Nr. 10/2013 - Wasser
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Nr. 10/2013 - Wasser
Nr. 10/2013 BUDDY GUY - ERIC CLAPTON • Trampled Under Foot - Dana Fuchs - Blind Willie Johnson • Andrew Colberg - Dawes - Layla Zoe - Malia - Hamburg Blues Band, Peter Schmidt, Bernd Kleinow & Blues Rudy • Album des Monats: Anders Osborne • Texte von Peter Kroh, G.K. Chesterton, Christoph Gross • Neuer Fortsetzungsroman: Robert Kra - Die Vestalinnen • Mit einem Bluesgemälde von Ulrich Rauchbach Editorial 2 © wasser-prawda Editorial Editorial Wie sieht es um die Zukunft des Blues aus? Nicht nur wir machen uns darum immer wieder unsere Gedanken. Buddy Guy hat es in einem Interview mit American Blues Scene, das wir hier in deutscher Übersetzung veröffentlichen dürfen, gut auf den Punkt gebracht: Wenn die Radiosender den Blues nicht spielen, dann ist es schwer, an eine Zukunft zu glauben. Denn die Jugendlichen lernen diese Musik nicht mehr kennen, hängen den Vorurteilen an, die seit Jahrzehnten immer weiter verbreitet werden: Der Blues ist traurig, ist nur eine Musik der alten Männer. Und man kann es an den Schwierigkeiten spüren, die immer mehr Veranstalter mit ihren Blueskonzerten haben: Selbst in großen Städten fällt es schwer, die Kosten durch Kartenverkäufe herein zu bekommen. Um Festivals wie das in Chemnitz etwa muss man sich darum ernste Sorgen machen. Selbst ehemals weltweit wahrgenommene Veranstaltungen wie das Dresdner Bluesfestival existieren mittlerweile am Rande der Bedeutungslosigkeit. Da sind solche Nachrichten natürlich höchst willkommen: Schon seit fünf Jahren veranstalten in Volksdorf Enthusiasten das ihrer Meinung nach kleinste Bluesfestival der Welt. Denn mehr als 100 Gäste passen kaum in den Flava-Club in der Hamburger Vorstadt. Und doch kann man dort nicht nur regionale Bands sondern auch internationale Künstler erleben. In diesem Jahr spielt etwa der belgische Gitarrist Lightnin Guy mit seiner Band. Und man kann mit Black Kat & Kitten ein in Berlin entstandenes internationales Trio (D/UK,Pl) erstmals in größem Rahmen erleben. Schade nur, dass ausgerechnet ein neues Bluesfestival, die Hamburger Bluesnacht, am Wochenende vorher seine Premiere feiert. Organisiert vom Baltic Blues e.V., der ja auch für das Eutiner Bluesfest verantwortlich ist, spielen an zwei Tagen Künstler aus aller Welt wenige S-Bahnstationen entfernt. Leider ließen sich die Termine wegen nicht besser aufeinander abstimmen. Hoffentlich funktioniert das im nächsten Jahr besser. Denn auch in einer der größten Städte Deutschlands dürften wohl kaum so viele Bluesfans Zeit, Geld und Lust haben, gleich zwei Festivals direkt nacheinander zu besuchen. Auf ein paar Dinge in unserem Heft will ich hier besonders hinweisen: Speziell für Gary Burnetts Beitrag über Blind Willie Johnson hat der Blueskünstler Ulrich Rauchbach ein Bild des Musikers gemalt. Wer Interesse hat, kann das bei ihm auch käuflich erwerben. Anlässlich der Wiederveröffentlichung seines Unplugged-Albums habe ich einige in der Vergangenheit veröffentlichten biographischen Texte zu Eric Clapton aktualisiert und zu einem längeren (noch immer lückenhaften) Beitrag zusammengebunden. Der sorbische Journalist Peter Kroh hat im letzten Jahr eine Artikelserie über Geschichte, Gegenwart und Zukunft der slawischen Minderheit in Deutschland geschrieben. Als Vorabdruck der 2014 im freiraum-verlag erscheinenden dreisprachigen Ausgabe dieser Essays haben wir hier seinenn Beitrag über Deutsche Kultur und Kultur der Deutschen aufgenommen. Und wir starten in dieser Ausgabe einen neuen Fortsetzungsroman. Nach Edgar Wallace widmen wir uns dem oft als „deutschen Jules Verne“ titulierten Robert Kraft und seinem Werk „Die Vestalinnen“. © wasser-prawda Auf Tour 5. Interna onales Volksdorfer Blues Fesval (Flava-Club HH-Volksdorf) 2. November, 20 Uhr: Black Kat & Kittens, Lightnin‘ Guy & The Mighty Gators, Elbdelta Allstars Blue Note Blues Acous c Band: Mi. 30.10.13 Hotel Kronprinz, Greifswald Do. 31.10.13 Flower Power, Chemnitz Sa. 16.11.13 Omnibus, Würzburg Fr. 22.11.13 Gasthaus Hinterholzer, Hohenthann Sa. 23.11.13 Alfonso’s, München Mojo Juju 23. Oktober: Ain’t nothin’ but, London 24 Oktober, Blues Kitchen, London 28. Oktober, White Trash Fast Food, Berlin 29 Oktober, Berlin TBC 30: Bassy Club Halloween Special, Berlin TODD THIBAUD Duo 07.11.13 Castrop-Rauxel, Wurstküche 08.11.13 Guntersblum, Museum 09.11.13 Neu-Anspach, Zur Linde 12.11.13 Kassel, Kunstwerkstatt 13.11.13 Bad Brambach, Café Grenzland 17.11.13 Hameln, Sumpfblume 18.11.13 Celle, Aimely 20.11.13 Offenburg, tba 21.11.13 Bad Gandersheim, Klosterhof 22.11.13 Cadenberge, Nacht der Lieder www.toddthibaud.com 3 Editorial Impressum Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Computerservice Kaufeldt Greifswald. Das pdf-Magazin wird in Zusammenarbeit mit dem freiraumverlag Greifswald veröffentlicht und erscheint in der Regel monatlich. Es wird kostenlos an die registrierten Leser des Online-Magazins www. wasser-prawda.de verschickt. Inhalt Editorial Auf Tour Impressum 3 3 4 Musik Wenig Überraschungen bei den German Blues Awards Eric Clapton: Yardbirds, Cream, Unplugged: Stationen eines Bluesman Buddy Guys Arme sind weit offen Trampled Under Foot: Wie man durch die Dunkelheit Wasser-Prawda Nr. 9/2013 der Nacht kommt Redaktionsschluss: 12. Okto- Blind Willie Johnson: Lampen, Hochzeiten und Gerechtigkeit ber 2013 Redaktion: Live Chefredakteur: Raimund Nitzsche (V.i.S.d.P.) Von Jungspunden und gewissen Affinitäten Redaktion: Lüder Kriete, Erik 4. Mittweidaer Bluesnacht Münnich, Dave Watkins, Die MDR FIGARO-Nacht mit Malia im Chemnitzer Opernhaus Bernd Kreikmann Mitarbeiter dieser Ausgabe: • • • • • • • Casebeer Gary Burnett Stephanie Engler Kristin Gora Ulrich Rauchbach Holger Schubert Karsten Spehr Die nächste Ausgabe erscheint am 21.November 2013. Adresse: Redaktion Wasser-Prawda c/o wirkstatt Gützkower Str. 83 17489 Greifswald Tel.: 03834/535664 [email protected] Anzeigenabteilung: [email protected] Gerne schicken wir Ihnen unsere aktuelle Anzeigenpreisliste und die Mediadaten für das Online-Magazin und die pdf-Ausgabe der Wasser-Prawda zu. Anzeigenschluss für das pdf-Magazin ist jeweils der 1. Werktag des Erscheinungs-Monats. 4 6 8 17 23 27 30 36 40 Album des Monats Anders Osborne - Peace 42 Rezensionen A bis Z Alela Diane - About Farewell Ashleigh Flynn - A Million Stars Bare Bones Boogie Band - Tattered & Torn Beige Fish - Down Home Shuffle Big Joe Shelton - I‘d Never Let Her Down Brothers In Blues - Tailshaker Bryan Lee - Play one for me Charlie C - Trouble Cologne Blues Club - Hanging By A Thread Daddy Long Legs - The Devil‘s In The Details Dave Riley & Bob Corritore - Hush your Fuss! Dynamite Daze - Tango With The Devil Egidio Juke Ingala & The Jacknives - Tired of Beggin‘ Eric Bibb - Jericho Road George Benson - Inspiration: A Tribute To Nat King Cole Green Like July - Build A Fire Guy Davis - Juba Dance Howard Glazer - Stepchild of the Blues JC Brooks & The Uptown Sound - Howl Jon Wayne and The Pain - Surrender Joseph Arthur - The Ballad Of Boogie Christ Acts 1&2 Layla Zoe - The Lily MANdolinMAN - Plays Bossa Nova Mojo Juju - Mojo Juju MonkeyJunk - All Frequencies Norbert Schneider - Schau mer mal Rod Picott - Hang Your Hopes On A Crooked Nail 44 44 45 45 46 46 47 47 48 48 49 50 51 51 52 52 53 53 54 54 55 55 56 56 57 58 58 © wasser-prawda Editorial Ry Cooder & Corridos Famosos - Live at the Great American Music Hall Smokin‘ Joe Kubek & Bnois King - Road Dog’s Life Snarky Dave & The Prickly Bluesmen - Big Snark Stefan Saffer - This Is Not A Dark Ride Sugaray Rayford - Dangerous The Hamburg Blues Band - Friends for a LIVEtime Vol. 1 The High Kings - Friends for Life The Inspector Cluzo - Gasconha Rocks Tom Principato - Robert Johnson Told Me So Tunde Baiyewu - Diamond In A Rock Will Wilde - Raw Blues Willis Earl Beal - Nobody Knows 59 60 61 62 62 63 64 64 65 66 67 67 Feuilleton Peter Kroh - Deutsche Kultur ist weniger als Deutschlands Kultur 68 Bücher Morton Rhue - no place, no home Prudenci Bertrana: Josafat oder Unsere Liebe Frau von der Sünde 72 76 Will Wilde 4.11. JUKZ Lahnstein 5.11. Kofferfabrik Fürth 7.11., Alte Piesel, Künzell 8.11. Weissenwolff, Steyregg (A) 9.11. Village, Habach 14.11. Bistrot-Paris, Weiden 15.11. Broncos Loge, Bern (CH) 16.11. Gewölbe Livebühne Eisching, Haiming 18.11. Further Hof, Düsseldorf 20.11. Downtown Blues Club, Hamburg 21.11. Rainer‘s Rockhouse, Algermissen DAS etz Moritzstr.20, Chemnitz 9. November – Earl Thomas & Band(USA) 21 Uhr http://bluesandmore.de/ Sprachraum ESSBARE KULTUR im MiO Made in O endorf Christoph Gross: Over the Rainbow 80 Gilbert Keith Chesterton - Verteidigung des Schundromans 82 Hohe Strasse 28, 09244 Lichtenau OT. Ottendorf Fortsetzungsroman 25. Oktober Philippe MenardOne Men Band Robert Kraft - Die Vestalinnen Edgar Wallacer - A.S. der Unsichtbare Marius Tilly Band 26.10. Cloppenburg, Briefkasten 01.11. Obertrubach, StudioLounge 02.11. Freudenburg, Ducsaal 08.11. Bochum, Kulturcafe 09.11. Gaildorf, Kulturschmiede 10.11. München, Rattlesnake Saloon 12.11. Emmendingen, Mehlsack 13.11. Kandern, Chabah 15.11. Kamen, En Place 16.11. Rahden, Marktschänke 26.11. Ludwigsburg, Scala Backstage 27.11. Kofferfabrik Fürth 28.11. Interlaken (CH), Brasserie 17 29.11. Bühler (CH), Bluesclub © wasser-prawda 86 94 O‘Man River (Friedensstraße, Heringsdorf) 18. Oktober Feuerbach & Rose 25. Oktober Grey Wolf 1. November Catfish 8. November Peer Orxon 15. November Peter Schmidt 22. November The Blueswalkers 29. November Angela Klee Kulturspeicher (Bergstraße, Ueckermünde) 2. November, 20 Uhr, Roger Tristao Adao 23. November, 20 Uhr, Tempi passati 25. Januar 2014, 20 Uhr, Pete Gavin 22. Februar, 20 Uhr, Jan Hengsmith 5 Musik Wenig Überraschungen bei den German Blues Awards Fotos: BB & The Blues Shacks Georg Schröter Mike Seeber Trio Abi Wallenstein Micha Maas (alle Fotos: © Karsten Spehr) 6 Als am 21. September im Rahmen der German Blues Challenge die Preisträger der diesjährigen Blues Awards bekannt gegeben wurden, dürfte sich die Überraschung in Grenzen gehalten haben. Mal wieder wurden B.B. & The Blues Shacks als beste Band und Abi Wallenstein in der Kategorie Solo/Duo geehrt. Und das Album des Jahres stammt nach Meinung der Teilnehmer des Online-Votings von Henrik Freischlader. Von Raimund Nitzsche. Die Methode der Vergabe der German Blues Awards durch eine Online-Abstimmung steht bei Kritikern schon lange in der Kritik. Der Vorwurf: Ausgezeichnet würden die Künstler, die am besten online vernetzt sind, die ihre Fans am besten mobilisieren könnten. Und wenn man sieht, dass gleich zum dritten Jahr in Folge das Bluewave-Festival auf Rügen als bestes Festival ausgezeichnet wurde, dann kann man sich diesem Vorwurf kaum verschließen. Die Auszeichnungen von Micha Maas als bester Drummer und Georg Schröter als bester Pianist sind natürlich hochverdient aber auch wenig überraschend. Allerdings kann man gerade in den weiteren Kategorien Überraschungen finden: Nicht der Deutschlandfunk oder der Rockpalast haben den Medien-Preis bekommen, sondern das Online-Angebot BluesRoad mit seiner Kombination aus Online-Radio und Bluesforum. Und weder Meisenfrei, Downtown oder Bluesgarage sind der beste Club sondern das von einem Verein getragene „Laboratorium“ in Stuttgart. Dass Baltic Blues e.V. Vince Weber den nationalen Eh- © wasser-prawda Musik renpreis und dem Journalisten Andrzej Matysik (Polen) den internationalen Ehrenpreis verliehen, setzt ebenso ein wichtiges Zeichen für die Vielfalt des Blues hierzulande und weltweit. So lange in Deutschland keine mitgliederstarke Organisation als Dachverband des Blues existiert, kommt man an der derzeitigen Methode der Preisverleihung kaum vorbei. Auch wenn es schwierig sein dürfte, unbekanntere aber dennoch bemerkenswerte Künstlerinnen und Aktivitäten so zu ehren. Allerdings - und das ist nicht nur bei diesen Awards wichtig: Ohne guten Kontakt zu den Fans, ohne die aktive Präsenz etwa in den sozialen Mediennetzwerken dürften es Bluesmusiker in Zukunft immer schwerer haben, nicht nur ihre Kunst bekannt zu machen sondern für Konzerte gebucht zu werden. In einem Land, wo der Blues in den Medien immer mehr nur noch auf den Seiten von einigen Enthusiasten stattfindet, kann man sich nicht drauf verlassen, dass vier Mal im Jahr eine neue Nummer der Blues News erscheint. Die eigentliche Überraschung für mich kam in Eutin allerdings durch den Sieg des Mike Seeber Trio in der fünften German Blues Challenge zu Stande. Den Hallenser Gitarristen hatten wir in der Redaktion bislang noch nicht auf der Liste der wichtigen deutschen Bluesmusiker. Wir geloben Besserung und gratulieren herzlich! © wasser-prawda German Blues Awards 2013 • • • • • • • • • • Band: BB & The Blues Shacks Solo/Duo: Abi Wallenstein Club: Laboratorium Stuttgart Festival: Blue Wave Festival & Camp, Binz auf Rügen Piano: Georg Schroeter CD: Henrik Freischlader - House In The Woods Dr u m s / Pe r c u s s ion : Micha Maas Medien: BluesRoad Ehrenpreis National: Vince Weber Ehrenpreis International: Andrzej Matysik (Polen) 7 Musik Yardbirds, Cream, Unplugged: Sta onen eines Bluesman In den 80er Jahren verkamen die Alben von Eric Clapton zur banalen radiofreundlichen Popmusik. Selbst wenn er damals Blues spielte, wirkten die Aufnahmen so berechnend wie seine Popsongs. 1992 kam er wieder an den Punkt, seine Akkus beim Blues neu aufzuladen. Sein Konzert bei MTV Unplugged und das dazugehörige Album markieren einen bis heute gültigen Höhepunkt in Claptons Karriere. Im 50. Jahr seiner Karriere als Musiker wurde das Album jetzt in einer Deluxe-Fassung remastert, mit Bonustracks und einer DVD wiederveröffentlicht. Von Raimund Nitzsche. H eute kann man sich den positiven Schock kaum noch vorstellen, den Anfang der 90er Jahre die ersten UnpluggedKonzerte bei MTV auslösten: Superstars konnten sich im akustischen Setting neu erfinden. Und akustische Musik fand endlich wieder den Weg in die Mainstream Radios und Fernsehsendungen zurück. Schnell verkam die Sendereihe zu einem Obskuritätenkabinett. Wenn heutzutage die Toten Hosen oder die Fantastischen Vier (um nur mal Beispiele aus Deutschland zu nennen) eingeladen werden, dann fragt man sich, wo die Produzenten und auch die Musiker ihren Verstand gelassen haben. Manche Kombinationen funktionieren einfach nicht. Aber zu Beginn der Reihe entstanden einige absolut großartige und bis 8 © wasser-prawda Musik The Yardbirds heute gültige Aufnahmen von Bob Dylan, Neil Young, Nirvana und Eric Clapton. Kurze Erinnerung: In den 60er Jahren war Clapton für Londener Bluesfans Gott an der Gitarre. Von den Yardbirds über die Aufnahmen mit John Mayall‘s Bluesbreakers hin zum Superstarruhm mit Cream stand er für die Bluesgitarre im britischen Bluesboom. Höchstens Peter Green konnte ihm an die Seite gestellt werden. Eric Clapton war der Blues heilig. Seit er als 13jähriger seine erste Gitarre geschenkt bekam, widmete er sich dem Blues, vor allem den Liedern von Robert Johnson. 1963 trat er in London den Yardbirds bei, die im Crawdaddy Club die Rolling Stones als Hausband abgelöst hatten. Doch Clapton hatte Schwierigkeiten, einen persönlichen Draht zu den anderen Musikern der Band zu finden. Jim McCarty hielt ihn für launisch und einzelgängerisch. Clapton war der Meinung, Samwell-Smith hätte nicht das Zeug zum Bluesman. Auch im Aussehen sonderte sich Clapton von den anderen in der Band ab: Er trimmte sein Haar so kurz, wie es an einigen amerikanischen Universitäten zu der Zeit Mode war, während die anderen den sonst überall vorherrschenden Langhaar-Trend favorisierten. 1963 nahmen die Yardbirds ein Live-Album mit Sonny Boy Williamson II auf. Anfang 1964, als sie den Crawdaddy Club mit dem berühmten Marquee Club im Zentrum Londons vertauscht hatten, entstand eine weitere Live-LP, die sich als bahnbrechend für den britischen R&B herausstellen sollte. Mit den ersten Studioaufnahmen kamen die wirklich entscheidenden Probleme. Die Rolling Stones hatten bewiesen, dass es keine Rolle spielte, in wie vielen ausverkauften Clubs man vor Publikum auftrat: Geld verdiente man allein mit Hit-Singles. Ende 1963 und im Februar 1964 nahmen die Yardbirds in einem kleinen Studio in Surrey fünf Tracks als Demo auf. 1964 erschienen zwei Singles: „I Wish You Would“ und „Good Morning Little Schoolgirl“. Letztere erreichte die ersten 50 der britischen © wasser-prawda 9 Musik Charts, aber beide Aufnahmen waren zahm im Vergleich zu den Live-Versionen und einfach nicht kommerziell genug. Wie die Rolling Stones zuvor hatten auch die Yardbirds erkannt, dass es nicht ausreichte, Muddy Waters zu kopieren. Sie mussten sich am populären Geschmack orientieren, wenn sie sich als professionelle Musiker ihren Lebensunterhalt verdienen wollten. Clapton hatte andere Vorstellungen. Zum Krach kam es bei der Auswahl der nächsten Single. Samwell-Smith wollte einen Song mit dem Titel „For Your Love“ einspielen. Clapton war für einen Song von Otis Redding. Doch Manager Gomelsky und Samwell-Smith waren sich einig, dass der Durchbruch in die Charts nur mit „For Your Love“ möglich war. Sie sollten recht haben: Es erschien im März 1965, erreichte die Nummer 3 in Großbritannien und kam unter die ersten 10 in den USA. Doch Clapton stieg aus, um weiter ernsthaften Blues spielen zu können. Mit John Mayall‘s Bluesbreakers entstand ein weiteres der heute kanonischen Albem des britischen Blues überhaupt. Doch auch hier blieb Clapton nicht lang. Cream bei Ready Steady Go. Heutzutage ist man mit dem Begriff „Supergroup“ schnell zur Hand, wenn irgendwelche Musiker aus mehr oder weniger bekannten Gruppen sich zusammentun. Erfunden wurde der Begriff wahrscheinlich 1966, als Cream auf der Szene auftauchte. Drei Musiker, die anerkanntermaßen die Besten auf ihren jeweiligen Instrumenten waren, taten sich zusammen und brachten in der kurzen Zeit des Bestehens ihrer Gruppe einen ganz neuen Sound im Blues-basierten Rock hervor. Ginger Baker war dabei, sich als Drummer in der Londoner Jazz Szene einen Namen zu machen. Jack Bruce hatte bereits ein klassisches Studium als Cellist an der Royal Scottish Academy Of Music in Glasgow hinter sich gebracht, als er Dick Heckstall-Smith und 10 © wasser-prawda Musik Ginger Baker beim Johnny Burch Octet begegnete. Bei Alexis Korner und dessen Blues Incorparated spielten sie mit einer weiteren Größe des britischen Jazz, Graham Bond. Als dieser seine Graham Bond Organisation ins Leben rief, holte er sich Ginger Baker, Jack Bruce und Dick Heckstall-Smith als Mitspieler. Nach zwei Alben, verließ Jack Bruce die Graham Bond Organisation und schloss sich John Mayall und seinen Bluesbreakers an. Hier lernte er Eric Clapton kennen. Doch Jack Bruce wollte endlich Geld verdienen, Mayall war kein lukrativer Arbeitgeber, und so verkaufte er sich an Manfred Mann, der damals regelmäßige Single-Hits hatte. Zur gleichen Zeit hatte Ginger Baker nicht mehr die Absicht, bei der Graham Bond Organisation zu bleiben. Seine Ambition war es, eine eigene Band zu besitzen. Er hörte von Eric Clapton, damals stand an den Wänden der Londoner U-Bahn der Satz „Clapton is God“, und besuchte einige Konzerte von John Mayalls Bluesbreakers. Eric Clapton und Ginger Baker freundeten sich an und als Ginger Baker Eric Clapton von seinem Plan erzählte, war dieser sofort bereit einzusteigen. Allerdings verknüpfte er es mit einer Bedingung: Jack Bruce sollte der Bassist sein. Ginger Baker und Jack Bruce waren nie große Freunde gewesen, es war eher das Gegenteil der Fall. Ginger Baker war daher nicht sehr begeistert von der Bedingung, wollte aber unbedingt die Zusammenarbeit mit Eric Clapton. Er erklärte sich bereit, mit Jack Bruce Kontakt aufzunehmen und Jack Bruce war sofort einverstanden, wahrscheinlich reichte es ihm bei Manfred Mann. Musikalisch passten die Drei zusammen wie kaum eine andere Band in der Rockgeschichte. Menschlich dagegen kam es immer wieder zu Streitereien zwischen Baker und Bruce. Cream sollte die Band des Ginger Bakers sein, aber im Vordergrund standen die beiden anderen. Eric Clapton mit seiner Gitarre und Jack Bruce als Sänger und Komponist. Alle drei waren Bluesfans, aber gerade Jack Bruce und Ginger Baker wollten nicht in die Fußstapfen der in dieser Zeit erfolgreichen Fleetwood Mac und John Mayalls treten. Man befand sich auf dem Höhepunkt des britischen Bluesbooms. Der „traditionelle“ Blues lag ihrer Meinung nach daher schon in besten Händen. Sie hielten sich nicht an die Konventionen und setzten Songs wie „Spoonful“, „Four Until Late“, „Rollin And Tumblin“ oder „I‘m So Glad“ einen eigenen Sound auf. Im Juli 1966 traten sie als Cream beim Windsor Jazz & Blues Festival auf. In der Tasche einige eigene und dann noch ein paar Blues Songs, wurden sie vom Publikum gefeiert. Cream war jetzt bereit Rockgeschichte zu schreiben: ein berühmter Gitarrist, ein genialer Drummer, ein einfallsreicher Bassist, der auch noch eine gute Stimme hatte, mit Pete Brown ein Poet als Texter: es war alles vorhanden. Die erste Single „Wrapping Paper“ kam bis auf Platz 43 der britischen Charts. Der nächste Song „I Feel Free“ war bereits eine Zusammenarbeit von Pete Brown und Jack Bruce. Dem Lied gelang der Sprung auf Rang 11 und der Song hielt sich drei Monate in den Charts. Fresh Cream wurde als erstes Album im Dezember 1966 auf den Markt gebracht. Eine gute Zeit: vor Weihnachten lag das Album auf Rang 6 der LP Charts. Cream war immer eine Live-Band. Die von Robert Stigwood organisierten Gigs fanden in den gleichen Clubs statt, wo Ginger Baker und Jack Bruce bereits mit der Graham Bond Organisation ihre Auftritte hatten. Es gab allerdings einen gewaltigen Unterschied: die © wasser-prawda 11 Musik Billy Walton Band November 3, Assembly Rooms, Derby November 4, The Garage, 47 Uplands Cresent, Uplands, Swansea SA2 0NP November 8, The Bull Theatre, 68 High Street, Barnet EN5 5SJ November 9, 8:30pm, Tropic At Ruislip/Ruislip Social Club, Grosvenor Vale, Ruislip HA4 6JQ November 10, The Kings Arms, St Mary‘s Street, Bedford, Bedfordshire MK42 0AS November 11, The Maltings, Bridge Square, Farnham, Surrey GU9 7QR November 13, Barinton Live Music Club, Gruner Weg 2, Ehrenfeld, Cologne, Germany 50825 November 14, Quasimodo, Kantstr. 12a, Berlin, Germany November 15, Werkhof, Kanalstrasse, Lubeck, Germany 23552 November 16, 8pm, Doerpkrog, Joldelund, Germany November 18 The Forum, Fonthill, The Common, Tunbridge Wells TN4 8YU. November 19, Live At The Trades, 3 Greasborough Rd, Rotherham S60 1RB November 21, The Greyhound, 85 High Road, Beeston, Nottingham NG9 2LE November 22, True Blues Club at Earlestown Conservative Club, 17/19 Earle Street, Newton-Le-Willows WA12 9LW November 23, Friezland Church Hall, Oaklands Rd, Oldham OL2 6AS November 24, The Saints Room, Cockermouth November 25, Famous Monday Blues at the Jericho Tavern 56 Walton St, Oxford OX2 6AE November 26, 100 Club, 100 Oxford St, London W1D 1LL 12 Graham Bond Organisation spielte in gut gefüllten Lokalen, bei Cream waren die gleichen Clubs überfüllt. Viele Fans mussten vor den Türen bleiben. 1967 kam es zur ersten Tour in den USA. „Fresh Cream“ erschien in den USA auf Atco und wurde auch hier ein Erfolg. Stigwood vermittelte Cream an Atlantic Records und somit an Ahmet Ertegun. Im Atlantic Studio in Manhattan wurde mit dem Toningenieur Tom Dowd „Disraeli Gears“ aufgenommen. Gast im Studio war Felix Pappalardi. Ertegun und Pappalardi waren der Meinung, Eric Clapton sollte der Frontmann und Sänger der Cream sein. Pappalardi nahm einige Demos von Clapton mit nach Hause und komponierte und textete „Strange Brew“ für Eric Clapton als Sänger. Ertegun entschied, „Strange Brew“ müsse die nächste Single der Cream für den amerikanischen Markt sein. Ginger Baker und Eric Clapton waren von der Zusammenarbeit mit Felix Pappalardi begeistert und verpflichteten ihn als Produzenten des Albums. Bei den Arbeiten zu „Disraeli Gears“ kamen Cream mit Musikern und Helfern von Atlantic Records zusammen. Booker T. & The MG‘s und Otis Redding hörten bei den Aufnahmen zu „Sunshine Of Your Love“ zu, und Martin Sharp, der auch mit Eric Clapton „Tales Of Brave Ulysses“ komponierte, gestaltete das Cover. Der Erfolg von „Sunshine Of Your Love“ war umwerfend. Die Platte gehörte zu den bestverkauften Singles in der Geschichte von Atlantic Records. Nach der Fertigstellung von „Disraeli Gears“ ging es weiter auf US-Tour. Im Fillmore verlangte das Publikum nach längeren Improvisationen. Cream gefiel das und sie jammten drauflos. Bald hatten sie sich mit den ausgeweiteten Improvisationen einen Namen gemacht. Im Juni 1968 ging es wieder in das Atlantic Studio um „Wheels Of Fire“ aufzunehmen. Die Atmosphäre zwischen den Musikern war diesmal eine andere. Es kam zu offenen Streitereien. „Wheels Of Fire“ sollte beide Seiten der Band zeigen, Live und Studio. Für die Live Platte wurde das Solo von Ginger Baker „Toad“ aus dem Fillmore genommen und drei Titel aus dem Winterland. Der Text auf dem Cover ist in dieser Beziehung nicht ganz korrekt. Der erste Track „White Room“ sollte an Jimi Hendrix erinnern. Felix Pappalardi steuerte hier den Geigenpart dazu. Ginger Baker und Eric Clapton wollten sich als Komponisten auf der „Wheels Of Fire“ verewigen, aber irgendwie schaff ten sie es nicht zu guten Songs. Auch die Hilfe von Pete Brown brachte nichts. Pete Brown erzählte später, die Chemie passte irgendwie nicht. Ginger Baker arbeitete stattdessen mit Mike Taylor zusammen. „Wheels Of Fire“ wurde auf Anhieb erfolgreich und verhalf sogar den Vorgängeralben zu neuen Rekordeinnahmen. „Fresh Cream“ und „Disraeli Gears“ kamen zurück in die Charts. Die Probleme begannen während der Gigs. Ginger Baker und Jack Bruce hatten sich nie richtig verstanden und jetzt ging es auf monatelange Touren. Von ihrer Musik entfernten sie sich immer mehr. Statt der kurzen einprägsamen Songs ihrer Alben folgten endlose Improvisationen. Das Ende kam immer näher. Nach einem Gig in Texas beschlossen Cream die Auflösung. Es ging nach London und mit Pappalardi als Produzent entstand „Goodbye“, wieder eine Mischung aus Live- und Studioaufnahmen. Live wurde für die BBC in der Londoner Royal Albert Hall ein Abschiedskonzert aufgenommen. Drei Tracks stammen von diesem Konzert. Danach heuerte Jack Bruce seine alten Freunde aus den Tagen der Graham Bond Organisation an, Jon Hiseman und Dick Heckstall- © wasser-prawda Musik Smith, verpflichtete diverse Gitarristen wie John McLaughlin oder Chris Spedding und führte die Partnerschaft mit Pete Brown weiter. Ginger Baker und Eric Clapton nahmen Steve Winwood von Traffic und holten sich den Bassisten Rick Grech, um „Blind Faith“ zu gründen. Nach dem schnellen Ende dieser Band tat sich Clapton mit Duane Allman zusammen und schuf mit „Layla and other assorted love songs“ unter dem Namen Derek and the Dominos einen Klassiker der Rockgeschichte, bevor er für Monate im Heroinsumpf verschwand. Erst durch die Hilfe von anderen Musikern gelang ihm der Rückweg ins Leben und in die Musik. In den 70er und 80er Jahren wurde er dank Hitsingles wie „I Shot The Sherriff “, „Wonderful Tonight“ oder „After Midnight“ zum Dauergast in den Hitparaden und zum weichgespülten Langweiler. (Live allerdings war er nicht nur in seinen jährlichen Konzerten in der Londoner Royal Albert Hall immer als Bluesmusiker aufgetreten und hatte seine Bekanntheit auch für Künstler wie Robert Cray oder Buddy Guy eingesetzt.) Persönlich kamen in der Zeit noch Rückschläge und Tragödien hinzu wie der Tod seines vierjährigen Sohns oder auch der Tod seines Freundes Stevie Ray Vaughan, seines Managers und zweier Roadies bei einem Hubschrauberabsturz, Clapton zog sich zurück, kämpfte erfolgreich gegen seinen Alkoholismus und war jetzt wieder für eine Neubesinnung auf den Blues bereit. Und in einer Zeit, wo Blues in den Hitparaden, im Fernsehen und im Rundfunk kaum noch eine Rolle spielte, kam der Erfolg von „Unplugged“ einer Sensation gleich. Klar, ein großer Teil des Erfolges ging auf „Tears In Heaven“ zurück, das als Single weltweit zum Hit wurde. Dieses seinem toten Sohn gewidmete Lied ist bis heute immer wieder im Radio präsent. Und auch die „Neuerfindung“ der Rockhymne „Layla“ als temporeduzierte Akustiknummer ist vielen heute zuerst in Erinnerung. Doch eigentlich ist „Unplugged“ ein Album, auf dem Clapton seinen großen Vorbildern im Blues huldigt. Songs von Big Bill Broonzy, Muddy Waters und anderen werden von ihm und der hervorragend aufgelegten Band (unter anderem: Steve Ferrone - dr, Nathan East - b, Chuck Leavell - keyb und Andy Fairweather Low - g) zwar entspannt aber mit soviel Energie dargeboten, wie man das von seinen Studioproduktionen lange nicht gewohnt war. Endlich war Clapton wieder ein Bluesgitarrist, der die alten Songs zu seinen machte, die Trauer, die Schicksalsschläge und Enttäuschungen seines Lebens durch sie fühlbar machte. Das Album brachte Clapton einen ganzen Stapel Grammies ein: „Tears In Heaven“ wurde „Single of the Year“ und „Song of the Year“. Außerdem wurde Clapton für die beste männliche Gesangsdarbietung in der Kategorie Pop und auch im Rock ausgzeichnet. Außerdem bekam die Neufassung von „Layla“ noch einen Grammy als bester Rocksong und Unplugged selbst wurde Album des Jahres. Allein in den USA wurde es über zehn Millionen Mal verkauft. Immer wieder ist vom Blues als Heiler, als Doktor die Rede. Und genau das war dieses Album für Clapton. Gleichzeitig stellte Clapton auch fest, dass entgegen der von den Medien verkündeten Trends ganz traditionelle Bluesalben noch immer eine Chance haben, auf breites Gehör zu stoßen. Und so veröffentlichte er seither immer wieder reine Bluesalben. Die Ergebnisse allerdings fielen unterschiedlich aus. „From The Cradle“ (1994) war das erste Studioalbum seit Beginn von Claptons So- © wasser-prawda Eric Clapton - Unplugged Deluxe + DVD Die Anreicherung historisch bedeutsamer Alben durch diverse Bonusmaterialien ist in den letzten Jahren zu einer regelrechten Manie geworden. Oftmals sind die Zugaben zum eigentlichen Album nicht wirklich notwendig und verstellen in ihrer Belanglosigkeit den Blick aufs Original.. Bei Claptons Unplugged allerdings lohnt sich der Kauf der Luxusausgabe auch für Fans, die das Original schon in ihrer Sammlung haben. Denn hier bekommt man nicht nur das remasterte Originalalbum und eine zweite CD mit Alternativersionen und zwei nicht auf dem Album befindlichen Songs. „Circus“ und „My Fathers Eyes“ hätten gut in den Konzertablauf gepasst, wurden aber dann nicht in die Sendung und das Album aufgenommen. Auf der beiliegenden DVD findet sich außerdem das bei MTV ausgestrahlte Konzert und im Bonusbereich das Rehearsal der Band am gleichen Tag während des Licht- und Soundchecks. 13 Musik lokarriere, das komplett aus Bluesnummern besteht. Live im Studio eingespielt, wurde das Album von einigen Kritikern als „fast perfekt“ gepriesen. Andere allerdings kritisierten Claptons Gesang, der im Gegensatz zu seinem Gitarrenspiel nicht wirklich als authentischer Bluesgesang angesehen wurde. Was Unplugged noch nicht vergönnt war: „From The Cradle“ kam in den USA auf Platz 1 der Album-Charts und dürfte mittlerweile zu den meistverkauften Bluesalben insgesamt gehören. Dann dauerte es allerdings wieder sechs Jahre, ehe er erneut ein Bluesalbum veröffentlichte. 2000 erschien das gemeinsam mit B.B.King eingespielte „Riding With The King“. Und 2004 kam dann das lange erwartete Tributalbum an Robert Johnson auf den Markt. Zwar wurde das Album vielerorts gepriesen. Heute allerdings sieht man das Ergebnis durchaus kritischer: Die Verwendung von ProTools hat den Songs meiner Meinung nach die Seele gestohlen. Und von der inneren Getriebenheit, von denen Johnson in seinen Songs erzählt, ist nichts übrig geblieben. Alles ist sehr entspannt und weichgespült. Korrigiert hat Clapton das mit dem im gleichen Jahr nachgeschobenen „Sessions For Robert J“ (CD mit DVD). Hierauf finden sich Sessionaufnahmen, die Clapton mit Billy Preston, Doyle Bramhall, Nathan East und anderen Musikern teils akustisch teils elektrisch in verschiedenen Proberäumen in Dallas und England aufgenommen hat. Auch im Studio in 508 Park Avenue in Dallas fanden Aufnahmen statt. Dort hatte Johnson 1937 seine zweite und letzte Session aufgenommen. 14 © wasser-prawda Musik Weitere Hörempfehlungen B.B. King & Eric Clapton - Riding with the King 2000 lud Eric Clapton B.B. King ins Studio. Gemeinsam mit Claptons Band entstand ein Album mit Bluessongs, die meist aus dem Repertoire des 74jährigen King stammten. Für das Album gab es zu Recht einen Grammy für das beste traditionelle Bluesalbum. Zwei Gitarristen in einem Studio? Das muss nicht wirklich gut gehen, selbst wenn beide solche Meister ihres Instrumentes sind wie B.B. King und Eric Clapton. Grad bei Clapton hat man es oft gemerkt in den letzten Jahren, dass er sich zu sehr auf seinen Partner als auf seinen eigenen Sound und seine eigenen Fähigkeiten verließ. Beispiel dafür etwa die letzte gemeinsam mit JJ Cale erschienene Scheibe: Das ist ein Cale-Album, keines wo Clapton wirklich seinen Part spielt mit vollem Einsatz. Auch wenn er auf der Bühne ist, ist diese Haltung oft zu hören: Da klingt Clapton plötzlich mehr nach Mark Knopfler oder Albert Lee statt nach Mr. Slowhand himself. Bei „Riding With The King“ triff t das zum Glück nur zeitweise zu. Auch wenn die Platte wirklich mehr nach King als nach Cream klingt. Aber das liegt zum größten Teil eben an Titeln wie „Three O‘Clock Blues“ oder ähnlichen Klassikern, die untrennbar mit BB. King verbunden sind. Und es liegt natürlich auch daran, dass Clapton sich aus Respekt vor dem Vorbild meist mit der Rolle des zurückhaltenden aber äußerst effektiven Begleiters zufrieden gibt. Wenn man aber genauer hinhört, dann kann man spüren, wie die beiden Gitarren einander Ideen zuspielen und miteinander den Blues singen. Clapton Eric Clapton hat 2010 mit „Clapton“ ein Studioalbum vorgelegt, dass Schönklang zwischen Blues, Jazz und Schmalz unter anderem mit Sheryl Crow, J.J. Cale und Wynton Marsalis zelebriert. „Clapton“ (Warner) sei so nicht beabsichtigt gewesen, hatte der Künstler im Vorfeld der Veröffentlichung in Interviews gesagt. So, das meint: in dieser Stilmischung, in der das Album heute vorliegt. Denn neben Blues inden sich Ausflüge in den Jazz a la New Orleans und auch noch jede Menge Balladen voller Streicher. Das Ergebnis wird die Fans des harten und zupackenden Bluesrock sicherlich in einen schnellen Tiefschlaf versetzen. Es ist ein sehr relaxtes Album geworden, ein Alterswerk, wo Clapton mit den verschiedensten Musikern zusammen einfach Spaß im Studio hatte. Neben Langzeit- © wasser-prawda partner Doyle Bramhall II (der auch co-produzierte) haben auch Derek Trucks oder JJ Cale ihre Sounds einfließen lassen in die Neuinterpretation von bekannten oder obskuren Bluesstükken. Und Sheryl Crow schmachtet mit Clapton durch „Diamonds Made From Rain“. Eine der treibendsten und besten Nummern ist das von Clapton und Bramhall gemeinsam geschriebene „Run Back To Your Side“. Hier wurde die Handbremse vorher gelöst. Doch dann sind da auch wieder Titel, die man so nicht von Clapton erwartet hätte. Denn als Jazzsänger und Gitarrist hat man ihn nicht wirklich auf der Liste. Doch wenn er dann mit Wynton Marsalis und Allen Toussaint und weiteren Bläsern ein wirkliches New Orleans-Feeling aufkommt wie in „When Somebody Thinks You‘re Wonderful“, dann wünscht man sich, die ganze Platte wäre so. Seit Ry Cooders „Jazz“-Album hab ich so etwas von einem vom Blues herkommenden Gitarristen nicht mehr gehört. Vielleicht könnte das der Weg sein, auf dem Clapton in den nächsten Jahren nicht nur selbst Spaß hat sondern auch den Hörern selbigen vermittelt. Old Sock Das 2013 veröffentlichte 21. Studialbum setzt das relaxte Alterswerk Claptons fort. „Old Sock“ ist entspannt wie ein fauler Nachmittag im Strandhaus in der Karibik. Mit Gästen wie Steve Winwood, Taj Mahal und Paul McCartney spielt er wiederum Klassiker der Bluesgeschichte und aus dem American Songbook. Willkommen zurück im Schaukelstuhl! Während draußen der Winter wieder zurückgekehrt ist, kommt Clapton uns gleich mal sommerlich: Aus „Further On Down The Road“ von Taj Mahal macht er einen entspannten Reggae - und später spielt er auch noch Peter Toshs „Till Your Well Runs Dry“ im karibischen Sommersound. Nein, Eric Clapton will und muss niemandem mehr etwas beweisen. Wenn er denn doch noch mal ins Studio geht, dann macht er das aus purem Spaß an der Musik und daran, mit guten Freunden zusammen zu spielen. Und wie kann man eine gemütliche Session am besten gestalten: Mit Songs, die man immer schon kennt: Von Gershwins „Our Love Is Hear To Stay“ über „All of Me“ bis hin zu ausgerechnet Gary Moore‘s „Still Got The Blues“ geht das Programm von „Old Sock“. Und immer hat man das Gefühl, hier einer lässigen Privatparty beizuwohnen: Niemand spielt sich irgendwie in den Vordergrund. Höchstens bei dem sehr schönen „Gotta Get Over“, einem von zwei neuen Songs des Albums, kommt er etwas mehr auf Touren. 15 Musik 16 © wasser-prawda Musik Buddy Guys Arme sind weit offen Die Worte „Legende“, „Ikone“ und „Titan“ gehen einem leicht über die Lippen, wenn man den Versuch unternimmt, den unvergleichlichen Buddy Guy zu beschreiben. In der Realität tragen diese Wörter wenig dazu bei, um genau darzustellen, welchen enormen Einfluss dieser ikonenhafte, legendäre Blues-Titan auf die Welt der Musik hatte, zumindest auf den Teil der Musikwelt, bei der sich das Zuhören lohnt. Von Casebeer. Fotos: Karsten Spehr. Obwohl er die meiste Zeit seiner Karriere vom Mainstream-Radio gemieden wurde, setzt sich der 77jährige Blues-Veteran noch immer dafür ein, den Blues lebendig und aufregend zu halten und Hörer für ihn zu gewinnen. Wie jeder, der in den letzten 40 Jahren eine Show von Buddy Guy erlebt hat, bestätigen kann, verzieht sich der Blues-Hero nicht still, wenn es darum geht, das Radio dazu zu bringen, den Blues zu spielen. Als er noch tagsüber einen Abschleppwagen fuhr und nachts auf seine Gitarre schlug, um die Zuhörer zu schockieren, spielte er garantiert nicht des Geldes wegen. Zeitweise, so erläuterte er es im Gespräch mit American Blues Scene, hatte er keine Hoffnung mehr auf eine Zukunft als Gitarrist. Aber er blieb dabei, weil er einfach zu spielen liebte. Stevie Ray Vaughan sagte einmal: „Ohne Buddy Guy würde es keinen Stevie Ray Vaughan geben.“ Wenn man diese Aussage für wahr hält und die Menge der Künstler zählt, die SRV selbst beeinflusst hat, erhält man ein viel breiteres Bild. Die Leinwand dafür wird sehr groß. Er selbst macht (und das noch, bevor er in seinem Hotel in Detroit den Frühstückskaffee getrunken hat) den Rahmen noch ein Stück größer: „Ohne B.B. King gäbe es keinen Buddy Guy. Und ohne Charlie Patton gäbe es keinen B.B. King. All diese alten Typen haben B.B. beeinflusst und dann hat er micht beeinflusst. Das ist wie im Sport: Micky Mantle, Willie Mays und all die anderen Großen sind fort. Aber diese Typen haben die neue Generation von Spielern inspieriert (auch wenn diese neuen Spieler ein wenig geschummelt haben). Auch das ist im Blues genau so.“ „Es reicht nicht, einfach eine Gitarre in den Verstärker zu stöpseln“, meint der in Lettworth (Louisiana) geborene Musiker, als er einige Gesichtspuntke der modernen Gitarren-Technik diskutiert. „Es gibt eine Menge an Spezialeffekten. Ich schau mir einige dieser heutigen Gitarrenspieler an und die haben da unten dieses Board ... ich wüsste ums Verrecken nicht, wo ich da meinen Fuß draufstellen sollte! Aber es funktioniert, verstehst du? Trotz allem ist das noch immer eine Gitarre. Du kannst noch immer auf ihr spielen. Du kannst sämtliche Knöpfe drücken und sie haben sogar Technologien, dass sie fast alleine spielt. Aber noch immer musst Du die Giarre spielen. Wenn Du Gary (Clark Jr.) und Quinn (Sullivan) anschaust: sie spielen! Sie holen alles raus aus der Gitarre ... dar- © wasser-prawda Casebeer ist ein Musik-Fan. Seine Liebe zum Blues kann man zurückverfolgen bis zu der Zeit, in der er in St. Louis lebte. Die letzten Jahrzehnte war er immer in Verbindung mit dieser Musik, sei es als Fan, Autor oder Musiker. Ausgerüstet mit einer schnellen Internetverbindung und einer Idee hat er das Northwest Scene Network ins Leben gerufen, das letztens vom Sender King 5 als bester Musik-Blog im westlichen Teil des Staates Washington augezeichnet wurde. Das hier veröffentlichte Interview wurde erstmals bei American Blues Scene veröffentlicht. Übersetzung von Raimund Nitzsche und Wiederveröffentlichung in der Wasser-Prawda mit Genehmigung. 17 Musik um stelle ich sie immer wieder heraus, wenn ich die Chance habe. Übrigens: Quinn wird mit mir zu Jay Leno kommen. Ich hab das Datum noch nicht, aber ich werde ihn mitbringen. Auch zur Fernsehsendung „Extra“ wird er mitkommen. Im Gespräch mit „American Blues Scene“ widmet sich Buddy wieder einmal einem Thema, dass den Blues und seine vielen legendären Vertreter seit Jahrzehnten verfolgt: Die Tatsache, dass es keine echte Unterstützung durch das Mainstream-Radio gibt. Natürlich hat Buddy zur Zeit eine Menge Erfolg mit der Veröffentlichung seines Doppelalbums „Rhythm & Blues“, doch das ist ein Erfolg, für den er ein Leben lang arbeiten musste. Trotz der großartigen Aufnahme des Albums bislang konzentriert sich Guy mehr auf das Musikmachen. „Weißt Du, ich bin aus Louisiana und wuchs auf in Baton Rouge. Und der Bürgermeister und ich ich haben ein ziemlich enges Verhältnis. Gestern rief er mich an und wir redeten und er fragte mich, wie sich das Album machte, und ich meinte: Ich weiß es wirklich nicht, darum kümmere ich mich wirklich nicht so sehr. Ich lass mir das immer von anderen Leuten sagen. BB King sagte mir vor rund 30 Jahren... er meinte: Buddy, ich hab noch nie ein Album gemacht, was ich mochte.“ Als wir Mr. Guy darüber informiert haben, dass er die Nummer eins bei den Billboard Blues Alben und Nummer 27 bei den 200 besten Alben 18 ist, bleibt der Bluesmaster mit Vorliebe für auffällige Punktmuster bescheiden wie immer. „Weißt Du, da fühle ich mich wirklich gut“, grinst er. „Ich muss ein paar Licks richtig getroffen haben, um es dahin zu bekommen bei der Art wie der Blues heutzutage behandelt wird, es ist schwieriger als jemals, dahin zu kommen. Es so ähnlich wie bei einem guten Restaurant, wo Du nicht nach dem gehst, was andere sagen - Du musst es selbst probieren und dann sagst Du: Wart mal ne Minute, ich geh besser zurück und bestell mir mehr davon. Ich rede nicht von Buddy Guy. Ich spreche über Muddy Waters oder Howlin Wolf. Ich sag nicht, du sollst die jeden Tag spielen wie die Platten von anderen, ich meine: Lass mich Muddy jede Woche ein oder zwei Mal hören, dann schmecken mein Reis mit Bohnen noch besser.“ Die Leute würden gerne einige von den alten Sachen hören, wenn es denn eine Chance dafür gäbe. „Da stimme ich zu! Und ich weiß nicht, was wir angestellt haben, um so behandelt zu werden. Es wäre doch nichts dabei, ab und zu mal John Lee Hooker zu hören, vielleicht einmal in der Woche, und in der nächsten Woche dann Howlin Wolf. Auf die Weise würden die jüngeren Menschen erfahren, dass das damals der Typ war. Es ist ein wenig wie bei nem Auto von Ford, weißt Du? All die alten Blues-Musiker haben ihr Leben dem Bluesspielen gewidmet. Und die meiste Zeit dachten sie nicht ans Geldverdienen, © wasser-prawda Musik sie machten es aus Liebe zur Musik, nicht zum Geld. Heutzutage kommt ein Kid an und kann spielen. Aber er sagt: Ich will bezahlt werden! Für mich ist das anders ... wenn ich meine Gitarre spiele, dann denke ich überhaupt nicht ans Geld. Ich spiele, weil ich die Leute zum Lächeln bringen will. Ich will, dass sie sagen: Ich hatte ein Problem, aber ich hab es vergessen.“ Während er das sagt, prangert Buddy den allzuverbreiteten Irrtum an, dass der Blues traurig ist. „Wenn Du einfach auf den Blues hörst und auf die Texte, das ist nicht immer traurig. Einige der alten Blues-Texte waren über ... ‚Ich hatte letzte Nacht eine gute Zeit‘ oder ‚I boogie-woogied away‘. Wenn Du boogiest, dann sind sie ganz sicher nicht traurig, Du tanzt und hast Spaß. Wenn Du B.B. King sagen hörst: ‚I got a sweet little angel. I love the way she spreads her wings‘, wenn Du heraus findest, was das bedeutet...“ Buddy lässt ein langes heftiges Lachen hören. „Als ich es zuerst hörte, schaute ich zum Himmel und suchte nach einem Engel mit Flügeln. B.B. King sagte zu mir: Du musst rausfinden, was ich gesagt habe, es ist wie um den heißen Brei herum zu reden. Aber jetzt ist Hip-Hop so beliebt geworden, da muss man es nicht mehr auf diese Weise singen. Die singen es exakt so, wie sie es meinen. Nein, nicht jeder Blues ist traurig. Manche Leute müssen sich nur mal hinsetzen und wirklich zuhören.“ Buddy fährt fort: „Was dem Blues am meisten schadet, ist dass die Jugendlichen ihn nicht kennen, weil er nicht mehr gespielt wird. Die großen Radiostationen wollen ihn nicht spielen, weil sie meinen, er wäre zu langsam. Aber dann gibt es dann plötzlich einen Bluessong von einer britischen Frau und sie meinen: Das kann ich spielen.“ „Ich hab das schon damals bei Chess Records so erlebt. Ich erinnere mich, dass Otis Rush und ich mit meinem Saxophonspieler in einer Ecke in Chicago stand und sie tranken Wein und rissen Witze und er sagt zu Otis: ‚Ich könnte dich mit einem Schlag ausnocken.‘ Und Otis meint: ‚Du kannst mich jeden Tag der Woche schlagen, außer am Sonntag. Lass mich Dich am Sonntag schlagen.‘ Das ist das gleiche Ding wie mit dem Blues im Radio. Ich habe nichts gegen all die andere Musik, bloß schiebt immer mal wieder ein klein wenig Blues dazwischen. Wenn ich das erleben könnte, bevor ich gehe, das würde mich wie verrückt glücklich machen.“ Was dem Blues am meisten schadet, ist dass die Jugendlichen ihn nicht kennen, weil er nicht mehr gespielt wird. © wasser-prawda 19 Musik Wie soll man sie dazu bringen, ihn zu spielen? „Ich glaub, man muss zu den großen Programmdirektoren durchkommen. Ich hab versucht, der Sache auf den Grund zu gehen. B.B. kennt die Antwort nicht, und manchmal treffe ich auf die wichtigen Typen von den Sendern, ich will da niemanden direkt nennen, damit sie mich nicht noch mehr hassen, als sie es eh schon tun, aber es gibt ne Menge großer Sender. Ich weiß nicht, ob es das Geld ist oder was man braucht, um sie dazu zu bringen, dass sie den Wolf, oder B.B. oder überhaupt den Blues spielen.“ Mit einem schelmischen Grinsen kommt der Bluesman mit einer Idee: „Vielleicht müssen wir bei den Texten aufhören, um den heißen Brei herum zu reden. Wir könnten es machen wie die Hiphopper und die Profanität einbauen. Ich hab drüber nachgedacht, und in der Tat denke ich noch immer darüber nach. Blues hat niemals jemanden geschadet, um so behandelt zu werden wie er behandelt wird.“ Buddy beruhigt sich, als er anfängt über die British Invasion zu reden bevor er zu einer Story über die Stones und Muddy Waters überleitet. „Die TV-Show Shindig wollte die Rolling Stones einladen, als die gerade beliebt wurden, und all die britischen Typen wie Eric Clapton und Cream spielten den Blues. Shindig hatte einige Probleme, die Band zu überzeugen, aber schließlich meinte Mick, sie würden kommen, wenn sie Muddy Waters mitbringen könnten. Die Verantwortlichen von Shindig fragten: Wer zur Hölle ist Muddy Waters? Die Stones antworteten: Ihr wisst nicht, wer Muddy Waters ist, und wir haben uns nach einem seiner Alben benannt?“ „Einmal spielte ich in der Gegend rund um Seattle, und Jimi [Hendix‘] Vater kam auf einen Drink vorbeit. Ich bot ihm einen Cocnac an. Er lehnte ab und meinte: Ich trink nur Whiskey. Ich meinte: Hier geibt es leider keinen mehr. Und so versuchte er einen Schluck. Danach springt er zurück und sagt laut: Was zur Hölle ist das für ein Stoff, gib mir mehr!“ „Auf meiner letzten CD habe ich einen Song darüber, was meine Mutter mir immer sagte: ‚goy you go too far to turn around.“ Guy lächelt, als er drüber spricht, ob er trotz der Jahrzehnte der Zurückweisung vom Mainstream-Radio und -Pop nicht manchmal das Gefühl habe, aufzugeben. „Nein, keinesfalls. Blues war so, so lange ich lebe. Ich hab niemals die Spitze der Leiter erreicht, aber ich bin niemals bis ganz nach unten gekommen. Jedes Mal, wenn ich kurz davor war, am Boden anzukommen, kam jemand vorbei wie die Briten und Gary und Quinn, und glücklicherweise haben die etwas in Gang gesetzt und dann kamen auch Leute rein und sagten: Wow.“ „Wie ich vorhin schon sagte, die Briten haben so viel getan für den Bluen in den späten 50ern und frühen 60ern als sie anfingen, das alte Zeug zu spielen. Damals begannen wir alle einen angemessenen Lebensunterhalt zu verdienen. Davor, da fuhr ich tagsüber einen Abschleppwagen und spielte nachts die Gitarre. Aber nein: Ich hab niemals dran gedacht aufzugeben. Ich setzte nicht meine Hoffnung auf die Gitarre, ich liebte es. Ich hab niemals dran gedacht aufzugeben. Ich setzte nicht meine Hoffnung auf die Gitarre, ich liebte es. Aus Liebe zur Musik lernte ich das Spielen, nicht aus Liebe zum Geld. 20 © wasser-prawda Musik Aus Liebe zur Musik lernte ich das Spielen, nicht aus Liebe zum Geld.“ Wo sieht der wahrscheinlich Größte im Blues die Zukunft für das Genre in den nächsten zehn Jahren? Gehen wir vorwärts, oder bewegen wir uns zurück? „Solange nicht einige der Sender uns keine gleichen Möglichkeiten einräumen, wie sie es für andere Musik machen, dann ist das für mich beängstigend.“ Eine Frage, die wir über Facebook bekamen: In einer Zeit, wo einiger der anderen Bluesleute sich zur Ruhe setzen und langweilige Alben veröffentlichen - was hält Buddy Guy frisch, modern und ‚nasty as hell‘ auf dieser alten Gitarre? „Die Liebe zu den Menschen. Und Musik spricht in allen Sprachen. Ich fahre durch die ganze Welt. Und an manchen Orten, zu denen ich komme, verstehen sie nicht, was ich sage. Aber sie verstehen, was ich spiele, und so funktioniert es. Wenn ich zu Dir kommen kann und dich lächeln sehe, auch wenn Du nicht ein Wort Englisch kannst und ich kein Wort in welcher Sprache Du auch immer sprichst - wenn ich Dich lächeln sehe, dann denke ich, ich hab etwas richtig gemacht.“ „Meine Mission ist es, die Menschen zum Lächeln zu bringen, denn wenn Du hier und heute lebst und Du beim Weg durchs Leben niemals © wasser-prawda ein Problem hattest, dann erzählt mir, wie Du das geschaff t hast. Ich glaub, jeder hat in seinem Leben Tiefpunkte, wenn ich aber meine Gitarre spiele, dann will ich, dass Du das kleine Problem vergisst, dass Du hast. Und das ist meine Mission.“ „Erzähl uns etwas, was niemand über Buddy Guy weiß.“ „Wenn ich die Leute nicht mit dem Gitarrespielen zum Lächeln bringe, dann bin ich einfach jemand aus Louisiana. Und wenn Du den Fernseher einschaltest und das Food Network anschaust, dann richten alle die Teller so gut an. Doch wenn Du zu mir zu Besuch kommst, dann sieht der Teller nicht so gut aus. Aber Du solltest ihn besser leer essen, weil es gut schmeckt!“ „Leben heißt, sich zu erinnern. Ich erinnere mich an das erste Mal, als Muddy Waters mich zu spielen bat. Ich erinnere mich an das erste Mal, als B.B. King mich bat zu spielen. Ich wollte vor ihm davonlaufen, denn damals hatte ich noch nicht mal eine Platte draußen und ich sang eines seiner Lieder. Und dann schaue ich ins Publikum: Und da war er. All diese Dinge folgen Dir Dein Leben lang.“ Eine Frage, die man Buddy oft stellt, die die Frage, woher das lange Gitarrenkabel kommt. „Die Idee mit dem langen Gitarrenkabel hab ich vom verstorbenen Guitar Slim übernom- 21 Musik men.“ (Guy spricht hier von dem in Greenwood/Mississippi geborenen Bluesman aus New Orleans.) „Der hatte so eins 1954/55. Erst dachte ich, es wäre ein Gag, aber als ich das erste Mal nach Chicago kam, da saßen all die Bluesmusiker auf Stühlen und hatten Bühnen. Später hat man mir das Kabel geklaut, ich glaub, es war John Lee Hooker... Ich ging also, um ein neues zu kaufen und der Typ schaut mich an und meint: Du bist total verrückt, da kommt doch nichts durch! Ich sagte: Gib mir einfach, wonach ich dich gefragt hab, ich will 150 Fuß Kabel. Und ich benutzte meinen eigenen Lötkolben, um meine Stecker dranzulöten. Zuerst fingen alle an zu lachen, aber ganz plötzlich hat sich das jeder zum Vorbild genommen und sie gingen ins Publikum und machten das Gleiche, was ich von Guitar Slim abgeschaut hatte! Ich hab es nicht erfunden, wie ich schon sagte. das war Guitar Slim und ich hab ihn dabei gesehen. Ich erlebte ihn in Baton Rouge mit B.B. King. Sie kündigten ihn an: Ladies and Gentlemen, Guitar Slim! und dann höre ich für fünf Minuten nur eine Gitarre während er spielend durch die Vordertür kommt. Damals beschloss ich, dass ich wie B.B. King spielen und mich verhalten will wie Guitar Slim.“ Buddy hat überall auf der Welt gespielt mit fast jedem. Mit wem hat der Gitarrist am liebsten zusammengearbeitet? „Ich hab so ziemlich mit allen gespielt, jetzt bin ich zu den jüngeren Typen wie Quinn und Gary übergegangen. Und natürlich mit den alten Typen, wenn Clapton sein Crossroad Festival veranstaltet. Manchmal, wenn ich da auf die Bühne komme, dann sind da vielleicht 15 von uns und spielen. Weißt Du, ich hab nicht nach dem Buch zu spielen gelernt, ich hab vom Hinschauen gelernt. Durch Hinschauen und Hören. Wenn also so viele da draußen sind, denk ich manchmal, ich sollte nicht spielen, ich denk vielmehr, ich dreh mich um und schaue, wem ich ein Lick klauen kann. Auf jeden Fall glaub ich, da sind noch mehr Youngsters für mich zu finden. Ich hab auch mit all den großen Jazzern gespielt und immer versucht, was dabei zu lernen. George Benson und ich versuchen wann immer es möglich ist, uns zum Spielen zusammenzusetzen. Ich schau also immer nach vorn. Wenn Du an den Punkt gekommen bist, wo Du meinst, Du weißt alles, dann irrst Du Dich. Und so gilt auch in Zukunft: Ich werde mit allen spielen. Wie der Song sagt: „My Arms Are Wide Open. All You Gotta Do Is Come In“. „Einige Leute sind zu mir gekommen, weil sie irgendeinen Film aus dem Buch machen wollen,“ erzählt Buddy von seiner 2012 erschienenen Autobiographie „When I Left Home“. „Aber ich verstehe davon nicht viel. Ich weiß, dass einige gesagt haben, es sei ganz gut gelaufen, aber was auch immer kommen mag... Was immer nötig ist, um den Blues lebendig zu erhalten, wie ich schon sagte: Meine Arme sind weit offen.! So würdest Du Dich auch selbst spielen, wenn sie die Buddy Guy Story verfilmen würden? „Eigentlich hätte ich gern, dass das jemand anders macht, aber wie schon gesagt: meine Arme sind weit offen. Wofür Du mich auch brauchst, bleib im Kontakt. Und was immer ich tun kann, damit der Blues lebendig bleibt: Meine Arme sind weit offen.“ 22 © wasser-prawda Musik Trampled Under Foot: Wie man durch die Dunkelheit der Nacht kommt Trampled Under Foot ist eine heiße Bluesband aus Kansas, die Bob Margolin zu Recht als „one of the most popular und visible bands on today‘s blues scene“ gelobt hat. Es ist eine Familienband, die aus einer Schwester und zwei Brüdern besteht. Danielle, Kris und Nick haben nicht mehr zurück geschaut, seit sie im Jahr 2008 die 24. International Blues Challenge in Memphis gewonnen haben. Seither haben wir von ihnen zwei exzellente Alben, „Wrong Side of the Blues“ (2011) und im Juli dieses Jahres „Badlands“ zu hören bekommen. Letzteres erreichte Platz 1 der Billboard Blues Charts. Von Gary Burnett. Der Name der Band stammt von einem Song von Led Zeppelin, zu finden auf dem 1975 erschienenen Album „Physical Graffiti“ und sie spielt ungezügelten Bluesrock. Die Geschwister stammen © wasser-prawda 23 Musik aus einer Blues-Famiilie und haben unüberhörbar ein tiefes Verständnis davon, worum es im Blues geht. Danielle Schnebelen sagt: „Blues bedeutet für mich raue Emotion. Er ist das, was Deine Seele durch Musik erzählt. Er kann nicht nachgemacht werden, man kann ihn nicht kaufen. Er hat keine Limits und Du kannst ihm definitiv nicht davonlaufen. Ich lerne, wer ich bin durch den Blues, durch die Songs, die ich schreibe, die Musik, die ich spiele. Ich lerne, wie stark ich bin und wie absolut verletzlich ich mich manchmal fühle ebenso.“ Ihr Brudeer Kris stimmt Willie Dixon zu der sagte Blues is the truth: „Der Blues ist die Wahrheit im Leben, in der Liebe und in persönlichen Erfahrungen.“ Das neue Album „Badlands“, das nach Meinung der „Blues Revue“ das Album sein könnte, das alle anderen im Rennen um das Beste Blues Album des Jahres schlagen könnte, ist vollgepackt mit Melodien voller Soul, leidenschaftlichem Gesang, pulsierendem Schlagzeug und eingängigen Gitarren-Riffs. Das ist moderner elektrischer Blues vom Besten. Schlagzeuger Kris Schnebelen hat gesagt, der Blues solle „modern, voller Energie und Seele, vibrierend und überhaupt die beste Live-Musik, die man sich vorstellen kann, sein.“ Mit diesem Album haben TUF das Bulls-Eye in der Beziehung getroffen. Einer der herausragenden Songs ist „Dark of the Night“, musikalisch eine einnehmende, funkige Nummer, die von Keyboard-Riffs und Danielles rauhem und gefühlvollem Gesang vorangetrieben wird. Der Text wirft einen langen, harten und realistischen Blick auf die Welt um uns herum. Und ihm gefällt nicht, was es zu sehen und zu hören gibt: „Schreie, die in den Straßen widerhallen ... und in meinem Verstand“, „Schreie von Müttern, die ihre Babies schon zu Beginn ihres Lebens verlieren.“ „Ein Leben zu leben ohne dieses Elend, sollte doch nicht zu viel verlangt sein,“ singt Danielle. Der Song erkennt, dass der Abstand der zwischen Reichen und Armen besteht wächst, selbst in den modernen westlichen Demokratien 2013. “People can’t eat, Wind up on the street Doin’ things they said they’d never do, Just to make ends meet.” Die Wohlstandskluft zwischen dem oberen Prozent und den unteren 99 Prozent in der wohlhabendsten Nation, den USA, ist so groß wie zuletzt vor rund 100 Jahren, wenn man den jüngsten Studien von Ökonomen der Universität Berkeley, der Pariser School of Economics und der Oxford University folgt. In den Vereinigten Staaten verfügen 20 Prozent der Menschen mittlerweile über 80 Prozent des Reichtums, während 60 Prozent der Bevölkerung nur noch rund fünf Prozent des Reichntums besitzt. Großbritannien kehrt nach einem im letzten Jahr veröffentlichten Report von Oxfam in großer Schnelligkeit zu Dickenschen Verhältnissen bei der Ungleichheit zurück. Und wenn wir noch weiter in die Welt blicken, dann gehören 0,1 Prozent aller Menschen rund 80 Prozent des finanziellen Reichtums. “Where’s it all gone?”, fragt das Lied und klagt dann, dass die Höflickeit verschwunden ist. Höflichkeit und nachbarschaftliche Gesinnung sind immer die Opfer einer aggressiven Anhäufung von Reichtum in einer Gesellschaft. Der Alttestamentler Walter Brueggemann charakterisiert die Herrschaft der ägyptischen Pharaonen als die einer bedenklichen Anhäufung von Reichtum. Es sei „eine räuberisches System, dass frei von nachbarschaftlichem Verhalten die Machtlosen wie ersetzbare Einzelteile behandelt. Er beobachtet die gleiche Dynamik in unserer modernen Welt und kommt zum 24 © wasser-prawda Musik Schluss, dass Anhäufung von Reichtum nachbarschaftliches Verhalten zerstört. Wass ist zu tun? Die Ungleichheit in der Welt ist ein komplexes Problem, das ungleiche Steuern beinhaltet, unfaire Handelsbedingungen, die die ärmeren Nationen benachteiligt, globale Klimaerwärmung, ein kaputtes Bankensystem und Spekulation mit Grundbedürfnissen der Menschen. Einige dieser Dinge kann man nicht schnell reparieren, obwohl schon viel erreicht werden kann, wo immer normale Menschen „Genug“ schreien und sich für Veränderungen zusamenschließen. TUF‘s Lied verweist auf eine andere, viel grundlegendere Notwendigkeit: “We clearly can’t do it alone, we need some help to get across. So let’s get it together, Join hands one and all Turn this world around before we take a fall We need the Holy Spirit, and his praises shine Every child needs a brother and a mother needs some love in their life And He brings joy with that healing light To make it through the dark of the night.” “Well, we’re crying for a change,” sagt der Song - und die Veränderung beginnt mit mir. Mit der Hilfe des Heiligen Geistes muss jeder Einzelne seinen Teil beitragen, einander die Hand zu reichen, anderen etwas Liebe in ihr Leben zu geben und nach dem „heilenden Licht“ zu suchen, mit dem man die Dunkelheit der Nacht überwinden kann. © wasser-prawda 25 Musik 26 © wasser-prawda Musik Blind Willie Johnson: Lampen, Hochzeiten und Gerechtigkeit Blind Willie Johnson ist einer der einflussreichsten der frühen Bluesmen mit seinen Songs, die über die Jahre hin von Rev. Gary Davis und Fred McDowell ebenso gesungen wurden wie später auch von Rockbands wie Grateful Dead, Led Zeppelin, Bruce Springsteen und den White Stripes. Von Gary Burnett. Titelbild: Ulrich Rauchbach. Johnson wurde dadurch geehrt, dass eines seiner Lieder auf einer speziellen Aufnahme vertreten ist, die an Bord der Raumsonde Voyager, die 1977 gestartet wurde, um die Grenzen des Sonnensystems und die Tiefen des Raums zu erreichen. Die Goldschallplatte der Voyager enthält außerdem beispielsweise Musik von Beethoven, Mozart und Stravinsky. Was anderes intelligentes Leben im Universum mit Willie Johnson‘s „Dark Was The Night“ anfangen wird, das sollte sich jeder selbst ausdenken. Geboren 1897 in Texas erblindete er schon in jungem Alter, angeblich geriet er in einen Kampf zwischen seinem Vater und der Stiefmutter, die ihm eine Hand voll Ätznatron, ein stark basisches Reinigungsmittel, in die Augen warf. Sein Leben war war eines in Armut und er starb vor seinem 50. Geburtstag in den schlimmsten Zuständen, die man sich vorstellen kann. Er bekam Malaria, nachdem er in den Ruinen seines Hauses geschlafen hatte, das bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Die Berichte unterscheiden sich, aber scheinbar hatte man ihm die Behandlung im einem Krankenhaus verweigert entweder weil er blind oder weil er schwarz war. Zwischen 1927 und 1930 nahm Willie Johnson 30 Lieder für Columbia Records auf und verkaufte mehr als Bessie Smith mit seiner ersten Schallplatte „I Know His Blood Can Make Me Whole/Jesus Make Up My Dying Bed“. Die Weltwirtschaftskrise allerdings beendete Johnsonsn Plattenkarriere und er verbrachte sein Leben meistenteils mit Straßenmusik und Predigen an den Straßenecken. Er war ein versierter Gitarrist, spielte manchmal in einem rhythmischen Picking-Stil und manchmal Slide mit einem Metallring oder einem Messer. Eric Clapton nannte Johnsons Spiel auf „Nobody‘s Fault But Mine“ das „wahrscheinlich feinste SlideGitarrenspiel, dass man jemals hören wird.“ Am meistens erinnert man sich an ihn wegen seiner GospelBlues-Lieder. Zu denen gehören“Nobody‘s Fault But Mine“, „John The Revelator“, „Soul of a Man“, „God Don‘t Never Change“ und „Keep Your Lamps Trimmed and Burning“. Sein Stück „If I Had My Way I‘d Tear The Building Down“ brachte ihn ins Gefängnis. Offenbar spielte er vor einer Zollstation und man dachte, er verwende den Text, um einen Aufruhr zu provozieren. Das Lied ist allerdings eine Nacherzählung der biblischen Geschichte von Samson und Delilah. Später wurde es in der Bürgerrechtsbewegung populär. © wasser-prawda Das Titelbild hat der Bluesmaler Ulrich Rauchbach speziell für diesen Artikel gemalt. Das Original (Mixed Media, 100+80 cm) kann zum Preis von 1200 Euro bei ihm erworben werden. Anfragen per Mail an [email protected]. 27 Musik „Keep Your Lamps Trimmed and Burning“ wurde ein Standard von Mississippi Fred McDowell. Zuletzt wurde es auch von Ashley Cleveland, Luther Dickinson und Luke Winslow King gecovert. Das Lied verweist auf das Gleichnis, das Jesus im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums erzählt (1-12) von den zehn jungen Frauen Brautjungfern - von denen fünfen das Öl für ihre Lampen ausging. Die Szenerie ist die einer jüdisch-palästinensischen Hochzeit im ersten Jahrhundert. Hochzeitsprozessionen vom Haus der Braut zu dem des Bräutigams, begleitet von Gesang und Tanz, fanden normalerweise nachts statt und benötigten daher Licht. Die Lampen bei diesen Hochzeiten vermutlich Fackeln, vielleicht Stöcke, die mit ölgetränkten Lappen umwickelt waren. Fackelträgerinnen geleiteten die Braut zum Haus des Bräutigams, wobei sich der Bräutigam und seine männlichen Freunde anschlossen. In der Geschichte, die Jesus erzählt, warteten die Braujungfern außerhalb des Hauses der Braut auf sein Kommen, um sie zu seinem Haus zu begleiten. Bei diesen traditionellen Hochzeiten konnte sich die Ankunft des Bräutigams oftmals um Stunden verzögern, während die Verwandten der Braut über den Wert der ihnen gegebenen Geschenke feilschten, während sie den großen Wert der Braut hervorhoben. Die Fackeln wieder brauchten normalerweise alle 15 Minuten oder so neues Öl. Die Hälfte der jungen Frauen in der Geschichte hatten aufgepasst, dass sie genug Öl dabei hatten, damit sie bereit waren, wenn der Bräutigam schließlich kam. Die andere Hälfte musste schließlich im letzten Moment noch mal losgehen, um Öl zu kaufen und verpassten die Ankunft des Bräutigams, den Hochzeitszug und die Hochzeit. Der Knackpunkt des Gleichnisses kommt in der Warnung Jesu an seine Jünger: Darum wachet! Denn ihr wißt weder Tag noch Stunde. Christen haben das in verschiedener Weise interpretiert: Als Hinweis auf das Jüngste Gericht, auf unseren eigenen Tod oder dass Jesus Gottes Gericht über Israel vorhersage, weil das ihn zurückgewiesen habe. Das sah Matthäus gekommen in der Eroberung Jersusalems und der Zerstörung Israels im Jahre 70. Eigentlich ist es egal, in welchem Sinne wir es verstehen, der Befehl lautet, bereit zu sein für den Tag der Krise. Jesus sagt, dass es sich dabei speziell um die Herrschaft des kommenden Gottes handelt, so dass wir die Geschichte als Illustration dessen nehmen könne, wie Menschen in der Nachfolge Jesu handeln sollen, vor dem Hintergrund der Herrschaft Gottes, wann auch immer die Entscheidung ansteht. Wenn wir ein Stück weiterlesen in Matthäus 25 kommmen wir zu der Geschichte vom Großen Gericht, wo Jesus darüber spricht, wie Gott am letzten Tag richten wird - und, vielleicht zu unserer Überraschung, geschieht das auf Grundlage, wie gerecht wir gelebt haben. Wie haben wir die Armen, die Gefangenen, die Kranken, die Obdachlosen behandelt? Wir können wir erkennen was „seid wachsam“ bedeutet: es meint, sich nicht einfach treiben zu lassen, bequem in unseren eigenen kleinen Welten, uns „zu Tode zu amüsieren“, wie es Neil Postman deutlich zusammengefasst hat. Vielmehr sollen wir uns aktiv einbringen in das Streben nach Gerechtigkeit, sollen wir sicherstellen, dass zunächst die Hungrigen zu essen bekommen, dass die Menschen Zugang zu sauberem Wasser haben, dass man nach den Obdachlosen schaut und sich um die Kranken kümmert und danach zu schauen, welche Ursachen dafür verantwortlich sind: die Ungerechtigkeit, Krieg, Vergeltung, die Interessen der Firmen. Das Königreich Gottes, von dem Jesus spricht, das geschieht nicht im Privaten, in der Innerlichkeit oder 28 © wasser-prawda Musik dem Persönlichen. Es ist nicht weniger als Gerechtigkeit, Frieden und Einigkeit für die Welt. Und dazu sind die Nachfolger Jesu aufgerufen. Nachdem er die Geschichte der weisen und törichten Brautjungfern in Erinnerung gerufen hat, ruft uns Willie Johnsons Lied dazu auf, nicht besorgt zu sein sondern darauf zu schauen, was der Herr getan hat. In einer Welt, die verzweifelt Gerechtigkeit braucht, ist das zu verstehen, dass Gott durch Jesus sein Projekt zur Veränderung der Welt begonnen hat und dass wir daran mitwirken könne. Und das wird uns in die Lage versetzen, der Angst vor der Krise zu begegnen und statt dessen in seiner Art zu leben, welche den Frieden und die Gerechtigkeit von Gottes Königreich demonstriert. “Keep your lamps trimmed and burning,” brummt Wille Johnson. Der Auftrag ist nicht, sich einfach treiben zu lassen in der Hoffnung, dass irgendwie das Öl schon reichen wird oder dass der Tag der Krise irgendwie an uns vorbei gehen wird. Statt dessen sollen wir wachsam und bereit sein das Neue von Gott zu demonstrieren, den gerechten Weg, Mensch zu sein und wenn wir das machen darauf zu vertrauen, „what the Lord has done.“ © wasser-prawda 29 Musik DAWES (v.l.n.r.: Griffin Goldsmith, Taylor Goldsmith, Wylie Gelber [nicht im Bild: Keyboarder Tay Strathairn]) Von Jungspunden und gewissen Affinitäten Holger Schubert ist Labelmanager von Cactus Rock Records und Präsident des Rich Hopkins Fanclub Germany. Demnächst wird er wieder in seiner musikalischen Lieblingsregion in Arizona unterwegs sein, um neue Bands für sein Label zu entdecken. 30 Eine Nachlese zu Konzertbesuchen im September 2013 von Holger Schubert (Text und Bilder). DAWES (Kalifornien) in Berlin / Privatclub (12. September 2013) Die DAWES (ausgesprochen: Dors) aus Los Angeles standen schon lang auf meiner Konzert-Agenda. Schließlich gehörte deren zweites Album „Nothing Is Wrong“ aus dem Jahre 2011 zu meinen Jahres-Top-Ten. Also nichts wie nach Berlin in den Privatclub - einer kleinen, aber feinen Location mit Bar und ausreichend Platz für bis zu etwa 150 Personen. Allerdings verwunderte doch etwas, dass der bereits recht renommierte Vierer einen derart kleinen Club bespielte und letztlich sollten - um es vorweg zu nehmen - an die etwa 100 Liebhaber dieser Musikrichtung huldigen. Zwar tourt die Band unter dem Tourtitle „Stories Don’t End“ ihres nunmehr dritten - in diesem Frühjahr erschienen - Albums durch Europa. Analysiert man jedoch die zur Aufführung gelangten Songs, so übertriff t der zweite Silberling/das schwarze © wasser-prawda Musik Vinyl (insgesamt 7 Songs) den aktuellen Player zwar nur um einen Song in der Setlist. Allerdings scheint mir das ein Fingerzeig dafür, dass der Nachfolger des Debüts „North Hills“ [2009] (mit 2 Songs vertreten) bei der Band (wie auch bei mir) nach wie vor hoch im Kurs steht. Bei dieser Vielzahl an genialen Bands und Solo-Acts kommt man einfach nicht vorbei, bestimmte Schubladen zu öffnen, um diese Künstler in diesem oder jenem Genre oder diesem oder jenem (sicherlich auch) Vorbild ein wenig zu zuordnen. Wobei ich mir schon seit langem angewöhnt habe, mich vor dem entsprechenden Konzertbesuch nicht noch einmal mit dem jeweiligen Objekt der Begierde inhaltlich oder soundtechnisch zu beschäftigen. Nur das, was ich mir länger zurückliegend angelesen oder angehört hatte, liegt irgendwo in meinen Kopf abgespeichert und - ich gebe zu - ziemlich brach. Und wenn man dann so eine Band wie die DAWES vor sich auf der Stage rocken sieht, so kommt man nicht umhin zu sinnieren, dass einem hier stark Crosby, Stills & Nash (im Sommer hatte ich den Auftritt der drei Herren einfach mal ins sprichwörtliche Wasser in Dresden fallen lassen) oder natürlich auch dieses legendäre Trio ergänzt um Neil Young (wobei ich bei ihm ein glückliches Händchen mit dem Besuch seines legendären Auftritts in der Berliner Waldbühne und der darauffolgenden unfallbedingten Absage des Konzerts in Dresden bewies) kolportiert werden. Ohne den Herren C, S & N ob meiner Nichthuldigung ihres Gastspiels in Dresden nahe treten zu wollen, konnte ich mir ein breites Grinsen ob dieses genialen 105-minütigen Auftritts der DAWES nicht verkneifen. Alles richtig gemacht! Die Jungs fackeln wirklich nicht lange und legen gleich so richtig los. Und wieder einmal bewahrheitet sich auch heute, fast jeder Act kann live seine Albumergüsse nochmals toppen. So auch dieses Quartett! Denn beispielweise deren dreistimmigen Gesänge in feinster Harmonie von Leader Taylor Goldsmith (zugleich Axman an der Gitarre), dessen unglaublich innovativ Drums-bearbeitenden und synchron mit den Beats Grimassen schneidender Bruder Griffin Goldsmith und dem seit Ende 2010 in der Band befindlichen Keyboarder Tay Strathairn (der herrlich gediegene Soundteppiche über die Songs legt) werden so ganz nebenbei zu Hymnen - oder sind bereits welche. Lediglich Basser Wylie Gelber hält sich aus dem „Singsang“ heraus und bildet dafür gemeinsam mit dem Drummer eine sowas von stimmige Rhythm-Section, dass es anfangs (aber nur kurz) schwerfällt diesen Jungspunden das überhaupt über die gesamte Konzertdistanz zuzutrauen. Na klar, scheint der Frontmann in Persona von Taylor Goldsmith über allem und jedem zu thronen. Jedoch nicht bei dieser Band. Hier geschieht vieles (vielleicht auch alles) in Gemeinschaftlichkeit und purer Hingabe! Diese Band atmet ein Flair der Extraklasse und das bereits in diesem zarten Alter - gerade mal jenseits der Mitte 20. Man ist gehalten, ihnen das noch lang zu vergönnen und von ganzem Herzen zu wünschen! Setlist Dawes 01 From A Window Seat 02 The Way You Laugh 03 Most People 04 Fire Away 05 Anchor 06 Bear Witness 07 From The Right Angle 08 So Well 09 When My Time Comes 10 Coming Back To A Man 11 Just Beneath The Surface 12 Peace In The Valley 13 Time Spent In Los Angeles 14 Someone Will 15 A Little Bit Of Everything 16 If I Wanted Someone (Encore) 17 Hey Lover (Encore) [Blake Mills Cover] ANDREW COLLBERG (Arizona) in Leipzig/ naTo (14. September 2013) ANDREW COLLBERG wiederum „kenne“ ich schon länger. Meine Affinität zum Südwesten der Staaten, speziell zu Arizona und im Besonderen zu Tucson hat dies letztlich bewirkt. Mehrfach schon in Tucson live erlebt und einmal im Rahmen der 2012er © wasser-prawda 31 Musik ANDREW COLLBERG (v.r.n.l.: Andrew Collberg, Connor Gallaher) „Tucson Songs On Tour“ auch schon hierzulande begrüßt, war es beinahe Pflicht diesem -ebenfalls- Jungspund (erst vor wenigen Tagen beging er seinen 25. Geburtstag) bei seinem Auftritt in Leipzig „beizustehen“. Jedoch wie beschämend war das denn: Gerademal 30 Besucher fanden den Weg in die „naTo“. An der Location und dessen Lage -schön eingebettet in die studentische Flaniermeile der sächsischen Metropole (der Karl-LiebknechtStraße)- konnte es nicht liegen. Lag es etwa am Wetter und dem Tag? Das spätsommerliche Wetterintermezzo lockte an diesem Samstag (wohl zum Bedauern der Veranstalter) alles Mögliche an Publikum in die Biergärten beiderseits der Street jedoch nicht in den Club, der aus meiner Erfahrung eine gute Reputation in der Stadt genießt und einen nahezu idealen Eindruck als konzertantische Spielstätte hinterlässt. Auch am Ticketpreis konnte es nicht liegen (lächerliche 10 €)! Also was waren die möglichen Umstände, die zu solch einem Negativambiente für den Künstler und die Veranstalter führten? Obwohl die „naTo“ über eine herrlich nostalgische Lightanzeige über dem Eingang zum Club verfügt, wurde diese meines Erachtens nicht vollständig als Informationsfaktum ausgeschöpft. „Nur“ zweizeilig ANDREW COLLBERG prangen zu lassen, reicht bestimmt nicht aus. Ich mache jede Wette, dass es noch so manchen angelockt hätte, wenn da außer dem Namen noch zu lesen gewesen wäre „FROM TUCSON ARIZONA“! Und offensichtlich zieht das studentische Publikum es vor, sich die Sinne lieber sitzend mit Alkoholika (das hätte man beides 32 © wasser-prawda Musik auch in der „naTo“ haben können), mit irgendwelchem Food (das wäre auch nach dem Konzert noch lange möglich gewesen) oder mit stimulierenden Substanzen (z.B. Wasserpfeifen) zuzudröhnen. Richtig schade eigentlich! Was allerdings Mister ANDREW COLLBERG mit seiner 3-köpfigen Band zu diesem Opening Gig seiner „Mind Hits“-EuropeanTour daraus machte, nötigt mir meinen vollsten Respekt ab und findet meine tiefste Hochachtung! Der ursprünglich in Schweden Geborene lebt nunmehr schon seit vielen Jahren in Tucson - diesem musikalischen Schmelztiegel aus Desert-geschwängertem Rock, Country und Pop sowie dem immer stärker herüber schwappenden Mexicana-Sound der nahen Grenze zu Mexiko. Bereits im zarten Alter von 18 Jahren veröffentlichte das Jungtalent ANDREW COLLBERG sein Debüt-Album. Vier Jahre später gelingt ihm mit „On The Wreath“ ein erstes Meisterstück - von keinem Geringeren produziert als Nick Luca, der bereits Calexico oder Iron & Wine zum internationalen Durchbruch verhalf. Auch das neueste Machwerk „Mind Hits“ hat Nick Luca „zu verantworten“. Gerade wurde es Europa-weit veröffentlicht! Andrew - Multiinstrumentalist (er spielt Wurlitzer-Orgel, Gitarre, Klavier, Schlagzeug) und Leadvocalist - ist mit seiner Bühnenpräsenz entweder hinter der Orgel oder an der zweiten Gitarre die personifizierte Rock-Pop-Institution. Seine Stimme erklingt zart und manchmal auch herzzerreißend. Irgendjemand hat seine kompositorischen und seine SongwriterQualitäten mal mit „dem Maler, der mit Pinsel und Leinwand statt mit Pixeln und Bildschirm agiert“ umschrieben. Sehr treffend! Ein unbekümmerter Jungspund eben! Sein kongenialer und langjähriger „Gegenpart“ im Studio und on Stage ist ein gewisser Connor Gallaher. Als ich ihn zum ersten Mal in Tucson bei einem lokalen Festival in der Band von Andrew wahrnahm, war meine damalige spontane Erkenntnis: hier steht schon ein ganz Großer auf der Bühne! Wie Connor mit seiner Leadgitarre, seinem Amp und seinen „Tretminen“ in großer Perfektion spielt, ist unglaublich und schwer in Worte zu fassen. Hier in Leipzig scheint er dies in seiner jugendlichen Unbekümmertheit und Frische noch weiter entwickelt zu haben. Meine Augen jedenfalls haften oftmals mehr an ihm als an Andrew (sorry!). Interessant scheint bisweilen und unter finanziellen Aspekten mehr als nachvollziehbar zu sein, sich für die Rhythm Section hierzulande oder im benachbarten Ausland nach talentierten Musikern umzuschauen und damit die Investitionskosten um einen nicht unbeachtlichen Betrag zu minimieren. So kommen mit Christopher Martin (Bassgitarre) und Niklas Schneider (Schlagzeug) zwei doch schon gestandene Musiker und bestimmt keine No Names zu Ehren, einen Andrew Collberg und einen Connor Gallaher auf deren Europatour begleiten zu dürfen. Was logischerweise beiden Seiten nur dienen kann! Und was das Besucherinteresse betriff t: Beim nächsten Mal wird vieles besser! LAYLA ZOE (Kanada) in Erfurt/ Museumskeller (24. September 2013) Gespannt durfte man auf LAYLA ZOE (ausgesprochen: So) sein, die in Fach- und Fankreisen gern als „Canada’s Darling Of Blues“ gefeiert wird. Auch hier galt vor dem Konzertbesuch: Kein Einlesen oder Einhören in die Bio- und Diskografie! Und so kam nicht von ungefähr, dass ich Layla sofort von Anbeginn an mit einer gewissen Janis Joplin -insbesondere optisch- in Verbindung brachte. Nein, © wasser-prawda 33 Musik LAYLA ZOE (v.r.n.l.: Layla Zoe, Jan Laacks [nicht in dem Bild: Drummer Hardy Fischötter, Bassist Gregor Sonnenberg]) Setlist Layla Zoe 01 Glory Glory Hallelujah 02 I Choose You 03 Mothers House 04 Gemini Heart 05 Singing My Blues 06 Pull Yourself Together 07 The Lily 08 Hey Hey, My My [Neil Young Cover] 09 Star 10 They Lie 11 Why You Afraid 12 Never Met A Man Like You 13 Father 14 Give It To Me (Band Jam) 15 R And R Guitar Man 16 Hippie Chick 17 Let It Be (Beatles Cover] 34 Janis „The Pearl“ Joplin hatte ich nie live erleben dürfen. Jedoch gibt es über sie bekanntermaßen genügend Videomaterial und so drängt sich einem dieser Vergleich zwischen beiden unweigerlich auf. Auch stimmlich versucht sich eine LAYLA ZOE eng an ihrem Vorbild zu orientieren. Was ihr sehr augenscheinlich auch gelingt. Mag sein, dass Layla perfekt in das Bluesgenre einzuordnen ist. Mein Eindruck (und der eines Erstbesuchers ihrer Konzerte) war allerdings ein anderer. Diese kleine, zierliche, charismatische, rothaarige und von Tattoos überfrachtete Frau beherrscht noch viel mehr als „nur“ den Blues. Gleich zu Beginn (und zum Finale) beindruckt sie mit perfektem phrasierten Gospelgesang. Um dann auch gleich mit ihrer 3-Mann-Band loszurocken, als gebe es kein Morgen mehr. Klar, ist diese Frau ein Hingucker! Das weiß sie zu genau! Und so lässt sie ihre Stimme so perfekt aus dem inneren Ich an die Öffentlichkeit pulsieren, um im nächsten Augenblick optisch die wildesten Körper-Bewegungen -barfuß versteht sichzu zelebrieren und ihre Mähne noch einen Kick wilder um sich tanzen zu lassen. Sicherlich kommt diese vordergründige Blues-Zuordnung nicht von ungefähr. Ist sie doch seit ein paar Jahren mit dem deutschen Vorzeige-Blueser Henrik Freischlader eng befreundet. Und jener hat nicht nur ihr neuestes Produkt „The Lily“ (gerade veröffentlicht) produziert und außer den Keyboard-Passagen alle Instrumente eingespielt. Nein, auch an den Vorgänger „Sleep Little Girl“ (2011) hatte er bereits deutlich Hand angelegt und beide © wasser-prawda Musik konsequenterweise auch auf seinem eigenen Label veröffentlicht. In ihrem Heimatland selbst brachte Layla bisher 5 Alben heraus. Wieder einmal beweist sich an diesem Beispiel, dass die deutsche Musiklandschaft international momentan als sehr prägend und innovativ gilt. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass auch eine LAYLA ZOE für ihre Begleitband auf dieser Europa-Tour deutsche Spitzenmusiker ausgewählt hat (natürlich auch aus finanziellen Gründen wie schon bei Andrew Collberg kurz umschrieben). Und wenn Henrik Freischlader gerade mal Zeit hat, dann gibt er selbst den Guitarhero in ihrer Band. In Erfurt im gut gefüllten (etwa 100 Besucher) Museumskeller (einem Club der Extraklasse) war das (leider) nicht der Fall. Jedoch braucht sich ein Jan Laacks gerade deshalb keinesfalls zu verstecken. Ist es doch immer wieder wohltuend, solch talentierte Musiker erleben zu können. Zu dieser Kategorie gehört auch der junge Basser Gregor Sonnenberg. Und ein Hardy Fischötter hält als gestandener Drummer das „Ensemble“ auf der Basis seiner Erfahrungen -schließlich spielte er Höchstselbst bei Henrik Freischlader- außergewöhnlich gut zusammen. Das Layla Zoe mehr als nur den Blues beherrscht, beweist sie nicht nur damit, dass sie ihre Version vom Neil Young Klassiker „Hey Hey, My My“ auf ihr neuestes Album befördert hat, sondern auch, dass dieses Cover fester Bestandteil ihrer momentanen Setlist auf dieser Tour ist. Und wer sich das Symbol von Hunab Ku (die Maya lassen grüßen) auf den linken Fuß tätowieren lässt, gehört schon deshalb zur spirituellen Extraklasse! © wasser-prawda 35 Musik Peter Schmidt, Bernd Kleinow, Blues Rudy (v.l.n.r.) 4. Mittweidaer Bluesnacht Es war die nun mehr vierte Bluesnacht von Mittweida, einem kleinen beschaulichen Städtchen unweit von Chemnitz/Sachsen und alle, alle kamen in die tolle Bürkelhalle der Fichteschule an dem schönen Herbstabend des 28. September. Text und Fotos: Karsten Spehr. Ok, sicher leicht übertrieben, aber etwas über 300 Besucher, da träumen wir andernorts trotz großer Bemühungen leider nur davon. Abgesehen von einem sehr vielversprechenden Line Up mit den „Dreien“ - Peter „Dodge“ Schmidt, Blues Rudy alias Uwe Haase und Bernd Kleinow sowie der Hamburg Blues Band feat. Maggie Bell und Miller Anderson ist der Erfolg dieser Veranstaltung auch wesentlich dem großen Engagement der beider Macher Ulrich Geier und Michael Fessler sowie deren Helfern zuzuschreiben. Lange Rede kurzer Sinn, das Ambiente inklusive der hervorragenden Caterings stimmte, die Leute waren zahlreich erschienen nun konnte die Bluesnacht beginnen. Die drei Musiker,die sich schon in DDR-Zeiten eines guten Namens rühmen durften, Schmidt/ Kleinow/Blues Rudy legten sich auch sofort mit gewohnter Spielfreude ins Zeug. Spätestens mit ihrem zweiten Stück, der Sonny Boy Williams(II)-Nummer „Help Me“, hatten sie die Mittweidaer voll im Griff. Es folgten ein mitreißender Mix aus balladesken Songs wie „Take Me Back“ oder der Allman Brother Song „Soul Shine“ im Wechsel mit treibenden Nummern wie „On The Road 36 © wasser-prawda Musik Hamburg Blues Band: Becker - Lange - Miller. Maggie Bell Again“, auch ein „Route 66“, „Crawfish“, „Midnight Special“ waren da ebenso zu hören wie der groovende Slowblues a‘la T Bone Walker „Mean Old Woman“ und immer wieder mal für Stimmung sorgende Fetzer wie „Rollin‘ & Tumblin“. Drei Virtuosen auf ihren Instrumenten,bei denen man spürte wie ihnen das Musizieren Spaß macht,wunderbare und nicht zu übertriebene Soli an den Saiten von Peter und Rudy und einem Bernd Kleinow, der sich die Seele aus dem Leib blies. Zum Schluß gab es nochmal, sicher nicht zuletzt Rudy‘s Vorliebe für Canned Heat“ geschuldet, ein schönes „Drifting“ zu hören, ehe die überzeugenden „Drei“ nach zwei Zugaben die Bühne für die Jungs aus St. Pauli und ihre Gäste frei machten. Nach einer kleinen Pause standen der langjährige Bandleader Gert Lange, Bassist Michael ‚Bexy‘ Becker und Schlagzeuger Hans ‚Hansi‘ Wallbaum auf der Bühne, diesmal verstärkt durch keinen Geringeren als den britischen Ex- Gitarristen und Sänger von Keef Hartley, Mountain, der Jon Lord-Band, Savoy Brown, T Rex, Chikken Shack und, und, und auf der Mittweidaer Bühne und legten auch gleich richtig mit „Rollin“, „Stony Times“ oder „Little Man Dancing“ einiges vor. Gitarrenvirtuose Anderson, der zwischendurch auch gleich mal zur Harp griff und sich dabei beachtlich schlug, zog dann eine großartige Version des Keef Hartley-Klassikers „Just To Cry“ aus dem Hut. Wer etwas im Stoff stand, dem mußte wohl klar sein, das Anderson diesen Song schon vor 44 Jahren auf dem „Love & Peace“ Festival in Woodstock zum besten gab. Für einen Teil des Publikums schien der eigentlich wie gewohnt immer etwas rockigere erste Teil der legendären HBB etwas überraschend und gewöhnungsbedürftig zu sein. Spätestens beim © wasser-prawda 37 Musik Maggie Bell, Hansi Wallbaum Erklingen des Fleetwood Mac-Klassikers „Rattlesnake Shake“, welcher den Gaststar geprägten zweiten Teil des Konzertes einläutete wurde es wieder etwas bluesiger und das verbliebene Publikum ging mit und feierte die, immer noch beachtlich, stimmgewaltige ehemals „Stone The Crow“- Frontfrau Maggie Bell, die ihren Part mit „High Tide & High Water“ begann um dann mit einer fullminanten Version von „Wishing Well“ gleich noch einen drauf zu setzen! Mit dem feinen Tom Waits-Song „Down In The Hole“ gefolgt von Stücken wie dem „Penicillin Blues“ ließ die enegiegeladene Maggie trotz knapper sieben Lebensjahrzehnte, nichts anbrennen. Ihr Auftritt mit den Jungs aus St. Pauli, die als eine der besten deutschen Blues Rock Formationen gelten und einem brillianten Miller Anderson, gipfelte in einer feinen Version von „Respect Yourself“ die sich dann in Form eines abschließenden Medley‘s bis zu „Papa Was A Rolling Stone“ von Temtation ausweitete. Trotzdem muß man sagen, etwas mehr Herzblut, wie bei den „Dreien“, täte den St.Pauli-Jungs trotz aller Professionaltät gut! Alles in allem ein gelungener Abend, da schien auch die Tatsache, das die Hamburger Blues Rocker keine Zugabe gaben und auch eine angedachte Session leider nicht zustande kam, für die Masse des Publikums nicht übermäßig ins Gewicht zu fallen. Wir dürfen also auf kommende Mittweidaer Bluesnächte gespannt sein. 38 © wasser-prawda Musik Miller Anderson - Bernd Kleinow © wasser-prawda 39 Musik Die MDR FIGARO-Nacht mit Malia im Chemnitzer Opernhaus Mit mehreren gelungenen Veranstaltung rund um die Themen „Musikimpulse aus dem Osten Deutschlands“ und „Chemnitz - eine ‚gesichtslose‘ Stadt?“ widmete sich der Kultursender Mitteldeutschlands live und vor Ort der sächsischen Industriestadt und seiner Kultur. Diese Thementage gipfelten schließlich in der seit Wochen ausverkauften MDR FIGARO-Nacht am 20. September im ausverkauften Chemnitzer Opernhaus. Text und Fotos von Karsten Spehr. In einem beachtlichen und durchaus gelungenen Spagat zwischen Klassik und Jazz boten die Figaromacher ein abendfüllendes Programm, mit Klassik , Filmmusik, Pop bis Jazz, welches durch das MDR Sinfonieorchester und der Robert-Schumann-Philharmonie und der diesjährigen „Echo-Jazz Awards“-Gewinnerin Malia bestritten wurde. Möglicherweise nicht ganz ungewollt, passte die Veranstaltung bestens zur der durch geplante Sparmaßnahmen hervorgerufenen leidlichen Disskussion um die Erhaltung oder Nichterhaltung einer bravourös agierenden Robert-Schumann-Philharmonie in Chemnitz. Und das Ganze war auch noch via Internet-livestream in der ganzen Welt mit zuerleben. Durch die erste Hälfte des Abends führte Moderator Thomas Bille souverän, gekonnt und aktuell zwischen klassischen Stücken wie Verdi‘s Overtüre zu „Nabucco“ oder Auszügen aus Giacomo Meyerbeers Oper „Vasco da Gama“ 40 © wasser-prawda Musik , unter anderem mit der Arie „Ines“ gesungen von der hervorragenden Sopranistin Guibee Yang, bis zu Dvořák, Tschaikowski und Mozart mit prominenten Chemnitzern (Intendant Cristoph Dittrich,GMD Frank Beermann oder der Generaldirektorin der Städtischen Kunstsammlungen Ingrid Mössinger) kleine Gespräche quer durch die kulturpolitische Landschaft von Chemnitz. Dann kommt eine gewagte, aber meiner Meinung nach sehr geglückte, musikalische Überleitung mit Auszügen aus John Williams „Star Wars“ und einem wunderbar gefühlvollen „Summertime“ aus Gershwin‘s „Porgy and Bess“ -als Variante von Malia mit der Schumann-Philharmonie bevor, nach einer angemessenen Pause, die ursprünglich aus Malawi stammende und heute in London lebende Sängerin des Jahres- Malia, zu ihrem vom MDR Sinfonieorchester unterstützen Konzert anhob. Die zurecht für ihr Tribute an Nina Simone - „Black Orchid“, gekürte Sängerin und Songwriterin gab mit einer Ausnahme- nämlich dem temperamentvollen und gängigen Song „Fever“ ausschließlich eigenen Stücke, insbesondere von ihrem noch unveröffentlichen Album „Convergence“, zum Besten. Unter anderen erklangen die Songs: „Celestial Echo“, das soulig, funkige „Claire Cadillac“, „Raising Venus“, das etwas rockigere an Amy Whinehouse erinnernden Stück „ Purple Shoes“ oder die romantische Ballade „Rainbows“. Malia glänzte wie gewohnt mit leicht elegisch, jazzigem Gesang, der gelegentlich schon fast einem Hauch Sprechgesang ähnelt und durch ihr angeraut natürliches Timbre besonders hervorgehoben wird. Manchmal könnte man meinen, sie hätte bei Billie Holiday, Amy Whinehouse oder Cassandra Wilson zugleich Gesangsunterricht genommen- großartig! Leider war die Zeit war im Handumdrehen verstrichen und Malia durfte aufgrund großer Ovationen drei Zugaben geben. Das waren von ihrem 2007er Album „Young Bones“ „Little Blackbird“, das sie nur mit minimalster Bandbesetzung darbot. Es folgten nocheinmal „Fever“ und „Rainbow“ (sicher dem logischerweise nur begrenzt arrangiertem Repertoire mit dem MDR-Sinfonieorchester geschuldet). Allerdings kam hier ihre stimmliche Variabilität und ihr Können nocheinmal richtig deutlich zum Vorschein, indem sie die Stücke wesentlich sanfter interpretierte als im vorderen Teil des Konzertes und das Orchester ebenso, deutlich verträumter und minimalistischer – fast nur Streicher und Piano- die Darbietung von Malia untermalte. Ein durch und durch gelungenes Experiment des MDR Sinfonieorchesters und ihres Arrangeurs und Dirigenten Manfred Honetschläger mit der phantastischen Malia, die es so formulierte: „An amazing experience, for me!“ © wasser-prawda 41 Platte Des Monats Anders Osborne - Peace Nach der qualvollen Reise durch die „Black Eye Galaxy“ ist Anders Osborne auf der Suche nach mehr als ein bisschen Frieden. „Peace“ ist nach Osborne „light from the darkness“. Und dieses Licht sucht er bei Freunden und Familie ebenso wie er es im amerikanischen Alltag oftmals vermisst. Von Raimund Nitzsche. D a ist dieses Feedback am Anfang, quälend lang ruft es einem die Düsternis des Vorgängeralbums in Erinnerung. Doch dann löst der Titelsong die Qual auf und nimmt einen mit auf eine Reise von Woodstock hinunter nach New Orleans: Neil Young begegnet einem in der Musik des Songs ebenso wie akutelle Americana-Musik. Der Frieden ist hier das Ziel einer persönlichen Reise durch die Schatten der Vergangenheit hin in eine Gegenwart, die viel mehr Licht bietet, als der Künstler eigentlich erwartet hatte. Und dieser Faden zieht sich durch das ganze Album - ob nun in dem heftigen Bluesrocker „Five Bullets“ mit seiner trockenen Schilderung des amerikanischen Waffenfetischismus, dem melancholischen „Let It Go“ oder hemmungslos senti- 42 © wasser-prawda Platte Des Monats mentalen Nummern wie dem Schlussong „My Son“, einem wundervoll leichten Popsong voller Sonnenschein und Verliebtheit oder „Sentimental Times“. Der Blick aus dem Fenster (seines Cadillacs in „Window“) ist nicht frei von Selbsterkenntnis und -kritik. Doch letztlich ist es jetzt offen und sperrt ihn nicht mehr in sein eigenes Gefängnis ein. Anders Osborne ist nach den Kämpfen gegen die eigenenn Dämonen hörbar in eine friedlichere Gegenwart gekommen. Doch das hindert ihn nicht daran, mit seinen jetzt eher aus der Außenperspektive geschriebenen Liedern weiterhin schmerzhafte Themen anzusprechen. Nach dem Kampf gegen die eigenen Fehler ist jetzt Zeit und Raum, den Blick zu weiten. Wer bei Anders Osborne ein traditionelles Blues- oder Bluesrockalbum erwartet, der ist hier natürlich völlig falsch. Schon immer standen bei dem aus Schweden stammenden Songwriter mit Wahlheimat New Orleans die Songs und ihre Geschichten im Vordergrund, nicht eine irgendwie geartete stilistische Festlegung. Aus Rootsrock, Pop, Bluesrock und allen möglichen anderen Zutaten hat sich Osborne hier bedient für seine Reise zum inneren und äußeren Frieden. Zusammengehalten wird diese musikalische Überraschungstüte vom Sänger und Gitarristen Osborne: Voller Soul, rauh, heftig zupackend und dann wieder zärtlich und fast scheu der Sänger. Und die Gitarre verbeugt sich vor Neil Young ebenso wie vor heftigen Riffmeistern wie Keith Richards oder dessen Erben im Hardrock. „Brush Up Against Me“ könnte man als Hommage an Hendrix zu Zeiten von „Axxis Bold As Love“ hören oder auch als Erinnerung an Pink Floyd. „Peace“ ist das Album eines der wichtigsten Songwriter der amerikanischen Rockszene der Gegenwart, der sich auf dem Höhepunkt seiner Kreativität befindet. In seiner Vielseitigkeit ist es für die Zukunft des Blues und der Rootsmusik hilfreicher als die meisten rein traditionell gehaltenen Werke, die sich durch das sture Festhalten an den scheinbar ewigen Werten oftmals selbst einschränken und so eine Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Gegenwart unmöglich machen. Und außerdem: Dieses Plattencover muss man einfach lieben! Wer glaubt, dass der „Effenberg“ von Herrn Steinmeier einfach taktlos war, hat nichts verstanden! Nervigen Kritikern ein herzliches „Fuck Off !“ zu zeigen., war schon immer Rock&Roll. (Alligator/inakustik) © wasser-prawda 43 Platten Alela Diane - About Farewell Alben über das Ende von Beziehungen gibt es Hunderte. Wer immer sein gebrochenes Herz in Lieder zu verpacken weiß oder sich am Verflossenen rächen möchte, kann zu diesem probaten Mittel greifen. Songwriterin Alela Diane hat mit „About Farewell“ ein reduziertes Folkalbum veröffentlicht, bei dem die Lieder oft ganz auf Stimme, Gitarre und Klavier setzen, um die Trauer über das Ende in Klänge zu verwandeln. Die Liste ist lang: „Blood On The Tracks“ (Bob Dylan), „Still Crazy After All These Years“ (Paul Simon), selbst Springsteens „Tunnel of Love“ könnte man zu den Alben zählen, bei denen Künstler ihre Scheidung verarbeiten und die Manager jubeln über den Plattenumsatz. Die Erfahrung des Scheiterns zeitnah zu verarbeiten, bringt oftmals eine Direktheit und Verletzlichkeit in den Künstlern zum Vorschein, die sie dem Hörer von Popmusik menschlich näher rücken. Was tut man aber, wenn einem das Schaffen eines Künstlers vorher unbekannt war? „About Farewell“ ist ein Songzyklus, mit dem Alela Diane die Scheidung vom vorherigen auch musikalischen Partner Tom Bevitori thematisiert. Ruhig, traurig, fast schicksalsergeben kommen Lieder wie „Nothing I Can Do“ oder „Lost Land“ daher: Hier ist keine Hoffnung auf Besserung, aber auch kein wütendes Abrechnen zu hören. Sanft perlen die Gitarren, setzen Streicher ein paar Akzente. Und draußen ist der Herbst wieder in einer seiner drüb-nass-düsteren Phasen angekommen. Eine ganz schlimme Kombination für einen Romantiker. Denn hier ergänzen sich Musik und Außenwelt zu einer neuen künstlerischen Einheit, die einen ganz heftig in eine ebensolch traurige Stimmung versetzen kann. Und das meint: Auch wenn man Alela Diane noch nicht gekannt haben sollte, wenn einem die hinter dem Album stehende Trennung völlig egal ist - diese Lieder sind in ihrer Traurigkeit und Melancholie stellenweise gefährlich großartig gelungen. Raimund Nitzsche Ashleigh Flynn - A Million Stars Gab es starke Frauen damals im Westen, als der noch wirklich wild war? Mit einer Mixtur aus Bluegrass, Blues, Folk, Country und Rock geht Songwriterin Ashleigh Flynn dieser Frage nach und setzt Frauen wie „Prohibition Rose“ aus Portland ebenso ein Denkmal wie den Cowgirls Cattle Annie und Little Britches. Ja, so stelle ich mir ein Songwriter-Album vor: Eine Künstlerin erzählt Geschichten - wahre oder erfundene spielt dabei keine Rolle. Aber durch die Musik und ihre Persönlichkeit werden sie wahr und bedeutsam. Die aus Portland stammende Songwriterin hat sich für das von Chris Funk (The Decemberists) produzierte Album Lieder gesucht, die jedes für sich stehen könnten, als Zyklus aber eine viel größere Geschichte von Amerika erzählen. Von den ersten Cowgirls, die sich damals noch als Männer verkleiden mussten über die Zeit der Prohibition bis in die Gegenwart einer ermordeten ermordeten Staatsanwältin, mit der Flynn befreundet war, spannt sich der Zyklus über starke Frauen in Amerika. Die Musik dazu ist Americana pur, klingt mal mehr nach Bluegrass, mal nach Country, mal nach Oldtime Jazz oder Blues. Sehr hörenswert! Nathan Nörgel 44 © wasser-prawda Platten Bare Bones Boogie Band - Ta ered & Torn War ihr zweites Album „Blue“ eine prima Rockscheibe mit ausgezeichneter Sängerin, so geht die Bare Bones Boogie Band mit „Tattered & Torn“ noch ein Stück fort von den Blueswurzeln hin in Richtung Soul und Rock. Und das führt zu großartiger Musik. Wenn Bands behaupten: Das ist unser bestes Album bislang, dann gehört das zur PR-Folklore, der Spruch ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Wenn Musiker was anderes behaupteten, würden sich die Fans fragen: Brauchen wir das Album wirklich oder sollten wir das Geld nicht lieber in einen Kinobesuch investieren? Wenn die Bare Bones Boogie Band jetzt also „Tattered & Torn“ als ihr bestes Album bislang ankündigt, ist normal. Aber die vier Musiker haben auch recht: Ohne das Konzept einer ganz auf eine fantastische Sängerin eingestellte Rock- und Bluesband zu verraten, sind die Musiker hier wesentlich reifer und die Songs runder und zwingender als auf dem schon sehr guten Vorgänger: Der Opener „Love Like Leather“, der mit sanfter Akustikgitarre beginnt und sich langsam in eine Rocknummer reinsteigert. Oder „Black Coffee“, die lange schon fällige Hymne auf das Getränk, ohne dass der Tag nicht wirklich beginnen kann - verführerisch, rauh und unwahrscheinlich sexy. Oberflächlich gehört gibt es auf „Tattered & Torn“ vielleicht nicht den automatischen Radiohit. Dafür sind die Songs aber schon wegen dieser unwahrscheinlichen Stimme von Helen Turner von einer gewaltigen Langzeitwirkung. Und was ich schon in meiner Besprechung zum Vorgängeralbum gesagt habe, gilt auch hier: Gitarrist Ian Black, Trev Turner (bg) und Schlagzeuger Andy Jones liefern der Sängerin genau die richtige Begleitung. Da werden die Solos sparsam eingesetzt, kommen dafür aber im exakt richtigen Moment. Und jede Änderung der Dynamik machen die drei Herren mit, so dass nichts von den Songs und ihrer Sängerin ablenkt. Und das ist für mich der Inbegriff einer großartigen Band. „Tattered & Torn“ ist ein Album, das der Band auch international zum Durchbruch verhelfen könnte. Voller Soul, Gefühl - aber mit Ecken und Kanten wird hier zeitgemäßer Bluesrock serviert. Prima! Nathan Nörgel Beige Fish - Down Home Shuffle Der Müncher Songwriter, Gitarrist und Produzent John H. Schiessler war mir erstmals durch seine Mitwirkung an „Seven Deadly Sins“ von Nina van Horn aufgefallen. Jetzt hat er mit „Down Home Shufflle“ das dritte Album seines Bluesprojektes Beige Fish veröffentlicht. John H. Schiessler weiß, wie man atmosphärisch dichte Bluessongs schreibt und produziert. Schon vom Opener „Alyssa May“ ab ist da diese Ahnung vom sumpfigen Mississippi-Delta in der Luft. Und wenn Schiesslers Gitarren sich in einigen Songs mit der großartigen Slide-Gitarre von Masahiro Todani (Nina van Horn Band) vereinen, dann bleiben kaum noch Wünsche offen. Besonders die Country-Nummer „Both Sides“ und „Love Is Strange“ sind wundervolle Nummern. Zu Schiesslers eigenen Songs kommen auf dem Album noch ein paar Coverversionen. Ob man wirklich „Rollin And Tumblin“ und „Come On In My Kitchen“ nochmals interpretieren muss, wage ich zu bezweifeln. Aber Stephen Stills „Down The Road“ und „Trouble“ von Lowell George machen gehörigen Spaß. © wasser-prawda 45 Platten Hauptproblem von „Down Home Shuffle“ ist für mich das Fehlen einer „echten“ Band: Grooves aus dem Computer passen für mich schlecht zu den eigentlich ganz traditionellen Songs zwischen Deltablues, Country und Bluesrock. Hier fehlt einfach der Drive, den eine Rhythmusgruppe live im Studio liefern kann. Es wird Zeit, dass aus Beige Fish eine richtige Band wird. Dann kommen die sehr guten Songs meiner Meinung nach noch viel besser zur Geltung. Ansonsten: Unbedingt reinhören! Nathan Nörgel Big Joe Shelton - I‘d Never Let Her Down Ist das Retro? Ist das traditionell? Was Big Joe Shelton aus dem Nordosten Mississippiss auf seinem dritten Album „I‘d Never Let Her Down“ spielt, hätte man so oder ähnlich auch schon in den 50er Jahren auf Platte pressen können: Ganz der Tradition des Nachkriegsblues aus Chicago und Mississippi swingt seine Band und meistens und er singt und spielt die Harp, dass es eine helle Freude ist. Erst im Nachhinein merkt man: Hier ist ein Songwriter und Musiker, der seine eigenen Geschichten erzählt hat und nicht die ollen Kamellen ständig wiederholt. Spätestens beim vierten Titel müsste selbst den größten Ignoranten klar sein, dass hier nicht der tausendste Retroblueser am Werke ist: „Stop The Hating“ kommt daher als Reggae-Blues und bricht damit aus dem engen Korsett der Erben von Howlin Wolf, Big Joe Williams oder Bukka White aus. Der Song ist natürlich plakativ und predigend. Aber gerade darum ist er heutzutage was Besonderes. Wenn dann zum klassischen Bluessound in der Nachfolge von T-Bone Walker und BB King in „Laugh Out Loud“ eine Liebesgeschichte in der Online-Welt erzählt wird, kann man sich das heimliche Grinsen nicht verkneifen. Und dann kommt in „Little Willie“ noch ein Boogie mit einer ganz feinen Slide-Gitarre, „Catfish Ed“ ist ein nostalgischer Trip in die Coutnry-Musik. Und so geht es weiter bis zum Ende dieses Albums: Das sind großartige Geschichten, die Shelton zu erzählen hat. Seine Band ist wundervoll aufgelegt. „I‘d Never Let Her Down“ dürfte Traditionalisten ebenso erfreuen wie Menschen, die im Blues gerne die Geschichten der 21. Jahrhunderts und nicht nur die verblassten Erinnerungen an die Zeit zu Beginn des 20. hören wollen. Raimund Nitzsche Brothers In Blues - Tailshaker Als Peer Gynt hat Gitarrist Peer Teraldsen schon eine längere Karriere hinter sich. Schon lange hatte der Norweger ein akustisches Album machen wollen. Dafür holte er sich seinen Bruder Geir an der Bluesharp. Geboren waren die Brothers In Blues, die mit „Tailshaker“ jetzt ihr Debüt veröffentlichten. Schon bitter: Da steht man am legendären Kreuzweg, um seine Seele dem Teufel anzubieten. Doch der scheint kein Interesse zu haben und lässt sich nicht blicken. Wenn „Tailshaker“ mit Waiting for the Devil“ loslegt, dann hat man als langjähriger Blueshörer seinen gehörigen Spaß: Selten, dass Songschreiber so selbstironisch mit den altbekannten Traditionen und Klischees umgehen wie die beiden norwegischen Brüder es hier machen. Musikalisch ist „Tailshaker“ eine wilde Mixtur aus traditionellen Bluesklängen mit zeitweise mittelalterlich anmutender Folkmusik. Zu Gitarre und Harp kommen dann auch Maultrommel und andere Instrumente. Heraus kommen dann Songs wie „White 46 © wasser-prawda Platten Angel“, die auch gut auf das nächste Mittelalterfestival passen könnten. Allerdings (und hier helfen auch Gäste wie Gitarrist Mick Moody von Whitesnake nicht) fehlen mir auf dem Album noch ein paar mehr zwingende Songs. Das erscheint mir alles viel zu gewollt und schematisch. Klar, wahrscheinlich kann man mit Mitgröhlchorussen live die Massen begeistern. Aber „Waiting for the Devil“ reicht mir alleine nicht aus, um die Scheibe für längere Zeit in meinem Player zu lassen. Akustischen Bluesrock kann man zur Zeit wesentlich besseren bei Bands wie Babajack oder The Damned and Dirty hören. Nathan Nörgel Bryan Lee - Play one for me Nun ist er 70 Jahre alt und steht weiter auf der Bühne. Wer das Glück hatte, ihn die letzten Jahre bei seinen Auftritten in der Bluesgarage Isernhagen zu sehen und zu treffen, weiß, daß hier einer der ganz großen weißen Bluesmusiker auf der Bühne stand. Bei uns leider nur wenigen bekannt, ist Bryan Lee ein Mann, bei dem die großen Namen vorbeischauen – um zu lernen. Eric Clapton sagte über ihn „one of the best bluesmen I have ever heard“. Der Gitarrist und Sänger ist seit seinem achten Lebensjahr blind und lebt seit 1982 in New Orleans. Als Hausmusiker des Old Absinthe House in der Bourbon Street im French Quarter hat er sich als der „Braille Blues Daddy“ kontinuierlich seine Fangemeinde aufgebaut und nebenbei Musiker wie Kenny Wayne Shepherd entdeckt und gefördert. Mit „Play One for Me“ legt er hier ein Album vor, das an Reife wohl kaum zu überbieten ist. Das Gitarrenspiel ist perfekt, er singt besser denn je – bluesig, soulig, eher sanft als laut. Die zehn Titel sind eine wohlabgewogene Mischung aus je fünf Original- und Coversongs: Bobby Womacks „When Love Begins“, Howlin’ Wolfs „Evil is Going On“ (Gastmusiker Kim Wilson ), Freddie King’s „It’s Too Bad“, Dennis Geyer’s „Straight to Your Heart“ und eine großartige Interpretation des George Jackson Klassikers „Aretha (Sing One for Me)“. Von seinen eigenen Stücken gefällt mir „Sixty-eight years young“ besonders gut. Der Mann hat Spaß an dem was er tut und er wird weitermachen, ganz bestimmt. Wer weitere herausragende Bryan Lee CDs sucht, der besorge sich eine Live CD, die mich sehr beeindruckt hat: die 2011 erschienene „Live from Sao Paulo“. Hier erleben wir Bryan Lee von seiner großartigen Live Seite – obwohl ein Bootleg ist es eine ganz große CD. (Severn Records Severn CD 0059) Bernd Kreikmann Charlie C - Trouble Mit „Trouble“ legt die in Kalifornien lebende Sängerin/Songwriterin Charlie C ihr Debütalbum vor. Zu entdecken gibt es eine bemerkenswerte Stimme, und zwölf Songs zwischen Soul und Blues. Kennst Du eigentlich ... ? Hast Du das Album ... schon gehört? Oft sind es diese Tipps von Freunden und Bekannten im Internet, die einen überraschen. Charlie C ist so eine dieser Musikerinnen, die jenseits ihrer lokalen Kreise noch so gut wie unbekannt sind aber beispielsweise von den vielen DJs mit ihren Bluessendungen überall im Internet vorgestellt werden. Und das völlig zu © wasser-prawda 47 Platten Recht: Hier ist mal wieder eine dieser Blues-Ladies, die zwischen Dinah Washington, Big Mama Thornton oder Janis Joplin ihre eigene Stimme suchen. Und die Lieder auf ihrem Debüt spielen ganz selbstverständlich auch mit den Vorbildern, wie sie Bessie Smith und ihre Kolleginnen in den 20er Jahren geschrieben haben: Das sind Lieder einer selbstbewussten Frau, die sich nicht scheut, Krallen und Zähne zu zeigen, die aber gleichzeitig immer voller Gefühl steckt: Ein Debüt, dass man guten Gewissens weiterempfehlen kann. Nathan Nörgel Cologne Blues Club - Hanging By A Thread Mit „Our Streets“ hatte der 2009 gegründete Club ein wirklich vielversprechendes und von Hörern und Kritikern gleichsam gelobtes Debüt vorgelegt. „Hanging By A Thread“ ist dazu eine gelungene Fortsetzung: Zeitgemäßer Blues mit einem Schuss Soul und Motown, Anklängen an die 50er Jahre und treibender Boogie. Wenn Kritiker am Jahresanfang gefragt werden, auf welche Alben sie sich besonders freuen oder welche Künstler man als Hörer unbedingt im Blick behalten sollte, dann kann man daraus viel über den persönlichen Musikgeschmack des Journalisten erfahren. Oder auch darüber, welche Hypes und Marketingmechanismen bei ihm am Besten verfangen. Hätte man mich gefragt, hätte ich in Bezug auf die deutsche Bluesszene zwei Bands genannt, deren Entwicklung ich besonders gespannt verfolge. Komisch, dass beide kurz nacheinander mit neuen Alben auf den Markt kommen. Dynamite Daze mit ihrem heftigen „Tango With The Devil“ ist das zweite. Noch mehr allerdings war ich gespannt, wie der Cologne Blues Club seine Suche nach swingenden Blues voller Soul fortsetzen würde. Und schon der Opener/Titelsong machte klar: Das ist ein treibender Song von einer Band, die zwar knietief in der Bluesgeschichte steht, aber niemals wirklich nach einer Retro-Band klingt. Zwischen rollendem Boogie („Ride This Train“) mit stoischem Groove irgendwo zwischen John Lee Hooker und Bo Diddley, dem rockenden „Little Baby“ (eine sehr eigene Interpretation von Dixons „My Babe“) oder dem Soulblues von „Something To Talk About“ werden alle möglichen Bereiche des Blues erforscht. Musikalisch sind Sänger/Harpspieler Géza Tényi, die Gitarristen Thilo Hornschild und Micka Kunze und die Rhythmusgruppe von Schlagzeuger Frank Bruns und Michael Gebhart am Bass eine eingespielte Truppe, der man die Liebe zum Livespiel anhört. Und als Songwriter sind die Bandmitglieder auch eine echte Entdeckung: Hier werden nur selten die ollen Klischees hervorgeholt sondern ziemlich zeitlose Bluegeschichten erzählt, die prima zu dem zugleich traditionellen wie frischen Sound passt: „Hanging By A Thread“ ist nicht nur was den Blues in Deutschland oder Europa angeht eines der bemerkenswerten Bluesalben. Reinhören ist Pflicht! (pepper cake/ZYX) Raimund Nitzsche Daddy Long Legs - The Devil‘s In The Details Rauh, deftig und rockend: Daddy Long Legs aus Ontario (Kanada) spielen einen rotzigen Garagenblues, mit dem man jeden Bikerschuppen aufmischen könnte. Ok, das ist jetzt wirklich nichts für Feingeister sondern für Leute, denen der Sinn nach einer ausgelassenen Party steht. In Kanada 48 © wasser-prawda Platten gehören Daddy Long Legs schon seit einigen Jahren vor allem wegen ihrer Live-Shows zu den angesagtesten Bluesrockern. Und wenn man sich das offenbar live im Studio runtergerockte Album „The Devil‘s In The Details“ anhört, kann man das ziemlich gut verstehen: Das ist eine Bluesmusik, die an die weißen Rockschuppen der 60s erinnert, nicht an die off ziellen Erbepfleger in der Nachfolge von Alexis Korner sondern an die bösen Buben, die die Pretty Things besser fanden. Oder auch paar Jahre später die Ramones oder in den 50er Jahren die ersten weißen Garagenbands. Hier tobt der Rockabilly, die Harp kreischt mit unablässiger Energie, die Gitarren hauen in die Magengrube. Mike Elliott spielt sie und er singt mit der Energie eines gerade der Pubertät entwachsenen Teenagers. Die Harp spielt Chris Junior Malleck und erinnert dabei an Leute wie John Popper. Schlagzeuger Jeff Wagner und Steve Toms (b) treiben die Songs mit unbändiger Energie voran. Der Teufel mag im Detail stecken - auf diesem Album allerdings wird auf die Details nicht so wirklich viel Wert gelegt. Hier wird ganz im Sinne der rockenden Vorväter eine Bluesrockparty gefeiert. Und erst hinterher mag man mit einem Kater und gehörigen Kopfschmerzen aufwachen. Bis dahin hat man aber bei Daddy Long Legs eine tierisch gute Zeit gehabt. Nathan Nörgel Dave Riley & Bob Corritore - Hush your Fuss! Die Roots- und Chicago Blues Szene bekommt ein neues Zentrum. Rund um den Rhythm Room in Phoenix Az und seinen umtriebigen Eigner Bob Corritore sammelt sich alles, was Rang und Namen hat. Einige der daraus entsprungenen Alben haben wir schon früher in der Wasser-Prawda rezensiert. Jetzt liegt ganz frisch „Hush Your Fuss!“ von Dave Riley und Bob Corritore auf dem Plattenteller. Der Sänger und Gitarrist Dave Riley und der Harper Bob Corritore arbeiten bereits seit vielen Jahren eng zusammen und haben schon mehrere Alben herausgebracht – aber, und das voweg, noch keines, daß so roh, ungeschliffen und packend ist wie das neue. Zunächst war mir nicht klar, was unter „Hush Your Fuss“ zu verstehen ist. Mit Hilfe meines Freundes Brian DaSilva aus Phoenix glaube ich es jetzt verstanden zu haben. Es heißt ganz einfach: Hör auf zu meckern! Da lohnt es sich doch, das gleichnamige erste Stück der CD besonders aufmerksam anzuhören. Fast alle Stücke der CD wurden von Dave Riley oder Dave Riley und Bob Corritore geschrieben. Dave Riley hat mir einmal gemailt, dass er 25 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht habe. Bob Corritore ist von Chicago nach Phoenix gekommen, hat über die Jahre einen tollen Club aufgebaut und sich weltweit einen exzellenten Namen als Bluesharper geschaffen – das ist allererste Liga! Das sind aber auch Jahre eines bestimmt nicht einfachen Lebens, die genügend hergeben, um spannende und lebensnahe Songs zu schreiben. Da geht es ums Fluchen („No Cussin“), den armen Jungen vom Mississippi („Mississippi Po Boy“) und das mal wieder getürmte Baby fehlt auch nicht („Baby please come home“). Das Album endet mit dem „Laughing Blues“, Dave Riley lacht sich kaputt – worüber wohl? Rileys perfekt erdiges Gitarrenspiel, seine lebenserfahrene knarzige Stimme in der Begleitung von Corritores einfühlsamer und teils zurückhaltender Arbeit an der Harp schaffen eine großartig © wasser-prawda 49 Platten dichte Athmosphäre. So etwa muß der Blues ursprünglich geklungen haben. Stimmige Unterstützung kommt von Brian Fahey (Rhythm Room All Stars) an den Drums, Dave „Yahny“ Riley Jr. am Bass und Gloria Bailey (Phoenix Az, Organ, Track 5). Bob Corritore und Dave Riley sind meines Wissens bislang nicht in Deutschland aufgetreten, in Frankreich und den Niederlanden haben sie begeisterte Fans – hoffentlich schauen sie auch bei uns bald vorbei. (Vizztone SWMAF 11) Bernd Kreikmann Dynamite Daze - Tango With The Devil Geschichten von Drogen, von Werwölfen, von Jesus und dem Teufel: Was Dynamite Daze auf ihrem neuen Album „Tango With The Devil“ den Anhängern servieren ist textlich und musikalisch in der deutschen Bluesrockszene einzigartig. Die Reise beginnt auf Jamaica. Eigentlich nicht der typische Ort für Bluesrock. Aber wer hat denn behauptet, Dynamite Daze seien typische Bluesrocker? Kingston also: Doch wer auf Tourismuswerbung wartet, wartet vergebens. Die Welt, die das schottisch-deutsch-italienische Quartett in seinen Liedern schildert, ist immer irgendwo in den düsteren Ecken zu finden: Zuhälter, alte Nutten, schlechte Drogen und tote Katzen. Das ist auf dem Bild von Downtown Kingston zu finden. Und die Musik erinnert nicht nur ein wenig an eine Kreuzung aus Tom Waits und Captain Beefheart. Und in diesem Stil geht es weiter durch die Lande: Auf der Flucht nach Mexico vor dem FBI, Loblieder auf Mescalita. Aber dann eben auch Lieder wie „Jesus Redemptor“, „A Satisfiend Mind“ (der Klassiker von Joe „Red“ Hayes und Jack Rhodes erhält hier eine neue Musik von Bassist Tognoni) oder „Rain“, die in die Düsternis eine spirituelle Ebene bringen. Mit „Red In Heaven“ setzen sie Louisiana Red ein musikalisches Denkmal, mit dem sie viele Jahre als Musiker unterwegs waren. Was die Songs von Dynamite Daze musikalisch so besonders macht, hatte man schon auf den Vorgängeralben erleben können: Der Blues und Bluesrock wird hier munter gekreuzt mit Tango, mit Psychedelic Rock und Cabaret. Und dann kommt natürlich die instrumentale Meisterschaft der vier Herren hinzu: Didi Dynamite ist nicht nur ein herausragender Sänger, er bläst auch eine Harp, die sich gehörig ins Ohr bohren kann (etwa in „Rain“!), Martin Czemmel kann ganz klassische Blues-Sounds aus seiner Gitarre herausholen (man höre sich etwa die Slide auf „Red In Heaven“ an). Doch im nächsten Moment bricht er die Konventionen und schweift in Jazzgefilde ab. Und die Rhythmusgruppe mit Schlagzeuger Colin Jamieson (dr) und Andrea „Luigi“ Tognoli (bg) folgt dem ganzen und hält die Musik zusammen, die von manchen als Krautblues, von anderen als Psychedelic Blues von mir einfach als geile Blues- und Rockmusik bezeichnet wird. „Tango With The Devil“ ist ein großartiges Album einer Band, die sich glücklicherweise weiterhin erfolgreich weigert, den ausgelatschten Pfaden des Bluesrock zu folgen und die stattdessen ihre ganz eigenen musikalischen Geschichten erzählen. Erhältlich ist „Tango With The Devil“ als CD im übrigen nur direkt bei der Band oder dem Label Stormy Monday Records. Auf den sonstigen Plattformen kann man das Album nur als Download kaufen. 50 © wasser-prawda Platten Zumindest das sollte allerdings für Freunde eigenständiger Rockmusik Pflicht sein. (Stormy Monday Records) Raimund Nitzsche Egidio Juke Ingala & The Jacknives - Tired of Beggin‘ Wie wäre es mit einem Album zum Tanzen, Spaß haben, mit dem Fuß wackeln und gute Laune bekommen? Yup, auch das kann der Blues bieten. Egidio Juke Ingala und seine Jacknives bieten mit „Tired of Beggin“ genau das. Jumpblues der 50er ist angesagt. Egidio ist ein toller Harper, seine Mitstreiter Top Musiker. West Coast? Weit gefehlt – in Egidios Heimatstadt werden Autos gebaut, internationale Mode entsteht und das Leben kann sehr mondän sein. Das Quartett kommt aus Mailand. Stilistisch orientiert sich Egidio Juke Ingala an Little Walter, inhaltlich hat er wahrscheinlich lange Nächte in den Archiven des Blues verbracht, um die vorliegenden Stücke zu finden und aufzubereiten. Egidio ist kein Newcomer, seine ersten Plattenaufnahmen gehen auf die 90er Jahre zurück und es läßt sich auch nicht überhören, daß er in der Zwischenzeit seinen großen Kollegen gut zugehört hat. Einiges an seinem Harpspiel erinnert mich an den großen R.J. Mischo, hinter dem sich Edigio nicht zu verstecken braucht. Unter den vierzehn Stücken befinden sich auch vier Eigenkompositionen – Edigio Ingala braucht sich auch hier nicht zu verstecken. „Tired of Beggin“ ist ein toller Wurf und zeigt mir, daß Italien mit Edigio Juke Ingala auf meiner Weltkarte des Blues in der ersten Liga angekommen ist. Bislang standen für mich Mama’s Pit und Mike Sponza dort einsam an der Spitze. Bernd Kreikmann Eric Bibb - Jericho Road Zwischen Bluespredigt und Gesellschaftskritik: Eric Bibbs neuens Album „Jericho Road“ verbindet Blues- und Folkklänge mit Weltmusik und liefert aktuelle Kommentare zum Zeitgeschehen. Schon der Albumtitel ist ein Hinweis: Hier geht es nicht um den Nahostkonflikt, sondern um die Frage, Sind wir bereit, Menschen zu helfen, die am Rande liegen und nicht alleine weiterkommen? Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zieht sich im Hintergrund durch das ganze Album. Ob Bibb offen fordert: „Have A Heart“ oder verlangt, dass die Mütter viel eher an den Entscheidungen in der Welt beteiligt werden müssten, ob er sich mit Gott berät oder feststellt, dass man eben doch nicht alles auf ein Mal verändern kann sondern sich Tag für Tag neu anstrengen muss. Musikalisch ist „Jericho Road“ für mich das seit langem faszinierendste Album Bibbs: Hier vereinen sich in den Liedern der traditionelle Akustikblues mit Gospel-Power, mit Soul, ja auch mit afrikanischen Rhythmen. Wenn nötig, werden die Songs mit Bläsern, Chören und ähnlichen Zutaten angereichert. Und es kommt ein Album heraus, das für mich in eine Reihe gehört mit dem aktuellen Werk von Big Daddy Wilson: Akustischer Blues&Soul für Genießer. Musik für den Abend mit Rotwein am Kamin, nicht für die Kneipenrunde mit Freunden und Bier. Raimund Nitzsche © wasser-prawda 51 Platten George Benson - Inspira on: A Tribute To Nat King Cole Mit acht Jahren gewann George Benson einen Talentwettbewerb. Als Preis gewann er eine Studioproduktion. Damals nahm er „Mona Lisa“ von Nat King Cole auf. Auch heute noch sieht der Gitarrist in dem Sänger und Pianisten eines seiner wichtigsten Vorbilder. Und so ist „Inspiration“, das Benson mit dem Henri Mancini Orchestra und Kollegen wie Wynton Marsalis eingespielt hat, keine wirkliche Überraschung. „Mit Jazz ist kein Geld“ - das Zitat aus Helge Schneiders „Jazzclub“ stimmt nicht immer. George Benson hat mit seinem Spagat zwischen Jazz und Pop bewiesen, dass man auch als Jazzmusiker ordentlich Geld verdienen kann. Natürlich haben sich die ernsten Kritiker schon bald über seinen Ausverkauf mokiert und ihm vor allem das Singen von radiotauglichen Schnulzen übelgenommen. Das Schicksal hatte er mit Nat King Cole gemeinsam, der im Laufe der Jahre immer weiter in Richtung Schlager gegangen ist. Heute sind aber auch Nummern wie „Mona Lisa“ oder „Ballerina“ längst als Klassiker anerkannt. „Inspiration“ ist als Album eine zwiespältige Hommage geworden. Da gibt es großartigen Swing etwa bei „Just One Of Those Things“ oder „Walkin My Baby Back Home“. Auch „Route 66“ kommt hier prima und ruft Erinnerungen an Bensons Zusammenarbeit mit dem Basie Orchestra in Erinnerung. Und dann sind da Streicherteppiche, die Lieder wie „When I Fall In Love“ (ein Duett mit Idina Menzel) bis über die Schmerzgrenze hinaus zukleistern. Selbst Wynton Marsalis kann eine Nummer wie „Unforgettable“ nicht vor dem Absturz in den Kitsch bewahren. Und auch Till Brönner hat bei „Smile“ nur die Aufgabe, ein wenig Blech in die Sauce zu geben. Diesen Stücken fehlt die Leichtigkeit, die Coles ursprüngliche Interpretationen meist haben, es fehlt ihnen die Coolness, die Schlager etwa mit Frank Sinatra oder Dean Martin auszeichneten. Versöhnlich trotz des Streicherteppichs dann der Schluss mit Bensons neuer Interpretation von Mona Lisa. Denn hier setzt er mit akustischer Gitarre den notwendigen Kontrapunkt. Raimund Nitzsche Green Like July - Build A Fire Auch wenn Green Like July auch ihr aktuelles Album wieder in den USA eingespielt haben, ist „Build A Fire“ doch weniger ein Americana-Album als eine Übung in Popmusik irgendwo zwischen den Beach Boys und den High Llamas. Ich gestehe: An manchen Tagen brauche ich einfach einfache Popsongs voller Leichtigkeit und Sonnenschein, Lieder die mich aber gleichzeitig nicht durch Banalität und synthetische Gefühlssülze beleidigen.. Gerade wenn draußen der Herbst immer kälter und nebliger wird, bleib ich bei der Suche nach der passenden Musik immer häufiger bei den Beach Boys hängen. Dass gerade „Build A Fire“ von der italienischen Band Green Like July in diese Kategorie fallen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Denn ihren Vorgänger „Four Legged Fortune“ hatte ich irgendwo in der Nähe der Jayhawks in der Americana-Kiste einsortiert. Doch Lieder wie „Once In A Blue Moon“, „Heavy Rain“ oder „Agatha of Sicily“ sind völlig ohne Cowboy-Romantik. Sie rufen statt dessen den grad vergangenen Sommer in Erinnerung. Klar: kalifornisches Klischee mit schönen Mädchen, blauem Himmel 52 © wasser-prawda Platten am weißen Strand. Und dazu die große Liebe, die hoffentlich noch bis zum Ende der Ferien dauern mag. Ist das kitschig? Vielleicht manchmal. Aber es ist kein Kitsch. Das sind fast perfekte Popsongs, die auch musikalisch immer wieder überraschend sind. „Build A Fire“ ist das passende Popalbum für jede Art von Mistwetter. Nathan Nörgel Guy Davis - Juba Dance Guy Davis gehört mit Keb‘ Mo‘ und Eric Bibb zur Spitze der akustischen Bluesszene der Gegenwart. Bei den Aufnahmen zu seinem neuen Album „Juba Dance“ arbeitete er unter anderem mit Fabrizzio Poggi (mharm) und den Blind Boys of Alabama zusammen. Platten von Guy Davis haben immer etwas von einer äußerst unterhaltsamen Unterrichtsstunde an sich: Der Sänger und Gitarrist bringt Klassiker des Blues neu zum Klingen und stellt sie neben neue Songs, die im gleichen traditionellen Stil verwurzelt sind. So interpetiert er auf „Juba Dance“ Stücke von Blind Lemon Jefferson, Rev. Robert Wilkins und Blind Willie McTell. Was anderswo leicht zur unsinspirierten Covernummer geraten würde, wird bei ihm zu einer äußerst lebendigen und tanzbaren Musik: Hier ist der Blues genau dort, wo er ursprünglich entstanden ist angekommen. Manchmal ist das feinster Mississippi-Blues, manchmal fühlt man sich wie gleich beim Opener „Lost Again“ an die Jugbands von Memphis erinnert. Und auch die Freunde des ragtimlastigen Piedmont-Blues kommen hier auf ihre Kosten. Aber niemals glaubt man, einer billigen Kopie zu lauschen. Denn Davis und seine Mitstreiter sind zwar Traditionalisten oder Konservative im besten Sinne des Wortes. Doch niemals vergessen sie, dass ein Blues nur dann „echt“ ist, wenn man ihn selbst musikalisch durchlebt und sich zu Eigen macht. Manch Kritiker fühlt sich von der absolut überzeugenden Zusammenarbeit von Davis mit dem italienischen Harpspieler Fabrizio Poggi gar an eine Neuauflage von Terry & McGhee erinnert. Höhepunkte sind neben dem schon erwähnten „Lost Again“ der Titelsong „Dance Juba Dance“, eine hypnotisch dahinstürmende Nummer mit Banjo und Percussion, wo Motive aus „John Henry“ zum Stammestanz mutieren und der auf die Straßen von New Orleans passende Trauermarsch „Some Cold Rainy Day“, den Davis im Duett mit Lea Gilmore singt. Und natürlich die wundervolle Version von „See That My Grave Is Kept Clean“ von Blind Lemon Jefferson, was dank der Blind Boys of Alabama endlich mal wieder die spirituelle Tiefe erhält, die so vielen Rockversionen des Songs einfach fehlt. Eine unterhaltsame Unterrichtsstunde - und ein bemerkenswertes akustisches Bluesalbum des Jahres 2013! Raimund Nitzsche Howard Glazer - Stepchild of the Blues Zwischen Muddy Waters und Bo Diddley, Johnny Winter und BB King: Der aus Detroit stammende Bluesgitarrist Howard Glazer ist extrem vielseitig in seinen Spielweisen. Und so ist sein akutelles Album auch garantiert nicht langweilig. Der Track knallt schon mal gut rein: „Shakin“ ist einer jener Songs, die einen mit dem von Diddley patentierten Groove sofort packen und in gute Tanzlaune versetzen. Dabei ist diese auch an „Willie and the Hand Jive“ erinnernde Nummer nun wirklich © wasser-prawda 53 Platten nicht die Neuerfindung des Blues. Aber eben verdammt catchy. Als nächstes kommt dann gleich noch ein Ohrwurm, allerdings ein ganz anderer: Glazer schnappt sich für „Gas Pump Blues“ die Resonator und slidet einen Countryblues vom Feinsten, bei dem Harmoncia Shah die Glanzpunkte setzt. Drittes Highlight auf der Scheibe ist der zweite Song, bei dem der Harpspieler dabei ist und allein durch seine Präsenz ein echtes Bluesfeeling Glazers forciert: „Hurtful Feelings“. Ansonsten ist „Stepchild of the Blues“ nicht spektakulär aber immer grundsolide und für Bluesrockfans (mit der Betonung auf dem Blues) eine gute Ergänzung der Sammlung. Raimund Nitzsche JC Brooks & The Uptown Sound - Howl Mit ihrem Debüt „Beat of Our Own Drum“ bekam die SoulRock-Band schon mal das Attribut von Soul-Punks verliehen. Auch auf ihrem neuen Album „Howl“ triff t die Energie des Punk wieder Soul, aber diesmal ausgeweitet auf den Sound der 80er Jahre. Das war klar: Irgendwann sind die Referenzen der 50er bis 70er Jahre aufgebraucht. Und eigentlich ist man ja doch in den 80ern aufgewachsen. Und die gelten heute ja eh schon als Oldies. Ok, für JC Brooks & The Uptown Sound dürften Musiker wie der Prince der 80er Jahre oder Paul Young schon immer „Oldies“ gewesen sein. Und somit sind sie bei „Howl“ reguläres Material für ihren „Post Punk Soul“. Herausgekommen ist ihr bislang stimmigstes Album. Das geht schon los mit dem Titelsong, der inhaltlich das Thema des ganzen Albums, die Abhängigkeit von der Liebe, dem ewigen Streben nach einem immer wieder sich entziehenden Glück umreisst. Und musikalisch wird neben den erwähnten 80er Jahren natürlich auch weiter zurück geschaut. „River“ etwa ist eine Ballade, die so auch hätte von Otis Redding stammen können. Und wer bei „Before You Die“ nicht an Chic denken muss, braucht Nachhilfestunden. Doch insgesamt ist „Howl“ eben viel mehr als die Summe der Zitate und Referenzen sondern eines der stimmigsten Soulalben des Jahres 2013. Raimund Nitzsche Jon Wayne and The Pain - Surrender Reggae-Rock mit Ska und Akustik-Blues: Diese Mixtur kannte man von der in Minneapolis ansässigen Band Jon Wayne and The Pain. Auf ihrem neuen Album „Surrender“ wird der Bandsound noch häufiger durch elektronische Dubmusik erweitert: Die richtige Partymusik für Herbst und Winter. Mit entspanner Kiffer-Musik für Surfer von Leuten wie Jack Johnson kann man mich jagen. Das sorgt für promptes Einschlafen sämtlicher Extremitäten. Und am Ska-Punk hab ich mich schon lange überhört. Irgendwo zwischen diesen Extremen spielt sich die Musik von Jon Wayne and The Pain für mich ab: Hier ist energiegeladener Reggae-Rock zu hören, hier ist Ska noch wirklich in Jamaica verwurzelt und dröhnen die Dubs mit einer Überzeugungskraft, die Spaß macht. Nannte das Trio seinen Stil passend „Redemption Reggae“, haben sie sich für das aktuelle Album die Schublade „Reggae-Tronic-Dub“ gezimmert. Die passt: Die akustischen Blues-Ausflüge, die man auf dem Vorgängeralbum Follow Through“ noch erkennen konnte, sind hier fast komplett 54 © wasser-prawda Platten verschwunden. Die rockende Gitarre wird immer wieder in Dubsounds eingebettet, die aber niemals nach purer Studiotechnik klingen sondern die eigentliche Heimat der Band, die Bühnen der Clubs nicht nur im mittleren Westen der USA immer wieder in Erinnerung rufen. Das Album sollten sich Reggae-Fans keinesfalls entgehen lassen. Nathan Nörgel Joseph Arthur - The Ballad Of Boogie Christ Acts 1&2 Einen Liederzyklus über das Suchen, Finden und Verlieren von Erlösung hat Songwriter Joseph Arthur sein „The Ballad of Boogie Christ“ genannt. Man könnte es auch als psychedelisches Soulalbum zwischen Peter Gabriel und El Mariachi bezeichnen. Zwei Assoziationen hatte ich, als ich erstmals das aktuelle Album von Singer/Songwriter Joseph Arthur in die Hand bekam. Beide führten gewaltig in die Irre. Keinesfalls hat „Boogie Christ“ was mit Boogie zu tun, weder mit Boogie Woogie, noch mit DiscoRhythmen der 70er Jahre. Und auch die Idee, hier ein ähnlich durchgeknallt-geniales Konzeptwerk wie Joe‘s Garage zu finden, wurde enttäuscht. Aber diese spontanen Einfälle sollte man als Kritiker ja sowieso immer mit der gehörigen Skepsis in den Hintergrund des Hirns verlagern, weil sie einem den Blick auf das Werk unnötig verstellen oder vernebeln. Das von Joseph Arthur allein über Crowdfunding finanzierte Konzeptalbum ist in Musik und Thema nicht weit vom Größenwahn entfernt. Aber auch das haben Konzeptalben ja oft an sich. Zu hören ist in zwei mal zwölf Liedern die Geschichte einer eigentlich erfolgreichen, aber dann doch wieder gescheiterten Suche. Man kann es als Suche nach Erlösung hören, als die Geschichte einer letztlich gescheiterten Liebe. Musikalisch wird hier nicht absolutes Breitbandkino geboten: Assoziationen zu den Soloalben von Peter Gabriel tauchen ebenso auf wie zu Jeff oder Tim Buckley, zu den quälenden Selbsterforschungen und Gesellschaftsreflexionen Marvin Gaye‘s auf „What‘s Goin On“ oder auch zu endlos mäandernden Lyrics mancher Songs von Bob Dylan. Bei Liedern wie „It‘s Ok to be Young/Gone“ sind dann gar rockende Gitarren zu vernehmen, die das Geschehen vorantreiben. Das ist keine leichte Popkost, keine Musik für die kurze Pause zwischendurch. Das ist ein Album, das man in einem Rutsch mit voller Aufmerksamkeit hören muss. Dann zieht es einen immer weiter hinab in die eigenen Ängste und inneren Abgründe. Dann wird man mit der eigenen Suche, dem eigenen Scheitern konfrontiert. Und das ist das, was ich mit psychedelischem Soul meine: Faszinierend. Nathan Nörgel Layla Zoe - The Lily Zum zweiten Mal hat sich die kanadische Sängerin mit dem deutschen Gitarristen und Produzenten Henrik Freischlader zusammen getan. Auf dessen Label Cable Car Records ist dann auch das aktuelle Album „The Lily“ veröffentlicht worden. Es gibt Musiker, bei denen ich die Kollaboriationen mit anderen Künstlern besser finde als ihre eigenen Alben. Joe Bonamassa etwa wird für mich erst bei seinen Alben mit Beth Hart als einer der großen Gitarristen der derzeitigen Rock- und Bluesszene ver- © wasser-prawda 55 Platten ständlich. Und bei Henrik Freischlader haben mich auch zuletzt mehr die Songs begeistert, die er für und mit Tommy Schneller und Layla Zoe aufgenommen hat. Hier wird klar, wie genau er sich in so verschiedene Künstler hineinversetzen und ihnen genau die richtigen Lieder auf den Leib schreiben kann. Auch „The Lily“ gehört in genau diese Kategorie. Und Zoe hat dazu die zutiefst persönlichen Texte über Liebe und Familie geschrieben. Das Album bietet neben dem Opener, der wundervollen a capella Version von „Glory Hallelujah“ und Neil Youngs „Hey Hey My My“ zum Schluss neun zwischen Soul, Rock und Blues angesiedelte Nummern, die reflexartig wieder bei einigen die Vergleiche zu Janis Joplin oder anderen Sängerinnen hervorrufen. Großartig beispielsweise, wie im langsamen „Gemini Heart“ sich Zoes Stimme und Freischladers Gitarre ergänzen. Auch „Father“ ist so ein ellenlanger Slow-Blues, der doch niemals die Spannung verliert. „Never Met A Man Like You“ ist eine dahinrockende Nummer, bei dem man sich unwillkürlich wünscht, der angesungene Mann zu sein, für den Layla durch die Wüste kriecht, nur um letztlich bei ihm zu sein. Bei „Why You So Afraid“ wird der Bluesrock von einem Funkrhythmus vorangetrieben, der einen nicht mehr loslässt. Wenn dann zum Schluss Neil Young gehuldigt wird, dann stellt sich dem Hörer einfach nicht mehr die Frage, ob dies ein berechtigtes Cover sei: Sowohl Zoes Stimme als auch Freischladers Gitarre sind hier in absoluter Höchstform. Das ist ein hervorragender Abschluss eines atemberaubenden Albums. Raimund Nitzsche MANdolinMAN - Plays Bossa Nova Begonnen hatte das belgische Mandolinenquartett MANdolinMan mit der Bearbeitung alter flämischer Folksongs. Auf ihrem zweiten Album allerdings haben sich die Herren jetzt einer ganz anderen Musik gewidmet. Und ob sie nun Klassiker von Jobim oder eigene Kompositionen spielen; auf jeden Fall haben die Stükke die Leichtigkeit und Faszination der ursprünglichen Bossa Nova. Draußen wird es langsam herbstlich kühl. Die richtige Zeit also, sich musikalisch wenigstens auf Reisen in wärmere Gefilde zu begeben. Wenn man bekannte Kompositionnen für völlig andere Instrumente arrangiert, ist das Ergebnis oftmals bemüht und bestenfalls „originell“. Aber hier perlen die Melodien von „Aqua de beber“ oder „Desconnocida“ mit einer Leichtigkeit und Eleganz daher, als hätte Jobim schon damit gerechnet, dass man die Stükke auch auf Mandolinen hätte spielen können. Eigentlich bin ich ja nicht der Experte für die Musik Brasiliens - und schon gar nicht für Mandolinen - aber dieses Album mit seiner Mixtur aus klassischen Bossanova, Rumba und eigenen Kompositionen hat es mir angetan, seit ich es in die Hand gedrückt bekam. Eine wirklich tolle Scheibe - und die Herren von MANdolinMAN haben kürzlich ihre Ansichten über die Bossa Nova selbst in Brasilien mit Erfolg vorgestellt. Raimund Nitzsche Mojo Juju - Mojo Juju Es sind die seltenen Momente, wo man ein Album zum Rezensieren bekommt, was sich musikalisch jeglicher Einordnung entzieht und gleichzeitig auf Grund seiner Songs einzigartig dasteht. Wie etwa das Debüt der australischen Sängerin Mojo Juju. 56 © wasser-prawda Platten Vom ersten Takt an glaubte ich mich hier in die seltsame Welt von C.W. Stoneking versetzt: Ebenso wie er hat sich Mojo Juju eine ganz eigene musikalische Welt aus dem Jazz und Blues der Zeit bis maximal 1940 gebaut und diese ab und zu mit ein wenig Rockabilly modernisiert. Und sie erzählt Geschichten aus einer Welt der Dämmerung und Nacht: Ob sie im Zug durch die australischen Weiten unterwegs ist oder über den Vollmond in Budapest singt. Hier ist eine Melancholie in Stimme und Musik, die bei Kollegen reflexartig zu Vergleichen mit Nina Simone, Bessie Smith oder Billie Holiday geführt hat. Für meine Ohren sind die Vergleiche irreführend. Weder ist Mojo Juju von einer Stimmgewalt wie die genannten. Noch sind ihre Lieder von einer deartigen existentiellen oder auch politischen Leidenschaft erfüllt. Nein, wenn man schon Vegleiche braucht, dann ist da der mit Stoneking nicht von der Hand zu weisen. Oder man könnte diese Musik auch gut neben die Songs von Florence Joelle stellen: Bei beiden sind es (wenn man mal von Coverversionen absieht) aktuelle Themen, die in einem altertümlichen Soundkleid verpackt daherkommen und so einen anderen Blick auf die Gegenwart ermöglichen. Höhepunkte dieses faszinierenden Albums sind für mich das dahinrockende „Brother Where Have You Been“, „Full Moon Over Budapest“ und das wundervolle „Parisian Rain“. Noch bis Ende Oktober ist Mojo Juju noch kreuz und quer auf Tour durch die europäischen Clubs. Raimund Nitzsche MonkeyJunk - All Frequencies Mit „All Frequencies“ erobert sich das kanadische Trio MonkeyJunk noch mehr als auf dem Vorgänger „To Behold“ den Funk und Soulrock als musikalische Spielwiese. Die Mixtur erinnert zeitweise an JJ Grey & Mofro oder andere Southern-Soul-Rocker, ist aber durch die Bank weg eigenständig und erfrischend tanzbar. Als Robert Santelli, Verfasser solch grundlegender Werke wie des „Big Book of Blues“ und mittlerweile Direktor des Grammy-Museums, kürzlich meinte, der Blues stünde in der Gefahr zu einer rein musealen Angelegenheit wie etwa Dixieland-Jazz zu werden, da kam Zustimmung vor allem von Seiten der eingefleischten Kritiker sämtlicher Modernisierungen der historischen Spielweise. Kritik allerdings gab es in den sozialen Medien auch heftige. Und das auch völlig zu Recht. Ist es doch gerade in den letzten 15 Jahren etwa immer mehr im Blues verwurzelten Bands gelungen, neue Zuhörer in der Rockgemeinde zu finden. Das Vorbild der White Stripes oder Black Keys hat hier ebenso gewirkt wie Bands etwa im Umfeld der Southern-Rock-Gemeinde um Derek Trucks. Songwriter wie JJ Grey, Anders Osborne und andere haben hier deutlich hörbare Wegzeichen gesetzt. Und es gibt Bands wie MonkeyJunk, die seit ihrem preisgekrönten Debüt „Tiger In The Tank“ diese Anregungen in ganz eigene musikalische Geschichten umsetzen. War „Lo Behold“ noch deutlich am traditionellen Blues und Bluesrock orientiert, so werden auf „All Frequencies“ viel häufiger Ausflüge in andere Bereiche des Americana gemacht: Soulrock ist zu hören, Texas-Blues und funkiger Jam-Rock wird von Steve Marriner (voc, mhar, g, keyb), Tony D (g) und Matt Sobb (dr, perc) so lange zusammengerüht, bis ein Album herauskommt, dass zu den bemerkenswertesten Bluesrock-Scheiben des Jahres gehört. Hier werden die Bluespolizisten natürlich mal wieder Ver- © wasser-prawda 57 Platten rat schreien. Der Rest der Hörerschaft aber wird fröhlich auf der Tanzfläche feiern und sich freuen über Songs wie den Opener „You Make A Mess“, den Funkrock von „Je Nah Say Kwah“ oder den ausufernden Jam von „Swank“ mit seiner herrlichen Orgel zum Schluss. Prima Scheibe! (Stony Plain) Nathan Nörgel Norbert Schneider - Schau mer mal Melancholisch und relaxt, ein wenig Jazz, viel Blues und etwas Chanson: Auf seinem neuesten Album „Schau mer mal“ singt der Österreicher Norbert Schneider erstmals nur in seinem heimischen Dialekt. Ja, er hat genug „Blues für zwa“: Voller Schmäh und voller Eleganz kommen die Lieder von Norbet Schneider daher. Und niemals stellt sich die Frage; Geht das überhaupt? Blues im Dialekt kann fürchterlich schief gehen. Doch wenn die Lieder stimmen, wenn sie ehrlich und aus dem Innersten des Künstlers kommen, dann funktioniert das ganz prächtig. Ob Schneider seine Verflossene ansingt, sie solle nicht so angewidert schauen, ob er den lieben Gott anfleht, er solle sich doch mal kurz um ihn kümmern oder fast resigniert konstatiert, dass die Welt sich weiter dreht: das ist Blues der österreichischer kaum denkbar ist. Hier ist keine Verbindung mehr zum Mississippi zu hören, eher zum Gypsy Swing und dem Jazzschlager der 20er Jahre. Und gerade darum ist das Album so gelungen. Auch Stücke von Georg Danzer oder Horst Ohmels passen hier genau rein in diese Welt der Wiener Melancholie, die so viel näher am wahren Bluesfeeling ist als jedes Hochgechwindigkeitsriff aktueller Bluesrocker. Klar: „Schau mer mal“ wird nicht jeden Bluesfan überzeugen. Wer aber auf die kleinen Geschichten zwischen Liebeskatastrophen und Alltagspech hört, sich von den eleganten Gitarrenlinien und den swingenden Jazzrhythmen davon treiben lässt, hat hier eines der besten deutschsprachigen Bluesalben der letzten Jahre gefunden. Und wer die Lieder von Götz Alsmann mag, sollte hier auch unbedingt mal reinhören. Raimund Nitzsche Rod Pico - Hang Your Hopes On A Crooked Nail Eigentlich hatte Songwriter Rod Picott sein neues Album „Rod Picott‘s Circus of Misery and Heartbreak“ nennen wollen. Doch irgendwie schien ihm das für diese Sammlung von Songs von den dunkleren Seiten des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens doch nicht passend. Die Aufforderung, seine Hoffnungen an einen krummen Nagel zu hängen, ist da wesentlich deutlicher. Wieder ein Album mit jeder Menge gebrochener Herzen, zerstörten Träumen und einer Zukunft mit wenig Hoffnung. Eigentlich kann man nur noch abhauen an einen Ort, wo noch niemand meinen Namen kennt und die Geschichten meiner gesammelten Niederlagen. Wenn Rod Picott singt und spielt, dann kommt einem das ganze Elend dann doch nicht so hoffnungslos vor, wie es eigentlich ist. Das ist die große Kunst eines wirklichen Songwriters. Diese Lieder erzählen nüchtern, realistisch - und mit jeder Menge Anteilnahme. Und das ist der Punkt, der andere zu der Bemerkung verführt hat, Picott würde das weiterführen, was Guthrie machte, und das was Springsteen eigentlich tun sollte. 58 © wasser-prawda Platten Wobei damit gleichzeitig die Pole angegeben sind, zwischen denen die musikalische Welt dieses Songwriters angesiedelt ist. Wobei die Folkmusik Guthries hier immer mit dem Herzen und der Stimme eines Countrysängers dargeboten wird. Und wo denn Rockmusik draufsteht, da hört man nicht nur Springsteen, sondern auch alle amerikanische Rockmusik zwischen den Byrds. Neil Young und Tom Petty mit. Unbedingt empfehlenswert, wenn auch weniger in Zeiten der Herbstdepressionen. Nathan Nörgel Ry Cooder & Corridos Famosos - Live at the Great American Music Hall Zwei Nächte hintereinander spielte Ry Cooder 2011 gemeinsam mit alten Freunden in der Great American Music Hall in San Francisco. Daraus hat der Gitarrist jetzt sein erstes Live-Album unter eigenem Namen seit 1988 zusammengestellt. Ob Soul, Folk, Blues oder Tex Mex: wer am 31. August und 1. September 2011 bei den Aufnahmen zu „Live At The Great American Music Hall“ dabei war, konnte eine musikalische Party feiern, die ihresgleichen kaum haben dürfte heutzutage. Ry Cooder hatte sich nicht nur alte Begleiter wie Sänger Terry Evans, seinen Sohn Joachim (dr) oder Flaco Jiménez zusammengeholt, sondern gleich noch eine zehnköpfige mexikanische Brass-Band. Und mit diesen interpretierte er eigene Songs wie „Lord Tell Me Why“ oder „El Corrido de Jesse James“ ebenso wie Stücke von Woody Guthrie, Leadbelly, oder Dan Penn. Allerdings verpasste er denen teilweise ganz radikal seine eigene persönliche Note. So wurde aus Guthries „Do Re Mi“ eine wilde Polka, Billy „The Kid“ Emersons „Crazy Bout An Automobile“ wird zum Soulblues. Bei „Volver Volver“ (Fernando Maldonado) mutieren die Corridos Famosos mit Sängerin Juliette Commagere zur Mariachi-Big-Band. Cooder zeigt bei Guthrie‘s „Vigilante Man“, warum er noch immer einer der besten Slide-Gitarristen genannt werden muss. Und zum Schluss wird aus Leadbellys „Good Night Irene“ eine Tex-Mex-Hymne. Das ist ein Live-Album, für das man nur die Höchstwertung vergeben kann! Und das auch darum, weil hier hörbar nichts nachkorrigiert wurde sondern die Konzertatmosphäre mit allen Ecken und Kanten auf Platte gepresst wurde. Raimund Nitzsche Shawn Holt and The Teardrops - Daddy Told Me Man sagt den mittelständischen Unternehmen nach, Rückgrat des wirtschaftlichen Erfolgs eines Landes zu sein. Sie zeichnen sich oft dadurch aus, daß sie in Familienhand sind und weitergegeben werden. Vielleicht ist das ja beim Blues ähnlich. Da liegt eine pressfrische CD von Shawn Holt and The Teardrops auf meinem Tisch. Der Name kommt mir bekannt vor. Klar, Shawn ist der Sohn des in diesem Jahr viel zu früh verstorbenen Morris Holt, uns besser bekannt als Magic Slim. Slim war er ja schon lange nicht mehr der Zwei-Meter-Mann aber Magic hatte er ohne Ende. Sein Gitarrenspiel, knackig, trocken und rockig und seine mächtige Stimme standen für ehrlichen unprätentiösen Chicago Blues. Da tritt der Sohn in große Fußstapfen die es zu füllen gilt. Die Teardrops hat er übernommen (s.o. Mittelstand). Allerdings ist nur Brian <B.J.> Jones an den Drums von der letzten Besetzung übrig © wasser-prawda 59 Platten geblieben. Chris Biedron am Bass und Levi William an der Gitarre sind Neuzugänge. Shawn Holt tritt also an um zu zeigen, was sein Vater ihm sagte. Auf jeden Fall hat er viel über den Chicago Blues vom Vater gehört und gelernt. Ganz klar, hier steht einer, der nicht kopiert und nicht vom großen Namen seines Vaters leben muß, sondern überzeugend und eigenständig in der Tradition des Blues aus der Windy City bestehen kann. Es macht richtig Spaß, der Band zuzuhören. Die Bandbreite der Stücke ist groß. Ruhige Nummern wechseln mit Up Tempo Stükken. Da erkennt man Bo Diddley aber auch Smokin‘ Joe Kubek wieder aber auch Magic Slim. „Before you accuse me“ ist eines meiner Lieblingsstücke von Morris Holt. Hier zeigt sich exemplarisch, das sich Shawn nahe am Original bewegt, mit seiner vollen eher sanften Stimme und seiner weniger schneidenden Gitarre dem Stück aber eine eigene Anmutung zu geben vermag. Auf der CD sind sowohl gelungene Eigenkompositionen von Shawn Holt als auch Standards wie <Fannie Mae> und wenige ausgesuchte Magic Slim Stücke wie <Please don’t dog me> vertreten. Üblicherweise geben sich die großen Namen bei der Einführung eines Youngsters in die Szene auf dem Debutalbum die Klinke in die Hand. Shawn Holt erhält <nur> Unterstützung vom großen John Primer, der ihn dezent und zurückhaltend mit Gesang und Gitarre unterstützt – toll gemacht! Offensichtlich ist Blind Pig so sehr von Shawn Holt überzeugt, daß man meinte, sich mit dem beiliegenden Booklet keine Mühe geben zu müssen. Von vier verfügbaren Seiten sind drei mit Photos gefüllt, die vierte Seite gibt zumindest Aufschluß über die Titel und Mitwirkenden – das ist zu sophisticated! Bei der Produktion wurde aber nicht gespart. Shawn Holt legt hier ein Album vor, das mehr als ein Debutalbum ist – der Mann kann die Familienfirma ganz klar erfolgreich weiterführen, das Zeug dazu hat er! (Blind Pig Records BPCD 5156) Bernd Kreikmannn Smokin‘ Joe Kubek & Bnois King - Road Dog’s Life Würde mich jemand fragen, wer für mich z. Zt. den <richtig echten> Texas Blues repräsentiert, würde ich wohl antworten: Smokin‘ Joe Kubek & Bnois King. Der in Dallas Tx. aufgewachsene Gitarrist, Sänger und Songwriter Joe Kubek arbeitet seit 1980 mit dem Sänger und Gitarristen Bnois King aus Louisiana zusammen. Die beiden haben inzwischen etwa zwanzig Alben vorgelegt. Jetzt wechselten sie zu dem bekannten Delta Groove Label und legen mit „Road Dog’s Life“ möglicherweise das herausragende ihrer Alben vor. Smokin‘ Joe spielt die coolsten Texas Riffs die ich kenne, Bnois King erzählt mit seiner weichen klaren Stimme Geschichten wie sie in Blues Songs halt erzählt werden. Die CD vermeidet aggressive Passagen und bietet stimmige angenehme Melodien diesseits des Blues-Rocks (das ist auch einmal schön). Begleitet werden die beiden von exzellenten Musikern: Kid Andersen (guitar), Randy Chortkoff und Kim Wilson (harp), Willie J. Campbell und Patrick Recob (bass) sowie Jimi Bott (drums) – das entspricht 30jährigem schottischen Single Malt: ähnlich sanft und geschmeidig geht die Musik in den Gehörgang (ich entschuldige mich bei den Whiskey Liebhabern, aber ein ähnliches Getränk wird man in den US-Destillen schwerlich finden). 60 © wasser-prawda Platten Ich verzichte auf die nähere Beschreibung einzelner Songs, sie sind stimmig, exzellent arrangiert und zeichnen ein Mosaik des zeitgenössischen Texas-Blues auf Top Niveau. Joe und Bnois sind nach dreißig Jahren ein gestandenes Top Team, bei dem die gemeinsame Wirkung im Vordergrund steht. „For Smokin‘ Joe Kubek and Bnois King the journey to this point has certainly been a long road to travel, but in the words of these hardened road dogs, we wouldn’t have it any other way“ (Zitat Klappentext). Dass dies ehrlich gemeint ist habe ich erfahren, als ich mit Joe im Anschluß an seinen letzten Gig in der Bluesgarage sprechen konnte. Ich habe Joe und Bnois als äußerst angenehme sympathische Musiker empfunden, die für ihr Publikum alles geben, unprätentiös und offen sind. Ich freue mich auf die nächsten Gigs und die weiteren Alben. (Delta Groove DGPCD 162) Bernd Kreikmann Snarky Dave & The Prickly Bluesmen - Big Snark Sarkastische Bluessongs über alltägliche Erlebnisse dargeboten in tanzbarer Bluesform: „Big Snark“ von Songwriter/Gitarrist Snarky Dave (David Brenton) und seinen Bluesmen ist ein riesiger Spaß für jeden Bluesfan. „This is a song with a message“ warnten Canned Heat seinerzeit vor ihrem Drogensong „Amphetamine Annie“. Und auch Snarky Dave hält die Warnung vor den Botschaften seiner Songs auf der Homepage für nötig. Wenn er auch einschränkt, man müsse diese erst finden. Obwohl das gar nicht so schwer ist, wenn man erstmal „Big Snark“ festgeschnallt auf dem Bürostuhl hat über sich ergehen lassen. Das Anschnallen ist durchaus nötig, denn das Album ist von Anfang bis Ende eigentlich eine Tanzscheibe für Bluesfans. Das Zucken im rechten Fuß reicht hier oftmals eindeutig nicht aus. Schon der Opener „Caucasian Blues“ hat eine Botschaft. Erzählt wird die Geschichte eines alternden weißen Typen, der den Blues singt. Und in Zeiten des „Downsizing“ verliert er seinen Job und endet als einer, der Whiskey aus alten Einweckgläsern säuft.Seine Frau - mehr am Materiellen interessiert - verschwindet, sobald die Kohle alle ist. Das ist der Blues, Mann! Hinzu kommt ein feiner Groove, die Gitarre legt das nötige Bluesfeeling. Einfach großartig! - Und weil der Song so schön ist, gibts ihn am Ende gleich noch mal. Dann heißt er „Caucoustic Blues“: Dave allein mit akustischer Gitarre und dazu ein Basssaxophon. Da tanzt man dann nicht mehr, denn hier stimmen Stimmung und Message plötzlich völlig ohne Sarkasmus überein. In „Makes No Sense“ versucht Dave sich einen Reim auf die aktuellen Weltereignisse zu machen. Der Blueser als Protestsänger, begleitet von einer feinen Hammond-Orgel. „Bitchin“ ein angenehm groovender Bluesrocker mit scharfen Riffs von Gitarre und Orgel. Aber das Thema: die sich ewig aufregendende Frau, die noch jede Stimmung versauen kann. „Big Girl“ ist dann eine wundervoll funkige Tanznummer - irgendwie kommt Dave denn doch nicht von den Frauen los. Und so kommt dann seine Ballade auf „Mother and I“ ganz ohne Sarkarsmus dafür mit jeder Menge Gefühl daher. „Big Snark“ ist eine wundervolle Entdeckung. Schade, dass das Album nur wenig länger als eine halbe Stunde ist. Hier warte ich auf mehr in den nächsten Jahren. Nathan Nörgel © wasser-prawda 61 Platten Stefan Saffer - This Is Not A Dark Ride Leser der „Wasser-Prawda“ waren vorgewarnt; Mit seinem neuen Album kehrt der Rock zurück in die Musik des Leipziger Songwriters Stefan Saffer. Auf „This Is Not A Dark Ride“ klingt seine Musik mal nach einem wütenden Springsteen, mal nach punkigem Americana. Es gibt für Saffer scheinbar eine Menge Gründe, wütend zu sein. Auch wenn er sein Album „This Is Not A Dark Ride“ nennt: Die Themen seiner Lieder kommen aus den düsteren Ecken, die der normale Popkonsument gerne ausblendet: Neben dem schon bei der Wasser-Prawda veröffentlichten „When Justice Walks On Death Row“ über einen in Texas unschuldig in der Todeszelle sitzenden Freund finden sich Reisen „Into the dark heart of my country“: Es geht um Arbeitslosigkeit, über Armut und Reichtum, über das Fehlen sämtlicher moralischer Maßstäbe, über die Freiheit, die man sich immer hart erkämpfen muss. Wer persönliche Liebeslieder oder romantische Naturimpressionen sucht, hat definitiv das falsche Album in der Hand. Und zu den Themen hätte eine ruhige und zurückhaltende Musik wie auf dem Vorgängeralbum „From Rebellion to Redemtion ... and than back!“ nicht gepasst. Hier muss der Stom in die Musik. Und das Album rockt von Anfang an los und holt nur selten Atem. Hinterher ist man selbst ganz schön außer Puste aber froh darüber, endlich mal wieder ein von vorn bis hinten grundehrliches Rockalbum mit aktuellen Songs gehört zu haben. Diese Scheibe wird mich nicht so bald wieder loslassen. (Cacturs Rock Records) Raimund Nitzsche Sugaray Rayford - Dangerous Die ersten Worte des ersten Songs führen in die Irre. Da singt ein King Size Zwei-Meter-Mann aus Texas „I’m a little Country Boy“. Na ja, Herr Norcia konnte ja nicht wissen, daß sein Stück von Sugaray Rayford gesungen werden würde. Sugaray ist ein Blues/R&B Sänger und Entertainer der alten Schule. Er erfüllt alle Klischees, die ein „echter“ Blueser vorweisen können muß: gebürtig in Texas, als Junge singt er in der Kirche und spielt Schlagzeug, mit seinen Brüdern wächst er - bis zu deren frühem Tod - bei seiner krebskranken Mutter in Armut auf. Er weiß, was das Leben bieten kann. Später spielte er mit Musikern und Bands wie der Average White Band, Dennis Quaid, Joe Luis Walker und Kal David. Anfang des Jahrzehnts zog er dann nach Los Angeles und begann, eine erfolgreiche Solokarriere aufzubauen. Ich wurde auf ihn aufmerksam, als er als Lead-Sänger neben Finis Tasby (dem es bekanntermaßen gesundheitlich z. Zt. leider nicht gut geht) auf dem Manish Boys Album „Double Dynamite“ zu hören war (Delta Groove, 2012). Sugaray hat eine ausdrucksstarke weiche Stimme, kann aber auch als Bluesshouter auftreten. Wichtig war wohl, daß Sugaray in den Kreis der Delta Grooves Music Inc. Eingang fand – ein tolles Label, das wohl einen der interessantesten und hochwertigsten Pools an Blues Musikern (vorwiegend West Coast) aufgebaut hat und bei Plattenaufnahmen zur Verfügung stellen kann. Auf „Dangerous“ wird Sugaray von Kid Andersen, Franck Goldwasser, Gino Matteo, Monster Mike Welch (Gitarristen), Anthony Geracy, Fred Kaplan (Keyboard), Sugar Ray Norcia, Kim Wilson, Big Pete, Randy Chortkoff (Harp), Willie C. Campbel, Bill 62 © wasser-prawda Platten Stuve (Bass), Jimi Bott (Drums), Ron Dziubla und Mark Pender (Horns) unterstützt. Das ist ein Team, das ohne jedes Problem die Blues-Weltmeisterschaften sowie die Olympischen Blues Spiele gewinnen würde. Sugaray beginnt mit dem Chicago Blues Shuffle „Country Boy“ und arbeitet sich dann durch die Bandbreite des zeitgenössischen Roots-Blues. Da gibt es schnelle Songs und ruhige balladenhafte Stücke - von Sugarays vitalem Gesang treibend vorgetragen/gelebt und von den Gitarren, Harps, Horns und der Rhythmusgruppe einfühlsam aber sehr bestimmt unterstützt. „Dangerous“ ist das erste Soloalbum von Sugaray Rayford, die Betonung liegt auf das Erste! Wir werden noch viel von ihm hören – ich freue mich darauf. (Delta Groove DGPCD 161) Bernd Kreikmann The Hamburg Blues Band - Friends for a LIVE me Vol. 1 Endlich mal wieder eine CD von der Hamburg Blues Band – wurde auch langsam Zeit. 30 Jahre gibt es die Band inzwischen, 30 Jahre on the road und 30 Jahre lang wird sie von Jahr zu Jahr besser. Das ist doch ein guter Anlaß, eine Compilation mit herausragenden Live Aufnahmen herauszugeben. Vorsichtshalber wird von Vol. 1 geredet, ich empfinde es nicht als Drohung, wenn Vol. 2 folgen sollte. Gert Lange, Gründer, Sänger und Frontmann der Band schreibt im Klappentext, daß er nach der Bandgründung 1982 im Anschluß an eine Midnight Jam Session in Onkel Pö’s Carnegie Hall nicht geglaubt habe, daß die Band so lang bestehen würde. Schön, daß er sich geirrt hat, ihn stört das bestimmt nicht. Musik spielt die Band übrigens auch. Wer Roots Blues erwartet, wer 50er Jahre Retro West Coast Blues oder Chicago Blues erwartet, mag enttäuscht sein – die HBB serviert knallharten Blues, der mit seinen scharfen Riffs, dem präsenten Bass und dem virtuosen Schlagzeug oftmals Anleihen beim Hardrock nimmt. Keyboard und gelegentlich ein Saxophon ändern nichts daran. Dazu paßt dann Gert Langes Rockröhre (sorry, ich finde das besser als den Vergleich mit Joe Cocker, den Lange allerdings nicht scheuen muß). In über dreißg Jahren ändert sich die Bandbesetzung. Der Kern besteht z. Zt. aus Gert Lange (Gesang, Rhythmus Gitarre), Hans Wallbaum (Drums), Michael „Bexi“ Becker am Bass sowie Miller Anderson (Leadgitarre, Gesang). Miller Anderson hat den Part von Clem Clempson übernommen, der inzwischen mit eigener Band auf Tour ist. Adrian Askew spielt Keyboard. Gründungsmitglied und Saxophonist Dick Heckstall-Smith ist leider vor einigen Jahren verstorben, hatte aber prägenden Einfluß auf die musikalische Entwicklung der Band. Ich habe gehört, daß Dick Heckstall-Smith das Bindeglied zwischen der HBB und der britischen Rock- und Bluesszene war. Wer die Geschichte der einzelnen Musiker kennt (oder nachschlägt, es lohnt sich), weiß, daß eine große Nähe u.a. zu den Supergruppen wie Colosseum bestand und besteht. Möglicherweise hat sich hieraus in den letzten Jahren eine tolle Zusammenarbeit ergeben. Insbesondere der große Chris Farlowe und Maggie Bell treten inzwischen regelmäßig als Gastmusiker auf. Miller Anderson, der ebenfalls als Gast erschien, ist nun fester Bandbestandteil und © wasser-prawda 63 Platten Arthur Brown mit seinem Mega Hit „Fire“ legte mit der HBB eine unvergeßliche Bühnenshow vor. Vieles davon ist auf der CD festgehalten. Meine persönlichen Highlites sind Chris Farlowes „Stormy Monday Blues“, Maggie Bells „Wishing Well“ und HBBs „Rockin’ Chair“. Jeder wird seine eigenen Lieblingssongs auf der CD finden – die Bandbreite ist groß. Eine gute Gelegenheit bietet der Besuch eines der Konzerte – bis Sommer 2014 ist die Band bei uns auf Tour. Der Gig in der Bluesgarage Isernhagen am 20.09. 2013 war, wie Chris Farlowe es ausdrückt, „SPITZE“.(Handmade Music/NMD) Bernd Kreikmann The High Kings - Friends for Life Was Präsident Obama mag, kann so schlecht nicht sein - die High Kings aus Irland jedenfalls haben schon zum St. Patricks Day im Weißen Haus gespielt. Und jetzt kommt mit „Friends for Life“ das erste Album mit eigenen Songs des irischen Quartetts heraus. Wenn es um Folk und Folkrock aus Irland geht, waren meine Interessen bislang sehr fixiert: An den Chieftains kommt eh keiner vorbei. Und wer sich bei mir Musik aus den 80er Jahren wünscht (eine sehr gefährliche Aktion im Übrigen) kann ziemlich fest damit rechnen, die Pogues vorgesetzt zu bekommen. Und wenn die Stimmung mit dem nötigen Alkoholpegel steigt, sind die Dubliners immer eine sichere Wahl. Freunde all dieser Bands werden von der auch schon als Supergroup gefeierten Band vielleicht enttäuscht sein. Denn hier ist nicht die detailverliebte, Tradition und Moderne vereinende, Genialität der Chieftains und auch nicht die Kneipentauglichkeit der anderen Genannten zu hören, sondern irischer Folkpop. Den allerdings zelebrieren die vier Sänger und Multiinstrumentalisten Finbarr Clancy (g, bj), Brian Dunphy (g, bodhran), Martin Furrey (g, bj, pipes) und Darren Holden (g,p mand) auf allerhöchstem Niveau. Hier steht immer mehr der traditionelle Folk im Vordergund (anders als etwa bei den massiv überschätzen Corrs). Und die Songs bringen irische Melancholie und Lebensfreude ebenso herüber wie sie manchmal an die Fortentwicklung dieser Wurzeln im Country und Bluegrass erinnern. Und damit ist „Friends for Life“ mindestens ein sehr aufmerksames Reinhören wert. (Sony Classical) Nathan Nörgel The Inspector Cluzo - Gasconha Rocks „Eine großartige Rockshow kann die Welt verändern“ meint Jack Black in Richard Linklaters „School of Rock“. Und genau dieses Feeling zieht sich durch „Gasconha Rocks“, das vierte Album des französischen Duos The Inspector Cluzo. Bassisten werden massiv überschätzt. Diese Einstellung hat seit den White Stripes immer weitere Kreise gezogen. Auch Mathieu „Phil“ Jourdain (dr, bac-voc) und Laurent „Malcolm“ Lacrouts verzichten auf den Druck der vier Saiten und den dafür nötigen dritten Mann. Als Duo spielen sie einen von fetten Riffs getriebenen Rock, der nicht nur immer wieder nach den 70er Jahren von Led Zeppelin und anderen Hardrockern klingt sondern oft auch mit der atemlosen Brachialität des Hardcore dahinstürmt und doch eigentlich nur ein funkiger Bluesrock auf Highspeed ist. Nur manchmal werden die beiden Musiker von Gästen mit Blasintrumenten unterstützt. Und dann (wie bei „Lo Camin de la Hesta“) ist das wie ein zum Punk bekehrter James Brown. 64 © wasser-prawda Platten Wenn einem die Energie, dern Druck und das Engagement der Musiker förmlich aus den Boxen entgegenspringen, dann weiß man: Hier wurde nicht nur live im Studio abgerockt. Nein: Den Musikern liegt durchaus am Herzen, wovon sie singen. Da geht es gegen Monsanto und andere industrielle Lebensmittelproduzenten, über Müll am Strand, darüber, dass man angesichts der Verhältnisse in Frankreich sich die Flucht aus Afghanistan auch hätte sparen können. Das ist engagierter Politrock, der einen von der Power her an die Punkurahnen MC 5 erinnert oder auch an die diversen Projekte von Jello Biafra. Und wenn man schon das System verändern will, wenn die Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden sollen, dann gefälligst so packend wie auf diesem Album. „Gascona Rocks“ - und das nicht zu knapp. (Fuckthebassplayer/ Groove Attack) Raimund Nitzsche Tom Principato - Robert Johnson Told Me So Was der Großmeister des Blues hier anbietet ist Qualität auf allerhöchstem Niveau. Über Tom Principatos Qualitäten als Sänger und Gitarrist wurde bereits alles gesagt, er ist perfekt. Das meint nicht seelenlose Perfektion und exakt reproduzierbare Standardisierung des Vortrags. Wer den Mann live erleben konnte weiß, daß seine Bühnenshows vor Leben strotzen und daß da einer mit beiden Beinen fest im Leben steht und auch noch Spaß daran hat. Dazu ist er noch ein Mann zum Anfassen, der den Kontakt zu seinem Publikum sucht. Principato läßt sich Zeit mit dem Herausgeben neuer Alben – es gibt bereits viele. Wenn er es dann tut, dann aber richtig. Offenbar sind ihm die Songs von Robert Johnson durch den Kopf gegangen und er kam auf die Idee, Zitate aus dessen Songs in eigene einzubinden. Damit das Ganze dann auch noch mitreißend ist, ist der Aufmacher und Titelsong „Robert Johnson told me so“ ein sauberer Up Tempo Bluesrocker – zuhören lohnt. „Knocking on the Door“ ist dann wieder ein schöner klassischer Principato-Titel. Prima Percussion, schneidendes Gitarrensolo, das Keyboard geht dazwischen – einfach ein toller lebendiger Blues (wer weiß, vielleicht darf das Baby dann doch wieder hereinkommen?). Herr Principato ist auch als Philosoph nicht schlecht. In „It ain’t over (til it’s over)“ lernen wir, dass man bis zum Ende durchhalten und kämpfen soll, bis etwas wirklich vorbei ist oder auch nicht. Ebenso tiefgründig geht es dann mit „What goes around (comes back around)“ weiter und folgerichtig wird im Text festgestellt, dass etwas, das auf einer sich drehenden Scheibe liegt, an den Ausgangspunkt zurückkehrt und dass das, was nach oben geworfen wird auch wieder herunterkommt (klarer kann man Physik – hier Isaac Newton – nicht erklären). Achtung: Principato goes Reggae – das geht in die Füße! Da braucht es dann etwas Abkühlung. Hierzu paßt, daß „The Rain comes pourin‘ down“. Eine ruhige Ballade in der die Bläser loslegen dürfen. Nach dem wir etwas Luft geholt haben, geht es mit „Falls Church, Virginia 22042“ weiter. Principato zeigt in diesem Instrumental Herrn Carlos Santana wie man es richtig macht! Die CD klingt dann mit einer Reprise zu „It ain’t over“ eher ruhig aus. Das Album begeistert. Ich bin seit langen Jahren bekennender Principato-Fan und habe mich stets zurückgehalten, wenn es um die Frage ging, welches denn das beste Principato Album sein © wasser-prawda 65 Platten könnte. Jetzt gebe ich die Antwort: Chapeau Tom Principato! (Powerhouse Records POW-132) Bernd Kreikmann Tunde Baiyewu - Diamond In A Rock Schlafzimmer-Soul-Pop mit afrikanischen Rhythmen oder Bill Withers triff t Afrobeats: Tunde Baiyewus zweites Soloalbum ist vor allem eines: radiofreundlich. In den 90er Jahren waren The Lighthouse Family mit ihrem SoulPop vor allem in Deutschland und Großbritannien sehr erfolgreich. Auch wenn das Duo mittlerweile wieder unterwegs ist, hat Frontmann Tunde Baiyewu doch im August sein zweites Soloalbum veröffentlicht. Der in Großbritannien geborene und in Nigeria aufgewachsene Sänger erinnert Kritiker wegen seiner sanften Soulstimme immer mal wieder an Bill Withers. Und diese Stimme - gepaart teils mit afrikanischen Rhythmen, teils mit westlichem Pop prägt die zehn Songs auf „Diamond In A Rock“. Wenn hier nicht Unmengen an Weichspüler über Songs mit dem Prädikat „mostly harmless“ ausgegossen worden wäre, dann wäre das spannend geworden. So ist das Album wohl hauptsächlich als Soundtapete für die Milchbar an der Ecke zu verwenden. Nathan Nörgel Various - Feeling Nice Vol. 2 Zum zweiten Mal haben Tobias Kirmayer und Daniel Wanders ihre Sammlungen obskurster und seltenster Soul- und Funk-Singles durchforstet. Zwischen dreckigem Funk, musikalischen Verbeugungen vor James Brown und feinstem Soul fanden sie wieder 16 Stücke, mit denen man Fans rarer Grooves in Verzückung versetzen kann. „I Feel Good“ - klar kennt man. James Brown kommt immer wieder gut. Aber eh: Nein, das ist nicht der Godfather of Soul. Hier stimmt was nicht. Das hier ist das Duff y Jackson Orchestra feat. Johnny Apollo, die hier einen fetten Big Band Funk zelebrieren. Überraschend wie auch der Rest dieses Samplers. Und natürlich mal wieder mit Musikern, von denen man bislang noch nie gehört hat, wenn man nicht zur Gemeinde der fanatischen Single-Sammler gehört. Und selbst für die dürften manche Entdeckungen von Wanders und Kirmayer bislang absolut unbekannt sein. Manche der Aufnahmen gab es bislang bloß in sensationellen Auflagen von 50 Stück (The Soul Chargers „Change It Up Baby“), als Bonus beim Kauf eines Schlagzeuges (die erwähnte Fassung von „I Feel Good“) oder sie erschienen in Regionen wie den britischen Jungferninseln (Carole Veal‘s „H‘way of Love“). Schwerpunkt ist diesmal eindeutig der Funk von ergebenen Jüngern von James Brown: deftig, rotzig, rockend spielen Bands wie Fillet of Soul („Do your own thing“) oder Musiker wie Little Genie Brooks („James Brown Bougeloo“ - hier wird gleich eine Zitatensammlung aus Browns Stücken montiert zu einer Funkparty mit einem deftigen Gitarristen und einer Hornsection, die eher nach den Bluesbrothers als nach JB klingt). „Feeling Nice Vol. 2“ ist nicht nur auf Grund der Raritäten sondern vor allem wegen der wie bei Tramps Veröffentlichungen immer wieder überraschenden musikalischen Qualität ein absoluter Pflichtkauf für jeden Funkliebhaber. Zu der CD/Doppel-LP bekommt man natürlich wieder ein Booklet mit den nötigen Informationen über die ausgegrabenen Künstler. Und bei 400 der 1000 66 © wasser-prawda Platten gepressten LPs wird gleich noch eine Single von „H‘way of Love“ beigelegt, die in kurzer Zeit auch schon den Status einer absoluten Rarität haben dürfte. (Tramp Records) Nathan Nörgel Will Wilde - Raw Blues Mit sechzehn Jahren tauchte er erstmals auf der Bluesbühne auf mit der Harp in der Hand. Jetzt hat Will Wilde mit „Raw Blues“ sein zweites Album veröffentlicht und zeigt, warum er als einer der besten Harpspieler im Vereinigten Königreich gehandelt wird. Schon das Intro von „Paranoia“ macht deutlich, dass der Albumtitel Programm ist: Rauh und heftig - und meist ganz tief in der Tradition verwurzelt - spielt Will Wilde seinen Blues. Rauh singt er ihn. Und düster sind die Ecken, in denen seine Lieder spielen. Hier ist nichts hörer- oder radiofreundlich weichgespült. Es gibt direkt einen in den Magen mit Liedern wie „Thirty Eight“, dieser rockenden Romanze über die Beziehung zu einer älteren Frau. Oder auch bei dem psychedelisch daherkommenden „Get Me Some“ und dem funkig angehauchten „Your Days Are Numbered“. Okay, hier wird Will als Sänger etwas sanfter, aber allein der treibende Rhythmus erweckt eine bedrohliche Atmosphäre. Manche Kritiker werfen Wilde vor, er wäre in seinem Harpspil zu traditionell. Klar - er ist ganz sicher weder Jason Ricci noch Sugar Blue. Und auch Stilisten wie Jean-Jaques Milteau sind weit entfernt. Wilde spielt hier ziemlich konsequent in der Tradition des Chicagoblues von Sonny Boy Williamson II oder Little Walter. Und das kann er auch hervorragend. Ich glaube, um wirklich seinen ganz eigenen Stil zu finden, braucht ein Künstler wirklich fast ein Leben lang. Und Will Wilde ist ja erst ein wenig über 20 Jahre. Da braucht man sich keine Sorge machen. Und für jetzt bleibt festzuhalten: „Raw Blues“ ist eines der besten Blues-Harp-Alben, die ich dieses Jahr gehört habe. (India/Big Lake/rough trade) Nathan Nörgel Willis Earl Beal - Nobody Knows Soul als Do-It-Yourself-Baukasten? Ahnungslosigkeit und Respektlosigkeit als Albumthema? Bei „Nobody Knows“ von Songwriter Willis Earl Beal kommt all das zusammen mit einer Stimme, die einem ob mit Begleitung oder a capella eine Gänsehaut auf den Rücken zaubert. Was ist das eigentlich? Eine Sammlung von Liedern, die sämtlich von Trauer, Resignation, Frustration und Scheitern handeln. Mal kommen sie daher in fast klassischem Soul der 70er, mal als Gospel und dann auch wieder rockig zupackend irgendwo zwischen Tom Waits und Screamin Jay Hawkins. Oft verebben sie auch in Soundspielereien aus dem Computerbaukasten. Zum Glück bettelt Beal hier nicht um Mitleid, gleiten seine Lieder niemals in kitischige Gefilde ab. Er scheint einfach nur ein Fazit zu ziehen aus Jahren, in denen er immer wieder auf die Fresse gefallen ist, sich in der Welt und den Mitmenschen getäuscht sah. „Nobody Knows“ ist ein Album, das faszinierend ist in einem Moment im nächsten aber auch in Belanglosigkeit zu verfallen scheint. Doch in der Gesamtheit bleibt es als Beispiel dafür, wie man jenseits von Retroseligkeit heute Soulsongs zelebrieren kann. Ist das großartig? Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Raimund Nitzsche © wasser-prawda 67 Feuilleton Peter Kroh - Deutsche Kultur ist weniger als Deutschlands Kultur Wenn spontan gefragt wird, „was ist deutsche Kultur?“, dann antworten die einen „Bier trinken, Currywurst essen, Fußball gucken“. Andere sagen: „Kuckucks-Uhr aus dem Schwarzwald“ oder „Lederhose, Schuhplattler und Oktoberfest“. Der nächste nennt zuerst „Gartenzaun und Nachbarschaftsstreit“, „Handtuch auf der Liege, weiße Socken in Sandalen“ oder „Schützenfest und Bürokratie“. Sehr oft wird man hören: „Pünktlichkeit, Fleiß und Disziplin“. Andere denken an Literatur, Musik, Architektur und sagen: „Goethe, Schiller, Lessing, Johann Sebastian Bach, Beethoven, Kölner Dom, Dresdner Frauenkirche, Schloss Neuschwanstein“. Manche verbinden mit deutscher Kultur „das Land der Dichter und Denker“; andere denken eher an „das Land der Richter und Henker“. Für viele ist Kultur identisch mit Sprache, Bräuchen, Sitten und Regeln. Kultur ist erst einmal alles, was Menschen gestaltend hervorbringen, jegliches Material, was durch Handwerk, Technik, Künste, aber auch durch Gesetzgebung, Philosophie, Religion, Ethik formend umgestaltet wird. Das ist schon ziemlich kompliziert. 68 © wasser-prawda Feuilleton Noch schwieriger wird es bei deutscher Kultur. Im heutigen Deutschland erleben wir, dass der Mecklenburger deutsche Kultur anders definiert und praktiziert als der Schwabe und beide wiederum anders als der Bayer oder Sachse. Kultur hat offensichtlich stets einen territorialen und landsmannschaftlichen Aspekt. Darüber hinaus ist alle Kultur, auch die deutsche, einem steten Wandel unterworfen. Beim Heiligen Römischen Reich, es endete bekanntlich 1806, fällt mir zu deutscher Kultur zuerst ein, dass die Sorben zwar ältere Territorialrechte haben als die Deutschen, diese aber im Vielvölkerstaat bald den größten Bevölkerungsanteil stellten. Mit guten Gründen könnte man also von Frühformen des Multi-Kulti sprechen. Unbestritten ist zudem, dass sich Inhalte und Ausdrucksformen deutscher Kultur in den etwa 800 Jahren erheblich veränderten. Ein wichtiger Aspekt deutscher Kultur um die Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert bestand darin, in den Bürgern der deutschen Lande Nationalstolz zu entwickeln, vor allem, um vereint gegen Napoleon zu kämpfen. Vieles, was wir heute noch als deutsche Kultur schätzen, entstand nach 1815 als Widerspruch zu Restauration und Reaktion. Das nur 47 Jahre existierende deutsche Kaiserreich hat vor allem durch die Dominanz Preußens zu deutscher Kultur – im Guten wie im Schlechten – beigetragen. Zur deutschen Kultur der Weimarer Republik, sie lebte auch nur 15 Jahre, zählen nicht nur die Goldenen Zwanziger, sondern auch der erste, letztlich missglückte Versuch der Deutschen, Demokratie zu lernen. Antisemitismus, Slawenfeindlichkeit, Völkermord, Arier- und Untermenschen-Ideologie sowie Krieg waren in den zwölf dunklen Jahren des Faschismus eher eine Kulturschande, ein Beitrag zur Zerstörung aller Kultur. Vieles davon war aber schon vorher angelegt. Die Völker Europas, auch das deutsche Volk, mussten dafür einen hohen Preis zahlen. Über 45 Jahre entwickelten sich – bei allem unübersehbaren kulturellen Erbe – unterschiedliche Kulturen in der BRD und der DDR. Das seit gut 20 Jahren wieder vereinte Deutschland sucht noch nach seiner kulturellen Identität und den bewahrenswerten kulturellen Traditionen. Nicht übersehen werden darf bei diesem groben Überblick zur deutschen Kultur, es gab in ihr immer auch Unterschiede zwischen der Kultur derer da oben und denen da unten. Der Feudalherr lebte in einer anderen Kultur als die Leibeigenen. Reichskanzler Bismarcks kulturelle Werte waren andere als die des Sozialistenführers Bebel. Die Schlosser, Schweißer und Landarbeiter Krause, Schmidt und Lehmann lebten mit ihren Frauen und Kindern eine andere Kultur als die Familien Siemens, Krupp und die ostelbischen Junker. Kultur hat offensichtlich stets einen sozialen und politischen Aspekt. Ein besonders schönes, anregendes Beispiel dafür ist das Hambacher Fest zu Pfingsten 1832. Rund 30.000 Deutsche, Polen und Franzosen lehnten sich auf gegen hohe Steuern, Hunger, Armut, Arbeitslosigkeit und Metternichs Spitzelsystem. Sie forderten Meinungsfreiheit, Demokratie und Volkssouveränität, Gleichberechtigung zwischen den Nationen ebenso wie zwischen Mann und Frau.1 Besonders abstoßend und hässlich zeigte sich der soziale und politische Aspekt aller Kultur in der Tätigkeit des Kampfbundes für deutsche Kultur in der Nazi-Zeit. 1928 vom späteren Nazi-Chefideologen Rosenberg gegründet, betrieb er einen antisemitisch und antislawisch ausgerichteten Wiederaufbau der deutschen Kultur. Was dem widersprach, wurde niedere Kultur, Entartung, Kulturverfall und Kulturbolschewismus genannt, die es zu beseitigen galt. Die Kul1 Über den Autor Peter Kroh, Jahrgang 1944, besuchte die Sorbische Grundschule in Bautzen, begann 1958 eine Lehre als Flugzeugbauer, arbeitete später im Edelstahlwerk Freital als Schlosser und begann mit 24 Jahren ein Lehrerstudium. 1980 promovierte er über ethische Probleme der sozialistischen Arbeitsdisziplin, beteiligte sich am marxistischchristlichen Dialog und habilitierte 1985 mit einer Arbeit über die Wirkungsbedingungen des protestantischen Arbeitsethos in der DDR. Nach der Wiedervereinigung baute er ein Kommunikations-und Informationszentrum für Kinder und Jugendliche zur Sucht- und Gewaltprävention (KIZ for kids) auf, dass er mehrere Jahre leitete. Nachdem das KIZ der allgemeinen Sparpolitik zum Opfer fiel, überbrückte er die Zeit bis zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Berufsleben im Jahre 2007 als Mitarbeiter mehrerer Landtagsabgeordneter der Linken in Mecklenburg-Vorpommern. 2009 veröffentlichte Peter Kroh die erste Biographie über den sorbischen Journalisten und Minderheitenpolitiker Jan Skala. Der hier abgedruckte Text ist Teil einer Artikelserie über Geschichte und Zukunft der sorbischen Minderheit, die Kroh im Nowy Casnik, der letzten Zeitschrift in niedersorbischer Sprache, veröffentlicht wurde. Diese Artikel werden 2014 als Band 2 der Reihe „Regionale Literaturen Europas“ im freiraum-verlag wiederveröffentlicht. Vgl.: P. Kroh: Jan Skala und das Hambacher Fest, in: Lĕtopis, 2/2010, S. 54ff. © wasser-prawda 69 Feuilleton tur der nordisch-arischen Völker – so wurde behauptet – besäße einen Führungsauftrag, vor allem gegenüber den slawischen Völkern Osteuropas. In der Zeitschrift des Kampfbundes wurden die Feinde deutscher Kultur beim Namen genannt, u. a.: Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Thomas Mann, Bertolt Brecht, George Grosz, Ernst Toller, Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger, Leonhard Frank, Ernst Barlach, Käthe Kollwitz. Schlimmste Höhepunkte dieser höheren deutschen Kultur waren die organisierten Bücherverbrennungen im Mai 1933 und die darauf folgende planmäßige Menschenvernichtung in den Konzentrationslagern. Skala sah so etwas als „eine Begleiterscheinung des Kapitalismus“, die im Kern „doch nichts anderes ist als der Wille, eine andere Kulturgattung neben sich nicht zu dulden, sondern die eigene deutsche mit allen Mitteln durchzusetzen.“2 Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg entwickelte sich langsam die Haltung, Deutschland werde in die Weltgemeinschaft nur zurückkehren können, wenn es jeden Anschein vermeidet, dass deutsche Kultur dazu diene, andere auszugrenzen oder auf sie herabzusehen. Wer dennoch in jüngster Zeit diesen Eindruck neu beleben will, verwendet dazu meist den (allerdings falsch verstandenen) Begriff der Leitkultur. Die damit begründete Fremden- und Minderheitenfeindlichkeit wird erfreulicherweise von großen Teilen der Öffentlichkeit abgelehnt und deutsche Leitkultur als Steilvorlage für die neue Rechte bewertet. Dennoch ist im Programm der CDU (Grundsätze Nr. 37, 57) von einer „Leitkultur in Deutschland“ die Rede. Das Grundsatzprogramm der CSU enthält ein Bekenntnis zur „deutschen Kulturnation“ und zur „deutschen Leitkultur“. Andere Politiker in Deutschland, auch das Ministerkomitee des Europarates, sind angesichts dessen mitunter besorgt, hier entstehe ein neues nationalistisches Kulturverständnis. Sie fordern deshalb u. a., Ökonomie nicht über Kultur zu stellen. Konkret hieß das z. B., nicht den gleichen Klassenteiler für sorbische wie für deutschsprachige Schulen anzulegen. Diese Politiker treten – wie alle Demokraten – dafür ein, dass die Kultur autochthoner Minderheiten lebendiger Teil der Kultur Deutschlands war, ist und bleibt. Zu ihr gehören alle kulturellen Ausdrucksformen, die sich auf die Achtung der Würde jedes Menschen, auf Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Toleranz richten. Die Sorben/Wenden in der Ober- und Niederlausitz belegen z. B. mit ihrer Zweisprachigkeit, dass sie die Sprache der Mehrheitsbevölkerung achten bzw. respektieren. Sie kennen auch die deutsche Fahne und Hymne. Wie viel Anhänger deutscher Leitkultur aber wissen, dass die Sorben/Wenden nicht nur zwei eigene Sprachen haben, sondern auch eine offiziell anerkannte Fahne und Hymne? „Naša chorhoj módra, čerwjena, bĕła“ („Unsere Fahne ist blau, rot, weiß“) dichteten und komponierten 1947 Jurij Brĕzan und Jurij Winar. Den Text der Hymne Rjana Łužica (niedersorbisch Rědna Łužyca) verfasste 1827 der damals 23jährige sorbische Theologiestudent Handrij Zejler. Korla Awgust Kocor komponierte 1845 eine Melodie und brachte das Lied auf dem 1. Sorbischen Sängerfest am 17.10.1845 in Bautzen zur Uraufführung. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es offizielle sorbische Hymne. Sie besingt die schöne Lausitz, das freundliche Land sorbischer Väter, das Paradies glücklicher Träume, dessen Flure heilig sind. Erhofft werden eine glückliche Zukunft und Persönlichkeiten, die des ewigen Gedenkens würdig sind! 2 J. Skala: Lugano. Minderheitspolitische Kontroverse im Völkerbundsrat, in: Kulturwehr, 1, 2/1929, S.13. 70 © wasser-prawda Feuilleton Deutschlands Kultur ist also – mindestens – die Kultur deutschsprachiger und anderssprachiger deutscher Staatsbürger.3 Bestimmungen zu Schutz und Förderung der Kultur in Deutschland sollten deshalb ausdrücklich die nationalen Minderheiten beinhalten. Angesichts aktueller Ausbreitung rechtsextremer Auffassungen ist das m. E. zwingend notwendig. Zu schützen und zu fördern gilt z. B. sorbische Volkskunst 4in Lied, Tanz, Poesie und Bildender Kunst. Sie leistet einen beständigen Beitrag zur Identität der Sorben. Geschützt und gefördert werden muss das Serbski ludowy ansambl (Sorbisches National-Ensemble). Es pflegt mit Ballett, Chor und Orchester kulturelle Traditionen der Sorben und macht sie auf allen Kontinenten bekannt. Schutz und Förderung braucht das Nemsko-Serbske ludowe dźiwadło (Deutsch-Sorbisches Volkstheater), weil es das einzige professionelle Theater ist, in dem Schauspiel und Puppenspiel auch in sorbischer Sprache inszeniert werden. Neben den Ländern Brandenburg und Sachsen ist vor allem der Bund in hohem Maße gefordert. Nicht die Regierungen der 16 Bundesländer, sondern die Bundesregierung hat 1998 die EuroparatsCharta der autochthonen nationalen Minderheiten unterzeichnet. Sie weiß, Deutschlands Kultur ist mehr als deutsche Kultur. Handelt sie stets auch so? 3 Vom Beitrag anderer Staatsbürger zu Deutschlands Kultur konnte hier aus Platzgründen ebenso wenig die Rede sein wie vom Beitrag anderer ethnischer Minderheiten, die deutsche Staatsbürger sind. 4 Auf Osterreiten, zapust, ptači kwas oder den Erntebrauch des Hahnrupfens und manch anderes kann hier nur pauschal hingewiesen werden. © wasser-prawda 71 Bücher Morton Rhue - no place, no home Ravensburger Buchverlag 2013, 284 Seiten, ISBN: 978-3-473-40100-0 14,99 € No place, no home Eine Rezension von Kristin Gora. Sie leben in Wäldern zwischen den Bäumen, in Parks hinter Sträuchern. Sie sitzen auf Parkbänken und Mauern und essen hinter Mülltonnen. Die Unsichtbaren unter uns, die keinen Platz mehr in der Gesellschaft finden. In Deutschland leben zur Zeit rund 248.000 Menschen (Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe laut 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2012) ohne festen Wohnsitz, davon rund 22.000 dauerhaft auf der Straße. Sie konnten nicht mehr bei Verwandten oder in Heimen unterkommen und sind nun obdachlos. Die Ursachen dafür sind so verschieden wie die Menschen. Manche haben ihren Job verloren und konnten ihre Miete nicht mehr zahlen. Manche haben ihr Haus durch eine Überschwemmung oder eine andere Naturkatastrophe verloren. Einige wurde von ihren Partnern rausgeworfen oder sind vor häuslicher Gewalt geflohen, geflohen auch aus den staatlichen Einrichtungen wie Obdachlosen- oder oft auch schon Kinderheimen. Rund 21 % der Wohnungslosen sind unter 25 Jahre alt. In Amerika ist die Obdachlosigkeit ein traditionsreiches Thema. Man denke an die Zeit der Großen Depression. Fehlende soziale Absicherungen lassen den Verlust des Wohnraumes in den Zeiten der aktuellen globalen Finanzkrise zu einer stetigen Bedrohung werden. Laut Angaben der National Coalition for the Homeless leben in den USA über das Jahr rund 3,5 Mio. Menschen dauerhaft oder zeitweise auf 72 © wasser-prawda Bücher der Straße. Davon haben rund 20 % sogar ein Job, der Lohn reicht aber nicht für eine Wohnung. In der amerikanischen Kleinstadt Average (deutsch: Durchschnitt), von der uns Morton Rhue in seinem neuen Roman erzählt, werden die Unsichtbaren plötzlich sichtbar. Die Stadt stellt ihnen einen Park zur Verfügung, auf dem Dignityville entsteht – ein Zeltlager für die Wohnungslosen – oder wie es auch heißt: „ein Auffangbecken für menschliches Treibgut“. Plötzlich sind sie da, wo sie jeder sehen kann – im Zentrum der Stadt, ganz in der Nähe des Rathauses. Plötzlich werden sie Teil der öffentlichen Diskussion. Es lässt nicht lange auf sich warten, bevor die engagierten Befürworter und die kritischen Gegner hart aufeinanderprallen. Im Prolog des Buches erfahren wir über Aubrey, einen Bewohner der Zeltstadt, der gleichzeitig die Stimme der BewohnerInnen nach außen ist, dass er von mehreren Schlägern brutal verprügelt wurde und schwerverletzt im Koma liegt. Ein harter Opener, der den LeserInnen direkt vor Augen führt, mit welcher Härte das Schicksal in diesem Roman zuschlägt. Im ersten Teil lesen wir, warum die Zeltstadt im Herzen von Average entstand. Nicht etwa, weil die Stadt ihren Leute (nur) helfen wollte. Es ging vor allem darum, sie alle auf einem Haufen zu haben, um Geld zu sparen, denn: „Nur weil Bürger einer Stadt sich keinen Wohnraum leisten können, bedeutet das nämlich nicht, dass ihnen nicht dieselben kommunalen Dienstleistungen zustehen wie allen anderen.“ So gibt es von der Stadt finanzierte Waschcontainer und Dixie-Toiletten, eine medizinische Grundversorgung und täglich zwei kostenlose Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr. Ehrenamtliche Helfer stellen eine warme Abendmahlzeit zusammen und es gibt einen Anschluss an das Stromnetz. Für die Bewohner wird Dignityville schnell zu einem Ort, der Hoffnung birgt. Ein Ort, an dem man zur Ruhe kommen kann, © wasser-prawda 73 Bücher Zu den Fotos: Mitten in Portland (Oregon) ist direkt neben dem dekorativen Eingang zur „China Town“ der Stadt, eine Siedlung von Obdachlosen entstanden. Die Bewohner gaben ihnen den Namen Right To Dream Too und verweisen damit auf den American Dream, auf den auch sie einen Anspruch haben. 74 an dem man Gemeinschaft und Hilfe findet, an dem Pläne für ein kleine autarke Ökosiedlung geschmiedet werden. Sehr zum Missfallen zahlreicher Bewohner der Stadt, die in Immobilien investiert haben, deren Wert durch die Nachbarschaft zur „Auffangstation“ ihren Wert verlieren. Menschen, die so einiges tun, um ihr Vermögen nicht zu gefährden und im Laufe des Romans jede Möglichkeit ausschöpfen, um ihr Gut zu schützen und Dignityville zu zerstören. Erzählt wird die Geschichte mit der Stimme des 17-jährigen Highshool-Starpitchers Daniel. Seine Mutter hat BWL studiert und als Portfoliomanagerin bei einer Vermögensverwaltung gearbeitet, bevor diese pleite ging. Sein Vater hat einen Abschluss in Sportwissenschaft und trainierte im Rahmen eines staatlich finanzierten Sozialprojektes Jugendliche aus Problembezirken bis auch dieses Projekt aus Kostengründen eingestellt wurde. Eine fast klassische amerikanische Mittelstandsfamilie mit eigenem Haus auf Kredit und ausreichender Fallhöhe. Wir haben es hier mit einem jugendlichen Ich-Erzähler zu tun, dessen Sicht auf die Umstände wir folgen. Noch vor ein paar Wochen war er mit seinen Kumpels am Parkgelände vorbeigefahren und gestern noch hat er als freiwilliger Helfer in der Kirchenküche Chili gekockt, bevor er heute selbst im alten Subaro seiner Eltern vorfährt und sein selbstgekochtes Essen zum Abendbrot serviert bekommt. Für ihn ist Dignityville kein Ort voller Hoffnung, sondern erstmal eine „Endstation für arme, unglückliche Menschen, die andernfalls in Hauseingängen oder Autos schlafen müssten.“ Im zweiten Teil werden wir zurück in die Gegenwart geholt. Nachdem der erste Teil rückblickend den Weg der Familie nach Dignityville zeigte, beschäftigt sich der zweite mit dem Leben in Dignityville. Während Dan langsam einsehen muss, dass er jetzt arm ist und leugnen nichts bringt, haben seine Freunde, allen voran seine Freundin Talia, die aus eher gehobeneren Verhältnissen © wasser-prawda Bücher stammt, noch echte Schwierigkeiten, mit Dans neuer Situation umzugehen. Talia versucht ihn zu unterstützen, möchte ein Stipendium ins Leben rufen und zahlt die Rechnungen bei gemeinsamen Unternehmungen, verursacht dabei leider nur noch größere Probleme, sodass das sich Ende dieser Beziehung schnell abzeichnet. In aller Not und Verzweiflung versuchen alle nur ihre Würde (engl. dignity) zu bewahren, bevor sie wieder von der Bildfläche verschwinden. Mit dem Wechsel vom Präteritum ins Präsens wird im zweiten Teil eine größere Unmittelbarkeit und Dramatik erzeugt. Nach der vorherigen Rückblende wird nun etwas erzählt, das der Erzähler selbst noch nicht kennt. Wohin wird es gehen? Er kann nicht mehr auf einen Zielpunkt (Einzug ins Zeltlager) hin erzählen, sondern nur noch von seiner jetzigen Situation aus in die Zukunft blicken. Ein Kunstgriff, mit dem Morton Rhue wunderbar auch den Wechsel in der Wahrnehmung des Protagonisten nachzeichnet. Auch sprachlich kann das Buch überzeugen. Der Autor hat einen schlauen jungen Mann gewählt, mit dessen jugendlicher Stimme sich diese schwere Thematik gut erzählen lässt. Er schreibt unaufgeregt aber deutlich. Einfach und in keiner Weise unglaubwürdig. Morton Rhue hat mit seinem Buch nicht nur die aktuelle Finanzkrise in ihren Auswirkungen ins Blickfeld gerückt, sondern es geschaff t, eine Brücke zur Großen Depression in den 1930ern zu schlagen und damit auch die geschichtliche Dimension der Ereignisse zu berücksichtigen. Er lässt Dan immer wieder Zeilen aus dem Buch Früchte des Zorns von John Steinbeck zitieren, das zu seiner Schullektüre gehörte. Auch anhand dieser Romanlektüre gelingt es Dan, sein eigenes Schicksal als gesellschaftliches Problem zu reflektieren. „Wie kann es sein, dass trotzdem so viele Probleme, mit denen die Menschen schon damals zu kämpfen hatten, heute immer noch nicht gelöst sind?“, ist die letzte Frage, die Dan im Roman stellt. Wem? Auch wenn no place, no home zumeist als Jugendbuch beworben und besprochen wird, ist es vor allem ein Sozialdrama, das mit einer jugendlichen Stimme erzählt wird, die kein Mitleid erregen möchte, die keine belehrenden Floskeln oder politische Anklagen vorbringt, sich aber mit wirtschaftlichen, sozialen und politischen Themen auseinandersetzt und so auf sehr eindringliche Weise auf ein globales Problem aufmerksam macht. Eine Stimme, die alle etwas angeht. © wasser-prawda 75 Bücher Prudenci Bertrana: Josafat oder Unsere Liebe Frau von der Sünde Prudenci Bertrana gilt als der berühmteste katalanische Schriftsteller. Er ist ebenso der Namensgeber des bedeutendsten katalanischen Literaturpreises, sowie der Verfasser zahlreicher Werke. Dazu gehört sein Hauptwerk Josafat, das im Jahre 1906 erschien. Jedoch verhalf dieser Status dem Werk zu keinem großen Bekanntheitsgrad – zumindest nicht hier in Deutschland. Eine ganz einfache Frage kann - auf diese Tatsache hin - gestellt werden: Aus welchem Grund ist das Hauptwerk Bertranas hier in Deutschland nicht publik geworden? Von Stephanie Engler. Eine Grundlage dafür, dass ein Buch in einem anderssprachigen Land populär wird, ist die Übersetzung dessen. Damit ein Werk also an Bekanntheit gewinnt, muss es auch gelesen werden können. Dazu ist es gelegentlich nötig die Werke von der Originalsprache in eine andere Sprache zu übertragen. Dies geschah mit Bertranas Josafat zum ersten Mal im Jahre 1918. Eberhard Vogel, der Begründer der deutschen Katalanistik, war verantwortlich für diese erste deutsche Version. Eine zweite Version erschien 2013 unter der Federführung von Jürgen Buchmann, im freiraum-verlag. Beide Versionen unterscheiden sich in mehreren markanten Punkten. Wobei die neueste Version den Titel Josafat oder Unsere 76 © wasser-prawda Bücher Liebe Frau von der Sünde trägt, blieb die ältere bei dem Originaltitel Josafat. Buchmann nimmt in einer „Notiz zur Übersetzung“ (S. 79-81) Stellung zu der Titelentscheidung, die Verlag und Übersetzer gemeinsam getroffen haben. Buchmann erwähnt ebenfalls die Tatsache, dass nicht der Autorenname Bertranas unter die erste deutsche Version gesetzt wurde, sondern ein Pseudonym des Übersetzers Eberhard Vogel: J. Pons i Pagés. An diesem Punkt stellen sich zwei weitere Fragen: Warum hat man 1918 nicht Bertranas Namen für die Übersetzung genutzt, sondern einen Künstlernamen des Übersetzers? Hat Vogel womöglich versucht sich – durch die Übertragung – Bertranas Josafat als eigenes Werk anrechnen zu lassen? In Anbetracht der Tatsache, dass Vogel von einer sehr eigenwilligen Übersetzungstechnik Gebrauch gemacht hat, könnte die letzte Frage durchaus mit einem Ja beantwortet werden. Buchmann erwähnt dahingehend in seiner Notiz ein Beispiel zu diesem Fall: Wenn Bertrana beispielweise erklärt: Sota els seus peus naixien cruiximents misteriosos, „unter ihren Füßen entstanden geheimnisvoll knirschende Laute“, so wird im Deutschen daraus „unter ihren Füßen knirschte der Stein, als ob Nattern undeutbare Worte um ihre Knöchel zischten.“ (S. 79) Er verweist ebenso auf das sechste Kapitel der ersten Übertragung, „das zur Gänze aufs Konto des Übersetzers geht.“ (S. 79) Somit kann womöglich gesagt werden, dass die erste deutsche Version des Josafat keine reine Übertragung aus dem Katalanischen ins Deutsche gewesen sein mag. Vielmehr war es eventuell eine reine Interpretation des Werkes, die Vogel 1918 vorgenommen hat. Aber ist nicht jede Übersetzung eine Interpretation? Buchmanns Übersetzung Josafat oder Unsere Liebe Frau von der Sünde (2013) scheint näher an dem original katalanischen Text zu sein, als die frühere Version. Er selbst kritisiert Vogels Übertragung (siehe oben) und hat sich an eine eigene zweite Version gewagt. In seiner „Notiz zur Übersetzung“ spricht Buchmann von den Schwierigkeiten, die Bertranas Stil und Schreibweise dem Übersetzer machen (S. 80). Die Besonderheit des Schreibstils und der Ausdruckweise fällt auch dem Leser auf. Die Sprache des Werks ist ebenso verstörend, wie die düstere Geschichte, die sie erzählt: Prudenci Bertrana: Josafat oder Unsere Liebe Frau von der Sünde [Regionale Literaturen Europas, Band 1. Aus dem Katalanischen von Jürgen Buchmann. Mit einem Nachwort des Übersetzers.] 86 Seiten; 14,8 x 21 cm ISBN: 978-3-943672-20-6 11,00 EUR (D) (Auch als EBook erhältlich.) […] plötzlich war der erstickte Ton des Glöckchens zu hören, und ein Blutstrahl sprang aus dem aufgeplatzten Schädel des Fremden. Josafat, […] fiel zusammen mit dem Bezwungenen zu Boden, und über ihn gehockt, drosch er mit rasender Wut und der Treffsicherheit eines geübtem Schmieds weiter auf die Wunde ein. O glaubensloses Gezücht, Auswurf der Hölle! (S. 11-12) Hoch oben jedoch, über den Dachgewölben, verwandelte sie sich in die Mänade zurück; sie warf ihre Kleider von sich und setzte mit zügellosen Posen den Faun in Raserei. (S. 41) Diese Auszüge lassen erkennen, wie der Autor die Sprache einsetzt, um die Situationen dem Leser gegenüber genau beschreiben zu können. Man erkennt, dass es ihm nicht genügt ‚nur‘ von einem © wasser-prawda 77 Bücher Kathedrale von Badajosz (Spanien) (Foto: Wikipedia/Cascoantiguoba) Verbrechen oder Geschlechtsakt zu berichten. Bertrana nutzt die Sprache, um ein genaues und groteskes Bild des Mordes zu zeichnen oder um den einfachen Akt phantasievoll zu gestalten, indem sich die beiden Protagonisten in Wesen der griechischen Mythologie verwandeln. Die Besonderheit der Sprache macht das Hauptwerk Bertranas verstörend interessant. Die Detailgenauigkeit, die er anwendet, kann den Leser somit fesseln, obgleich der Inhalt des Buches eine vollkommen gegenteilige Wirkung haben kann. Der Einstieg in das Buch Josafat oder Unsere Liebe Frau von der Sünde kann – im Gegensatz zu den folgenden Geschehnissen – (schon fast) als recht gewöhnlich angesehen werden. Der Leser wird durch Bertrana in die ‚Szene‘ eingeführt, indem dieser die „düsteren Labyrinthe der Kathedrale Unserer Lieben Frau“ beschreibt und uns somit einen vorerst noch harmlosen ‚Rundgang‘ durch Josafats Welt gibt (S. 75). Verstörend wird die Geschichte, sobald Bertrana den Glöckner Josafat zu beschreiben beginnt. Dessen Leben ist geprägt durch die 78 © wasser-prawda Bücher Catedral Velha de Plasenicia (Foto; Wikipedia) katholische Kirche, deren absolutistischen Glauben und ihr Weltbild. Die Macht, die der Katholizismus somit auf Josafat ausübt, bestimmt sein Leben – nicht nur beruflich, ebenso privat. Seine „zwei Leidenschaften“, Jähzorn und Wollust – beide zugehörig zu den sieben Todsünden – treiben den Glöckner in die Katastrophe seines Lebens (S. 13). Eine verstrickte und sadomasochistische Beziehung zwischen den beiden Protagonisten, Josafat und der Prostituierten Fineta, entwickelt sich. Sie spitzt sich in dem Moment zu, in dem der Glöckner sich besinnt, von dem „Flittchen“ und den Todsünden abschwört und sich dem Katholizismus wieder zuwendet. Das Buch Josafat oder Unsere Liebe Frau von der Sünde beinhaltet eine verstörende Geschichte, auf die man sich als Leser einlässt oder nicht. Wie schon erwähnt, ist sie trotz des beunruhigenden Inhalts, dennoch interessant zu lesen. Wobei der faszinierende Aspekt auf der außergewöhnlichen Sprache Bertranas liegt, die mit ihrer Detailgenauigkeit (z.B.: die Beschreibung der Kirche im ersten Kapitel) und der bizarren Vielfalt (z.B.: die brutale Darstellung eines Mordes im Gegensatz zu dem Einsatz von mythologischen Wesen) für außergewöhnlichen Lesestoff sorgt. © wasser-prawda 79 Sprachraum Christoph Gross: Over the Rainbow Die sogenannte „Realität“ Ist nur ein Teil der Fantasie. Kreationisten, Intelligenztests, Bandagen... Das unsagbar Böse... Echte Schweine, Menschenopfer... Kiemen... Ein „grosser Schelm“ spricht Zu einem „mittelgrossen See“ und Einem „kleinen Teiche“ (Die er Beide kennt): „‚Mittelgrosser See‘ und ‚kleiner Teich‘: Ihr seid euch gleich!“ Adelstitel, Thriller, Antihelden... 80 © wasser-prawda Sprachraum Navy SEALs, Spielhallen... In der schönen Stadt Bern wird Ein Vampir erlöst Von einem Müden Schriftsteller. – Blosse Zeichen Werden zu Magischen Symbolen... Nunmehr hält Der Schriftsteller Eine bizarre Geschichte, welche Er vor Vielen Jahren Selber erfunden Hat, für Sein Leben! Märtyrer, Passwörter, Rachefantasien... Wirbellose, Schnappschildkröten, Handschuhe... Die sogenannte „Aufklärung“ Hat einen Menschenschlag Hervorgebracht, der hoffnungslos Unfähig ist, den Zauber der Welt Wirklich wahrzunehmen; Und gewisse Leute nennen Dies nun die „Entzauberung der Welt“: Diese armen Krüppelwesen! Diplomaten, Seifenopern, Tierkreiszeichen... Bewusstseinsstörungen, Poltergeister, Szenenbildner... „Es haben alle Rebellen Den Satan zum Gesellen!“ Kruzifixe, Werbekampagnen, Schusswaffen... Jahre, Umweltaktivisten, Revolverhelden... Man sollte alle Sachbücher verbrennen; denn In Sachbüchern findet Man ausschliesslich Lügen! Federmesser, Hörspiele, Plagiate... © wasser-prawda 81 Sprachraum Gilbert Keith Chesterton - Verteidigung des Schundromans Bis zu welchem Grade wir das alltägliche Leben unterschätzen, zeigt sich am auffallendsten an der populären Literatur, deren große Masse wir immer als vulgär beschreiben. Des Knaben Geschichtenbuch mag ja literarischen Ansprüchen nicht gerecht werden, aber das heißt so viel wie vom modernen Roman sagen, daß der von der Chemie, der Astronomie, der Sozialökonomie nichts 82 © wasser-prawda Sprachraum verstünde; dennoch ist es nicht vulgär an sich – vielmehr bildet es den tatsächlichen Mittelpunkt zahlloser feuriger Imaginationen. In früheren Zeiten hatten die Gebildeten keine Kenntnis von der populären Literatur. Dadurch kam es auch zu keiner eigentlichen Geringschätzung. Wovon ich nichts weiß, und was mich gänzlich gleichgültig läßt, gibt mir zur Selbstüberhebung keinerlei Anlaß. Deshalb zieht noch keiner hochmütig die Straße hinab und dreht sich selbstgefällig den Schnurrbart in die Höhe, weil er sich seine Überlegenheit über irgendeine Gattung von Tiefseefischen zu Gemüte führt. In ähnlicher Ferne ließ das ganze Untergebiet der populären Literatur die gebildete Welt von ehemals. Heutzutage hat sich dieser Grundsatz verschoben. Wir verachten zwar die vulgäre Literatur nach wie vor, aber wir ignorieren sie nicht. Wir sind auf dem Wege, trivial zu werden, so sehr befassen wir uns mit dem Studium der Trivialitäten; es lauert im Hintergrund das furchtbare Gesetz der Circe, daß die Seele, welche allzusehr sich herabläßt, um etwas zu erforschen, sich nicht mehr emporrichten kann. Keine Gattung populärer Schriften wird meines Erachtens zum Gegenstand so lächerlicher Übertreibungen und Mißverständnisse gemacht, wie die landläufige Knabenliteratur niedrigster Sorte. Diese Gattung hat vermutlich jederzeit existiert und mußte existieren. Sie darf ebensowenig Anspruch erheben, gute Literatur zu sein, als ihre Leser in den täglichen Gesprächen, die sie führen, auf große Rednertalente Anspruch erheben, oder die Klassenzimmer und Stuben, in welchen sie wohnen, architektonische Meisterwerke sein wollen. Aber deshalb müssen sie doch sprechen, in ihren Häusern weiterwohnen und ihre Lektüre haben. Das einfache Bedürfnis nach einer idealen Welt irgendwelcher Art, in der erdichtete Personen ungehindert sich entfalten können, ist viel tiefer eingewurzelt und viel älter als alle (Gesetze der Kunst, und ist auch viel wichtiger. Ein jeder von uns hat in seiner Kindheit solch unsichtbare dramatis personae ins Leben gerufen, aber nie ist es unseren Kindsfrauen dabei eingefallen, diese Kompositionen auf Grund eines sorgfältigen Vergleiches mit Balzacs Schriften nachzukorrigieren. Im Orient wandert der Geschichtenerzähler von Beruf mit einem kleinen Teppich von Dorf zu Dorf; und ich hätte den aufrichtigen Wunsch, daß einer bei uns zulande den moralischen Mut besäße, diesen Teppich in Berlin N oder am Pariser Platz auszubreiten und Platz darauf zu nehmen. Aber die Geschichten jenes Teppichträgers werden schwerlich alle von höchster künstlerischer Vollendung sein. Literatur und Geschichten sind zwei sehr verschiedene Dinge. Die Literatur ist ein Luxus; die Geschichten sind eine Notwendigkeit. Ein Kunstwerk kann sozusagen nicht kurz genug sein, denn in seiner Klimax beruht sein Wert. Eine Geschichte kann nie zulange sich hinausspinnen, denn nur mit Bedauern sieht man sie ans Ende gelangen, und während der Künstler immer größere Gedrungenheit und Kürze anstrebt, ist größte Weitschweifigkeit ein Merkmal alles echt romanesken Plunders. Zwischen Kasperl und dem Polizisten kommt es nie zu einem Ende. Die beiden sind schlankweg als zwei unsterbliche Typen hingestellt. Aber statt bei Erörterung des Problems von der offenkundigen Tatsache auszugehen, daß die Knaben aus dem Volke von jeher ungefüge und endlose romantische Lektüre pflogen, und dann für deren Sanierung Sorge zu tragen, – setzen wir gewöhnlich damit ein, daß wir in Bausch und Bogen alle derartige Literatur verdammen und uns höchlichst verwundert und entrüstet zeigen, weil die jungen Laufburschen, die hier in Frage kommen, nicht die »Wahl- © wasser-prawda 83 Sprachraum verwandtschaften« oder den »Baumeister Solneß« lesen. Besonders sind es Gerichtspersonen, welche die meisten Verbrechen der Großstadt der Schundliteratur zur Last legen möchten. Wenn ein Betteljunge einen Apfel stiehlt, wird darauf hingewiesen, daß er die Kenntnis von der Schmackhaftigkeit des Apfels allerlei ungesunden Büchern entnahm. Die Jungen selbst, wenn sie sich reumütig zeigen, berufen sich gerne mit heftiger Erbitterung auf Schauermären, wie es von Rangen, die einigen Humor besitzen, gar nicht anders zu erwarten ist. Aber die meisten Leute sind fest überzeugt, daß es eine Spezialität der Gassenbuben ist, die Hauptmotive für ihre Handlungsweise aus gedruckten Büchern zu schöpfen. Nun bezieht sich aber jene von Gerichtspersonen gerne vorgebrachte Beschuldigung keineswegs auf den literarischen Unwert besagter Bücher. Schlecht geschriebene Bücher zu veröffentlichen ist kein Verbrechen. Da kämen gar viele Stilgebauer ins Gefängnis. Sondern man geht hier von der Theorie aus, daß die Masse der Knabenbücher niedrig und verbrecherisch ist, und den Instinkten niedriger Habgier und Grausamkeit schmeichelt. Dies ist die Theorie des hochlöblichen Gerichts und sie ist barer Unsinn. Meine Erfahrungen betreffs der zerlumptesten Bibliotheken, die ich in den ärmsten Stadtvierteln vorfand, sind einfach folgende: Der ganze Wust von vulgären Knabenbüchern befaßt sich mit unzusammenhängenden endlosen Abenteuern und Wanderschaften. Leidenschaften spielen sich da keine ab, denn es kommen keinerlei Charaktere vor. Es dreht sich alles um gewisse lokale und hergebrachte Typen: den mittelalterlichen Ritter, den Duellisten des 18. Jahrhunderts, und den modernen Auswanderer, der sein Glück in den Goldgruben von Kalifornien suchen geht. Unter diesen Erzählungen gibt es eine Unzahl, die sich mit den Abenteuern der Räuber, Flüchtlinge und Piraten befassen und Diebe und Mörder in einem romantischen Licht hinstellen. Aber was tun die Romane von Walter Scott anderes, oder Byrons Korsar, oder eine Schar anderer Bücher, die unentwegt als »Preise« oder Weihnachtsgeschenke zur Austeilung gelangen? Niemand wird sich einfallen lassen, zu glauben, daß Schillers »Räuber« oder der »Götz von Berlichingen« einen Knaben zu wilden Ausschreitungen veranlaßten. Wo unsere eigene Klasse in Frage kommt, geben wir gerne zu, daß romantische Schicksale mit Vergnügen von der Jugend vernommen werden, nicht weil sie ihrem eigenen Leben ähnlich, sondern weil sie verschieden davon sind. So könnte uns doch auch der Gedanke kommen, daß, welches immer die Gründe seien, die den kleinen Laufburschen zur Lektüre des »Nil Carter« und derartiger Bücher bewegen, es doch gewiß nicht diese sind, daß er selbst von dem Blute seiner Freunde und Verwandten trieft. In diesen wie in allen ähnlichen Dingen entfernen wir uns gänzlich von dem richtigen Standpunkt, indem wir von den »niederen Klassen« sprechen, und dabei die Menschheit mit Ausnahme von uns selbst meinen. Diese triviale romantische Natur ist nicht ausschließlich plebejisch: sie ist einfach menschlich. Wir haben den ganzen Plunder dieser Sorte von Büchern als eine krankhafte Ungeheuerlichkeit hingestellt, während sie nichts anderes ist als törichtes, gesundes Menschentum. Gewöhnliche Leute werden stets zur Sentimentalität neigen: wer gefühlvoll, aber um keine neuen Ausdrucksmittel für seine Gefühle besorgt ist, ist ein Sentimentaler. Diesen populären Schriften haftet nichts wesentlich Böses an. Sie bringen die sanguinischen und heroischen Gemeinplätze zum Ausdruck, auf welchen die Zivilisation gegründet ist; denn 84 © wasser-prawda Sprachraum so viel ist klar, daß die Zivilisation auf Gemeinplätzen gegründet ist, oder überhaupt der Grundlage entbehrt. Welche Sicherheit könnte eine Gemeinde haben, welche die Behauptung des Staatsanwaltes, daß der Mord ein Unrecht sei, als ein originelles und glänzendes Paradox empfände? Wenn die Herausgeber und Verfasser der Schundromane plötzlich die gebildete Klasse unter Kuratel stellen, unsere Romane konfiszieren und uns ermahnen wollten, ein besseres Leben zu führen, so würden wir dies sehr schief aufnehmen. Dennoch hätten sie dazu viel größeres Recht als wir; denn bei aller Dummheit sind sie normal, wir aber abnorm; und die moderne Literatur der Gebildeten, nicht der Ungebildeten ist es, die offenkundig und aggressiv eine verbrecherische ist. Bücher, die den Pessimismus und die Sittenlosigkeit befürworten, und vor welchen der hochherzige Laufjunge zurückschaudern würde, liegen in allen Empfangszimmern auf. Wenn der lumpigste Tändler sich vermessen wollte, Bücher in seiner Auslage zu haben, die den Selbstmord oder die Bigamie ausdrücklich verteidigen, so würde ihm der ganze Vorrat schleunigst von der Polizei beschlagnahmt werden. Denn solche Dinge werden nur als unser Luxusartikel geduldet. Und mit einer Heuchelei und einem Aberwitz sondergleichen verweisen wir den Gassenbuben ihre Unmoral, während wir die Frage aufwerfen, ob es überhaupt eine Moral gibt. Während wir die Schundliteratur verwünschen, weil sie das Volk antreibt, die Besitzenden ihres Eigentums zu berauben, erklären wir jeglichen Besitz für Raub. Und wir beschuldigen (ganz ungerechtfertigterweise) diese Bücher der Unsittlichkeit, während wir mit philosophischen Systemen uns vertraut machen, die alle Ausschweifungen geradezu glorifizieren; und wir legen ihnen die vielen Selbstmordfälle junger Leute zur Last, während wir ruhig die Frage erörtern, ob denn das Leben wert sei, daß man es erhalte. Ja, wir sind die morbiden Ausnahmen, wir sind es, welche die Klasse der Verbrecher genannt zu werden verdient. Dies sollte uns zum großen Trost gereichen. Die große Masse der Menschheit ist es, die mitsamt ihrer Masse unnützer Bücher und Worte es nie in Zweifel zog und nie in Zweifel ziehen wird, daß der Mut etwas Herrliches, die Treue etwas Edles sei, daß man bedrängten Frauen beistehen und überwundene Feinde verschonen solle. Es gibt aber auch eine große Anzahl gebildeter Leute, die so alltägliche Grundsätze anzweifeln, wie es eine Anzahl Menschen gibt, die sich für den deutschen Kaiser oder König Eduard halten; und ich höre, daß beide Arten von Leuten sehr unterhaltende Reden vorbringen können. Die Norm aber schöpft aus ihren gewohnten überschwenglichen sogenannten Schundromanen eine bessere und gesündere Moral, als sie in den glänzenden ethischen Paradoxen zu finden ist, die bei der vornehmen Welt so rasch wie ihre Moden wechseln. Es mag von recht primitiver Moral zeugen, einen »abgefeimten Bösewicht« niederzuschießen, aber sicherlich taugt sie mehr, als die in so manchen modernen Systemen enthaltene, von d‘ Annunzios Büchern abwärts. Solange die grobe und seichte Schicht der gewöhnlichen populären Romantik von einer armseligen Kultur unberührt bleibt, wird sie nie wirklich unmoralisch sein. Sie steht immer auf der Seite des Lebens. Die Armen, die Sklaven, die in Wahrheit von der Last des Lebens gebeugten, sind oft kopflos, wild und grausam gewesen, aber niemals hoffnungslos. Letzteres war stets ein Vorrecht der Gebildeten, wie gute Zigarren. Die populäre Literatur mit ihrem »Donner und Blut« wird stets einfach sein wie der Donner unter dem Himmel und das Blut des Menschen. © wasser-prawda 85 Sprachraum Robert Kra (1869 - 1916) Manchmal wird der Abenteuerschriftsteller Robert Kraft (der auch unter den Namen Knut Larsen, Leo von Hagen, Fred Barker, Harry Drake, R. Starke und Harry Strong schrieb) mit Karl May verglichen. Andere nennen ihn den „deutschen Jules Verne“. Mit May verband ihn nicht nur eine lose Bekanntschaft. Auch war er nach May beim Kolportageverleger Münchmayer in Dresden beschäftigt. Doch anders als May war er schon vor dem Schreiben an vielen Orten seiner oft ausschweifenden Romane gewesen. Denn er war einige Jahre als Seemann durch die Welt gefahren. Mit Jules Verne wird er verglichen, weil er ähnlich wie er eine Faszination für die technischen Entwicklungen der Zeit und der möglichen Zukunft aufnahm. Ansonsten: Bei seinen Romanen weiß man oft am Anfang nicht, was einen alles erwartet: Detektivgeschichten können ebenso vorkommen wie Seefahrerromantik oder frühe Science Fiction und Westernabenteuer. Das Romanungetüm „Die Vestalinnen“ könnte man als einen der ersten emanzipierten Abenteuerromane der deutschen Literatur bezeichnen. 86 R˘ˋˎ˛˝ K˛ˊˏ˝ - D˒ˎ Vˎ˜˝ˊ˕˒˗˗ˎ˗ Eine Reise um die Erde. Abenteuer zu Wasser und zu Lande. Erzählt nach eigenen Erlebnissen. Band 1. 1. Im Yachtklub zu London. In Westminster, dem vornehmsten Viertel Londons, erhebt sich ein Gebäude, dessen prächtiges Aeußere noch von der inneren, luxuriösen Einrichtung übertroffen wird. Spiegelsaal reiht sich an Spiegelsaal, und man glaubt sich beim Durchwandern dieser herrlichen Räume, beim Anblick der zahlreichen Dienerschaft in © wasser-prawda Sprachraum das Schloß eines Fürsten versetzt, der hier seine Residenz aufgeschlagen hat. Es gehört dem Yachtklub ›Neptun‹, dessen Mitglieder zu der höchsten Aristokratie des Landes zählen. Heute abend waren die Herren besonders zahlreich vertreten. Einer Einladung ihres Präsidenten zufolge waren sie aus allen Ortschaften Englands zusammengekommen, denn gewiß hatte ihnen der Vorsitzende des Klubs, Lord James Harrlington, etwas Wichtiges mitzuteilen. Lord James Harrlington besaß die besten und am schnellsten segelnden Yachten und war im Führen derselben Meister, sodaß er allein deswegen zum Vorsitzenden des Klubs gewählt worden wäre; außerdem aber stach er schon durch sein Aeußeres und seine persönlichen Eigenschaften vor den anderen Mitgliedern hervor, welche sich ihm willig unterordneten, weil sie seine Überlegenheit kannten. Schon vor einiger Zeit hatte dieser Lord seine Freunde eingeladen, mit ihm eine Reise um die Erde anzutreten, wozu er auf einer Werft der Insel Wight den Bau eines Schiffes selbst leitete, aber damals waren nur wenige damit einverstanden gewesen. Doch die fieberhafte Hast, mit welcher Lord Harrlington den Schiffsbau betrieb, das Geheimnis, mit dem er seine bevorstehende Reise umgab, hatten die Herren doch sehr neugierig gemacht. Ungesäumt waren sie der Aufforderung, im Klubhaus einzutreffen, nachgekommen. Es herrschte eine gespannte Stimmung unter den Mitgliedern. Trotzdem die Abendmahlzeit schon vorüber war und die Herren im Rauchsalon Platz genommen hatten, ließ der Vorsitzende selbst immer noch auf sich warten. »Ich wette,« rief Charles Williams, ein von seinem Vermögen lebender Gentleman, genannt ›der lustige Charles‹, weil er stets voll des unverwüstlichsten Humors und der tollsten Einfälle war, »ich wette, daß Lord Harrlington für uns irgend eine große Ueberraschung bereit hält oder uns einen Narrenspossen spielen will.« »Er ist jedenfalls noch auf der Insel Wight bei seinem neuen Schiffe,« entgegnete Edgar Hendricks, des ersteren spezieller Freund, ein blutjunges, mädchenhaft aussehendes Kerlchen. »Ich möchte nur wissen, was Harrlington im Schilde führt. Sein ganzes Treiben in letzter Zeit war wirklich geheimnisvoll.« »Vielleicht will er sich als Seeräuber etablieren,« lachte sein Freund, »ich habe letzthin das neue Fahrzeug angeschaut. Fast sieht es aus, als ob auf demselben Geschütze aufgestellt werden könnten.« »Well!« rief Lord Hastings, ein herkulisch gebauter, junger Mann, der den ganzen Abend gähnend und in Zeitungen lesend in einem Lehnstuhl gesessen hatte. »Das wäre wenigstens einmal eine vernünftige Idee, die in dieses langweilige Dasein Abwechslung brächte. Ich wäre mit bei der Partie.« »Dann schlage ich vor,« sagte ein anderer Herr, »wir segeln in die indischen Gewässer, wählen Harrlington zum Hauptmann, Lord Hastings und Williams zu Offizieren, plündern chinesische Fahrzeuge und hängen die langzöpfigen Burschen an den Raaen auf.« »Lord Harrlington,« meldete in diesem Augenblick ein Diener, indem er die Thür öffnete und den Vorsitzenden eintreten ließ. Lord James Harrlington war eine schlanke, elegante Erscheinung mit einem stolz getragenen Kopf. Das hübsche, frische Ge- © wasser-prawda 87 Sprachraum sicht wurde durch einen kecken, blonden Schnurrbart geziert, und ebenso keck und lustig, aber zugleich auch kühn blickten die blauen Augen. Wer den Lord so in dem modernen Anzug sah, hätte nicht geglaubt, daß in dieser nicht übermäßig kräftigen Gestalt eine ungeheure Elastizität und Gewandtheit, verbunden mit außergewöhnlicher Kraft, wohnten. Der Lord hatte schon beim Eintritte ein Zeitungsblatt aus der Tasche gezogen und faltete dasselbe nun auseinander. Er winkte den ihn umdrängenden Herren, wieder Platz zu nehmen, da sie, außer Lord Hastings, alle aufgesprungen waren. »Meine Herren,« begann er mit volltönender Stimme, »entschuldigen Sie zunächst mein spätes Kommen. Diese Zeitung hier ist schuld daran, wie Sie gleich erfahren werden. »Ich hatte,« fuhr er fort, »alle Mitglieder des Klubs ›Neptun‹ vor etwa einem Jahre eingeladen, mit mir eine Reise um die Erde zu unternehmen, da aber den Herren etwas Derartiges nichts Neues ist, erhielt ich keine Zusagen. Hätte ich freilich damals schon gesagt, warum ich diese Weltreise antreten will, so hätte ich sicher von keinem eine abschlägige Antwort erhalten. »Was heute diese Zeitung, die neueste Nummer der ›Times‹, verkündet, war mir schon vor einem halben Jahre bekannt und veranlaßte mich, den Bau meines Schiffes mit solcher Eile zu betreiben.« »So spannen Sie die Herren doch nicht länger auf die Folter,« rief Lord Hastings. »Sie sehen, Williams vergeht bald vor Neugier.« »So hören Sie denn, meine Herren,« fuhr Harrlington fort, »was der ›Times‹ berichtet wird. Hier steht: »New-York, den 12. April. Heute können wir endlich unseren Lesern mitteilen, wem das auf der Werft von Dicksen erbaute Vollschiff gehört, dessen kühne Konstruktion die Bewunderung aller Sachverständigen hervorgerufen hat. Die amerikanischen Damen haben wieder einmal durch ihre Erfindungsgabe im Gebiete des Seesports alle ihre Schwestern in anderen Ländern übertroffen.« »Alle Wetter!« unterbrach der lustige Charles den Vorlesenden. »Ich habe eine großartige Ahnung!« Harrlington las weiter: »Vor einem Jahre teilten wir mit, daß der Damenruderklub ›Ellen‹ sich plötzlich aufgelöst habe und alle seine Mitglieder spurlos verschwunden seien. Jetzt erst erfahren wir, daß sich die Damen auf eine einsame Insel an der Ostküste Nordamerikas zurückgezogen hatten, wo sie unter Leitung von bewährten Seeleuten Unterricht im Arbeiten in der Takelage eines Segelschiffes nahmen, 88 © wasser-prawda Sprachraum als Matrosen in Sonnenschein und Sturm auf dem Ozean kreuzten und nebenbei nautische Wissenschaften trieben. Vorgestern kehrten die Damen nach New-York zurück, und allein elf von den vierundzwanzig Mitgliedern haben vor der Prüfungskommission das Steuermannsexamen für große Fahrt mit Auszeichnung bestanden, darunter die Vorsitzende des Klubs, Miß Ellen Petersen, von deren Siegen im Einzelboot wir schon früher öfters zu berichten hatten, und die das beste Examen ablegte. Weiter erfuhren wir, daß die Damen auf jenem neuen Segelschiffe eine Reise um die Erde zu unternehmen gedenken, und zwar als Matrosen, ohne Dienerinnen mitzunehmen oder männliche Hülfe sich zu sichern. Erst gestern wurde das Schiff mit großer Feierlichkeit von Miß Petersen auf den Namen ›Vesta‹ getauft. Die Ladies selbst nennen sich ›Vestalinnen‹. Leider wird jedem Mann ohne Ausnahme der Zutritt zum Schiff verweigert, sodaß wir über die innere Einrichtung desselben keine Auskunft geben können; doch soll sie, so weit man unter solchen Umständen darüber urteilen kann, großartig sein. Wann das Schiff mit seiner weiblichen Besatzung in See stechen soll, ist vorläufig noch völlig unbekannt.« Lord Harrlington blickte auf. »Einzig,« rief Hendricks und schlug mit der Faust auf den Tisch, »da möchte ich mit dabei sein.« »Du würdest auch gut dazwischen passen,« lachte Williams. »Still,« beschwichtigte Harrlington, »hier ist noch ein Zusatz: »New-York, den 13. April abends. Heute morgen verließ die ›Vesta‹ unter flatternden Wimpeln den Hafen. Die Damen, in kleidsamer Matrosentracht, waren zum Teil in die Wanten (Strickleitern) und in die Raaen aufgeentert und winkten von dort den Hunderten von begleitenden Booten und Dampfern ein Lebewohl zu. Im freien Fahrwasser wurde das Schiff vom Schleppdampfer gelöst, und Miß Ellen Petersen, auf der Brücke stehend, übernahm das Kommando. Es war eine Freude, zu sehen, mit welcher Schnelligkeit und Gewandtheit die Vestalinnen die Segelmanöver ausführten, wie sich im Nu ein Segel nach dem anderen entrollte, wie sich das Schiff unter der schneeweißen Last auf die Seite legte und, von einer Südbrise gefaßt, der Ferne zustrebte. Durch ein gutes Fernglas konnte man noch lange die schönen Matrosen in ihrer gefährlichen Arbeit auf den Raaen beobachten. Niemand außer ihnen selbst weiß, welchen Hafen sie zunächst anlaufen werden. Jedenfalls wünschen wir der ›Vesta‹ und ihrer schönen Besatzung eine glückliche Reise und guten Wind; mögen sie das Sternenbanner der Vereinigten Staaten über allen Ländern und Meeren stolz flattern lassen.« »Die amerikanischen Ladies haben die englischen wieder einmal überflügelt,« schloß Lord Harrlington seinen Vortrag und steckte die Zeitung ein, »aber bald genug werden sie Nachahmer finden.« Atemlos hatten die Herren gelauscht. Selbst der phlegmatische Hastings hatte seinen Schaukelstuhl verlassen und war an den Tisch getreten. »Es ist doch schändlich,« rief er jetzt mit donnernder Stimme, »ich sitze hier und vergehe fast vor Langeweile, während andere immer neue Einfälle haben. Wenn das nicht bald anders wird, so ziehe ich Weiberkleider an und schmuggle mich an Bord der ›Vesta‹ ein.« Er strich sich durch den kurzen Vollbart und warf einen prüfenden Blick an seiner riesigen Figur hinunter. © wasser-prawda 89 Sprachraum Auch die anderen Mitglieder brachen in Ausrufe der Verwunderung und des Beifalls über diese Absicht der amerikanischen Damen aus. »Die Vesta,« begann Lord Harlington abermals, nachdem die Ruhe wieder hergestellt war, »war bekanntlich die römische Göttin der Erde und hatte bei ihrem Bruder Zeus geschworen, den Werbungen des Gottes des Meeres, des Neptun, nachdem unser Klub benannt ist, kein Gehör zu schenken, sondern Jungfrau zu bleiben. Ihre Priesterinnen, die Vestalinnen, mußten das Gelübde der Keuschheit ablegen und wurden bei Übertretung desselben mit dem Tode bestraft.« Er schwieg lächelnd. »Da paßte unser Klub ›Neptun‹ eigentlich vortrefflich zum Reisebegleiter,« meinte Williams. Lord Harrlington nickte belustigt. »Deshalb fordere ich hiermit die Mitglieder des ›Neptun‹ nochmals auf, mich auf meiner Reise um die Erde zu begleiten. Mein neues Schiff, eine mit einer Hilfsmaschine ausgestattete Segelbrigg, ist auf den Namen ›Amor‹ getauft und soll der keuschen ›Vesta‹ während ihrer Fahrt als Beschützer, wenn auch als ungewünschter, zur Seite bleiben.« »Hip, hip, Hurrah,« schrie der lustige Charles Williams und machte einen Bocksprung über seinen Stuhl, »das ist ein Gedanke.« »Bravo,« riefen auch die anderen, »wir fahren ihnen nach.« Am meisten erregt war Lord Hastings; er schlug wiederholt auf den Tisch, daß die Gläser umfielen, und erklärte diesen Tag für den gesegnetsten seines Lebens. Ein allgemeiner Tumult entstand. Jeder wollte sprechen, jeder einen neuen Plan zum besten geben. Die beiden unzertrennlichen Freunde, Charles Williams und Edgar Hendricks schwuren hoch und heilig, als Weiber an Bord der ›Vesta‹ zu kommen, ein anderer schlug vor, den ›Amor‹ in den Grund zu bohren uud sich von den Vestalinnen als Schiff brüchige aufnehmen zu lassen; Lord Hastings fragte Harrlington, ob er Kanonen an Bord mitnehme, wegen der Seeräuber, und wenn keine kommen sollten, würde er eigens eine malayische Prau auf die ›Vesta‹ hetzen, um dann rettend eingreifen zu können. »Aber,« unterbrach einer den Lärm, »wir wissen ja nicht, wo wir die ›Vesta‹ treffen sollen!« »Dafür ist gesorgt,« sagte Lord Harrlington geheimnisvoll. »Mir wird stets ihr nächster Hafen bekannt sein, woher, darf ich nicht verraten; ein Versprechen bindet meine Zunge. Doch lassen Sie uns jetzt festsetzen, wer von den Herren mit meinem Vorschlage einverstanden ist, ferner, wann wir abfahren wollen uud was für Vorbereitungen notwendig sind!« Nur ein einziges Mitglied schloß sich aus, alle übrigen siebenundzwanzig Herren waren bereit, sich acht Tage später von der Insel Wight aus auf dem ›Amor‹ einzuschiffen. Derselbe war eine Brigg, d. h. er hatte zwei Masten mit vollen Raaen, aber außerdem, wie erwähnt, noch eine kleine Hilfsmaschine, um mit deren Kraft auch bei Windstille, sowie selbst gegen den Wind fahren zu können. »Heute morgen verließ die »Vesta« unter flatternden Wimpeln den Hafen,« las Harrlington. Die ›Vesta‹ dagegen war ein Vollschiff, d. h. sie hatte drei Masten mit allen Raaen, war aber ohne Maschine. 90 © wasser-prawda Sprachraum © wasser-prawda 91 Sprachraum Es wurde ausgemacht, daß die Takelage des ›Amor‹ ebenso, wie die der ›Vesta‹, von den Mitgliedern des Sportklubs bedient werden sollte. Nur sollten noch sechs Leute mitgenommen werden, welche die Maschine zu versorgen hatten und, wenn diese außer Dienst war, die niederen Arbeiten für die Herren verrichten sollten. Außerdem ließ sich Lord Harrlington, welcher selbstverständlich die Stelle des Kapitäns erhielt, durch seinen treuen Diener, einen Neger, begleiten. Als erster Steuermann wurde von den übrigen Mitgliedern einstimmig Lord Hastings gewählt, als zweiter John Davids, ein sehr beliebter, thatkräftiger, junger Mann. Erst spät in der Nacht trennten sich die Herren, um die letzten Tage in England zur Regelung ihrer Verhältnisse und zur Ausrüstung für die Reise zu benutzen. »Sie wohnen in meinem Hotel?« fragte Harrlington Lord Hastings. »Dann können Sie meinen Wagen benutzen.« Als die Equipage durch die Straßen fuhr, begann plötzlich der sonst sehr schweigsame Hastings: »Apropos, Harrlington. Errang nicht, als wir beide vor zwei Jahren in New-York zur Regatta waren, jene Miß Ellen Petersen den Sieg über Sie?« Lord Harrlington nickte stumm. »Alle wunderten sich damals, daß Ihre Kräfte im letzten Augenblicke nachließen, sodaß das Boot der Lady kurz vor dem Ziele an dem Ihren vorbeischoß. Offen gestanden, es war eine starke Blamage für unseren Klub, von einem Weibe besiegt zu werden.« Harrlington seufzte. »Ihnen will ich es bekennen,« fügte er endlich, »daß ich mit Absicht meine Fahrt mäßigte.« »Ah!« rief Hastings überrascht. »Als ich sah, wie die schöne Ellen vor Eifer glühte, als die erste das Ziel zu passieren, wie sie sich mit Macht in die Riemen legte, wie sich ihr in engen Trikot gekleideter Körper graziös hin- und herbewegte, da hatte ich alles andere vergessen, und als ich ihr Frohlokken über mein Zurückbleiben in ihren lieblichen Zügen sah, gab ich es auch auf, sie wieder einzuholen. Ich hätte ihr die Freude um alles in der Welt nicht verderben mögen.« Lord Hastings schwieg eine Weile. »Man sagte damals,« begann er dann wieder, »Sie hätten um die Hand der Siegerin angehalten und eine abschlägige Antwort bekommen?« Eine Weile blieb Lord Harrlington die Entgegnung schuldig. Dann streckte er plötzlich dem anderen die Hand entgegen und rief im warmen Tone: »Lord Hastings, Sie sind mein Freund!« Der Ueberraschte schüttelte ihm herzhaft die dargebotene Rechte. »Das weiß doch niemand besser, als Sie selbst, wenn ich auch meine Freundschaftsgefühle nicht so äußern kann, wie dies sonst in der Gesellschaft Mode ist.« »Ich weiß dies. Hören Sie denn: Ja, ich habe Miß Ellen meine Liebe gestanden und liebe sie noch jetzt, ohne Gegenneigung zu finden. Aber bei allen Himmeln, jetzt ist die Zeit gekommen, wo ich sie mir erringen werde! Mag sie noch so stolz, so kalt, so geringschätzend von den Männern denken, während dieser Reise wird sie sehen, was es heißt, einen Beschützer, treu bis zum Tode, zur Seite zu haben. Und führe sie bis ans Ende der Welt, ich werde ihr folgen.« Und ruhiger fuhr er fort: 92 © wasser-prawda Sprachraum »Miß Ellen droht eine große Gefahr, von der sie selbst keine Ahnung hat; ihr Leben hängt an einem Haar. Lord Hastings, wollen Sie mir beistehen, dieses junge Menschenleben, dem meine Liebe gehört, zu beschützen?« Wieder streckte er dem Freunde die Hand entgegen. »Ich will,« sagte dieser einfach. »Doch wer sollte diesem unschuldigen Weibe verderblich gesinnt sein?« »Noch kann ich es nicht sagen; es fehlen mir die Beweise, um eine Person mit Namen zu nennen. Aber jedenfalls ist beschlossen worden, sie während dieser Reise aus der Welt zu schaffen. Nicht ein abenteuerliches Unternehmen hatte ich vor, als ich die Mitglieder des Klubs zur Begleitung aufforderte. Eine Schar starker, mutiger und thatkräftiger junger Leute wollte ich um mich haben, wenn ich der ›Vesta‹ folgte. Mir ahnt, daß Sie nicht vergebens auf allerlei Abenteuer warten werden; denn jene Schurken, welche der einzigen Erbin von unzähligen Reichtümern nach dem Leben trachten, werden keine Mittel scheuen, ihren Zweck zu erreichen. Oft genug werden wir Kämpfe gegen unbekannte Feinde zu bestehen haben.« »Desto besser,« schmunzelte Lord Hastings und rieb sich die Fäuste, mit denen er Kieselsteine hätte zermalmen können. Der Wagen hielt. »Gute Nacht,« sagte auf dem Korridor des Hotels Lord Harrlington. »Wir sehen uns morgen früh nicht wieder, denn ich reise mit dem ersten Zuge nach der Insel Wight. In acht Tagen treffen wir uns alle dort.« © wasser-prawda 93 Sprachraum A.S. der Unsichtbare Kriminalroman von Edgar Wallace. Aus dem Englischen von Ravi Ravendro 15. Fortsetzung und Schluss. 31 Es gab einen Mann, der diese Aussage von Hilda Masters lesen mußte, überlegte Andy. Seit einiger Zeit schon hatte er den Verdacht, daß Mr. Salter mehr über seinen Freund Severn wußte, als er vorgab. Er sandte ein Telegramm nach Beverley Hall und bat um eine Unterredung. Als er nach Beverley Green zurückkam, erwartete ihn dort eine Nachricht, daß er sofort kommen möge. »Ich werde dich begleiten«, sagte Stella. »Ich kann ja solange in deinem Wagen warten.« Der vorsichtige Tilling schien ängstlicher denn je zu sein. »Sie müssen sehr behutsam sein, Herr Doktor. Er hat schlecht geschlafen, und der Arzt sagte zu Mr. Francis – das ist unser junger Herr –, daß jeden Augenblick mit einem Zusammenbruch zu rechnen sei.« »Ich danke Ihnen, ich werde es berücksichtigen.« Als Andy in das Zimmer trat, fand er, daß Tilling nicht übertrieben hatte. Salters Gesicht sah grau aus, trotzdem begrüßte er den Detektiv mit einem Lächeln. »Sie wollen mir sicher mitteilen, daß Sie meinen Einbrecher gefunden haben«, meinte er. »Sie können sich die Mühe sparen – es war Ihr Juwelendieb!« Andy war darauf nicht vorbereitet. »Ich fürchte, es ist so, aber ich glaube, daß er nicht in böser Absicht herkam. In Wirklichkeit war er hinter einem Verbrecher her, der damals in Mr. Wilmots Haus einbrach.« »Hat er ihn gefunden? Es soll doch ein geheimnisvoller Parkwächter sein?« »Wie haben Sie denn das herausgebracht?« Salter lachte, aber dann hatte er plötzlich Schmerzen. Andy sah es, und es tat ihm leid. Mr. Salter hatte Herzbeschwerden. »Ich möchte Ihnen nichts vormachen«, erwiderte Boyd Salter, der sich über die Wirkung freute, die seine Worte hervorgerufen hatten. »Scottie – das ist doch der Name dieses Menschen – verschwand am nächsten Tag, ebenso Miss Nelson. Sie verkehrte in einem Haus in der Castle Street und pflegte dort jemand. Und wer anders sollte das gewesen sein als Ihr wenig ehrenhafter Freund?« Plötzlich erkannte Andy die Zusammenhänge. »Das haben Sie natürlich von Downer!« Salter nickte lächelnd. »Aber wie kamen Sie denn auf den Parkwächter?« »Das weiß ich auch von Downer und von einem gewissen Big Martin, der auch ein Verbrecher ist.« Andy war zu großzügig, um Downer die Bewunderung vorzuenthalten, die ihm gebührte. »Ich werde Downer die Bearbeitung des Falles übergeben«, sagte Andy. »Er ist der beste Spürhund.« 94 © wasser-prawda Sprachraum »Er kam«, begann Salter, »und ich mußte alle meine Parkwächter rufen. Er fragte sie aus, und einer gab zu, daß er in der Küche war – wir lassen nämlich Kakao für sie kochen, wenn sie Nachtdienst haben – und das Haus etwa um die Zeit verließ, als Scottie ihn sah. Soviel weiß ich. Aber welche Neuigkeiten bringen Sie?« »Ich habe Hilda Masters gefunden.« Mr. Salter schaute auf. »Hilda Masters? Wer ist denn das?« »Sie besinnen sich sicher, daß in einem Geheimfach in Merrivans Schlafzimmer ein Trauschein gefunden wurde?« »Ja, er wurde auch in einer Zeitung erwähnt. Es war die Heiratsurkunde eines ehemaligen Dienstboten, die später von einer geisterhaften Erscheinung gestohlen wurde, von Ihnen Selim genannt. War das der Name der Frau, auf die sich die Urkunde bezog? Und Sie haben sie gefunden, wie Sie sagen?« Andy nahm eine Kopie des Protokolls aus der Tasche und legte sie vor den Friedensrichter. Mr. Salter schaute lange darauf, bevor er seine Hornbrille aufsetzte und zu lesen begann. Er las sehr langsam, und es kam Andy vor, als ob er jedes Wort abschätzte. Einmal blätterte er zurück und las eine Seite noch einmal. Fünf – zehn – fünfzehn Minuten verstrichen in tiefstem Schweigen. Andy wurde ungeduldig, er dachte an Stella, die draußen im Wagen wartete. »Ach!« Mr. Salter legte das Manuskript wieder hin. »Der Geist, der in diesem Tal umging, ist gebannt, Doktor Macleod.« Andy verstand ihn nicht sofort. Mr. Salter sah seine Verwirrung und kam ihm zu Hilfe. »Ich meine Selim. Hier ist er, enthüllt in seiner ganzen Gemeinheit. Er verkaufte Seelen, brach Herzen, spielte mit dem Leben.« Er tippte auf das Manuskript. Andy entdeckte einen ungewöhnlichen Glanz in seinen Augen. Salters Gesicht sah nicht mehr eingefallen aus, und die tiefen Falten waren verschwunden. Er mußte eine geheime Klingel gedrückt haben, denn Tilling kam herein. »Bringen Sie mir eine Flasche Portwein.« Als der Diener sich entfernt hatte, fuhr er fort: »Sie können sich beglückwünschen – Sie haben einen größeren Sieg davongetragen, als wenn Sie Ihre Hand auf die Schulter Albert Selims gelegt hätten. Wir müssen Ihren Erfolg feiern, Doktor.« »Es tut mir leid, daß ich nicht länger bleiben kann – Miss Nelson wartet draußen in meinem Wagen.« Salter sprang auf, wurde blaß und setzte sich wieder. »Das bedauere ich aber wirklich sehr«, sagte er atemlos. »Es ist unverantwortlich von Ihnen, mir nichts davon mitgeteilt zu haben. Bitte bringen Sie sie doch herein.« Andy sagte zu Stella: »Die Nachricht, daß du im Wagen wartest, hat ihn sehr mitgenommen. Er sieht sehr elend aus.« Mr. Salter hatte sich inzwischen wieder etwas erholt. Er beobachtete Tilling, wie er den kostbaren Wein in die Gläser goß. »Verzeihen Sie, wenn ich nicht aufstehe«, sagte Mr. Salter lächelnd, als Stella mit Andy eintrat. »Sie also haben den Mann gepflegt, der bei mir einbrach?« »Hat Andy Ihnen das erzählt?« fragte sie bestürzt. »Nein, Andy hat mir nichts davon gesagt. Aber Sie werden jetzt ein Glas Portwein mit mir trinken, Miss Nelson. Nein? Das war schon alter Wein, als Ihr Vater noch ein kleines Kind war.« Er hob sein Glas und trank ihr zu. © wasser-prawda 95 Sprachraum »Was wird nun aus Miss Masters oder Mrs. Bonsor werden?« »Sie wird wohl kaum in London bleiben. Sie hat ein schweres Verbrechen eingestanden – obwohl es schon so lange zurückliegt, daß es verjährt ist. Aus gewissen Anzeichen könnte man fast schließen, daß diese vielfach verheiratete Dame sich, zum viertenmal in das Eheleben stürzen wird.« Salter nickte. »Die arme Frau«, meinte er. »Die arme, getäuschte Frau!« Andy hatte nicht erwartet, bei Mr. Salter Sympathie für Mrs. Crafton-Bonsor zu finden. »Sie ist nicht besonders arm«, erwiderte er. »Scottie, der doch ein Kenner ist, schätzt den Wert ihrer Juwelen auf mindestens hunderttausend Pfund. Außerdem hat sie große Besitzungen in den Vereinigten Staaten. Ich bin aber eigentlich gekommen, um mit Ihnen über John Severn zu sprechen. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte? Ich bin fest überzeugt, daß Albert Selim diese Eheschließung zu seinem eigenen Vorteil ausnützte!« »Das tat er. Selim teilte Severn mit, daß seine Frau gestorben sei. Severn heiratete wieder und hatte, soviel ich weiß, Kinder. Selim hatte die Beweise für seine frühere Bigamie in der Hand, wodurch er große Summen von ihm erpreßte. Der Kontrakt, den Sie fanden, war Schwindel. Selim hat meinem Freund keinen Pfennig gezahlt, er hat nur eine alte Schuld getilgt. Das ist ja auch in der Aussage von Mrs. Crafton-Bonsor angedeutet. Im Lauf der Jahre fand seine Habgier immer neue Methoden, Severn zu quälen. Sie sehen, Doktor, daß ich offen bin. Ich wußte mehr über Severn, als ich Ihnen damals mitteilte.« »Daran habe ich nie gezweifelt«, sagte Andy lächelnd. »Und Sie, Miss Nelson, sind nun auch eine große Sorge losgeworden. Aber auch Sie haben etwas dafür gefunden.« Er schaute Andy an und dann Stella. »Es wird sich alles erfüllen, wie ich hoffe.« Bald darauf verabschiedeten sie sich. Andy schlief den ganzen Nachmittag, und sobald es dunkel wurde, begab er sich auf seinen Wachtposten in das lange, leere Arbeitszimmer Mr. Merrivans. Die Nacht ging ohne Zwischenfall vorüber. Kurz nach Tagesanbruch sah er Stella über den Rasen kommen. Sie trug etwas in der Hand. Sie kam direkt auf das Haus zu und klopfte zu seinem größten Erstaunen an. »Ich habe dir etwas Kaffee und ein paar Brötchen gebracht, Andy. Du Armer, du mußt doch entsetzlich müde sein.« »Woher wußtest du denn, daß ich hier bin?« »Das vermutete ich. Als du gestern abend nicht kamst, wußte ich, daß du Geisterdienst hattest.« »Du kluges Mädchen! Ich hatte es dir absichtlich nicht gesagt.« »Hast du nicht wieder den schlimmsten Verdacht gehabt, als du mich so früh am Morgen hierherkommen sahst?« Sie zog ihn am Ohrläppchen. »Du hast doch nichts gesehen und gehört?« »Nichts.« Sie schaute den düsteren Gang entlang und schüttelte den Kopf. »Ich möchte kein Detektiv sein. Andy, fürchtest du dich nicht manchmal?« »O doch, oft. Wenn ich zum Beispiel daran denke, wie ich es fertigbringen soll, dir ein Heim einzurichten, das gut genug für dich ist –« »Wir wollen ein wenig darüber plaudern«, sagte sie, und sie saßen zusammen, bis die Sonne durch die Fenster schien. Sie sprachen von 96 © wasser-prawda Sprachraum Häusern und Wohnungen und von den hohen Kosten, die man für eine Einrichtung zahlen muß. Es war Andy nichts von der schlaflosen Nacht anzusehen, als er um elf Uhr im Metropolitan-Hotel stand. Er hatte noch mehrere Punkte aufzuklären. »Mrs. Crafton-Bonsor ist abgereist«, sagte der Empfangschef. »Abgereist?« fragte Andy erstaunt. »Wann?« »Gestern nachmittag, Sir. Sie und Professor Bellingham reisten zusammen ab.« »Hat sie auch das Gepäck schon mitgenommen?« »Es ist alles fort.« »Wissen Sie, wohin sie gereist ist?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung – sie sagte, sie wolle für einige Tage an die See gehen.« Das war eine Überraschung für Andy. Er fuhr zur Castle Street, um vielleicht Scottie dort zu finden, aber er traf nur den etwas verwirrten Mr. Martin an. »Nein, Doktor Macleod, Scottie war nicht hier. Er ist seit drei Tagen nicht mehr hiergewesen.« »Hat er Ihnen denn keine Anweisungen hinterlassen, wie Sie diese Diebsherberge bewirtschaften sollen?« »Nein, Sir.« Big Martin sagte das aber in einem Ton, daß Andy sofort wußte, er log. Es hatte keinen Zweck, ihn weiter auszufragen. Andy fuhr nach Beverley Green zurück und legte sich schlafen. Um neun Uhr abends ging er wieder in Merrivans Haus. Johnston hatte einen bequemen Lehnsessel in das Arbeitszimmer gebracht. Er war so weich, daß Andy mehrmals einschlief. Das hat keinen Zweck, sagte er sich schließlich und ging zu dem vorderen Fenster, öffnete es und ließ die frische Nachtluft hereinströmen. Die Kirchturmuhr in Beverley schlug eins, und es war nichts von dem nächtlichen Besucher zu sehen. Er hatte den Riegel von dem hinteren Fenster zurückgezogen. Er war sicher, daß der Fremde auf diesem Weg ins Haus gekommen war, als Johnston ihn gesehen hatte. Andy wartete. Jetzt schlug es zwei Uhr. Er saß wieder im Lehnsessel, und sein Kinn war auf die Brust gesunken. Er träumte von Stella und Mrs. Crafton-Bonsor. Aber dann hörte er plötzlich ein Geräusch und war sofort ganz wach. Er schaute nach dem hinteren Fenster und sah, wie sich draußen eine dunkle Gestalt abhob. Die elektrische Leitung war auf seine Bitte hin wieder in Ordnung gebracht worden, und er schlich sich leise zum Schalter. Der Mann öffnete langsam das Fenster und gleich darauf hörte Andy Schritte im Zimmer. Aber er drehte das Licht noch nicht an, er wartete noch. Plötzlich ertönte eine merkwürdige Stimme. »Komm heraus, Albert Selim, du verfluchter Hund!« Die Stimme klang unheimlich hohl in dem leeren Raum. »Komm heraus!« Andy drehte das Licht an. Ein Mann in einem gelben Schlafrock stand, den Rücken dem offenen Fenster zugekehrt, im Zimmer. In seiner ausgestreckten Hand hielt er eine lange Pistole, die er gegen einen unsichtbaren Feind gerichtet hatte. Es war Salter! Boyd Salter! © wasser-prawda 97 Sprachraum Andy stockte der Atem. Dann war also Boyd Salter der kühle, gewandte Mann, der ihn so lange und so geschickt getäuscht und der seine Rolle so sicher gespielt hatte! Seine Augen waren weit geöffnet und blickten starr ins Leere. Er war nicht bei sich. Andrew hatte es gleich bemerkt, als er seine undeutliche, mißtönende Stimme gehört hatte. »Das ist für dich, du verdammter Schuft!« Salter zischte diese Worte durch die Zähne, und Andy hörte, wie die Pistole knackte. Dann sah er, wie Salter sich niederbeugte – zu der Stelle, wo sie Merrivan gefunden hatten. Dann kniete er langsam nieder und seine Hände befühlten einen Körper, den er zu sehen meinte. Er sprach dauernd mit sich selbst. Salter durchlebte das Verbrechen noch einmal. Nacht für Nacht war er hergekommen. Es war unheimlich zu sehen, wie er das Pult absuchte, das nicht dastand, wie er den Schrank aufschloß, der längst entfernt war. Andrew beobachtete ihn genau. Jetzt steckte der Mann ein Streichholz an und glaubte die Papiere zu entzünden, die er seiner Meinung nach in den Kamin gelegt hatte. Dann blieb er an der Stelle stehen, wo man den Brief gefunden hatte. »Du wirst keine Briefe mehr schreiben, Merrivan, du verdammter Kerl! Du wirst keine Briefe mehr unter meine Tür stecken – der war wieder für mich bestimmt – wie?« Er wandte sich wieder dorthin, wo die Leiche gelegen hatte. »Für mich?«‚ Seine Blicke schweiften umher, und er schien etwas aufzuheben. »Ich muß den Schal des Mädchens mitnehmen«, sagte er dann leise. »Arme Stella! Dieser Teufel wird sie nicht mehr quälen. Ich will ihn mitnehmen.« Er steckte seine Hand in die Tasche, als ob er etwas hineinstecken wollte. »Wenn sie ihn finden, denken sie, daß sie hier war, als ich ihn niederschoß.« Andrew folgte atemlos allen Bewegungen und Worten. Nun war ihm plötzlich alles klar. Albert Selim und Merrivan waren ein und dieselbe Person, und der Drohbrief, der allem Anschein nach an Merrivan gerichtet war, stammte von diesem selbst. So war es! Merrivan wollte in der Nacht den Brief nach Beverley Hall bringen. Er hatte ihn geschrieben und zusammengefaltet, aber er hatte keine Zeit mehr gehabt, einen Umschlag zu adressieren, bevor ihn sein Schicksal ereilte. Salter ging langsam durch den Raum und war ein paar Sekunden später durch das Fenster verschwunden. Er schloß es hinter sich. Gleich darauf war auch Andy im Garten und folgte dem Schlafwandler, der durch den Obstgarten ging. Plötzlich hörte er ihn wieder sprechen. »Geh aus dem Weg, du verdammter Hund!« Und wieder knackte der Pistolenhahn. So war also Sweeny ums Leben gekommen! Sweeny war dort gewesen. Er hatte wahrscheinlich auch die Identität Selims mit Merrivan entdeckt und das Haus in jener Nacht beobachtet. Es war jetzt alles so einfach. Merrivan hatte Salter erpreßt. Aber wer mochte Severn sein – Severn, der Mann von Hilda Masters? Er folgte Salter durch den Obstgarten, durch ein Tor in der Hecke. Salter war nun auf seinem eigenen Grund und Boden und bewegte sich weiter in jener merkwürdig behutsamen Art, die Schlafwandlern eigen ist. Andrew ließ ihn nicht aus dem Auge. Salter hielt sich auf einem Pfad nach Spring Covert, bog plötzlich unvermittelt nach links ab und überquerte die Wiese vor Beverley Hall. 98 © wasser-prawda Sprachraum Kaum war er hier ein Dutzend Schritte gegangen, als plötzlich ein heller Lichtschein aus dem Gras aufblitzte und eine Explosion folgte. Salter taumelte vornüber und fiel zu Boden. Andy war sofort an seiner Seite. Salter lag bewegungslos. Andy machte seine Taschenlampe an und rief um Hilfe. Gleich darauf antwortete ihm aus einiger Entfernung der Parkwächter Madding, den er schon von früher her kannte. »Was ist geschehen, Sir? Sie müssen sich in einem Draht verfangen und einen Alarmschuß ausgelöst haben. Wir haben verschiedene ausgelegt, um die Wilddiebe zu fangen ... Mein Gott«, rief er plötzlich erschrocken, »das ist ja Mr. Salter!« Sie legten ihn auf den Rücken. Andy öffnete seine Pyjamajacke und legte das Ohr auf seine Brust. »Ich fürchte, er ist tot.« »Tot?« fragte der Parkwächter erschrocken. »Es war aber doch keine scharfe Patrone in dem Selbstschuß!« »Er ist durch die Explosion erwacht, und der Schreck hat ihn sicher getötet. Und es ist wohl gut, daß er auf diese Weise starb.« * Andy ließ sich müde auf einen Sessel in Nelsons Wohnzimmer nieder. Stella setzte sich neben ihn und legte ihre Hand auf seine Schulter. Andy nahm einen Zeitungsausschnitt aus seiner Tasche. »Das fand ich in Salters Geldschrank. Sein Sohn hatte es ruhig aufgenommen. Man erwartete ja ein solches Ende. Er wußte, daß sein Vater Schlafwandler war, er hatte den Schmutz an seinem Pyjama entdeckt und hielt infolgedessen die Tür bewacht. Aber das alte Haus hat ein halbes Dutzend geheimer Wendeltreppen, und er ist jedesmal entkommen. Was hältst du davon?« Sie las den Zeitungsausschnitt. Er war aus der ›Times‹. * ›In Übereinstimmung mit den Anordnungen des Testaments des verstorbenen Mr. Philipp Boyd Salter wird sein Neffe, Mr. John Severn, der einzige Erbe seines Onkel, den Namen und Titel John Boyd Salter führen. Eine diesbezügliche gerichtliche Erklärung erscheint in den amtlichen Bekanntmachungen dieser Nummer auf Seite 8.< »Hier haben wir also die Aufklärung. Severn und Boyd Salter waren ein und dieselbe Person. Wenn ich so vernünftig gewesen wäre, das Testament des Onkels nachzusehen, hätte ich das schon vor einem Monat wissen können. Er ist als ein glücklicher Mann gestorben. Seit Jahren hatte er unter dem Druck seiner Schuld und der Erpressungen Selims gelebt. Durch Merrivans Verrat hätte sein Sohn den Titel und das Vermögen verloren, die nur an einen rechtmäßigen Erben übergehen können. Aus der Aussage von Hilda Masters – sie hat übrigens vor ihrer Abreise Scottie tatsächlich geheiratet – ging ja die Rechtmäßigkeit seiner Ehe mit der Mutter seines Sohnes deutlich hervor. Merrivan war der größte Schrecken für seine Mitmenschen. Um die Zukunft seines Sohnes sicherzustellen, tötete ihn Salter. Aus demselben Grund drang er, als Parkwächter verkleidet, in Wilmots Haus ein, stahl den Trauschein und verbrannte ihn.« »Woher wußte er, daß das Dokument dort zu finden war?« © wasser-prawda 99 Sprachraum »Downer verriet doch die Sache in dem Artikel, den er über uns schrieb.« »Und was wird nun. aus Selims großem Vermögen? Fällt es an Artur Wilmot?« »Nein, an Mrs. Bellingham. Es ist beinahe tragisch.« Sie lachte und legte ihren Arm um seinen Nacken. »Scottie ist doch eigentlich sehr geschickt«, meinte sie. »Ja, aber wie kommst du gerade jetzt darauf?« »Denk doch daran, wie schnell er sich – die Heiratspapiere beschaff t hat –« Eine Woche später erfuhr Mr. Downer eine Neuigkeit. Er war weder betrübt noch erfreut darüber, denn er war in erster Linie Geschäftsmann, und Hochzeiten und Morde hatten für ihn denselben Wert. Er rief sofort das ›Megaphone‹ an und sprach mit dem Chefredakteur. »Haben Sie schon gehört, daß Macleod Miss Nelson geheiratet hat? Ich könnte Ihnen darüber eine Spalte schreiben und die ganze interessante Vorgeschichte dieser Ehe berichten – ja, ein Bild von ihr kann ich auch beschaffen. Wie? Zwei Spalten? Geht in Ordnung!« 100 © wasser-prawda Sprachraum © wasser-prawda 101 Prudenci Bertrana: Josafat oder Josafat oder Unsere Liebe Frau von der Sünde 86 Seiten 14,8 x 21,0 cm; ISBN: 978-3-943672-20-6 11,00 EUR (D) auch als E-Book erhältlich. Jürgen Buchmann: Lüneburger Trilogie. 96 Seiten; 14,8 x 21 cm; ISBN: 978-3-943672-09-1 10.00 EUR (D) Auch als E-Book erhältlich. Uwe Saeger: Ein Mensch von heute 92 Seiten; 14,8 x 21 cm ISBN: 978-3-943672-17-6 10,00 EUR (D) (Auch als E-Book erhältlich.) Angelika Janz: tEXt bILd. Ausgewählte Werke 1: Visuelle Arbeiten und Essays 120 Seiten; 14,8 x 21 cm; 11,95 EUR (D) ISBN: 978-3-943672-09-1 11,95 EUR (D)