrer Einschränkung in Gesellschaft und Musikindustrie zu überleben. Manche Menschen meinen, es gebe eine direkte Verbindung zwischen Blindheit und der Empfänglichkeit für spirituelle Erkenntnis. Über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage kann man durchaus streiten. Klar allerdings ist, dass gerade blinde Musiker in den Vereinigten Staaten immer wieder großen Einfluss auf die Entwicklung nicht nur des Gospel sondern auch im Blues oder Soul hatten. „Heavenly Sight“ dokumentiert die Schicksale und Erfahrungen blinder Gospelmusiker. Usprünglich war das eine rund einstündige Radiosendung, die David Marash für die New Yorker Produktionsfirma Murray Street erstellt hat. Dabei ging es nicht nur um die Musik sondern eben auch darum, wie blinde Musiker damals und heute in Gesellschaft und Musikindustrie ihren Weg fanden. Es sind spannende Einzelschicksale, die Marash zusammengetragen hat: Die Blind Boys of Alabama waren ursprünglich eine Gruppe des Talladega Institute for the Negro Deaf and Blind. Und diese staatliche Schule war weit davon entfernt, die Schüler auf ein eigenständiges Leben vorzubereiten. Was man dort lernen konnte war aber der Gesang. Und wer in die Gruppe aufgenommen wurde, konnte so zumindest zeitweise den fast gefängnisartigen Zuständen entkommen. Als Straßenmusiker war Blind Gary Davis immer wieder um seine überlebenswichtigen Gitarren bestohlen worden. Daher entwickelte er einen schon fast legendären Hang zu Schusswaffen. Selbst Nachts soll er immer mit einer Pistole in der Hand geschlafen haben. Blind Willie Johnsons klagende Slide-Gitarre? Kaum jemand gibt es, der von diesen Klängen nicht tief im inneren berührt ist. Hier klagt einer Gott sein Leid mit einer Hingabe, die einzigartig war. Man könnte hier noch jede Menge Musiker und auch Musikerinnen nennen. Ray Charles etwa mit seiner „Erfindung“ der Soulmusik durch die Profanisierung des Gospel. Hinter jeder Aufnahme verbergen sich Lebensläufe, die scheinbar nur eines gemeinsam haben: Den Musikern fehlte oder fehlt das Augenlicht. Und so wie die Menschen damit unterschiedlich umgegangen sind, so wie jeder persönliche Glaube einzigartig ist, so sind es auch viele einzigartige Blicke in den Himmel, die es zu entdecken gilt. Jetzt soll aus der Radiosendung aber - und das macht das Projekt noch interessanter - ein Webauftritt werden, wo über die in der Sendung vorgestellten Musiker hinaus Biografien, Videos und Bildmaterial blinder Gospelmusiker gesammelt und für Sehende und Blinde zugänglich gemacht werden sollen. Dafür wurde jetzt bei kickstarter ein Projekt gestartet, um notwendige Gelder zu sammeln. Und dann soll die bislang noch sehr auf den farbigen Gospel zentrierte Sichtweise von heavenlysight.org schrittweise auch die Erfahrungen blinder Musiker überall auf der Welt reflektieren. 20 Fotos: Blind Boys of Alabama, Ray Charles (1990) und Blind Willie Johnson (ca. 1920) © wasser-prawda Platte Des Monats blau: güntsied Blues auf Platt oder besser: Weltmusik mit plattdeutschen Texten hat sich das Duo blau: verschrieben. So treffen auf ihrem aktuellen Album „güntsied“ Taj Mahal und Ry Cooder auf norddeutsches Fernweh. Shantyklänge oder gar Anspielungen auf das Musikantenstadl wird man nicht hören. Statt dessen sind die Songs von Gitarrist Werner Willms und Günter Orelli (Sousaphon, perc) mit aktuellen Stücken etwa von Hubert von Goisern zu vergleichen. Die Debatte wird tatsächlich heute noch immer geführt, ob Weiße in der Lage sind, Blues zu spielen. Wenn sich namhafte Magazine wie „Living Blues“ weiter weigern, sich mit der Musik von Musikern zu beschäftigen, weil diese eben nicht farbig sind, dann hat das nichts mit einem umgedrehten Rassismus zu tun. Im Hintergrund steht da eher eine Kombination aus zwei Fragestellungen. Die eine betrifft die Frage der Authentizität. Kann jemand, der nicht zumindest über seine Vorfahren die Erinnerung an die Sklavenarbeit auf den Baumwollfeldern in sich trägt, wirklich den Blues nachvollziehen? Ist nicht jeder Versuch schon zum Scheitern verurteilt? Diese Einstellung geht davon aus, dass der Blues eben mehr ist als eine besondere Form der Musik wie etwa die Gregorianik, böhmische Polka oder argentinischer Tango. Der Blues ist das Vermächtnis und die Erinnerung eines ganzen Teils des amerikanischen Volkes. Das Leid der Sklaven kann man nicht ersetzen durch andere erlittene Schicksalsschläge. Der Blues wäre dann nicht authentisch. Dieses Argument muss man meiner Meinung nach nicht mehr wirklich ernst nehmen. Denn das ist eine Konstruktion, die in der Realität der Bluesmusiker nie wirklich zutraf. Schon immer gab es einen Austausch zwischen weißen und farbigen Musikern, sangen Farbige Country und übernahmen Weiße Bluessongs ihrer Kollegen. Und spätestens seit Bands wie der Paul Butterfield Bluesband waren Weiße auch von ihren Kollegen als gleichwertige Mitstreiter anerkannt. Das andere Argument ist schon schwerer zu entkräften: Weiße Bluesmusiker haben es auf dem begrenzten Markt einfacher, mit ihrer Musik Geld zu verdienen. Und ihre farbigen Kollegen bleiben auf der Strecke. Ob da ein immanenter Rassismus bei Konzertveranstaltern und Plattenkäufern verantwortlich ist, kann man schlecht entscheiden. Auf jeden Fall verkaufen sich komischerweise Platten weißer Bluesrocker oder auch weißer Bluesmen besser. Und sie werden eher in der Öffentlichkeit wahrgenommen, wie man etwa aktuell an der Nominierung und der letztlichne Vergabe des Blues-Grammy sehen kann. In so einer Hinsicht wäre ein Album wie „güntsied“ von Anfang an zu scheitern verurteilt. Baumwolle wächst nun mal nicht in der Moorlandschaft zwischen Bremen und der holländischen Grenze. Doch seltsamer- oder besser: glücklicherweise - funktioniert „güntsied“ ebenso wie etwa die Musik von Goisern. Hier sind Musiker, die ganz tief in ihren regionalen Kulturen verwurzelt sind aber gleichzeitig eben die Musik der amerikanischen Weiten in sich aufgenommen und verarbeitet haben. Das Ergebnis mag kein authentischer Mississippi-Blues sein. Das soll es auch gar nicht. blau: stehen statt dessen für eine neue regional verwurzelte Weltmusik. Die Texte von „güntsied“ sind Alltagsgeschichten zwischen Erinnerungen an eine vergangene Jugendzeit und den heutigen Ärger mit Beziehungen., Und sie spielen mit den geschichtlichen Traditionen der Region, der Auswanderung in ein mythisches Amerika, die großen Zeiten des Fischfangs auf den Weltmeeren oder auch mit Ereignissen aus der Zeit vor der Gründung des Deutschen Reiches. Das ist für Willms und Orendi ihr „Wilder Westen“, ihre Zeit der kulturellen Verwurzelung. Die Bluesanklänge etwa durch die Slide-Gitarre von Willms klingen weniger nach Robert Johnson als nach Ry Cooder oder auch Hank Shizzoe. Und wenn das Akkordeon erklingt, dann oszilliert es zwischen den spontan aufkommenden Shantyassoziationen und einer Tex-Mex-Fröhlichkeit, die letztlich immer die 21 Oberhoheit behält. Dass man als Außenstehender die Texte nicht sofort versteht, ist komischerweise kein Manko. Denn selbst als Sachse fühlt man sich in den Songs zu Hause und ernstgenommen. „güntsied“ ist daher ein absolut empfehlenswertes Album nicht nur für Norddeutsche und auch nicht nur für Bluesfans. Raimund Nitzsche © wasser-prawda Platten wird. Hinzu kommen dann noch George Papailys an der Gitarre und Keyboarder Tim Alleyne. Raimund Nitzsche lung wert. Und man darf gespannt sein, ob in diesem Jahr noch ein Live-Album erscheint, was einen so gefangen nehmen kann. (Blind Pig/ Fenn Music) Raimund Nitzsche Big James and the Chicago Playboys - The Big Payback Bläsergetriebener Blues mit jeder Menge Funk: Big James and The Chicago Playboys haben in den letzten Jahren nicht nur als Begleitband für Stars wie Buddy Guy oder Eric Clapton gespielt sondern sich als eine der besten Soulbluesbands etabliert. Ein Konzert aus dem Pariser Lionel Hampton Jazz Club wurde jetzt als „The Big Payback“ veröffentlicht. „We had a band powerful enough to turn goat piss into gasoline.“ Den Vergleich von Donald „Duck“ Dunn über den Sound der Blues Brothers könnte man eigentlich auch auf Big James and The Chicago Playboys anwenden. Die Band um Sänger und Posaunist „Big“ James Montgomery hat in den letzten Jahren einen Sound für sich gefunden, der Chicago-Blues nahtlos mit Soul und Funk verschmilzt. Und das Ergebnis ist eine bläsergetriebene Mixtur, die einen von den ersten Tönen des Albums „The Big Payback“ wünschen lässt, man wäre bei dem Konzert dabei gewesen. Genau so muss für mich eine klassische Rhythm & Blues-Show einfach sein: Eine großartig eingespielte Band (Joe „Goldie“ Blocker – keyb, Mike „Money“ Wheeler – g, Charles „Richard“ Pryor – tp, Larry „L-Dub“ Williams – bg, Cleo Cole – dr) legt mit dem programmatischen Opener „The Blues Will Never Die“ (eine der drei von Montgomery geschriebenen Nummern des Albums) los und lässt den Hörer bis zum Schluss nicht von der Angel entfliehen. Ob sie dafür nun Klassiker des Funk wie den von James Brown stammenden Titelsong oder George Clinton‘s „I‘ll Stay“ abfeuern oder Bluessongs wie „All Your Love“ einstreuen – Band und Publikum haben hörbar eine Menge Spaß. Und selbst eine totgecoverte Rocknummer wie „Smoke on the Water“ wird bei den Playboys einfach zum Soulblues-Instrumental umfunktioniert. Für Blues- und Soulfans ist „The Big Payback“ eine echte Empfeh- The Harmonious Five - Wanna Hear You Say „Yeah!“ Sie sind Fans des swingenden Rhythm & Blues der späten 50er/ frühen 60er Jahre. Auf „Wanna Hear You Say Yeah!“ haben die vier Musiker der Harmonious Five gleich 17 meist unbekannte Nummern zwischen den 5 Royales und obskuren Tanzstilen versammelt. Bettye LaVette ist schon ein erklärter Fan der Band. Und wenn man diese eingängige Mixtur klassischer Tanznummern hört, kann man das gut nachvollziehen. Was die vier broadwaygestählten Musiker hier vorgelegt haben, dürfte eine der interessantesten Scheiben für Fans von Swingklängen und klassischem Rhythm & Blues sein, der 2012 bislang erschienen ist. Besonders beeindruckend ist dabei nicht nur die instrumentale Meisterschaft der vier sondern vor allem die Harmoniegesänge, mit denen sie wie selbstverständlich die große Tradition der Vocalgroups der von ihnen geliebten Zeit fortschreiben: Da gibt es zwischen Doo Wop, Rock & Roll und Pop alles, was der Retro-Fan begehren kann. Wer also demnächst eine Tanzparty plant, sollte dieses Album eingepackt haben, um die Massen in Stimmung zu bringen. Und wer bei John Waters „Hairspray“ vor dem Fernseher tanzt, braucht diese Scheibe auch unbedingt. (Haywire) Raimund Nitzsche Carolyn Fe Blues Collective - Original Sin Blues aus Kanada - oder besser: zumeist düsterer Bluesrock findet sich auf „Original Sin“. Das Album wurde 2011 vom Carolyn Fe Blues Collective veröffentlicht und hätte eigentlich auf die Nominierungsliste für die besten Bluesalben gehört. 22 Klar gibt es die alten und jungen Bluesmen noch immer. Aber spannend wird es für mich immer gerade dann, wenn da eine Frau ihre Geschichten in Blues verwandelt. Wobei „Original Sin“ musikalisch eher mit Alben wie Mariella Tirotto & The Blues Federation als mit Samantha Fish oder gar Hip Shakin Mama vergleichbar ist. Viele der Lieder auf dem Album sind Songs, die oftmals nur noch der Stimmung nach Blues aber ansonsten eindeutig Rock sind. Düsterrock zudem. Oft rauh, dreckig und gemein. Denn es sind nicht wirklich die harmlosen sonnigen Geschichten, die Songwriterin Carolyn Fe mit ihrer Band da hören lässt. Da wird heftig abgerechnet mit miesen Mitmenschen (großartig allein so eine Zeile aus „Rant“: “You’re just one of Satan’s Army brats”). Da gibt‘s Bezüge zur Bibel (nicht nur zur Erbsünde und den Apfel sondern auch zur Offenbarung des Johannes), Und überhaupt gibt es für den Blues ja von früh bis spät Gründe. Doch Carolyn Fe ist keine der Blueser, die ihren Kopf hängenlässt und weint, sondern eine die wie Big Mama Thornton ihren Blues herausbellt und schreit, wenn es nötig ist. Carolyn Fe zeichnet als Sängerin für die meisten Texte der Songs verantwortlich zeichnet. Und als EInflüsse nennt sie nicht nur die Klassiker des Blues sondern auch so verschiedene Musiker wie Patsy Cline, Richard Wagner oder Philipp Glass. Wobei man hier dessen Minimal-Music ebensowenig zu hören bekommt wie sinnlosen Wagnerschen Bombast. Viel einleuchtender sind für mich Assoziationen zu Indierockbands wie den Yeah Yeah Yeahs oder so. Denn mit einer ähnlich umwerfenden Energie geht sie hier zur Sache. Und wird dabei von einer hervorragenden Band unterstützt, deren Mitglieder allesamt auch am Songwriting beteiligt sind.. Da ist Dan Lagault als Schlagzeuger und Mitgründer der Band), der von den treibenden Rochrhythmen bis hin zu Anspielungen auf Tex-Mex alles hinbekommt und dabei von Bassist Oisin Little congenial unterstützt Sean Poluk - Never Zuletzt spielte Sean Poluk mit dem Trio Papasean Johnson Bluesrock. Sein jetzt veröffentlichtes Album „Never“ geht musikalisch weiter zurück in die Geschichte des Blues. Die zehn Songs spielen in einer musikalischen Welt zwischen Louisiana, Chicago und Memphis. Entstanden sind sie aber in Kanada. Das geht ja schon mal gut los: Wenn Poluk „Even when you‘re wrong“, den Opener von „Never“ anstimmt, dann ist gleich da dieses Zucken in den Füßen. Dieser treibende Song mit der heulenden Bluesharp und Poluks klaren Gitarrenlinien legt die Latte für das Album gleich ganz schön hoch. Auch Songs wie „Hell Yeah“ oder „You‘re My Drug“ sind mehr als angenehme Entdeckungen. Und dann erst der absolute Höhepunkt „What You Mean To Me“: Wenn man sich dabei an die Aufnahmen seiner alten Band Papasean Johnson erinnert, dann ist man versucht von einem echten Quantensprung in seiner Entwicklung zu sprechen. Sean Polluk ist wirklich ein guter Songschreiber geworden, der sich ziemlich souverän zwischen Blues, Soul und ein wenig Funk oder Rock&Roll bewegt. Aber das aufgesetzte Muckertum des aufrechten Bluesrockers hat er fast vöölig abgelegt. Bei „Whish You‘d Stay“ macht er sogar Ausflüge in den Reggae. Allerdings muss das nicht wirklich sein - der Song zählt neben dem für mich langweiligen Schmachtfetzen „Never“ zu den schwächeren Songs eines guten Albums. Begleitet wurde Poluk bei den Aufnahmen von einer Auswahl kanadischer und spanischer Musiker. Erwähnen muss man hier unbedingt JORDAN MC NEIL – BOBB an der Mundharmonika. Der Mann ist schon für sich eine echte Entdeckung. Kaufen kann man „Never“ über cdbaby. Für den Herbst sind Konzerte auch in Deutschland mit Sean © wasser-prawda Platten Poluk geplant. Wenn er dann eine ähnlich gute Band hat wie im Studio, dann sollte man sich auf eine wirklich große Bluesshow gefasst machen. Raimund Nitzsche Cologne Blues Club Our Streets Großstadtblues kann auch fern von Memphis oder Chicago entstehen. Selbst in Köln ist das möglich, wie der Cologne Blues Club 2011 mit seinem Debüt Our Streets eindrucksvoll belegte. Für die Qualität von Bluesalben hab ich einen bemerkenswerten Indikator gefunden. Jedes Mal, wenn mein Webmaster sich bei den täglichen Musikberieselungen anerkennend mit Fragen oder Bemerkungen meldet, kann die Scheibe schon mal nicht schlecht sein. Wenn er aber gar selbst in meiner Abwesenheit ein Album ohne Zwang selbst in den Player legt und anhört, dann ist das ein echter Knaller. Denn er ist nun sicher alles, aber kein erklärter Bluesfan. „Our Streets“ hat diesen Status in unserer Redaktionn von Anfang an erreicht. Der Grund liegt ganz einfach darin, dass der Cologne Blues Club einen absolut eingängigen und niemals aufdringlichen Blues spielen, wo die Brillianz der Musiker niemals ein Selbstzweck ist sondern immer nur so weit in Erscheinung tritt, wie es die Songs brauchen. Und die zwölf Songs - halb Klassiker wie „Shame Shame Shame“ oder „Gotta Get It Worked On“, halb eigene Geschichten aus dem Leben heute in Köln am Rhein - sind durchweg mehr als gelungen. Die Stimme von Sänger Geza Tenyi (auch an der Bluesharp für mich eine echte Entdeckung) muss nicht mit ihrer Power protzen sondern bleibt eindringlich und einschmeichelnd in jedem Tempo. Und die zwei Gitarristen Micka Kunze (slide) und Thilo Hornschild bilden ein derartig eingespieltes Doppel, dass manche Kollegen sich an Bands wie Delta Moon erinnert fühlen. Klar ist auf jeden Fall: so was gab es im deutschen Blues lange nicht. Die Rhythmusgruppe (Michael Bebhart - b, Axel Hahn - dr) liefert dazu die passenden Grooves, die mal nach aktuellem Chicago-Blues, mal auch nach Funk aus Memphis klingen. Für mich sind es gerade die eigenen Songs, die „Our Streets“ so besonders machen. Sei es der rockige Opener „Back for Blues“, sei es die unwiderstehlich groovende Nummer „Let us roll“ oder die Geschichte vom „Cologne City Man“. Hier haben Musiker ihren Blues, fernab der historischen Baumwollfelder, gefunden und überzeugend in Lieder verpackt. Und wenn man das mal sagen darf: Sie klingen dabei so deutsch, wie Hank Shizzoe oder Philipp Fankhauser nach der Schweiz klingen. Nämlich überhaupt nicht.(pepper cake/ZYX) Nathan Nörgel kann, Philip Sayce als Bluesrocker zu bezeichnen, erschließt sich mir beim Hören von „Steamroller“ in keiner Weise. Und auch die Vergleiche zu Walter Trout. Nichts gegen seine Qualitäten als Gitarrist. Auch nichts gegen ihn als Sänger. „Steamroller“ ist eindeutig ein Hardrockalbum mit Metal-Anklängen im Stil der 70er Jahre. Hier ist kein Blues zu erkennen. Noch nicht mal in fernen Andeutungen am Horizont. Und seien wir ehrlich: „Steamroller“ ist noch nicht einmal ein wirklich gutes Hardrockalbum. Klar: Die Scheibe rockt ordentlich. Die Grooves sind deftig. Aber durch die Produktion wurden sämtliche vielleicht vorhandenen Nuancen der einzelnen Lieder gnadenlos in Richtung eines düster stampfenden Soundeinerleis zermatscht. Nur ein Titel hat für mich einen Erinnerungswert. Und der heißt „Beautiful“. Das ist eine amtliche Rocknummer, deren Riffs ins Ohr gehen und wo der Gesang aus dem Einerlei heraussticht. Den Rest hätte ich mir gern erspart. (Mascot/rough trade) Nathan Nörgel Philip Sayce - Steamroller Gerne wird Philip Sayce als Shooting Star in der Gilde der Bluesrock-Gitarristen gefeiert. Doch die Blueswurzeln sucht man auf seinem aktuellen Album „Steamroller“ vergebens. Die Scheibe ist eindeutig Hardrock/Metal im Stile der 70er Jahre. Irgendwann tauchte die lange unwidersprochen gebliebene Aussage auf, Weiße könnten keinen Blues spielen. Für mich liegt einer der Gründe dafür in der Gilde der jungen weißen Gitarristen, die zwar technisch in der Lage wären, Blues zu spielen die aber dennoch eigentlich Rocker sind. Genauer gesagt: Led Zeppelin konnten Blues spielen. Doch die zahllosen Nachahmer kopierten bloß deren Härte und sorgten dafür, dass die Rockmusik - besonders der Hardrock/Heavy Metal - irgendwann eine bluesfreie Zone wurde. AC/DC waren mal eine wirklich gute Bluesrock-Band. Und selbst bei Motörhead kann man die Wurzeln noch erahnen. Doch heute werden von Fans und Kritikern technisch brilliante Gitarristen vorschnell in die Riege der Bluesrocker geschoben, sobald in ihren Stücken auch nur von ferne eine Bluesskala herauszuhören ist. Das ist eine Marketing-Masche, die mich wirklich ärgert. Wie man etwa auf die Idee kommen Charlie and the Fez Kings - It‘s Good To Be The King Charlie and the Fez Kings aus Nebraska versetzen ihren Blues gerne mal mit überraschenden Dosen Progressiv-Rock. Ihr zweites Album „It‘s Good To Be King“ enthält 11 vom Gitarristen Charlie Glasgow geschriebene Songs zwischen klassischem Blues, ZZ-Top und Classic Rock. Wie viele Wege gibt es eigentlich, das auf dem Papier starre Korsett des Blues aufzulösen ohne dabei den Blues selbst zu zerstören? Meiner Meinung nach nicht allzuviele. Da bin ich mit Musikern wie Ana Popovic einer Meinung: Wenn man zuviel am Blues herumexperimentiert, dann geht er schnell vor die Hunde. Dann wird aus Blues ganz schnell Rockmusik, der man im besten Fall ihre Verwurzelung im Blues anhört. Was uns zu Charlie And The Fez Kings bringt: Charlie Glasgow und seine Mitstreiter sind klar im Blues verwurzelt. Man nimmt ihnen ab, 23 dass sie jahrelang in den Clubs in den Staaten unterwegs sind - allein oder jetzt mit der 2010 gegründeten Band. Aber wer beim Hören der elf Songs von „It‘s Good To Be The King“ sich an Bands wie Styx, Saga oder manchmal gar Steely Dan erinnert fühlt, der liegt mit seiner Einschätzung nicht ganz daneben. Gitarrenlinien und Keyboards verdanken der Rockmusik der 70er und frühen 80er Jahre eine ganze Menge. Und auch die ausgefeilten harmonischen Veränderungen in Liedern wie „Shelter“ sind ohne dieses Erbe undenkbar. Und beim Opener „Another Time Another Day“ kommen dann auch jazzige Klänge zum Tragen, die man sonst eher beim kalifornischen Blues erwartet. Das kann man insgesamt als Verrat an der reinen Blues-Lehre anprangern. Oder man freut sich darüber, dass hier eine Band ihre eigenen Klangwelten erforscht, ohne sich um kleinkarierte Kritik zu kümmern. Die elf Lieder auf dem zweiten Album der Band funktionieren als Rocksongs prima. Und sie sind eine wirkliche Abwechslung zum meisten, was sonst im Bluesrock gerade passiert. Höhepunkte sind für mich „Play Me Some Blues“ und „Overdrive“ mit seinem ZZ-Top-Groove. Und auch das wunderbar funkige „Sugar Daddy“ zeigt, wie dicht diese Band noch an den Blueswurzeln ist. „It‘s Good To Be The King“ ist im Bereich des Bluesrock ein erfrischend eigenständiges Album mit guten Songs. Erhältlich ist das Album zur Zeit lediglich als Download. Eine „echte“ CD soll im Laufe des Jahres folgen. Raimund Nitzsche Jan Hirte‘s Blue Ribbon feat. Nayeli - Singing The Blues Sie haben beides: Blues und Soul. Was Jan Hirte mit seiner Band Blue Ribbon im Oktober letzten Jahres im Berliner Yorkschlösschen auf die Bühne gebracht hat, hat Stormy Monday als Album veröffentlicht. Unterstützt wird die Band des Gitarristen dabei von der famosen © wasser-prawda Platten Sängerin Nayeli. Jan Hirte‘s Blue Ribbon gehört sicherlich mittlerweile zu den besten Live-Bands nicht nur der Berliner Blues-Szene. Das kann man wunderbar an „Singing The Blues“ nachhören: Jan Hirte gehört nun gerade nicht zu den Gitarristen, die sich überall mit ihrer Fertigkeit in den Vordergrund schieben muss. Doch wenn er mal ein Solo spielt, dann ist es stimmig und einprägsam zu jedem Zeitpunkt. Ansonsten hält er mit seinem Instrument den Laden zusammen und treibt seine Kollegen voran. Hier merkt man die jahrelange Erfahrung als Begleitmusiker etwa von Tommy Schneller oder anderen Musikern. Und auch die Erfahrung der Band als solcher, die traditionsgemäß die Blues-Sessions im Yorkschlößchen eröffnen. Ein großer Teil des Programmes ist denn auch mit Klassikern gefüllt: „Hold On, I‘m Coming“ findet sich ebenso wie „Chain Of Fools“ oder „My Babe“. Die Band spielt wie aus einem Guss, gibt nicht etwa eine billige Blues-Brothers-Kopie sondern bringt immer in den Solos die eigenen Ideen in die Werke ein. Und dann gibt es immer Wieder Stücke, bei denen man sich verwundert fragt: Woher kenne ich diese Nummer eigentlich? Dabei kennt man sie wohl eher doch nicht. Denn sie stammen aus der Feder von Hirte („I Always Will“, „Barefootin‘ In The Sand“) oder auch von Sanger/Bassist Uli Wagner („Mr. Nice Guy“). Und da merkt man dann auch, dass Blue Ribbon eben auch eine gute Jazzband ist und keine reine Soul-/ Blues-Band. Wenn auf „Singing The Blues“ etwas besonders heraussticht, dann ist das die unwahrscheinliche Stimme von Nayeli. Dass man von ihr außerhalb Berlins bislang noch wenig gehört hat (zumindest nicht im Raume Vorpommern), dann liegt das einfach daran, dass sie zur Zeit noch an ihrem ersten Album arbeitet. Wenn sie darauf ebensolche Gänsehaut fabrizieren kann wie bei „Jealous Girl“ „All I Could Do Was Cry“, dann steht da eine große Soulsängerin zur Entdeckung an. Insgesamt ist „Singing The Blues“ ein prima Live-Album aus hiesigen Landen voller Spielfreude und ohne Klischees. (Stormy Monday/ in-akustik) Raimund Nitzsche xen ausgewählt hat. Auf dem nur als Download erhältlichen Album „Black and Tan Edits“ finden sich daher 18 Stücke, die auf Originalen von rauhen Blues-Puristen wie Big Boo Davis, Big George Jackson oder Billy Jones beruhen. sie in ihren Liedern aufgreift. In „Small Miracles“ etwa geht es um ungewollte Kinderlosigkeit, „Creepy“ berichtet von Problemen mit Stalkern. Und den alltäglichen Terror in den Schulen widmet sie sich in „Scars“. Was Clare Free leider in meinen Ohren nicht ist, ist eine große Sängerin. Dafür fehlt ihr die Wandlungsfähigkeit und auch die Energie, um ein Album wie „Dust and Bones“ auf Dauer spannend zu halten. Aber das ist wie immer eine Geschmacksfrage. Nathan Nörgel Blues vor. Und ebenso: So oder ähnlich sollte Blues-Rock klingen, den ich unbedingt in meiner Sammlung haben muss. (Blue Bella) Nathan Nörgel Bruce Springsteen Wrecking Ball Wie schon bei seinem Debüt hat der Holländer es wiederum verstanden, diese Rauhheit auch in ihrem Dance-Kleid zu bewahren. Und er verstärkt die schon in den Originalen angelegten fast hypnotischen Grooves so weit, dass die Tracks für den Einsatz im hippen Electro-Club geeignet sind. Doch auch der Bluesfan kann seine Freude am Ergebnis haben. Sollte das der richtige Weg sein, ein neues Blues-Revival zu befördern? Wenn ja, dann kann man das nur unterstützen. Und natürlich dabei tanzen. Nathan Nörgel Clare Free - Dust and Bones Traditioneller Blues wechselt sich ab mit rockigen Klängen und ab und zu paar funkigen Episoden. Mit ihrem zweiten Album „Dust and Bones“ wird sich die britische Gitarristin und Sängerin sicherlich einen festen Platz nicht nur in der dortigen Bluesszene erspielen können. Wenn es um die zur Zeit immer mehr in den Blickpunkt rückende Frauen-Power im Blues geht, dann kann Clare Free da in Zukunft sicherlich ein gewichtiges Wort mitreden. Als Gitarristin kann man sie miX&dorp - Black and irgendwo in den Regionen zwischen Stevie Ray Vaughan und zeitgenössiTan Edits schem Bluesrock ansiedeln. BemerEs sind wiederum Bluesaufnahmen kenswerter allerdings ist sie für mich des niederländischen Labels Black allerdings noch mehr als Songwrite+ Tan, die sich miX&dorp für sein rin. Denn es sind nicht unbedingt zweites Album mit Blues-Remidie „klassischen“ Bluesthemen, die 24 Nick Moss - Here I Am Mit „Here I Am“ setzt Nick Moss seinem auf dem Album „Privileged“ begonnenen Weg ohne die langjährige Begleitband The Flip Tops fort. Manche Kritiker sehen den Sänger und Gitarristen aus Chicago schon in der legitimen Nachfolge von Musikern wie Buddy Guy. „Why You So Mean?“ fragt Nick Moss. Und seine Gitarre schreit dazu gequält. Einer dieser Eröffnungstitel, die einen sofort gefangen nehmen. Und man merkt gar nicht, dass diese Tour de force sechseinhalb Minuten lang ist: Hier ist einfach keine Note zu viel. Und die Energie von Moss und seiner Band lässt einen einfach nicht zu Atem kommen. Wenn Blues über miese Beziehungen singt: So sollte es heute klingen. Eine Mixtur aus dem Erbe (Muddy) mit der Energie von Leuten wie Hound Dog Taylor und den Gitarrensounds von allen zwischen Buddy Guy, Hendrix und Stevie Ray Vaughan. Zwischen hartem Gitarrenblues, Rock und ausgedehnten Jams pendeln auch die anderen Stücke von „Here I Am“. Nick Moss hat hier sämtliche Sicherungen rausgenommen und spielt ohne Netz und doppelten Boden. Und er lässt den Hörer - ob in den Liedern oder seinen schneidenden Gitarrensolos einen Blick in die Gefühlswelt blicken. Und das ist großartig, auch oder gerade wenn - es weh tut. Und wenn das Album mit „I‘ll Turn Around“ schließt, dann wird Moss gar zum eindringlichen Gospelprediger. So stelle ich mir wirklich ehrlichen Wenn Songwriter eine Botschaft zu verkünden haben, sträuben sich mich schnell die Nackenhaare. Ich hasse erhobene Zeigefinger oder selbsternannte Messiasse. Doch Bruce Springsteen hat glücklicherweise noch niemals zu dieser Kategorie von Musikern gehört. Selbst die Betroffenheit eines Albums wie „The Rising“ war dank der großartigen Musik eindrücklich und bewegend. Wobei man gleich anmerken sollte: „Wrecking Ball“ ist wesentlich großartiger geworden. Es ist der Blick auf den Alltag, auf die Kleinstadt, auf den „normalen“ Menschen da auf der Straße, der die musikalischen Beobachtungen Springsteens von Anfang an auszeichnet. Genau diese haben Songs wie „Born to Run“ oder „The River“ zu Hymnen ganzer Generationen gemacht. Und Lieder wie „My Hometown“ hatten den fast resignierten Blick auf den Verfall, den man überall sofort verstehen konnte. Jetzt, so macht „Wrecking Ball“ von Anfang an klart, ist Springsteen aber wirklich wütend geworden: Überall das Rennen nach dem schnellen Geld, der schließlich zum „Death of My Hometown“ führt. Der Abriss der vertrauten Umgebung und das völlige Fehlen von Perspektiven lassen das Pendel zwischen Wut und Resignation ausschlagen. Dass Springsteen jetzt musikalisch viel häufiger auf Folk-Klänge als auf seinen patentierten Rock setzt, macht das Hörvergnügen noch größer. Manchmal fühlt man sich an die „Seeger-Sessions“ erinnert, manchmal gar an irgendeine schräge Zirkuskapelle bei einer Beerdigung. Selbst ein Gospelchor war eingeladen. Doch ehe man sich zu heimisch fühlt, werden auch elektronische Klänge oder gar Rapeinlagen eingestreut: „Wrecking Ball“ ist kein Wohlfühlalbum. Es ist ein wütendes Werk eines zornigen und desillusionierten Musikers. Ein Rockalbum, © wasser-prawda Platten wie es lange keines mehr gab. Nathan Nörgel Jay Farrar, Will Johnson, Anders Parker, Yim Yames - New Multitudes Dass ausgewählte Songwriter in der Hinterlassenschaft nach unvertonten Texten von Woodie Guthrie suchen dürfen, kommt mittlerweile schon fast ohne den Novitäteneffekt daher. Doch ob nun Billy Bragg, The Klezmatics oder Hans-Eckardt Wenzel: Es sind immer wieder neue Schwerpunkte, die diese in dem Berg hinterlassener Lyrics finden. Vor dem 100. Geburtstag wurden jetzt vier Sänger aus der aktuellen Americana Szene eingeladen. Für Jay Farrar (Son Volt), Yim Yames (My Morning Jacket), Will Johnson (Centro-matics) und Andres Parker haben sich für „New Multitudes“ jetzt vor allem Liebeslieder und anderes Texte ausgewählt. die Guthrie in den 30er Jahren in Kalifornien schrieb. Da finden sich der „Talkin Empty Bed Blues“ oder „Careless Reckless Love“ mit ihrer Sehnsucht nach einer passenden Begleiterin. Und die soll dann - schließlich ist auch das Private politisch - des Sängers revolutionären Sinn erleichtern. Außerdem finden sich unter den zwölf Stücken (je drei von jedem als Leadsänger vorgetragen) Lieder, mit denen Guthrie die Menschen damals ermutigen wollte und die auch heute noch ihre Kraft behalten haben - auch wenn man Metaphern wie die einer „Hoping Machine“ als gnadenlos kitschig erscheinen mag. Doch ohne Hoffnung ist es ja nicht möglich, an den Verhältnissen etwas zu ändern. Und das war damals schon eines der wichtigsten Ziele des Dichters. Und damit ist er erschreckenderweise heute immer noch so aktuell wie damals. Mit „New Multitudes“ haben die vier Sänger damit nicht nur ein würdiges Geburtstagsgeschenk für das große Vorbild als Songwriter vorgelegt sondern auch eines der wichtigsten Americana-Alben des Jahres. (Rounder/Universal) Raimund Nitzsche schen New York und Burg Waldeck zu Hits werden, ist eigentlich schade. Nathan Nörgel Chico Schwall - Then What‘s It For? Ein Folkalbum, das so auch in den frühen 60er Jahren veröffentlicht sein könnte ist „Then What‘s It For?“. Chico Schwall bringt auf dieser Scheibe eine Mixtur aus Blues, Gospel, irischen Folksongs und ein paar Anklängen aus Klezmer und Weltmusik. Manchmal muss man einfach seinen Willen durchsetzen. Auch wenn es scheinbar gegen jede Vernunft geschieht. Denn seien wir mal ehrlich: Einen Markt für traditionelle Folkalben gibt es heute bestenfalls noch in den absoluten Nischenregionen der Musikszene. Was natürlich kein Argument gegen eine solche Musik ist sondern bestenfalls dagegen, sich in diesem Feld zu engagieren, wenn man nicht eine so große Fangemeinde etwa wie die Chieftains hat. Und selbst die bringen ihre Alben in den letzten Jahren ja zumeist dadurch in die Medien, dass sie mit allen möglichen Größen zwischen Country und Independent-Rock ins Studio gehen. Chico Schwall scheinen solche Überlegungen allerdings völlig egal zu sein. Denn „Then What‘s It For?“ ist weder spektakulär noch auf den ersten Blick aktuell. Hier erklingen Folksongs aus den verschiedensten Regionen der Welt. Sie sind traditionell arrangiert und schielen garantiert auf keine Hitparaden. Hier ist offensichtlich ein Künstler am Werke, der unerbittlich an das Gute im Menschen und an die Qualität seiner Musik glaubt. Schwall ist ein anerkannter Meister auf den diversen Saiteninstrumenten zwischen Gitarre, Banjo und Mandoline. Und mit seinen selbstgeschriebenen Songs bringt er die verschiedensten Stile zwischen Klezmer, Irish Folk, Blues und Gospel in ein Klanggewand, dass den Folk in den Status einer Zeitlosigkeit erhebt. Und die politischen und gesellschaftlichen Statements in seinen Liedern sind ebenso zeitlos, wie es die gesellschaftlichen Werte wie Gerechtigkeit und Freiheit sein sollten. Dass heute solche Lieder nicht mehr wie damals in den Folk-Zirkeln zwi- milien und Freunde der Getöteten diesen Song und sang ihn erstmals zu diesem Anlass. „F**k All The Pefect People“ ist ein Album über unvollkommene Menschen, eine Sammlung von Liedern voller Verständnis für ihre Schicksale und voller Bereitschaft zur Vergebung. Und es ist verdammt nah dran, ein absolut perfektes Album zu sein. Eines, das man nur wirklich guten Freunden vorspielt, die auch verstehen, warum man ab und zu bei Musik ins Weinen kommt. (Train Wreck) Nathan Nörgel Chip Taylor & The New Ukrainians - F**k All The Perfect People Mit „Wild Thing“ hat Chip Taylor schon seinen Platz in der Musikgeschichte sicher. Dass er aber einer der eindrücklichsten Songschreiber im Country geworden ist, beweist er gemeinsam mit seiner norwegischen Band „The New Ukrainians“ auf dem aktuellen Album „F**k All The Perfect People“. Ist eine Kombination aus Johnny Cash und Leonard Cohen überhaupt vorstellbar? Eigentlich nicht. Aber genau die kam mir als erste Assoziation, als diese Scheibe erstmals im Player rotierte. Da ist diese vom Alter gebrochene Stimme, Lieder voller Melancholie und Auflehnung und vor allem: eine lyrische Grundstimmung, die den Bogen vom Country zu den Chansons von Cohen andeutet. Absolut faszinierend. Vom äußerlichen her ist „F**k“ erstmal ein Zyklus von Songs über das Unterwegssein. Klassischer Stoff für Countrysänger also. Und genau das Thema, bei denen man wie beiläufig die kleinen Alltagsbeobachtungen einfließen lassen kann, die einem links und rechts der Straße ins Auge stechen. So tauchen dann die junge Gastarbeiterin oder der polnische Heimarbeiter, denen Taylor in New York begegnete ebenso auf („Me And Rohillio“) wie britische Zollbeamte, die seinen Pass einkassieren und von ihm Verbrecherfotos machten. Aber auch Bars und Gefängnisse, junge Mädchen bei einer Bar Mizwa oder Beschwerden über unfähige Musikkritiker. All das mit einer Melancholie und einer Herzenswärme vorgetragen, dass es einem zuweilen die Tränen in die Augen zu treiben droht. Besonders kann das passieren beim Bonus-Track „This Darkest Day“. Taylor war kurz vor dem brutalen Anschlag vom 22. Juli für ein Festival nach Norwegen gekommen. Als der Auftritt abgesagt wurde, schrieb er für ein Benefizkonzert für die Fa- 25 Digger Barnes - Every Story True Und noch so ein Album über das Leben unterwegs. Digger Barnes. bei dem man nie sicher sein kann, ob als Adresse Hamburg oder sein Wohnwagen irgendwo „on the road“ gilt, hat mit „Every Story True“ ein Album vorgelegt, das am besten irgendwann spät in der Nacht funktioniert, wenn man eigentlich schlafen möchte, aber nicht darf. Es sind neun Lieder über die Rastlosigkeit, über Niederlagen und die ewige Suche nach einem Ort, den man vielleicht auch Heimat nennen könnte. Auch wenn man eigentlich nur auf der Suche nach dem Platz ist, wo man sich nicht falsch vorkommt. Und es sind Geschichten der Leute, die einem bei solch einem Nomadenleben begegnen. In den Raststätten an der Straße etwa. Oder den dunklen Ecken. Manchmal sind das Songs, die auch Tom Waits hätte schreiben können etwa vor 20 Jahren. Andere erinnern in ihrer Düsternis an die 16 Horspepower (wenn auch ohne deren Härte). Doch niemals sind sie verzweifelt. Höchstens fatalistisch. Es kann im Leben zwar abwärts gehen. Doch schaut den Schnee an: Der ist tief gefallen. Und er sieht prima aus. („So Low“). Nathan Nörgel Bonnie Guitar - Intimate Session Mit „Dark Moon“ hatte die Sängerin und Gitarristin Bonnie Guitar 1957 ihren ersten großen Hit. © wasser-prawda Platten 1959 unterschrieb sie einen Plattenvertrag bei RCA. Und dafür spielte sie in Los Angeles mehrere Sessions ein, die zum größten Teil unveröffentlicht blieben. Bear Family hat sie jetzt unter dem Titel „Intimate Sessions“ herausgebracht. Es war die Zeit, als Julie London oder Peggy Lee ihre Hits hatten, als gleichzeitig der „Nashville Sound“ im Contry sich herausbildete. Und genau dahinein gehört Bonnie Guitar bei ihren Sessions für dieses : Eine einscheichelnde Sängerin, die ihre Gretsch-Gitarre streichelt. Bei einigen Stücken wird sie von eine Streichergruppe überzuckert, bei anderen begleiten sie BackgroundSänger bei ihrem Programm zwischen eigenen Stücken, Popstandards der Zeit („Maybe“, „The Fool“) oder Stücken von Hal David, Jeff Barry oder Harlan Howard. „Intimate“ sind diese Sessions wirklich. Denn man glaubt mit der Sängerin irgendwo in einer verträumten Kaminbar zu sitzen. Und scheinbar richtet sie sich dabei direkt an einen selbst mit ihren verliebten oder melancholischen Liedern. Völlig unverständlich, warum nur vier der Stücke damals als Singles vröffentlicht wurden. Aber zum Glück gibt es ja Bear Family, die „Intimate Session“ jetzt als Teil ihrer Serie „The Velvet Lounge“ vorlegen. Dass die CD wieder mit einem ausführlichen Booklet mit Discografie und allem Zubehör herauskommt, darauf kann man bei diesem Label sich ja immer verlassen. (Bear Family) Nathan Nörgel Soul, Funk oder Funkjazz zu sammeln. Doch mittlerweile dürfte das Feld der „Rare Grooves“ mittlerweile ziemlich abgegrast sein. Das jedenfalls sollte man annehmen nach den diversen Wiederveröffentlichungsreihen (etwa aus dem MojoClub oder auch von DJs wie Tobias Kirmayer). Dass gegen den ersten Augenschein aber doch noch echte Raritäten zu finden sind, die bislang noch nicht auf Samplern wiederverwertet wurden, zeigt die Nummer 4 von Kirmayers Serie „Movements“, die mittlerweile auf seinem eigenen Label Tramp Records herauskommt. Auf der CD (auch als Doppel-Vinyl und Download erhältlich) finden sich 16 Nummern, die vor allem eines sind: absolute Tanzflächenknaller. Ob das nun jazzige Instrumentals sind wie „Cissy Popcorn“ von Preston Love & His Band oder Soul-Kracher wie „Ooh Wee Baby“ von The D.M. Movements. Einer der persönlichen Höhepunkte für mich ist dabei „Night Club“ des Dave Harris Trio mit seinem ein wenig an Al Jarreau gemahnenden Sänger. Auch „Machine Gun“ von der Odyssey Group mit seinen schneidenden Orgellinien konnte sich sofort in den Gehörgängen festsetzen. Allen Songs gemein ist dieser Groove, der eigentlich kein hörendes Wesen unberührt lassen kann. Und wie man das bei Veröffentlichungen des Münchnel Labels inzwischen gewohnt ist, kommt auch dieses Album wieder mit einem Booklet, was über die Geschichte der einzelnen Bands informiert und damit selbst ein Stück Musikgeschichtsschreibung ist. Nicht nur DJs sondern alle Fans von der so knapp als Rare Grooves bezeichneten Musik werden an Movements 4 ihre Freude haben. (Tramp) Raimund Nitzsche Deep Jazz - Heaven & Earth Movements 4 Wer wirklich viel Geld hat, kann eine Menge dafür ausgeben, wirklich rare Singles aus den Bereichen Einen meditativen und gleichzeitig anregenden Jazz spielt das Nonett Deep Jazz des Münchner Bassisten Jerker Kluge. Die elf Stücke des Albums „The Meeting“ sind geprägt von zweistimmigem Gesang und einer einmaligen Besetzung (un- ter anderem mit Harfe, Flöte und Bassklarinette). In den 60er Jahren waren es Veröffentlichungen etwa von John Coltrane oder Charles Mingus, die die modale Spielweise im Jazz etablierten. Alben wie „A Love Supreme“ brachten zudem eine spirituelle Ebene in den Jazz. Maßgeblich dafür waren Label wie „Blue Note“ und „Impulse!“. Was Jerker Kluge mit Deep Jazz spielt, knüpft an diese Traditionen an und schreibt sie fort. „The Meeting“ vereint neun Kompositionen Kluges mit zwei neu arrangierten Klassikern. Entstanden ist der Songzyklus zunächst für ein Konzert beim Bayrischen Rundfunk im Jahr 2010. Die elf Stücke faszinieren nicht nur durch die ungewöhnliche Besetzung der Band und die unbestreitbare Meisterschaft der einzelnen Musiker. Was beeindruckt ist die Leichtigkeit, mit der einen Songs „No Doubt“ oder der Opener „Little Sunflower“ selbst ohne ein abgeschlossenes Studion der Harmonielehre gefangen nehmen. Ganz unwillkürlich wird man von den eleganten Melodielinien mitgerissen, lauscht der warmen Stimme von Julia Fehenberger oder dem dreistimmigen Satz der Holzbläser. Und wenn dann die Percussion die Musik leicht in Richtung Lateinamerika verschiebt und dazu Andrea Hermenau am Klavier einsteigt, dann ist jegliche Frage nach dem Hintergrund dieser Musik einfach nebensächlich. „The Meeting“ ist eines der wenigen Jazzalben der letzten Jahre, die mich mit dem zeitgenössischen Jazz versöhnen können. Denn es stehen eindeutig die Musik und die Improvisation im Vordergrund und nicht eine aufgesetzte AvantgardeVorstellung, die den Hörer von vornherein auszuschließen bereit ist. (Perfect Toy) Nathan Nörgel die EP von dem 17jährigen Schlagzeuger Tito Pascoal und seinem Vater Tim am Keyboard mit Unterstützung von Jazz-Größen wie Bob Mintzer. Wie ist das eigentlich im Umgang mit Wunderkindern? Mit gerade einmal 12 Jahren hatte der portugiesische Schlagzeuger Tito Pascoal sein erstes Album veröffentlicht und war in der Szene vor allem für seine unglaubliche Präzision gefeiert worden. Fünf Jahre später hat er prominente Endorsement-Verträge und unterrichtet inzwischen selbst. Und er hat in der gemeinsamen Band mit seinem Vater vier neue Stücke veröffentlicht, denen man widerum das jugendliche Alter des Drummers in keiner Sekunde anhört. So weit so gut. Tito Pascoal ist ein wirklich begnadeter Schlagzeuger. Punkt. Von der Kritik wurde schon von Anfang an der Jazz-Rock, FusionJazz oder welche Schubladen man auch immer erfand, kritisch beäugt. Jedenfalls von der intellektuellen Jazz-Kritik: Wie kann man nur so populistisch sein und Musik einspielen, die so hemmungslos auf den Massengeschmack der Rockhörer zielt? Wobei der normale Rockhörer ja nun wirklich nicht unbedingt zu den Käufern von den Alben von Miles Davis, Chick Corea‘s Return to Forever oder dem Mahavishnu Orchestra griff. Schnell hatte sich in der öffentlichen Wahrnehmung diese Mode überlebt. Wenn man mal von Ausnahmebands wie Weather Report absieht. All die hier genannten Namen könnte man gut als Referenzen für „The Sun Stood Still“ anführen. Denn beim Hören fühlt man sich unwillkürlich in diese Zeit der frühen 70er Jahre versetzt: Atmosphärische Keyboards, melodische Basslinien, und dann noch Bob Mintzers Saxophon beim Titelsong und dem letzten Stück „The Land Of Honey And Milk“. Das ist Fusionjazz fernab von der Tendenz zu reiner „Fahrstuhlmusik“. Hier passiert Jazz in dem Sinne, dass die Musiker improvisierend interagieren. Und die Einflüsse aus Funk, Latin oder Soul passen dazu. Komponiert wurden die Stücke sämtlich von Keyboarder Tim Pascoal. Und - hier ein Argument gegen die „Wunderkind“Schreiberei: Zwar ist das Schlagzeug von Tito immer präsent und prägTim & Tito Pascoal nant. Doch niemals werden die vier The Sun Stood Still Nummern zu reinen Show-Acts für Fusion-Jazz im Stile der 70er Jahre ihn. Er ist einfach Teil einer eingefindet sich auf der leider nur vier spielten Band. Und das ist gut so. Stücke umfassenden Scheibe „The Nathan Nörgel Sun Stood Still“. Eingespielt wurde 26 © wasser-prawda Klassiker neu gehört Gray voller Spielfreude bei eigenen und fremden Titeln. Hier rollt sein heftiger Boogierhythmus wie damals, als er bei Howlin Wolf war. Und man kann auch noch die Einflüsse seines Mentors Big Maceo und der ganzen Generation der Boogiepianisten vor ihm hören. Und zu keinem Zeitpunkt stellt sich die Frage nach dem Alter des Solisten. Denn der ist offensichtlich auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft. Wer nach zeitlosem Pianoblues sucht, hier ist er an der richtigen Stelle! Henry Gray - Lucky Man Als Pianist war Henry Gray prägend sowohl für den Chicagoblues ab den 50er Jahren als auch für den „Swamp Blues“ Louisianas. Und noch heute ist der 1925 geborene Musiker mit seiner Band oder als Solist ständig unterwegs. Blind Pig hat jetzt sein 1988 erschienenes amerikanisches Solodebüt „Lucky Man“ neu veröffentlicht. Und so war es auch folgerichtig, dass das Album ihm endlich eine neue Karriere als Solist und Bandleader auch in Amerika ermöglichte. Gemeinsam mit Henry Gray & The Cats war er aber auch jedes Jahr wieder in Europa. Mick Jagger hatte ihn etwa für die Ausgestaltung seiner Party zum 55. Geburtstag engagiert. Sein bislang letztes Album erschien 2009 und enrhält unter anderem den „Barack Obama Boogie“. Allerdings ist das in Deutschland zur Zeit leider nicht lieferbar. Da er diese Alben auf eigenem Label veröffentlicht, ist das allerdings kein Wunder. Nur halt sehr schade. Aber gut, dass wenigstens mit „Lucky Man“ ein zeitloser KlassiIn einer Zeit, wo immer mehr der Gründungs- ker neu in den Handel gebracht wird. väter des Nachkriegsblues sterben, ist es wichtig, sich nicht nur an die noch lebenden Musiker Raimund Nitzsche zu erinnern und sie entsprechend zu würdigen. Notwendig ist es auch, die auf Platten dokumentierte Geschichte des Blues nicht in Vergessenheit Titel geraten zu lassen. 1. My Girl Josephine Als 1988 „Lucky Man“ von Henry Gray er- 2. Cold Chills schien, da war das komischerweise das amerika- 3. Gray‘s Bounce nische Solodebüt dieses Pianisten. Dabei hatte er 4. Out On The Road seit den 50er Jahren schon auf zahllosen Platten 5. Lucky, Lucky Man mitgespielt von Jimmy Reed, Howlin Wolf und 6. I‘ll Be Up Again Someday anderen Giganten des Chicago-Blues. Und er 7. Mojo Boogie zählte genauso zu den Musikern, die bei Excello 8. Mean Old World Records den „Swamp“-Blues Louisianas definiert 9. I‘m Talkin‘ About You 10. It Ain‘t No Use hatten. 11. Boogie In The Dark Jahrelang war er der Bandleader von Wolf, schei- 12. Finger Snappin‘ Boogie terte aber nach dessen Tod daran, die Gruppe zusammen zu halten. Denn inzwischen waren nicht nur in den USA die Zeiten für den Blues härter geworden. Und so war er zurück nach Louisiana gegangen, wo er tagsüber in „normalen“ Jobs arbeitete, um seine Familie zu ernähren. Klavier spielte er damals hauptsächlich im lokalen Umfeld des Staates, war etwa von Gründung des Festivals an bei jedem New Orleans and Jazz Heritage Festivals zu erleben. Und dort war er Mitte der 70er Jahre vom deutschen Promoter Rolf Schubert entdeckt und zu Tourneen nach Europa geholt worden. Wie so viele Blueskünstler war in Europa für lange Jahre populärer als in seiner Heimat. Das änderte sich erst Mitte der 80er Jahre durch Auftritte in landesweiten Fernsehprogrammen und beim Chicago Blues Fest 1987. Nach Chicago hatte man ihn jahrelang nicht eingeladen - die Organisatoren des Festivals waren davon ausgegangen, dass Gray schon längst tot sei.... „Lucky Man“, eingespielt mit Chicagorer Bluesmusikern wie Willie Smith am Schlagzeug, zeigt Aufnahmen nach 1966 bekam ich aber lange Zeit nicht zu hören. Doch jetzt hat Blind Pig „Blues Mandolin Man“ aus dem Jahre 1986 neu veröffentlicht. Und dieses Album kommt für mich einer völligen Neuentdeckung Rachells gleich. Erstmals war er für diese Aufnahmen im Studio von einer Rhythmusgruppe (g, b, dr) begleitet worden. Während die Bassgitarre von Rachells Enkelin Sheena Rachell gespielt wird, war für die Bluesharp Peter „Madcat“ Ruth zuständig. Und Yanks Mandoline klingt dank elektischem Strom längst nicht mehr nach verstaubten Holzhütten im Delta etwa um 1929 sondern ganz eindeutig nach dem elektrischen Chicago-Blues der Nachkriegszeit. Stücke wie „Moonshine Whiskey“ sind zwar historisch in der Zeit von Anfang des Jahrhunderts angesiedelt, wirken aber so frisch und drängend wie am ersten Tag. Wenn es nicht ziemlich respektlos wäre, müsste man sagen: Rachell rockt hier zuweilen ganz gehörig. Besonders in „Bugle Call“, wo er sich mit Gittarrist Peter Roller die musikalischen Bälle zuspielt und das Stück aus dem Hintergrund mit Anfeuerungsrufen immer am Kochen hält. Keine Spur davon, dass er damals schon 76 Jahre alt war! Ein faszinierendes Dokument hat Blind Pig mit dieser Scheibe neu veröffentlicht - eine Empfehlung nicht nur für Historiker des Blues. Raimund Nitzsche Besetzung Andy Cornett Bass Steve Freund Guitar, Producer Henry Gray Composer, Piano, Vocals Willie Smith Drums Bob Stronger Bass Yank Rachell - Blues Mandolin Man Ich kann mich noch genau erinnern, wann ich erstmals die faszinierendste Mandoline im Blues gehört habe. Es war auf den zwei LPs, die bei AMIGA mit dem Konzert des American Folk Blues Festival 1966 veröffentlicht worden waren. Hier war Yank Rachell noch gemeinsam mit Sleepy John Estes, seinem langjährigen Partner zu höeren gewesen. Und ihre Stücke atmeten damals schon den Hauch einer längst vergangenen Zeit. Als ich dann nach der Wende erfuhr, dass Rachell noch immer am Leben und musikalisch aktiv war, kam das einem Schock gleich. 27 © wasser-prawda Feuilleton Mehr als nur unendlicher Spaß: David Foster Wallace und ein schier unfassbares Werk Literaturwissenschaftler, Rezensenten und Leser neigen dazu, mit Superlativen zu operieren: Dieser oder jener Schriftsteller sei der Größte seiner Zunft, dieser oder jene Roman das Sinnbild einer Epoche. Bei David Foster Wallace wäre jede dieser Zuschreibungen unzutreffend: David Foster Wallace nämlich ist der Superlativ! Anlässlich seines Geburtstages setzt sich Erik Münnich in Form von Fortsetzungsbeiträgen mit dem Werk des Autors, seiner Wallace-Lektüre und den damit verbundenen Eindrücken auseinander. I: Meine erste Begegnung mit David Foster Wallace meintlich nebensächliche Banalität entgeht, und die Fähigkeit, all diese Beobachtungen präzise, mit einer gewissen Ironie und auf eine schwer zu beschreibende, aber immer spielerische Weise – im Sinne von: im Spiel mit dem Gegenstand, den dazugehörigen Motiven, Einstellungen, Vorurteilen, Sichtweisen usw. – umzusetzen. Dieses Buch hat bei mir eingeschlagen wie eine Bombe, weil ich – auch wenn das sehr kitschig klingen mag – immer auf der Suche nach solch einem Ton, solch einer Sprache, solch perfektem Zusammenspiel zwischen Inhalt und Form war. Am 21. Februar wäre der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace fünfzig Jahre alt geworden, wenn er sich nicht am 12. September 2008 das Leben genommen hätte. Für mich als Leser wäre das Leben im Konjunktiv ein schönes, dann könnte ich mich auf weitere Neuerscheinungen von ihm freuen, diese verschlingen, begeistert wie sprachlos sein, wie ich es immer war, seitdem ich ihn zum ersten Mal vor vier Jahren gelesen habe. Damals – ich muss gestehen, von ihm bis dahin noch nie etwas gehört zu haben – habe ich seinen Erfahrungsbericht über eine Kreuzfahrt – Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich – geschenkt bekommen. Schon dieser für Wallace Verhältnisse schmale, in seiner Konzeption recht einfach zu überschauende Band hat das vereint, was für ihn typisch ist und für mich in jedem weiteren Band offen zu Tage trat: eine genaue Beobachtungsgabe, der keine noch so ver- Ein Autor, der den Auftrag, eine Kreuzfahrt zu unternehmen und darüber zu schreiben, annahm und dann genau das Gegenteil davon tat, was Auftraggeber und Leser erwarten (könnten): ein Bericht, der die Gewohnheit, Kreuzfahrten zu unternehmen und die Welt darüber zu entdecken, spitzfindig, ironisch, sarkastisch und fernab der üblichen Konventionen des Genres auf´s Korn nimmt. Der darüber hinaus die Vermarktung – die dezidierte Auseinandersetzung mit dem Werbeprospekt der Reederei, die eini- 28 © wasser-prawda Feuilleton ge Kapitel in Anspruch nimmt und die damit verbundenen Absurditäten darstellt und mit der „Wirklichkeit“ abgleicht – den Service – das permanente Erstaunen über die Unsichtbarkeit des Servicepersonals, das es immer wieder schaffte, seine Kabine zu reinigen, auch wenn er eigentlich immer anwesend war – die eigenen emotionalen Dispositionen – DFW, wie er von Fans liebevoll genannt wird, war depressiv und hatte große Probleme, unter Menschen „zu gehen“, was sicher nicht gerade vorteilshaft für eine Unternehmung wie diese ist – seine Ein- oder Ausfälle – ich muss hier sofort an das Captain´s Dinner denken, wo Wallace anstelle des geforderten Fracks ein TShirt mit aufgedrucktem Schlips trug und (nicht beabsichtigte) Aufmerksamkeit auf sich zog, was ihn so peinlich berührte, dass er sich sofort sicher war, solch einen Fauxpas nie wieder zu begehen – die im Rahmen einer solchen Kreuzfahrt angebotenen Freizeitaktivitäten – die TischtennisDuelle mit einem Mitglied des Bord-Personals, die von einem sportlichen Ehrgeiz geprägt waren und zu verbalen Auseinandersetzungen führten, wie sie von, vor allem, Tennisspielern bekannt sind; der Umstand, dass DFW in seiner Jugend als hoffnungsvolles Tennisnachwuchstalent galt, spielt hier sicher eine Rolle – verschiedene Gespräche mit anderen Reisenden – vor allem die Dialoge, die sich im Rahmen der abendlichen, teils zwanghaften, teils aber auch spontanen Tischkonversation ergeben haben, treiben einem die Tränen in die Augen und deuten das an, was für Wallace als typisch gelten kann: die Wiedergabe tatsächlicher, nicht fingierter Gespräche, die Unterbrechungen, Denkpausen, Miss- und Unverständnisse usw. übersetzen und niemals begradigen, was allerdings in diesem Buch noch lange nicht so ausgeprägt ist, wie in seinen anderen Werken – präzise wie detailverliebt – und das ist ganz bestimmt nicht negativ gemeint, sondern grundlegende Bedingung für Erzähltexte – beschreibt, reflektiert, resümiert, übertreibt, bricht und dabei eine sprachliche Brillanz aufweist, die nicht oft anzutreffen ist. Anmerken will ich an dieser Stelle, dass der Übersetzer etwas zu weit über das Ziel hinausgeschossen ist: ein Markenzeichen von David Foster Wallace ist die Fußnote, welche Handlungen, Aussagen, Begriffe und dergleichen kommentiert, einordnet, erklärt usw. und so weitere Handlungsebenen eröffnet. Die Gefahr, dass der Lesefluss unterbrochen wird – man ist geneigt, die Lektüre zu unterbrechen, weil man Angst hat, wichtige Anmerkungen oder Erläuterungen zu verpassen – ist natürlich gegeben, spielt aber, hat man sich daran gewöhnt – was schnell geschieht – nur eine untergeordnete Rolle. Und hier kommt der Übersetzer ins Spiel: er hat eine Fußnote, die im Originaltext nicht angelegt ist, hinzugefügt. Ich finde, dies ist ein unnötiger, weil für den Text in keiner Weise erforderlicher, Eingriff. Das aber nur am Rande. Nach dieser ersten Begegnung mit David Foster war für mich sofort klar, dass ich mehr von ihm lesen musste. Das Angebot der Greifswalder Buchhandlungen enttäuschte allerdings. Nur Weiland hatte einen Erzählungsband von ihm vorrätig – nach dem Erscheinen seines Romans Unendlicher Spaß, der von vielen Rezensenten wie Wissenschaftlern irrtümlicherweise für In der nächsten Folge Das Schaffen David Foster Wallace´ wird gern mit seinem, von vielen für sein Hauptwerk gehaltenen Roman Unendlicher Spaß gleichgesetzt. Seinen Erzählungen wird dabei nicht so viel Gewicht beigemessen. Dabei sind diese unter Berücksichtigung inhaltlicher wie formeller Aspekte diesem ebenbürtig. Tipps für Greifswald und Umgebung Binz; 30.03., 21 Uhr Late Night Blues im Hotel Loev mit den Crazy Hambones (Eintritt: 9,50 Euro. Reservierung: 038393/39-0) sein Hauptwerk gehalten wird (dieser mag der bedeutendste Roman von DFW sein, diese Zuschreibung neigt allerdings dazu, seine anderen Werke in den Hintergrund zu rücken), hat sich dies freilich geändert. Da ich Bestellungen „nur zur Ansicht“ grundsätzlich abgeneigt bin, habe ich den Band Kleines Mädchen mit komischen Haaren gekauft. Ich habe diesen Erzählungsband auf der Fahrt nach Hause – übliches Szenario: übervoller Zug, Stehplatz – ausgelesen. Und die Erwartungen, die ich nach der Lektüre meines ersten Buches von Wallace an eben jenen Autor und seine Texte hatte, wurden nicht nur erfüllt, sondern weit übertroffen: einen solchen Ton hatte ich noch nie vernommen. Die Vielseitigkeit seiner Themen – viele Autoren scheinen auf einen festen Bestand von Themen festgelegt – das schon bei Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich angelegte und in den zu diesem Band gehörigen Erzählungen viel differenziertere Erzählungsrepertorium – ob das nun die Charakteristik verschiedener Figuren betrifft, die Gestaltung von Dialogen, verschiedene in die einzelnen Texte integrierte Erzählebenen oder auch die immer wiederkehrenden und für mich wichtigen Brüche – sein Hang zum Grotesken, zur Überspitzung und der mit diesen einhergehende und nicht für jeden Leser nachvollziehbare Humor – ich kann mich hier an ein Ereignis erinnern: eine Busfahrt in Berlin mit meiner besten Freundin, der ich die Titelgeschichte vorlesen sollte, weil sie wissen wollte, warum ich denn so viel lachen müsste bei der Lektüre eines großen Literaten, die aber nicht nachvollziehen konnte, wie man lustig finden könnte, wenn durchgeknallte Freunde, die sich bei einer Party der Republikaner kennenlernen, diese sprengen, in Folge durch gemeinsamen Drogenkonsum und die Vorliebe für Verstümmlungen viel Zeit miteinander verbringen, sich irgendwie lieb gewinnen und schlussendlich bei einem Keith Jarret Konzert landen und auch hier nicht den Erwartungen, die mit Besuchern eines solchen Konzerts verbunden sind, gerecht werden – hat mich überrascht, begeistert und einfach sprachlos gemacht. Und keine seiner Arbeiten hat mich enttäuscht. 29 Am 19.04.2012 wird Jürgen Buchmann seine Memoiren eines Münsterländer Mastschweins um 20 Uhr in der wirkstatt vorstellen. Ergänzt wird diese Lesung durch eine Vernissage zur Ausstellung der Grafikerin Isabel Wienold. Musikalische Begleitung: Gerhard Kaufeldt (Klavier.) Datum: 19.04.2012; 20 Uhr Ort: wirkstatt (Gützkower Straße 83, Greifswald) Eintritt: 3/2 Euro Am 26.04.2012 wird Jürgen Landt sein Buch alles ist noch zu begreifen um 20 Uhr im Falladahaus vorstellen. Abgerundet wird diese Lesung durch eine Vernissage zu seiner Ausstellung mit verschiedenen Typearts. Datum: 26.04.2012; 20 Uhr Ort: Falladahaus (Steinstr. 59; Greifswald) Eintritt: 5/3 Euro DEFA zwischen Staatsauftrag und Kunst 2: Die Hexen von Salem (1957) Um das internationale Ansehen der DEFA zu steigern, entstehen zwischen 1956 und 1959 vier Koproduktionen mit Frankreich. Für die „Hexen von Salem“ (1957) konnten Simone Signoret, Yves Montand und Mylène Demongeot gewonnen werden. Die Regie lag in den Händen des Belgiers Raymond Rouleau und das Drehbuch verfasste der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre. Die Filmmusik komponierte Hanns Eissler. Jürgen Maier wird die historischen Hintergründe der Kooproduktion erläutern und Vergleiche zu späteren Verfilmungen von Millers Stück ziehen. Mittwoch, 30. Mai 2012, 19.30 Uhr, wirkstatt (Gützkower Str. 83) Radio Days Crossroad Cafe (Blues, Soul, Swing & more) 27. März, 10. April, 24. April: 20-22 Uhr auf radio 98eins (www.98eins.de bzw. in Greifswald auf 98,1 MHz) Jazz Mondo (Jazz & Weltmusik) 20. März, 3. April, 17. April: 20-22 Uhr auf radio 98eins (www.98eins.de bzw. in Greifswald auf 98,1 MHz) © wasser-prawda Feuilleton Weiße Nächte oder: Keine Angst vor tausend Seiten Dostojewski gehört zu den Größen innerhalb der russischen Klassik. Mit seinem Namen ist in der Öffentlichkeit sofort das Werk „Schuld und Sühne“ verknüpft, das viele zwar vom Titel her kennen, es wegen seines beträchtlichen Umfangs leider nie wirklich in Angriff genommen haben. Der aufgeschlossene, doch an Zeitmangel leidende Leser ist auch schnell enttäuscht, wenn er sich andere Eckpfeiler Dostojewskis Oeuvre nähern möchte: „Die Brüder Karamasow“ oder „Der Idiot“ sind Bücher, die ebenfalls nicht ohne ihre ca. 1000 Seiten auskommen. Robert Klopitzke will mit der Erzählung „Weiße Nächte“ den Leser neugierig machen auf das Werk des russischen Autoren. Am 22. Dezember 1849 wurde auf dem St. Petersburger Semenowskplatz im allerletzten Moment ein Verbrechen verhindert, dass der Menschheit einen seiner wertvollsten Künstler beraubt hätte. Unmittelbar vor der Hinrichtung erreicht die Begnadigung des Zar Nikolaj I. den Richtplatz und lässt somit mehrere Männer am Leben; unter ihnen befindet sich der zu diesem Zeitpunkt 28-jährige Dostojewski, dem durch diese Gnade eine Frist von weiteren 42 Lebensjahren geschenkt, welche er nutzt, um der Welt ein literarisches Werk zu hinterlassen, das seines gleichen sucht. Dieser vereitelte Mord war es Stefan Zweig wert, ein Kapitel in seinen „Sternstunden der Menschheit“ zu widmen. In lyrischer Form beschreibt er den dramatischen Hergang und endet mit der Strophe: „Soldaten reißen ihn weg vom Pfahl. Fahl Und wie verloschen ist sein Gesicht. Schroff Stoßen sie ihn in den Zug zurück. Sein Blick Ist fremd und ganz nach innen gesenkt, Und um seine zuckenden Lippen hängt Das gelbe Lachen der Karamasow.“ Dostojewski gehört zu den Größen innerhalb der russischen Klassik. Mit seinem Namen ist in der Öffentlichkeit sofort das Werk „Schuld und Sühne“ verknüpft, das viele zwar vom Titel her kennen, es wegen seines beträchtlichen Umfangs leider nie wirklich in Angriff genommen haben. Der aufgeschlossene, doch an Zeitmangel leidende Leser ist auch schnell enttäuscht, wenn er sich andere Eckpfeiler Dostojewskis Oeuvre nähern möchte: „Die Brüder Karamasow“ oder „Der Idiot“ sind Bücher, die ebenfalls nicht ohne ihre ca. 1000 Seiten auskommen. Natürlich würden die Werke ihre Geltung und Wert durch Streichun- 30 © wasser-prawda Feuilleton Dostojewskis Erzählweise inspirieren zu lassen und sich hoffentlich anschließend nicht mehr an Umfang und Gewicht der großen Romane zu stören. Bei einem Besuch der Klassiker-Ecke in Buch- Es ist die Geschichte eines Träumers, die Doshandlungen findet man oft seine Erzählung tojewski ein Jahr vor den Ereignissen auf dem „Der Großinquisitor“, welche zwar eine in sich Semenowskplatz (also 1848) niederschrieb und geschlossene Erzählung darstellt, jedoch ledig- trägt den Titel: „Weiße Nächte“. Er ist eine Anlich das herausgegriffene fünfte Kapitel aus dem spielung auf das Phänomen, das sich im Sommer fünften Buch der „Brüder Karamasow“ ist – eine in allen Regionen, die zwischen dem Nordpol Geschichte, die Iwan seinem Bruder Aljoscha er- und dem 57° nördlicher Breite liegen, beobachzählt. Die Erzählung ist wunderbar komponiert ten lässt: es wird nie ganz dunkel. und kann für sich alleine stehen, gewinnt an voller Kraft aber nur dann, wenn man ihre kontex- In einem solchen Sommer streift der namenlotuelle Einbettung (damit den ganzen umfangrei- se Protagonist durch die Stadt und meidet jeden chen Roman) kennt. Kontakt zu seinen Mitmenschen; seine Träumereien und die Pseudobekanntschaft mit einigen Eine andere kleine Erzählung, die nirgends ei- Häusern scheinen ihm zu genügen, bis er eines nem übergeordneten Werk entnommen wurde, Nachts die junge Nastjenka kennen lernt. In eisoll hier kurz vorgestellt werden und dem aufge- ner Eigencharakteristik stellt er sich als ein Träuschlossenen, sich aber unter Zeitbedrängnis be- mer vor: „Was soll ihm noch unser wirkliches Lefindenden Leser die Möglichkeit bieten, sich von ben!...da er selber der Künstler seines Lebens ist gen einbüßen, da der von Dostojewski eröffnete Erzählkosmos eben genau diese Anzahl an Seiten benötigt. und es zu jeder Stunde nach neuer Laune sich erschaffen kann. Wie leicht und wie selbstverständlich wird diese märchenhafte, phantastische Welt erschaffen!... Man könnte in mancher Minute fast glauben, dass dieses Leben nicht etwa nur eine Erregung der Gefühle sei, kein Gaukelspiel, kein Trug der Einbildung, sondern dass es geradezu das wirkliche wahrhaftige und rechte Leben ist!“ In nur vier Nächten wird der Träumer durch eine zufällige Bekanntschaft zu einem existenten Menschen in die wirkliche Welt gerissen, die auch keine vollständig echte ist. Wie denn auch, wenn selbst die Nächte nicht mal richtig dunkel sind? Und wer diese vier kurzen Nächte ( plus den letzten darauf folgenden Morgen) durchgelesen hat und damit kurz in den wunderbaren Erzählkosmos Dostojewskis eintreten durfte, wird auch die großen Romane nicht mehr scheuen. „Mein Gott! Ein voller Augenblick der Seligkeit! Ist das etwa zuwenig für ein ganzes Menschenleben?“ – wie es im letzten Satz der Erzählung schließlich heißt. Fjodor Dostojewski - Weiße Nächte Verlag: Insel Verlag; Auflage: 9 (27. Mai 2002) Sprache: Deutsch ISBN-10: 3458345345 ISBN-13: 978-3458345343 6,00 Euro Abbildungen Wassili Perow - Porträt von Dostojewski 1872 Weiße Nächte in St Petersburg: Michail Davidovich Natarevich (1907-1979): Eine Jugend (1957) 31 © wasser-prawda Film Der Sieg der Depressiven oder: Ein wunderschöner Weltuntergang Depression und Weltuntergang - in seinen beiden letzten Filmen hat Lars von Trier Bilderwelten gefunden, die das Seelenleben der Protagonisten in einer surreal faszinierenden Außenwelt abbilden. Von Robert Klopitzke. Mit Fotografien von Christian Geisnes. Der mittelalterliche Theologe Joachim von Fiore berechnete zum Ende des 12. Jahrhunderts den Weltuntergang auf das Jahr 1260. Seine Weltalterlehre mit der darin gipfelnden Apokalypse war so zu seiner Zeit so populär, dass sich der Franziskanerorden beinahe gespalten hätte. Die Erde drehte sich dennoch 752 weitere Male um die Sonne, aber die Untergangspropheten ließen trotz mangelnden Erfolgen nicht nach, immer neue Prognosen, gespeist aus obskuren Berechnungsgrundlagen, unter das endzeitsüchtige Volk zu bringen. Das Dilemma des ständig neu erwarteten und stets ausbleibenden Weltuntergangs hat sich tief in die abendländische Seele gegraben. Mit der Durchsetzung des Christentums in Europa wurde auch dessen lineares Zeitkonzept, welches mit dem Schöpfungsmorgen beginnt und dem Jüngsten Gericht endet, allmählich etabliert. Die Antike kannte noch mehrere Modelle, wo z.B. ein zyklisches System ebenfalls denkbar war; jeder durfte sich seinen Präferenzen entsprechend ein Zeittypus auswählen. So erwies sich die wendig gewesen wäre, die man ohnehin schon ausschloss. Das Ausbleiben der unmittelbaren Parusie (Wiederkunft Christi) änderte die Situation und man musste sich also doch vorerst auf der sich beharrlich stabil zeigenden Erde einrichten und gewisse Vorkehrungen für eine Zukunft treffen, von der man zwar immer noch nicht wusste, wie weit sie reichen wird, aber dass sie irWenn die Zeit schon endlich strukturiert ist, gendwann enden wird, wurde zu einer intuitiven wäre es auch von Vorteil, zu wissen, wo man sich Gewissheit. gerade auf dem Zeitstrahl befindet und wann die Welt nun tatsächlich untergeht, was allein Der Weltuntergang blieb bisher aus, das Bedürflebenspraktische Belange besser planbar macht. nis seinen Zeitpunkt zu bestimmen, erregt die Die ersten Anhänger Jesu, unmittelbar nach sei- Menschen nach wie vor. Gerade zu Ereignissen nem Tod, erwarteten seine Wiederkunft und das wie der Sonnenfinsternis über weiten Teilen in damit einhergehende Weltenende noch zu ihren Europa 1998, die Jahrtausendwende zwei Jahre Lebtagen. Die Apokalypse konnte also in den später oder der 11. September 2001 sind ideal nächsten fünf Jahren, innerhalb des laufenden deutbare Zeichen eines sich scheinbar auflösenJahres oder sogar an diesem Nachmittag stattfin- den Kosmos. Nur allzu sichtbar wirkt in solchen den. Das hatte ganz praktische Konsequenzen: Momenten die gewohnte Ordnung durch ein man musste den neu entstanden Glauben nicht höheres Prinzip durchbrochen zu werden, selbst erst mit Schriften und Riten kanonisieren, da wenn man diese Abweichungen ganz rational im dies ja nur für eine fern liegende Zukunft not- Voraus prognostiziert hat; die Fazitnation am beÜbernahme des durchaus sympathischen Christentums mit dem Beharren auf der Alleingültigkeit seines Zeitmodells in großen antiken Bevölkerungsschichten als schwierig, da diese Form des Paternalismus schon weit reichend war. Als größtes Problem ergab sich die Zeitbestimmung der unausweichlichen endgültigen Apokalypse. 32 © wasser-prawda Film vorstehenden Ende behält die Oberhand, selbst wenn es in den Vorstellungen der meisten Menschen nicht mehr in der Form biblischen Schilderung, wie sie in der Offenbarung des Johannes dargelegt wurde, abläuft. Längst wurde die Apokalypse durch Atomkrieg, Klimawandel, internationalen Terrorismus und Killerviren säkularisiert. In diesem Jahr hat das Ende der Zeit und ihre Verkünder mal wieder Hochkonjunktur; am 21. Dezember 2012 endet der Maya-Kalender. Dass es ein reiner Zufall sein könnte, dass die vorläufigen Berechnungen einer Hochkultur, die schon vor Jahrhunderten aufhörte zu existieren, enden, scheint den Untergangspropheten weniger sinnvoll zu sein, wie es der gesunde Menschenverstand eigentlich nahe legt. Das Urbedürfnis nach einer exakten Bestimmbarkeit des Weltenendes, gegründet auf der Vorstellung in einer endlichen Zeit zu leben, ist eben stärker als sein vernunftgemäßes ausklammern. Neben Hobbymathematikern und immer wieder neuen Nostradamusexegeten setzen sich insbesondere Künstler mit dem Weltuntergang in ihren Werken auseinander, die mittlerweile so vielfältig sind, dass eine Kulturgeschichte derselben mehrere Bände füllen könnte. So steht man allein in der bildenden Kunst vor einem Ensemble von Gemälden, die von damals theologisch geltenden und streng ausformulierten Vorstellungen (z.B. „Das jüngste Gericht“ von Hieronymos Bosch) bis hin zu apokalyptisch anmutenden Phänomenen der Gegenwart, wie im Fall des Triptychon „Der Krieg“ von Otto Dix reichen. Auch die Filmkunst hat außerhalb der Zombiewelt, die beinahe schon als selbstständiges Apokalypsensubgenre gelten kann und schlichten Unterhaltungsfilmen wie Roland Emmerichs „2012“, wobei der Titel natürlich mit dem erwähnten Ende des Maya-Kalenders spielt, einiges zu bieten. Besonders hervorheben möchte ich hierbei eine ziemliche Überraschung des vergangenen Kinojahres: Lars von Triers „Melancholia“. Jener Film behandelt zwar u. a. den Weltuntergang, jedoch bildete er nicht den thematischen Schwerpunkt, sondern hat vielmehr die Funktion, menschliches Seelenleben in der denkbar schwersten Katastrophe abzubilden. Der Regis- seur bedient sich dabei einem gut aufeinander abgestimmten Instrumentarium an Bildern, Plot, Musik, Akteuren, Landschaften usw., die in ihrem Zusammenspiel eine apokalyptische Stimmung evozieren, die vielmehr auf das menschlich Innere als auf die faktisch äußere Welt abzielt. So beginnt der Film mit dem Augenaufschlag der einen Protagonistin namens Justine (gespielt von Kirstin Dunst), der in ihren trüben Blick schauen lässt; um sie herum stürzen die Vögel in Zeitlupe vom Himmel. Es folgt die Aneinanderreihung von surrealistischen Bildern, wo sich beispielsweise Justin in ihrem Hochzeitskleid versucht fortzubewegen, während schwarze Schnüre ihre Beine umfangen halten; einige Bilder werden später im Film erläutert, mit anderen bleibt der interpretationsgereizte Zuschauer allein. Nebenher gibt es Aufnahmen aus dem All, wo zu sehen ist, wie sich ein wunderschön blauer, riesiger Planet direkt auf die um ein vielfaches kleinere Erde zu bewegt, um irgendwann schlussendlich mit ihr zu kollidieren. Musikalisch begleitet wird dieser Bildzusammenschnitt von der Ouvertüre „Tristan und Isolde“ Wagners – übrigens die einzige Filmmusik, da dasselbe Motiv in darauf folgenden Szenen immer wieder in unterschiedlicher Länge aufgegriffen wird. Nach dem Crash beginnt der eigentliche Plot, der zweigeteilt ist. Der erste Part ist mit dem Titel „Justine“ überschrieben und behandelt die Hochzeitsfeier eben jener auf dem üppigen Anwesen ihres Schwagers (Kiefer Sutherland). Die Feier gerät zum Fiasko und allmählich wird erkennbar, dass die Braut schwer depressiv ist, was ihre Familienangehörige nicht davon abhält, in ihrem Auftreten – jeder auf seine Art – zu versagen. Am Ende des Abends hat sie weder den gerade geheirateten Ehemann, noch ihren Chef, der sie zu Beginn der Feierlichkeiten beförderte, ganz zu Schweigen von ihrer Kernfamilie: Die Mutter, welche mit einer zynischen Ansprache beim Essen für den ersten Eklat der Feierlichkeiten sorgt, bleibt in ihrer Generalabsage an alle Formen zwischenmenschlicher Beziehungen allein, ebenso wie der Vater in seiner neuen Rolle als alternder Galant mit zwei weiblichen Begleitungen seiner nach Hilfe suchender Tochter nicht zu helfen vermag. Ihre Schwester Charlotte versucht als Ausrichterin des Abends die Etikette 33 der in sich maroden Hochzeitsgesellschaft in aller Strenge zu wahren, was angesichts der Ereignisse unmöglich wird. Sie ist auch die Namensgeberin der zweiten Filmhälfte: „Charlotte“. Gespielt von Charlotte Gainsbourg (der Tochter des berühmten französischen Chanson-Sängers Serge Gainsbourg) zeigt der zweite Part ihre Pflege und Bemühungen um die depressive Schwester Justine, die einige Zeit nach der Hochzeit eine Art Totalzusammenbruch erlitten hat und sich nun wieder auf dem Anwesen von Charlotte und dessen Ehemann befindet. Dies erweist sich als schwieriges Unterfangen, da die Patientin die elementarsten Lebensbereiche wie Körperhygiene nicht mehr allein bewältigen kann. Selbst das Lieblingsessen weist sie mit der im Schluchzen vorgetragenen Aussage „Das schmeckt nach Asche“ zurück. Währenddessen rückt der bedrohliche Planet Melancholia vermehrt in die abgebildete Lebenswelt. Der Ehemann Charlottes bzw. Schwager Justines kann die Ankunft des Himmelskörpers kaum erwarten, da er es für ein harmloses – aber gigantisch zu betrachtendes – Naturschauspiel hält und bereitet sich mit seinem Sohn auf das Ereignis des vermeintlichen ‚Vorbeiflugs’ mit der Akribie eines HobbyNaturwissenschaftlers vor. Charlottes Angst vor dem bevorstehenden Ereignis werden durch Gerüchte aus dem Internet geschürt, doch die Beschwichtigungsversuche ihres Mannes beruhigen sie vorerst… Mit der zunehmenden Gewissheit des unabwendbaren Weltuntergangs verschiebt sich das Kräfteverhältnis. Die einst durch ihre Depressionen geschwächte Justine gewinnt mit anwachsender Bedrohung an Stärke, auch ihrer Schwester gegenüber, die beinahe an Grausamkeit grenzt. Charlotte versucht sich an jeden hoffnungsversprechenden Strohhalm zu klammern, was ihre Schwester in der neu gewonnenen Stellung zu vereiteln weiß. In einem Dialog, in dem Charlotte Spekulationen über mögliches anderes Leben im Universum anstellt, weist sie ihre Schwester kühl zurück: „Es gibt Dinge die ich weiß. Und wenn ich sage, dass da nichts ist, dann ist das so.“ Justine kann zwar ihrer Schwester und dessen Sohn keine vergeblichen Hoffnungen mehr machen, hilft ihnen aber insgesamt die grausame © wasser-prawda Film Tatsache so gut wie möglich zu ertragen. Wer Filme von Lars von Trier kennt, fühlt sich unweigerlich an sein Vorgängerwerk „Antichrist“ erinnert. Das kommt nicht von ungefähr und liegt nicht ausschließlich daran, dass in diesem Film auch Charlotte Gainsbourg eine Hauptrolle spielt. Die Bildsprache und viele andere wesentliche Elemente sind schon hier auffindbar. In diesem Film geht es um ein Ehepaar, dass den Tod ihres kleinen Sohnes, der sich während ihres Beischlafes aus dem Fenster stürzt, zu verarbeiten sucht. Die Trauer der Frau scheint kein Ende zu nehmen und ihr Mann entschließt sich irgendwann zu einem Tabubruch, indem er seine eigene Frau im abgelegenen Familiendomizil namens „Eden“ mitten im Wald therapiert. Die Bilder, die dem Zuschauer dargeboten werden, sind in ihrer schwermütigen Stimmung denen von „Melancholia“ gleich. Nur arbeitet von Trier hier mit einer Art von Vexierbildern, wenn z.B. ein einsames Reh auf einer idyllischen Lichtung zu sehen ist, beim zweiten Blick aber ersichtlich wird, dass beim gleichen Reh eine Fehlgeburt am hinteren Ende des Körpers heraushängt. Es sind schizophren-schöne Aufnahmen, die einerseits das von Menschen in die Natur hineingelegte Idyll bekräftigen, aber auch sofort den Fokus auf das grausame Unverhandelbare in der amoralischen Natur lenkt. So sagt die Protagonistin an einer Stelle ganz pointiert: „Die Natur ist Satans Kirche.“ Hier wird die Wunde offen zur Schau gestellt, die der Depressive zu tragen hat. An nichts mehr Freude entwickeln zu können, selbst an vordergründig unschuldigen Dingen, wie der unvoreingenommenen Betrachtung der Natur ist schon an sich nicht möglich, da die ‚unvoreingenommene Betrachtung’ nur eine Fiktion ist; man legt schon eine Empfindung mit hinein. Oder mit den Worten von Roger Willemsen: „Dann überlegten wir, ob man Landschaften überhaupt anders als symbolisch betrachten könne, korrespondiert doch jeder Hügelzug, jeder schimmernde See, jede Lichtstimmung über dem Tal einer inneren Situation, sei sie lieblich oder fahl oder roh. Eigentlich nimmt man doch jede Landschaft musikalisch, als eine Manifestation von etwas Seelischem.“ Dank des Vexierbildes lässt uns Lars von Trier durch die Brille des Depressiven auf mutmaßlich harmlose oder gar angenehme Dinge einen Abstand zu unserer eigenen trainierten Naturwahrnehmung gewinnen. In „Melancholia“ verfährt er nach einem gewissermaßen spiegelverkehrten Konzept: Die evident bedrohlich zerstörerischen Elemente werden überhöht und in solch einer Weise ästhetisiert, dass sie für den kurzen Moment der Darstellung überhaupt nicht mehr bedrohlich, sondern nur noch für vorurteilsfrei schön gelten können. So rekelt sich in einer Nacht-Szene Justine nackt am Flussufer unter dem blauen Licht des der Erde bereits sehr nahen Planeten, der für die Vernichtung der Menschheit verantwortlich sein wird. Es ist ein derart aufgeladenes Bild, das ohne Kenntnis des Kontextes sogar als kitschig missdeutet werden könnte. zen sehr verloren, wie einzelne Bilder immer wieder sehr deutlich machen; so wie der Mensch im Bewusstwerden seiner Existenz in einem schier unendlichen All. Es wird ebenso auf Fernsehbilder aus aller Welt genau wie auf Illustrationen einer urbanen Massenpanik verzichtet, die den Unterhaltungsfilmen immer viel Spielraum für Spezialeffekte liefern. Die individuellen menschlichen Tragödien in ihrem Gefüge zueinander sind genugsam der globalen Katastrophe ein menschliches Antlitz zu geben. Dem Dänen Lars von Tier attestiere ich, sein Vorhaben gelungen umgesetzt zu haben, welches darin bestand „einen wunderschönen Film über den Weltuntergang“ zu drehen. Nach Eigenaussage des Regisseurs wollte von Trier in „Antichrist“ seine eigene Depression thematisieren und mit „Melancholia“ therapieren. Es ist somit kein klassischer ‚Weltuntergangsfilm’, der auf das Bedürfnis eingeht, ganz plastisch die Apokalypse darzustellen oder sogar ihren Zeitpunkt zu bestimmen. Er stellt eher der Versuch dar, das Leiden an der Welt in einem künstlerischen Prozess zu sublimieren, auch wenn dies den (in diesem Fall sehr schönen) Untergang jener leidensvollen Welt zur Folge hat. In dem Verhältnis des Individuums zur Welt ist auch die Kräfteverschiebung der Schwestern zu verstehen, denn wer das Leben in all seinen Erscheinungsformen für nichtig hält, wird auch mit dessen totalen Auslöschung besser zurecht kommen, als jemand, der sein Glück, seine Hoffnungen und Zukunftsaussichten in diese hineingelegt hat. Ein weiteres Indiz, das gegen das klassische Weltuntergangsdrama Hollywoods spricht, ist der fest abgegrenzte Raum, in welchem sich die Figuren bewegen. Das weitläufige Anwesen mit dem ihm umgebenen Golfplatz ist alleiniger Spielraum, in dem die geschilderten menschlichen Schicksale ablaufen. Ein Ausritt der beiden Schwestern endet an einem Bach, den das Pferd Justines auch unter heftigsten Schlägen nicht überqueren möchte. Auch die verzweifelte Irrfahrt der Mutter mit ihrem Kind im Golfwagen endet genau an dieser Stelle. Trotz der räumlichen Einschränkung im Film wirken die Akteure in ihren großzügigen Gren- 34 © wasser-prawda Film Entführung in ein vergessenes Leben Eine Freundschaft zwischen einem vermögenden, querschnittsgelähmten Pariser und einem farbigen, kriminellen Pariser Vorstädter mutet kitschig an und bietet viel Raum für Klischees und Stereotypen. Der Film Ziemlich beste Freunde aber hat nichts von dem. Er ist eine begeisternde Abwechslung im Meer der Neuerscheinungen. Von Erik Münnich Der Film lief die ersten fünfzehn Minuten und mir kam dieser Gedanke schon zum zweiten Mal: Der Film ist leider schon bald wieder vorbei! Das lag nicht daran, dass ich dazu neige, mir die vermeintliche Zeitlichkeit schöner Dinge immer und immer wieder bewusst machen zu müssen, sondern daran, dass nur wenige Minuten genügt haben, um mich davon zu überzeugen, dass dies ein ganz besonderer Film ist. Und solche Filme sind – man denke an den ganzen Schrott, der jedes Jahr den Markt flutet – leider selten. Zu Beginn war ich, ehrlich gesagt, skeptisch: Filme, die von Minderheiten handeln, dazu noch von Krankheit und Liebe, sind meistens ein Feuerwerk von Stereotypik, Kitsch, Dramatik und was sonst noch alles dazu gehört. Da bin ich geprägt vom deutschen Fernsehen, welches auf der einen Seite gern Filme produziert, deren Plot schon im Titel (Unter Umständen verliebt, Im Brautkleid durch Afrika) offen zu Tage tritt und bei denen es immer (nach ca. einer Stunde!) eine Zuspitzung gibt, die ein Happy End nicht ganz sicher erscheinen lässt, welches aber natürlich eintritt, denn im Leben der deutschen Fernsehmacher und des deutschen Fernsehpublikums ist immer alles gut. Auf der anderen Seite kaufen die deutschen Fernsehsender auch gerne Filme aus dem Ausland ein, die den eben beschriebenen Eigenschaften in keiner Weise nachstehen, im Der vermögende, querschnittsgelähmte Philippe sucht einen neuen Pfleger und lädt potentielle Kandidaten zu einem Vorstellungsgespräch in seine Villa. Auch Driss ist da. Der farbige Vorstädter, der gerade einen sechsmonatigen Gefängnisaufenthalt verbüßt hat, will sich eigentlich nur auf einem Schreiben des Arbeitsamts bestätigen lassen, dass er Initiative bei der Jobsuche zeigt. Schnell ist er genervt von der Warterei und drängelt sich vor. Driss ist davon überzeugt, sowieso keine Chance bei diesem Auswahlverfahren zu haben und entgegnet auf die Frage der besorgten Adoptivtochter von Philippe, ob er Referenzen habe: „Ja, durchaus, Referenzen habe ich. Kool & The Gang, Earth, Wind and Fire. Als Referenz nicht zu verachten, he?“ Philippe kenne diese nicht, Driss meint: „Also, wenn Sie die nicht kennen, haben Sie keine Ahnung von Musik!“ Philippe, der von sich behauptet, auf musikalischem Gebiet nicht ungebildet zu sein, stellt eine Gegenfrage: „Und Sie: Kennen Sie Chopin, Schubert, Berlioz?“, welche Driss zu der Aussage hinreißt, Gegenteil, diese noch viel theatralischer umset- „Ob ich Berlioz kenne? Es würde mich wundern, zen und noch dazu mit Stars besetzt sind, was wenn Sie Berlioz kennen!“ „Auf diesem Gebiet natürlich viel rausholt. bin ich spezialisiert!“, sagt Philippe und Driss Ich war also skeptisch. Doch das ohne Grund. entgegnet: „Ah ja. Und was kennen Sie da? WelDer Film Ziemlich beste Freunde ist wunderbar ches Gebäude?“, was Philippe wiederum dazu anders. verleitet, ausführlich zu erklären, wer Berlioz 35 © wasser-prawda Film war, bevor er einem Stadtviertel als Namenspatron diente. Driss stellt daraufhin fest, dass er wisse, wer Berlioz war: „Aber mit dem Humor ist es wie mit der Musik. Davon haben Sie keine Ahnung!“ Das Interesse von Philippe wird durch das forsche Auftreten geweckt, er bittet Driss, am nächsten Tag wiederzukommen und stellt ihn für einen Probemonat ein. „Nimm Dich in Acht, solche Leute kennen kein Mitleid!“ Dieser Rat eines befreundeten Rechtsanwalts steht sinnbildlich für die sich im Anschluss entwickelnde Beziehung zwischen „Pfleger“ und „Patient“. Philippe will kein Mitleid, sondern ernst genommen, nicht immer auf seine Behinderung reduziert und folglich bevormundet werden. Driss macht genau dies: er bricht mit den Grundsätzen der bisherigen Pflege; er entscheidet sich für den Maserati anstelle des langweiligen Minivans bei gemeinsamen Ausfahrten – schon bei der ersten macht er dem immer wieder das Parkverbot vor der Einfahrt ignorierenden Nachbarn unmissverständlich klar, dass er vor der Einfahrt nicht zu parken hat – er begegnet den Panikattacken Philippes mit Spaziergängen und Joints und führt ihm die lächerlichen Besonderheiten seines elitär anmutenden Umfelds vor Augen. Kurz: Driss entführt ihn in ein vergessenes Leben. Doch auch er profitiert von seiner neuen Tätigkeit: Driss bekommt ein ordentliches Gehalt, Kost und Logis; Philippe vermittelt ihm die Bedeutung der ein oder anderen Tugend, führt ihn in die klassische Musik und in die Kunst ein, inspiriert ihn sogar zum Malen und verkauft sein erstes Bild für 11.000 Euro an den oben erwähnten Rechtsanwalt. Nebenbei schreiben Sie Briefe an Philippes Brieffreundin Éléonore, versuchen sie zu treffen – was auf Grund der Unsicherheit Philippes nicht klappt – fliegen Tandem – hier liegt übrigens der Grund für die Querschnittslähmung: nach einem Paragliding-Unfall ist Philippe vom dritten Halswirbel an abwärts gelähmt – feiern Philippes Geburtstag und lachen viel, wovon der Zuschauer niemals ausgeschlossen ist. Drehbuchautoren zeugt – Olivier Nakache und Éric Toledano , die auch Regie geführt haben – steht diesem in nichts nach. Die ruhige, mit wenigen Bewegungen auskommende Kameraführung schafft eine Umgebung, in der sich die Figuren, deren Handlungen und Gespräche eindrucksvoll entwickeln können. Erstere sind liebevoll gezeichnet und werden von den einzelnen Darstellern – u.a. François Cluzet (Philippe), Omar Sy (Driss), Anne Le Ny, Audrey Fleurot, Clotilde Mollet und Christian Ameri – einfühlsam und sehr sympathisch verkörpert. benen Vorstellungsgesprächen, wo nur einzelne Aussagen der Bewerber pointiert wiedergegeben werden, welche aber gerade deswegen einen Überblick über die fragwürdigen gesellschaftlichen Einstellungen zu Behinderung und Pflege ermöglichen – schaffen im Zusammenspiel mit längeren, ausführlicheren Passagen – beispielsweise der Besuch der Oper, währenddessen Driss gelingt, die manchmal mit solch einem Ereignis verbundenen Absurditäten pointiert auf den Punkt und den Opernliebhaber Philippe nicht nur zum Lachen, sondern auch zum Vergessen der mit diesem Ereignis verbundenen Etikette Die beiden anderen kommen ohne Klischees zu bringen – eine in sich stimmige Erzählung, und Stereotypik aus, sind teils ironisch, teils die nie langweilig und vorhersehbar ist, sondern wunderbar überspitzt, aber nie übertrieben. zu jedem Zeitpunkt Freude bereitet, bei der aber Die filmische Umsetzung des Plots, der auf einer Die nicht selten im Film integrierten Raffun- auch die kritische Auseinandersetzung der mit wahren Geschichte beruht und von großartigen gen – beispielsweise bei den eingangs beschrie- diesen Themen angesprochenen Probleme nicht zu kurz kommt. Kurz: Dieser Film ist ein Muss, weil er eine begeisternde Abwechslung im Meer der Neuerscheinungen ist! Ziemlich beste Freunde Originaltitel: Intouchables Herstellungsland: Frankreich Erscheinungsjahr: 2011 Regie: OlivierNakache, Eric Toledano Darsteller: François Cluzet Omar Sy Anne Le Ny Audrey Fleurot Fotos: Senator Film 2012. 36 © wasser-prawda Film Zwei Elternpaare, die sich, nachdem ihre Kinder in einen Kampf miteinander verwickelt waren, zusammensetzen und über ihr weitere Vorgehehen „beraten“. Roman Polanski hat Yasmina Rezas Der Gott des Gemetzels verfilmt. Der Film ist gelungen, aber was hätte mit solch einer Starbesetzung auch schief gehen können? Von Erik Münnich Auf der einen Seite zwei Jungen – der Eine hat dem Anderen mit einem Ast niedergestreckt und ihm zwei Zähne ausgeschlagen. Auf der anderen Seite die Eltern der Jungen – Penelope und Michael Longstreet sowie Nancy und Alan Cowan – die in der Wohnung der Ersteren – den Eltern des vermeintlichen Opfers – mal zusammenstehen, mal zusammensitzen und über Tathergang, tatsächliche und vermeintliche Schäden, Bedeutung und Folgen des Geschehenen, Buße und Wiedergutmachung und sich selbst „ins Gespräch kommen“. schriftlichen Fixierung des eingangs beschriebenen Vorfalls verbunden ist, führt zu einer ersten kleineren Konfusion: dieses oder jenes Wort der Beschreibung des Tathergangs und der Folgen scheint zu drastisch oder doch zu harmlos; die Schuldfrage und der Umgang mit dieser führt zu keinem Konsens und so wird die Hoffnung, dieses Treffen schnell zu einem befriedigenden Ende zu bringen, enttäuscht. Die schon im Gehen begriffenen Cowans werden durch spitze Bemerkungen der Gastgeberin, die im Kontext unbedachte Äußerung des Gastgebers, er habe den Hamster der Kinder ausgesetzt, und das AnDiese Grundkonstellation ist typisch für Stücke gebot, den fulminanten Apfel-Birnen-Cobbler der französischen Schriftstellerin Yasmina Reza. bei einer Tasse Kaffee zu probieren, zum Bleiben In diesen geht es um das Mit- oder Gegeneinan- bewegt. der von Menschen, menschliche Abgründe und, vorsichtig formuliert, die Liebe oder das, was da- Was sich in Folge ereignet, ist das für Reza tyvon übrig bleiben kann. Rezas Stücke sind weit pische Szenario: immer hefigere Kontroversen, über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt die die Einstellungen und Abgründe der hangeworden und wurden in unzähligen Theatern delnden Figuren offen legen – der Rechtsanwalt gespielt – von bleibender Erinnerung ist hier Alan Cowan, der einen Pharmakonzern bei desvor allem die Wiener Inszenierung von Drei Mal sen Schwierigkeiten mit den Nebenwirkungen Leben mit Susanne Lothar, Ulrich Mühe, And- eines Medikaments berät; die Investmentbankerea Clausen sowie Sven-Eric Bechtolf. Die Ver- rin Nancy Cowan, die um die Erziehung ihres filmung ihres Stückes Der Gott des Gemetzels, Sohnes bemüht immer und immer wieder von für die sie gemeinsam mit dem Regisseur Roman ihrem Mann allein gelassen wird; die BuchhändPolanski auch das Drehbuch schrieb, wird ganz lerin Penelope Longstreet, die nach strikten Mosicher zu weiterer Bekanntheit dieser Schriftstel- ralvorstellungen lebt, die sich nur schwer mit delerin beitragen. nen anderen Menschen verbinden lassen und der Haushaltwarenhändler Michael Longstreet, dem Das liegt zum Einen an dem wunderbaren Plot, das Leben egal scheint – und von ständig wechder die in der Bühnenfassung angelegten Kon- selnden Allianzen der vier Personen geprägt sind flikte, Handlungsverläufe und Dialoge auf das – die beiden Männer symphatisieren miteinander Medium Film überträgt. auf Grund gemeinsamer Jugendidole; die beiden Frauen verbünden sich gegen ihre ständig telefoDas vermeintlich unkomplizierte Treffen der nierenden Männer. Diese eskalieren schließlich, beiden Elternpaare, das mit dem Versuch einer als sich Nancy auf die kostbaren Kunstkataloge- 37 von Penelope erbricht. Im weiteren Verlauf der Handlung tritt deutlich zutage, dass nicht die Kinder die Ursache „allen Übels“ sind, sondern die Eltern, die nicht in der Lage sind, die an ihre Kinder gestellte Forderung, eine Auseinandersetzung human beizulegen, umzusetzen. Im Gegenteil: durch ihren Sarkasmus, ihre mangelnde Kompromissfähigkeit und fehlende Emphatie gießen sie immer neues Salz in die Suppe. Zum Anderen liegt das an den großartigen Schauspielern, die für diese Verfilmung gewonnen werden konnten. Jodie Foster (Penelope Longstreet), Kate Winslet (Nancy Cowan), Christoph Waltz (Alan Cowan) und John C. Reilly (Michael Longstreet) hauchen ihren Figuren nicht nur das gern geforderte Leben ein, sondern animieren sich gegenseitig zu Höchstleistungen. Die beschriebenen Figurenkonstellationen, Konflikte und Abgründe werden so phänomenal umgesetzt. Dadurch wird der Film zu einem Meisterwerk, der ohne Spezialeffekte und eine Vielzahl von Handlungsorten – er spielt ausschließlich in der Wohnung der Longstreets - auskommt und dennoch 80 Minuten fesselt. Der Gott des Gemetzels (F 2011) Originaltitel Carnage Regie Roman Polański Drehbuch Roman Polański, Yasmina Reza Jodie Foster: Penelope Longstreet Kate Winslet: Nancy Cowan Christoph Waltz: Alan Cowan John C. Reilly: Michael Longstreet © wasser-prawda Jürgen Buchmann: Memoiren eines Münsterländer Mastschweins ISBN: 978-3-943672-00-8 54 Seiten; 14,8 x 21 cm 12,95 Euro jürgen landt alles ist noch zu begreifen jürgen landt: alles ist nochzu begreifen ISBN: 978-3-943672-01-5 120 Seiten 14,8 x 21 cm 13.95 Euro edition plüsch aus