Nr. 10/2013 - Wasser

Transcription

Nr. 10/2013 - Wasser
Nr. 10/2013
BUDDY GUY - ERIC CLAPTON
• Trampled Under Foot - Dana Fuchs - Blind Willie Johnson
• Andrew Colberg - Dawes - Layla Zoe - Malia - Hamburg
Blues Band, Peter Schmidt, Bernd Kleinow & Blues Rudy
• Album des Monats: Anders Osborne
• Texte von Peter Kroh, G.K. Chesterton, Christoph Gross
• Neuer Fortsetzungsroman: Robert Kra - Die Vestalinnen
• Mit einem Bluesgemälde von Ulrich Rauchbach
Editorial
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© wasser-prawda
Editorial
Editorial
Wie sieht es um die Zukunft des Blues aus? Nicht nur wir machen uns darum immer wieder unsere Gedanken. Buddy Guy hat
es in einem Interview mit American Blues Scene, das wir hier in
deutscher Übersetzung veröffentlichen dürfen, gut auf den Punkt
gebracht: Wenn die Radiosender den Blues nicht spielen, dann
ist es schwer, an eine Zukunft zu glauben. Denn die Jugendlichen lernen diese Musik nicht mehr kennen, hängen den Vorurteilen an, die seit Jahrzehnten immer weiter verbreitet werden:
Der Blues ist traurig, ist nur eine Musik der alten Männer. Und
man kann es an den Schwierigkeiten spüren, die immer mehr
Veranstalter mit ihren Blueskonzerten haben: Selbst in großen
Städten fällt es schwer, die Kosten durch Kartenverkäufe herein
zu bekommen. Um Festivals wie das in Chemnitz etwa muss man
sich darum ernste Sorgen machen. Selbst ehemals weltweit wahrgenommene Veranstaltungen wie das Dresdner Bluesfestival existieren mittlerweile am Rande der Bedeutungslosigkeit. Da sind
solche Nachrichten natürlich höchst willkommen: Schon seit fünf
Jahren veranstalten in Volksdorf Enthusiasten das ihrer Meinung
nach kleinste Bluesfestival der Welt. Denn mehr als 100 Gäste
passen kaum in den Flava-Club in der Hamburger Vorstadt. Und
doch kann man dort nicht nur regionale Bands sondern auch internationale Künstler erleben. In diesem Jahr spielt etwa der belgische Gitarrist Lightnin Guy mit seiner Band. Und man kann
mit Black Kat & Kitten ein in Berlin entstandenes internationales
Trio (D/UK,Pl) erstmals in größem Rahmen erleben. Schade nur,
dass ausgerechnet ein neues Bluesfestival, die Hamburger Bluesnacht, am Wochenende vorher seine Premiere feiert. Organisiert
vom Baltic Blues e.V., der ja auch für das Eutiner Bluesfest verantwortlich ist, spielen an zwei Tagen Künstler aus aller Welt wenige
S-Bahnstationen entfernt. Leider ließen sich die Termine wegen
nicht besser aufeinander abstimmen. Hoffentlich funktioniert das
im nächsten Jahr besser. Denn auch in einer der größten Städte
Deutschlands dürften wohl kaum so viele Bluesfans Zeit, Geld
und Lust haben, gleich zwei Festivals direkt nacheinander zu besuchen.
Auf ein paar Dinge in unserem Heft will ich hier besonders
hinweisen: Speziell für Gary Burnetts Beitrag über Blind Willie Johnson hat der Blueskünstler Ulrich Rauchbach ein Bild des
Musikers gemalt. Wer Interesse hat, kann das bei ihm auch käuflich erwerben.
Anlässlich der Wiederveröffentlichung seines Unplugged-Albums habe ich einige in der Vergangenheit veröffentlichten biographischen Texte zu Eric Clapton aktualisiert und zu einem längeren (noch immer lückenhaften) Beitrag zusammengebunden.
Der sorbische Journalist Peter Kroh hat im letzten Jahr eine
Artikelserie über Geschichte, Gegenwart und Zukunft der slawischen Minderheit in Deutschland geschrieben. Als Vorabdruck
der 2014 im freiraum-verlag erscheinenden dreisprachigen Ausgabe dieser Essays haben wir hier seinenn Beitrag über Deutsche
Kultur und Kultur der Deutschen aufgenommen.
Und wir starten in dieser Ausgabe einen neuen Fortsetzungsroman. Nach Edgar Wallace widmen wir uns dem oft als „deutschen Jules Verne“ titulierten Robert Kraft und seinem Werk
„Die Vestalinnen“.
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Auf Tour
5. Interna onales
Volksdorfer Blues Fesval
(Flava-Club HH-Volksdorf)
2. November, 20 Uhr:
Black Kat & Kittens, Lightnin‘ Guy & The Mighty
Gators, Elbdelta Allstars
Blue Note Blues Acous c Band:
Mi. 30.10.13 Hotel Kronprinz, Greifswald
Do. 31.10.13 Flower Power,
Chemnitz
Sa. 16.11.13 Omnibus, Würzburg
Fr. 22.11.13 Gasthaus Hinterholzer, Hohenthann
Sa. 23.11.13 Alfonso’s, München
Mojo Juju
23. Oktober: Ain’t nothin’
but, London
24 Oktober, Blues Kitchen,
London
28. Oktober, White Trash
Fast Food, Berlin
29 Oktober, Berlin TBC
30: Bassy Club Halloween
Special, Berlin
TODD THIBAUD Duo
07.11.13
Castrop-Rauxel,
Wurstküche
08.11.13 Guntersblum, Museum
09.11.13 Neu-Anspach, Zur
Linde
12.11.13 Kassel, Kunstwerkstatt
13.11.13 Bad Brambach, Café
Grenzland
17.11.13 Hameln, Sumpfblume
18.11.13 Celle, Aimely
20.11.13 Offenburg, tba
21.11.13 Bad Gandersheim,
Klosterhof
22.11.13 Cadenberge, Nacht
der Lieder
www.toddthibaud.com
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Editorial
Impressum
Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des
Computerservice Kaufeldt Greifswald. Das pdf-Magazin wird in Zusammenarbeit mit dem freiraumverlag Greifswald veröffentlicht und
erscheint in der Regel monatlich. Es
wird kostenlos an die registrierten
Leser des Online-Magazins www.
wasser-prawda.de verschickt.
Inhalt
Editorial
Auf Tour
Impressum
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Musik
Wenig Überraschungen bei den German Blues Awards
Eric Clapton: Yardbirds, Cream, Unplugged: Stationen
eines Bluesman
Buddy Guys Arme sind weit offen
Trampled Under Foot: Wie man durch die Dunkelheit
Wasser-Prawda Nr. 9/2013
der Nacht kommt
Redaktionsschluss: 12. Okto- Blind Willie Johnson: Lampen, Hochzeiten und
Gerechtigkeit
ber 2013
Redaktion:
Live
Chefredakteur: Raimund Nitzsche (V.i.S.d.P.)
Von Jungspunden und gewissen Affinitäten
Redaktion: Lüder Kriete, Erik 4. Mittweidaer Bluesnacht
Münnich, Dave Watkins, Die MDR FIGARO-Nacht mit Malia im Chemnitzer
Opernhaus
Bernd Kreikmann
Mitarbeiter dieser Ausgabe:
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Casebeer
Gary Burnett
Stephanie Engler
Kristin Gora
Ulrich Rauchbach
Holger Schubert
Karsten Spehr
Die nächste Ausgabe erscheint am
21.November 2013.
Adresse:
Redaktion Wasser-Prawda
c/o wirkstatt
Gützkower Str. 83
17489 Greifswald
Tel.: 03834/535664
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Gerne schicken wir Ihnen unsere aktuelle Anzeigenpreisliste und die Mediadaten für das Online-Magazin und
die pdf-Ausgabe der Wasser-Prawda
zu. Anzeigenschluss für das pdf-Magazin ist jeweils der 1. Werktag des
Erscheinungs-Monats.
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Album des Monats
Anders Osborne - Peace
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Rezensionen A bis Z
Alela Diane - About Farewell
Ashleigh Flynn - A Million Stars
Bare Bones Boogie Band - Tattered & Torn
Beige Fish - Down Home Shuffle
Big Joe Shelton - I‘d Never Let Her Down
Brothers In Blues - Tailshaker
Bryan Lee - Play one for me
Charlie C - Trouble
Cologne Blues Club - Hanging By A Thread
Daddy Long Legs - The Devil‘s In The Details
Dave Riley & Bob Corritore - Hush your Fuss!
Dynamite Daze - Tango With The Devil
Egidio Juke Ingala & The Jacknives - Tired of Beggin‘
Eric Bibb - Jericho Road
George Benson - Inspiration: A Tribute To Nat King Cole
Green Like July - Build A Fire
Guy Davis - Juba Dance
Howard Glazer - Stepchild of the Blues
JC Brooks & The Uptown Sound - Howl
Jon Wayne and The Pain - Surrender
Joseph Arthur - The Ballad Of Boogie Christ Acts 1&2
Layla Zoe - The Lily
MANdolinMAN - Plays Bossa Nova
Mojo Juju - Mojo Juju
MonkeyJunk - All Frequencies
Norbert Schneider - Schau mer mal
Rod Picott - Hang Your Hopes On A Crooked Nail
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Editorial
Ry Cooder & Corridos Famosos - Live at the Great
American Music Hall
Smokin‘ Joe Kubek & Bnois King - Road Dog’s Life
Snarky Dave & The Prickly Bluesmen - Big Snark
Stefan Saffer - This Is Not A Dark Ride
Sugaray Rayford - Dangerous
The Hamburg Blues Band - Friends for a LIVEtime Vol. 1
The High Kings - Friends for Life
The Inspector Cluzo - Gasconha Rocks
Tom Principato - Robert Johnson Told Me So
Tunde Baiyewu - Diamond In A Rock
Will Wilde - Raw Blues
Willis Earl Beal - Nobody Knows
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Feuilleton
Peter Kroh - Deutsche Kultur ist weniger als Deutschlands
Kultur
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Bücher
Morton Rhue - no place, no home
Prudenci Bertrana: Josafat oder Unsere Liebe Frau von
der Sünde
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Will Wilde
4.11. JUKZ Lahnstein
5.11. Kofferfabrik Fürth
7.11., Alte Piesel, Künzell
8.11. Weissenwolff, Steyregg
(A)
9.11. Village, Habach
14.11. Bistrot-Paris, Weiden
15.11. Broncos Loge, Bern
(CH)
16.11. Gewölbe Livebühne Eisching, Haiming
18.11. Further Hof, Düsseldorf
20.11. Downtown Blues Club,
Hamburg
21.11. Rainer‘s Rockhouse, Algermissen
DAS etz
Moritzstr.20, Chemnitz
9. November – Earl Thomas
& Band(USA) 21 Uhr
http://bluesandmore.de/
Sprachraum
ESSBARE KULTUR im
MiO Made in O endorf
Christoph Gross: Over the Rainbow
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Gilbert Keith Chesterton - Verteidigung des Schundromans 82
Hohe Strasse 28, 09244 Lichtenau OT. Ottendorf
Fortsetzungsroman
25. Oktober Philippe MenardOne Men Band
Robert Kraft - Die Vestalinnen
Edgar Wallacer - A.S. der Unsichtbare
Marius Tilly Band
26.10. Cloppenburg, Briefkasten
01.11. Obertrubach, StudioLounge
02.11. Freudenburg, Ducsaal
08.11. Bochum, Kulturcafe
09.11. Gaildorf, Kulturschmiede
10.11. München, Rattlesnake Saloon
12.11. Emmendingen, Mehlsack
13.11. Kandern, Chabah
15.11. Kamen, En Place
16.11. Rahden, Marktschänke
26.11. Ludwigsburg, Scala Backstage
27.11. Kofferfabrik Fürth
28.11. Interlaken (CH), Brasserie 17
29.11. Bühler (CH), Bluesclub
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O‘Man River
(Friedensstraße, Heringsdorf)
18. Oktober Feuerbach & Rose
25. Oktober Grey Wolf
1. November Catfish
8. November Peer Orxon
15. November Peter Schmidt
22. November The Blueswalkers
29. November Angela Klee
Kulturspeicher
(Bergstraße, Ueckermünde)
2. November, 20 Uhr, Roger
Tristao Adao
23. November, 20 Uhr, Tempi
passati
25. Januar 2014, 20 Uhr, Pete
Gavin
22. Februar, 20 Uhr, Jan
Hengsmith
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Musik
Wenig Überraschungen bei
den German Blues Awards
Fotos:
BB & The Blues Shacks
Georg Schröter
Mike Seeber Trio
Abi Wallenstein
Micha Maas
(alle Fotos: © Karsten Spehr)
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Als am 21. September im Rahmen der German Blues Challenge die Preisträger der diesjährigen Blues Awards bekannt
gegeben wurden, dürfte sich die Überraschung in Grenzen
gehalten haben. Mal wieder wurden B.B. & The Blues
Shacks als beste Band und Abi Wallenstein in der Kategorie
Solo/Duo geehrt. Und das Album des Jahres stammt nach
Meinung der Teilnehmer des Online-Votings von Henrik
Freischlader. Von Raimund Nitzsche.
Die Methode der Vergabe der German Blues Awards durch eine Online-Abstimmung steht bei Kritikern schon lange in der
Kritik. Der Vorwurf: Ausgezeichnet würden die Künstler, die am
besten online vernetzt sind, die ihre Fans am besten mobilisieren könnten. Und wenn man sieht, dass gleich zum dritten Jahr
in Folge das Bluewave-Festival auf Rügen als bestes Festival ausgezeichnet wurde, dann kann man sich diesem Vorwurf kaum
verschließen. Die Auszeichnungen von Micha Maas als bester
Drummer und Georg Schröter als bester Pianist sind natürlich
hochverdient aber auch wenig überraschend. Allerdings kann
man gerade in den weiteren Kategorien Überraschungen finden:
Nicht der Deutschlandfunk oder der Rockpalast haben den Medien-Preis bekommen, sondern das Online-Angebot BluesRoad
mit seiner Kombination aus Online-Radio und Bluesforum. Und
weder Meisenfrei, Downtown oder Bluesgarage sind der beste
Club sondern das von einem Verein getragene „Laboratorium“ in
Stuttgart. Dass Baltic Blues e.V. Vince Weber den nationalen Eh-
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Musik
renpreis und dem Journalisten Andrzej Matysik (Polen) den internationalen Ehrenpreis verliehen, setzt ebenso ein wichtiges Zeichen
für die Vielfalt des Blues hierzulande und weltweit.
So lange in Deutschland keine mitgliederstarke Organisation als
Dachverband des Blues existiert, kommt man an der derzeitigen
Methode der Preisverleihung kaum vorbei. Auch wenn es schwierig
sein dürfte, unbekanntere aber dennoch bemerkenswerte Künstlerinnen und Aktivitäten so zu ehren. Allerdings - und das ist nicht
nur bei diesen Awards wichtig: Ohne guten Kontakt zu den Fans,
ohne die aktive Präsenz etwa in den sozialen Mediennetzwerken
dürften es Bluesmusiker in Zukunft immer schwerer haben, nicht
nur ihre Kunst bekannt zu machen sondern für Konzerte gebucht
zu werden. In einem Land, wo der Blues in den Medien immer
mehr nur noch auf den Seiten von einigen Enthusiasten stattfindet,
kann man sich nicht drauf verlassen, dass vier Mal im Jahr eine
neue Nummer der Blues News erscheint.
Die eigentliche Überraschung für mich kam in Eutin allerdings
durch den Sieg des Mike Seeber Trio in der fünften German Blues
Challenge zu Stande. Den Hallenser Gitarristen hatten wir in der
Redaktion bislang noch nicht auf der Liste der wichtigen deutschen
Bluesmusiker. Wir geloben Besserung und gratulieren herzlich!
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German Blues Awards
2013
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Band: BB & The Blues
Shacks
Solo/Duo: Abi Wallenstein
Club:
Laboratorium
Stuttgart
Festival: Blue Wave Festival & Camp, Binz auf
Rügen
Piano: Georg Schroeter
CD: Henrik Freischlader
- House In The Woods
Dr u m s / Pe r c u s s ion :
Micha Maas
Medien: BluesRoad
Ehrenpreis
National:
Vince Weber
Ehrenpreis International:
Andrzej Matysik (Polen)
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Musik
Yardbirds, Cream, Unplugged:
Sta onen eines Bluesman
In den 80er Jahren verkamen die Alben von Eric Clapton
zur banalen radiofreundlichen Popmusik. Selbst wenn er
damals Blues spielte, wirkten die Aufnahmen so berechnend
wie seine Popsongs. 1992 kam er wieder an den Punkt,
seine Akkus beim Blues neu aufzuladen. Sein Konzert bei
MTV Unplugged und das dazugehörige Album markieren
einen bis heute gültigen Höhepunkt in Claptons Karriere.
Im 50. Jahr seiner Karriere als Musiker wurde das Album
jetzt in einer Deluxe-Fassung remastert, mit Bonustracks
und einer DVD wiederveröffentlicht. Von Raimund Nitzsche.
H
eute kann man sich den positiven Schock kaum noch vorstellen, den Anfang der 90er Jahre die ersten UnpluggedKonzerte bei MTV auslösten: Superstars konnten sich
im akustischen Setting neu erfinden. Und akustische Musik fand
endlich wieder den Weg in die Mainstream Radios und Fernsehsendungen zurück. Schnell verkam die Sendereihe zu einem
Obskuritätenkabinett. Wenn heutzutage die Toten Hosen oder
die Fantastischen Vier (um nur mal Beispiele aus Deutschland
zu nennen) eingeladen werden, dann fragt man sich, wo die Produzenten und auch die Musiker ihren Verstand gelassen haben.
Manche Kombinationen funktionieren einfach nicht. Aber zu
Beginn der Reihe entstanden einige absolut großartige und bis
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Musik
The Yardbirds
heute gültige Aufnahmen von Bob Dylan, Neil Young, Nirvana
und Eric Clapton.
Kurze Erinnerung: In den 60er Jahren war Clapton für Londener
Bluesfans Gott an der Gitarre. Von den Yardbirds über die Aufnahmen mit John Mayall‘s Bluesbreakers hin zum Superstarruhm
mit Cream stand er für die Bluesgitarre im britischen Bluesboom.
Höchstens Peter Green konnte ihm an die Seite gestellt werden.
Eric Clapton war der Blues heilig. Seit er als 13jähriger seine erste
Gitarre geschenkt bekam, widmete er sich dem Blues, vor allem
den Liedern von Robert Johnson. 1963 trat er in London den Yardbirds bei, die im Crawdaddy Club die Rolling Stones als Hausband
abgelöst hatten. Doch Clapton hatte Schwierigkeiten, einen persönlichen Draht zu den anderen Musikern der Band zu finden. Jim
McCarty hielt ihn für launisch und einzelgängerisch. Clapton war
der Meinung, Samwell-Smith hätte nicht das Zeug zum Bluesman.
Auch im Aussehen sonderte sich Clapton von den anderen in der
Band ab: Er trimmte sein Haar so kurz, wie es an einigen amerikanischen Universitäten zu der Zeit Mode war, während die anderen
den sonst überall vorherrschenden Langhaar-Trend favorisierten.
1963 nahmen die Yardbirds ein Live-Album mit Sonny Boy Williamson II auf. Anfang 1964, als sie den Crawdaddy Club mit dem
berühmten Marquee Club im Zentrum Londons vertauscht hatten, entstand eine weitere Live-LP, die sich als bahnbrechend für
den britischen R&B herausstellen sollte.
Mit den ersten Studioaufnahmen kamen die wirklich entscheidenden Probleme. Die Rolling Stones hatten bewiesen, dass es keine Rolle spielte, in wie vielen ausverkauften Clubs man vor Publikum auftrat: Geld verdiente man allein mit Hit-Singles.
Ende 1963 und im Februar 1964 nahmen die Yardbirds in einem kleinen Studio in Surrey fünf Tracks als Demo auf. 1964 erschienen zwei Singles: „I Wish You Would“ und „Good Morning
Little Schoolgirl“. Letztere erreichte die ersten 50 der britischen
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Musik
Charts, aber beide Aufnahmen waren zahm im Vergleich zu den
Live-Versionen und einfach nicht kommerziell genug. Wie die
Rolling Stones zuvor hatten auch die Yardbirds erkannt, dass es
nicht ausreichte, Muddy Waters zu kopieren. Sie mussten sich am
populären Geschmack orientieren, wenn sie sich als professionelle
Musiker ihren Lebensunterhalt verdienen wollten. Clapton hatte
andere Vorstellungen. Zum Krach kam es bei der Auswahl der
nächsten Single. Samwell-Smith wollte einen Song mit dem Titel
„For Your Love“ einspielen. Clapton war für einen Song von Otis
Redding. Doch Manager Gomelsky und Samwell-Smith waren
sich einig, dass der Durchbruch in die Charts nur mit „For Your
Love“ möglich war. Sie sollten recht haben: Es erschien im März
1965, erreichte die Nummer 3 in Großbritannien und kam unter
die ersten 10 in den USA. Doch Clapton stieg aus, um weiter ernsthaften Blues spielen zu können. Mit John Mayall‘s Bluesbreakers
entstand ein weiteres der heute kanonischen Albem des britischen
Blues überhaupt. Doch auch hier blieb Clapton nicht lang.
Cream bei Ready Steady Go.
Heutzutage ist man mit dem Begriff „Supergroup“ schnell zur
Hand, wenn irgendwelche Musiker aus mehr oder weniger bekannten Gruppen sich zusammentun. Erfunden wurde der Begriff
wahrscheinlich 1966, als Cream auf der Szene auftauchte.
Drei Musiker, die anerkanntermaßen die Besten auf ihren jeweiligen Instrumenten waren, taten sich zusammen und brachten
in der kurzen Zeit des Bestehens ihrer Gruppe einen ganz neuen
Sound im Blues-basierten Rock hervor.
Ginger Baker war dabei, sich als Drummer in der Londoner Jazz
Szene einen Namen zu machen. Jack Bruce hatte bereits ein klassisches Studium als Cellist an der Royal Scottish Academy Of Music
in Glasgow hinter sich gebracht, als er Dick Heckstall-Smith und
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Musik
Ginger Baker beim Johnny Burch Octet begegnete. Bei Alexis Korner und dessen Blues Incorparated spielten sie mit einer weiteren
Größe des britischen Jazz, Graham Bond. Als dieser seine Graham
Bond Organisation ins Leben rief, holte er sich Ginger Baker, Jack
Bruce und Dick Heckstall-Smith als Mitspieler. Nach zwei Alben,
verließ Jack Bruce die Graham Bond Organisation und schloss sich
John Mayall und seinen Bluesbreakers an. Hier lernte er Eric Clapton kennen.
Doch Jack Bruce wollte endlich Geld verdienen, Mayall war kein
lukrativer Arbeitgeber, und so verkaufte er sich an Manfred Mann,
der damals regelmäßige Single-Hits hatte. Zur gleichen Zeit hatte
Ginger Baker nicht mehr die Absicht, bei der Graham Bond Organisation zu bleiben. Seine Ambition war es, eine eigene Band zu
besitzen. Er hörte von Eric Clapton, damals stand an den Wänden
der Londoner U-Bahn der Satz „Clapton is God“, und besuchte
einige Konzerte von John Mayalls Bluesbreakers. Eric Clapton und
Ginger Baker freundeten sich an und als Ginger Baker Eric Clapton von seinem Plan erzählte, war dieser sofort bereit einzusteigen.
Allerdings verknüpfte er es mit einer Bedingung: Jack Bruce sollte
der Bassist sein. Ginger Baker und Jack Bruce waren nie große
Freunde gewesen, es war eher das Gegenteil der Fall. Ginger Baker
war daher nicht sehr begeistert von der Bedingung, wollte aber
unbedingt die Zusammenarbeit mit Eric Clapton. Er erklärte sich
bereit, mit Jack Bruce Kontakt aufzunehmen und Jack Bruce war
sofort einverstanden, wahrscheinlich reichte es ihm bei Manfred
Mann.
Musikalisch passten die Drei zusammen wie kaum eine andere
Band in der Rockgeschichte. Menschlich dagegen kam es immer
wieder zu Streitereien zwischen Baker und Bruce. Cream sollte die
Band des Ginger Bakers sein, aber im Vordergrund standen die
beiden anderen. Eric Clapton mit seiner Gitarre und Jack Bruce als
Sänger und Komponist. Alle drei waren Bluesfans, aber gerade Jack
Bruce und Ginger Baker wollten nicht in die Fußstapfen der in
dieser Zeit erfolgreichen Fleetwood Mac und John Mayalls treten.
Man befand sich auf dem Höhepunkt des britischen Bluesbooms.
Der „traditionelle“ Blues lag ihrer Meinung nach daher schon in
besten Händen. Sie hielten sich nicht an die Konventionen und
setzten Songs wie „Spoonful“, „Four Until Late“, „Rollin And
Tumblin“ oder „I‘m So Glad“ einen eigenen Sound auf. Im Juli
1966 traten sie als Cream beim Windsor Jazz & Blues Festival auf.
In der Tasche einige eigene und dann noch ein paar Blues Songs,
wurden sie vom Publikum gefeiert.
Cream war jetzt bereit Rockgeschichte zu schreiben: ein berühmter Gitarrist, ein genialer Drummer, ein einfallsreicher Bassist, der
auch noch eine gute Stimme hatte, mit Pete Brown ein Poet als
Texter: es war alles vorhanden. Die erste Single „Wrapping Paper“
kam bis auf Platz 43 der britischen Charts. Der nächste Song „I
Feel Free“ war bereits eine Zusammenarbeit von Pete Brown und
Jack Bruce.
Dem Lied gelang der Sprung auf Rang 11 und der Song hielt sich
drei Monate in den Charts. Fresh Cream wurde als erstes Album
im Dezember 1966 auf den Markt gebracht. Eine gute Zeit: vor
Weihnachten lag das Album auf Rang 6 der LP Charts. Cream
war immer eine Live-Band. Die von Robert Stigwood organisierten Gigs fanden in den gleichen Clubs statt, wo Ginger Baker und
Jack Bruce bereits mit der Graham Bond Organisation ihre Auftritte hatten. Es gab allerdings einen gewaltigen Unterschied: die
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Musik
Billy Walton Band
November
3,
Assembly
Rooms, Derby
November 4, The Garage, 47
Uplands Cresent, Uplands,
Swansea SA2 0NP
November 8, The Bull Theatre, 68 High Street, Barnet
EN5 5SJ
November 9, 8:30pm, Tropic At Ruislip/Ruislip Social
Club, Grosvenor Vale, Ruislip
HA4 6JQ
November 10, The Kings
Arms, St Mary‘s Street, Bedford, Bedfordshire MK42 0AS
November 11, The Maltings,
Bridge Square, Farnham, Surrey GU9 7QR
November 13, Barinton Live
Music Club, Gruner Weg 2,
Ehrenfeld, Cologne, Germany
50825
November 14, Quasimodo,
Kantstr. 12a, Berlin, Germany
November 15, Werkhof, Kanalstrasse, Lubeck, Germany
23552
November 16, 8pm, Doerpkrog, Joldelund, Germany
November 18 The Forum,
Fonthill, The Common, Tunbridge Wells TN4 8YU.
November 19, Live At The
Trades, 3 Greasborough Rd,
Rotherham S60 1RB
November 21, The Greyhound, 85 High Road, Beeston, Nottingham NG9 2LE
November 22, True Blues
Club at Earlestown Conservative Club, 17/19 Earle Street,
Newton-Le-Willows WA12
9LW
November 23, Friezland
Church Hall, Oaklands Rd,
Oldham OL2 6AS
November 24, The Saints
Room, Cockermouth
November 25, Famous Monday Blues at the Jericho Tavern
56 Walton St, Oxford OX2
6AE
November 26, 100 Club, 100
Oxford St, London W1D 1LL
12
Graham Bond Organisation spielte in gut gefüllten Lokalen, bei
Cream waren die gleichen Clubs überfüllt. Viele Fans mussten vor
den Türen bleiben.
1967 kam es zur ersten Tour in den USA. „Fresh Cream“ erschien
in den USA auf Atco und wurde auch hier ein Erfolg. Stigwood
vermittelte Cream an Atlantic Records und somit an Ahmet Ertegun. Im Atlantic Studio in Manhattan wurde mit dem Toningenieur Tom Dowd „Disraeli Gears“ aufgenommen. Gast im Studio
war Felix Pappalardi. Ertegun und Pappalardi waren der Meinung,
Eric Clapton sollte der Frontmann und Sänger der Cream sein.
Pappalardi nahm einige Demos von Clapton mit nach Hause und
komponierte und textete „Strange Brew“ für Eric Clapton als Sänger. Ertegun entschied, „Strange Brew“ müsse die nächste Single
der Cream für den amerikanischen Markt sein. Ginger Baker und
Eric Clapton waren von der Zusammenarbeit mit Felix Pappalardi
begeistert und verpflichteten ihn als Produzenten des Albums.
Bei den Arbeiten zu „Disraeli Gears“ kamen Cream mit Musikern und Helfern von Atlantic Records zusammen. Booker T.
& The MG‘s und Otis Redding hörten bei den Aufnahmen zu
„Sunshine Of Your Love“ zu, und Martin Sharp, der auch mit Eric
Clapton „Tales Of Brave Ulysses“ komponierte, gestaltete das Cover. Der Erfolg von „Sunshine Of Your Love“ war umwerfend. Die
Platte gehörte zu den bestverkauften Singles in der Geschichte von
Atlantic Records.
Nach der Fertigstellung von „Disraeli Gears“ ging es weiter auf
US-Tour. Im Fillmore verlangte das Publikum nach längeren Improvisationen. Cream gefiel das und sie jammten drauflos. Bald
hatten sie sich mit den ausgeweiteten Improvisationen einen Namen gemacht. Im Juni 1968 ging es wieder in das Atlantic Studio
um „Wheels Of Fire“ aufzunehmen. Die Atmosphäre zwischen den
Musikern war diesmal eine andere. Es kam zu offenen Streitereien.
„Wheels Of Fire“ sollte beide Seiten der Band zeigen, Live und
Studio. Für die Live Platte wurde das Solo von Ginger Baker „Toad“
aus dem Fillmore genommen und drei Titel aus dem Winterland.
Der Text auf dem Cover ist in dieser Beziehung nicht ganz korrekt.
Der erste Track „White Room“ sollte an Jimi Hendrix erinnern.
Felix Pappalardi steuerte hier den Geigenpart dazu. Ginger Baker
und Eric Clapton wollten sich als Komponisten auf der „Wheels
Of Fire“ verewigen, aber irgendwie schaff ten sie es nicht zu guten
Songs. Auch die Hilfe von Pete Brown brachte nichts. Pete Brown
erzählte später, die Chemie passte irgendwie nicht. Ginger Baker
arbeitete stattdessen mit Mike Taylor zusammen.
„Wheels Of Fire“ wurde auf Anhieb erfolgreich und verhalf sogar
den Vorgängeralben zu neuen Rekordeinnahmen. „Fresh Cream“
und „Disraeli Gears“ kamen zurück in die Charts.
Die Probleme begannen während der Gigs. Ginger Baker und
Jack Bruce hatten sich nie richtig verstanden und jetzt ging es auf
monatelange Touren. Von ihrer Musik entfernten sie sich immer
mehr. Statt der kurzen einprägsamen Songs ihrer Alben folgten
endlose Improvisationen. Das Ende kam immer näher. Nach einem Gig in Texas beschlossen Cream die Auflösung. Es ging nach
London und mit Pappalardi als Produzent entstand „Goodbye“,
wieder eine Mischung aus Live- und Studioaufnahmen. Live wurde für die BBC in der Londoner Royal Albert Hall ein Abschiedskonzert aufgenommen. Drei Tracks stammen von diesem Konzert.
Danach heuerte Jack Bruce seine alten Freunde aus den Tagen der
Graham Bond Organisation an, Jon Hiseman und Dick Heckstall-
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Musik
Smith, verpflichtete diverse Gitarristen wie John McLaughlin oder
Chris Spedding und führte die Partnerschaft mit Pete Brown weiter.
Ginger Baker und Eric Clapton nahmen Steve Winwood von
Traffic und holten sich den Bassisten Rick Grech, um „Blind
Faith“ zu gründen. Nach dem schnellen Ende dieser Band tat sich
Clapton mit Duane Allman zusammen und schuf mit „Layla and
other assorted love songs“ unter dem Namen Derek and the Dominos einen Klassiker der Rockgeschichte, bevor er für Monate im
Heroinsumpf verschwand. Erst durch die Hilfe von anderen Musikern gelang ihm der Rückweg ins Leben und in die Musik. In den
70er und 80er Jahren wurde er dank Hitsingles wie „I Shot The
Sherriff “, „Wonderful Tonight“ oder „After Midnight“ zum Dauergast in den Hitparaden und zum weichgespülten Langweiler. (Live
allerdings war er nicht nur in seinen jährlichen Konzerten in der
Londoner Royal Albert Hall immer als Bluesmusiker aufgetreten
und hatte seine Bekanntheit auch für Künstler wie Robert Cray
oder Buddy Guy eingesetzt.)
Persönlich kamen in der Zeit noch Rückschläge und Tragödien
hinzu wie der Tod seines vierjährigen Sohns oder auch der Tod
seines Freundes Stevie Ray Vaughan, seines Managers und zweier
Roadies bei einem Hubschrauberabsturz, Clapton zog sich zurück,
kämpfte erfolgreich gegen seinen Alkoholismus und war jetzt wieder für eine Neubesinnung auf den Blues bereit. Und in einer Zeit,
wo Blues in den Hitparaden, im Fernsehen und im Rundfunk
kaum noch eine Rolle spielte, kam der Erfolg von „Unplugged“
einer Sensation gleich.
Klar, ein großer Teil des Erfolges ging auf „Tears In Heaven“ zurück, das als Single weltweit zum Hit wurde. Dieses seinem toten Sohn gewidmete Lied ist bis heute immer wieder im Radio
präsent. Und auch die „Neuerfindung“ der Rockhymne „Layla“
als temporeduzierte Akustiknummer ist vielen heute zuerst in Erinnerung. Doch eigentlich ist „Unplugged“ ein Album, auf dem
Clapton seinen großen Vorbildern im Blues huldigt. Songs von Big
Bill Broonzy, Muddy Waters und anderen werden von ihm und
der hervorragend aufgelegten Band (unter anderem: Steve Ferrone
- dr, Nathan East - b, Chuck Leavell - keyb und Andy Fairweather
Low - g) zwar entspannt aber mit soviel Energie dargeboten, wie
man das von seinen Studioproduktionen lange nicht gewohnt war.
Endlich war Clapton wieder ein Bluesgitarrist, der die alten Songs
zu seinen machte, die Trauer, die Schicksalsschläge und Enttäuschungen seines Lebens durch sie fühlbar machte.
Das Album brachte Clapton einen ganzen Stapel Grammies ein:
„Tears In Heaven“ wurde „Single of the Year“ und „Song of the
Year“. Außerdem wurde Clapton für die beste männliche Gesangsdarbietung in der Kategorie Pop und auch im Rock ausgzeichnet.
Außerdem bekam die Neufassung von „Layla“ noch einen Grammy als bester Rocksong und Unplugged selbst wurde Album des
Jahres. Allein in den USA wurde es über zehn Millionen Mal verkauft. Immer wieder ist vom Blues als Heiler, als Doktor die Rede.
Und genau das war dieses Album für Clapton.
Gleichzeitig stellte Clapton auch fest, dass entgegen der von den
Medien verkündeten Trends ganz traditionelle Bluesalben noch
immer eine Chance haben, auf breites Gehör zu stoßen. Und so
veröffentlichte er seither immer wieder reine Bluesalben. Die Ergebnisse allerdings fielen unterschiedlich aus. „From The Cradle“
(1994) war das erste Studioalbum seit Beginn von Claptons So-
© wasser-prawda
Eric Clapton - Unplugged Deluxe +
DVD
Die Anreicherung historisch
bedeutsamer Alben durch diverse Bonusmaterialien ist in
den letzten Jahren zu einer
regelrechten Manie geworden. Oftmals sind die Zugaben zum eigentlichen Album
nicht wirklich notwendig und
verstellen in ihrer Belanglosigkeit den Blick aufs Original..
Bei Claptons Unplugged allerdings lohnt sich der Kauf der
Luxusausgabe auch für Fans,
die das Original schon in ihrer Sammlung haben. Denn
hier bekommt man nicht nur
das remasterte Originalalbum und eine zweite CD mit
Alternativersionen und zwei
nicht auf dem Album befindlichen Songs. „Circus“ und
„My Fathers Eyes“ hätten gut
in den Konzertablauf gepasst,
wurden aber dann nicht in
die Sendung und das Album
aufgenommen. Auf der beiliegenden DVD findet sich
außerdem das bei MTV ausgestrahlte Konzert und im Bonusbereich das Rehearsal der
Band am gleichen Tag während des Licht- und Soundchecks.
13
Musik
lokarriere, das komplett aus Bluesnummern besteht. Live im Studio eingespielt, wurde das Album
von einigen Kritikern als „fast perfekt“ gepriesen.
Andere allerdings kritisierten Claptons Gesang,
der im Gegensatz zu seinem Gitarrenspiel nicht
wirklich als authentischer Bluesgesang angesehen
wurde. Was Unplugged noch nicht vergönnt war:
„From The Cradle“ kam in den USA auf Platz 1
der Album-Charts und dürfte mittlerweile zu den
meistverkauften Bluesalben insgesamt gehören.
Dann dauerte es allerdings wieder sechs Jahre,
ehe er erneut ein Bluesalbum veröffentlichte. 2000
erschien das gemeinsam mit B.B.King eingespielte „Riding With The King“. Und 2004 kam dann
das lange erwartete Tributalbum an Robert Johnson auf den Markt. Zwar wurde das Album vielerorts gepriesen. Heute allerdings sieht man das
Ergebnis durchaus kritischer: Die Verwendung von
ProTools hat den Songs meiner Meinung nach die
Seele gestohlen. Und von der inneren Getriebenheit, von denen Johnson in seinen Songs erzählt,
ist nichts übrig geblieben. Alles ist sehr entspannt
und weichgespült. Korrigiert hat Clapton das mit
dem im gleichen Jahr nachgeschobenen „Sessions
For Robert J“ (CD mit DVD). Hierauf finden sich
Sessionaufnahmen, die Clapton mit Billy Preston,
Doyle Bramhall, Nathan East und anderen Musikern teils akustisch teils elektrisch in verschiedenen
Proberäumen in Dallas und England aufgenommen hat. Auch im Studio in 508 Park Avenue in
Dallas fanden Aufnahmen statt. Dort hatte Johnson 1937 seine zweite und letzte Session aufgenommen.
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© wasser-prawda
Musik
Weitere Hörempfehlungen
B.B. King & Eric Clapton - Riding
with the King
2000 lud Eric Clapton B.B. King ins Studio.
Gemeinsam mit Claptons Band entstand ein
Album mit Bluessongs, die meist aus dem Repertoire des 74jährigen King stammten. Für das
Album gab es zu Recht einen Grammy für das
beste traditionelle Bluesalbum.
Zwei Gitarristen in einem Studio? Das muss
nicht wirklich gut gehen, selbst wenn beide solche
Meister ihres Instrumentes sind wie B.B. King
und Eric Clapton. Grad bei Clapton hat man es
oft gemerkt in den letzten Jahren, dass er sich
zu sehr auf seinen Partner als auf seinen eigenen
Sound und seine eigenen Fähigkeiten verließ. Beispiel dafür etwa die letzte gemeinsam mit JJ Cale erschienene Scheibe: Das ist ein Cale-Album,
keines wo Clapton wirklich seinen Part spielt mit
vollem Einsatz. Auch wenn er auf der Bühne ist,
ist diese Haltung oft zu hören: Da klingt Clapton
plötzlich mehr nach Mark Knopfler oder Albert
Lee statt nach Mr. Slowhand himself.
Bei „Riding With The King“ triff t das zum
Glück nur zeitweise zu. Auch wenn die Platte
wirklich mehr nach King als nach Cream klingt.
Aber das liegt zum größten Teil eben an Titeln
wie „Three O‘Clock Blues“ oder ähnlichen Klassikern, die untrennbar mit BB. King verbunden
sind. Und es liegt natürlich auch daran, dass
Clapton sich aus Respekt vor dem Vorbild meist
mit der Rolle des zurückhaltenden aber äußerst
effektiven Begleiters zufrieden gibt. Wenn man
aber genauer hinhört, dann kann man spüren,
wie die beiden Gitarren einander Ideen zuspielen
und miteinander den Blues singen.
Clapton
Eric Clapton hat 2010 mit „Clapton“ ein Studioalbum vorgelegt, dass Schönklang zwischen
Blues, Jazz und Schmalz unter anderem mit
Sheryl Crow, J.J. Cale und Wynton Marsalis
zelebriert. „Clapton“ (Warner) sei so nicht beabsichtigt gewesen, hatte der Künstler im Vorfeld
der Veröffentlichung in Interviews gesagt. So,
das meint: in dieser Stilmischung, in der das Album heute vorliegt. Denn neben Blues inden sich
Ausflüge in den Jazz a la New Orleans und auch
noch jede Menge Balladen voller Streicher.
Das Ergebnis wird die Fans des harten und zupackenden Bluesrock sicherlich in einen schnellen Tiefschlaf versetzen. Es ist ein sehr relaxtes
Album geworden, ein Alterswerk, wo Clapton
mit den verschiedensten Musikern zusammen
einfach Spaß im Studio hatte. Neben Langzeit-
© wasser-prawda
partner Doyle Bramhall II (der auch co-produzierte) haben auch Derek Trucks oder JJ Cale
ihre Sounds einfließen lassen in die Neuinterpretation von bekannten oder obskuren Bluesstükken. Und Sheryl Crow schmachtet mit Clapton
durch „Diamonds Made From Rain“. Eine der
treibendsten und besten Nummern ist das von
Clapton und Bramhall gemeinsam geschriebene
„Run Back To Your Side“. Hier wurde die Handbremse vorher gelöst.
Doch dann sind da auch wieder Titel, die man
so nicht von Clapton erwartet hätte. Denn als
Jazzsänger und Gitarrist hat man ihn nicht wirklich auf der Liste. Doch wenn er dann mit Wynton Marsalis und Allen Toussaint und weiteren
Bläsern ein wirkliches New Orleans-Feeling aufkommt wie in „When Somebody Thinks You‘re
Wonderful“, dann wünscht man sich, die ganze Platte wäre so. Seit Ry Cooders „Jazz“-Album
hab ich so etwas von einem vom Blues herkommenden Gitarristen nicht mehr gehört. Vielleicht
könnte das der Weg sein, auf dem Clapton in den
nächsten Jahren nicht nur selbst Spaß hat sondern auch den Hörern selbigen vermittelt.
Old Sock
Das 2013 veröffentlichte 21. Studialbum setzt
das relaxte Alterswerk Claptons fort. „Old Sock“
ist entspannt wie ein fauler Nachmittag im
Strandhaus in der Karibik. Mit Gästen wie Steve
Winwood, Taj Mahal und Paul McCartney spielt
er wiederum Klassiker der Bluesgeschichte und
aus dem American Songbook.
Willkommen zurück im Schaukelstuhl! Während draußen der Winter wieder zurückgekehrt
ist, kommt Clapton uns gleich mal sommerlich:
Aus „Further On Down The Road“ von Taj Mahal macht er einen entspannten Reggae - und später spielt er auch noch Peter Toshs „Till Your Well
Runs Dry“ im karibischen Sommersound. Nein,
Eric Clapton will und muss niemandem mehr etwas beweisen. Wenn er denn doch noch mal ins
Studio geht, dann macht er das aus purem Spaß
an der Musik und daran, mit guten Freunden zusammen zu spielen. Und wie kann man eine gemütliche Session am besten gestalten: Mit Songs,
die man immer schon kennt: Von Gershwins
„Our Love Is Hear To Stay“ über „All of Me“ bis
hin zu ausgerechnet Gary Moore‘s „Still Got The
Blues“ geht das Programm von „Old Sock“. Und
immer hat man das Gefühl, hier einer lässigen
Privatparty beizuwohnen: Niemand spielt sich irgendwie in den Vordergrund. Höchstens bei dem
sehr schönen „Gotta Get Over“, einem von zwei
neuen Songs des Albums, kommt er etwas mehr
auf Touren.
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Musik
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© wasser-prawda
Musik
Buddy Guys
Arme sind
weit offen
Die Worte „Legende“, „Ikone“ und „Titan“ gehen
einem leicht über die Lippen, wenn man den Versuch unternimmt, den unvergleichlichen Buddy
Guy zu beschreiben. In der Realität tragen diese
Wörter wenig dazu bei, um genau darzustellen,
welchen enormen Einfluss dieser ikonenhafte,
legendäre Blues-Titan auf die Welt der Musik
hatte, zumindest auf den Teil der Musikwelt, bei
der sich das Zuhören lohnt. Von Casebeer. Fotos: Karsten Spehr.
Obwohl er die meiste Zeit seiner Karriere vom Mainstream-Radio gemieden wurde, setzt sich der 77jährige Blues-Veteran noch
immer dafür ein, den Blues lebendig und aufregend zu halten und
Hörer für ihn zu gewinnen. Wie jeder, der in den letzten 40 Jahren
eine Show von Buddy Guy erlebt hat, bestätigen kann, verzieht sich
der Blues-Hero nicht still, wenn es darum geht, das Radio dazu zu
bringen, den Blues zu spielen.
Als er noch tagsüber einen Abschleppwagen fuhr und nachts auf
seine Gitarre schlug, um die Zuhörer zu schockieren, spielte er garantiert nicht des Geldes wegen. Zeitweise, so erläuterte er es im
Gespräch mit American Blues Scene, hatte er keine Hoffnung mehr
auf eine Zukunft als Gitarrist. Aber er blieb dabei, weil er einfach
zu spielen liebte.
Stevie Ray Vaughan sagte einmal: „Ohne Buddy Guy würde
es keinen Stevie Ray Vaughan geben.“ Wenn man diese Aussage
für wahr hält und die Menge der Künstler zählt, die SRV selbst
beeinflusst hat, erhält man ein viel breiteres Bild. Die Leinwand
dafür wird sehr groß. Er selbst macht (und das noch, bevor er in
seinem Hotel in Detroit den Frühstückskaffee getrunken hat) den
Rahmen noch ein Stück größer: „Ohne B.B. King gäbe es keinen
Buddy Guy. Und ohne Charlie Patton gäbe es keinen B.B. King.
All diese alten Typen haben B.B. beeinflusst und dann hat er micht
beeinflusst. Das ist wie im Sport: Micky Mantle, Willie Mays und
all die anderen Großen sind fort. Aber diese Typen haben die neue
Generation von Spielern inspieriert (auch wenn diese neuen Spieler
ein wenig geschummelt haben). Auch das ist im Blues genau so.“
„Es reicht nicht, einfach eine Gitarre in den Verstärker zu stöpseln“, meint der in Lettworth (Louisiana) geborene Musiker, als er
einige Gesichtspuntke der modernen Gitarren-Technik diskutiert.
„Es gibt eine Menge an Spezialeffekten. Ich schau mir einige dieser
heutigen Gitarrenspieler an und die haben da unten dieses Board
... ich wüsste ums Verrecken nicht, wo ich da meinen Fuß draufstellen sollte! Aber es funktioniert, verstehst du? Trotz allem ist das
noch immer eine Gitarre. Du kannst noch immer auf ihr spielen.
Du kannst sämtliche Knöpfe drücken und sie haben sogar Technologien, dass sie fast alleine spielt. Aber noch immer musst Du die
Giarre spielen. Wenn Du Gary (Clark Jr.) und Quinn (Sullivan)
anschaust: sie spielen! Sie holen alles raus aus der Gitarre ... dar-
© wasser-prawda
Casebeer
ist ein Musik-Fan. Seine Liebe zum Blues kann man zurückverfolgen bis zu der Zeit,
in der er in St. Louis lebte. Die
letzten Jahrzehnte war er immer in Verbindung mit dieser
Musik, sei es als Fan, Autor
oder Musiker. Ausgerüstet mit
einer schnellen Internetverbindung und einer Idee hat er
das Northwest Scene Network
ins Leben gerufen, das letztens
vom Sender King 5 als bester
Musik-Blog im westlichen
Teil des Staates Washington
augezeichnet wurde. Das hier
veröffentlichte Interview wurde erstmals bei American Blues
Scene veröffentlicht. Übersetzung von Raimund Nitzsche
und Wiederveröffentlichung
in der Wasser-Prawda mit Genehmigung.
17
Musik
um stelle ich sie immer wieder heraus, wenn ich
die Chance habe. Übrigens: Quinn wird mit mir
zu Jay Leno kommen. Ich hab das Datum noch
nicht, aber ich werde ihn mitbringen. Auch zur
Fernsehsendung „Extra“ wird er mitkommen.
Im Gespräch mit „American Blues Scene“
widmet sich Buddy wieder einmal einem Thema, dass den Blues und seine vielen legendären
Vertreter seit Jahrzehnten verfolgt: Die Tatsache, dass es keine echte Unterstützung durch das
Mainstream-Radio gibt. Natürlich hat Buddy
zur Zeit eine Menge Erfolg mit der Veröffentlichung seines Doppelalbums „Rhythm & Blues“,
doch das ist ein Erfolg, für den er ein Leben lang
arbeiten musste.
Trotz der großartigen Aufnahme des Albums
bislang konzentriert sich Guy mehr auf das Musikmachen. „Weißt Du, ich bin aus Louisiana
und wuchs auf in Baton Rouge. Und der Bürgermeister und ich ich haben ein ziemlich enges
Verhältnis. Gestern rief er mich an und wir redeten und er fragte mich, wie sich das Album
machte, und ich meinte: Ich weiß es wirklich
nicht, darum kümmere ich mich wirklich nicht
so sehr. Ich lass mir das immer von anderen
Leuten sagen. BB King sagte mir vor rund 30
Jahren... er meinte: Buddy, ich hab noch nie ein
Album gemacht, was ich mochte.“
Als wir Mr. Guy darüber informiert haben,
dass er die Nummer eins bei den Billboard Blues
Alben und Nummer 27 bei den 200 besten Alben
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ist, bleibt der Bluesmaster mit Vorliebe für auffällige Punktmuster bescheiden wie immer. „Weißt
Du, da fühle ich mich wirklich gut“, grinst er.
„Ich muss ein paar Licks richtig getroffen haben,
um es dahin zu bekommen bei der Art wie der
Blues heutzutage behandelt wird, es ist schwieriger als jemals, dahin zu kommen. Es so ähnlich
wie bei einem guten Restaurant, wo Du nicht
nach dem gehst, was andere sagen - Du musst
es selbst probieren und dann sagst Du: Wart mal
ne Minute, ich geh besser zurück und bestell mir
mehr davon. Ich rede nicht von Buddy Guy. Ich
spreche über Muddy Waters oder Howlin Wolf.
Ich sag nicht, du sollst die jeden Tag spielen wie
die Platten von anderen, ich meine: Lass mich
Muddy jede Woche ein oder zwei Mal hören,
dann schmecken mein Reis mit Bohnen noch
besser.“
Die Leute würden gerne einige von den alten Sachen hören, wenn es denn eine Chance dafür gäbe.
„Da stimme ich zu! Und ich weiß nicht, was
wir angestellt haben, um so behandelt zu werden. Es wäre doch nichts dabei, ab und zu mal
John Lee Hooker zu hören, vielleicht einmal in
der Woche, und in der nächsten Woche dann
Howlin Wolf. Auf die Weise würden die jüngeren Menschen erfahren, dass das damals der Typ
war. Es ist ein wenig wie bei nem Auto von Ford,
weißt Du? All die alten Blues-Musiker haben
ihr Leben dem Bluesspielen gewidmet. Und die
meiste Zeit dachten sie nicht ans Geldverdienen,
© wasser-prawda
Musik
sie machten es aus Liebe zur Musik, nicht zum
Geld. Heutzutage kommt ein Kid an und kann
spielen. Aber er sagt: Ich will bezahlt werden! Für
mich ist das anders ... wenn ich meine Gitarre
spiele, dann denke ich überhaupt nicht ans Geld.
Ich spiele, weil ich die Leute zum Lächeln bringen will. Ich will, dass sie sagen: Ich hatte ein
Problem, aber ich hab es
vergessen.“
Während er das sagt,
prangert Buddy den allzuverbreiteten Irrtum an,
dass der Blues traurig ist.
„Wenn Du einfach auf
den Blues hörst und auf
die Texte, das ist nicht
immer traurig. Einige
der alten Blues-Texte
waren über ... ‚Ich hatte letzte Nacht eine gute
Zeit‘ oder ‚I boogie-woogied away‘. Wenn Du
boogiest, dann sind sie ganz sicher nicht traurig,
Du tanzt und hast Spaß. Wenn Du B.B. King
sagen hörst: ‚I got a sweet little angel. I love the
way she spreads her wings‘, wenn Du heraus findest, was das bedeutet...“ Buddy lässt ein langes
heftiges Lachen hören. „Als ich es zuerst hörte,
schaute ich zum Himmel und suchte nach einem
Engel mit Flügeln. B.B. King sagte zu mir: Du
musst rausfinden, was ich gesagt habe, es ist wie
um den heißen Brei herum zu reden. Aber jetzt
ist Hip-Hop so beliebt geworden, da muss man
es nicht mehr auf diese Weise singen. Die singen
es exakt so, wie sie es meinen. Nein, nicht jeder
Blues ist traurig. Manche Leute müssen sich nur
mal hinsetzen und wirklich zuhören.“
Buddy fährt fort: „Was dem Blues am meisten schadet, ist dass die Jugendlichen ihn nicht
kennen, weil er nicht mehr gespielt wird. Die
großen Radiostationen
wollen ihn nicht spielen,
weil sie meinen, er wäre
zu langsam. Aber dann
gibt es dann plötzlich einen Bluessong von einer
britischen Frau und sie
meinen: Das kann ich
spielen.“
„Ich hab das schon damals bei Chess Records
so erlebt. Ich erinnere mich, dass Otis Rush und
ich mit meinem Saxophonspieler in einer Ecke
in Chicago stand und sie tranken Wein und rissen Witze und er sagt zu Otis: ‚Ich könnte dich
mit einem Schlag ausnocken.‘ Und Otis meint:
‚Du kannst mich jeden Tag der Woche schlagen,
außer am Sonntag. Lass mich Dich am Sonntag
schlagen.‘ Das ist das gleiche Ding wie mit dem
Blues im Radio. Ich habe nichts gegen all die andere Musik, bloß schiebt immer mal wieder ein
klein wenig Blues dazwischen. Wenn ich das erleben könnte, bevor ich gehe, das würde mich wie
verrückt glücklich machen.“
Was dem Blues am meisten
schadet, ist dass die Jugendlichen ihn nicht kennen, weil er
nicht mehr gespielt wird.
© wasser-prawda
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Musik
Wie soll man sie dazu
bringen, ihn zu spielen?
„Ich glaub, man muss
zu den großen Programmdirektoren durchkommen. Ich hab versucht, der Sache auf den
Grund zu gehen. B.B.
kennt die Antwort nicht,
und manchmal treffe ich
auf die wichtigen Typen
von den Sendern, ich
will da niemanden direkt
nennen, damit sie mich
nicht noch mehr hassen,
als sie es eh schon tun,
aber es gibt ne Menge
großer Sender. Ich weiß
nicht, ob es das Geld ist
oder was man braucht,
um sie dazu zu bringen,
dass sie den Wolf, oder
B.B. oder überhaupt
den Blues spielen.“ Mit
einem
schelmischen
Grinsen kommt der
Bluesman mit einer Idee:
„Vielleicht müssen wir
bei den Texten aufhören, um den heißen Brei
herum zu reden. Wir
könnten es machen wie
die Hiphopper und die
Profanität einbauen. Ich
hab drüber nachgedacht,
und in der Tat denke
ich noch immer darüber
nach. Blues hat niemals
jemanden geschadet, um
so behandelt zu werden
wie er behandelt wird.“
Buddy beruhigt sich,
als er anfängt über die
British Invasion zu reden
bevor er zu einer Story
über die Stones und Muddy Waters überleitet.
„Die TV-Show Shindig wollte die Rolling
Stones einladen, als die gerade beliebt wurden,
und all die britischen Typen wie Eric Clapton
und Cream spielten den Blues. Shindig hatte
einige Probleme, die Band zu überzeugen, aber
schließlich meinte Mick, sie würden kommen,
wenn sie Muddy Waters mitbringen könnten.
Die Verantwortlichen von Shindig fragten: Wer
zur Hölle ist Muddy Waters? Die Stones antworteten: Ihr wisst nicht, wer Muddy Waters ist,
und wir haben uns nach
einem seiner Alben benannt?“
„Einmal spielte ich in
der Gegend rund um
Seattle, und Jimi [Hendix‘] Vater kam auf einen Drink vorbeit. Ich
bot ihm einen Cocnac
an. Er lehnte ab und
meinte: Ich trink nur
Whiskey. Ich meinte:
Hier geibt es leider keinen mehr. Und so versuchte er einen Schluck.
Danach springt er zurück und sagt laut: Was
zur Hölle ist das für ein
Stoff, gib mir mehr!“
„Auf meiner letzten
CD habe ich einen Song
darüber, was meine
Mutter mir immer sagte: ‚goy you go too far
to turn around.“ Guy
lächelt, als er drüber
spricht, ob er trotz der
Jahrzehnte der Zurückweisung vom Mainstream-Radio und -Pop
nicht manchmal das Gefühl habe, aufzugeben.
„Nein, keinesfalls. Blues
war so, so lange ich lebe.
Ich hab niemals die Spitze der Leiter erreicht,
aber ich bin niemals bis
ganz nach unten gekommen. Jedes Mal, wenn
ich kurz davor war, am
Boden anzukommen,
kam jemand vorbei wie
die Briten und Gary und
Quinn, und glücklicherweise haben die etwas in
Gang gesetzt und dann kamen auch Leute rein
und sagten: Wow.“
„Wie ich vorhin schon sagte, die Briten haben
so viel getan für den Bluen in den späten 50ern
und frühen 60ern als sie anfingen, das alte Zeug
zu spielen. Damals begannen wir alle einen angemessenen Lebensunterhalt zu verdienen. Davor,
da fuhr ich tagsüber einen Abschleppwagen und
spielte nachts die Gitarre. Aber nein: Ich hab niemals dran gedacht aufzugeben. Ich setzte nicht
meine Hoffnung auf die Gitarre, ich liebte es.
Ich hab niemals dran gedacht
aufzugeben. Ich setzte nicht
meine Hoffnung auf die Gitarre, ich liebte es. Aus Liebe zur
Musik lernte ich das Spielen,
nicht aus Liebe zum Geld.
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© wasser-prawda
Musik
Aus Liebe zur Musik lernte ich das Spielen, nicht
aus Liebe zum Geld.“
Wo sieht der wahrscheinlich Größte im Blues die
Zukunft für das Genre in den nächsten zehn Jahren? Gehen wir vorwärts, oder bewegen wir uns
zurück?
„Solange nicht einige der Sender uns keine
gleichen Möglichkeiten einräumen, wie sie es für
andere Musik machen, dann ist das für mich beängstigend.“
Eine Frage, die wir über Facebook bekamen: In
einer Zeit, wo einiger der anderen Bluesleute sich
zur Ruhe setzen und langweilige Alben veröffentlichen - was hält Buddy Guy frisch, modern und
‚nasty as hell‘ auf dieser alten Gitarre?
„Die Liebe zu den Menschen. Und Musik
spricht in allen Sprachen. Ich fahre durch die
ganze Welt. Und an manchen Orten, zu denen
ich komme, verstehen sie nicht, was ich sage.
Aber sie verstehen, was ich spiele, und so funktioniert es. Wenn ich zu Dir kommen kann und
dich lächeln sehe, auch wenn Du nicht ein Wort
Englisch kannst und ich kein Wort in welcher
Sprache Du auch immer sprichst - wenn ich Dich
lächeln sehe, dann denke ich, ich hab etwas richtig gemacht.“
„Meine Mission ist es, die Menschen zum Lächeln zu bringen, denn wenn Du hier und heute
lebst und Du beim Weg durchs Leben niemals
© wasser-prawda
ein Problem hattest, dann erzählt mir, wie Du
das geschaff t hast. Ich glaub, jeder hat in seinem
Leben Tiefpunkte, wenn ich aber meine Gitarre
spiele, dann will ich, dass Du das kleine Problem
vergisst, dass Du hast. Und das ist meine Mission.“
„Erzähl uns etwas, was niemand über Buddy
Guy weiß.“
„Wenn ich die Leute nicht mit dem Gitarrespielen zum Lächeln bringe, dann bin ich einfach jemand aus Louisiana. Und wenn Du den
Fernseher einschaltest und das Food Network
anschaust, dann richten alle die Teller so gut an.
Doch wenn Du zu mir zu Besuch kommst, dann
sieht der Teller nicht so gut aus. Aber Du solltest
ihn besser leer essen, weil es gut schmeckt!“
„Leben heißt, sich zu erinnern. Ich erinnere
mich an das erste Mal, als Muddy Waters mich
zu spielen bat. Ich erinnere mich an das erste
Mal, als B.B. King mich bat zu spielen. Ich wollte vor ihm davonlaufen, denn damals hatte ich
noch nicht mal eine Platte draußen und ich sang
eines seiner Lieder. Und dann schaue ich ins Publikum: Und da war er. All diese Dinge folgen
Dir Dein Leben lang.“
Eine Frage, die man Buddy oft stellt, die die Frage, woher das lange Gitarrenkabel kommt.
„Die Idee mit dem langen Gitarrenkabel hab
ich vom verstorbenen Guitar Slim übernom-
21
Musik
men.“ (Guy spricht hier von dem in Greenwood/Mississippi geborenen Bluesman aus New Orleans.) „Der hatte so eins 1954/55.
Erst dachte ich, es wäre ein Gag, aber als ich das erste Mal nach
Chicago kam, da saßen all die Bluesmusiker auf Stühlen und hatten Bühnen. Später hat man mir das Kabel geklaut, ich glaub,
es war John Lee Hooker... Ich ging also, um ein neues zu kaufen
und der Typ schaut mich an und meint: Du bist total verrückt, da
kommt doch nichts durch! Ich sagte: Gib mir einfach, wonach ich
dich gefragt hab, ich will 150 Fuß Kabel. Und ich benutzte meinen eigenen Lötkolben, um meine Stecker dranzulöten. Zuerst
fingen alle an zu lachen, aber ganz plötzlich hat sich das jeder zum
Vorbild genommen und sie gingen ins Publikum und machten
das Gleiche, was ich von Guitar Slim abgeschaut hatte! Ich hab es
nicht erfunden, wie ich schon sagte. das war Guitar Slim und ich
hab ihn dabei gesehen. Ich erlebte ihn in Baton Rouge mit B.B.
King. Sie kündigten ihn an: Ladies and Gentlemen, Guitar Slim!
und dann höre ich für fünf Minuten nur eine Gitarre während
er spielend durch die Vordertür kommt. Damals beschloss ich,
dass ich wie B.B. King spielen und mich verhalten will wie Guitar
Slim.“
Buddy hat überall auf der Welt gespielt mit fast jedem. Mit wem
hat der Gitarrist am liebsten zusammengearbeitet?
„Ich hab so ziemlich mit allen gespielt, jetzt bin ich zu den jüngeren Typen wie Quinn und Gary übergegangen. Und natürlich
mit den alten Typen, wenn Clapton sein Crossroad Festival veranstaltet. Manchmal, wenn ich da auf die Bühne komme, dann sind
da vielleicht 15 von uns und spielen. Weißt Du, ich hab nicht nach
dem Buch zu spielen gelernt, ich hab vom Hinschauen gelernt.
Durch Hinschauen und Hören. Wenn also so viele da draußen
sind, denk ich manchmal, ich sollte nicht spielen, ich denk vielmehr, ich dreh mich um und schaue, wem ich ein Lick klauen
kann. Auf jeden Fall glaub ich, da sind noch mehr Youngsters für
mich zu finden. Ich hab auch mit all den großen Jazzern gespielt
und immer versucht, was dabei zu lernen. George Benson und
ich versuchen wann immer es möglich ist, uns zum Spielen zusammenzusetzen. Ich schau also immer nach vorn. Wenn Du an
den Punkt gekommen bist, wo Du meinst, Du weißt alles, dann
irrst Du Dich. Und so gilt auch in Zukunft: Ich werde mit allen
spielen. Wie der Song sagt: „My Arms Are Wide Open. All You
Gotta Do Is Come In“.
„Einige Leute sind zu mir gekommen, weil sie irgendeinen Film
aus dem Buch machen wollen,“ erzählt Buddy von seiner 2012
erschienenen Autobiographie „When I Left Home“. „Aber ich
verstehe davon nicht viel. Ich weiß, dass einige gesagt haben, es
sei ganz gut gelaufen, aber was auch immer kommen mag... Was
immer nötig ist, um den Blues lebendig zu erhalten, wie ich schon
sagte: Meine Arme sind weit offen.!
So würdest Du Dich auch selbst spielen, wenn sie die Buddy Guy
Story verfilmen würden?
„Eigentlich hätte ich gern, dass das jemand anders macht, aber
wie schon gesagt: meine Arme sind weit offen. Wofür Du mich
auch brauchst, bleib im Kontakt. Und was immer ich tun kann,
damit der Blues lebendig bleibt: Meine Arme sind weit offen.“
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© wasser-prawda
Musik
Trampled Under Foot: Wie
man durch die Dunkelheit der
Nacht kommt
Trampled Under Foot ist eine heiße Bluesband aus Kansas,
die Bob Margolin zu Recht als „one of the most popular und
visible bands on today‘s blues scene“ gelobt hat. Es ist eine
Familienband, die aus einer Schwester und zwei Brüdern
besteht. Danielle, Kris und Nick haben nicht mehr zurück
geschaut, seit sie im Jahr 2008 die 24. International Blues
Challenge in Memphis gewonnen haben. Seither haben wir
von ihnen zwei exzellente Alben, „Wrong Side of the Blues“
(2011) und im Juli dieses Jahres „Badlands“ zu hören bekommen. Letzteres erreichte Platz 1 der Billboard Blues
Charts. Von Gary Burnett.
Der Name der Band stammt von einem Song von Led Zeppelin,
zu finden auf dem 1975 erschienenen Album „Physical Graffiti“
und sie spielt ungezügelten Bluesrock. Die Geschwister stammen
© wasser-prawda
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Musik
aus einer Blues-Famiilie und haben unüberhörbar ein tiefes Verständnis davon, worum es im Blues geht. Danielle Schnebelen sagt:
„Blues bedeutet für mich raue Emotion. Er ist das, was Deine Seele
durch Musik erzählt. Er kann nicht nachgemacht werden, man
kann ihn nicht kaufen. Er hat keine Limits und Du kannst ihm
definitiv nicht davonlaufen. Ich lerne, wer ich bin durch den Blues,
durch die Songs, die ich schreibe, die Musik, die ich spiele. Ich
lerne, wie stark ich bin und wie absolut verletzlich ich mich manchmal fühle ebenso.“ Ihr Brudeer Kris stimmt Willie Dixon zu der
sagte Blues is the truth: „Der Blues ist die Wahrheit im Leben, in
der Liebe und in persönlichen Erfahrungen.“
Das neue Album „Badlands“, das nach Meinung der „Blues Revue“ das Album sein könnte, das alle anderen im Rennen um das
Beste Blues Album des Jahres schlagen könnte, ist vollgepackt mit
Melodien voller Soul, leidenschaftlichem Gesang, pulsierendem
Schlagzeug und eingängigen Gitarren-Riffs. Das ist moderner
elektrischer Blues vom Besten. Schlagzeuger Kris Schnebelen hat
gesagt, der Blues solle „modern, voller Energie und Seele, vibrierend und überhaupt die beste Live-Musik, die man sich vorstellen
kann, sein.“ Mit diesem Album haben TUF das Bulls-Eye in der
Beziehung getroffen.
Einer der herausragenden Songs ist „Dark of the Night“, musikalisch eine einnehmende, funkige Nummer, die von Keyboard-Riffs
und Danielles rauhem und gefühlvollem Gesang vorangetrieben
wird. Der Text wirft einen langen, harten und realistischen Blick
auf die Welt um uns herum. Und ihm gefällt nicht, was es zu sehen
und zu hören gibt: „Schreie, die in den Straßen widerhallen ... und
in meinem Verstand“, „Schreie von Müttern, die ihre Babies schon
zu Beginn ihres Lebens verlieren.“ „Ein Leben zu leben ohne dieses
Elend, sollte doch nicht zu viel verlangt sein,“ singt Danielle.
Der Song erkennt, dass der Abstand der zwischen Reichen und
Armen besteht wächst, selbst in den modernen westlichen Demokratien 2013. “People can’t eat, Wind up on the street Doin’
things they said they’d never do, Just to make ends meet.” Die
Wohlstandskluft zwischen dem oberen Prozent und den unteren
99 Prozent in der wohlhabendsten Nation, den USA, ist so groß
wie zuletzt vor rund 100 Jahren, wenn man den jüngsten Studien von Ökonomen der Universität Berkeley, der Pariser School of
Economics und der Oxford University folgt. In den Vereinigten
Staaten verfügen 20 Prozent der Menschen mittlerweile über 80
Prozent des Reichtums, während 60 Prozent der Bevölkerung nur
noch rund fünf Prozent des Reichntums besitzt.
Großbritannien kehrt nach einem im letzten Jahr veröffentlichten Report von Oxfam in großer Schnelligkeit zu Dickenschen
Verhältnissen bei der Ungleichheit zurück. Und wenn wir noch
weiter in die Welt blicken, dann gehören 0,1 Prozent aller Menschen rund 80 Prozent des finanziellen Reichtums.
“Where’s it all gone?”, fragt das Lied und klagt dann, dass die
Höflickeit verschwunden ist. Höflichkeit und nachbarschaftliche
Gesinnung sind immer die Opfer einer aggressiven Anhäufung von
Reichtum in einer Gesellschaft. Der Alttestamentler Walter Brueggemann charakterisiert die Herrschaft der ägyptischen Pharaonen
als die einer bedenklichen Anhäufung von Reichtum. Es sei „eine
räuberisches System, dass frei von nachbarschaftlichem Verhalten
die Machtlosen wie ersetzbare Einzelteile behandelt. Er beobachtet
die gleiche Dynamik in unserer modernen Welt und kommt zum
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Musik
Schluss, dass Anhäufung von Reichtum nachbarschaftliches Verhalten zerstört.
Wass ist zu tun? Die Ungleichheit in der Welt ist ein komplexes Problem, das ungleiche Steuern beinhaltet, unfaire Handelsbedingungen, die die ärmeren Nationen benachteiligt, globale
Klimaerwärmung, ein kaputtes Bankensystem und Spekulation
mit Grundbedürfnissen der Menschen. Einige dieser Dinge kann
man nicht schnell reparieren, obwohl schon viel erreicht werden
kann, wo immer normale Menschen „Genug“ schreien und sich
für Veränderungen zusamenschließen. TUF‘s Lied verweist auf
eine andere, viel grundlegendere Notwendigkeit:
“We clearly can’t do it alone, we need some help to get across.
So let’s get it together, Join hands one and all
Turn this world around before we take a fall
We need the Holy Spirit, and his praises shine
Every child needs a brother and a mother needs some love in
their life
And He brings joy with that healing light
To make it through the dark of the night.”
“Well, we’re crying for a change,” sagt der Song - und die Veränderung beginnt mit mir. Mit der Hilfe des Heiligen Geistes
muss jeder Einzelne seinen Teil beitragen, einander die Hand zu
reichen, anderen etwas Liebe in ihr Leben zu geben und nach dem
„heilenden Licht“ zu suchen, mit dem man die Dunkelheit der
Nacht überwinden kann.
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Musik
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Musik
Blind Willie Johnson:
Lampen, Hochzeiten
und
Gerechtigkeit
Blind Willie Johnson ist einer der einflussreichsten der frühen Bluesmen mit seinen Songs, die über die Jahre hin von
Rev. Gary Davis und Fred McDowell ebenso gesungen wurden wie später auch von Rockbands wie Grateful Dead, Led
Zeppelin, Bruce Springsteen und den White Stripes. Von
Gary Burnett. Titelbild: Ulrich Rauchbach.
Johnson wurde dadurch geehrt, dass eines seiner Lieder auf einer speziellen Aufnahme vertreten ist, die an Bord der Raumsonde
Voyager, die 1977 gestartet wurde, um die Grenzen des Sonnensystems und die Tiefen des Raums zu erreichen. Die Goldschallplatte
der Voyager enthält außerdem beispielsweise Musik von Beethoven, Mozart und Stravinsky. Was anderes intelligentes Leben im
Universum mit Willie Johnson‘s „Dark Was The Night“ anfangen
wird, das sollte sich jeder selbst ausdenken.
Geboren 1897 in Texas erblindete er schon in jungem Alter, angeblich geriet er in einen Kampf zwischen seinem Vater und der
Stiefmutter, die ihm eine Hand voll Ätznatron, ein stark basisches
Reinigungsmittel, in die Augen warf. Sein Leben war war eines in
Armut und er starb vor seinem 50. Geburtstag in den schlimmsten Zuständen, die man sich vorstellen kann. Er bekam Malaria,
nachdem er in den Ruinen seines Hauses geschlafen hatte, das bis
auf die Grundmauern niedergebrannt war. Die Berichte unterscheiden sich, aber scheinbar hatte man ihm die Behandlung im
einem Krankenhaus verweigert entweder weil er blind oder weil er
schwarz war.
Zwischen 1927 und 1930 nahm Willie Johnson 30 Lieder für
Columbia Records auf und verkaufte mehr als Bessie Smith mit
seiner ersten Schallplatte „I Know His Blood Can Make Me Whole/Jesus Make Up My Dying Bed“. Die Weltwirtschaftskrise allerdings beendete Johnsonsn Plattenkarriere und er verbrachte
sein Leben meistenteils mit Straßenmusik und Predigen an den
Straßenecken. Er war ein versierter Gitarrist, spielte manchmal in
einem rhythmischen Picking-Stil und manchmal Slide mit einem
Metallring oder einem Messer. Eric Clapton nannte Johnsons Spiel
auf „Nobody‘s Fault But Mine“ das „wahrscheinlich feinste SlideGitarrenspiel, dass man jemals hören wird.“
Am meistens erinnert man sich an ihn wegen seiner GospelBlues-Lieder. Zu denen gehören“Nobody‘s Fault But Mine“, „John
The Revelator“, „Soul of a Man“, „God Don‘t Never Change“ und
„Keep Your Lamps Trimmed and Burning“. Sein Stück „If I Had
My Way I‘d Tear The Building Down“ brachte ihn ins Gefängnis. Offenbar spielte er vor einer Zollstation und man dachte, er
verwende den Text, um einen Aufruhr zu provozieren. Das Lied
ist allerdings eine Nacherzählung der biblischen Geschichte von
Samson und Delilah. Später wurde es in der Bürgerrechtsbewegung populär.
© wasser-prawda
Das Titelbild hat der
Bluesmaler
Ulrich
Rauchbach
speziell für diesen Artikel
gemalt. Das Original
(Mixed Media, 100+80
cm) kann zum Preis
von 1200 Euro bei
ihm erworben werden. Anfragen per
Mail an [email protected].
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Musik
„Keep Your Lamps Trimmed and Burning“ wurde ein Standard
von Mississippi Fred McDowell. Zuletzt wurde es auch von Ashley
Cleveland, Luther Dickinson und Luke Winslow King gecovert.
Das Lied verweist auf das Gleichnis, das Jesus im 25. Kapitel des
Matthäusevangeliums erzählt (1-12) von den zehn jungen Frauen Brautjungfern - von denen fünfen das Öl für ihre Lampen ausging.
Die Szenerie ist die einer jüdisch-palästinensischen Hochzeit im
ersten Jahrhundert. Hochzeitsprozessionen vom Haus der Braut
zu dem des Bräutigams, begleitet von Gesang und Tanz, fanden
normalerweise nachts statt und benötigten daher Licht. Die Lampen bei diesen Hochzeiten vermutlich Fackeln, vielleicht Stöcke,
die mit ölgetränkten Lappen umwickelt waren. Fackelträgerinnen geleiteten die Braut zum Haus des Bräutigams, wobei sich der
Bräutigam und seine männlichen Freunde anschlossen. In der Geschichte, die Jesus erzählt, warteten die Braujungfern außerhalb
des Hauses der Braut auf sein Kommen, um sie zu seinem Haus
zu begleiten. Bei diesen traditionellen Hochzeiten konnte sich die
Ankunft des Bräutigams oftmals um Stunden verzögern, während
die Verwandten der Braut über den Wert der ihnen gegebenen Geschenke feilschten, während sie den großen Wert der Braut hervorhoben. Die Fackeln wieder brauchten normalerweise alle 15 Minuten oder so neues Öl. Die Hälfte der jungen Frauen in der Geschichte hatten aufgepasst, dass sie genug Öl dabei hatten, damit
sie bereit waren, wenn der Bräutigam schließlich kam. Die andere
Hälfte musste schließlich im letzten Moment noch mal losgehen,
um Öl zu kaufen und verpassten die Ankunft des Bräutigams, den
Hochzeitszug und die Hochzeit.
Der Knackpunkt des Gleichnisses kommt in der Warnung Jesu
an seine Jünger: Darum wachet! Denn ihr wißt weder Tag noch
Stunde. Christen haben das in verschiedener Weise interpretiert:
Als Hinweis auf das Jüngste Gericht, auf unseren eigenen Tod oder
dass Jesus Gottes Gericht über Israel vorhersage, weil das ihn zurückgewiesen habe. Das sah Matthäus gekommen in der Eroberung
Jersusalems und der Zerstörung Israels im Jahre 70. Eigentlich ist
es egal, in welchem Sinne wir es verstehen, der Befehl lautet, bereit
zu sein für den Tag der Krise. Jesus sagt, dass es sich dabei speziell
um die Herrschaft des kommenden Gottes handelt, so dass wir die
Geschichte als Illustration dessen nehmen könne, wie Menschen
in der Nachfolge Jesu handeln sollen, vor dem Hintergrund der
Herrschaft Gottes, wann auch immer die Entscheidung ansteht.
Wenn wir ein Stück weiterlesen in Matthäus 25 kommmen wir
zu der Geschichte vom Großen Gericht, wo Jesus darüber spricht,
wie Gott am letzten Tag richten wird - und, vielleicht zu unserer
Überraschung, geschieht das auf Grundlage, wie gerecht wir gelebt haben. Wie haben wir die Armen, die Gefangenen, die Kranken, die Obdachlosen behandelt? Wir können wir erkennen was
„seid wachsam“ bedeutet: es meint, sich nicht einfach treiben zu
lassen, bequem in unseren eigenen kleinen Welten, uns „zu Tode
zu amüsieren“, wie es Neil Postman deutlich zusammengefasst hat.
Vielmehr sollen wir uns aktiv einbringen in das Streben nach Gerechtigkeit, sollen wir sicherstellen, dass zunächst die Hungrigen
zu essen bekommen, dass die Menschen Zugang zu sauberem Wasser haben, dass man nach den Obdachlosen schaut und sich um
die Kranken kümmert und danach zu schauen, welche Ursachen
dafür verantwortlich sind: die Ungerechtigkeit, Krieg, Vergeltung,
die Interessen der Firmen. Das Königreich Gottes, von dem Jesus
spricht, das geschieht nicht im Privaten, in der Innerlichkeit oder
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Musik
dem Persönlichen. Es ist nicht weniger als Gerechtigkeit, Frieden
und Einigkeit für die Welt. Und dazu sind die Nachfolger Jesu
aufgerufen.
Nachdem er die Geschichte der weisen und törichten Brautjungfern in Erinnerung gerufen hat, ruft uns Willie Johnsons Lied dazu
auf, nicht besorgt zu sein sondern darauf zu schauen, was der Herr
getan hat. In einer Welt, die verzweifelt Gerechtigkeit braucht, ist
das zu verstehen, dass Gott durch Jesus sein Projekt zur Veränderung der Welt begonnen hat und dass wir daran mitwirken könne.
Und das wird uns in die Lage versetzen, der Angst vor der Krise zu
begegnen und statt dessen in seiner Art zu leben, welche den Frieden und die Gerechtigkeit von Gottes Königreich demonstriert.
“Keep your lamps trimmed and burning,” brummt Wille Johnson. Der Auftrag ist nicht, sich einfach treiben zu lassen in der
Hoffnung, dass irgendwie das Öl schon reichen wird oder dass der
Tag der Krise irgendwie an uns vorbei gehen wird. Statt dessen
sollen wir wachsam und bereit sein das Neue von Gott zu demonstrieren, den gerechten Weg, Mensch zu sein und wenn wir das
machen darauf zu vertrauen, „what the Lord has done.“
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Musik
DAWES (v.l.n.r.: Griffin Goldsmith, Taylor Goldsmith, Wylie Gelber [nicht im Bild: Keyboarder Tay
Strathairn])
Von Jungspunden und
gewissen Affinitäten
Holger Schubert ist Labelmanager von Cactus Rock
Records und Präsident des
Rich Hopkins Fanclub
Germany. Demnächst wird
er wieder in seiner musikalischen Lieblingsregion
in Arizona unterwegs sein,
um neue Bands für sein Label zu entdecken.
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Eine Nachlese zu Konzertbesuchen im September 2013
von Holger Schubert (Text und Bilder).
DAWES (Kalifornien) in Berlin / Privatclub (12. September 2013)
Die DAWES (ausgesprochen: Dors) aus Los Angeles standen
schon lang auf meiner Konzert-Agenda. Schließlich gehörte deren zweites Album „Nothing Is Wrong“ aus dem Jahre 2011 zu
meinen Jahres-Top-Ten. Also nichts wie nach Berlin in den Privatclub - einer kleinen, aber feinen Location mit Bar und ausreichend Platz für bis zu etwa 150 Personen. Allerdings verwunderte
doch etwas, dass der bereits recht renommierte Vierer einen derart
kleinen Club bespielte und letztlich sollten - um es vorweg zu
nehmen - an die etwa 100 Liebhaber dieser Musikrichtung huldigen. Zwar tourt die Band unter dem Tourtitle „Stories Don’t
End“ ihres nunmehr dritten - in diesem Frühjahr erschienen - Albums durch Europa. Analysiert man jedoch die zur Aufführung
gelangten Songs, so übertriff t der zweite Silberling/das schwarze
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Musik
Vinyl (insgesamt 7 Songs) den aktuellen Player zwar nur um einen
Song in der Setlist. Allerdings scheint mir das ein Fingerzeig dafür,
dass der Nachfolger des Debüts „North Hills“ [2009] (mit 2 Songs
vertreten) bei der Band (wie auch bei mir) nach wie vor hoch im
Kurs steht.
Bei dieser Vielzahl an genialen Bands und Solo-Acts kommt man
einfach nicht vorbei, bestimmte Schubladen zu öffnen, um diese Künstler in diesem oder jenem Genre oder diesem oder jenem
(sicherlich auch) Vorbild ein wenig zu zuordnen. Wobei ich mir
schon seit langem angewöhnt habe, mich vor dem entsprechenden
Konzertbesuch nicht noch einmal mit dem jeweiligen Objekt der
Begierde inhaltlich oder soundtechnisch zu beschäftigen. Nur das,
was ich mir länger zurückliegend angelesen oder angehört hatte,
liegt irgendwo in meinen Kopf abgespeichert und - ich gebe zu
- ziemlich brach. Und wenn man dann so eine Band wie die DAWES vor sich auf der Stage rocken sieht, so kommt man nicht
umhin zu sinnieren, dass einem hier stark Crosby, Stills & Nash
(im Sommer hatte ich den Auftritt der drei Herren einfach mal
ins sprichwörtliche Wasser in Dresden fallen lassen) oder natürlich
auch dieses legendäre Trio ergänzt um Neil Young (wobei ich bei
ihm ein glückliches Händchen mit dem Besuch seines legendären
Auftritts in der Berliner Waldbühne und der darauffolgenden unfallbedingten Absage des Konzerts in Dresden bewies) kolportiert
werden. Ohne den Herren C, S & N ob meiner Nichthuldigung
ihres Gastspiels in Dresden nahe treten zu wollen, konnte ich mir
ein breites Grinsen ob dieses genialen 105-minütigen Auftritts der
DAWES nicht verkneifen. Alles richtig gemacht! Die Jungs fackeln
wirklich nicht lange und legen gleich so richtig los. Und wieder
einmal bewahrheitet sich auch heute, fast jeder Act kann live seine
Albumergüsse nochmals toppen. So auch dieses Quartett! Denn
beispielweise deren dreistimmigen Gesänge in feinster Harmonie
von Leader Taylor Goldsmith (zugleich Axman an der Gitarre),
dessen unglaublich innovativ Drums-bearbeitenden und synchron
mit den Beats Grimassen schneidender Bruder Griffin Goldsmith
und dem seit Ende 2010 in der Band befindlichen Keyboarder Tay
Strathairn (der herrlich gediegene Soundteppiche über die Songs
legt) werden so ganz nebenbei zu Hymnen - oder sind bereits welche. Lediglich Basser Wylie Gelber hält sich aus dem „Singsang“
heraus und bildet dafür gemeinsam mit dem Drummer eine sowas
von stimmige Rhythm-Section, dass es anfangs (aber nur kurz)
schwerfällt diesen Jungspunden das überhaupt über die gesamte
Konzertdistanz zuzutrauen. Na klar, scheint der Frontmann in
Persona von Taylor Goldsmith über allem und jedem zu thronen.
Jedoch nicht bei dieser Band. Hier geschieht vieles (vielleicht auch
alles) in Gemeinschaftlichkeit und purer Hingabe! Diese Band atmet ein Flair der Extraklasse und das bereits in diesem zarten Alter
- gerade mal jenseits der Mitte 20. Man ist gehalten, ihnen das
noch lang zu vergönnen und von ganzem Herzen zu wünschen!
Setlist Dawes
01 From A Window Seat
02 The Way You Laugh
03 Most People
04 Fire Away
05 Anchor
06 Bear Witness
07 From The Right Angle
08 So Well
09 When My Time Comes
10 Coming Back To A Man
11 Just Beneath The Surface
12 Peace In The Valley
13 Time Spent In Los Angeles
14 Someone Will
15 A Little Bit Of Everything
16 If I Wanted Someone (Encore)
17 Hey Lover (Encore) [Blake
Mills Cover]
ANDREW COLLBERG (Arizona) in Leipzig/
naTo (14. September 2013)
ANDREW COLLBERG wiederum „kenne“ ich schon länger.
Meine Affinität zum Südwesten der Staaten, speziell zu Arizona
und im Besonderen zu Tucson hat dies letztlich bewirkt. Mehrfach
schon in Tucson live erlebt und einmal im Rahmen der 2012er
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Musik
ANDREW COLLBERG (v.r.n.l.: Andrew Collberg, Connor Gallaher)
„Tucson Songs On Tour“ auch schon hierzulande begrüßt, war
es beinahe Pflicht diesem -ebenfalls- Jungspund (erst vor wenigen Tagen beging er seinen 25. Geburtstag) bei seinem Auftritt
in Leipzig „beizustehen“. Jedoch wie beschämend war das denn:
Gerademal 30 Besucher fanden den Weg in die „naTo“. An der
Location und dessen Lage -schön eingebettet in die studentische
Flaniermeile der sächsischen Metropole (der Karl-LiebknechtStraße)- konnte es nicht liegen. Lag es etwa am Wetter und dem
Tag? Das spätsommerliche Wetterintermezzo lockte an diesem
Samstag (wohl zum Bedauern der Veranstalter) alles Mögliche an
Publikum in die Biergärten beiderseits der Street jedoch nicht in
den Club, der aus meiner Erfahrung eine gute Reputation in der
Stadt genießt und einen nahezu idealen Eindruck als konzertantische Spielstätte hinterlässt. Auch am Ticketpreis konnte es nicht
liegen (lächerliche 10 €)! Also was waren die möglichen Umstände, die zu solch einem Negativambiente für den Künstler und
die Veranstalter führten? Obwohl die „naTo“ über eine herrlich
nostalgische Lightanzeige über dem Eingang zum Club verfügt,
wurde diese meines Erachtens nicht vollständig als Informationsfaktum ausgeschöpft. „Nur“ zweizeilig ANDREW COLLBERG
prangen zu lassen, reicht bestimmt nicht aus. Ich mache jede Wette, dass es noch so manchen angelockt hätte, wenn da außer dem
Namen noch zu lesen gewesen wäre „FROM TUCSON ARIZONA“! Und offensichtlich zieht das studentische Publikum es vor,
sich die Sinne lieber sitzend mit Alkoholika (das hätte man beides
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Musik
auch in der „naTo“ haben können), mit irgendwelchem Food (das
wäre auch nach dem Konzert noch lange möglich gewesen) oder
mit stimulierenden Substanzen (z.B. Wasserpfeifen) zuzudröhnen.
Richtig schade eigentlich!
Was allerdings Mister ANDREW COLLBERG mit seiner 3-köpfigen Band zu diesem Opening Gig seiner „Mind Hits“-EuropeanTour daraus machte, nötigt mir meinen vollsten Respekt ab und
findet meine tiefste Hochachtung! Der ursprünglich in Schweden
Geborene lebt nunmehr schon seit vielen Jahren in Tucson - diesem
musikalischen Schmelztiegel aus Desert-geschwängertem Rock,
Country und Pop sowie dem immer stärker herüber schwappenden
Mexicana-Sound der nahen Grenze zu Mexiko. Bereits im zarten
Alter von 18 Jahren veröffentlichte das Jungtalent ANDREW
COLLBERG sein Debüt-Album. Vier Jahre später gelingt ihm mit
„On The Wreath“ ein erstes Meisterstück - von keinem Geringeren
produziert als Nick Luca, der bereits Calexico oder Iron & Wine
zum internationalen Durchbruch verhalf. Auch das neueste Machwerk „Mind Hits“ hat Nick Luca „zu verantworten“. Gerade wurde
es Europa-weit veröffentlicht! Andrew - Multiinstrumentalist (er
spielt Wurlitzer-Orgel, Gitarre, Klavier, Schlagzeug) und Leadvocalist - ist mit seiner Bühnenpräsenz entweder hinter der Orgel oder
an der zweiten Gitarre die personifizierte Rock-Pop-Institution.
Seine Stimme erklingt zart und manchmal auch herzzerreißend.
Irgendjemand hat seine kompositorischen und seine SongwriterQualitäten mal mit „dem Maler, der mit Pinsel und Leinwand statt
mit Pixeln und Bildschirm agiert“ umschrieben. Sehr treffend! Ein
unbekümmerter Jungspund eben! Sein kongenialer und langjähriger „Gegenpart“ im Studio und on Stage ist ein gewisser Connor
Gallaher. Als ich ihn zum ersten Mal in Tucson bei einem lokalen
Festival in der Band von Andrew wahrnahm, war meine damalige
spontane Erkenntnis: hier steht schon ein ganz Großer auf der Bühne! Wie Connor mit seiner Leadgitarre, seinem Amp und seinen
„Tretminen“ in großer Perfektion spielt, ist unglaublich und schwer
in Worte zu fassen. Hier in Leipzig scheint er dies in seiner jugendlichen Unbekümmertheit und Frische noch weiter entwickelt zu
haben. Meine Augen jedenfalls haften oftmals mehr an ihm als an
Andrew (sorry!). Interessant scheint bisweilen und unter finanziellen
Aspekten mehr als nachvollziehbar zu sein, sich für die Rhythm
Section hierzulande oder im benachbarten Ausland nach talentierten Musikern umzuschauen und damit die Investitionskosten um
einen nicht unbeachtlichen Betrag zu minimieren. So kommen mit
Christopher Martin (Bassgitarre) und Niklas Schneider (Schlagzeug) zwei doch schon gestandene Musiker und bestimmt keine No
Names zu Ehren, einen Andrew Collberg und einen Connor Gallaher auf deren Europatour begleiten zu dürfen. Was logischerweise
beiden Seiten nur dienen kann! Und was das Besucherinteresse betriff t: Beim nächsten Mal wird vieles besser!
LAYLA ZOE (Kanada) in Erfurt/ Museumskeller
(24. September 2013)
Gespannt durfte man auf LAYLA ZOE (ausgesprochen: So) sein,
die in Fach- und Fankreisen gern als „Canada’s Darling Of Blues“
gefeiert wird. Auch hier galt vor dem Konzertbesuch: Kein Einlesen
oder Einhören in die Bio- und Diskografie! Und so kam nicht von
ungefähr, dass ich Layla sofort von Anbeginn an mit einer gewissen
Janis Joplin -insbesondere optisch- in Verbindung brachte. Nein,
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Musik
LAYLA ZOE (v.r.n.l.: Layla Zoe, Jan Laacks [nicht in dem Bild: Drummer Hardy Fischötter, Bassist
Gregor Sonnenberg])
Setlist Layla Zoe
01 Glory Glory Hallelujah
02 I Choose You
03 Mothers House
04 Gemini Heart
05 Singing My Blues
06 Pull Yourself Together
07 The Lily
08 Hey Hey, My My [Neil
Young Cover]
09 Star
10 They Lie
11 Why You Afraid
12 Never Met A Man Like
You
13 Father
14 Give It To Me (Band Jam)
15 R And R Guitar Man
16 Hippie Chick
17 Let It Be (Beatles Cover]
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Janis „The Pearl“ Joplin hatte ich nie live erleben dürfen. Jedoch
gibt es über sie bekanntermaßen genügend Videomaterial und so
drängt sich einem dieser Vergleich zwischen beiden unweigerlich
auf. Auch stimmlich versucht sich eine LAYLA ZOE eng an ihrem Vorbild zu orientieren. Was ihr sehr augenscheinlich auch gelingt. Mag sein, dass Layla perfekt in das Bluesgenre einzuordnen
ist. Mein Eindruck (und der eines Erstbesuchers ihrer Konzerte)
war allerdings ein anderer. Diese kleine, zierliche, charismatische,
rothaarige und von Tattoos überfrachtete Frau beherrscht noch
viel mehr als „nur“ den Blues. Gleich zu Beginn (und zum Finale)
beindruckt sie mit perfektem phrasierten Gospelgesang. Um dann
auch gleich mit ihrer 3-Mann-Band loszurocken, als gebe es kein
Morgen mehr. Klar, ist diese Frau ein Hingucker! Das weiß sie zu
genau! Und so lässt sie ihre Stimme so perfekt aus dem inneren
Ich an die Öffentlichkeit pulsieren, um im nächsten Augenblick
optisch die wildesten Körper-Bewegungen -barfuß versteht sichzu zelebrieren und ihre Mähne noch einen Kick wilder um sich
tanzen zu lassen.
Sicherlich kommt diese vordergründige Blues-Zuordnung nicht
von ungefähr. Ist sie doch seit ein paar Jahren mit dem deutschen
Vorzeige-Blueser Henrik Freischlader eng befreundet. Und jener
hat nicht nur ihr neuestes Produkt „The Lily“ (gerade veröffentlicht) produziert und außer den Keyboard-Passagen alle Instrumente eingespielt. Nein, auch an den Vorgänger „Sleep Little
Girl“ (2011) hatte er bereits deutlich Hand angelegt und beide
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Musik
konsequenterweise auch auf seinem eigenen Label veröffentlicht.
In ihrem Heimatland selbst brachte Layla bisher 5 Alben heraus.
Wieder einmal beweist sich an diesem Beispiel, dass die deutsche
Musiklandschaft international momentan als sehr prägend und innovativ gilt. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass auch eine
LAYLA ZOE für ihre Begleitband auf dieser Europa-Tour deutsche
Spitzenmusiker ausgewählt hat (natürlich auch aus finanziellen
Gründen wie schon bei Andrew Collberg kurz umschrieben). Und
wenn Henrik Freischlader gerade mal Zeit hat, dann gibt er selbst
den Guitarhero in ihrer Band. In Erfurt im gut gefüllten (etwa 100
Besucher) Museumskeller (einem Club der Extraklasse) war das
(leider) nicht der Fall. Jedoch braucht sich ein Jan Laacks gerade
deshalb keinesfalls zu verstecken. Ist es doch immer wieder wohltuend, solch talentierte Musiker erleben zu können. Zu dieser Kategorie gehört auch der junge Basser Gregor Sonnenberg. Und ein
Hardy Fischötter hält als gestandener Drummer das „Ensemble“ auf
der Basis seiner Erfahrungen -schließlich spielte er Höchstselbst bei
Henrik Freischlader- außergewöhnlich gut zusammen. Das Layla
Zoe mehr als nur den Blues beherrscht, beweist sie nicht nur damit,
dass sie ihre Version vom Neil Young Klassiker „Hey Hey, My My“
auf ihr neuestes Album befördert hat, sondern auch, dass dieses Cover fester Bestandteil ihrer momentanen Setlist auf dieser Tour ist.
Und wer sich das Symbol von Hunab Ku (die Maya lassen grüßen)
auf den linken Fuß tätowieren lässt, gehört schon deshalb zur spirituellen Extraklasse!
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Musik
Peter Schmidt, Bernd Kleinow, Blues Rudy (v.l.n.r.)
4. Mittweidaer Bluesnacht
Es war die nun mehr vierte Bluesnacht von Mittweida, einem kleinen beschaulichen Städtchen
unweit von Chemnitz/Sachsen und alle, alle kamen in die tolle Bürkelhalle der Fichteschule an
dem schönen Herbstabend des 28. September.
Text und Fotos: Karsten Spehr.
Ok, sicher leicht übertrieben, aber etwas über 300 Besucher, da
träumen wir andernorts trotz großer Bemühungen leider nur davon. Abgesehen von einem sehr vielversprechenden Line Up mit
den „Dreien“ - Peter „Dodge“ Schmidt, Blues Rudy alias Uwe Haase und Bernd Kleinow sowie der Hamburg Blues Band feat. Maggie Bell und Miller Anderson ist der Erfolg dieser Veranstaltung
auch wesentlich dem großen Engagement der beider Macher Ulrich Geier und Michael Fessler sowie deren Helfern zuzuschreiben.
Lange Rede kurzer Sinn, das Ambiente inklusive der hervorragenden Caterings stimmte, die Leute waren zahlreich erschienen nun
konnte die Bluesnacht beginnen. Die drei Musiker,die sich schon
in DDR-Zeiten eines guten Namens rühmen durften, Schmidt/
Kleinow/Blues Rudy legten sich auch sofort mit gewohnter Spielfreude ins Zeug. Spätestens mit ihrem zweiten Stück, der Sonny
Boy Williams(II)-Nummer „Help Me“, hatten sie die Mittweidaer
voll im Griff. Es folgten ein mitreißender Mix aus balladesken
Songs wie „Take Me Back“ oder der Allman Brother Song „Soul
Shine“ im Wechsel mit treibenden Nummern wie „On The Road
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Musik
Hamburg Blues Band: Becker - Lange - Miller. Maggie Bell
Again“, auch ein „Route 66“, „Crawfish“, „Midnight Special“ waren da ebenso zu hören wie der groovende Slowblues
a‘la T Bone Walker „Mean Old Woman“ und immer wieder
mal für Stimmung sorgende Fetzer wie „Rollin‘ & Tumblin“.
Drei Virtuosen auf ihren Instrumenten,bei denen man spürte wie ihnen das Musizieren Spaß macht,wunderbare und
nicht zu übertriebene Soli an den Saiten von Peter und Rudy und einem Bernd Kleinow, der sich die Seele aus dem
Leib blies. Zum Schluß gab es nochmal, sicher nicht zuletzt
Rudy‘s Vorliebe für Canned Heat“ geschuldet, ein schönes
„Drifting“ zu hören, ehe die überzeugenden „Drei“ nach
zwei Zugaben die Bühne für die Jungs aus St. Pauli und ihre
Gäste frei machten. Nach einer kleinen Pause standen der
langjährige Bandleader Gert Lange, Bassist Michael ‚Bexy‘
Becker und Schlagzeuger Hans ‚Hansi‘ Wallbaum auf der
Bühne, diesmal verstärkt durch keinen Geringeren als den
britischen Ex- Gitarristen und Sänger von Keef Hartley,
Mountain, der Jon Lord-Band, Savoy Brown, T Rex, Chikken Shack und, und, und auf der Mittweidaer Bühne und
legten auch gleich richtig mit „Rollin“, „Stony Times“ oder
„Little Man Dancing“ einiges vor. Gitarrenvirtuose Anderson, der zwischendurch auch gleich mal zur Harp griff und
sich dabei beachtlich schlug, zog dann eine großartige Version des Keef Hartley-Klassikers „Just To Cry“ aus dem Hut.
Wer etwas im Stoff stand, dem mußte wohl klar sein, das
Anderson diesen Song schon vor 44 Jahren auf dem „Love
& Peace“ Festival in Woodstock zum besten gab. Für einen
Teil des Publikums schien der eigentlich wie gewohnt immer
etwas rockigere erste Teil der legendären HBB etwas überraschend und gewöhnungsbedürftig zu sein. Spätestens beim
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Maggie Bell, Hansi Wallbaum
Erklingen des Fleetwood Mac-Klassikers „Rattlesnake
Shake“, welcher den Gaststar geprägten zweiten Teil
des Konzertes einläutete wurde es wieder etwas bluesiger und das verbliebene Publikum ging mit und feierte
die, immer noch beachtlich, stimmgewaltige ehemals
„Stone The Crow“- Frontfrau Maggie Bell, die ihren
Part mit „High Tide & High Water“ begann um dann
mit einer fullminanten Version von „Wishing Well“
gleich noch einen drauf zu setzen! Mit dem feinen
Tom Waits-Song „Down In The Hole“ gefolgt von
Stücken wie dem „Penicillin Blues“ ließ die enegiegeladene Maggie trotz knapper sieben Lebensjahrzehnte,
nichts anbrennen. Ihr Auftritt mit den Jungs aus St.
Pauli, die als eine der besten deutschen Blues Rock
Formationen gelten und einem brillianten Miller Anderson, gipfelte in einer feinen Version von „Respect
Yourself“ die sich dann in Form eines abschließenden Medley‘s bis zu „Papa Was A Rolling Stone“ von
Temtation ausweitete. Trotzdem muß man sagen,
etwas mehr Herzblut, wie bei den „Dreien“, täte den
St.Pauli-Jungs trotz aller Professionaltät gut! Alles in
allem ein gelungener Abend, da schien auch die Tatsache, das die Hamburger Blues Rocker keine Zugabe
gaben und auch eine angedachte Session leider nicht
zustande kam, für die Masse des Publikums nicht
übermäßig ins Gewicht zu fallen. Wir dürfen also auf
kommende Mittweidaer Bluesnächte gespannt sein.
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Miller Anderson - Bernd Kleinow
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Musik
Die MDR FIGARO-Nacht mit
Malia im Chemnitzer Opernhaus
Mit mehreren gelungenen Veranstaltung rund um die Themen „Musikimpulse aus dem Osten Deutschlands“ und
„Chemnitz - eine ‚gesichtslose‘ Stadt?“ widmete sich der
Kultursender Mitteldeutschlands live und vor Ort der sächsischen Industriestadt und seiner Kultur. Diese Thementage gipfelten schließlich in der seit Wochen ausverkauften
MDR FIGARO-Nacht am 20. September im ausverkauften
Chemnitzer Opernhaus. Text und Fotos von Karsten Spehr.
In einem beachtlichen und durchaus gelungenen Spagat zwischen
Klassik und Jazz boten die Figaromacher ein abendfüllendes Programm, mit Klassik , Filmmusik, Pop bis Jazz, welches durch das
MDR Sinfonieorchester und der Robert-Schumann-Philharmonie
und der diesjährigen „Echo-Jazz Awards“-Gewinnerin Malia bestritten wurde.
Möglicherweise nicht ganz ungewollt, passte die Veranstaltung
bestens zur der durch geplante Sparmaßnahmen hervorgerufenen
leidlichen Disskussion um die Erhaltung oder Nichterhaltung einer
bravourös agierenden Robert-Schumann-Philharmonie in Chemnitz. Und das Ganze war auch noch via Internet-livestream in der
ganzen Welt mit zuerleben. Durch die erste Hälfte des Abends
führte Moderator Thomas Bille souverän, gekonnt und aktuell
zwischen klassischen Stücken wie Verdi‘s Overtüre zu „Nabucco“
oder Auszügen aus Giacomo Meyerbeers Oper „Vasco da Gama“
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Musik
, unter anderem mit der Arie
„Ines“ gesungen von der hervorragenden Sopranistin Guibee
Yang, bis zu Dvořák, Tschaikowski und Mozart mit prominenten Chemnitzern (Intendant
Cristoph Dittrich,GMD Frank
Beermann oder der Generaldirektorin der Städtischen Kunstsammlungen Ingrid Mössinger)
kleine Gespräche quer durch die
kulturpolitische Landschaft von
Chemnitz. Dann kommt eine
gewagte, aber meiner Meinung
nach sehr geglückte, musikalische Überleitung mit Auszügen aus John Williams „Star
Wars“ und einem wunderbar
gefühlvollen „Summertime“ aus
Gershwin‘s „Porgy and Bess“
-als Variante von Malia mit der
Schumann-Philharmonie bevor,
nach einer angemessenen Pause,
die ursprünglich aus Malawi stammende und heute in London lebende Sängerin des Jahres- Malia, zu ihrem vom MDR Sinfonieorchester unterstützen Konzert anhob. Die zurecht für ihr Tribute an
Nina Simone - „Black Orchid“, gekürte Sängerin und Songwriterin
gab mit einer Ausnahme- nämlich dem temperamentvollen und
gängigen Song „Fever“ ausschließlich eigenen Stücke, insbesondere
von ihrem noch unveröffentlichen Album „Convergence“, zum Besten. Unter anderen erklangen die Songs: „Celestial Echo“, das soulig, funkige „Claire Cadillac“, „Raising Venus“, das etwas rockigere
an Amy Whinehouse erinnernden Stück „ Purple Shoes“ oder die
romantische Ballade „Rainbows“. Malia glänzte wie gewohnt mit
leicht elegisch, jazzigem Gesang, der gelegentlich schon fast einem
Hauch Sprechgesang ähnelt und durch ihr angeraut natürliches
Timbre besonders hervorgehoben wird. Manchmal könnte man
meinen, sie hätte bei Billie Holiday, Amy Whinehouse oder Cassandra Wilson zugleich Gesangsunterricht genommen- großartig!
Leider war die Zeit war im Handumdrehen verstrichen und Malia durfte aufgrund großer Ovationen drei Zugaben geben. Das
waren von ihrem 2007er Album „Young Bones“ „Little Blackbird“,
das sie nur mit minimalster Bandbesetzung darbot. Es folgten
nocheinmal „Fever“ und „Rainbow“ (sicher dem logischerweise
nur begrenzt arrangiertem Repertoire mit dem MDR-Sinfonieorchester geschuldet).
Allerdings kam hier ihre stimmliche Variabilität und ihr Können
nocheinmal richtig deutlich zum Vorschein, indem sie die Stücke
wesentlich sanfter interpretierte als im vorderen Teil des Konzertes
und das Orchester ebenso, deutlich verträumter und minimalistischer – fast nur Streicher und Piano- die Darbietung von Malia
untermalte.
Ein durch und durch gelungenes Experiment des MDR Sinfonieorchesters und ihres Arrangeurs und Dirigenten Manfred Honetschläger mit der phantastischen Malia, die es so formulierte:
„An amazing experience, for me!“
© wasser-prawda
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Platte Des Monats
Anders Osborne - Peace
Nach der qualvollen Reise durch die „Black Eye Galaxy“ ist
Anders Osborne auf der Suche nach mehr als ein bisschen
Frieden. „Peace“ ist nach Osborne „light from the darkness“.
Und dieses Licht sucht er bei Freunden und Familie ebenso wie er es im amerikanischen Alltag oftmals vermisst. Von
Raimund Nitzsche.
D
a ist dieses Feedback am Anfang, quälend lang ruft es einem die Düsternis des Vorgängeralbums in Erinnerung.
Doch dann löst der Titelsong die Qual auf und nimmt
einen mit auf eine Reise von Woodstock hinunter nach New Orleans: Neil Young begegnet einem in der Musik des Songs ebenso
wie akutelle Americana-Musik. Der Frieden ist hier das Ziel einer
persönlichen Reise durch die Schatten der Vergangenheit hin in
eine Gegenwart, die viel mehr Licht bietet, als der Künstler eigentlich erwartet hatte. Und dieser Faden zieht sich durch das ganze
Album - ob nun in dem heftigen Bluesrocker „Five Bullets“ mit
seiner trockenen Schilderung des amerikanischen Waffenfetischismus, dem melancholischen „Let It Go“ oder hemmungslos senti-
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© wasser-prawda
Platte Des Monats
mentalen Nummern wie dem Schlussong „My Son“, einem wundervoll leichten Popsong voller Sonnenschein und Verliebtheit oder
„Sentimental Times“.
Der Blick aus dem Fenster (seines Cadillacs in „Window“) ist
nicht frei von Selbsterkenntnis und -kritik. Doch letztlich ist es
jetzt offen und sperrt ihn nicht mehr in sein eigenes Gefängnis ein.
Anders Osborne ist nach den Kämpfen gegen die eigenenn Dämonen hörbar in eine friedlichere Gegenwart gekommen. Doch das
hindert ihn nicht daran, mit seinen jetzt eher aus der Außenperspektive geschriebenen Liedern weiterhin schmerzhafte Themen
anzusprechen. Nach dem Kampf gegen die eigenen Fehler ist jetzt
Zeit und Raum, den Blick zu weiten.
Wer bei Anders Osborne ein traditionelles Blues- oder Bluesrockalbum erwartet, der ist hier natürlich völlig falsch. Schon immer
standen bei dem aus Schweden stammenden Songwriter mit Wahlheimat New Orleans die Songs und ihre Geschichten im Vordergrund, nicht eine irgendwie geartete stilistische Festlegung. Aus
Rootsrock, Pop, Bluesrock und allen möglichen anderen Zutaten
hat sich Osborne hier bedient für seine Reise zum inneren und äußeren Frieden. Zusammengehalten wird diese musikalische Überraschungstüte vom Sänger und Gitarristen Osborne: Voller Soul,
rauh, heftig zupackend und dann wieder zärtlich und fast scheu
der Sänger. Und die Gitarre verbeugt sich vor Neil Young ebenso
wie vor heftigen Riffmeistern wie Keith Richards oder dessen Erben im Hardrock. „Brush Up Against Me“ könnte man als Hommage an Hendrix zu Zeiten von „Axxis Bold As Love“ hören oder
auch als Erinnerung an Pink Floyd.
„Peace“ ist das Album eines der wichtigsten Songwriter der
amerikanischen Rockszene der Gegenwart, der sich auf dem Höhepunkt seiner Kreativität
befindet. In seiner Vielseitigkeit ist es für die Zukunft
des Blues und der Rootsmusik hilfreicher als die meisten rein traditionell gehaltenen Werke, die sich durch
das sture Festhalten an den
scheinbar ewigen Werten
oftmals selbst einschränken
und so eine Auseinandersetzung mit der Vielfalt der
Gegenwart unmöglich machen. Und außerdem: Dieses Plattencover muss man
einfach lieben! Wer glaubt,
dass der „Effenberg“ von
Herrn Steinmeier einfach
taktlos war, hat nichts verstanden! Nervigen Kritikern
ein herzliches „Fuck Off !“
zu zeigen., war schon immer
Rock&Roll. (Alligator/inakustik)
© wasser-prawda
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Platten
Alela Diane - About Farewell
Alben über das Ende von Beziehungen gibt es Hunderte. Wer immer sein gebrochenes Herz in Lieder zu verpacken weiß oder sich
am Verflossenen rächen möchte, kann zu diesem probaten Mittel
greifen. Songwriterin Alela Diane hat mit „About Farewell“ ein
reduziertes Folkalbum veröffentlicht, bei dem die Lieder oft ganz
auf Stimme, Gitarre und Klavier setzen, um die Trauer über das
Ende in Klänge zu verwandeln.
Die Liste ist lang: „Blood On The Tracks“ (Bob Dylan), „Still
Crazy After All These Years“ (Paul Simon), selbst Springsteens
„Tunnel of Love“ könnte man zu den Alben zählen, bei denen
Künstler ihre Scheidung verarbeiten und die Manager jubeln
über den Plattenumsatz. Die Erfahrung des Scheiterns zeitnah zu
verarbeiten, bringt oftmals eine Direktheit und Verletzlichkeit in
den Künstlern zum Vorschein, die sie dem Hörer von Popmusik
menschlich näher rücken. Was tut man aber, wenn einem das
Schaffen eines Künstlers vorher unbekannt war?
„About Farewell“ ist ein Songzyklus, mit dem Alela Diane die
Scheidung vom vorherigen auch musikalischen Partner Tom Bevitori thematisiert. Ruhig, traurig, fast schicksalsergeben kommen Lieder wie „Nothing I Can Do“ oder „Lost Land“ daher:
Hier ist keine Hoffnung auf Besserung, aber auch kein wütendes
Abrechnen zu hören. Sanft perlen die Gitarren, setzen Streicher
ein paar Akzente. Und draußen ist der Herbst wieder in einer seiner drüb-nass-düsteren Phasen angekommen. Eine ganz schlimme Kombination für einen Romantiker. Denn hier ergänzen sich
Musik und Außenwelt zu einer neuen künstlerischen Einheit, die
einen ganz heftig in eine ebensolch traurige Stimmung versetzen
kann. Und das meint: Auch wenn man Alela Diane noch nicht
gekannt haben sollte, wenn einem die hinter dem Album stehende Trennung völlig egal ist - diese Lieder sind in ihrer Traurigkeit
und Melancholie stellenweise gefährlich großartig gelungen.
Raimund Nitzsche
Ashleigh Flynn - A Million Stars
Gab es starke Frauen damals im Westen, als der noch wirklich
wild war? Mit einer Mixtur aus Bluegrass, Blues, Folk, Country
und Rock geht Songwriterin Ashleigh Flynn dieser Frage nach
und setzt Frauen wie „Prohibition Rose“ aus Portland ebenso ein
Denkmal wie den Cowgirls Cattle Annie und Little Britches.
Ja, so stelle ich mir ein Songwriter-Album vor: Eine Künstlerin
erzählt Geschichten - wahre oder erfundene spielt dabei keine
Rolle. Aber durch die Musik und ihre Persönlichkeit werden sie
wahr und bedeutsam. Die aus Portland stammende Songwriterin
hat sich für das von Chris Funk (The Decemberists) produzierte
Album Lieder gesucht, die jedes für sich stehen könnten, als Zyklus aber eine viel größere Geschichte von Amerika erzählen. Von
den ersten Cowgirls, die sich damals noch als Männer verkleiden
mussten über die Zeit der Prohibition bis in die Gegenwart einer
ermordeten ermordeten Staatsanwältin, mit der Flynn befreundet
war, spannt sich der Zyklus über starke Frauen in Amerika. Die
Musik dazu ist Americana pur, klingt mal mehr nach Bluegrass,
mal nach Country, mal nach Oldtime Jazz oder Blues. Sehr hörenswert!
Nathan Nörgel
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© wasser-prawda
Platten
Bare Bones Boogie Band - Ta ered & Torn
War ihr zweites Album „Blue“ eine prima Rockscheibe mit ausgezeichneter Sängerin, so geht die Bare Bones Boogie Band mit
„Tattered & Torn“ noch ein Stück fort von den Blueswurzeln hin
in Richtung Soul und Rock. Und das führt zu großartiger Musik.
Wenn Bands behaupten: Das ist unser bestes Album bislang,
dann gehört das zur PR-Folklore, der Spruch ist so sicher wie das
Amen in der Kirche. Wenn Musiker was anderes behaupteten,
würden sich die Fans fragen: Brauchen wir das Album wirklich
oder sollten wir das Geld nicht lieber in einen Kinobesuch investieren? Wenn die Bare Bones Boogie Band jetzt also „Tattered &
Torn“ als ihr bestes Album bislang ankündigt, ist normal. Aber
die vier Musiker haben auch recht: Ohne das Konzept einer ganz
auf eine fantastische Sängerin eingestellte Rock- und Bluesband
zu verraten, sind die Musiker hier wesentlich reifer und die Songs
runder und zwingender als auf dem schon sehr guten Vorgänger:
Der Opener „Love Like Leather“, der mit sanfter Akustikgitarre
beginnt und sich langsam in eine Rocknummer reinsteigert. Oder
„Black Coffee“, die lange schon fällige Hymne auf das Getränk,
ohne dass der Tag nicht wirklich beginnen kann - verführerisch,
rauh und unwahrscheinlich sexy. Oberflächlich gehört gibt es auf
„Tattered & Torn“ vielleicht nicht den automatischen Radiohit.
Dafür sind die Songs aber schon wegen dieser unwahrscheinlichen Stimme von Helen Turner von einer gewaltigen Langzeitwirkung. Und was ich schon in meiner Besprechung zum Vorgängeralbum gesagt habe, gilt auch hier: Gitarrist Ian Black, Trev
Turner (bg) und Schlagzeuger Andy Jones liefern der Sängerin
genau die richtige Begleitung. Da werden die Solos sparsam eingesetzt, kommen dafür aber im exakt richtigen Moment. Und
jede Änderung der Dynamik machen die drei Herren mit, so dass
nichts von den Songs und ihrer Sängerin ablenkt. Und das ist für
mich der Inbegriff einer großartigen Band.
„Tattered & Torn“ ist ein Album, das der Band auch international
zum Durchbruch verhelfen könnte. Voller Soul, Gefühl - aber
mit Ecken und Kanten wird hier zeitgemäßer Bluesrock serviert.
Prima!
Nathan Nörgel
Beige Fish - Down Home Shuffle
Der Müncher Songwriter, Gitarrist und Produzent John H.
Schiessler war mir erstmals durch seine Mitwirkung an „Seven
Deadly Sins“ von Nina van Horn aufgefallen. Jetzt hat er mit
„Down Home Shufflle“ das dritte Album seines Bluesprojektes
Beige Fish veröffentlicht.
John H. Schiessler weiß, wie man atmosphärisch dichte Bluessongs schreibt und produziert. Schon vom Opener „Alyssa May“
ab ist da diese Ahnung vom sumpfigen Mississippi-Delta in der
Luft. Und wenn Schiesslers Gitarren sich in einigen Songs mit der
großartigen Slide-Gitarre von Masahiro Todani (Nina van Horn
Band) vereinen, dann bleiben kaum noch Wünsche offen. Besonders die Country-Nummer „Both Sides“ und „Love Is Strange“
sind wundervolle Nummern.
Zu Schiesslers eigenen Songs kommen auf dem Album noch ein
paar Coverversionen. Ob man wirklich „Rollin And Tumblin“
und „Come On In My Kitchen“ nochmals interpretieren muss,
wage ich zu bezweifeln. Aber Stephen Stills „Down The Road“
und „Trouble“ von Lowell George machen gehörigen Spaß.
© wasser-prawda
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Platten
Hauptproblem von „Down Home Shuffle“ ist für mich das Fehlen einer „echten“ Band: Grooves aus dem Computer passen für
mich schlecht zu den eigentlich ganz traditionellen Songs zwischen Deltablues, Country und Bluesrock. Hier fehlt einfach der
Drive, den eine Rhythmusgruppe live im Studio liefern kann.
Es wird Zeit, dass aus Beige Fish eine richtige Band wird. Dann
kommen die sehr guten Songs meiner Meinung nach noch viel
besser zur Geltung. Ansonsten: Unbedingt reinhören!
Nathan Nörgel
Big Joe Shelton - I‘d Never Let Her Down
Ist das Retro? Ist das traditionell? Was Big Joe Shelton aus dem
Nordosten Mississippiss auf seinem dritten Album „I‘d Never Let
Her Down“ spielt, hätte man so oder ähnlich auch schon in den
50er Jahren auf Platte pressen können: Ganz der Tradition des
Nachkriegsblues aus Chicago und Mississippi swingt seine Band
und meistens und er singt und spielt die Harp, dass es eine helle
Freude ist. Erst im Nachhinein merkt man: Hier ist ein Songwriter und Musiker, der seine eigenen Geschichten erzählt hat und
nicht die ollen Kamellen ständig wiederholt.
Spätestens beim vierten Titel müsste selbst den größten Ignoranten klar sein, dass hier nicht der tausendste Retroblueser am Werke
ist: „Stop The Hating“ kommt daher als Reggae-Blues und bricht
damit aus dem engen Korsett der Erben von Howlin Wolf, Big Joe
Williams oder Bukka White aus. Der Song ist natürlich plakativ
und predigend. Aber gerade darum ist er heutzutage was Besonderes. Wenn dann zum klassischen Bluessound in der Nachfolge
von T-Bone Walker und BB King in „Laugh Out Loud“ eine Liebesgeschichte in der Online-Welt erzählt wird, kann man sich das
heimliche Grinsen nicht verkneifen. Und dann kommt in „Little
Willie“ noch ein Boogie mit einer ganz feinen Slide-Gitarre, „Catfish Ed“ ist ein nostalgischer Trip in die Coutnry-Musik. Und so
geht es weiter bis zum Ende dieses Albums: Das sind großartige
Geschichten, die Shelton zu erzählen hat. Seine Band ist wundervoll aufgelegt. „I‘d Never Let Her Down“ dürfte Traditionalisten
ebenso erfreuen wie Menschen, die im Blues gerne die Geschichten der 21. Jahrhunderts und nicht nur die verblassten Erinnerungen an die Zeit zu Beginn des 20. hören wollen.
Raimund Nitzsche
Brothers In Blues - Tailshaker
Als Peer Gynt hat Gitarrist Peer Teraldsen schon eine längere Karriere hinter sich. Schon lange hatte der Norweger ein akustisches
Album machen wollen. Dafür holte er sich seinen Bruder Geir
an der Bluesharp. Geboren waren die Brothers In Blues, die mit
„Tailshaker“ jetzt ihr Debüt veröffentlichten.
Schon bitter: Da steht man am legendären Kreuzweg, um seine
Seele dem Teufel anzubieten. Doch der scheint kein Interesse zu
haben und lässt sich nicht blicken. Wenn „Tailshaker“ mit Waiting for the Devil“ loslegt, dann hat man als langjähriger Blueshörer seinen gehörigen Spaß: Selten, dass Songschreiber so selbstironisch mit den altbekannten Traditionen und Klischees umgehen wie die beiden norwegischen Brüder es hier machen.
Musikalisch ist „Tailshaker“ eine wilde Mixtur aus traditionellen
Bluesklängen mit zeitweise mittelalterlich anmutender Folkmusik. Zu Gitarre und Harp kommen dann auch Maultrommel und
andere Instrumente. Heraus kommen dann Songs wie „White
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© wasser-prawda
Platten
Angel“, die auch gut auf das nächste Mittelalterfestival passen
könnten.
Allerdings (und hier helfen auch Gäste wie Gitarrist Mick Moody
von Whitesnake nicht) fehlen mir auf dem Album noch ein paar
mehr zwingende Songs. Das erscheint mir alles viel zu gewollt
und schematisch. Klar, wahrscheinlich kann man mit Mitgröhlchorussen live die Massen begeistern. Aber „Waiting for the Devil“ reicht mir alleine nicht aus, um die Scheibe für längere Zeit
in meinem Player zu lassen. Akustischen Bluesrock kann man
zur Zeit wesentlich besseren bei Bands wie Babajack oder The
Damned and Dirty hören.
Nathan Nörgel
Bryan Lee - Play one for me
Nun ist er 70 Jahre alt und steht weiter auf der Bühne. Wer das
Glück hatte, ihn die letzten Jahre bei seinen Auftritten in der
Bluesgarage Isernhagen zu sehen und zu treffen, weiß, daß hier
einer der ganz großen weißen Bluesmusiker auf der Bühne stand.
Bei uns leider nur wenigen bekannt, ist Bryan Lee ein Mann, bei
dem die großen Namen vorbeischauen – um zu lernen. Eric Clapton sagte über ihn „one of the best bluesmen I have ever heard“.
Der Gitarrist und Sänger ist seit seinem achten Lebensjahr blind
und lebt seit 1982 in New Orleans. Als Hausmusiker des Old Absinthe House in der Bourbon Street im French Quarter hat er sich
als der „Braille Blues Daddy“ kontinuierlich seine Fangemeinde
aufgebaut und nebenbei Musiker wie Kenny Wayne Shepherd
entdeckt und gefördert.
Mit „Play One for Me“ legt er hier ein Album vor, das an Reife wohl kaum zu überbieten ist. Das Gitarrenspiel ist perfekt, er
singt besser denn je – bluesig, soulig, eher sanft als laut.
Die zehn Titel sind eine wohlabgewogene Mischung aus je fünf
Original- und Coversongs: Bobby Womacks „When Love Begins“, Howlin’ Wolfs „Evil is Going On“ (Gastmusiker Kim Wilson ), Freddie King’s „It’s Too Bad“, Dennis Geyer’s „Straight to
Your Heart“ und eine großartige Interpretation des George Jackson Klassikers „Aretha (Sing One for Me)“.
Von seinen eigenen Stücken gefällt mir „Sixty-eight years young“
besonders gut. Der Mann hat Spaß an dem was er tut und er wird
weitermachen, ganz bestimmt.
Wer weitere herausragende Bryan Lee CDs sucht, der besorge sich
eine Live CD, die mich sehr beeindruckt hat: die 2011 erschienene „Live from Sao Paulo“. Hier erleben wir Bryan Lee von seiner
großartigen Live Seite – obwohl ein Bootleg ist es eine ganz große
CD. (Severn Records Severn CD 0059)
Bernd Kreikmann
Charlie C - Trouble
Mit „Trouble“ legt die in Kalifornien lebende Sängerin/Songwriterin Charlie C ihr Debütalbum vor. Zu entdecken gibt es eine
bemerkenswerte Stimme, und zwölf Songs zwischen Soul und
Blues.
Kennst Du eigentlich ... ? Hast Du das Album ... schon gehört?
Oft sind es diese Tipps von Freunden und Bekannten im Internet, die einen überraschen. Charlie C ist so eine dieser Musikerinnen, die jenseits ihrer lokalen Kreise noch so gut wie unbekannt
sind aber beispielsweise von den vielen DJs mit ihren Bluessendungen überall im Internet vorgestellt werden. Und das völlig zu
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Platten
Recht: Hier ist mal wieder eine dieser Blues-Ladies, die zwischen
Dinah Washington, Big Mama Thornton oder Janis Joplin ihre
eigene Stimme suchen. Und die Lieder auf ihrem Debüt spielen
ganz selbstverständlich auch mit den Vorbildern, wie sie Bessie
Smith und ihre Kolleginnen in den 20er Jahren geschrieben haben: Das sind Lieder einer selbstbewussten Frau, die sich nicht
scheut, Krallen und Zähne zu zeigen, die aber gleichzeitig immer
voller Gefühl steckt: Ein Debüt, dass man guten Gewissens weiterempfehlen kann.
Nathan Nörgel
Cologne Blues Club - Hanging By A Thread
Mit „Our Streets“ hatte der 2009 gegründete Club ein wirklich
vielversprechendes und von Hörern und Kritikern gleichsam gelobtes Debüt vorgelegt. „Hanging By A Thread“ ist dazu eine
gelungene Fortsetzung: Zeitgemäßer Blues mit einem Schuss Soul
und Motown, Anklängen an die 50er Jahre und treibender Boogie.
Wenn Kritiker am Jahresanfang gefragt werden, auf welche Alben sie sich besonders freuen oder welche Künstler man als Hörer
unbedingt im Blick behalten sollte, dann kann man daraus viel
über den persönlichen Musikgeschmack des Journalisten erfahren. Oder auch darüber, welche Hypes und Marketingmechanismen bei ihm am Besten verfangen. Hätte man mich gefragt, hätte
ich in Bezug auf die deutsche Bluesszene zwei Bands genannt,
deren Entwicklung ich besonders gespannt verfolge. Komisch,
dass beide kurz nacheinander mit neuen Alben auf den Markt
kommen. Dynamite Daze mit ihrem heftigen „Tango With The
Devil“ ist das zweite. Noch mehr allerdings war ich gespannt,
wie der Cologne Blues Club seine Suche nach swingenden Blues
voller Soul fortsetzen würde. Und schon der Opener/Titelsong
machte klar: Das ist ein treibender Song von einer Band, die zwar
knietief in der Bluesgeschichte steht, aber niemals wirklich nach
einer Retro-Band klingt. Zwischen rollendem Boogie („Ride This
Train“) mit stoischem Groove irgendwo zwischen John Lee Hooker und Bo Diddley, dem rockenden „Little Baby“ (eine sehr eigene Interpretation von Dixons „My Babe“) oder dem Soulblues
von „Something To Talk About“ werden alle möglichen Bereiche
des Blues erforscht. Musikalisch sind Sänger/Harpspieler Géza
Tényi, die Gitarristen Thilo Hornschild und Micka Kunze und
die Rhythmusgruppe von Schlagzeuger Frank Bruns und Michael Gebhart am Bass eine eingespielte Truppe, der man die
Liebe zum Livespiel anhört. Und als Songwriter sind die Bandmitglieder auch eine echte Entdeckung: Hier werden nur selten
die ollen Klischees hervorgeholt sondern ziemlich zeitlose Bluegeschichten erzählt, die prima zu dem zugleich traditionellen wie
frischen Sound passt: „Hanging By A Thread“ ist nicht nur was
den Blues in Deutschland oder Europa angeht eines der bemerkenswerten Bluesalben. Reinhören ist Pflicht! (pepper cake/ZYX)
Raimund Nitzsche
Daddy Long Legs - The Devil‘s In The Details
Rauh, deftig und rockend: Daddy Long Legs aus Ontario (Kanada) spielen einen rotzigen Garagenblues, mit dem man jeden
Bikerschuppen aufmischen könnte.
Ok, das ist jetzt wirklich nichts für Feingeister sondern für Leute,
denen der Sinn nach einer ausgelassenen Party steht. In Kanada
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© wasser-prawda
Platten
gehören Daddy Long Legs schon seit einigen Jahren vor allem
wegen ihrer Live-Shows zu den angesagtesten Bluesrockern. Und
wenn man sich das offenbar live im Studio runtergerockte Album
„The Devil‘s In The Details“ anhört, kann man das ziemlich gut
verstehen: Das ist eine Bluesmusik, die an die weißen Rockschuppen der 60s erinnert, nicht an die off ziellen Erbepfleger in der
Nachfolge von Alexis Korner sondern an die bösen Buben, die die
Pretty Things besser fanden. Oder auch paar Jahre später die Ramones oder in den 50er Jahren die ersten weißen Garagenbands.
Hier tobt der Rockabilly, die Harp kreischt mit unablässiger Energie, die Gitarren hauen in die Magengrube. Mike Elliott spielt sie
und er singt mit der Energie eines gerade der Pubertät entwachsenen Teenagers. Die Harp spielt Chris Junior Malleck und erinnert
dabei an Leute wie John Popper. Schlagzeuger Jeff Wagner und
Steve Toms (b) treiben die Songs mit unbändiger Energie voran.
Der Teufel mag im Detail stecken - auf diesem Album allerdings
wird auf die Details nicht so wirklich viel Wert gelegt. Hier wird
ganz im Sinne der rockenden Vorväter eine Bluesrockparty gefeiert. Und erst hinterher mag man mit einem Kater und gehörigen
Kopfschmerzen aufwachen. Bis dahin hat man aber bei Daddy
Long Legs eine tierisch gute Zeit gehabt.
Nathan Nörgel
Dave Riley & Bob Corritore - Hush your Fuss!
Die Roots- und Chicago Blues Szene bekommt ein neues Zentrum. Rund um den Rhythm Room in Phoenix Az und seinen
umtriebigen Eigner Bob Corritore sammelt sich alles, was Rang
und Namen hat. Einige der daraus entsprungenen Alben haben
wir schon früher in der Wasser-Prawda rezensiert. Jetzt liegt ganz
frisch „Hush Your Fuss!“ von Dave Riley und Bob Corritore auf
dem Plattenteller.
Der Sänger und Gitarrist Dave Riley und der Harper Bob Corritore arbeiten bereits seit vielen Jahren eng zusammen und haben
schon mehrere Alben herausgebracht – aber, und das voweg, noch
keines, daß so roh, ungeschliffen und packend ist wie das neue.
Zunächst war mir nicht klar, was unter „Hush Your Fuss“ zu verstehen ist. Mit Hilfe meines Freundes Brian DaSilva aus Phoenix
glaube ich es jetzt verstanden zu haben. Es heißt ganz einfach:
Hör auf zu meckern! Da lohnt es sich doch, das gleichnamige
erste Stück der CD besonders aufmerksam anzuhören.
Fast alle Stücke der CD wurden von Dave Riley oder Dave Riley und Bob Corritore geschrieben. Dave Riley hat mir einmal
gemailt, dass er 25 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht
habe. Bob Corritore ist von Chicago nach Phoenix gekommen,
hat über die Jahre einen tollen Club aufgebaut und sich weltweit
einen exzellenten Namen als Bluesharper geschaffen – das ist allererste Liga! Das sind aber auch Jahre eines bestimmt nicht einfachen Lebens, die genügend hergeben, um spannende und lebensnahe Songs zu schreiben.
Da geht es ums Fluchen („No Cussin“), den armen Jungen vom
Mississippi („Mississippi Po Boy“) und das mal wieder getürmte
Baby fehlt auch nicht („Baby please come home“). Das Album
endet mit dem „Laughing Blues“, Dave Riley lacht sich kaputt –
worüber wohl?
Rileys perfekt erdiges Gitarrenspiel, seine lebenserfahrene knarzige Stimme in der Begleitung von Corritores einfühlsamer und
teils zurückhaltender Arbeit an der Harp schaffen eine großartig
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Platten
dichte Athmosphäre. So etwa muß der Blues ursprünglich geklungen haben.
Stimmige Unterstützung kommt von Brian Fahey (Rhythm
Room All Stars) an den Drums, Dave „Yahny“ Riley Jr. am Bass
und Gloria Bailey (Phoenix Az, Organ, Track 5).
Bob Corritore und Dave Riley sind meines Wissens bislang nicht
in Deutschland aufgetreten, in Frankreich und den Niederlanden
haben sie begeisterte Fans – hoffentlich schauen sie auch bei uns
bald vorbei. (Vizztone SWMAF 11)
Bernd Kreikmann
Dynamite Daze - Tango With The Devil
Geschichten von Drogen, von Werwölfen, von Jesus und dem
Teufel: Was Dynamite Daze auf ihrem neuen Album „Tango
With The Devil“ den Anhängern servieren ist textlich und musikalisch in der deutschen Bluesrockszene einzigartig.
Die Reise beginnt auf Jamaica. Eigentlich nicht der typische Ort
für Bluesrock. Aber wer hat denn behauptet, Dynamite Daze
seien typische Bluesrocker? Kingston also: Doch wer auf Tourismuswerbung wartet, wartet vergebens. Die Welt, die das schottisch-deutsch-italienische Quartett in seinen Liedern schildert,
ist immer irgendwo in den düsteren Ecken zu finden: Zuhälter,
alte Nutten, schlechte Drogen und tote Katzen. Das ist auf dem
Bild von Downtown Kingston zu finden. Und die Musik erinnert
nicht nur ein wenig an eine Kreuzung aus Tom Waits und Captain Beefheart. Und in diesem Stil geht es weiter durch die Lande:
Auf der Flucht nach Mexico vor dem FBI, Loblieder auf Mescalita. Aber dann eben auch Lieder wie „Jesus Redemptor“, „A Satisfiend Mind“ (der Klassiker von Joe „Red“ Hayes und Jack Rhodes
erhält hier eine neue Musik von Bassist Tognoni) oder „Rain“, die
in die Düsternis eine spirituelle Ebene bringen. Mit „Red In Heaven“ setzen sie Louisiana Red ein musikalisches Denkmal, mit
dem sie viele Jahre als Musiker unterwegs waren.
Was die Songs von Dynamite Daze musikalisch so besonders
macht, hatte man schon auf den Vorgängeralben erleben können:
Der Blues und Bluesrock wird hier munter gekreuzt mit Tango,
mit Psychedelic Rock und Cabaret. Und dann kommt natürlich
die instrumentale Meisterschaft der vier Herren hinzu: Didi Dynamite ist nicht nur ein herausragender Sänger, er bläst auch eine
Harp, die sich gehörig ins Ohr bohren kann (etwa in „Rain“!),
Martin Czemmel kann ganz klassische Blues-Sounds aus seiner
Gitarre herausholen (man höre sich etwa die Slide auf „Red In
Heaven“ an). Doch im nächsten Moment bricht er die Konventionen und schweift in Jazzgefilde ab. Und die Rhythmusgruppe mit
Schlagzeuger Colin Jamieson (dr) und Andrea „Luigi“ Tognoli
(bg) folgt dem ganzen und hält die Musik zusammen, die von
manchen als Krautblues, von anderen als Psychedelic Blues von
mir einfach als geile Blues- und Rockmusik bezeichnet wird.
„Tango With The Devil“ ist ein großartiges Album einer Band,
die sich glücklicherweise weiterhin erfolgreich weigert, den ausgelatschten Pfaden des Bluesrock zu folgen und die stattdessen ihre
ganz eigenen musikalischen Geschichten erzählen. Erhältlich ist
„Tango With The Devil“ als CD im übrigen nur direkt bei der
Band oder dem Label Stormy Monday Records. Auf den sonstigen Plattformen kann man das Album nur als Download kaufen.
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© wasser-prawda
Platten
Zumindest das sollte allerdings für Freunde eigenständiger Rockmusik Pflicht sein. (Stormy Monday Records)
Raimund Nitzsche
Egidio Juke Ingala & The Jacknives - Tired of Beggin‘
Wie wäre es mit einem Album zum Tanzen, Spaß haben, mit dem
Fuß wackeln und gute Laune bekommen? Yup, auch das kann der
Blues bieten.
Egidio Juke Ingala und seine Jacknives bieten mit „Tired of Beggin“ genau das. Jumpblues der 50er ist angesagt. Egidio ist ein
toller Harper, seine Mitstreiter Top Musiker.
West Coast? Weit gefehlt – in Egidios Heimatstadt werden Autos
gebaut, internationale Mode entsteht und das Leben kann sehr
mondän sein. Das Quartett kommt aus Mailand.
Stilistisch orientiert sich Egidio Juke Ingala an Little Walter, inhaltlich hat er wahrscheinlich lange Nächte in den Archiven des
Blues verbracht, um die vorliegenden Stücke zu finden und aufzubereiten.
Egidio ist kein Newcomer, seine ersten Plattenaufnahmen gehen
auf die 90er Jahre zurück und es läßt sich auch nicht überhören,
daß er in der Zwischenzeit seinen großen Kollegen gut zugehört
hat. Einiges an seinem Harpspiel erinnert mich an den großen
R.J. Mischo, hinter dem sich Edigio nicht zu verstecken braucht.
Unter den vierzehn Stücken befinden sich auch vier Eigenkompositionen – Edigio Ingala braucht sich auch hier nicht zu verstecken.
„Tired of Beggin“ ist ein toller Wurf und zeigt mir, daß Italien mit
Edigio Juke Ingala auf meiner Weltkarte des Blues in der ersten
Liga angekommen ist. Bislang standen für mich Mama’s Pit und
Mike Sponza dort einsam an der Spitze.
Bernd Kreikmann
Eric Bibb - Jericho Road
Zwischen Bluespredigt und Gesellschaftskritik: Eric Bibbs neuens Album „Jericho Road“ verbindet Blues- und Folkklänge mit
Weltmusik und liefert aktuelle Kommentare zum Zeitgeschehen.
Schon der Albumtitel ist ein Hinweis: Hier geht es nicht um den
Nahostkonflikt, sondern um die Frage, Sind wir bereit, Menschen
zu helfen, die am Rande liegen und nicht alleine weiterkommen?
Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zieht sich im Hintergrund durch das ganze Album. Ob Bibb offen fordert: „Have A
Heart“ oder verlangt, dass die Mütter viel eher an den Entscheidungen in der Welt beteiligt werden müssten, ob er sich mit Gott
berät oder feststellt, dass man eben doch nicht alles auf ein Mal
verändern kann sondern sich Tag für Tag neu anstrengen muss.
Musikalisch ist „Jericho Road“ für mich das seit langem faszinierendste Album Bibbs: Hier vereinen sich in den Liedern der traditionelle Akustikblues mit Gospel-Power, mit Soul, ja auch mit
afrikanischen Rhythmen. Wenn nötig, werden die Songs mit Bläsern, Chören und ähnlichen Zutaten angereichert. Und es kommt
ein Album heraus, das für mich in eine Reihe gehört mit dem aktuellen Werk von Big Daddy Wilson: Akustischer Blues&Soul für
Genießer. Musik für den Abend mit Rotwein am Kamin, nicht
für die Kneipenrunde mit Freunden und Bier.
Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
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Platten
George Benson - Inspira on: A Tribute To Nat King
Cole
Mit acht Jahren gewann George Benson einen Talentwettbewerb.
Als Preis gewann er eine Studioproduktion. Damals nahm er
„Mona Lisa“ von Nat King Cole auf. Auch heute noch sieht der
Gitarrist in dem Sänger und Pianisten eines seiner wichtigsten
Vorbilder. Und so ist „Inspiration“, das Benson mit dem Henri
Mancini Orchestra und Kollegen wie Wynton Marsalis eingespielt hat, keine wirkliche Überraschung.
„Mit Jazz ist kein Geld“ - das Zitat aus Helge Schneiders „Jazzclub“ stimmt nicht immer. George Benson hat mit seinem Spagat
zwischen Jazz und Pop bewiesen, dass man auch als Jazzmusiker
ordentlich Geld verdienen kann. Natürlich haben sich die ernsten
Kritiker schon bald über seinen Ausverkauf mokiert und ihm vor
allem das Singen von radiotauglichen Schnulzen übelgenommen.
Das Schicksal hatte er mit Nat King Cole gemeinsam, der im
Laufe der Jahre immer weiter in Richtung Schlager gegangen ist.
Heute sind aber auch Nummern wie „Mona Lisa“ oder „Ballerina“ längst als Klassiker anerkannt.
„Inspiration“ ist als Album eine zwiespältige Hommage geworden. Da gibt es großartigen Swing etwa bei „Just One Of Those
Things“ oder „Walkin My Baby Back Home“. Auch „Route 66“
kommt hier prima und ruft Erinnerungen an Bensons Zusammenarbeit mit dem Basie Orchestra in Erinnerung. Und dann
sind da Streicherteppiche, die Lieder wie „When I Fall In Love“
(ein Duett mit Idina Menzel) bis über die Schmerzgrenze hinaus zukleistern. Selbst Wynton Marsalis kann eine Nummer wie
„Unforgettable“ nicht vor dem Absturz in den Kitsch bewahren.
Und auch Till Brönner hat bei „Smile“ nur die Aufgabe, ein wenig Blech in die Sauce zu geben. Diesen Stücken fehlt die Leichtigkeit, die Coles ursprüngliche Interpretationen meist haben, es
fehlt ihnen die Coolness, die Schlager etwa mit Frank Sinatra
oder Dean Martin auszeichneten. Versöhnlich trotz des Streicherteppichs dann der Schluss mit Bensons neuer Interpretation
von Mona Lisa. Denn hier setzt er mit akustischer Gitarre den
notwendigen Kontrapunkt.
Raimund Nitzsche
Green Like July - Build A Fire
Auch wenn Green Like July auch ihr aktuelles Album wieder in
den USA eingespielt haben, ist „Build A Fire“ doch weniger ein
Americana-Album als eine Übung in Popmusik irgendwo zwischen den Beach Boys und den High Llamas.
Ich gestehe: An manchen Tagen brauche ich einfach einfache
Popsongs voller Leichtigkeit und Sonnenschein, Lieder die mich
aber gleichzeitig nicht durch Banalität und synthetische Gefühlssülze beleidigen.. Gerade wenn draußen der Herbst immer kälter
und nebliger wird, bleib ich bei der Suche nach der passenden
Musik immer häufiger bei den Beach Boys hängen. Dass gerade
„Build A Fire“ von der italienischen Band Green Like July in diese
Kategorie fallen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Denn
ihren Vorgänger „Four Legged Fortune“ hatte ich irgendwo in der
Nähe der Jayhawks in der Americana-Kiste einsortiert.
Doch Lieder wie „Once In A Blue Moon“, „Heavy Rain“ oder
„Agatha of Sicily“ sind völlig ohne Cowboy-Romantik. Sie rufen
statt dessen den grad vergangenen Sommer in Erinnerung. Klar:
kalifornisches Klischee mit schönen Mädchen, blauem Himmel
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© wasser-prawda
Platten
am weißen Strand. Und dazu die große Liebe, die hoffentlich
noch bis zum Ende der Ferien dauern mag. Ist das kitschig? Vielleicht manchmal. Aber es ist kein Kitsch. Das sind fast perfekte
Popsongs, die auch musikalisch immer wieder überraschend sind.
„Build A Fire“ ist das passende Popalbum für jede Art von Mistwetter.
Nathan Nörgel
Guy Davis - Juba Dance
Guy Davis gehört mit Keb‘ Mo‘ und Eric Bibb zur Spitze der
akustischen Bluesszene der Gegenwart. Bei den Aufnahmen zu
seinem neuen Album „Juba Dance“ arbeitete er unter anderem
mit Fabrizzio Poggi (mharm) und den Blind Boys of Alabama
zusammen.
Platten von Guy Davis haben immer etwas von einer äußerst unterhaltsamen Unterrichtsstunde an sich: Der Sänger und Gitarrist
bringt Klassiker des Blues neu zum Klingen und stellt sie neben
neue Songs, die im gleichen traditionellen Stil verwurzelt sind. So
interpetiert er auf „Juba Dance“ Stücke von Blind Lemon Jefferson, Rev. Robert Wilkins und Blind Willie McTell. Was anderswo leicht zur unsinspirierten Covernummer geraten würde, wird
bei ihm zu einer äußerst lebendigen und tanzbaren Musik: Hier
ist der Blues genau dort, wo er ursprünglich entstanden ist angekommen. Manchmal ist das feinster Mississippi-Blues, manchmal
fühlt man sich wie gleich beim Opener „Lost Again“ an die Jugbands von Memphis erinnert. Und auch die Freunde des ragtimlastigen Piedmont-Blues kommen hier auf ihre Kosten. Aber niemals glaubt man, einer billigen Kopie zu lauschen. Denn Davis
und seine Mitstreiter sind zwar Traditionalisten oder Konservative im besten Sinne des Wortes. Doch niemals vergessen sie, dass
ein Blues nur dann „echt“ ist, wenn man ihn selbst musikalisch
durchlebt und sich zu Eigen macht. Manch Kritiker fühlt sich
von der absolut überzeugenden Zusammenarbeit von Davis mit
dem italienischen Harpspieler Fabrizio Poggi gar an eine Neuauflage von Terry & McGhee erinnert.
Höhepunkte sind neben dem schon erwähnten „Lost Again“ der
Titelsong „Dance Juba Dance“, eine hypnotisch dahinstürmende
Nummer mit Banjo und Percussion, wo Motive aus „John Henry“
zum Stammestanz mutieren und der auf die Straßen von New Orleans passende Trauermarsch „Some Cold Rainy Day“, den Davis
im Duett mit Lea Gilmore singt. Und natürlich die wundervolle
Version von „See That My Grave Is Kept Clean“ von Blind Lemon Jefferson, was dank der Blind Boys of Alabama endlich mal
wieder die spirituelle Tiefe erhält, die so vielen Rockversionen des
Songs einfach fehlt. Eine unterhaltsame Unterrichtsstunde - und
ein bemerkenswertes akustisches Bluesalbum des Jahres 2013!
Raimund Nitzsche
Howard Glazer - Stepchild of the Blues
Zwischen Muddy Waters und Bo Diddley, Johnny Winter und
BB King: Der aus Detroit stammende Bluesgitarrist Howard Glazer ist extrem vielseitig in seinen Spielweisen. Und so ist sein akutelles Album auch garantiert nicht langweilig.
Der Track knallt schon mal gut rein: „Shakin“ ist einer jener
Songs, die einen mit dem von Diddley patentierten Groove sofort packen und in gute Tanzlaune versetzen. Dabei ist diese auch
an „Willie and the Hand Jive“ erinnernde Nummer nun wirklich
© wasser-prawda
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Platten
nicht die Neuerfindung des Blues. Aber eben verdammt catchy.
Als nächstes kommt dann gleich noch ein Ohrwurm, allerdings
ein ganz anderer: Glazer schnappt sich für „Gas Pump Blues“ die
Resonator und slidet einen Countryblues vom Feinsten, bei dem
Harmoncia Shah die Glanzpunkte setzt. Drittes Highlight auf
der Scheibe ist der zweite Song, bei dem der Harpspieler dabei
ist und allein durch seine Präsenz ein echtes Bluesfeeling Glazers
forciert: „Hurtful Feelings“.
Ansonsten ist „Stepchild of the Blues“ nicht spektakulär aber immer grundsolide und für Bluesrockfans (mit der Betonung auf
dem Blues) eine gute Ergänzung der Sammlung.
Raimund Nitzsche
JC Brooks & The Uptown Sound - Howl
Mit ihrem Debüt „Beat of Our Own Drum“ bekam die SoulRock-Band schon mal das Attribut von Soul-Punks verliehen.
Auch auf ihrem neuen Album „Howl“ triff t die Energie des Punk
wieder Soul, aber diesmal ausgeweitet auf den Sound der 80er
Jahre.
Das war klar: Irgendwann sind die Referenzen der 50er bis 70er
Jahre aufgebraucht. Und eigentlich ist man ja doch in den 80ern
aufgewachsen. Und die gelten heute ja eh schon als Oldies. Ok,
für JC Brooks & The Uptown Sound dürften Musiker wie der
Prince der 80er Jahre oder Paul Young schon immer „Oldies“ gewesen sein. Und somit sind sie bei „Howl“ reguläres Material für
ihren „Post Punk Soul“. Herausgekommen ist ihr bislang stimmigstes Album.
Das geht schon los mit dem Titelsong, der inhaltlich das Thema
des ganzen Albums, die Abhängigkeit von der Liebe, dem ewigen
Streben nach einem immer wieder sich entziehenden Glück umreisst. Und musikalisch wird neben den erwähnten 80er Jahren
natürlich auch weiter zurück geschaut. „River“ etwa ist eine Ballade, die so auch hätte von Otis Redding stammen können. Und
wer bei „Before You Die“ nicht an Chic denken muss, braucht
Nachhilfestunden. Doch insgesamt ist „Howl“ eben viel mehr als
die Summe der Zitate und Referenzen sondern eines der stimmigsten Soulalben des Jahres 2013.
Raimund Nitzsche
Jon Wayne and The Pain - Surrender
Reggae-Rock mit Ska und Akustik-Blues: Diese Mixtur kannte
man von der in Minneapolis ansässigen Band Jon Wayne and The
Pain. Auf ihrem neuen Album „Surrender“ wird der Bandsound
noch häufiger durch elektronische Dubmusik erweitert: Die richtige Partymusik für Herbst und Winter.
Mit entspanner Kiffer-Musik für Surfer von Leuten wie Jack
Johnson kann man mich jagen. Das sorgt für promptes Einschlafen sämtlicher Extremitäten. Und am Ska-Punk hab ich mich
schon lange überhört. Irgendwo zwischen diesen Extremen spielt
sich die Musik von Jon Wayne and The Pain für mich ab: Hier ist
energiegeladener Reggae-Rock zu hören, hier ist Ska noch wirklich in Jamaica verwurzelt und dröhnen die Dubs mit einer Überzeugungskraft, die Spaß macht. Nannte das Trio seinen Stil passend „Redemption Reggae“, haben sie sich für das aktuelle Album
die Schublade „Reggae-Tronic-Dub“ gezimmert. Die passt: Die
akustischen Blues-Ausflüge, die man auf dem Vorgängeralbum
Follow Through“ noch erkennen konnte, sind hier fast komplett
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© wasser-prawda
Platten
verschwunden. Die rockende Gitarre wird immer wieder in Dubsounds eingebettet, die aber niemals nach purer Studiotechnik
klingen sondern die eigentliche Heimat der Band, die Bühnen
der Clubs nicht nur im mittleren Westen der USA immer wieder
in Erinnerung rufen. Das Album sollten sich Reggae-Fans keinesfalls entgehen lassen.
Nathan Nörgel
Joseph Arthur - The Ballad Of Boogie Christ Acts
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Einen Liederzyklus über das Suchen, Finden und Verlieren von
Erlösung hat Songwriter Joseph Arthur sein „The Ballad of Boogie Christ“ genannt. Man könnte es auch als psychedelisches
Soulalbum zwischen Peter Gabriel und El Mariachi bezeichnen.
Zwei Assoziationen hatte ich, als ich erstmals das aktuelle Album
von Singer/Songwriter Joseph Arthur in die Hand bekam. Beide
führten gewaltig in die Irre. Keinesfalls hat „Boogie Christ“ was
mit Boogie zu tun, weder mit Boogie Woogie, noch mit DiscoRhythmen der 70er Jahre. Und auch die Idee, hier ein ähnlich
durchgeknallt-geniales Konzeptwerk wie Joe‘s Garage zu finden,
wurde enttäuscht. Aber diese spontanen Einfälle sollte man als
Kritiker ja sowieso immer mit der gehörigen Skepsis in den Hintergrund des Hirns verlagern, weil sie einem den Blick auf das
Werk unnötig verstellen oder vernebeln.
Das von Joseph Arthur allein über Crowdfunding finanzierte Konzeptalbum ist in Musik und Thema nicht weit vom Größenwahn
entfernt. Aber auch das haben Konzeptalben ja oft an sich. Zu hören ist in zwei mal zwölf Liedern die Geschichte einer eigentlich
erfolgreichen, aber dann doch wieder gescheiterten Suche. Man
kann es als Suche nach Erlösung hören, als die Geschichte einer
letztlich gescheiterten Liebe. Musikalisch wird hier nicht absolutes Breitbandkino geboten: Assoziationen zu den Soloalben von
Peter Gabriel tauchen ebenso auf wie zu Jeff oder Tim Buckley, zu
den quälenden Selbsterforschungen und Gesellschaftsreflexionen
Marvin Gaye‘s auf „What‘s Goin On“ oder auch zu endlos mäandernden Lyrics mancher Songs von Bob Dylan. Bei Liedern wie
„It‘s Ok to be Young/Gone“ sind dann gar rockende Gitarren zu
vernehmen, die das Geschehen vorantreiben.
Das ist keine leichte Popkost, keine Musik für die kurze Pause
zwischendurch. Das ist ein Album, das man in einem Rutsch mit
voller Aufmerksamkeit hören muss. Dann zieht es einen immer
weiter hinab in die eigenen Ängste und inneren Abgründe. Dann
wird man mit der eigenen Suche, dem eigenen Scheitern konfrontiert. Und das ist das, was ich mit psychedelischem Soul meine:
Faszinierend.
Nathan Nörgel
Layla Zoe - The Lily
Zum zweiten Mal hat sich die kanadische Sängerin mit dem deutschen Gitarristen und Produzenten Henrik Freischlader zusammen getan. Auf dessen Label Cable Car Records ist dann auch
das aktuelle Album „The Lily“ veröffentlicht worden.
Es gibt Musiker, bei denen ich die Kollaboriationen mit anderen
Künstlern besser finde als ihre eigenen Alben. Joe Bonamassa etwa wird für mich erst bei seinen Alben mit Beth Hart als einer
der großen Gitarristen der derzeitigen Rock- und Bluesszene ver-
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Platten
ständlich. Und bei Henrik Freischlader haben mich auch zuletzt
mehr die Songs begeistert, die er für und mit Tommy Schneller
und Layla Zoe aufgenommen hat. Hier wird klar, wie genau er
sich in so verschiedene Künstler hineinversetzen und ihnen genau
die richtigen Lieder auf den Leib schreiben kann. Auch „The Lily“
gehört in genau diese Kategorie. Und Zoe hat dazu die zutiefst
persönlichen Texte über Liebe und Familie geschrieben.
Das Album bietet neben dem Opener, der wundervollen a capella
Version von „Glory Hallelujah“ und Neil Youngs „Hey Hey My
My“ zum Schluss neun zwischen Soul, Rock und Blues angesiedelte Nummern, die reflexartig wieder bei einigen die Vergleiche
zu Janis Joplin oder anderen Sängerinnen hervorrufen. Großartig
beispielsweise, wie im langsamen „Gemini Heart“ sich Zoes Stimme und Freischladers Gitarre ergänzen. Auch „Father“ ist so ein
ellenlanger Slow-Blues, der doch niemals die Spannung verliert.
„Never Met A Man Like You“ ist eine dahinrockende Nummer,
bei dem man sich unwillkürlich wünscht, der angesungene Mann
zu sein, für den Layla durch die Wüste kriecht, nur um letztlich
bei ihm zu sein. Bei „Why You So Afraid“ wird der Bluesrock von
einem Funkrhythmus vorangetrieben, der einen nicht mehr loslässt. Wenn dann zum Schluss Neil Young gehuldigt wird, dann
stellt sich dem Hörer einfach nicht mehr die Frage, ob dies ein berechtigtes Cover sei: Sowohl Zoes Stimme als auch Freischladers
Gitarre sind hier in absoluter Höchstform. Das ist ein hervorragender Abschluss eines atemberaubenden Albums.
Raimund Nitzsche
MANdolinMAN - Plays Bossa Nova
Begonnen hatte das belgische Mandolinenquartett MANdolinMan mit der Bearbeitung alter flämischer Folksongs. Auf ihrem
zweiten Album allerdings haben sich die Herren jetzt einer ganz
anderen Musik gewidmet. Und ob sie nun Klassiker von Jobim
oder eigene Kompositionen spielen; auf jeden Fall haben die Stükke die Leichtigkeit und Faszination der ursprünglichen Bossa Nova.
Draußen wird es langsam herbstlich kühl. Die richtige Zeit also, sich musikalisch wenigstens auf Reisen in wärmere Gefilde zu
begeben. Wenn man bekannte Kompositionnen für völlig andere
Instrumente arrangiert, ist das Ergebnis oftmals bemüht und bestenfalls „originell“. Aber hier perlen die Melodien von „Aqua de
beber“ oder „Desconnocida“ mit einer Leichtigkeit und Eleganz
daher, als hätte Jobim schon damit gerechnet, dass man die Stükke auch auf Mandolinen hätte spielen können.
Eigentlich bin ich ja nicht der Experte für die Musik Brasiliens
- und schon gar nicht für Mandolinen - aber dieses Album mit
seiner Mixtur aus klassischen Bossanova, Rumba und eigenen
Kompositionen hat es mir angetan, seit ich es in die Hand gedrückt bekam. Eine wirklich tolle Scheibe - und die Herren von
MANdolinMAN haben kürzlich ihre Ansichten über die Bossa
Nova selbst in Brasilien mit Erfolg vorgestellt.
Raimund Nitzsche
Mojo Juju - Mojo Juju
Es sind die seltenen Momente, wo man ein Album zum Rezensieren bekommt, was sich musikalisch jeglicher Einordnung entzieht
und gleichzeitig auf Grund seiner Songs einzigartig dasteht. Wie
etwa das Debüt der australischen Sängerin Mojo Juju.
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Platten
Vom ersten Takt an glaubte ich mich hier in die seltsame Welt von
C.W. Stoneking versetzt: Ebenso wie er hat sich Mojo Juju eine
ganz eigene musikalische Welt aus dem Jazz und Blues der Zeit bis
maximal 1940 gebaut und diese ab und zu mit ein wenig Rockabilly modernisiert. Und sie erzählt Geschichten aus einer Welt der
Dämmerung und Nacht: Ob sie im Zug durch die australischen
Weiten unterwegs ist oder über den Vollmond in Budapest singt.
Hier ist eine Melancholie in Stimme und Musik, die bei Kollegen
reflexartig zu Vergleichen mit Nina Simone, Bessie Smith oder
Billie Holiday geführt hat. Für meine Ohren sind die Vergleiche
irreführend. Weder ist Mojo Juju von einer Stimmgewalt wie die
genannten. Noch sind ihre Lieder von einer deartigen existentiellen oder auch politischen Leidenschaft erfüllt. Nein, wenn man
schon Vegleiche braucht, dann ist da der mit Stoneking nicht von
der Hand zu weisen. Oder man könnte diese Musik auch gut neben die Songs von Florence Joelle stellen: Bei beiden sind es (wenn
man mal von Coverversionen absieht) aktuelle Themen, die in
einem altertümlichen Soundkleid verpackt daherkommen und so
einen anderen Blick auf die Gegenwart ermöglichen.
Höhepunkte dieses faszinierenden Albums sind für mich das dahinrockende „Brother Where Have You Been“, „Full Moon Over
Budapest“ und das wundervolle „Parisian Rain“. Noch bis Ende
Oktober ist Mojo Juju noch kreuz und quer auf Tour durch die
europäischen Clubs.
Raimund Nitzsche
MonkeyJunk - All Frequencies
Mit „All Frequencies“ erobert sich das kanadische Trio MonkeyJunk noch mehr als auf dem Vorgänger „To Behold“ den Funk
und Soulrock als musikalische Spielwiese. Die Mixtur erinnert
zeitweise an JJ Grey & Mofro oder andere Southern-Soul-Rocker,
ist aber durch die Bank weg eigenständig und erfrischend tanzbar.
Als Robert Santelli, Verfasser solch grundlegender Werke wie des
„Big Book of Blues“ und mittlerweile Direktor des Grammy-Museums, kürzlich meinte, der Blues stünde in der Gefahr zu einer
rein musealen Angelegenheit wie etwa Dixieland-Jazz zu werden,
da kam Zustimmung vor allem von Seiten der eingefleischten
Kritiker sämtlicher Modernisierungen der historischen Spielweise. Kritik allerdings gab es in den sozialen Medien auch heftige.
Und das auch völlig zu Recht. Ist es doch gerade in den letzten
15 Jahren etwa immer mehr im Blues verwurzelten Bands gelungen, neue Zuhörer in der Rockgemeinde zu finden. Das Vorbild
der White Stripes oder Black Keys hat hier ebenso gewirkt wie
Bands etwa im Umfeld der Southern-Rock-Gemeinde um Derek
Trucks. Songwriter wie JJ Grey, Anders Osborne und andere haben hier deutlich hörbare Wegzeichen gesetzt. Und es gibt Bands
wie MonkeyJunk, die seit ihrem preisgekrönten Debüt „Tiger In
The Tank“ diese Anregungen in ganz eigene musikalische Geschichten umsetzen.
War „Lo Behold“ noch deutlich am traditionellen Blues und
Bluesrock orientiert, so werden auf „All Frequencies“ viel häufiger
Ausflüge in andere Bereiche des Americana gemacht: Soulrock
ist zu hören, Texas-Blues und funkiger Jam-Rock wird von Steve
Marriner (voc, mhar, g, keyb), Tony D (g) und Matt Sobb (dr,
perc) so lange zusammengerüht, bis ein Album herauskommt,
dass zu den bemerkenswertesten Bluesrock-Scheiben des Jahres
gehört. Hier werden die Bluespolizisten natürlich mal wieder Ver-
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Platten
rat schreien. Der Rest der Hörerschaft aber wird fröhlich auf der
Tanzfläche feiern und sich freuen über Songs wie den Opener „You
Make A Mess“, den Funkrock von „Je Nah Say Kwah“ oder den
ausufernden Jam von „Swank“ mit seiner herrlichen Orgel zum
Schluss. Prima Scheibe! (Stony Plain)
Nathan Nörgel
Norbert Schneider - Schau mer mal
Melancholisch und relaxt, ein wenig Jazz, viel Blues und etwas
Chanson: Auf seinem neuesten Album „Schau mer mal“ singt der
Österreicher Norbert Schneider erstmals nur in seinem heimischen
Dialekt.
Ja, er hat genug „Blues für zwa“: Voller Schmäh und voller Eleganz
kommen die Lieder von Norbet Schneider daher. Und niemals
stellt sich die Frage; Geht das überhaupt? Blues im Dialekt kann
fürchterlich schief gehen. Doch wenn die Lieder stimmen, wenn
sie ehrlich und aus dem Innersten des Künstlers kommen, dann
funktioniert das ganz prächtig.
Ob Schneider seine Verflossene ansingt, sie solle nicht so angewidert schauen, ob er den lieben Gott anfleht, er solle sich doch
mal kurz um ihn kümmern oder fast resigniert konstatiert, dass
die Welt sich weiter dreht: das ist Blues der österreichischer kaum
denkbar ist. Hier ist keine Verbindung mehr zum Mississippi zu
hören, eher zum Gypsy Swing und dem Jazzschlager der 20er Jahre. Und gerade darum ist das Album so gelungen. Auch Stücke von
Georg Danzer oder Horst Ohmels passen hier genau rein in diese
Welt der Wiener Melancholie, die so viel näher am wahren Bluesfeeling ist als jedes Hochgechwindigkeitsriff aktueller Bluesrocker.
Klar: „Schau mer mal“ wird nicht jeden Bluesfan überzeugen. Wer
aber auf die kleinen Geschichten zwischen Liebeskatastrophen und
Alltagspech hört, sich von den eleganten Gitarrenlinien und den
swingenden Jazzrhythmen davon treiben lässt, hat hier eines der
besten deutschsprachigen Bluesalben der letzten Jahre gefunden.
Und wer die Lieder von Götz Alsmann mag, sollte hier auch unbedingt mal reinhören.
Raimund Nitzsche
Rod Pico - Hang Your Hopes On A Crooked Nail
Eigentlich hatte Songwriter Rod Picott sein neues Album „Rod
Picott‘s Circus of Misery and Heartbreak“ nennen wollen. Doch
irgendwie schien ihm das für diese Sammlung von Songs von den
dunkleren Seiten des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens
doch nicht passend. Die Aufforderung, seine Hoffnungen an einen
krummen Nagel zu hängen, ist da wesentlich deutlicher.
Wieder ein Album mit jeder Menge gebrochener Herzen, zerstörten Träumen und einer Zukunft mit wenig Hoffnung. Eigentlich
kann man nur noch abhauen an einen Ort, wo noch niemand
meinen Namen kennt und die Geschichten meiner gesammelten
Niederlagen.
Wenn Rod Picott singt und spielt, dann kommt einem das ganze
Elend dann doch nicht so hoffnungslos vor, wie es eigentlich ist.
Das ist die große Kunst eines wirklichen Songwriters. Diese Lieder
erzählen nüchtern, realistisch - und mit jeder Menge Anteilnahme.
Und das ist der Punkt, der andere zu der Bemerkung verführt hat,
Picott würde das weiterführen, was Guthrie machte, und das was
Springsteen eigentlich tun sollte.
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© wasser-prawda
Platten
Wobei damit gleichzeitig die Pole angegeben sind, zwischen denen
die musikalische Welt dieses Songwriters angesiedelt ist. Wobei die
Folkmusik Guthries hier immer mit dem Herzen und der Stimme
eines Countrysängers dargeboten wird. Und wo denn Rockmusik
draufsteht, da hört man nicht nur Springsteen, sondern auch alle
amerikanische Rockmusik zwischen den Byrds. Neil Young und
Tom Petty mit. Unbedingt empfehlenswert, wenn auch weniger
in Zeiten der Herbstdepressionen.
Nathan Nörgel
Ry Cooder & Corridos Famosos - Live at the Great
American Music Hall
Zwei Nächte hintereinander spielte Ry Cooder 2011 gemeinsam
mit alten Freunden in der Great American Music Hall in San Francisco. Daraus hat der Gitarrist jetzt sein erstes Live-Album unter
eigenem Namen seit 1988 zusammengestellt.
Ob Soul, Folk, Blues oder Tex Mex: wer am 31. August und 1.
September 2011 bei den Aufnahmen zu „Live At The Great American Music Hall“ dabei war, konnte eine musikalische Party feiern,
die ihresgleichen kaum haben dürfte heutzutage. Ry Cooder hatte
sich nicht nur alte Begleiter wie Sänger Terry Evans, seinen Sohn
Joachim (dr) oder Flaco Jiménez zusammengeholt, sondern gleich
noch eine zehnköpfige mexikanische Brass-Band. Und mit diesen
interpretierte er eigene Songs wie „Lord Tell Me Why“ oder „El
Corrido de Jesse James“ ebenso wie Stücke von Woody Guthrie,
Leadbelly, oder Dan Penn. Allerdings verpasste er denen teilweise
ganz radikal seine eigene persönliche Note. So wurde aus Guthries
„Do Re Mi“ eine wilde Polka, Billy „The Kid“ Emersons „Crazy
Bout An Automobile“ wird zum Soulblues. Bei „Volver Volver“
(Fernando Maldonado) mutieren die Corridos Famosos mit Sängerin Juliette Commagere zur Mariachi-Big-Band. Cooder zeigt bei
Guthrie‘s „Vigilante Man“, warum er noch immer einer der besten
Slide-Gitarristen genannt werden muss. Und zum Schluss wird aus
Leadbellys „Good Night Irene“ eine Tex-Mex-Hymne. Das ist ein
Live-Album, für das man nur die Höchstwertung vergeben kann!
Und das auch darum, weil hier hörbar nichts nachkorrigiert wurde
sondern die Konzertatmosphäre mit allen Ecken und Kanten auf
Platte gepresst wurde.
Raimund Nitzsche
Shawn Holt and The Teardrops - Daddy Told Me
Man sagt den mittelständischen Unternehmen nach, Rückgrat des
wirtschaftlichen Erfolgs eines Landes zu sein. Sie zeichnen sich oft
dadurch aus, daß sie in Familienhand sind und weitergegeben werden.
Vielleicht ist das ja beim Blues ähnlich. Da liegt eine pressfrische
CD von Shawn Holt and The Teardrops auf meinem Tisch. Der
Name kommt mir bekannt vor. Klar, Shawn ist der Sohn des in
diesem Jahr viel zu früh verstorbenen Morris Holt, uns besser bekannt als Magic Slim. Slim war er ja schon lange nicht mehr der
Zwei-Meter-Mann aber Magic hatte er ohne Ende. Sein Gitarrenspiel, knackig, trocken und rockig und seine mächtige Stimme
standen für ehrlichen unprätentiösen Chicago Blues.
Da tritt der Sohn in große Fußstapfen die es zu füllen gilt. Die
Teardrops hat er übernommen (s.o. Mittelstand). Allerdings ist nur
Brian <B.J.> Jones an den Drums von der letzten Besetzung übrig
© wasser-prawda
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Platten
geblieben. Chris Biedron am Bass und Levi William an der Gitarre
sind Neuzugänge.
Shawn Holt tritt also an um zu zeigen, was sein Vater ihm sagte.
Auf jeden Fall hat er viel über den Chicago Blues vom Vater gehört
und gelernt. Ganz klar, hier steht einer, der nicht kopiert und nicht
vom großen Namen seines Vaters leben muß, sondern überzeugend
und eigenständig in der Tradition des Blues aus der Windy City
bestehen kann.
Es macht richtig Spaß, der Band zuzuhören. Die Bandbreite der
Stücke ist groß. Ruhige Nummern wechseln mit Up Tempo Stükken. Da erkennt man Bo Diddley aber auch Smokin‘ Joe Kubek
wieder aber auch Magic Slim. „Before you accuse me“ ist eines
meiner Lieblingsstücke von Morris Holt. Hier zeigt sich exemplarisch, das sich Shawn nahe am Original bewegt, mit seiner vollen
eher sanften Stimme und seiner weniger schneidenden Gitarre dem
Stück aber eine eigene Anmutung zu geben vermag.
Auf der CD sind sowohl gelungene Eigenkompositionen von
Shawn Holt als auch Standards wie <Fannie Mae> und wenige ausgesuchte Magic Slim Stücke wie <Please don’t dog me> vertreten.
Üblicherweise geben sich die großen Namen bei der Einführung
eines Youngsters in die Szene auf dem Debutalbum die Klinke in
die Hand. Shawn Holt erhält <nur> Unterstützung vom großen
John Primer, der ihn dezent und zurückhaltend mit Gesang und
Gitarre unterstützt – toll gemacht!
Offensichtlich ist Blind Pig so sehr von Shawn Holt überzeugt,
daß man meinte, sich mit dem beiliegenden Booklet keine Mühe
geben zu müssen. Von vier verfügbaren Seiten sind drei mit Photos
gefüllt, die vierte Seite gibt zumindest Aufschluß über die Titel
und Mitwirkenden – das ist zu sophisticated! Bei der Produktion
wurde aber nicht gespart.
Shawn Holt legt hier ein Album vor, das mehr als ein Debutalbum
ist – der Mann kann die Familienfirma ganz klar erfolgreich weiterführen, das Zeug dazu hat er! (Blind Pig Records BPCD 5156)
Bernd Kreikmannn
Smokin‘ Joe Kubek & Bnois King - Road Dog’s Life
Würde mich jemand fragen, wer für mich z. Zt. den <richtig echten> Texas Blues repräsentiert, würde ich wohl antworten: Smokin‘ Joe Kubek & Bnois King. Der in Dallas Tx. aufgewachsene
Gitarrist, Sänger und Songwriter Joe Kubek arbeitet seit 1980 mit
dem Sänger und Gitarristen Bnois King aus Louisiana zusammen.
Die beiden haben inzwischen etwa zwanzig Alben vorgelegt. Jetzt
wechselten sie zu dem bekannten Delta Groove Label und legen
mit „Road Dog’s Life“ möglicherweise das herausragende ihrer Alben vor.
Smokin‘ Joe spielt die coolsten Texas Riffs die ich kenne, Bnois
King erzählt mit seiner weichen klaren Stimme Geschichten wie sie
in Blues Songs halt erzählt werden. Die CD vermeidet aggressive
Passagen und bietet stimmige angenehme Melodien diesseits des
Blues-Rocks (das ist auch einmal schön).
Begleitet werden die beiden von exzellenten Musikern: Kid Andersen (guitar), Randy Chortkoff und Kim Wilson (harp), Willie J.
Campbell und Patrick Recob (bass) sowie Jimi Bott (drums) – das
entspricht 30jährigem schottischen Single Malt: ähnlich sanft und
geschmeidig geht die Musik in den Gehörgang (ich entschuldige
mich bei den Whiskey Liebhabern, aber ein ähnliches Getränk
wird man in den US-Destillen schwerlich finden).
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© wasser-prawda
Platten
Ich verzichte auf die nähere Beschreibung einzelner Songs, sie sind
stimmig, exzellent arrangiert und zeichnen ein Mosaik des zeitgenössischen Texas-Blues auf Top Niveau. Joe und Bnois sind nach
dreißig Jahren ein gestandenes Top Team, bei dem die gemeinsame
Wirkung im Vordergrund steht.
„For Smokin‘ Joe Kubek and Bnois King the journey to this point has
certainly been a long road to travel, but in the words of these hardened
road dogs, we wouldn’t have it any other way“ (Zitat Klappentext).
Dass dies ehrlich gemeint ist habe ich erfahren, als ich mit Joe im
Anschluß an seinen letzten Gig in der Bluesgarage sprechen konnte. Ich habe Joe und Bnois als äußerst angenehme sympathische
Musiker empfunden, die für ihr Publikum alles geben, unprätentiös und offen sind. Ich freue mich auf die nächsten Gigs und die
weiteren Alben. (Delta Groove DGPCD 162)
Bernd Kreikmann
Snarky Dave & The Prickly Bluesmen - Big Snark
Sarkastische Bluessongs über alltägliche Erlebnisse dargeboten in
tanzbarer Bluesform: „Big Snark“ von Songwriter/Gitarrist Snarky
Dave (David Brenton) und seinen Bluesmen ist ein riesiger Spaß
für jeden Bluesfan.
„This is a song with a message“ warnten Canned Heat seinerzeit vor
ihrem Drogensong „Amphetamine Annie“. Und auch Snarky Dave
hält die Warnung vor den Botschaften seiner Songs auf der Homepage für nötig. Wenn er auch einschränkt, man müsse diese erst
finden. Obwohl das gar nicht so schwer ist, wenn man erstmal „Big
Snark“ festgeschnallt auf dem Bürostuhl hat über sich ergehen lassen. Das Anschnallen ist durchaus nötig, denn das Album ist von
Anfang bis Ende eigentlich eine Tanzscheibe für Bluesfans. Das
Zucken im rechten Fuß reicht hier oftmals eindeutig nicht aus.
Schon der Opener „Caucasian Blues“ hat eine Botschaft. Erzählt
wird die Geschichte eines alternden weißen Typen, der den Blues
singt. Und in Zeiten des „Downsizing“ verliert er seinen Job und
endet als einer, der Whiskey aus alten Einweckgläsern säuft.Seine
Frau - mehr am Materiellen interessiert - verschwindet, sobald die
Kohle alle ist. Das ist der Blues, Mann! Hinzu kommt ein feiner
Groove, die Gitarre legt das nötige Bluesfeeling. Einfach großartig! - Und weil der Song so schön ist, gibts ihn am Ende gleich
noch mal. Dann heißt er „Caucoustic Blues“: Dave allein mit akustischer Gitarre und dazu ein Basssaxophon. Da tanzt man dann
nicht mehr, denn hier stimmen Stimmung und Message plötzlich
völlig ohne Sarkasmus überein.
In „Makes No Sense“ versucht Dave sich einen Reim auf die aktuellen Weltereignisse zu machen. Der Blueser als Protestsänger, begleitet von einer feinen Hammond-Orgel. „Bitchin“ ein angenehm
groovender Bluesrocker mit scharfen Riffs von Gitarre und Orgel.
Aber das Thema: die sich ewig aufregendende Frau, die noch jede
Stimmung versauen kann.
„Big Girl“ ist dann eine wundervoll funkige Tanznummer - irgendwie kommt Dave denn doch nicht von den Frauen los. Und so
kommt dann seine Ballade auf „Mother and I“ ganz ohne Sarkarsmus dafür mit jeder Menge Gefühl daher.
„Big Snark“ ist eine wundervolle Entdeckung. Schade, dass das Album nur wenig länger als eine halbe Stunde ist. Hier warte ich auf
mehr in den nächsten Jahren.
Nathan Nörgel
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Stefan Saffer - This Is Not A Dark Ride
Leser der „Wasser-Prawda“ waren vorgewarnt; Mit seinem neuen
Album kehrt der Rock zurück in die Musik des Leipziger Songwriters Stefan Saffer. Auf „This Is Not A Dark Ride“ klingt seine
Musik mal nach einem wütenden Springsteen, mal nach punkigem Americana.
Es gibt für Saffer scheinbar eine Menge Gründe, wütend zu sein.
Auch wenn er sein Album „This Is Not A Dark Ride“ nennt: Die
Themen seiner Lieder kommen aus den düsteren Ecken, die der
normale Popkonsument gerne ausblendet: Neben dem schon bei
der Wasser-Prawda veröffentlichten „When Justice Walks On
Death Row“ über einen in Texas unschuldig in der Todeszelle
sitzenden Freund finden sich Reisen „Into the dark heart of my
country“: Es geht um Arbeitslosigkeit, über Armut und Reichtum, über das Fehlen sämtlicher moralischer Maßstäbe, über die
Freiheit, die man sich immer hart erkämpfen muss. Wer persönliche Liebeslieder oder romantische Naturimpressionen sucht, hat
definitiv das falsche Album in der Hand. Und zu den Themen
hätte eine ruhige und zurückhaltende Musik wie auf dem Vorgängeralbum „From Rebellion to Redemtion ... and than back!“ nicht
gepasst. Hier muss der Stom in die Musik.
Und das Album rockt von Anfang an los und holt nur selten Atem.
Hinterher ist man selbst ganz schön außer Puste aber froh darüber, endlich mal wieder ein von vorn bis hinten grundehrliches
Rockalbum mit aktuellen Songs gehört zu haben. Diese Scheibe
wird mich nicht so bald wieder loslassen. (Cacturs Rock Records)
Raimund Nitzsche
Sugaray Rayford - Dangerous
Die ersten Worte des ersten Songs führen in die Irre. Da singt
ein King Size Zwei-Meter-Mann aus Texas „I’m a little Country
Boy“. Na ja, Herr Norcia konnte ja nicht wissen, daß sein Stück
von Sugaray Rayford gesungen werden würde.
Sugaray ist ein Blues/R&B Sänger und Entertainer der alten
Schule. Er erfüllt alle Klischees, die ein „echter“ Blueser vorweisen
können muß: gebürtig in Texas, als Junge singt er in der Kirche
und spielt Schlagzeug, mit seinen Brüdern wächst er - bis zu deren frühem Tod - bei seiner krebskranken Mutter in Armut auf.
Er weiß, was das Leben bieten kann.
Später spielte er mit Musikern und Bands wie der Average White
Band, Dennis Quaid, Joe Luis Walker und Kal David. Anfang
des Jahrzehnts zog er dann nach Los Angeles und begann, eine
erfolgreiche Solokarriere aufzubauen.
Ich wurde auf ihn aufmerksam, als er als Lead-Sänger neben Finis
Tasby (dem es bekanntermaßen gesundheitlich z. Zt. leider nicht
gut geht) auf dem Manish Boys Album „Double Dynamite“ zu
hören war (Delta Groove, 2012). Sugaray hat eine ausdrucksstarke weiche Stimme, kann aber auch als Bluesshouter auftreten.
Wichtig war wohl, daß Sugaray in den Kreis der Delta Grooves
Music Inc. Eingang fand – ein tolles Label, das wohl einen der interessantesten und hochwertigsten Pools an Blues Musikern (vorwiegend West Coast) aufgebaut hat und bei Plattenaufnahmen
zur Verfügung stellen kann.
Auf „Dangerous“ wird Sugaray von Kid Andersen, Franck Goldwasser, Gino Matteo, Monster Mike Welch (Gitarristen), Anthony Geracy, Fred Kaplan (Keyboard), Sugar Ray Norcia, Kim Wilson, Big Pete, Randy Chortkoff (Harp), Willie C. Campbel, Bill
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Stuve (Bass), Jimi Bott (Drums), Ron Dziubla und Mark Pender
(Horns) unterstützt. Das ist ein Team, das ohne jedes Problem die
Blues-Weltmeisterschaften sowie die Olympischen Blues Spiele gewinnen würde.
Sugaray beginnt mit dem Chicago Blues Shuffle „Country Boy“
und arbeitet sich dann durch die Bandbreite des zeitgenössischen
Roots-Blues. Da gibt es schnelle Songs und ruhige balladenhafte
Stücke - von Sugarays vitalem Gesang treibend vorgetragen/gelebt
und von den Gitarren, Harps, Horns und der Rhythmusgruppe
einfühlsam aber sehr bestimmt unterstützt.
„Dangerous“ ist das erste Soloalbum von Sugaray Rayford, die Betonung liegt auf das Erste! Wir werden noch viel von ihm hören
– ich freue mich darauf. (Delta Groove DGPCD 161)
Bernd Kreikmann
The Hamburg Blues Band - Friends for a LIVE me
Vol. 1
Endlich mal wieder eine CD von der Hamburg Blues Band – wurde auch langsam Zeit. 30 Jahre gibt es die Band inzwischen, 30
Jahre on the road und 30 Jahre lang wird sie von Jahr zu Jahr besser. Das ist doch ein guter Anlaß, eine Compilation mit herausragenden Live Aufnahmen herauszugeben. Vorsichtshalber wird von
Vol. 1 geredet, ich empfinde es nicht als Drohung, wenn Vol. 2
folgen sollte.
Gert Lange, Gründer, Sänger und Frontmann der Band schreibt
im Klappentext, daß er nach der Bandgründung 1982 im Anschluß an eine Midnight Jam Session in Onkel Pö’s Carnegie Hall
nicht geglaubt habe, daß die Band so lang bestehen würde.
Schön, daß er sich geirrt hat, ihn stört das bestimmt nicht. Musik
spielt die Band übrigens auch. Wer Roots Blues erwartet, wer 50er
Jahre Retro West Coast Blues oder Chicago Blues erwartet, mag
enttäuscht sein – die HBB serviert knallharten Blues, der mit seinen scharfen Riffs, dem präsenten Bass und dem virtuosen Schlagzeug oftmals Anleihen beim Hardrock nimmt. Keyboard und gelegentlich ein Saxophon ändern nichts daran. Dazu paßt dann Gert
Langes Rockröhre (sorry, ich finde das besser als den Vergleich mit
Joe Cocker, den Lange allerdings nicht scheuen muß).
In über dreißg Jahren ändert sich die Bandbesetzung. Der Kern
besteht z. Zt. aus Gert Lange (Gesang, Rhythmus Gitarre), Hans
Wallbaum (Drums), Michael „Bexi“ Becker am Bass sowie Miller
Anderson (Leadgitarre, Gesang). Miller Anderson hat den Part von
Clem Clempson übernommen, der inzwischen mit eigener Band
auf Tour ist. Adrian Askew spielt Keyboard. Gründungsmitglied
und Saxophonist Dick Heckstall-Smith ist leider vor einigen Jahren verstorben, hatte aber prägenden Einfluß auf die musikalische
Entwicklung der Band.
Ich habe gehört, daß Dick Heckstall-Smith das Bindeglied zwischen der HBB und der britischen Rock- und Bluesszene war. Wer
die Geschichte der einzelnen Musiker kennt (oder nachschlägt,
es lohnt sich), weiß, daß eine große Nähe u.a. zu den Supergruppen wie Colosseum bestand und besteht. Möglicherweise hat sich
hieraus in den letzten Jahren eine tolle Zusammenarbeit ergeben.
Insbesondere der große Chris Farlowe und Maggie Bell treten inzwischen regelmäßig als Gastmusiker auf. Miller Anderson, der
ebenfalls als Gast erschien, ist nun fester Bandbestandteil und
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Platten
Arthur Brown mit seinem Mega Hit „Fire“ legte mit der HBB eine
unvergeßliche Bühnenshow vor.
Vieles davon ist auf der CD festgehalten. Meine persönlichen
Highlites sind Chris Farlowes „Stormy Monday Blues“, Maggie
Bells „Wishing Well“ und HBBs „Rockin’ Chair“. Jeder wird seine eigenen Lieblingssongs auf der CD finden – die Bandbreite ist
groß. Eine gute Gelegenheit bietet der Besuch eines der Konzerte
– bis Sommer 2014 ist die Band bei uns auf Tour. Der Gig in der
Bluesgarage Isernhagen am 20.09. 2013 war, wie Chris Farlowe es
ausdrückt, „SPITZE“.(Handmade Music/NMD)
Bernd Kreikmann
The High Kings - Friends for Life
Was Präsident Obama mag, kann so schlecht nicht sein - die High
Kings aus Irland jedenfalls haben schon zum St. Patricks Day im
Weißen Haus gespielt. Und jetzt kommt mit „Friends for Life“ das
erste Album mit eigenen Songs des irischen Quartetts heraus.
Wenn es um Folk und Folkrock aus Irland geht, waren meine Interessen bislang sehr fixiert: An den Chieftains kommt eh keiner
vorbei. Und wer sich bei mir Musik aus den 80er Jahren wünscht
(eine sehr gefährliche Aktion im Übrigen) kann ziemlich fest damit rechnen, die Pogues vorgesetzt zu bekommen. Und wenn die
Stimmung mit dem nötigen Alkoholpegel steigt, sind die Dubliners immer eine sichere Wahl. Freunde all dieser Bands werden
von der auch schon als Supergroup gefeierten Band vielleicht enttäuscht sein. Denn hier ist nicht die detailverliebte, Tradition und
Moderne vereinende, Genialität der Chieftains und auch nicht die
Kneipentauglichkeit der anderen Genannten zu hören, sondern
irischer Folkpop. Den allerdings zelebrieren die vier Sänger und
Multiinstrumentalisten Finbarr Clancy (g, bj), Brian Dunphy (g,
bodhran), Martin Furrey (g, bj, pipes) und Darren Holden (g,p
mand) auf allerhöchstem Niveau. Hier steht immer mehr der traditionelle Folk im Vordergund (anders als etwa bei den massiv
überschätzen Corrs). Und die Songs bringen irische Melancholie
und Lebensfreude ebenso herüber wie sie manchmal an die Fortentwicklung dieser Wurzeln im Country und Bluegrass erinnern.
Und damit ist „Friends for Life“ mindestens ein sehr aufmerksames
Reinhören wert. (Sony Classical)
Nathan Nörgel
The Inspector Cluzo - Gasconha Rocks
„Eine großartige Rockshow kann die Welt verändern“ meint Jack
Black in Richard Linklaters „School of Rock“. Und genau dieses
Feeling zieht sich durch „Gasconha Rocks“, das vierte Album des
französischen Duos The Inspector Cluzo.
Bassisten werden massiv überschätzt. Diese Einstellung hat seit den
White Stripes immer weitere Kreise gezogen. Auch Mathieu „Phil“
Jourdain (dr, bac-voc) und Laurent „Malcolm“ Lacrouts verzichten
auf den Druck der vier Saiten und den dafür nötigen dritten Mann.
Als Duo spielen sie einen von fetten Riffs getriebenen Rock, der
nicht nur immer wieder nach den 70er Jahren von Led Zeppelin
und anderen Hardrockern klingt sondern oft auch mit der atemlosen Brachialität des Hardcore dahinstürmt und doch eigentlich
nur ein funkiger Bluesrock auf Highspeed ist. Nur manchmal werden die beiden Musiker von Gästen mit Blasintrumenten unterstützt. Und dann (wie bei „Lo Camin de la Hesta“) ist das wie ein
zum Punk bekehrter James Brown.
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Platten
Wenn einem die Energie, dern Druck und das Engagement der
Musiker förmlich aus den Boxen entgegenspringen, dann weiß
man: Hier wurde nicht nur live im Studio abgerockt. Nein: Den
Musikern liegt durchaus am Herzen, wovon sie singen. Da geht
es gegen Monsanto und andere industrielle Lebensmittelproduzenten, über Müll am Strand, darüber, dass man angesichts der
Verhältnisse in Frankreich sich die Flucht aus Afghanistan auch
hätte sparen können. Das ist engagierter Politrock, der einen von
der Power her an die Punkurahnen MC 5 erinnert oder auch an die
diversen Projekte von Jello Biafra. Und wenn man schon das System verändern will, wenn die Verhältnisse zum Tanzen gebracht
werden sollen, dann gefälligst so packend wie auf diesem Album.
„Gascona Rocks“ - und das nicht zu knapp. (Fuckthebassplayer/
Groove Attack)
Raimund Nitzsche
Tom Principato - Robert Johnson Told Me So
Was der Großmeister des Blues hier anbietet ist Qualität auf allerhöchstem Niveau. Über Tom Principatos Qualitäten als Sänger
und Gitarrist wurde bereits alles gesagt, er ist perfekt. Das meint
nicht seelenlose Perfektion und exakt reproduzierbare Standardisierung des Vortrags. Wer den Mann live erleben konnte weiß, daß
seine Bühnenshows vor Leben strotzen und daß da einer mit beiden Beinen fest im Leben steht und auch noch Spaß daran hat.
Dazu ist er noch ein Mann zum Anfassen, der den Kontakt zu
seinem Publikum sucht.
Principato läßt sich Zeit mit dem Herausgeben neuer Alben – es
gibt bereits viele. Wenn er es dann tut, dann aber richtig. Offenbar
sind ihm die Songs von Robert Johnson durch den Kopf gegangen
und er kam auf die Idee, Zitate aus dessen Songs in eigene einzubinden. Damit das Ganze dann auch noch mitreißend ist, ist der
Aufmacher und Titelsong „Robert Johnson told me so“ ein sauberer Up Tempo Bluesrocker – zuhören lohnt.
„Knocking on the Door“ ist dann wieder ein schöner klassischer
Principato-Titel. Prima Percussion, schneidendes Gitarrensolo, das
Keyboard geht dazwischen – einfach ein toller lebendiger Blues
(wer weiß, vielleicht darf das Baby dann doch wieder hereinkommen?).
Herr Principato ist auch als Philosoph nicht schlecht. In „It ain’t
over (til it’s over)“ lernen wir, dass man bis zum Ende durchhalten
und kämpfen soll, bis etwas wirklich vorbei ist oder auch nicht.
Ebenso tiefgründig geht es dann mit „What goes around (comes
back around)“ weiter und folgerichtig wird im Text festgestellt,
dass etwas, das auf einer sich drehenden Scheibe liegt, an den Ausgangspunkt zurückkehrt und dass das, was nach oben geworfen
wird auch wieder herunterkommt (klarer kann man Physik – hier
Isaac Newton – nicht erklären). Achtung: Principato goes Reggae
– das geht in die Füße!
Da braucht es dann etwas Abkühlung. Hierzu paßt, daß „The Rain
comes pourin‘ down“. Eine ruhige Ballade in der die Bläser loslegen dürfen. Nach dem wir etwas Luft geholt haben, geht es mit
„Falls Church, Virginia 22042“ weiter. Principato zeigt in diesem
Instrumental Herrn Carlos Santana wie man es richtig macht! Die
CD klingt dann mit einer Reprise zu „It ain’t over“ eher ruhig aus.
Das Album begeistert. Ich bin seit langen Jahren bekennender
Principato-Fan und habe mich stets zurückgehalten, wenn es um
die Frage ging, welches denn das beste Principato Album sein
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Platten
könnte. Jetzt gebe ich die Antwort: Chapeau Tom Principato! (Powerhouse Records POW-132)
Bernd Kreikmann
Tunde Baiyewu - Diamond In A Rock
Schlafzimmer-Soul-Pop mit afrikanischen Rhythmen oder Bill
Withers triff t Afrobeats: Tunde Baiyewus zweites Soloalbum ist vor
allem eines: radiofreundlich.
In den 90er Jahren waren The Lighthouse Family mit ihrem SoulPop vor allem in Deutschland und Großbritannien sehr erfolgreich. Auch wenn das Duo mittlerweile wieder unterwegs ist, hat
Frontmann Tunde Baiyewu doch im August sein zweites Soloalbum veröffentlicht. Der in Großbritannien geborene und in Nigeria aufgewachsene Sänger erinnert Kritiker wegen seiner sanften
Soulstimme immer mal wieder an Bill Withers. Und diese Stimme
- gepaart teils mit afrikanischen Rhythmen, teils mit westlichem
Pop prägt die zehn Songs auf „Diamond In A Rock“. Wenn hier
nicht Unmengen an Weichspüler über Songs mit dem Prädikat
„mostly harmless“ ausgegossen worden wäre, dann wäre das spannend geworden. So ist das Album wohl hauptsächlich als Soundtapete für die Milchbar an der Ecke zu verwenden.
Nathan Nörgel
Various - Feeling Nice Vol. 2
Zum zweiten Mal haben Tobias Kirmayer und Daniel Wanders ihre Sammlungen obskurster und seltenster Soul- und Funk-Singles
durchforstet. Zwischen dreckigem Funk, musikalischen Verbeugungen vor James Brown und feinstem Soul fanden sie wieder 16
Stücke, mit denen man Fans rarer Grooves in Verzückung versetzen kann.
„I Feel Good“ - klar kennt man. James Brown kommt immer wieder gut. Aber eh: Nein, das ist nicht der Godfather of Soul. Hier
stimmt was nicht. Das hier ist das Duff y Jackson Orchestra feat.
Johnny Apollo, die hier einen fetten Big Band Funk zelebrieren.
Überraschend wie auch der Rest dieses Samplers. Und natürlich
mal wieder mit Musikern, von denen man bislang noch nie gehört
hat, wenn man nicht zur Gemeinde der fanatischen Single-Sammler gehört. Und selbst für die dürften manche Entdeckungen von
Wanders und Kirmayer bislang absolut unbekannt sein. Manche
der Aufnahmen gab es bislang bloß in sensationellen Auflagen von
50 Stück (The Soul Chargers „Change It Up Baby“), als Bonus
beim Kauf eines Schlagzeuges (die erwähnte Fassung von „I Feel
Good“) oder sie erschienen in Regionen wie den britischen Jungferninseln (Carole Veal‘s „H‘way of Love“).
Schwerpunkt ist diesmal eindeutig der Funk von ergebenen Jüngern von James Brown: deftig, rotzig, rockend spielen Bands wie
Fillet of Soul („Do your own thing“) oder Musiker wie Little Genie Brooks („James Brown Bougeloo“ - hier wird gleich eine Zitatensammlung aus Browns Stücken montiert zu einer Funkparty
mit einem deftigen Gitarristen und einer Hornsection, die eher
nach den Bluesbrothers als nach JB klingt).
„Feeling Nice Vol. 2“ ist nicht nur auf Grund der Raritäten sondern vor allem wegen der wie bei Tramps Veröffentlichungen immer wieder überraschenden musikalischen Qualität ein absoluter
Pflichtkauf für jeden Funkliebhaber. Zu der CD/Doppel-LP bekommt man natürlich wieder ein Booklet mit den nötigen Informationen über die ausgegrabenen Künstler. Und bei 400 der 1000
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Platten
gepressten LPs wird gleich noch eine Single von „H‘way of Love“
beigelegt, die in kurzer Zeit auch schon den Status einer absoluten
Rarität haben dürfte. (Tramp Records)
Nathan Nörgel
Will Wilde - Raw Blues
Mit sechzehn Jahren tauchte er erstmals auf der Bluesbühne auf
mit der Harp in der Hand. Jetzt hat Will Wilde mit „Raw Blues“
sein zweites Album veröffentlicht und zeigt, warum er als einer der
besten Harpspieler im Vereinigten Königreich gehandelt wird.
Schon das Intro von „Paranoia“ macht deutlich, dass der Albumtitel Programm ist: Rauh und heftig - und meist ganz tief in der
Tradition verwurzelt - spielt Will Wilde seinen Blues. Rauh singt er
ihn. Und düster sind die Ecken, in denen seine Lieder spielen. Hier
ist nichts hörer- oder radiofreundlich weichgespült. Es gibt direkt
einen in den Magen mit Liedern wie „Thirty Eight“, dieser rockenden Romanze über die Beziehung zu einer älteren Frau. Oder auch
bei dem psychedelisch daherkommenden „Get Me Some“ und dem
funkig angehauchten „Your Days Are Numbered“. Okay, hier wird
Will als Sänger etwas sanfter, aber allein der treibende Rhythmus
erweckt eine bedrohliche Atmosphäre.
Manche Kritiker werfen Wilde vor, er wäre in seinem Harpspil
zu traditionell. Klar - er ist ganz sicher weder Jason Ricci noch
Sugar Blue. Und auch Stilisten wie Jean-Jaques Milteau sind weit
entfernt. Wilde spielt hier ziemlich konsequent in der Tradition
des Chicagoblues von Sonny Boy Williamson II oder Little Walter.
Und das kann er auch hervorragend. Ich glaube, um wirklich seinen ganz eigenen Stil zu finden, braucht ein Künstler wirklich fast
ein Leben lang. Und Will Wilde ist ja erst ein wenig über 20 Jahre.
Da braucht man sich keine Sorge machen. Und für jetzt bleibt festzuhalten: „Raw Blues“ ist eines der besten Blues-Harp-Alben, die
ich dieses Jahr gehört habe. (India/Big Lake/rough trade)
Nathan Nörgel
Willis Earl Beal - Nobody Knows
Soul als Do-It-Yourself-Baukasten? Ahnungslosigkeit und Respektlosigkeit als Albumthema? Bei „Nobody Knows“ von Songwriter
Willis Earl Beal kommt all das zusammen mit einer Stimme, die
einem ob mit Begleitung oder a capella eine Gänsehaut auf den
Rücken zaubert.
Was ist das eigentlich? Eine Sammlung von Liedern, die sämtlich
von Trauer, Resignation, Frustration und Scheitern handeln. Mal
kommen sie daher in fast klassischem Soul der 70er, mal als Gospel
und dann auch wieder rockig zupackend irgendwo zwischen Tom
Waits und Screamin Jay Hawkins. Oft verebben sie auch in Soundspielereien aus dem Computerbaukasten. Zum Glück bettelt Beal
hier nicht um Mitleid, gleiten seine Lieder niemals in kitischige
Gefilde ab. Er scheint einfach nur ein Fazit zu ziehen aus Jahren, in
denen er immer wieder auf die Fresse gefallen ist, sich in der Welt
und den Mitmenschen getäuscht sah.
„Nobody Knows“ ist ein Album, das faszinierend ist in einem Moment im nächsten aber auch in Belanglosigkeit zu verfallen scheint.
Doch in der Gesamtheit bleibt es als Beispiel dafür, wie man jenseits von Retroseligkeit heute Soulsongs zelebrieren kann. Ist das
großartig? Das muss jeder für sich selbst entscheiden.
Raimund Nitzsche
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Feuilleton
Peter Kroh - Deutsche Kultur
ist weniger als Deutschlands
Kultur
Wenn spontan gefragt wird, „was ist deutsche Kultur?“, dann antworten
die einen „Bier trinken, Currywurst essen, Fußball gucken“. Andere sagen:
„Kuckucks-Uhr aus dem Schwarzwald“ oder „Lederhose, Schuhplattler
und Oktoberfest“. Der nächste nennt zuerst „Gartenzaun und Nachbarschaftsstreit“, „Handtuch auf der Liege, weiße Socken in Sandalen“ oder
„Schützenfest und Bürokratie“. Sehr oft wird man hören: „Pünktlichkeit,
Fleiß und Disziplin“. Andere denken an Literatur, Musik, Architektur
und sagen: „Goethe, Schiller, Lessing, Johann Sebastian Bach, Beethoven,
Kölner Dom, Dresdner Frauenkirche, Schloss Neuschwanstein“. Manche
verbinden mit deutscher Kultur „das Land der Dichter und Denker“; andere
denken eher an „das Land der Richter und Henker“. Für viele ist Kultur
identisch mit Sprache, Bräuchen, Sitten und Regeln.
Kultur ist erst einmal alles, was Menschen gestaltend hervorbringen, jegliches Material, was durch Handwerk, Technik, Künste,
aber auch durch Gesetzgebung, Philosophie, Religion, Ethik formend umgestaltet wird. Das ist schon ziemlich kompliziert.
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Feuilleton
Noch schwieriger wird es bei deutscher Kultur. Im heutigen
Deutschland erleben wir, dass der Mecklenburger deutsche Kultur
anders definiert und praktiziert als der Schwabe und beide wiederum
anders als der Bayer oder Sachse. Kultur hat offensichtlich stets einen
territorialen und landsmannschaftlichen Aspekt.
Darüber hinaus ist alle Kultur, auch die deutsche, einem steten
Wandel unterworfen. Beim Heiligen Römischen Reich, es endete bekanntlich 1806, fällt mir zu deutscher Kultur zuerst ein, dass die Sorben zwar ältere Territorialrechte haben als die Deutschen, diese aber
im Vielvölkerstaat bald den größten Bevölkerungsanteil stellten. Mit
guten Gründen könnte man also von Frühformen des Multi-Kulti
sprechen. Unbestritten ist zudem, dass sich Inhalte und Ausdrucksformen deutscher Kultur in den etwa 800 Jahren erheblich veränderten. Ein wichtiger Aspekt deutscher Kultur um die Wende vom
18. ins 19. Jahrhundert bestand darin, in den Bürgern der deutschen
Lande Nationalstolz zu entwickeln, vor allem, um vereint gegen Napoleon zu kämpfen. Vieles, was wir heute noch als deutsche Kultur
schätzen, entstand nach 1815 als Widerspruch zu Restauration und
Reaktion. Das nur 47 Jahre existierende deutsche Kaiserreich hat
vor allem durch die Dominanz Preußens zu deutscher Kultur – im
Guten wie im Schlechten – beigetragen. Zur deutschen Kultur der
Weimarer Republik, sie lebte auch nur 15 Jahre, zählen nicht nur die
Goldenen Zwanziger, sondern auch der erste, letztlich missglückte
Versuch der Deutschen, Demokratie zu lernen. Antisemitismus, Slawenfeindlichkeit, Völkermord, Arier- und Untermenschen-Ideologie
sowie Krieg waren in den zwölf dunklen Jahren des Faschismus eher
eine Kulturschande, ein Beitrag zur Zerstörung aller Kultur. Vieles
davon war aber schon vorher angelegt. Die Völker Europas, auch das
deutsche Volk, mussten dafür einen hohen Preis zahlen.
Über 45 Jahre entwickelten sich – bei allem unübersehbaren kulturellen Erbe – unterschiedliche Kulturen in der BRD und der DDR.
Das seit gut 20 Jahren wieder vereinte Deutschland sucht noch nach
seiner kulturellen Identität und den bewahrenswerten kulturellen
Traditionen.
Nicht übersehen werden darf bei diesem groben Überblick zur
deutschen Kultur, es gab in ihr immer auch Unterschiede zwischen
der Kultur derer da oben und denen da unten. Der Feudalherr lebte
in einer anderen Kultur als die Leibeigenen. Reichskanzler Bismarcks
kulturelle Werte waren andere als die des Sozialistenführers Bebel.
Die Schlosser, Schweißer und Landarbeiter Krause, Schmidt und
Lehmann lebten mit ihren Frauen und Kindern eine andere Kultur
als die Familien Siemens, Krupp und die ostelbischen Junker. Kultur
hat offensichtlich stets einen sozialen und politischen Aspekt.
Ein besonders schönes, anregendes Beispiel dafür ist das Hambacher Fest zu Pfingsten 1832. Rund 30.000 Deutsche, Polen und
Franzosen lehnten sich auf gegen hohe Steuern, Hunger, Armut,
Arbeitslosigkeit und Metternichs Spitzelsystem. Sie forderten Meinungsfreiheit, Demokratie und Volkssouveränität, Gleichberechtigung zwischen den Nationen ebenso wie zwischen Mann und Frau.1
Besonders abstoßend und hässlich zeigte sich der soziale und politische Aspekt aller Kultur in der Tätigkeit des Kampfbundes für
deutsche Kultur in der Nazi-Zeit. 1928 vom späteren Nazi-Chefideologen Rosenberg gegründet, betrieb er einen antisemitisch und antislawisch ausgerichteten Wiederaufbau der deutschen Kultur. Was
dem widersprach, wurde niedere Kultur, Entartung, Kulturverfall
und Kulturbolschewismus genannt, die es zu beseitigen galt. Die Kul1
Über den Autor
Peter
Kroh,
Jahrgang
1944, besuchte die Sorbische
Grundschule in Bautzen,
begann 1958 eine Lehre als
Flugzeugbauer, arbeitete später im Edelstahlwerk Freital
als Schlosser und begann mit
24 Jahren ein Lehrerstudium. 1980 promovierte er über
ethische Probleme der sozialistischen Arbeitsdisziplin, beteiligte sich am marxistischchristlichen Dialog und habilitierte 1985 mit einer Arbeit
über die Wirkungsbedingungen des protestantischen Arbeitsethos in der DDR. Nach
der Wiedervereinigung baute
er ein Kommunikations-und
Informationszentrum
für
Kinder und Jugendliche zur
Sucht- und Gewaltprävention (KIZ for kids) auf, dass er
mehrere Jahre leitete. Nachdem das KIZ der allgemeinen
Sparpolitik zum Opfer fiel,
überbrückte er die Zeit bis
zum vorzeitigen Ausscheiden
aus dem Berufsleben im Jahre
2007 als Mitarbeiter mehrerer Landtagsabgeordneter der
Linken in Mecklenburg-Vorpommern. 2009 veröffentlichte Peter Kroh die erste Biographie über den sorbischen
Journalisten und Minderheitenpolitiker Jan Skala.
Der hier abgedruckte Text
ist Teil einer Artikelserie über
Geschichte und Zukunft der
sorbischen Minderheit, die
Kroh im Nowy Casnik, der
letzten Zeitschrift in niedersorbischer Sprache, veröffentlicht wurde. Diese Artikel
werden 2014 als Band 2 der
Reihe „Regionale Literaturen
Europas“ im freiraum-verlag
wiederveröffentlicht.
Vgl.: P. Kroh: Jan Skala und das Hambacher Fest, in: Lĕtopis, 2/2010, S. 54ff.
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Feuilleton
tur der nordisch-arischen Völker – so wurde behauptet – besäße einen Führungsauftrag, vor allem gegenüber den slawischen Völkern
Osteuropas. In der Zeitschrift des Kampfbundes wurden die Feinde
deutscher Kultur beim Namen genannt, u. a.: Erich Kästner, Kurt
Tucholsky, Thomas Mann, Bertolt Brecht, George Grosz, Ernst Toller, Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger, Leonhard Frank, Ernst Barlach, Käthe Kollwitz. Schlimmste Höhepunkte dieser höheren deutschen Kultur waren die organisierten Bücherverbrennungen im Mai
1933 und die darauf folgende planmäßige Menschenvernichtung in
den Konzentrationslagern.
Skala sah so etwas als „eine Begleiterscheinung des Kapitalismus“,
die im Kern „doch nichts anderes ist als der Wille, eine andere Kulturgattung neben sich nicht zu dulden, sondern die eigene deutsche
mit allen Mitteln durchzusetzen.“2
Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg entwickelte sich langsam die Haltung, Deutschland werde in die Weltgemeinschaft nur
zurückkehren können, wenn es jeden Anschein vermeidet, dass deutsche Kultur dazu diene, andere auszugrenzen oder auf sie herabzusehen. Wer dennoch in jüngster Zeit diesen Eindruck neu beleben will,
verwendet dazu meist den (allerdings falsch verstandenen) Begriff
der Leitkultur. Die damit begründete Fremden- und Minderheitenfeindlichkeit wird erfreulicherweise von großen Teilen der Öffentlichkeit abgelehnt und deutsche Leitkultur als Steilvorlage für die
neue Rechte bewertet.
Dennoch ist im Programm der CDU (Grundsätze Nr. 37, 57) von einer „Leitkultur in Deutschland“ die Rede. Das Grundsatzprogramm
der CSU enthält ein Bekenntnis zur „deutschen Kulturnation“ und
zur „deutschen Leitkultur“. Andere Politiker in Deutschland, auch
das Ministerkomitee des Europarates, sind angesichts dessen mitunter besorgt, hier entstehe ein neues nationalistisches Kulturverständnis. Sie fordern deshalb u. a., Ökonomie nicht über Kultur zu stellen.
Konkret hieß das z. B., nicht den gleichen Klassenteiler für sorbische
wie für deutschsprachige Schulen anzulegen. Diese Politiker treten
– wie alle Demokraten – dafür ein, dass die Kultur autochthoner
Minderheiten lebendiger Teil der Kultur Deutschlands war, ist und
bleibt. Zu ihr gehören alle kulturellen Ausdrucksformen, die sich auf
die Achtung der Würde jedes Menschen, auf Freiheit, Demokratie,
Gleichheit, Toleranz richten.
Die Sorben/Wenden in der Ober- und Niederlausitz belegen z. B.
mit ihrer Zweisprachigkeit, dass sie die Sprache der Mehrheitsbevölkerung achten bzw. respektieren. Sie kennen auch die deutsche Fahne
und Hymne. Wie viel Anhänger deutscher Leitkultur aber wissen,
dass die Sorben/Wenden nicht nur zwei eigene Sprachen haben,
sondern auch eine offiziell anerkannte Fahne und Hymne? „Naša
chorhoj módra, čerwjena, bĕła“ („Unsere Fahne ist blau, rot, weiß“)
dichteten und komponierten 1947 Jurij Brĕzan und Jurij Winar. Den
Text der Hymne Rjana Łužica (niedersorbisch Rědna Łužyca) verfasste 1827 der damals 23jährige sorbische Theologiestudent Handrij Zejler. Korla Awgust Kocor komponierte 1845 eine Melodie und
brachte das Lied auf dem 1. Sorbischen Sängerfest am 17.10.1845 in
Bautzen zur Uraufführung. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es offizielle sorbische Hymne. Sie besingt die schöne Lausitz, das freundliche Land sorbischer Väter, das Paradies glücklicher Träume, dessen
Flure heilig sind. Erhofft werden eine glückliche Zukunft und Persönlichkeiten, die des ewigen Gedenkens würdig sind!
2
J. Skala: Lugano. Minderheitspolitische Kontroverse im Völkerbundsrat, in: Kulturwehr,
1, 2/1929, S.13.
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Feuilleton
Deutschlands Kultur ist also – mindestens – die Kultur deutschsprachiger und anderssprachiger deutscher Staatsbürger.3 Bestimmungen zu Schutz und Förderung der Kultur in Deutschland sollten
deshalb ausdrücklich die nationalen Minderheiten beinhalten. Angesichts aktueller Ausbreitung rechtsextremer Auffassungen ist das
m. E. zwingend notwendig. Zu schützen und zu fördern gilt z. B. sorbische Volkskunst 4in Lied, Tanz, Poesie und Bildender Kunst. Sie
leistet einen beständigen Beitrag zur Identität der Sorben. Geschützt
und gefördert werden muss das Serbski ludowy ansambl (Sorbisches
National-Ensemble). Es pflegt mit Ballett, Chor und Orchester kulturelle Traditionen der Sorben und macht sie auf allen Kontinenten
bekannt. Schutz und Förderung braucht das Nemsko-Serbske ludowe dźiwadło (Deutsch-Sorbisches Volkstheater), weil es das einzige
professionelle Theater ist, in dem Schauspiel und Puppenspiel auch
in sorbischer Sprache inszeniert werden.
Neben den Ländern Brandenburg und Sachsen ist vor allem der
Bund in hohem Maße gefordert. Nicht die Regierungen der 16 Bundesländer, sondern die Bundesregierung hat 1998 die EuroparatsCharta der autochthonen nationalen Minderheiten unterzeichnet.
Sie weiß, Deutschlands Kultur ist mehr als deutsche Kultur. Handelt
sie stets auch so?
3
Vom Beitrag anderer Staatsbürger zu Deutschlands Kultur konnte hier aus Platzgründen
ebenso wenig die Rede sein wie vom Beitrag anderer ethnischer Minderheiten, die deutsche
Staatsbürger sind.
4
Auf Osterreiten, zapust, ptači kwas oder den Erntebrauch des Hahnrupfens und manch
anderes kann hier nur pauschal hingewiesen werden.
© wasser-prawda
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Bücher
Morton Rhue - no place,
no home
Ravensburger Buchverlag
2013,
284 Seiten,
ISBN: 978-3-473-40100-0
14,99 €
No place, no home
Eine Rezension von Kristin Gora.
Sie leben in Wäldern zwischen den Bäumen, in Parks hinter
Sträuchern. Sie sitzen auf Parkbänken und Mauern und essen
hinter Mülltonnen. Die Unsichtbaren unter uns, die keinen
Platz mehr in der Gesellschaft finden. In Deutschland leben
zur Zeit rund 248.000 Menschen (Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe laut 4. Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung 2012) ohne festen
Wohnsitz, davon rund 22.000 dauerhaft auf der Straße.
Sie konnten nicht mehr bei Verwandten oder in Heimen unterkommen und sind nun obdachlos. Die Ursachen dafür sind so verschieden wie die Menschen. Manche haben ihren Job verloren und
konnten ihre Miete nicht mehr zahlen. Manche haben ihr Haus
durch eine Überschwemmung oder eine andere Naturkatastrophe
verloren. Einige wurde von ihren Partnern rausgeworfen oder sind
vor häuslicher Gewalt geflohen, geflohen auch aus den staatlichen
Einrichtungen wie Obdachlosen- oder oft auch schon Kinderheimen. Rund 21 % der Wohnungslosen sind unter 25 Jahre alt. In
Amerika ist die Obdachlosigkeit ein traditionsreiches Thema. Man
denke an die Zeit der Großen Depression. Fehlende soziale Absicherungen lassen den Verlust des Wohnraumes in den Zeiten der aktuellen globalen Finanzkrise zu einer stetigen Bedrohung werden. Laut
Angaben der National Coalition for the Homeless leben in den USA
über das Jahr rund 3,5 Mio. Menschen dauerhaft oder zeitweise auf
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© wasser-prawda
Bücher
der Straße. Davon haben rund 20 % sogar ein Job, der Lohn reicht
aber nicht für eine Wohnung.
In der amerikanischen Kleinstadt Average (deutsch: Durchschnitt), von der uns Morton Rhue in seinem neuen Roman erzählt, werden die Unsichtbaren plötzlich sichtbar. Die Stadt stellt
ihnen einen Park zur Verfügung, auf dem Dignityville entsteht –
ein Zeltlager für die Wohnungslosen – oder wie es auch heißt: „ein
Auffangbecken für menschliches Treibgut“. Plötzlich sind sie da,
wo sie jeder sehen kann – im Zentrum der Stadt, ganz in der Nähe
des Rathauses. Plötzlich werden sie Teil der öffentlichen Diskussion. Es lässt nicht lange auf sich warten, bevor die engagierten
Befürworter und die kritischen Gegner hart aufeinanderprallen.
Im Prolog des Buches erfahren wir über Aubrey, einen Bewohner
der Zeltstadt, der gleichzeitig die Stimme der BewohnerInnen nach
außen ist, dass er von mehreren Schlägern brutal verprügelt wurde
und schwerverletzt im Koma liegt. Ein harter Opener, der den LeserInnen direkt vor Augen führt, mit welcher Härte das Schicksal
in diesem Roman zuschlägt.
Im ersten Teil lesen wir, warum die Zeltstadt im Herzen von Average entstand. Nicht etwa, weil die Stadt ihren Leute (nur) helfen
wollte. Es ging vor allem darum, sie alle auf einem Haufen zu haben,
um Geld zu sparen, denn: „Nur weil Bürger einer Stadt sich keinen
Wohnraum leisten können, bedeutet das nämlich nicht, dass ihnen
nicht dieselben kommunalen Dienstleistungen zustehen wie allen
anderen.“ So gibt es von der Stadt finanzierte Waschcontainer und
Dixie-Toiletten, eine medizinische Grundversorgung und täglich
zwei kostenlose Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr. Ehrenamtliche Helfer stellen eine warme Abendmahlzeit zusammen
und es gibt einen Anschluss an das Stromnetz.
Für die Bewohner wird Dignityville schnell zu einem Ort, der
Hoffnung birgt. Ein Ort, an dem man zur Ruhe kommen kann,
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Bücher
Zu den Fotos:
Mitten in Portland (Oregon)
ist direkt neben dem dekorativen Eingang zur „China
Town“ der Stadt, eine Siedlung
von Obdachlosen entstanden.
Die Bewohner gaben ihnen
den Namen Right To Dream
Too und verweisen damit auf
den American Dream, auf den
auch sie einen Anspruch haben.
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an dem man Gemeinschaft und Hilfe findet, an dem Pläne für ein
kleine autarke Ökosiedlung geschmiedet werden. Sehr zum Missfallen zahlreicher Bewohner der Stadt, die in Immobilien investiert
haben, deren Wert durch die Nachbarschaft zur „Auffangstation“
ihren Wert verlieren. Menschen, die so einiges tun, um ihr Vermögen nicht zu gefährden und im Laufe des Romans jede Möglichkeit
ausschöpfen, um ihr Gut zu schützen und Dignityville zu zerstören.
Erzählt wird die Geschichte mit der Stimme des 17-jährigen
Highshool-Starpitchers Daniel. Seine Mutter hat BWL studiert und
als Portfoliomanagerin bei einer Vermögensverwaltung gearbeitet,
bevor diese pleite ging.
Sein Vater hat einen Abschluss in Sportwissenschaft und trainierte im Rahmen eines staatlich finanzierten Sozialprojektes Jugendliche aus Problembezirken bis auch dieses Projekt aus Kostengründen
eingestellt wurde. Eine fast klassische amerikanische Mittelstandsfamilie mit eigenem Haus auf Kredit und ausreichender Fallhöhe.
Wir haben es hier mit einem jugendlichen Ich-Erzähler zu tun,
dessen Sicht auf die Umstände wir folgen. Noch vor ein paar Wochen war er mit seinen Kumpels am Parkgelände vorbeigefahren
und gestern noch hat er als freiwilliger Helfer in der Kirchenküche
Chili gekockt, bevor er heute selbst im alten Subaro seiner Eltern
vorfährt und sein selbstgekochtes Essen zum Abendbrot serviert bekommt. Für ihn ist Dignityville kein Ort voller Hoffnung, sondern
erstmal eine „Endstation für arme, unglückliche Menschen, die andernfalls in Hauseingängen oder Autos schlafen müssten.“
Im zweiten Teil werden wir zurück in die Gegenwart geholt.
Nachdem der erste Teil rückblickend den Weg der Familie nach
Dignityville zeigte, beschäftigt sich der zweite mit dem Leben in
Dignityville. Während Dan langsam einsehen muss, dass er jetzt
arm ist und leugnen nichts bringt, haben seine Freunde, allen voran seine Freundin Talia, die aus eher gehobeneren Verhältnissen
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stammt, noch echte Schwierigkeiten, mit Dans neuer Situation umzugehen. Talia versucht ihn zu unterstützen, möchte ein Stipendium
ins Leben rufen und zahlt die Rechnungen bei gemeinsamen Unternehmungen, verursacht dabei leider nur noch größere Probleme,
sodass das sich Ende dieser Beziehung schnell abzeichnet. In aller
Not und Verzweiflung versuchen alle nur ihre Würde (engl. dignity)
zu bewahren, bevor sie wieder von der Bildfläche verschwinden.
Mit dem Wechsel vom Präteritum ins Präsens wird im zweiten
Teil eine größere Unmittelbarkeit und Dramatik erzeugt. Nach der
vorherigen Rückblende wird nun etwas erzählt, das der Erzähler
selbst noch nicht kennt. Wohin wird es gehen? Er kann nicht mehr
auf einen Zielpunkt (Einzug ins Zeltlager) hin erzählen, sondern
nur noch von seiner jetzigen Situation aus in die Zukunft blicken.
Ein Kunstgriff, mit dem Morton Rhue wunderbar auch den Wechsel in der Wahrnehmung des Protagonisten nachzeichnet.
Auch sprachlich kann das Buch überzeugen. Der Autor hat einen
schlauen jungen Mann gewählt, mit dessen jugendlicher Stimme
sich diese schwere Thematik gut erzählen lässt. Er schreibt unaufgeregt aber deutlich. Einfach und in keiner Weise unglaubwürdig.
Morton Rhue hat mit seinem Buch nicht nur die aktuelle Finanzkrise in ihren Auswirkungen ins Blickfeld gerückt, sondern es
geschaff t, eine Brücke zur Großen Depression in den 1930ern zu
schlagen und damit auch die geschichtliche Dimension der Ereignisse zu berücksichtigen. Er lässt Dan immer wieder Zeilen aus dem
Buch Früchte des Zorns von John Steinbeck zitieren, das zu seiner
Schullektüre gehörte. Auch anhand dieser Romanlektüre gelingt es
Dan, sein eigenes Schicksal als gesellschaftliches Problem zu reflektieren. „Wie kann es sein, dass trotzdem so viele Probleme, mit denen die Menschen schon damals zu kämpfen hatten, heute immer
noch nicht gelöst sind?“, ist die letzte Frage, die Dan im Roman
stellt. Wem?
Auch wenn no place, no home zumeist als Jugendbuch beworben und besprochen wird, ist es vor allem ein Sozialdrama, das mit
einer jugendlichen Stimme erzählt wird, die kein Mitleid erregen
möchte, die keine belehrenden Floskeln oder politische Anklagen
vorbringt, sich aber mit wirtschaftlichen, sozialen und politischen
Themen auseinandersetzt und so auf sehr eindringliche Weise auf
ein globales Problem aufmerksam macht. Eine Stimme, die alle etwas angeht.
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Bücher
Prudenci Bertrana: Josafat oder Unsere Liebe Frau von der Sünde
Prudenci Bertrana gilt als der berühmteste katalanische
Schriftsteller. Er ist ebenso der Namensgeber des bedeutendsten katalanischen Literaturpreises, sowie der Verfasser zahlreicher Werke. Dazu gehört sein Hauptwerk Josafat, das im
Jahre 1906 erschien. Jedoch verhalf dieser Status dem Werk
zu keinem großen Bekanntheitsgrad – zumindest nicht hier
in Deutschland. Eine ganz einfache Frage kann - auf diese
Tatsache hin - gestellt werden: Aus welchem Grund ist das
Hauptwerk Bertranas hier in Deutschland nicht publik geworden? Von Stephanie Engler.
Eine Grundlage dafür, dass ein Buch in einem anderssprachigen Land populär wird, ist die Übersetzung dessen. Damit ein
Werk also an Bekanntheit gewinnt, muss es auch gelesen werden
können. Dazu ist es gelegentlich nötig die Werke von der Originalsprache in eine andere Sprache zu übertragen.
Dies geschah mit Bertranas Josafat zum ersten Mal im Jahre
1918. Eberhard Vogel, der Begründer der deutschen Katalanistik,
war verantwortlich für diese erste deutsche Version. Eine zweite
Version erschien 2013 unter der Federführung von Jürgen Buchmann, im freiraum-verlag.
Beide Versionen unterscheiden sich in mehreren markanten
Punkten. Wobei die neueste Version den Titel Josafat oder Unsere
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Bücher
Liebe Frau von der Sünde trägt, blieb die ältere bei dem Originaltitel Josafat. Buchmann nimmt in einer „Notiz zur Übersetzung“ (S.
79-81) Stellung zu der Titelentscheidung, die Verlag und Übersetzer gemeinsam getroffen haben.
Buchmann erwähnt ebenfalls die Tatsache, dass nicht der Autorenname Bertranas unter die erste deutsche Version gesetzt wurde,
sondern ein Pseudonym des Übersetzers Eberhard Vogel: J. Pons i
Pagés.
An diesem Punkt stellen sich zwei weitere Fragen: Warum hat
man 1918 nicht Bertranas Namen für die Übersetzung genutzt,
sondern einen Künstlernamen des Übersetzers? Hat Vogel womöglich versucht sich – durch die Übertragung – Bertranas Josafat als
eigenes Werk anrechnen zu lassen?
In Anbetracht der Tatsache, dass Vogel von einer sehr eigenwilligen Übersetzungstechnik Gebrauch gemacht hat, könnte die letzte Frage durchaus mit einem Ja beantwortet werden. Buchmann
erwähnt dahingehend in seiner Notiz ein Beispiel zu diesem Fall:
Wenn Bertrana beispielweise erklärt: Sota els seus peus naixien cruiximents misteriosos, „unter ihren Füßen entstanden geheimnisvoll knirschende Laute“, so wird im Deutschen daraus
„unter ihren Füßen knirschte der Stein, als ob Nattern undeutbare Worte um ihre Knöchel zischten.“ (S. 79)
Er verweist ebenso auf das sechste Kapitel der ersten Übertragung, „das zur Gänze aufs Konto des Übersetzers geht.“ (S. 79)
Somit kann womöglich gesagt werden, dass die erste deutsche
Version des Josafat keine reine Übertragung aus dem Katalanischen ins Deutsche gewesen sein mag. Vielmehr war es eventuell
eine reine Interpretation des Werkes, die Vogel 1918 vorgenommen
hat. Aber ist nicht jede Übersetzung eine Interpretation?
Buchmanns Übersetzung Josafat oder Unsere Liebe Frau von der
Sünde (2013) scheint näher an dem original katalanischen Text zu
sein, als die frühere Version. Er selbst kritisiert Vogels Übertragung
(siehe oben) und hat sich an eine eigene zweite Version gewagt.
In seiner „Notiz zur Übersetzung“ spricht Buchmann von den
Schwierigkeiten, die Bertranas Stil und Schreibweise dem Übersetzer machen (S. 80). Die Besonderheit des Schreibstils und der
Ausdruckweise fällt auch dem Leser auf. Die Sprache des Werks ist
ebenso verstörend, wie die düstere Geschichte, die sie erzählt:
Prudenci Bertrana: Josafat oder Unsere Liebe
Frau von der Sünde
[Regionale Literaturen Europas, Band 1. Aus dem Katalanischen von Jürgen Buchmann. Mit einem Nachwort
des Übersetzers.]
86 Seiten; 14,8 x 21 cm
ISBN: 978-3-943672-20-6
11,00 EUR (D) (Auch als EBook erhältlich.)
[…] plötzlich war der erstickte Ton des Glöckchens zu hören,
und ein Blutstrahl sprang aus dem aufgeplatzten Schädel des
Fremden. Josafat, […] fiel zusammen mit dem Bezwungenen
zu Boden, und über ihn gehockt, drosch er mit rasender Wut
und der Treffsicherheit eines geübtem Schmieds weiter auf die
Wunde ein. O glaubensloses Gezücht, Auswurf der Hölle! (S.
11-12)
Hoch oben jedoch, über den Dachgewölben, verwandelte sie
sich in die Mänade zurück; sie warf ihre Kleider von sich und
setzte mit zügellosen Posen den Faun in Raserei. (S. 41)
Diese Auszüge lassen erkennen, wie der Autor die Sprache einsetzt, um die Situationen dem Leser gegenüber genau beschreiben
zu können. Man erkennt, dass es ihm nicht genügt ‚nur‘ von einem
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Bücher
Kathedrale von Badajosz (Spanien) (Foto: Wikipedia/Cascoantiguoba)
Verbrechen oder Geschlechtsakt zu berichten. Bertrana nutzt die
Sprache, um ein genaues und groteskes Bild des Mordes zu zeichnen oder um den einfachen Akt phantasievoll zu gestalten, indem
sich die beiden Protagonisten in Wesen der griechischen Mythologie verwandeln.
Die Besonderheit der Sprache macht das Hauptwerk Bertranas
verstörend interessant. Die Detailgenauigkeit, die er anwendet,
kann den Leser somit fesseln, obgleich der Inhalt des Buches eine
vollkommen gegenteilige Wirkung haben kann.
Der Einstieg in das Buch Josafat oder Unsere Liebe Frau von der
Sünde kann – im Gegensatz zu den folgenden Geschehnissen –
(schon fast) als recht gewöhnlich angesehen werden. Der Leser
wird durch Bertrana in die ‚Szene‘ eingeführt, indem dieser die
„düsteren Labyrinthe der Kathedrale Unserer Lieben Frau“ beschreibt und uns somit einen vorerst noch harmlosen ‚Rundgang‘
durch Josafats Welt gibt (S. 75).
Verstörend wird die Geschichte, sobald Bertrana den Glöckner
Josafat zu beschreiben beginnt. Dessen Leben ist geprägt durch die
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Catedral Velha de Plasenicia (Foto; Wikipedia)
katholische Kirche, deren absolutistischen Glauben und ihr Weltbild. Die Macht, die der Katholizismus somit auf Josafat ausübt,
bestimmt sein Leben – nicht nur beruflich, ebenso privat.
Seine „zwei Leidenschaften“, Jähzorn und Wollust – beide zugehörig zu den sieben Todsünden – treiben den Glöckner in die Katastrophe seines Lebens (S. 13). Eine verstrickte und sadomasochistische Beziehung zwischen den beiden Protagonisten, Josafat und
der Prostituierten Fineta, entwickelt sich. Sie spitzt sich in dem
Moment zu, in dem der Glöckner sich besinnt, von dem „Flittchen“
und den Todsünden abschwört und sich dem Katholizismus wieder
zuwendet.
Das Buch Josafat oder Unsere Liebe Frau von der Sünde beinhaltet
eine verstörende Geschichte, auf die man sich als Leser einlässt oder
nicht. Wie schon erwähnt, ist sie trotz des beunruhigenden Inhalts,
dennoch interessant zu lesen. Wobei der faszinierende Aspekt auf
der außergewöhnlichen Sprache Bertranas liegt, die mit ihrer Detailgenauigkeit (z.B.: die Beschreibung der Kirche im ersten Kapitel)
und der bizarren Vielfalt (z.B.: die brutale Darstellung eines Mordes
im Gegensatz zu dem Einsatz von mythologischen Wesen) für außergewöhnlichen Lesestoff sorgt.
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Sprachraum
Christoph Gross: Over the
Rainbow
Die sogenannte „Realität“
Ist nur ein
Teil der Fantasie.
Kreationisten, Intelligenztests, Bandagen...
Das unsagbar Böse...
Echte Schweine, Menschenopfer...
Kiemen... Ein „grosser
Schelm“ spricht
Zu einem „mittelgrossen
See“ und
Einem „kleinen Teiche“
(Die er
Beide kennt): „‚Mittelgrosser
See‘ und ‚kleiner Teich‘:
Ihr seid euch gleich!“
Adelstitel, Thriller, Antihelden...
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Sprachraum
Navy SEALs, Spielhallen...
In der schönen
Stadt Bern wird
Ein Vampir erlöst
Von einem
Müden Schriftsteller. –
Blosse Zeichen
Werden zu
Magischen Symbolen...
Nunmehr hält
Der Schriftsteller
Eine bizarre
Geschichte, welche
Er vor
Vielen Jahren
Selber erfunden
Hat, für
Sein Leben!
Märtyrer, Passwörter, Rachefantasien...
Wirbellose, Schnappschildkröten, Handschuhe...
Die sogenannte „Aufklärung“
Hat einen Menschenschlag
Hervorgebracht, der hoffnungslos
Unfähig ist, den
Zauber der Welt
Wirklich wahrzunehmen;
Und gewisse
Leute nennen
Dies nun die
„Entzauberung der Welt“:
Diese armen Krüppelwesen!
Diplomaten, Seifenopern, Tierkreiszeichen...
Bewusstseinsstörungen, Poltergeister, Szenenbildner...
„Es haben alle Rebellen
Den Satan zum Gesellen!“
Kruzifixe, Werbekampagnen, Schusswaffen...
Jahre, Umweltaktivisten, Revolverhelden...
Man sollte alle
Sachbücher verbrennen; denn
In Sachbüchern findet
Man ausschliesslich Lügen!
Federmesser, Hörspiele, Plagiate...
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Sprachraum
Gilbert Keith Chesterton - Verteidigung
des Schundromans
Bis zu welchem Grade wir das alltägliche Leben unterschätzen,
zeigt sich am auffallendsten an der populären Literatur, deren
große Masse wir immer als vulgär beschreiben. Des Knaben Geschichtenbuch mag ja literarischen Ansprüchen nicht gerecht werden, aber das heißt so viel wie vom modernen Roman sagen, daß
der von der Chemie, der Astronomie, der Sozialökonomie nichts
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Sprachraum
verstünde; dennoch ist es nicht vulgär an sich – vielmehr bildet
es den tatsächlichen Mittelpunkt zahlloser feuriger Imaginationen.
In früheren Zeiten hatten die Gebildeten keine Kenntnis von der
populären Literatur. Dadurch kam es auch zu keiner eigentlichen
Geringschätzung. Wovon ich nichts weiß, und was mich gänzlich
gleichgültig läßt, gibt mir zur Selbstüberhebung keinerlei Anlaß.
Deshalb zieht noch keiner hochmütig die Straße hinab und dreht
sich selbstgefällig den Schnurrbart in die Höhe, weil er sich seine Überlegenheit über irgendeine Gattung von Tiefseefischen zu
Gemüte führt. In ähnlicher Ferne ließ das ganze Untergebiet der
populären Literatur die gebildete Welt von ehemals.
Heutzutage hat sich dieser Grundsatz verschoben. Wir verachten
zwar die vulgäre Literatur nach wie vor, aber wir ignorieren sie
nicht. Wir sind auf dem Wege, trivial zu werden, so sehr befassen
wir uns mit dem Studium der Trivialitäten; es lauert im Hintergrund das furchtbare Gesetz der Circe, daß die Seele, welche allzusehr sich herabläßt, um etwas zu erforschen, sich nicht mehr emporrichten kann. Keine Gattung populärer Schriften wird meines
Erachtens zum Gegenstand so lächerlicher Übertreibungen und
Mißverständnisse gemacht, wie die landläufige Knabenliteratur
niedrigster Sorte. Diese Gattung hat vermutlich jederzeit existiert
und mußte existieren. Sie darf ebensowenig Anspruch erheben, gute Literatur zu sein, als ihre Leser in den täglichen Gesprächen,
die sie führen, auf große Rednertalente Anspruch erheben, oder
die Klassenzimmer und Stuben, in welchen sie wohnen, architektonische Meisterwerke sein wollen. Aber deshalb müssen sie doch
sprechen, in ihren Häusern weiterwohnen und ihre Lektüre haben.
Das einfache Bedürfnis nach einer idealen Welt irgendwelcher Art,
in der erdichtete Personen ungehindert sich entfalten können, ist
viel tiefer eingewurzelt und viel älter als alle (Gesetze der Kunst,
und ist auch viel wichtiger. Ein jeder von uns hat in seiner Kindheit
solch unsichtbare dramatis personae ins Leben gerufen, aber nie ist
es unseren Kindsfrauen dabei eingefallen, diese Kompositionen auf
Grund eines sorgfältigen Vergleiches mit Balzacs Schriften nachzukorrigieren. Im Orient wandert der Geschichtenerzähler von Beruf
mit einem kleinen Teppich von Dorf zu Dorf; und ich hätte den
aufrichtigen Wunsch, daß einer bei uns zulande den moralischen
Mut besäße, diesen Teppich in Berlin N oder am Pariser Platz auszubreiten und Platz darauf zu nehmen. Aber die Geschichten jenes
Teppichträgers werden schwerlich alle von höchster künstlerischer
Vollendung sein. Literatur und Geschichten sind zwei sehr verschiedene Dinge. Die Literatur ist ein Luxus; die Geschichten sind
eine Notwendigkeit. Ein Kunstwerk kann sozusagen nicht kurz genug sein, denn in seiner Klimax beruht sein Wert. Eine Geschichte
kann nie zulange sich hinausspinnen, denn nur mit Bedauern sieht
man sie ans Ende gelangen, und während der Künstler immer größere Gedrungenheit und Kürze anstrebt, ist größte Weitschweifigkeit ein Merkmal alles echt romanesken Plunders. Zwischen Kasperl und dem Polizisten kommt es nie zu einem Ende. Die beiden
sind schlankweg als zwei unsterbliche Typen hingestellt.
Aber statt bei Erörterung des Problems von der offenkundigen
Tatsache auszugehen, daß die Knaben aus dem Volke von jeher
ungefüge und endlose romantische Lektüre pflogen, und dann für
deren Sanierung Sorge zu tragen, – setzen wir gewöhnlich damit
ein, daß wir in Bausch und Bogen alle derartige Literatur verdammen und uns höchlichst verwundert und entrüstet zeigen, weil die
jungen Laufburschen, die hier in Frage kommen, nicht die »Wahl-
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Sprachraum
verwandtschaften« oder den »Baumeister Solneß« lesen. Besonders
sind es Gerichtspersonen, welche die meisten Verbrechen der Großstadt der Schundliteratur zur Last legen möchten. Wenn ein Betteljunge einen Apfel stiehlt, wird darauf hingewiesen, daß er die
Kenntnis von der Schmackhaftigkeit des Apfels allerlei ungesunden Büchern entnahm. Die Jungen selbst, wenn sie sich reumütig
zeigen, berufen sich gerne mit heftiger Erbitterung auf Schauermären, wie es von Rangen, die einigen Humor besitzen, gar nicht
anders zu erwarten ist. Aber die meisten Leute sind fest überzeugt,
daß es eine Spezialität der Gassenbuben ist, die Hauptmotive für
ihre Handlungsweise aus gedruckten Büchern zu schöpfen.
Nun bezieht sich aber jene von Gerichtspersonen gerne vorgebrachte Beschuldigung keineswegs auf den literarischen Unwert
besagter Bücher. Schlecht geschriebene Bücher zu veröffentlichen
ist kein Verbrechen. Da kämen gar viele Stilgebauer ins Gefängnis.
Sondern man geht hier von der Theorie aus, daß die Masse der
Knabenbücher niedrig und verbrecherisch ist, und den Instinkten
niedriger Habgier und Grausamkeit schmeichelt. Dies ist die Theorie des hochlöblichen Gerichts und sie ist barer Unsinn.
Meine Erfahrungen betreffs der zerlumptesten Bibliotheken, die
ich in den ärmsten Stadtvierteln vorfand, sind einfach folgende:
Der ganze Wust von vulgären Knabenbüchern befaßt sich mit unzusammenhängenden endlosen Abenteuern und Wanderschaften.
Leidenschaften spielen sich da keine ab, denn es kommen keinerlei
Charaktere vor. Es dreht sich alles um gewisse lokale und hergebrachte Typen: den mittelalterlichen Ritter, den Duellisten des 18.
Jahrhunderts, und den modernen Auswanderer, der sein Glück in
den Goldgruben von Kalifornien suchen geht.
Unter diesen Erzählungen gibt es eine Unzahl, die sich mit den
Abenteuern der Räuber, Flüchtlinge und Piraten befassen und Diebe und Mörder in einem romantischen Licht hinstellen. Aber was
tun die Romane von Walter Scott anderes, oder Byrons Korsar,
oder eine Schar anderer Bücher, die unentwegt als »Preise« oder
Weihnachtsgeschenke zur Austeilung gelangen? Niemand wird
sich einfallen lassen, zu glauben, daß Schillers »Räuber« oder der
»Götz von Berlichingen« einen Knaben zu wilden Ausschreitungen veranlaßten. Wo unsere eigene Klasse in Frage kommt, geben
wir gerne zu, daß romantische Schicksale mit Vergnügen von der
Jugend vernommen werden, nicht weil sie ihrem eigenen Leben
ähnlich, sondern weil sie verschieden davon sind. So könnte uns
doch auch der Gedanke kommen, daß, welches immer die Gründe
seien, die den kleinen Laufburschen zur Lektüre des »Nil Carter«
und derartiger Bücher bewegen, es doch gewiß nicht diese sind,
daß er selbst von dem Blute seiner Freunde und Verwandten trieft.
In diesen wie in allen ähnlichen Dingen entfernen wir uns gänzlich von dem richtigen Standpunkt, indem wir von den »niederen
Klassen« sprechen, und dabei die Menschheit mit Ausnahme von
uns selbst meinen. Diese triviale romantische Natur ist nicht ausschließlich plebejisch: sie ist einfach menschlich. Wir haben den
ganzen Plunder dieser Sorte von Büchern als eine krankhafte Ungeheuerlichkeit hingestellt, während sie nichts anderes ist als törichtes, gesundes Menschentum. Gewöhnliche Leute werden stets
zur Sentimentalität neigen: wer gefühlvoll, aber um keine neuen
Ausdrucksmittel für seine Gefühle besorgt ist, ist ein Sentimentaler. Diesen populären Schriften haftet nichts wesentlich Böses
an. Sie bringen die sanguinischen und heroischen Gemeinplätze
zum Ausdruck, auf welchen die Zivilisation gegründet ist; denn
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so viel ist klar, daß die Zivilisation auf Gemeinplätzen gegründet
ist, oder überhaupt der Grundlage entbehrt. Welche Sicherheit
könnte eine Gemeinde haben, welche die Behauptung des Staatsanwaltes, daß der Mord ein Unrecht sei, als ein originelles und
glänzendes Paradox empfände? Wenn die Herausgeber und Verfasser der Schundromane plötzlich die gebildete Klasse unter Kuratel
stellen, unsere Romane konfiszieren und uns ermahnen wollten,
ein besseres Leben zu führen, so würden wir dies sehr schief aufnehmen. Dennoch hätten sie dazu viel größeres Recht als wir; denn
bei aller Dummheit sind sie normal, wir aber abnorm; und die moderne Literatur der Gebildeten, nicht der Ungebildeten ist es, die
offenkundig und aggressiv eine verbrecherische ist. Bücher, die den
Pessimismus und die Sittenlosigkeit befürworten, und vor welchen
der hochherzige Laufjunge zurückschaudern würde, liegen in allen
Empfangszimmern auf. Wenn der lumpigste Tändler sich vermessen wollte, Bücher in seiner Auslage zu haben, die den Selbstmord
oder die Bigamie ausdrücklich verteidigen, so würde ihm der ganze
Vorrat schleunigst von der Polizei beschlagnahmt werden. Denn
solche Dinge werden nur als unser Luxusartikel geduldet. Und mit
einer Heuchelei und einem Aberwitz sondergleichen verweisen wir
den Gassenbuben ihre Unmoral, während wir die Frage aufwerfen,
ob es überhaupt eine Moral gibt. Während wir die Schundliteratur verwünschen, weil sie das Volk antreibt, die Besitzenden ihres
Eigentums zu berauben, erklären wir jeglichen Besitz für Raub.
Und wir beschuldigen (ganz ungerechtfertigterweise) diese Bücher
der Unsittlichkeit, während wir mit philosophischen Systemen uns
vertraut machen, die alle Ausschweifungen geradezu glorifizieren;
und wir legen ihnen die vielen Selbstmordfälle junger Leute zur
Last, während wir ruhig die Frage erörtern, ob denn das Leben
wert sei, daß man es erhalte.
Ja, wir sind die morbiden Ausnahmen, wir sind es, welche die
Klasse der Verbrecher genannt zu werden verdient. Dies sollte uns
zum großen Trost gereichen. Die große Masse der Menschheit ist
es, die mitsamt ihrer Masse unnützer Bücher und Worte es nie in
Zweifel zog und nie in Zweifel ziehen wird, daß der Mut etwas
Herrliches, die Treue etwas Edles sei, daß man bedrängten Frauen
beistehen und überwundene Feinde verschonen solle. Es gibt aber
auch eine große Anzahl gebildeter Leute, die so alltägliche Grundsätze anzweifeln, wie es eine Anzahl Menschen gibt, die sich für
den deutschen Kaiser oder König Eduard halten; und ich höre, daß
beide Arten von Leuten sehr unterhaltende Reden vorbringen können. Die Norm aber schöpft aus ihren gewohnten überschwenglichen sogenannten Schundromanen eine bessere und gesündere
Moral, als sie in den glänzenden ethischen Paradoxen zu finden ist,
die bei der vornehmen Welt so rasch wie ihre Moden wechseln. Es
mag von recht primitiver Moral zeugen, einen »abgefeimten Bösewicht« niederzuschießen, aber sicherlich taugt sie mehr, als die
in so manchen modernen Systemen enthaltene, von d‘ Annunzios Büchern abwärts. Solange die grobe und seichte Schicht der
gewöhnlichen populären Romantik von einer armseligen Kultur
unberührt bleibt, wird sie nie wirklich unmoralisch sein. Sie steht
immer auf der Seite des Lebens. Die Armen, die Sklaven, die in
Wahrheit von der Last des Lebens gebeugten, sind oft kopflos, wild
und grausam gewesen, aber niemals hoffnungslos. Letzteres war
stets ein Vorrecht der Gebildeten, wie gute Zigarren. Die populäre
Literatur mit ihrem »Donner und Blut« wird stets einfach sein wie
der Donner unter dem Himmel und das Blut des Menschen.
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Sprachraum
Robert Kra (1869 - 1916)
Manchmal wird der Abenteuerschriftsteller Robert Kraft
(der auch unter den Namen
Knut Larsen, Leo von Hagen,
Fred Barker, Harry Drake,
R. Starke und Harry Strong
schrieb) mit Karl May verglichen. Andere nennen ihn den
„deutschen Jules Verne“. Mit
May verband ihn nicht nur
eine lose Bekanntschaft. Auch
war er nach May beim Kolportageverleger Münchmayer
in Dresden beschäftigt. Doch
anders als May war er schon
vor dem Schreiben an vielen
Orten seiner oft ausschweifenden Romane gewesen. Denn er
war einige Jahre als Seemann
durch die Welt gefahren. Mit
Jules Verne wird er verglichen,
weil er ähnlich wie er eine Faszination für die technischen
Entwicklungen der Zeit und
der möglichen Zukunft aufnahm. Ansonsten: Bei seinen
Romanen weiß man oft am
Anfang nicht, was einen alles
erwartet: Detektivgeschichten
können ebenso vorkommen
wie Seefahrerromantik oder
frühe Science Fiction und
Westernabenteuer. Das Romanungetüm „Die Vestalinnen“ könnte man als einen der
ersten emanzipierten Abenteuerromane der deutschen
Literatur bezeichnen.
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R˘ˋˎ˛˝ K˛ˊˏ˝ - D˒ˎ
Vˎ˜˝ˊ˕˒˗˗ˎ˗
Eine Reise um die Erde. Abenteuer zu
Wasser und zu Lande. Erzählt nach eigenen Erlebnissen. Band 1.
1. Im Yachtklub zu London.
In Westminster, dem vornehmsten Viertel Londons, erhebt sich
ein Gebäude, dessen prächtiges Aeußere noch von der inneren,
luxuriösen Einrichtung übertroffen wird. Spiegelsaal reiht sich
an Spiegelsaal, und man glaubt sich beim Durchwandern dieser
herrlichen Räume, beim Anblick der zahlreichen Dienerschaft in
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Sprachraum
das Schloß eines Fürsten versetzt, der hier seine Residenz aufgeschlagen hat.
Es gehört dem Yachtklub ›Neptun‹, dessen Mitglieder zu der
höchsten Aristokratie des Landes zählen.
Heute abend waren die Herren besonders zahlreich vertreten.
Einer Einladung ihres Präsidenten zufolge waren sie aus allen
Ortschaften Englands zusammengekommen, denn gewiß hatte
ihnen der Vorsitzende des Klubs, Lord James Harrlington, etwas
Wichtiges mitzuteilen.
Lord James Harrlington besaß die besten und am schnellsten
segelnden Yachten und war im Führen derselben Meister, sodaß
er allein deswegen zum Vorsitzenden des Klubs gewählt worden
wäre; außerdem aber stach er schon durch sein Aeußeres und seine
persönlichen Eigenschaften vor den anderen Mitgliedern hervor,
welche sich ihm willig unterordneten, weil sie seine Überlegenheit
kannten.
Schon vor einiger Zeit hatte dieser Lord seine Freunde eingeladen, mit ihm eine Reise um die Erde anzutreten, wozu er auf einer
Werft der Insel Wight den Bau eines Schiffes selbst leitete, aber
damals waren nur wenige damit einverstanden gewesen. Doch
die fieberhafte Hast, mit welcher Lord Harrlington den Schiffsbau betrieb, das Geheimnis, mit dem er seine bevorstehende Reise umgab, hatten die Herren doch sehr neugierig gemacht. Ungesäumt waren sie der Aufforderung, im Klubhaus einzutreffen,
nachgekommen.
Es herrschte eine gespannte Stimmung unter den Mitgliedern.
Trotzdem die Abendmahlzeit schon vorüber war und die Herren im Rauchsalon Platz genommen hatten, ließ der Vorsitzende
selbst immer noch auf sich warten.
»Ich wette,« rief Charles Williams, ein von seinem Vermögen lebender Gentleman, genannt ›der lustige Charles‹, weil er stets voll
des unverwüstlichsten Humors und der tollsten Einfälle war, »ich
wette, daß Lord Harrlington für uns irgend eine große Ueberraschung bereit hält oder uns einen Narrenspossen spielen will.«
»Er ist jedenfalls noch auf der Insel Wight bei seinem neuen
Schiffe,« entgegnete Edgar Hendricks, des ersteren spezieller
Freund, ein blutjunges, mädchenhaft aussehendes Kerlchen. »Ich
möchte nur wissen, was Harrlington im Schilde führt. Sein ganzes Treiben in letzter Zeit war wirklich geheimnisvoll.«
»Vielleicht will er sich als Seeräuber etablieren,« lachte sein
Freund, »ich habe letzthin das neue Fahrzeug angeschaut. Fast
sieht es aus, als ob auf demselben Geschütze aufgestellt werden
könnten.«
»Well!« rief Lord Hastings, ein herkulisch gebauter, junger
Mann, der den ganzen Abend gähnend und in Zeitungen lesend
in einem Lehnstuhl gesessen hatte. »Das wäre wenigstens einmal
eine vernünftige Idee, die in dieses langweilige Dasein Abwechslung brächte. Ich wäre mit bei der Partie.«
»Dann schlage ich vor,« sagte ein anderer Herr, »wir segeln in
die indischen Gewässer, wählen Harrlington zum Hauptmann,
Lord Hastings und Williams zu Offizieren, plündern chinesische
Fahrzeuge und hängen die langzöpfigen Burschen an den Raaen
auf.«
»Lord Harrlington,« meldete in diesem Augenblick ein Diener,
indem er die Thür öffnete und den Vorsitzenden eintreten ließ.
Lord James Harrlington war eine schlanke, elegante Erscheinung mit einem stolz getragenen Kopf. Das hübsche, frische Ge-
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Sprachraum
sicht wurde durch einen kecken, blonden Schnurrbart geziert, und ebenso
keck und lustig, aber zugleich auch
kühn blickten die blauen Augen. Wer
den Lord so in dem modernen Anzug
sah, hätte nicht geglaubt, daß in dieser nicht übermäßig kräftigen Gestalt
eine ungeheure Elastizität und Gewandtheit, verbunden mit außergewöhnlicher Kraft, wohnten.
Der Lord hatte schon beim Eintritte
ein Zeitungsblatt aus der Tasche gezogen und faltete dasselbe nun auseinander. Er winkte den ihn umdrängenden
Herren, wieder Platz zu nehmen, da
sie, außer Lord Hastings, alle aufgesprungen waren.
»Meine Herren,« begann er mit volltönender Stimme, »entschuldigen Sie
zunächst mein spätes Kommen. Diese
Zeitung hier ist schuld daran, wie Sie
gleich erfahren werden.
»Ich hatte,« fuhr er fort, »alle Mitglieder des Klubs ›Neptun‹ vor etwa
einem Jahre eingeladen, mit mir eine
Reise um die Erde zu unternehmen,
da aber den Herren etwas Derartiges nichts Neues ist, erhielt ich keine
Zusagen. Hätte ich freilich damals
schon gesagt, warum ich diese Weltreise antreten will, so hätte ich sicher
von keinem eine abschlägige Antwort
erhalten.
»Was heute diese Zeitung, die neueste Nummer der ›Times‹, verkündet, war mir schon vor einem halben Jahre bekannt und veranlaßte mich, den Bau meines Schiffes
mit solcher Eile zu betreiben.«
»So spannen Sie die Herren doch nicht länger auf die Folter,«
rief Lord Hastings. »Sie sehen, Williams vergeht bald vor Neugier.«
»So hören Sie denn, meine Herren,« fuhr Harrlington fort, »was
der ›Times‹ berichtet wird. Hier steht:
»New-York, den 12. April. Heute können wir endlich unseren
Lesern mitteilen, wem das auf der Werft von Dicksen erbaute Vollschiff gehört, dessen kühne Konstruktion die Bewunderung aller
Sachverständigen hervorgerufen hat. Die amerikanischen Damen
haben wieder einmal durch ihre Erfindungsgabe im Gebiete des
Seesports alle ihre Schwestern in anderen Ländern übertroffen.«
»Alle Wetter!« unterbrach der lustige Charles den Vorlesenden.
»Ich habe eine großartige Ahnung!«
Harrlington las weiter:
»Vor einem Jahre teilten wir mit, daß der Damenruderklub ›Ellen‹ sich plötzlich aufgelöst habe und alle seine Mitglieder spurlos
verschwunden seien. Jetzt erst erfahren wir, daß sich die Damen
auf eine einsame Insel an der Ostküste Nordamerikas zurückgezogen hatten, wo sie unter Leitung von bewährten Seeleuten Unterricht im Arbeiten in der Takelage eines Segelschiffes nahmen,
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als Matrosen in Sonnenschein und Sturm auf dem Ozean kreuzten und nebenbei nautische Wissenschaften trieben. Vorgestern
kehrten die Damen nach New-York zurück, und allein elf von den
vierundzwanzig Mitgliedern haben vor der Prüfungskommission
das Steuermannsexamen für große Fahrt mit Auszeichnung bestanden, darunter die Vorsitzende des Klubs, Miß Ellen Petersen,
von deren Siegen im Einzelboot wir schon früher öfters zu berichten hatten, und die das beste Examen ablegte. Weiter erfuhren
wir, daß die Damen auf jenem neuen Segelschiffe eine Reise um
die Erde zu unternehmen gedenken, und zwar als Matrosen, ohne
Dienerinnen mitzunehmen oder männliche Hülfe sich zu sichern.
Erst gestern wurde das Schiff mit großer Feierlichkeit von Miß
Petersen auf den Namen ›Vesta‹ getauft. Die Ladies selbst nennen
sich ›Vestalinnen‹. Leider wird jedem Mann ohne Ausnahme der
Zutritt zum Schiff verweigert, sodaß wir über die innere Einrichtung desselben keine Auskunft geben können; doch soll sie, so
weit man unter solchen Umständen darüber urteilen kann, großartig sein. Wann das Schiff mit seiner weiblichen Besatzung in
See stechen soll, ist vorläufig noch völlig unbekannt.«
Lord Harrlington blickte auf.
»Einzig,« rief Hendricks und schlug mit der Faust auf den Tisch,
»da möchte ich mit dabei sein.«
»Du würdest auch gut dazwischen passen,« lachte Williams.
»Still,« beschwichtigte Harrlington, »hier ist noch ein Zusatz:
»New-York, den 13. April abends. Heute morgen verließ die
›Vesta‹ unter flatternden Wimpeln den Hafen. Die Damen,
in kleidsamer Matrosentracht, waren zum Teil in die Wanten
(Strickleitern) und in die Raaen aufgeentert und winkten von dort
den Hunderten von begleitenden Booten und Dampfern ein Lebewohl zu. Im freien Fahrwasser wurde das Schiff vom Schleppdampfer gelöst, und Miß Ellen Petersen, auf der Brücke stehend,
übernahm das Kommando. Es war eine Freude, zu sehen, mit
welcher Schnelligkeit und Gewandtheit die Vestalinnen die Segelmanöver ausführten, wie sich im Nu ein Segel nach dem anderen
entrollte, wie sich das Schiff unter der schneeweißen Last auf die
Seite legte und, von einer Südbrise gefaßt, der Ferne zustrebte.
Durch ein gutes Fernglas konnte man noch lange die schönen
Matrosen in ihrer gefährlichen Arbeit auf den Raaen beobachten.
Niemand außer ihnen selbst weiß, welchen Hafen sie zunächst
anlaufen werden. Jedenfalls wünschen wir der ›Vesta‹ und ihrer
schönen Besatzung eine glückliche Reise und guten Wind; mögen
sie das Sternenbanner der Vereinigten Staaten über allen Ländern
und Meeren stolz flattern lassen.«
»Die amerikanischen Ladies haben die englischen wieder einmal
überflügelt,« schloß Lord Harrlington seinen Vortrag und steckte
die Zeitung ein, »aber bald genug werden sie Nachahmer finden.«
Atemlos hatten die Herren gelauscht. Selbst der phlegmatische
Hastings hatte seinen Schaukelstuhl verlassen und war an den
Tisch getreten.
»Es ist doch schändlich,« rief er jetzt mit donnernder Stimme,
»ich sitze hier und vergehe fast vor Langeweile, während andere
immer neue Einfälle haben. Wenn das nicht bald anders wird,
so ziehe ich Weiberkleider an und schmuggle mich an Bord der
›Vesta‹ ein.«
Er strich sich durch den kurzen Vollbart und warf einen prüfenden Blick an seiner riesigen Figur hinunter.
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Auch die anderen Mitglieder brachen in Ausrufe der Verwunderung und des Beifalls über diese Absicht der amerikanischen
Damen aus.
»Die Vesta,« begann Lord Harlington abermals, nachdem die
Ruhe wieder hergestellt war, »war bekanntlich die römische Göttin der Erde und hatte bei ihrem Bruder Zeus geschworen, den
Werbungen des Gottes des Meeres, des Neptun, nachdem unser
Klub benannt ist, kein Gehör zu schenken, sondern Jungfrau zu
bleiben. Ihre Priesterinnen, die Vestalinnen, mußten das Gelübde
der Keuschheit ablegen und wurden bei Übertretung desselben
mit dem Tode bestraft.«
Er schwieg lächelnd.
»Da paßte unser Klub ›Neptun‹ eigentlich vortrefflich zum Reisebegleiter,« meinte Williams.
Lord Harrlington nickte belustigt.
»Deshalb fordere ich hiermit die Mitglieder des ›Neptun‹ nochmals auf, mich auf meiner Reise um die Erde zu begleiten. Mein
neues Schiff, eine mit einer Hilfsmaschine ausgestattete Segelbrigg, ist auf den Namen ›Amor‹ getauft und soll der keuschen
›Vesta‹ während ihrer Fahrt als Beschützer, wenn auch als ungewünschter, zur Seite bleiben.«
»Hip, hip, Hurrah,« schrie der lustige Charles Williams und
machte einen Bocksprung über seinen Stuhl, »das ist ein Gedanke.«
»Bravo,« riefen auch die anderen, »wir fahren ihnen nach.«
Am meisten erregt war Lord Hastings; er schlug wiederholt auf
den Tisch, daß die Gläser umfielen, und erklärte diesen Tag für
den gesegnetsten seines Lebens.
Ein allgemeiner Tumult entstand. Jeder wollte sprechen, jeder
einen neuen Plan zum besten geben. Die beiden unzertrennlichen
Freunde, Charles Williams und Edgar Hendricks schwuren hoch
und heilig, als Weiber an Bord der ›Vesta‹ zu kommen, ein anderer schlug vor, den ›Amor‹ in den Grund zu bohren uud sich von
den Vestalinnen als Schiff brüchige aufnehmen zu lassen; Lord
Hastings fragte Harrlington, ob er Kanonen an Bord mitnehme,
wegen der Seeräuber, und wenn keine kommen sollten, würde er
eigens eine malayische Prau auf die ›Vesta‹ hetzen, um dann rettend eingreifen zu können.
»Aber,« unterbrach einer den Lärm, »wir wissen ja nicht, wo wir
die ›Vesta‹ treffen sollen!«
»Dafür ist gesorgt,« sagte Lord Harrlington geheimnisvoll. »Mir
wird stets ihr nächster Hafen bekannt sein, woher, darf ich nicht
verraten; ein Versprechen bindet meine Zunge. Doch lassen Sie
uns jetzt festsetzen, wer von den Herren mit meinem Vorschlage
einverstanden ist, ferner, wann wir abfahren wollen uud was für
Vorbereitungen notwendig sind!«
Nur ein einziges Mitglied schloß sich aus, alle übrigen siebenundzwanzig Herren waren bereit, sich acht Tage später von der
Insel Wight aus auf dem ›Amor‹ einzuschiffen.
Derselbe war eine Brigg, d. h. er hatte zwei Masten mit vollen
Raaen, aber außerdem, wie erwähnt, noch eine kleine Hilfsmaschine, um mit deren Kraft auch bei Windstille, sowie selbst gegen den Wind fahren zu können.
»Heute morgen verließ die »Vesta« unter flatternden Wimpeln
den Hafen,« las Harrlington.
Die ›Vesta‹ dagegen war ein Vollschiff, d. h. sie hatte drei Masten mit allen Raaen, war aber ohne Maschine.
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Es wurde ausgemacht, daß die Takelage des ›Amor‹ ebenso, wie
die der ›Vesta‹, von den Mitgliedern des Sportklubs bedient werden
sollte. Nur sollten noch sechs Leute mitgenommen werden, welche
die Maschine zu versorgen hatten und, wenn diese außer Dienst
war, die niederen Arbeiten für die Herren verrichten sollten. Außerdem ließ sich Lord Harrlington, welcher selbstverständlich die
Stelle des Kapitäns erhielt, durch seinen treuen Diener, einen Neger,
begleiten.
Als erster Steuermann wurde von den übrigen Mitgliedern einstimmig Lord Hastings gewählt, als zweiter John Davids, ein sehr
beliebter, thatkräftiger, junger Mann.
Erst spät in der Nacht trennten sich die Herren, um die letzten Tage in England zur Regelung ihrer Verhältnisse und zur Ausrüstung
für die Reise zu benutzen.
»Sie wohnen in meinem Hotel?« fragte Harrlington Lord Hastings. »Dann können Sie meinen Wagen benutzen.«
Als die Equipage durch die Straßen fuhr, begann plötzlich der
sonst sehr schweigsame Hastings:
»Apropos, Harrlington. Errang nicht, als wir beide vor zwei Jahren in New-York zur Regatta waren, jene Miß Ellen Petersen den
Sieg über Sie?«
Lord Harrlington nickte stumm.
»Alle wunderten sich damals, daß Ihre Kräfte im letzten Augenblicke nachließen, sodaß das Boot der Lady kurz vor dem Ziele an
dem Ihren vorbeischoß. Offen gestanden, es war eine starke Blamage für unseren Klub, von einem Weibe besiegt zu werden.«
Harrlington seufzte.
»Ihnen will ich es bekennen,« fügte er endlich, »daß ich mit Absicht meine Fahrt mäßigte.«
»Ah!« rief Hastings überrascht.
»Als ich sah, wie die schöne Ellen vor Eifer glühte, als die erste das
Ziel zu passieren, wie sie sich mit Macht in die Riemen legte, wie
sich ihr in engen Trikot gekleideter Körper graziös hin- und herbewegte, da hatte ich alles andere vergessen, und als ich ihr Frohlokken über mein Zurückbleiben in ihren lieblichen Zügen sah, gab ich
es auch auf, sie wieder einzuholen. Ich hätte ihr die Freude um alles
in der Welt nicht verderben mögen.«
Lord Hastings schwieg eine Weile.
»Man sagte damals,« begann er dann wieder, »Sie hätten um die
Hand der Siegerin angehalten und eine abschlägige Antwort bekommen?«
Eine Weile blieb Lord Harrlington die Entgegnung schuldig.
Dann streckte er plötzlich dem anderen die Hand entgegen und
rief im warmen Tone:
»Lord Hastings, Sie sind mein Freund!«
Der Ueberraschte schüttelte ihm herzhaft die dargebotene Rechte.
»Das weiß doch niemand besser, als Sie selbst, wenn ich auch meine Freundschaftsgefühle nicht so äußern kann, wie dies sonst in der
Gesellschaft Mode ist.«
»Ich weiß dies. Hören Sie denn: Ja, ich habe Miß Ellen meine Liebe gestanden und liebe sie noch jetzt, ohne Gegenneigung zu finden.
Aber bei allen Himmeln, jetzt ist die Zeit gekommen, wo ich sie mir
erringen werde! Mag sie noch so stolz, so kalt, so geringschätzend
von den Männern denken, während dieser Reise wird sie sehen, was
es heißt, einen Beschützer, treu bis zum Tode, zur Seite zu haben.
Und führe sie bis ans Ende der Welt, ich werde ihr folgen.«
Und ruhiger fuhr er fort:
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»Miß Ellen droht eine große Gefahr, von der sie selbst keine Ahnung hat; ihr Leben hängt an einem Haar. Lord Hastings, wollen
Sie mir beistehen, dieses junge Menschenleben, dem meine Liebe
gehört, zu beschützen?«
Wieder streckte er dem Freunde die Hand entgegen.
»Ich will,« sagte dieser einfach. »Doch wer sollte diesem unschuldigen Weibe verderblich gesinnt sein?«
»Noch kann ich es nicht sagen; es fehlen mir die Beweise, um
eine Person mit Namen zu nennen. Aber jedenfalls ist beschlossen
worden, sie während dieser Reise aus der Welt zu schaffen. Nicht ein
abenteuerliches Unternehmen hatte ich vor, als ich die Mitglieder
des Klubs zur Begleitung aufforderte. Eine Schar starker, mutiger
und thatkräftiger junger Leute wollte ich um mich haben, wenn
ich der ›Vesta‹ folgte. Mir ahnt, daß Sie nicht vergebens auf allerlei
Abenteuer warten werden; denn jene Schurken, welche der einzigen Erbin von unzähligen Reichtümern nach dem Leben trachten,
werden keine Mittel scheuen, ihren Zweck zu erreichen. Oft genug
werden wir Kämpfe gegen unbekannte Feinde zu bestehen haben.«
»Desto besser,« schmunzelte Lord Hastings und rieb sich die Fäuste, mit denen er Kieselsteine hätte zermalmen können.
Der Wagen hielt.
»Gute Nacht,« sagte auf dem Korridor des Hotels Lord Harrlington. »Wir sehen uns morgen früh nicht wieder, denn ich reise mit
dem ersten Zuge nach der Insel Wight. In acht Tagen treffen wir
uns alle dort.«
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A.S. der Unsichtbare
Kriminalroman von Edgar Wallace. Aus
dem Englischen von Ravi Ravendro
15. Fortsetzung und Schluss.
31
Es gab einen Mann, der diese Aussage von Hilda Masters lesen mußte, überlegte Andy. Seit einiger Zeit schon hatte er den Verdacht,
daß Mr. Salter mehr über seinen Freund Severn wußte, als er vorgab.
Er sandte ein Telegramm nach Beverley Hall und bat um eine
Unterredung. Als er nach Beverley Green zurückkam, erwartete
ihn dort eine Nachricht, daß er sofort kommen möge.
»Ich werde dich begleiten«, sagte Stella. »Ich kann ja solange in
deinem Wagen warten.«
Der vorsichtige Tilling schien ängstlicher denn je zu sein.
»Sie müssen sehr behutsam sein, Herr Doktor. Er hat schlecht
geschlafen, und der Arzt sagte zu Mr. Francis – das ist unser junger Herr –, daß jeden Augenblick mit einem Zusammenbruch zu
rechnen sei.«
»Ich danke Ihnen, ich werde es berücksichtigen.«
Als Andy in das Zimmer trat, fand er, daß Tilling nicht übertrieben hatte. Salters Gesicht sah grau aus, trotzdem begrüßte er den
Detektiv mit einem Lächeln.
»Sie wollen mir sicher mitteilen, daß Sie meinen Einbrecher gefunden haben«, meinte er. »Sie können sich die Mühe sparen – es
war Ihr Juwelendieb!«
Andy war darauf nicht vorbereitet.
»Ich fürchte, es ist so, aber ich glaube, daß er nicht in böser Absicht herkam. In Wirklichkeit war er hinter einem Verbrecher her,
der damals in Mr. Wilmots Haus einbrach.«
»Hat er ihn gefunden? Es soll doch ein geheimnisvoller Parkwächter sein?«
»Wie haben Sie denn das herausgebracht?«
Salter lachte, aber dann hatte er plötzlich Schmerzen. Andy sah
es, und es tat ihm leid. Mr. Salter hatte Herzbeschwerden.
»Ich möchte Ihnen nichts vormachen«, erwiderte Boyd Salter,
der sich über die Wirkung freute, die seine Worte hervorgerufen
hatten. »Scottie – das ist doch der Name dieses Menschen – verschwand am nächsten Tag, ebenso Miss Nelson. Sie verkehrte in
einem Haus in der Castle Street und pflegte dort jemand. Und wer
anders sollte das gewesen sein als Ihr wenig ehrenhafter Freund?«
Plötzlich erkannte Andy die Zusammenhänge.
»Das haben Sie natürlich von Downer!«
Salter nickte lächelnd.
»Aber wie kamen Sie denn auf den Parkwächter?«
»Das weiß ich auch von Downer und von einem gewissen Big
Martin, der auch ein Verbrecher ist.«
Andy war zu großzügig, um Downer die Bewunderung vorzuenthalten, die ihm gebührte.
»Ich werde Downer die Bearbeitung des Falles übergeben«, sagte
Andy. »Er ist der beste Spürhund.«
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Sprachraum
»Er kam«, begann Salter, »und ich mußte alle meine Parkwächter
rufen. Er fragte sie aus, und einer gab zu, daß er in der Küche war
– wir lassen nämlich Kakao für sie kochen, wenn sie Nachtdienst
haben – und das Haus etwa um die Zeit verließ, als Scottie ihn sah.
Soviel weiß ich. Aber welche Neuigkeiten bringen Sie?«
»Ich habe Hilda Masters gefunden.«
Mr. Salter schaute auf. »Hilda Masters? Wer ist denn das?«
»Sie besinnen sich sicher, daß in einem Geheimfach in Merrivans
Schlafzimmer ein Trauschein gefunden wurde?«
»Ja, er wurde auch in einer Zeitung erwähnt. Es war die Heiratsurkunde eines ehemaligen Dienstboten, die später von einer geisterhaften Erscheinung gestohlen wurde, von Ihnen Selim genannt.
War das der Name der Frau, auf die sich die Urkunde bezog? Und
Sie haben sie gefunden, wie Sie sagen?«
Andy nahm eine Kopie des Protokolls aus der Tasche und legte sie
vor den Friedensrichter.
Mr. Salter schaute lange darauf, bevor er seine Hornbrille aufsetzte
und zu lesen begann.
Er las sehr langsam, und es kam Andy vor, als ob er jedes Wort abschätzte. Einmal blätterte er zurück und las eine Seite noch einmal.
Fünf – zehn – fünfzehn Minuten verstrichen in tiefstem Schweigen.
Andy wurde ungeduldig, er dachte an Stella, die draußen im Wagen
wartete.
»Ach!« Mr. Salter legte das Manuskript wieder hin. »Der Geist,
der in diesem Tal umging, ist gebannt, Doktor Macleod.«
Andy verstand ihn nicht sofort. Mr. Salter sah seine Verwirrung
und kam ihm zu Hilfe.
»Ich meine Selim. Hier ist er, enthüllt in seiner ganzen Gemeinheit. Er verkaufte Seelen, brach Herzen, spielte mit dem Leben.« Er
tippte auf das Manuskript.
Andy entdeckte einen ungewöhnlichen Glanz in seinen Augen.
Salters Gesicht sah nicht mehr eingefallen aus, und die tiefen Falten
waren verschwunden. Er mußte eine geheime Klingel gedrückt haben, denn Tilling kam herein.
»Bringen Sie mir eine Flasche Portwein.« Als der Diener sich entfernt hatte, fuhr er fort: »Sie können sich beglückwünschen – Sie
haben einen größeren Sieg davongetragen, als wenn Sie Ihre Hand
auf die Schulter Albert Selims gelegt hätten. Wir müssen Ihren Erfolg feiern, Doktor.«
»Es tut mir leid, daß ich nicht länger bleiben kann – Miss Nelson
wartet draußen in meinem Wagen.«
Salter sprang auf, wurde blaß und setzte sich wieder.
»Das bedauere ich aber wirklich sehr«, sagte er atemlos. »Es ist
unverantwortlich von Ihnen, mir nichts davon mitgeteilt zu haben.
Bitte bringen Sie sie doch herein.«
Andy sagte zu Stella: »Die Nachricht, daß du im Wagen wartest,
hat ihn sehr mitgenommen. Er sieht sehr elend aus.«
Mr. Salter hatte sich inzwischen wieder etwas erholt. Er beobachtete Tilling, wie er den kostbaren Wein in die Gläser goß.
»Verzeihen Sie, wenn ich nicht aufstehe«, sagte Mr. Salter lächelnd,
als Stella mit Andy eintrat. »Sie also haben den Mann gepflegt, der
bei mir einbrach?«
»Hat Andy Ihnen das erzählt?« fragte sie bestürzt.
»Nein, Andy hat mir nichts davon gesagt. Aber Sie werden jetzt
ein Glas Portwein mit mir trinken, Miss Nelson. Nein? Das war
schon alter Wein, als Ihr Vater noch ein kleines Kind war.«
Er hob sein Glas und trank ihr zu.
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Sprachraum
»Was wird nun aus Miss Masters oder Mrs. Bonsor werden?«
»Sie wird wohl kaum in London bleiben. Sie hat ein schweres Verbrechen eingestanden – obwohl es schon so lange zurückliegt, daß
es verjährt ist. Aus gewissen Anzeichen könnte man fast schließen,
daß diese vielfach verheiratete Dame sich, zum viertenmal in das
Eheleben stürzen wird.«
Salter nickte.
»Die arme Frau«, meinte er. »Die arme, getäuschte Frau!«
Andy hatte nicht erwartet, bei Mr. Salter Sympathie für Mrs.
Crafton-Bonsor zu finden.
»Sie ist nicht besonders arm«, erwiderte er. »Scottie, der doch ein
Kenner ist, schätzt den Wert ihrer Juwelen auf mindestens hunderttausend Pfund. Außerdem hat sie große Besitzungen in den Vereinigten Staaten. Ich bin aber eigentlich gekommen, um mit Ihnen
über John Severn zu sprechen. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein
könnte? Ich bin fest überzeugt, daß Albert Selim diese Eheschließung zu seinem eigenen Vorteil ausnützte!«
»Das tat er. Selim teilte Severn mit, daß seine Frau gestorben sei.
Severn heiratete wieder und hatte, soviel ich weiß, Kinder. Selim
hatte die Beweise für seine frühere Bigamie in der Hand, wodurch
er große Summen von ihm erpreßte. Der Kontrakt, den Sie fanden,
war Schwindel. Selim hat meinem Freund keinen Pfennig gezahlt,
er hat nur eine alte Schuld getilgt. Das ist ja auch in der Aussage
von Mrs. Crafton-Bonsor angedeutet. Im Lauf der Jahre fand seine
Habgier immer neue Methoden, Severn zu quälen. Sie sehen, Doktor, daß ich offen bin. Ich wußte mehr über Severn, als ich Ihnen
damals mitteilte.«
»Daran habe ich nie gezweifelt«, sagte Andy lächelnd.
»Und Sie, Miss Nelson, sind nun auch eine große Sorge losgeworden. Aber auch Sie haben etwas dafür gefunden.«
Er schaute Andy an und dann Stella. »Es wird sich alles erfüllen,
wie ich hoffe.«
Bald darauf verabschiedeten sie sich.
Andy schlief den ganzen Nachmittag, und sobald es dunkel wurde, begab er sich auf seinen Wachtposten in das lange, leere Arbeitszimmer Mr. Merrivans. Die Nacht ging ohne Zwischenfall vorüber.
Kurz nach Tagesanbruch sah er Stella über den Rasen kommen. Sie
trug etwas in der Hand. Sie kam direkt auf das Haus zu und klopfte
zu seinem größten Erstaunen an.
»Ich habe dir etwas Kaffee und ein paar Brötchen gebracht, Andy.
Du Armer, du mußt doch entsetzlich müde sein.«
»Woher wußtest du denn, daß ich hier bin?«
»Das vermutete ich. Als du gestern abend nicht kamst, wußte ich,
daß du Geisterdienst hattest.«
»Du kluges Mädchen! Ich hatte es dir absichtlich nicht gesagt.«
»Hast du nicht wieder den schlimmsten Verdacht gehabt, als du
mich so früh am Morgen hierherkommen sahst?« Sie zog ihn am
Ohrläppchen. »Du hast doch nichts gesehen und gehört?«
»Nichts.«
Sie schaute den düsteren Gang entlang und schüttelte den Kopf.
»Ich möchte kein Detektiv sein. Andy, fürchtest du dich nicht
manchmal?«
»O doch, oft. Wenn ich zum Beispiel daran denke, wie ich es fertigbringen soll, dir ein Heim einzurichten, das gut genug für dich
ist –«
»Wir wollen ein wenig darüber plaudern«, sagte sie, und sie saßen
zusammen, bis die Sonne durch die Fenster schien. Sie sprachen von
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Häusern und Wohnungen und von den hohen Kosten, die man für
eine Einrichtung zahlen muß.
Es war Andy nichts von der schlaflosen Nacht anzusehen, als er
um elf Uhr im Metropolitan-Hotel stand. Er hatte noch mehrere
Punkte aufzuklären.
»Mrs. Crafton-Bonsor ist abgereist«, sagte der Empfangschef.
»Abgereist?« fragte Andy erstaunt. »Wann?«
»Gestern nachmittag, Sir. Sie und Professor Bellingham reisten
zusammen ab.«
»Hat sie auch das Gepäck schon mitgenommen?«
»Es ist alles fort.«
»Wissen Sie, wohin sie gereist ist?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung – sie sagte, sie wolle für
einige Tage an die See gehen.«
Das war eine Überraschung für Andy.
Er fuhr zur Castle Street, um vielleicht Scottie dort zu finden, aber
er traf nur den etwas verwirrten Mr. Martin an.
»Nein, Doktor Macleod, Scottie war nicht hier. Er ist seit drei
Tagen nicht mehr hiergewesen.«
»Hat er Ihnen denn keine Anweisungen hinterlassen, wie Sie diese
Diebsherberge bewirtschaften sollen?«
»Nein, Sir.« Big Martin sagte das aber in einem Ton, daß Andy
sofort wußte, er log. Es hatte keinen Zweck, ihn weiter auszufragen.
Andy fuhr nach Beverley Green zurück und legte sich schlafen.
Um neun Uhr abends ging er wieder in Merrivans Haus. Johnston
hatte einen bequemen Lehnsessel in das Arbeitszimmer gebracht. Er
war so weich, daß Andy mehrmals einschlief.
Das hat keinen Zweck, sagte er sich schließlich und ging zu dem
vorderen Fenster, öffnete es und ließ die frische Nachtluft hereinströmen.
Die Kirchturmuhr in Beverley schlug eins, und es war nichts von
dem nächtlichen Besucher zu sehen.
Er hatte den Riegel von dem hinteren Fenster zurückgezogen. Er
war sicher, daß der Fremde auf diesem Weg ins Haus gekommen
war, als Johnston ihn gesehen hatte.
Andy wartete. Jetzt schlug es zwei Uhr. Er saß wieder im Lehnsessel, und sein Kinn war auf die Brust gesunken. Er träumte von Stella
und Mrs. Crafton-Bonsor.
Aber dann hörte er plötzlich ein Geräusch und war sofort ganz
wach. Er schaute nach dem hinteren Fenster und sah, wie sich draußen eine dunkle Gestalt abhob. Die elektrische Leitung war auf seine Bitte hin wieder in Ordnung gebracht worden, und er schlich
sich leise zum Schalter. Der Mann öffnete langsam das Fenster und
gleich darauf hörte Andy Schritte im Zimmer. Aber er drehte das
Licht noch nicht an, er wartete noch. Plötzlich ertönte eine merkwürdige Stimme.
»Komm heraus, Albert Selim, du verfluchter Hund!«
Die Stimme klang unheimlich hohl in dem leeren Raum.
»Komm heraus!«
Andy drehte das Licht an.
Ein Mann in einem gelben Schlafrock stand, den Rücken dem offenen Fenster zugekehrt, im Zimmer. In seiner ausgestreckten Hand
hielt er eine lange Pistole, die er gegen einen unsichtbaren Feind
gerichtet hatte.
Es war Salter! Boyd Salter!
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Andy stockte der Atem. Dann war also Boyd Salter der kühle,
gewandte Mann, der ihn so lange und so geschickt getäuscht und
der seine Rolle so sicher gespielt hatte!
Seine Augen waren weit geöffnet und blickten starr ins Leere.
Er war nicht bei sich. Andrew hatte es gleich bemerkt, als er seine
undeutliche, mißtönende Stimme gehört hatte.
»Das ist für dich, du verdammter Schuft!«
Salter zischte diese Worte durch die Zähne, und Andy hörte, wie
die Pistole knackte. Dann sah er, wie Salter sich niederbeugte – zu
der Stelle, wo sie Merrivan gefunden hatten. Dann kniete er langsam nieder und seine Hände befühlten einen Körper, den er zu sehen meinte. Er sprach dauernd mit sich selbst.
Salter durchlebte das Verbrechen noch einmal. Nacht für Nacht
war er hergekommen. Es war unheimlich zu sehen, wie er das Pult
absuchte, das nicht dastand, wie er den Schrank aufschloß, der
längst entfernt war. Andrew beobachtete ihn genau. Jetzt steckte
der Mann ein Streichholz an und glaubte die Papiere zu entzünden,
die er seiner Meinung nach in den Kamin gelegt hatte. Dann blieb
er an der Stelle stehen, wo man den Brief gefunden hatte.
»Du wirst keine Briefe mehr schreiben, Merrivan, du verdammter
Kerl! Du wirst keine Briefe mehr unter meine Tür stecken – der war
wieder für mich bestimmt – wie?« Er wandte sich wieder dorthin,
wo die Leiche gelegen hatte. »Für mich?«‚ Seine Blicke schweiften
umher, und er schien etwas aufzuheben. »Ich muß den Schal des
Mädchens mitnehmen«, sagte er dann leise. »Arme Stella! Dieser
Teufel wird sie nicht mehr quälen. Ich will ihn mitnehmen.« Er
steckte seine Hand in die Tasche, als ob er etwas hineinstecken wollte. »Wenn sie ihn finden, denken sie, daß sie hier war, als ich ihn
niederschoß.«
Andrew folgte atemlos allen Bewegungen und Worten.
Nun war ihm plötzlich alles klar. Albert Selim und Merrivan waren ein und dieselbe Person, und der Drohbrief, der allem Anschein
nach an Merrivan gerichtet war, stammte von diesem selbst. So war
es! Merrivan wollte in der Nacht den Brief nach Beverley Hall bringen. Er hatte ihn geschrieben und zusammengefaltet, aber er hatte
keine Zeit mehr gehabt, einen Umschlag zu adressieren, bevor ihn
sein Schicksal ereilte.
Salter ging langsam durch den Raum und war ein paar Sekunden
später durch das Fenster verschwunden. Er schloß es hinter sich.
Gleich darauf war auch Andy im Garten und folgte dem Schlafwandler, der durch den Obstgarten ging. Plötzlich hörte er ihn wieder sprechen.
»Geh aus dem Weg, du verdammter Hund!«
Und wieder knackte der Pistolenhahn.
So war also Sweeny ums Leben gekommen! Sweeny war dort gewesen. Er hatte wahrscheinlich auch die Identität Selims mit Merrivan entdeckt und das Haus in jener Nacht beobachtet. Es war jetzt
alles so einfach. Merrivan hatte Salter erpreßt. Aber wer mochte
Severn sein – Severn, der Mann von Hilda Masters?
Er folgte Salter durch den Obstgarten, durch ein Tor in der Hecke.
Salter war nun auf seinem eigenen Grund und Boden und bewegte
sich weiter in jener merkwürdig behutsamen Art, die Schlafwandlern eigen ist. Andrew ließ ihn nicht aus dem Auge. Salter hielt sich
auf einem Pfad nach Spring Covert, bog plötzlich unvermittelt nach
links ab und überquerte die Wiese vor Beverley Hall.
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Kaum war er hier ein Dutzend Schritte gegangen, als plötzlich
ein heller Lichtschein aus dem Gras aufblitzte und eine Explosion
folgte. Salter taumelte vornüber und fiel zu Boden.
Andy war sofort an seiner Seite. Salter lag bewegungslos.
Andy machte seine Taschenlampe an und rief um Hilfe. Gleich
darauf antwortete ihm aus einiger Entfernung der Parkwächter
Madding, den er schon von früher her kannte.
»Was ist geschehen, Sir? Sie müssen sich in einem Draht verfangen
und einen Alarmschuß ausgelöst haben. Wir haben verschiedene
ausgelegt, um die Wilddiebe zu fangen ... Mein Gott«, rief er plötzlich erschrocken, »das ist ja Mr. Salter!«
Sie legten ihn auf den Rücken. Andy öffnete seine Pyjamajacke
und legte das Ohr auf seine Brust.
»Ich fürchte, er ist tot.«
»Tot?« fragte der Parkwächter erschrocken. »Es war aber doch keine scharfe Patrone in dem Selbstschuß!«
»Er ist durch die Explosion erwacht, und der Schreck hat ihn sicher getötet. Und es ist wohl gut, daß er auf diese Weise starb.«
*
Andy ließ sich müde auf einen Sessel in Nelsons Wohnzimmer
nieder.
Stella setzte sich neben ihn und legte ihre Hand auf seine Schulter.
Andy nahm einen Zeitungsausschnitt aus seiner Tasche.
»Das fand ich in Salters Geldschrank. Sein Sohn hatte es ruhig
aufgenommen. Man erwartete ja ein solches Ende. Er wußte, daß
sein Vater Schlafwandler war, er hatte den Schmutz an seinem Pyjama entdeckt und hielt infolgedessen die Tür bewacht. Aber das alte
Haus hat ein halbes Dutzend geheimer Wendeltreppen, und er ist
jedesmal entkommen. Was hältst du davon?«
Sie las den Zeitungsausschnitt. Er war aus der ›Times‹.
*
›In Übereinstimmung mit den Anordnungen des Testaments des
verstorbenen Mr. Philipp Boyd Salter wird sein Neffe, Mr. John Severn, der einzige Erbe seines Onkel, den Namen und Titel John
Boyd Salter führen. Eine diesbezügliche gerichtliche Erklärung erscheint in den amtlichen Bekanntmachungen dieser Nummer auf
Seite 8.<
»Hier haben wir also die Aufklärung. Severn und Boyd Salter waren ein und dieselbe Person. Wenn ich so vernünftig gewesen wäre,
das Testament des Onkels nachzusehen, hätte ich das schon vor einem Monat wissen können. Er ist als ein glücklicher Mann gestorben. Seit Jahren hatte er unter dem Druck seiner Schuld und der Erpressungen Selims gelebt. Durch Merrivans Verrat hätte sein Sohn
den Titel und das Vermögen verloren, die nur an einen rechtmäßigen Erben übergehen können. Aus der Aussage von Hilda Masters
– sie hat übrigens vor ihrer Abreise Scottie tatsächlich geheiratet –
ging ja die Rechtmäßigkeit seiner Ehe mit der Mutter seines Sohnes
deutlich hervor. Merrivan war der größte Schrecken für seine Mitmenschen. Um die Zukunft seines Sohnes sicherzustellen, tötete ihn
Salter. Aus demselben Grund drang er, als Parkwächter verkleidet,
in Wilmots Haus ein, stahl den Trauschein und verbrannte ihn.«
»Woher wußte er, daß das Dokument dort zu finden war?«
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Sprachraum
»Downer verriet doch die Sache in dem Artikel, den er über uns
schrieb.«
»Und was wird nun. aus Selims großem Vermögen? Fällt es an
Artur Wilmot?«
»Nein, an Mrs. Bellingham. Es ist beinahe tragisch.«
Sie lachte und legte ihren Arm um seinen Nacken.
»Scottie ist doch eigentlich sehr geschickt«, meinte sie.
»Ja, aber wie kommst du gerade jetzt darauf?«
»Denk doch daran, wie schnell er sich – die Heiratspapiere beschaff t hat –«
Eine Woche später erfuhr Mr. Downer eine Neuigkeit. Er war
weder betrübt noch erfreut darüber, denn er war in erster Linie Geschäftsmann, und Hochzeiten und Morde hatten für ihn denselben
Wert. Er rief sofort das ›Megaphone‹ an und sprach mit dem Chefredakteur.
»Haben Sie schon gehört, daß Macleod Miss Nelson geheiratet
hat? Ich könnte Ihnen darüber eine Spalte schreiben und die ganze
interessante Vorgeschichte dieser Ehe berichten – ja, ein Bild von ihr
kann ich auch beschaffen. Wie? Zwei Spalten? Geht in Ordnung!«
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Prudenci Bertrana:
Josafat oder Josafat oder Unsere Liebe Frau von der Sünde
86 Seiten 14,8 x 21,0 cm;
ISBN: 978-3-943672-20-6
11,00 EUR (D)
auch als E-Book erhältlich.
Jürgen Buchmann:
Lüneburger Trilogie.
96 Seiten; 14,8 x 21 cm;
ISBN: 978-3-943672-09-1
10.00 EUR (D)
Auch als E-Book erhältlich.
Uwe Saeger:
Ein Mensch von heute
92 Seiten; 14,8 x 21 cm
ISBN: 978-3-943672-17-6
10,00 EUR (D)
(Auch als E-Book erhältlich.)
Angelika Janz:
tEXt bILd. Ausgewählte Werke 1: Visuelle Arbeiten und
Essays
120 Seiten; 14,8 x 21 cm; 11,95 EUR (D)
ISBN: 978-3-943672-09-1
11,95 EUR (D)