Setting of a Drama - Hochschule Bochum
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Setting of a Drama - Hochschule Bochum
Titel November 2:Layout 1 19.10.2010 17:25 Uhr Seite 1 „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje malawi CROSSING BORDERS – VON SEE ZU SEE EINE KOOPERATION DES THEATER KONSTANZ MIT NANZIKAMBE ARTS IN BLANTYRE, MALAWI NKHATA BAY (AT) (UA) REGIE UND STÜCKENTWICKLUNG CLEMENS BECHTEL 02.2011 THEATER KONSTANZ 07.2011 GASTSPIEL IN MALAWI NANZIKAMBE ARTS (UA) 06.2011 GASTSPIEL IN KONSTANZ A NEW DIVISED PLAY (UA) GEMEINSAME INSZENIERUNG DES THEATER KONSTANZ UND NANZIKAMBE ARTS 06.2012 IN KONSTANZ 07.2012 IN BLANTYRE, MALAWI GEFÖRDERT IM FONDS WANDERLUST DER MIT UNTERSTÜTZUNG DES GOETHE-INSTITUT VERBINDUNGSBÜROS MALAWI Theater der Zeit EUR 7 / CHF 14 / www.theaterderzeit.de November 2010 · Heft Nr. 11 Setting of a Drama Bühneninstallationen von Bert Neumann togo EN ATTENDANT GODOT SAMUEL BECKETT EIN PROJEKT DES THEATER KONSTANZ IN ZUSAMMENARBEIT MIT LA COMPAGNIE LOUXOR DE LOMÉ 2010 IN LOMÉ, TOGO 2011 IN KONSTANZ THEATER KONSTANZ INTENDANT PROF. DR. CHRISTOPH NIX INSELGASSE 2-6, 78462 KONSTANZ WWW.THEATERKONSTANZ.DE Theater der Zeit November 2010 konstanz FOTO © SPIECKERMANN GEFÖRDERT IM RAHMEN DER AKTION AFRIKA DES AUSWÄRTIGEN AMTES Neues deutsches Theater Wer ist wir? Gespräch Shermin Langhoff, Azadeh Sharifi, Nuran David Calis, Stefan Kaegi Gintersdorfer / Klaßen und Heimathafen Neukölln im Porträt Stück „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje Titel November 2:Layout 1 19.10.2010 17:25 Uhr Seite 2 Editorial November 2010 Künstlerinsert: Bert Neumann Seite 2 und 4 / 5: Ausstellungsansichten „Bert Neumann – Setting of a Drama“, Augarten Contemporary Wien 2010 S. 3 oben: Setfoto von „Cinecittà Aperta“ von René Pollesch, Mülheim an der Ruhr 2009 unten: Setfoto von „Der perfekte Tag“ von René Pollesch, Mülheim an der Ruhr 2010. Fotos Bert Neumann Nachdem Thilo Sarrazin eine weitere Debatte zum Thema Migration losgetreten hat, bauen Seehofer, Merkel und andere die Leitkultur bereitwillig als Drohkulisse auf. Mit der Pistole am Kopf Schillers ästhetische Erziehung in die Migrantenhirne trichtern, bis sie platzen – so schildert es provokant der 1974 in Ankara geborene Autor Nurkan Erpulat in seinem gemeinsam mit Jens Hillje entstandenen Stück „Verrücktes Blut“, einer Bearbeitung des französischen Films „La journée de la jupe“ für die Bühne (siehe Stückabdruck in diesem Heft). Nicht die Pädagogik, sondern das Theater ist gefordert, das Wort zu ergreifen, bringt Shermin Langhoff, künstlerische Leiterin des Ballhauses Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg, die politische Situation auf den Punkt: „Das Theater muss diese Debatte anführen!“ Der Autor und Regisseur Nuran David Calis, Stefan Kaegi von Rimini Protokoll und die Kulturwissenschaftlerin Azadeh Sharifi diskutierten mit ihr, wie die Prägung der „neuen Deutschen“ in das Theater eingebracht werden kann und warum sich die subventionierten Bühnen so schwertun, die von Migranten aufgebrachten Steuergelder in das brisante Thema zu investieren. Aber dass sich im Deutschland der dritten Generation etwas verschiebt, ist unabweisbar. Das zeigt auch der Heimathafen Neukölln, eine weitere Berliner Bühne, die nicht nur Postmigranten ins Theater holt, sondern auch Studenten, Bildungsbürger und jene Schichten, die gern als theaterfern beschrieben werden. Jemand, der seit einiger Zeit und mit immer größerem Erfolg frischen afrikanischen Wind in die Szene bringt, ist das Regieduo Monika Gintersdorfer/Knut Klaßen. Die ersten Preisträger des vom Fonds Darstellende Künste ausgelobten George-TaboriPreises porträtiert Renate Klett. Auch der neue Intendant der Münchner Kammerspiele Johan Simons eröffnet Aussichten, die über den binnenländischen Tellerrand hinausweisen. Wie das europäische Theater in die bayrische Hauptstadt einzieht, berichtet Christoph Leibold. Der Verantwortliche für die Raumgestaltung bei den Kammerspielen ist Bert Neumann, dem sich das Künstlerinsert dieser Ausgabe widmet. Ute Müller-Tischler sprach mit dem Künstler, für den das zentrale Kriterium ist, sich nicht zu langweilen, nicht mit dem eigenen Tun in Routine zu verfallen. Davon kann auch im Theater Osnabrück keine Rede sein. Schon länger kooperiert das Theater unter der Intendanz von Holger Schultze mit den Kollegen im bulgarischen Russe. Doch in diesem Jahr schrillen die Alarmglocken. Der Regierungswechsel in Bulgarien hat es in sich: Im Kulturbereich wird radikal gespart, erfahrene Intendanten müssen dem Gründer einer Business School weichen, der das richtige Parteibuch besitzt, weiß Dorte Lena Eilers zu berichten. Holger Schultze wendete sich sofort an den Deutschen Bühnenverein, der prompt an die Öffentlichkeit ging: „Wir fordern das Kulturministerium und die Regierung in Sofia auf, den drastischen Kulturabbau sofort zu stoppen!“ Theaterrodungen werden jedoch nicht nur in Bulgarien durchgeführt, auch in Mecklenburg-Vorpommern will die Politik jenen Gesellschaftsvertrag mit dem Theater aufkündigen, der es verpflichtet, die Angelegenheiten der Gemeinschaft künstlerisch zu verhandeln, erfuhr Gunnar Decker vor Ort. Dass Theater wie Kunst ihren wesentlichen Impuls aus dem Unabgegoltenen nehmen, das resümiert Sebastian Kirsch in seiner Besprechung von Dimiter Gotscheffs und Mark Lammerts Übermalung von Godards „La Chinoise“: „Ohne den Bezug bleibt nichts als eine gelbe Horizontale.“ Mit dem Erlöschen des Sterns der Utopie hat vornehmlich das Theater als gesellschaftliche Kunst viele seiner Markierungen verloren. Das hindert die Geschichte nicht daran, weitere enorme Umbrüche vorzunehmen. Die Frage ist nur: Hat das Theater die Kraft, daran zu partizipieren, oder will es mit „Hamlet“ angesichts der Vergeblichkeit in Lethargie verfallen? Mehr, als das labyrinthisch verschachtelte Sein des Menschen immer neu ver- und auszumessen, kann und darf selbst das Theater nicht leisten. Die Redaktion S. 8: Der Bühnenbildner Bert Neumann über die Rückeroberung des öffentlichen Raumes Inhalt S. 12: Die Münchner Kammerspiele werden unter Johan Simons zum Transitraum für Heimatlose S. 15: Neues deutsches Theater I: Shermin Langhoff, Azadeh Sharifi, Nuran David Calis und Stefan Kaegi im Gespräch S. 21: TdZ entdeckt: Die Stücke der Autorin Marianna Salzmann NOVEMBER 2010 KÜNSTLERINSERT PORTRÄT 2 Setting of a Drama Bühneninstallationen von Bert Neumann Ute Müller-Tischler 8 Der Raum muss ein Geheimnis haben Der Bühnenbildner Bert Neumann über die Rückeroberung des öffentlichen Raumes Christoph Leibold NEUSTART 12 Ein großer Haufen Einsamkeit Johan Simons verwandelt die Münchner Kammerspiele in einen Transitraum für Heimatlose, Hartz-IVler und Hunde S. 16 Frank Raddatz und Lena Schneider DEBATTE 15 Neues deutsches Theater I: Eine Welt und tausend Blicke Der Dramatiker Nuran David Calis, der Biografiensammler Stefan Kaegi, die Theaterleiterin Shermin Langhoff und die Kulturwissenschaftlerin Azadeh Sharifi im Gespräch Lena Schneider 20 Neues deutsches Theater II: Von Elefanten und anderen Palaststürmern Alle Welt redet von Integration – der Berliner Heimathafen Neukölln lebt sie. Und schreckt dabei auch vor sperrigen Randgruppen wie Studenten und Bildungsbürgern nicht zurück Renate Klett PORTRÄT 23 Othello, wer ist das? Fragt sich Monika Gintersdorfer – und spielt in ihren Performances gemeinsam mit Kollaborateur Knut Klaßen Afrika und Europa beschwingt gegeneinander aus Sebastian Kirsch AKTUELLE INSZENIERUNG 26 König entartet, Kinder krank Dimiter Gotscheff und Mark Lammert übermalen an der Volksbühne Godards „La Chinoise“ Friederike Felbeck TDZ ENTDECKT 28 Musik ist kein Geschmacksverstärker Die wundersamen Klangwelten des Komponisten, Musikers, Sounddesigners und Performers Kornelius Heidebrecht Mehdi Moradpour Sardehaie 29 Heimat ist ein Gefühl Die Stücke der Autorin Marianna Salzmann sind Plädoyers für die Komplexität des Menschen S. 28 Nicole Gronemeyer HOCHSCHULEN 30 Käuzchenrufe und Ku-Klux-Kandy DasArts in Amsterdam will für seine Studenten vor allem künstlerisches Labor sein – fern von Produktionszwängen und Spartendenken S. 23: Othello, wer ist das? – fragt sich Monika Gintersdorfer S. 26: Dimiter Gotscheff und Mark Lammert übermalen an der Volksbühne Godards „La Chinoise“ S. 30: DasArts in Amsterdam will vor allem künstlerisches Labor sein S. 32: Wie das Theater Neubrandenburg / Neustrelitz um seine künstlerische Identität ringt Gunnar Decker HAUSPORTRÄT 32 Spielen unterm Damoklesschwert Wie das Theater Neubrandenburg/Neustrelitz mit der drohenden Kreisgebietsreform um seine künstlerische Identität ringt Dorte Lena Eilers AUSLAND 34 Blindflüge Bulgarien versucht, sich Richtung Europa zu reformieren – und lässt dabei die Kultur auf der Strecke. Ein Reisebericht AUFTRITT 38 S. 34 Stuttgart Der Saisonstart des Staatsschauspiels lässt Bezüge zu aktuellen Konflikten nur optional mitschwingen (Otto Paul Burkhardt) Berlin Katie Mitchells „Fräulein Julie“ an der Schaubühne macht den Blick der Köchin stark (Gunnar Decker) Wien Mit der Uraufführung „Bruno Schulz: Der Messias“ von Małgorzata Sikorska-Miszczuk feiert Michał Zadara am Schauspielhaus die Unmöglichkeit der Vollkommenheit (Judith Staudinger) Mainz Am Staatstheater gibt Philipp Löhle mit der Uraufführung „Gegengipfel“ von Laura Fernández sein Regiedebut (Markus Hladek) Plauen/Zwickau Am Theater Plauen-Zwickau versucht Roland May Christian Martins „Schneemond“ mit Realismus zu bezwingen (Christian Horn) Konstanz Andrej Worons „Woyzeck“ überdeckt individuelle Tragik mit der Übermacht der Musik (Bianca Schillinger / Anna Schughart) Zürich Lothar Kittsteins Kriegsstück „Haus des Friedens“ am Theater an der Winkelwiese verlagert seinen Konflikt in die Köpfe der Zuschauer (Simone von Büren) LESARTEN 46 Jean-Paul Sartre: „Geschlossene Gesellschaft“ gelesen von Gunnar Decker KOLUMNE 47 Ein Unding der Liebe von Ralph Hammerthaler AUTORENGESPRÄCH 48 Menschen zu besseren Menschen machen Der Autor und Regisseur Nurkan Erpulat im Gespräch mit Patrick Wildermann STÜCK MAGAZIN RADIOVORSCHAU LINZERS ECK (29) 49 Nurkan Erpulat und Jens Hillje „Verrücktes Blut“ 62 Flanieren zwischen Orten und Ländern – „Ciudades Paralelas / Parallele Städte“: Das Berliner Hebbel am Ufer als Ausgangspunkt für einen Parcours auf Reisen, Auch wenn das Leben danebengeht – Das 7. GlückAufFest „Dostoprimetschatelnosti“ der Neuen Bühne Senftenberg, Was sonst nicht gehört wird – „King Kongo – Eine skandalöse postkoloniale Revue“ erzählt auf dem Festival Fidena 2010 in Bochum vom schweren Erbe eines Landes, Bücher – „Regie: Ruth Berghaus. Geschichten aus der Produktion“ (Rotbuch 2010) und „Penelope Wehrli: raum partituren. Ich wohne in der Möglichkeit“ (Benteli Verlag 2010) 68 69 Ich stelle den Antrag, die Demonstration zu beantragen oder Wie es zum 4. November 1989 kam. Eine Buchempfehlung von Martin Linzer KORRESPONDENTEN MELDUNGEN PREMIERENKALENDER IMPRESSUM KOMMENTAR VORSCHAU 71 72 73 November 2010 79 80 Halle: Aussitzen ist out von Christian Horn 80 Titelfoto: Bert Neumann. Foto LSD/Lenore Blievernicht Der Raum muss ein Geheimnis haben Der Bühnenbildner Bert Neumann über den Reiz des Flüchtigen, künstlerische Freiheit und die Rückeroberung des öffentlichen Raumes im Gespräch mit Ute Müller-Tischler H err Neumann, Sie arbeiten mit dem Widerstand, typische Theaterraumarchitektur interessiert Sie nicht. Wesentliche Elemente Ihrer Bühnen sind Filmbilder, temporäre Architektur und die Übertragung von realen Kontexten in den Theaterraum. Wie lange lässt sich dieses ästhetische Prinzip reproduzieren, ohne dass Sie sich selbst langweilen? Sich selbst nicht zu langweilen, finde ich ein wesentliches Kriterium. Etwas zu wiederholen, das man schon mal gemacht hat, also sich routiniert ausschließlich der Mittel zu bedienen, die man kennt, würde mich langweilen. Aber natürlich ist die Entscheidung für bestimmte Mittel ein Prozess, man ist da auf einem Weg, auf der Suche, die notwendigerweise auch Elemente einschließt, mit denen man schon mal gearbeitet hat. Zum Beispiel diese weißen Monoblockstühle, die immer mal wieder in meinen Arbeiten auftauchen: Einerseits erzählen sie von sich aus eine Geschichte, die mich interessiert. Es gibt kaum Produkte, die so konsequent sind wie diese Stühle. Und sie sind wirklich global, die findet man überall auf der Welt. Andererseits sind sie konkurrenzlos billig, und man muss nicht traurig sein, wenn sie auf der Bühne kaputtgehen. Also gibt es gute Gründe, diese Stühle in verschiedenen Kontexten zu benutzen. Andere Mittel, wie zum Beispiel die Container von „Berlin Alexanderplatz“, würden mich heute auf der Bühne nicht mehr interessieren. Das Thema ist für mich mit dieser Inszenierung zu Ende erzählt, obwohl mir das immer noch viele Leute zuschreiben nach dem Motto: „Neumann, das ist doch der mit den Containern.“ Fotoprojekt in Anatolien 2008 PORTRÄT Sie verstehen sich als bildender Künstler, haben zweimal an der Berlin Biennale teilgenommen und am PS1 in New York ausgestellt. Was bedeutet das für Ihre Arbeit im Theater? Ja, ich verstehe mich als bildender Künstler, der am Theater arbeitet. Mir ist da nicht der Titel wichtig, sondern die künstlerische Freiheit, ohne die kann ich nicht arbeiten. Dass man meine Arbeit auch im Kunstkontext wahrnimmt, finde ich natürlich erfreulich. Allerdings sind die Räume, die ich baue, nicht zur reinen Betrachtung gedacht. Sie lösen sich erst durch Benutzung, durchs Bewohnen ein. Deshalb benutze ich gern den Begriff „temporäre Architektur“ für meine Bühnenbilder. Im Unterschied zur realen Architektur sind meine Räume flüchtig, wenn eine Inszenierung abgespielt ist, wird alles verschrottet oder recycelt. Der anachronistische Ewigkeitsanspruch, der immer noch an reale Architektur gestellt wird, um Sicherheit und Kontinuität zu suggerieren, entfällt. Und ich muss keine Bauvorschriften einhalten, jedenfalls nicht so viele wie ein Architekt. Der Raum für die Berlin Biennale war eigentlich auch ein Recycling aus Teilen der „Neustadt“, die als Bar, Kino und Bühne benutzt wurden. Als mich die Kuratorin vom Belvedere gefragt hat, ob ich Lust hätte, eine Ausstellung im Augarten-Atelier zu machen, habe ich mir natürlich Gedanken gemacht, was ich da eigentlich ausstellen soll. Die Räume waren schon groß, aber nicht so groß, dass da ein Bühnenbild von mir reingepasst hätte. Und dann hätten ja auch die Schauspieler und die Inszenierung gefehlt. Und andererseits gibt es eigentlich kein adäquates Medium, eine Theaterinszenierung abzubilden. Also habe ich darauf komplett verzichtet und das gemacht, was ich auch am Theater mache: einen Raum bauen, diesmal nicht für Schauspieler, sondern für Besucher einer Ausstellung, die aber nicht nur Betrachter, sondern gleichzeitig Darsteller sein sollten, indem sie sich in dem Setting bewegen. Und ich habe Leute eingeladen, den Raum zu bespielen, zum Beispiel die „Pradler Ritterspiele“ aus Wien und Peter von „Peters Operncafé“, der seine alten Originalaufnahmen von Opernarien gespielt hat, und die Berliner Band Freddy Famous, die die Ausstellung als Probenraum und Bühne für ein Konzert benutzt hat. Das war spannend zu beobachten, wie sich die Räume durch die unterschiedliche Musik verwandelt haben. Während der Wiener Festwochen haben Sie Ihre Ausstellung „Setting of a Drama“ gezeigt. Zeit für Bilanz und Neuanfang? An der Berliner Volksbühne waren Sie mit Ihren rebellischen Bühnen und Rauminstallationen sehr erfolgreich. Die Inszenierungen von Frank Castorf und René Pollesch sind ohne den extremen Ausnahmezustand und Ihre radikale Dekonstruktion von Erwartungsmustern undenkbar. Mit Ihrem Anspruch auf künstlerische Freiheit haben Sie das Selbstverständnis der Volksbühne geprägt und eine Art Gesamtkunstwerk entworfen, von dem sie lange profitiert hat. Hat sich Ihr gestalterischer Einfluss auf die Volksbühne verändert? Die Volksbühne ist nach wie vor meine künstlerische Heimat, trotz oder vielleicht auch wegen ihrer Verwerfungen, Untiefen und Abgründe. Meine Art, Verantwortung für das ganze Projekt Volksbühne zu übernehmen, war immer bildkünstlerischer Natur. Verantwortung übernehmen heißt für mich aber auch Freiheit der eigenen Entscheidung, ohne dass mir irgendwelche Höflinge dazwischenfunken mit ihrem Privatgeschmack, nach dem Motto: „Die Farbe gefällt mir nicht, kann das statt gelb nicht grün sein.“ Ich glaube nicht daran, dass Sachen besser werden, wenn selbsternannte Kunstrichter Einfluss nehmen wollen. Das heißt nicht, dass ich gegen kollektive Arbeit bin, ganz im Gegenteil. In unserem Grafikbüro LSD waren wir ja immer mindestens zu dritt, und wenn mir der Grafiker sagt: „Das, was du dir da ausgedacht hast, haut so nicht hin“, dann weiß ich, dass er das ausprobiert hat, und ich akzeptiere seine Fachkompetenz. Dann sucht man gemeinsam einen neuen Weg. Ich finde, Zusammenarbeit geht nur mit Respekt, und das heißt auch, Fachkompetenz zu akzeptieren. Kollektive Kunstproduktion kann nur fruchtbar sein, wenn jeder Einzelne seinen Freiraum hat. Das ist ja das Besondere an Theaterarbeit, dass da verschiedene Künstler an einem Projekt arbeiten und dadurch im besten Fall Kunst entsteht, die über das, was jeder Einzelne hätte machen können, hinausgeht. Mein Bestehen auf einer Arbeitsweise, die Eigenverantwortung und künstlerische 9 befragen, hat mich ja in den letzten Jahren zunehmend interessiert. Bühnenbild zu „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth, Utrecht 2009 Freiheit beinhaltet, fand die Geschäftsleitung der Volksbühne irgendwann nicht mehr akzeptabel. Deshalb macht seit zwei Jahren eine Werbeagentur die Plakate für die Volksbühne. Leider sieht man denen auch den trainierten Gehorsam an, das Dienstleistungsmäßige. Risikovermeidung ist tödlich für Kunst. In der neuen Spielzeit arbeiten Sie mit dem Intendanten Johan Simons an den Münchner Kammerspielen. Sie haben für ihn auch das gesamte Erscheinungsbild des Theaters neu entworfen. Wir arbeiten ja schon seit Jahren zusammen, und als Johan Simons mich gefragt hat, ob ich mich um die Entwicklung neuer Spielräume kümmern und mit der Architektur der Kammerspiele beschäftigen möchte, fand ich das eine reizvolle Aufgabe. Das Verhältnis von Zuschauerraum und Bühne immer wieder neu zu 10 Sie haben dort die Theaterräume anders definiert. Was haben Sie verändert? In der Vergangenheit habe ich ja immer im Schauspielhaus der Kammerspiele gearbeitet, also in einer klassischen Guckkastenbühne. Die Trennung von Zuschauerraum und Bühne ist hier architektonisch festgeschrieben. Um andere Theaterformen möglich zu machen, entstand die Idee, die ehemalige Probebühne 1 zum Theaterraum, der Spielhalle, umzubauen. Hier gibt es einen Zugang von der Straße, und die bisher nutzlose Glasfassade hat jetzt dadurch einen Sinn bekommen, dass der dahinter sichtbare Raum als Foyer dient. Bei der Eröffnung war es schön zu beobachten, wie durch meine Lichtinstallation – die Brücken über die Straße sind mit Hunderten kleiner Lampen bestückt, die wie eine grob gerasterte LEDWand funktionieren – und die neue Nutzung der Räume durch die Besucher ein belebter Ort zwischen dem Blauen Haus und der Spielhalle entstanden ist, der die Straße mit einschließt. Dass in der Spielhalle im Unterschied zum Schauspielhaus en suite gespielt wird, gab mir die Möglichkeit, mit Materialien zu arbeiten, die im Repertoirebetrieb mit seiner Notwendigkeit des täglichen Auf- und Abbaus nicht möglich gewesen wären. Ich habe zum Beispiel Öffnungen mit Ziegelsteinen zumauern lassen. Und es gibt kein Portal und keine festgelegte Trennung von Spielfläche und Zuschauerraum. Das heißt, der Raum und die Perspektive der Zuschauer wird sich mit jedem neuen Projekt verändern können. Ihre Arbeit als Bühnenbildner in München wird sich vor allem auf den Werkraum konzentrieren. Er erhält den Charakter eines Discoballrooms. Warum der Return in die siebziger und achtziger Jahre? Der Eindruck täuscht. Tatsächlich wird der Werkraum von mir neu gestaltet, ich wollte, dass man den Raum wieder in seiner eigentliTdZ · November 2010 chen Gestalt erleben kann, und habe deshalb die fest eingebaute Zuschauertribüne abbauen lassen und dem Raum ein Gesicht für die neue Spielzeit gegeben. In dem Setting werden dann verschiedene Regisseure arbeiten. Das mit dem Discoballroom ist eine Lesart, die die Dramaturgie veröffentlicht hat. Im Vorfeld hat mich tatsächlich die Münchner Szene der Siebziger und Achtziger interessiert, nicht nur wegen der großen Namen wie Rainer Werner Fassbinder oder Herbert Achternbusch oder Freddy Mercury, sondern weil es offenbar eine Zeit war, in der in München vieles möglich war. Disco war ja in den Anfängen auch eine emanzipatorische Bewegung. Aber der Raum soll nicht eindimensional nur Disco sein. Amphitheater vor der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin 2009. Alle Fotos Bert Neumann Disco ist bis heute ein ungemein schillerndes, glamouröses Phänomen geblieben, das Underground und Mainstream immer wieder beeinflusst hat. Atmosphärisch steckt da für mich auch viel Bert Neumann drin. Das stimmt, mich fasziniert diese Mischung aus Glamour und Schäbigkeit, diese grellen Netzhautreize durch Licht und Flitter und die unverhohlene Täuschung, die man auch auf dem Rummelplatz findet. Das sind Elemente, die ich auch benutze, indem ich sie im Kontrast zu anderen Mitteln einsetze. Diese Mischung ist mir wichtig. Und der Raum muss ein Geheimnis haben. Wenn er sich auf Anhieb erschließt, finde ich das langweilig. Der neue Werkraum könnte auch genauso gut eine Varietébühne, ein Striplokal oder ein Raum sein, den man geträumt hat. Simons will nächstes Jahr in zwei Produktionen auch den Münchener Stadtraum mit einbeziehen. Während Schorsch Kamerun eine Parade der Vorstädte auf der Maximilianstraße organisiert, wird Johan Simons „Die Perser“ als site-specific theatre inszenieren. Sie selbst sind immer wieder fasziniert vom Außenraum. Welche Bilder sehen Sie im öffentlichen Raum? Die Möglichkeit, außerhalb der sicheren Mauern des Theaters, außerhalb der sicheren Absprachen zu arbeiten, liebe ich sehr. Bei der Entstehung der Art von Theater, die mir gefällt, spielt Zufall eine große Rolle. Den kann man sich auch auf der Bühne des Theaters organisieren, aber draußen wimmelt es eben von Zufällen: Wind, Wolken, das Licht, Passanten, die vorbeikommen, Straßenbahnen usw., Dinge, auf die man reagieren muss, die einen überraschen. Und auch provozieren? Die „Rollenden Road-Shows“ der Volksbühne sind legendäre Open-Air-Inszenierungen, die alle Beteiligten in den Zustand des Unvorhersehbaren und des Risikos versetzen. Für René Polleschs „Perfekten Tag“ haben Sie in Mülheim eine Zirkuswelt in der Stadt aufgebaut und öffentlichen Raum reklamiert. Leider kann man in den letzten Jahren die Tendenz beobachten, dass es aufgrund der Überregulierung des Stadtlebens immer weniger möglich ist, im öffentlichen Raum zu arbeiten. Ich finde, das ist eine ungute Entwicklung. Öffentliches Leben verschwindet immer mehr; dagegen anzuspielen halte ich für wichtig. Bert Neumann TdZ · November 2010 Foto LSD / Lenore Blievernicht wurde 1960 in Magdeburg geboren und wuchs in Ost-Berlin auf. Seit 1992 ist er Chefbühnenbildner an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, deren gesamtes Erscheinungsbild er mit dem Künstlerkollektiv LSD bis 2008 maßgeblich geprägt hat. Seine Bühnenbilder am Haus, die für Inszenierungen von Frank Castorf und René Pollesch entstanden, ebenso wie seine Arbeiten mit anderen Regisseuren wie Johan Simons, Peter Konwitschny oder Jossi Wieler sorgten für besonderes Aufsehen. Neben Berlin arbeitete er auch in Wien, München, Stuttgart, Warschau, Amsterdam, Sofia, Moskau und Paris. Er gilt als einer der wichtigsten Bühnenbildner im deutschsprachigen Raum und erhielt für sein Schaffen zahlreiche Preise, wie z.B. die Kainz-Medaille und den Berliner Theaterpreis der Stiftung Preußische Seehandlung. Während der Wiener Festwochen 2010 widmete die Kunsthalle Augarten Contemporary Wien Bert Neumann die dreimonatige Ausstellung „Setting of a Drama“. 11 Ein großer E Johan Simons verwandelt zu Beginn seiner Intendanz die Münchner Kammerspiele in einen Transitraum für Heimatlose, Hartz-IVler und Hunde von Christoph Leibold 12 in staubiger, mit rotbraunen Tonkacheln ausgelegter Weg durchzieht die Spielhalle in voller Länge. Die Zuschauer in der neuen Spielstätte der Münchner Kammerspiele (ein hoher Raum mit weißen Klinkerwänden im Probengebäude) sitzen zu beiden Seiten dieses Weges auf ansteigenden Tribünen, während unten eine Fülle von Figuren vorüberzieht – neun Schauspieler in mehr als doppelt so vielen Rollen. Einzig eine himmelblaue Hotelbar, eingebaut in einen echten Lastenaufzug, am einen Ende des Kachelweges und eine verspiegelte Nische am anderen sowie ein Kristalllüster, der schwer von der Decke hängt, deuten in der Bühne von Bert Neumann Hotelatmosphäre an. Ansonsten setzt die Theaterversion von Joseph Roths Roman „Hotel Savoy“, mit der Johan Simons seine erste Spielzeit an den Münchner Kammerspielen als inszenierender Intendant eröffnet hat, vor allem eine Metapher ins Bild: das Hotel als Durchgangsort. Auch Gabriel Dan, der Ich-Erzähler in Roths 1924 entstandenem Roman, macht hier vorübergehend Station. Er kommt aus der sibirischen Kriegsgefangenschaft. „Vom Schicksal westwärts gespült“, landet er in einer namenlosen polnischen Stadt, in der eben jenes Hotel Savoy steht, wo sich Dan einquartiert. Dan selbst bezeichnet sich als „Heimkehrer“, muss aber bald erkennen, das vom Nachhausekommen keine Rede sein kann. Denn Dan hat nichts und niemanden, zu dem er heimkehren könnte. Keiner erwartet ihn. Eltern, Brüder oder Schwestern scheint es nicht oder nicht mehr zu geben; einzig einen reichen, aber geizigen Onkel, den Dan vergeblich um Geld angeht. Gabriel Dan ist der Prototyp eines Heimatlosen, und wenn Johan Simons Dans Geschichte an den Anfang seiner Intendanz stellt, dann hat das auch ein wenig mit seiner eigenen Heimatlosigkeit zu tun. Es sei schon so, dass TdZ · November 2010 NEUSTART Haufen Einsamkeit ihn hier in München das Heimweh plage nach Haus und Familie in Holland, bekundet der Niederländer. Das mag sich ein wenig nach Koketterie anhören. Im Gegensatz zu Gabriel Dan hat sich Simons schließlich aus freien Stücken für sein Leben ohne Heimat entschieden. Gleichwohl drückt sich in Simons’ persönlichem Sehnsuchtsbekenntnis eine Grundbefindlichkeit des Menschen aus: eine existenzielle Verlorenheit. Nur dass Theaterleute diese Verlorenheit angesichts des Vagantendaseins, das mit ihrem Beruf meist einhergeht, besonders deutlich spüren. Noch härter trifft es freilich einen Entwurzelten wie Gabriel Dan, der von sich sagt: „In mir hat sich ein großer Haufen Einsamkeit angesammelt.“ Steven Scharf, der die Rolle in Simons’ Inszenierung verkörpert, stapft denn auch mit schweren, aber zugleich vorsichtigen Schritten über die Tonfliesen, linkisch und bedächtig, als würde er dem Boden unter seinen Füßen nicht trauen, unsicher, ob er überhaupt das Recht hat, auf der Welt zu sein. Scharfs Gabriel Dan ist nicht nur unbehaust, sondern auch unbehost. Die strammen nackten Waden stecken in klobigen Stiefeln, darüber trägt Scharf nur eine Feinrippunterhose und ein Armeehemd, aber keine Beinkleider. So ist dieser Dan, den Steven Scharf berührend mit steifer Körperlichkeit und unbeholfenem Sprachduktus zeichnet, eine peinliche Erscheinung – prädestiniert für eines der oberen Stockwerke im Savoy, dort, wo die armen Schlucker absteigen. Die Reichen und Schönen residieren in den noblen unteren Etagen des Hotels, das Roth als Abbild einer ungerechten Gesellschaft gezeichnet hat, in der die Schere zwischen Reich und Arm weit auseinanderklafft. Ich bin ein Einzelner Gabriel Dan nimmt das klaglos hin; nicht so sein Kriegskamerad Zwonimir Pansin, der sich in Dans Kammer einnistet. Wolfgang Preglers Pansin ist nicht nur äußerlich das komplette Gegenbild zu Steven Scharfs Dan. Anderthalb Kopf kleiner, bringt er mindestens das Zehnfache an Energie mit. Wo Dan zusehends in Lethargie versinkt, poltert Pansin nach Hoppla-jetzt-komm-ichManier drauflos. Wo Dan still duldet, flucht Pansin über das Essen in der Armenküche und zettelt Aufruhr an. Im Antagonismus der beiden Figuren offenbart sich das zweite große Thema der Aufführung. „Ich bin ein Einzelner. Ich habe kein Gefühl für die Gemeinschaft“, bekennt Dan. Pansin dagegen will die Dinge verändern und weiß: Es geht nur im gemeinschaftlichen Aufstand. In Zeiten, da Menschen die Möglichkeiten des öffentlichen Protests wiederzuentdecken scheinen (just am Eröffnungswochenende der Simons-Intendanz gingen in München Tausende auf die Straße, um gegen Atomkraft zu demonstrieren), spiegelt sich im Disput der beiden Hauptfiguren natürlich ein eminent politischer Konflikt. Trotzdem treten solche aktuellen Aspekte in Simons’ großartiger Einstandsinszenierung hinter der zutiefst menschlichen Dimension des Stoffes zurück. Eine existenzielle Einsamkeit und Verlorenheit kennzeichnet fast alle Figuren, denen Gabriel Dan im Savoy begegnet. Vom liebenswert verpeilten Lotterieträumer Hirsch Fisch des Stefan Merki, dem angeblich gewinnbringende Losnummern im Schlaf erscheinen, über den verhuschten jüdischen Spekulanten Abel Glanz (Stephan Bissmeier), Dans geckenhaften Cousin Alexander (schön schnöselig: Nico Holonics), bis zum Fräulein Stasia, einer VarietéTänzerin, in die sich Dan verguckt – bei Katja Herbers ein schwer zu fassendes Wesen von graziler Erscheinung, aber leicht burschikosem Auftreten. Das macht plausibel, wieso Steven Scharfs linkischer Dan von Stasia nicht nur verzaubert, sondern auch eingeschüchtert ist – weshalb diese Liebe zum Scheitern verurteilt ist. Nicht zu vergessen zwei weitere grandiose Darsteller: André Jung als abgrundtief trauriger Milliardär Henry Bloomfield, den Der „Ruf der Wildnis“ ist stärker als die Zivilisation – Alvis Hermanis bei den Proben (rechts Kristof Van Boven). Foto Monika Pormale S. 12: Vom Schicksal gen Westen gespült – landet Gabriel Dan (Steven Scharf, vorne) mit Zwonimir Pansin (Wolfgang Pregler) im „Hotel Savoy“. Foto LSD/Lenore Blievernicht TdZ · November 2010 13 alle um Geld anpumpen, während er doch aus Amerika in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist, nicht um zu helfen, sondern um das Grab des toten Vaters zu besuchen; auch er ein Entwurzelter, der sagt: „Unsere Heimat ist dort, wo wir unsere Toten haben.“ Dazu als umwerfend komischer Kontrast: Brigitte Hobmeier in gleich sieben Kleinstrollen von der verlebten Puffmutter Jetti Kupfer bis zum skurrilen Juxartikelhändler. Das ist hinreißende Verwandlungskunst, die mühelos zwischen bayerischer Erdigkeit und ätherischer Leichtigkeit hin- und herhüpft. Wie überhaupt alle Darsteller ihre Figuren mit leichtem Federstrich konturieren, manchmal auch grotesk zuspitzen, aber nie überzeichnen. Und so ist dieses Münchner „Hotel Savoy“ vor allem grandioses Schauspielertheater, begünstigt durch eine geglückte Theaterfassung (Koen Tachelet), die auf Dialoge setzt und sich mit wenigen epischen Einschüben begnügt, die Romanadaptionen sonst manchmal etwas schwerfällig erscheinen lassen, und ermöglicht auch durch die bestechende Ensembleführung des Regisseurs. Der Mensch ist ein trauriges, trostloses Tier. Als Einsicht eines Theaterabends ist das recht dünn. Doch auch in dieser Aufführung sind umwerfend gute Schauspieler zu bestaunen. Sie machen alle Schwächen vergessen. Das kennt man von Simons. Man kennt aber auch das Gegenteil. Seine Vorliebe für Roman- und Filmstoffe auf der Bühne hat dem Theater auch schon die eine oder andere Kopfgeburt beschert. Wobei: Vorliebe? Von solchen Schubladisierungen will der 64-Jährige nichts wissen. Er gehe immer vom Thema aus, sagt Simons. Das müsse ihn interessieren. Und dann sei das eben manchmal ein Roman und ein andermal ein Theaterstück. Zufall meist. Als das geklärt ist, schnappt er sich einen Schmierzettel und malt zwei Dreiecke auf. Eisberge. Bei dem einen zieht er kurz unter der oberen Spitze einen Strich: Das sei ein Theaterstück. Beim Dramentext sehe man nämlich nur die Spitze des Eisberges. Was unter der (Wasser-)Oberfläche liege, müsse man in den Proben herausarbeiten. „Beim Roman aber sieht man den ganzen Berg.“ Simons malt nun kleine Vierecke ins zweite Dreieck: Das sind die Brocken, die man aus einem Roman herausbrechen müsse, um ihn auf die Bühne zu bringen. Mit „Hotel Savoy“ hat Johan Simons eindrucksvoll bewiesen, dass er diese Steinbrucharbeit beherrscht, ohne dass am Ende nur Stückwerk dabei herauskommt. Der lettische Regisseur Alvis Hermanis macht es sich da etwas leichter. Er durfte die Ära Simons am Tag nach der „Savoy“-Premiere im Schauspielhaus eröffnen und hat sich ebenfalls einen Roman vorgeknöpft: Jack Londons „Ruf der Wildnis“ über den Haushund Buck, der, nach Alaska verschleppt, erst zum Schlittenhund wird und sich schließlich, seiner inneren Natur folgend, einem Wolfsrudel zugesellt. Hermanis hat ein paar Bröckchen aus der Romanhandlung herausgemeißelt und in Kieselsteingröße als Leitfaden, wie weiland Hänsel und Gretel die Brotkrumen, in Form kleiner Erzähleinsprengsel über den Abend verstreut. Ansonsten 14 sehen wir sechs Menschen und sechs (echte!) Hunde, die sich jeweils paarweise auf sechs Sofas niedergelassen haben. Sie berichten Tristes aus ihrem Leben, wobei ihre Geschichten, herausgefiltert aus Interviews, auf realen Biografien basieren. Die Befragten scheinen alle Hartz IV näher als einem Kammerspiel-Abo gewesen zu sein. Ihre Bühnen-Alter-Egos jedenfalls tragen hässliche grüne Jogginganzüge wie der Frührentner Dragan, der seinen Vierbeiner gern auch mal auf Obdachlose loslässt (spießig verbiestert: Thomas Schmauser), oder geschmacklose Leopardentops wie das einsame Herz Elvira, von Annette Paulmann mit unverwüstlich naivem Optimismus ausgestattet. Wo die Bewohner des Hotels Savoy ganz und gar unbehaust wirkten, scheinen sich die Couch-Potatoes bei Hermanis auf ihren Sofas häuslich eingerichtet zu haben – in der verzweifelten Hoffnung, dass, wer nur innig genug mit Kissen und Schoßhündchen kuschelt, von der Trostlosigkeit des eigenen Lebens nichts mitbekommt. Doch schon bald benehmen sich die Frauchen und Herrchen weit weniger domestiziert als ihre Haustiere. Kaum folgen diese dem Pfiff einer Hundepfeife ins Off, lassen ihre Besitzer das Tier in sich von der Leine. Der Ruf der Wildnis ist eben doch stärker als die Zivilisation, der Drang, den eigenen Trieben und Träumen freien Lauf zu lassen, übermächtig. Also bellen, heulen und winseln sie, zerfetzen und besteigen ihre Sofas, bäumen sich auf und sacken erschöpft zusammen, wie Köter, die sich in die Gitterstäbe ihres Zwingers verbeißen. Das ist manchmal peinigend, wenn sich etwa der massige Benny Claessens unter Zurschaustellung wabbeligen Körperfetts quälend lange in einer Leine verheddert, nicht selten aufdringlich plakativ, entsetzlich banal und doch oft auch wieder berührend, wenn Walter Hess als gealterter Schlittenhund inmitten von Schaumstoffflocken aus zerschlissenen Sofapolstern den Gnadentod stirbt. Der Mensch ist ein trauriges, trostloses Tier. Als Einsicht eines Theaterabends ist das recht dünn. Doch auch in dieser Aufführung sind umwerfend gute Schauspieler zu bestaunen. Sie machen alle Schwächen vergessen. Allen voran Kristof Van Boven, ein Mann in Frauenkleidern, der mit verstörend brutaler Härte Franzine spielt, eine Witwe, die von Thailand-Urlauben mit ihrem Verblichenen erzählt. Van Boven zeigt die Spuren, die diese Frau die eiserne Disziplin gekostet hat, die Thaisexeskapaden ihres Mannes zu ignorieren, um die Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit aufrechtzuerhalten. Van Boven war einer der wenigen Darsteller aus der Gruppe der belgischen und holländischen, von Johan Simons dem Kammerspielensemble aus der Ära Frank Baumbauers zugeführten Schauspieler, die schon in den Auftaktpremieren in vorderster Reihe auffielen. Ansonsten standen vor allem Schauspieler im Fokus, die in München fast schon als sesshaft gelten dürfen. Andernorts wäre das womöglich zu beklagen. Doch in München hat sich noch kein Abnutzungseffekt eingestellt. An diesem wunderbaren Ensemble wird man sich noch lange nicht satt gesehen haben. Auch die Regisseure – Simons selbst, Alvis Hermanis oder demnächst Jossi Wieler mit Stefan Zweigs „Angst“ – sind keine Unbekannten in der Stadt. Das Stammpublikum darf sich in seinen Münchner Kammerspielen also nach wie vor heimisch fühlen. „Evolution statt Revolution“ scheint Simons’ Devise. Gleichwohl: Bald schon werden neue, in München noch (weitgehend) unbekannte Namen auf dem Spielplan auftauchen: Susanne Kennedy, Ivo van Hove und Julie van den Berghe stellen sich noch in dieser Saison mit Inszenierungen an den Kammerspielen vor. TdZ · November 2010 „Prime Time“ von Dominic Huber Foto Doro Tuch „Demokratie statt Integration“ fordert Shermin Langhoff ins unserem Gespräch. Sie legt damit den Finger auf das wohl größte Missverständnis der in den letzten Monaten hitzig geführten Debatte um Migration: Es geht gar nicht vor allem darum, Menschen mit großzügiger Geste „aufzunehmen“ – sondern darum, anzuerkennen, dass Deutschlands Gesicht insgesamt sich verändert hat. Nicht „die“ müssen „sich“ ändern, sondern wir uns. Wie kommt es, dass gerade der Theaterbetrieb das so lange übersehen hat? Was muss geschehen, damit sich das ändert? Und wie könnte dieses neue deutsche Theater aussehen? Wir haben den Dramatiker Nuran David Calis, den Biografiensammler Stefan Kaegi, die Theaterleiterin Shermin Langhoff und die Kulturwissenschaftlerin Azadeh Sharifi eingeladen, um Fragen wie diese zu diskutieren und lassen das Stück „Verrücktes Blut“ (siehe S. 49) von Nurkan Erpulat und Jens Hillje erzählen, was passiert, wenn deutsche Hochkultur zur Waffe greift. Während die Republik noch überlegt, wie es um ihr Selbstbild steht, hat der Berliner Heimathafen Neukölln längst erkannt, dass sein Publikum viele Gesichter hat – und Heimat mehr als einen Namen. D ie aktuelle Debatte um Thilo Sarrazin zeigt, dass sich Theater, das sich mit den Themen der Migration beschäftigt, auf politisch brisantem Terrain bewegt. Herr Calis, sehen Sie sich überhaupt als Autor der Migration oder der Interkulturalität? Nuran David Calis: Ich mache nicht Theater, weil ich für ein friedliches Miteinander bin. Ich wollte zum Theater, weil es mich einfach fasziniert. Das Politische ist eher eine Begleiterscheinung, die auftritt, weil ich diese Prägung nachweise oder hervorbringe, die im Moment sehr viele Fragen an die neue deutsche Geschichte aufwirft. Wenn ich mir Gedanken um diese Gesellschaft mache, dann tue ich es aus meinem speziellen Blickwinkel. Ich versuche, mir gegenüber ehrlich zu sein und Dinge aufzugreifen, die mir wichtig sind, die ich diskutieren muss. Mein Beweggrund ist zunächst einmal, im Theater ein Medium oder einen Raum zu finden, über Dinge zu erzählen oder Dinge zu verhandeln, die mich beschäftigen in der Gesellschaft. Frau Langhoff, Sie haben ganz bewusst einen Rahmen – das postmigrantische Theater im Ballhaus Naunynstraße – geschaffen, um dieses Thema zu fokussieren. Shermin Langhoff: Ich habe mich viel im Kontext von Literatur und Film mit Migration beschäftigt und da Prozesse wahrgenommen, die sich sehr viel progressiver als im deutschen Theater gestalteten. Seit dem Tag, an dem Gastarbeiter kamen, gibt es eine 16 „Gastarbeiterliteratur“, die zu Autoren geführt hat wie Emine Sevgi Özdamar oder Feridun Zaimoglu. Im Film haben wir auch eine sehr viel breitere Spanne von Produktionen und Förderungen migrantischer Themen. Die fängt mit Fassbinders „Katzelmacher“ und „Angst essen Seele auf“ an und reicht über die frühen Perspektiven der nichtautochthonen Künstler wie Tevfik Baser mit „40 Quadratmeter Deutschland“ bis zum heutigen Kino. Es gibt eine Entwicklung vom Kino der Fremdheit, der Métissage hin zu den transkulturellen, translokalen Filmen von Fatih Akin. Diese Entwicklung hat das Theater anscheinend nicht nötig gehabt. Es fehlen Geschichten, die durchaus relevant für die gesamte Gesellschaft sind. Wenn in Berlin an fünf Häusern Aufführungen zum Thema Ehrenmord gespielt werden, dafür Tausende von Jugendlichen von der Schule abgeholt werden, verfehlt das einen entscheidenden Punkt. Es geht nicht um Geschichten, die jede Komplexität in der Fragestellung, jede Ambivalenz im ästhetischen Diskurs ausblenden. Im Label „postmigrantisches Theater“ haben wir Ästhetik und Politik zusammenzudenken. Ich verstehe darunter einen Ort für eine Politik der Blicke, der Wahrnehmung: Wie sehen wir auf Migration, auf Migranten, auf neue Deutsche, auf unsere Gesellschaft? Es gibt nur eine Welt, aber tausend Möglichkeiten, darauf zu blicken. Herr Kaegi, Sie haben 2008 mit einem Muezzin-Projekt, das noch immer international tourt, Aufsehen erregt. Was hat Sie bewegt? TdZ · November 2010 und tausend Blicke Der Dramatiker Nuran David Calis, der Biografiensammler Stefan Kaegi, die Theaterleiterin Shermin Langhoff und die Kulturwissenschaftlerin Azadeh Sharifi über neues deutsches Theater im Gespräch mit Frank Raddatz und Lena Schneider Stefan Kaegi: Ich bin Biografiensammler und als solcher ziemlich dankbar über eine Gesellschaft, die sich aus vielfältigen Biografien zusammensetzt. Unsere Art, Theater zu machen, dreht das Prinzip Fernsehen um. Beim Fernsehen sitzt man da und zappt zu Hause durch das, was weit weg ist. Im Theater kommt man näher. Ein solches Projekt war „Radio Muezzin“, was mittlerweile interessante Wellen schlägt, weil es gerne von Festivals funktionalisiert wird – wie wahrscheinlich Regisseure mit migrantischem Hintergrund auch gerne instrumentalisiert oder gebraucht werden als Quotenvertreter für Diskurse, die in der Stadt nicht wirklich stattfinden. Nächstes Jahr gastieren wir in der dänischen Stadt Arhus, wo 2006 der Karikaturenstreit ausbrach. Es ist relativ leicht durchschaubar, warum wir dorthin eingeladen werden. Man wollte das Stück dort erst in einem Viertel zeigen, das zum Ghetto neigt. Aber dass dieses Projekt innerhalb eines bestimmten Kulturkanons stattfindet, finde ich ganz entscheidend. Als wir in Paris gespielt haben, hatten wir nach der dritten Aufführung plötzlich mehr muslimische Zuschauer im Raum sitzen als nichtmuslimische. Die anschließende Diskussion drehte sich gar nicht mehr um das Stück, sondern um die Frage, inwieweit das ein Sieg ist, wenn der Pied-noir in der französischen Hochkultur angekommen ist. Azadeh Sharifi, das ist auch Ihr Thema. Sie promovieren über Migration und Theater. Azadeh Sharifi: Ja, ich konzentriere mich dabei vor allem auf die Stadt Köln. Im Schauspiel Köln wurde vor drei Jahren ein multiethnisches Ensemble zusammengestellt und propagiert: Wir möchten das migrantische Drittel der Stadtbevölkerung ins Theater holen, zumindest die, die genug Vorbildung haben, um am Theater zu partizipieren. Das hat sich dann schnell verändert. Heute liegt der Schwerpunkt mehr in der internationalen Arbeit. Die migrantische Programmatik wurde aufgegeben, weil die Beschäftigung mit der Migration als soziale Verpflichtung gesehen wurde, obwohl wir nicht von bildungsfernen Migranten, sondern von iranischen Ärzten, türkischen Rechtsanwälten usw. sprechen. Diese Schicht hat zwar ein Interesse am Theater, geht aber nicht hin, weil sie sagen: „Wir werden im Theater komisch angeschaut.“ Sie passen nicht ins klassische Theaterpublikum. Es fehlt also an einer interkulturellen Kompetenz, die diese Menschen überzeugen kann: Euer Platz ist auch hier. Wir wollen auch euch ansprechen! Langhoff: Da sind wir genau bei der Komplexität des Themas „Theater und Migration“ angekommen. Einerseits geht es um Fragen zum Umgang mit steuergeldfinanzierter Kulturproduktion: Wer nimmt teil? Für wen wird gefördert? Wer profitiert davon? Es geht darum, dass das Stadttheater an seinem Anspruch, für die gesamte Stadtbevölkerung da zu sein, gemessen wird. Andererseits haben wir diesen enormen künstlerischen und politisch spanTdZ · November 2010 nenden Output, den Migration sowohl als Prozess, als Struktur mit seinen Möglichkeiten, die Perspektiven eröffnet, wie auch an Inhalten hergibt. Es gibt neue Perspektiven, die ebenso lohnen, erzählt zu werden wie neue Geschichten. Es geht um Zukunftsfragen, von Rezeption genauso wie von Produktion. Offenbar ist Theater im Gegensatz zum Kino ein besonderes Feld. Ein Kampffeld. Wer im Theater vorkommt, kommt bald auch in der Gesellschaft vor. Kaegi: Migration und die damit verbundenen Geschichten stellen ein riesiges Potenzial dar, das auch den Repräsentationsapparat Theater in Frage stellt. Wenn das Theater – zu Recht – sagt: „Wir sind kein Sozialamt“, kann natürlich niemand einen Anspruch formulieren, darin vorzukommen, solange die Leitung es nicht ästhetisch vertretbar findet. Gleichzeitig beschäftigen diese Theater Ensembles, die über diverse Typen die Stadt nachspielen sollen. Da beginnt das Problem. In „100 Prozent Berlin“ versuchten wir, die Stadt mit 100 Menschen in all ihren Anteilen wiederzugeben. Zum Beispiel standen da für vier Prozent Türken vier Menschen türkischer Herkunft auf der Bühne. Aber das auf 15 Leute in einem Stadttheaterensemble herunterzubrechen, die auch noch den klassischen Kanon spielen, sprengt den Rahmen oder macht das Problem des Rahmens sichtbar. Vielleicht ist es ein besserer Weg, wie im Ballhaus Naunynstraße ein Theater mit Migranten zu behaupten. Wenn es funktioniert, wird es eher Neid erzeugen und zur Nachahmung anregen, als wenn man mit dem Gefühl der Schuld und Verpflichtung operiert. Langhoff: Natürlich gibt es ein totales Geschrei, wenn wir über Quoten reden. Schon bei der Frauenquote ist ein riesiger Aufschrei durch das Land gegangen – und wir haben nach wie vor nicht überall Gender Budgeting durchgesetzt. Eine Quote in der Kultur ist Den Diskurs verändern – zum Beispiel mit Stücken wie „Stunde Null“ von Nuran David Calis. Foto david baltzer/bildbuehne.de 17 Streiter für ein neues deutsches Theater (v.l.n.r.) – Azadeh Sharifi, Nuran David Calis, Shermin Langhoff und Stefan Kaegi. Fotos Lutz Knospe / Arno Declair (2.v.l.) sinnvoll in Form einer angemessenen Besetzung der Kulturverwaltung und der Entscheidungsträger in der Kulturpolitik. Wo Gelder in der Kultur- und Kunstproduktion verteilt werden, muss sich Qualität durchsetzen. Kunst ist aber nicht nur Schönheit, sondern prägt die Wahrnehmung der Polis und hängt ganz komplex mit dem, was Verwaltung und Politik vorgeben, zusammen. Wenn dieser andere Blick eingebracht wird, dann bildet sich auch in der Produktion, in der Rezeption, im Erzählen, im Inszenieren Vielfalt. Die kann sich nur durch die interkulturelle Öffnung einstellen. Calis: Die Diskussion muss an die Kunst, an das Theater, an die Auseinandersetzung um Theater anknüpfen. Theater ist in diesem Land die größte gesellschaftsstiftende Maßnahme, sogar weit vor der Kirche. Aber man kann einfach nicht sagen, dass die Leute, die jetzt in den großen Häusern das Sagen haben, einen konservativen Kanon bedienen. Kaegi: Aber wenn man mit dem Hintergrund Migrant ins Deutsche Theater geht, ist man im Zuschauerraum ziemlich in der Minderheit. Calis: Das hat nichts mit dem Theater zu tun. Langhoff: Das Theater hat nichts mit dem Zuschauer zu tun? Sharifi: Wir sprechen von verschiedenen Dingen. Ich rede über Strukturen. In meiner Arbeit spreche ich nicht über Inhalte, über Künstler, sondern frage: Wie ist die Struktur aufgebaut? Wie sind Zugänge zu verbessern, um überhaupt migrantische Gruppen zu erreichen? In dem Rahmen könnte man über eine Quote nachdenken. Langhoff: Sonst hieße das ja: einfach akzeptieren, dass ein Teil der Bevölkerung im Theater nicht vertreten ist. Ist halt so. Calis: Aber daran ist nicht das Theater schuld. Das Theater ist da. Wir können die Zugänge dorthin verändern, aber Theater ist schon immer das Medium von Parallelgesellschaften, von Banden – die Schaubühne, die Kortner-Anhänger oder die Leute, die Noelte geliebt haben. Erst durch diese Banden und ihre Kämpfe ist Kunst entstanden, die Deutungshoheit über Stücke, über Gesellschaft. Ulrich Khuon, Hasko Weber oder Wilfried Schulz sind von der ersten Sekunde an Förderer für diese Geschichten gewesen. Man tauscht sich mit denen darüber aus, wohin es mit der Gesellschaft Die Gesprächsrunde Shermin Langhoff, geboren 1969 in Bursa (Türkei), kam 1978 nach Nürnberg. Sie arbeitete beim Film, bevor sie ab 2004 als Kuratorin im Berliner Hebbel am Ufer tätig war. Seit 2008 künstlerische Leiterin des Ballhauses Naunynstraße in Berlin. Azadeh Sharifi, geboren 1980 im Iran, kam 1988 mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Jura in Heidelberg und promoviert seit 2007 zum Thema „Partizipation von Postmigranten am Beispiel der Bühnen der Stadt Köln“. Nuran David Calis, 1976 in Bielefeld geboren, studierte Regie an der Otto-FalckenbergSchule. Inszenierungen u. a. in München, Wien, Hannover und Essen. Seit 2005 bringt er auch eigene Stücke zur Uraufführung, zuletzt „Schattenkinder“ am DT Berlin. Stefan Kaegi, 1972 in Solothurn/Schweiz geboren, studierte Kunst und angewandte Theaterwissenschaften. Unter dem Label Rimini Protokoll realisiert er seit 2000 mit Helgard Haug und Daniel Wetzel Theater mit „Experten des Alltags“. Jüngste Produktion: „Ciudades Paralelas / Parallele Städte“ in Zusammenarbeit mit Lola Arias. 18 geht. Niemals stößt du in diesen Strukturen, bei Leuten, die sie mitgestalten, mit Dingen, die wehtun, auf taube Ohren. Die Sache wird erst schwierig, wenn man von außen gesagt bekommt, man soll ein Ensemble multikulturell durchmischen. Man muss sich zusammensetzen, einen Spalt in dem Anderen öffnen, einen Spalt in dir selbst öffnen und dann die Dinge gemeinsam anpacken. Ich glaube nicht, dass wir mit der Opfermentalität weiterkommen. Da ich um die Befindlichkeiten meiner Eltern, meiner Großeltern weiß, glaube ich, dass unser Anliegen einen größeren Zug bekommt, wenn ich zum Täter werde. Langhoff: Natürlich kommt es auf diese Bandenbildungen an, um gemeinsam Visionen und Dinge zu verwirklichen. Aber es ist nicht so, dass dieser Betrieb überall spannende Personen aufbietet, die neue gesellschaftliche Räume und Geschichten entdecken. Dabei geht es genau um dieses Interesse. Aus deiner Perspektive hast du natürlich Recht, bei dir ist es wunderbar gelaufen. Mir geht es darum, dass öffentliches Geld zur Wahrnehmung öffentlicher kultureller Aufgaben an Stadttheater in dem Sinne verteilt wird, dass eine Kulturverwaltung sagt: „In deinem Programm möchte ich die heterogene Stadtgesellschaft gespiegelt sehen. Ich möchte deinen Ansatz dafür sehen.“ Das kann ein konzeptueller Ansatz sein, das können Stücke sein, da gibt’s verschiedenste Wege. Kaegi: Die Politiker hätten gerne ein Theater, das die Geschichte der Migration als Geschichte der Opfer erzählt. Ich arbeite gerade über Russlanddeutsche. Es ist total in den Hintergrund geraten, dass während des Kalten Krieges laufend Theaterstücke nach Sibirien und Zentralasien geschickt wurden, um die deutschen Gemeinden, die im 18. Jahrhundert ausgewandert waren und von Stalin dorthin deportiert wurden, künstlich als Deutsche am Leben zu halten, damit sie sich dort möglichst wenig integrieren. Das gelang Gott sei Dank nicht wirklich. In den Neunzigern rief Helmut Kohl: „Kommt alle zurück, ihr Deutschen!“ Man grub dann richtig im Blut-und-Boden-Denken, um die drei Millionen Menschen, von denen die allerwenigsten noch irgendein Wort Deutsch sprachen, zurückzuholen. Ich frage mich, warum diese Integrationsfrage so sehr über die deutsche Sprache, über so einen Hochkulturanspruch, geführt wird? In Berlin sprechen mehr als die Hälfte der hier arbeitenden bildenden Künstler Englisch, Spanisch oder sonst was, aber kein Deutsch und sind trotzdem bestens integriert. Das ist doch ein großer Teil von Berlins Kapital: dass man hier eine internationale Gesellschaft hat. Das könnte für Theater ein integraler Punkt werden. Als ich einmal als Dramaturg vorschlug, eine schwarze Schauspielerin zu engagieren, wischten die Kollegen das vom Tisch mit der Bemerkung: „Was soll die denn spielen?“ Das ist insofern eine ästhetische Frage, als sich die Hochkultur über Verkörperung der Figuren definiert. Weil man von einem Verkörperungstheater ausgeht. Calis: Ich muss sagen, der Kollege, der das sagte, ist eigentlich dumm. TdZ · November 2010 Die dritte Generation im heutigen Berlin – in „Warten auf Adam Spielmann“ von Hakan Savas Mican und Ensemble finden Protagonisten libanesischer, israelischer, amerikanischer und türkischer Herkunft zusammen. Foto Ute Langkafel Aber erfolgreich. Calis: Mit so einem Menschen setze ich mich gar nicht auseinander. Davon lasse ich mich nicht abhalten, Regie zu führen. Ich halte mich immer an einen tollen Satz von Peter Brook: „Regie besteht zu 88 Prozent darin, Leute zu überzeugen, mit dir zu arbeiten. Zwölf Prozent sind künstlerisch.“ Ich muss als Regisseur Leute davon überzeugen, dass sie mit mir arbeiten. Jeden Tag. Wenn da einer kommt und fragt: „Was will die Schwarze denn spielen?“, trete ich den in die Tonne. Mit solchen Leuten darf man sich innerhalb des Systems nicht aufhalten. Dann muss man sich zusammentun, wie das an diesem Haus in der Naunynstraße passiert. Das ist auch erst der Anfang. Ein Wandel. Von hier führen die Gleise weiter. Sharifi: Nuran, du hast dich als guter, hervorragender Künstler durchgesetzt, aber man kann die anerkannten Regisseure mit Migrationshintergrund nach wie vor an einer Hand abzählen. Wenn wir zum Beispiel Zugang zum Theater in der Schule schaffen und Leute, die nicht aus einer gebildeten Familie kommen, an einer Theater-AG teilnehmen, interessieren sie sich plötzlich für Theater. Langhoff: Das Ballhaus beweist doch, dass die Identitätsmaschine Theater funktioniert. In diesem Laborraum mit 100 Plätzen formulieren wir den Anspruch, ästhetisch ganz weit vorn zu sein, und fahren Formel 1 mit Trabbis, was unsere strukturell-finanziellen Ressourcen betrifft. Nicht zuletzt, weil wir uns über Geschichten mit einem anderen Blickwinkel, über Protagonisten, über eine andere Rezeption formulieren, werden auch theaterferne Zuschauer erreicht. Nicht nur Migranten, sondern auch politisch Interessierte. Wir thematisieren nicht die Komplexität in der ethnischen Rivalität, aber wir behandeln Konfliktzonen. In „Adam Spielmann“ finden sich Protagonisten und Geschichten zusammen von Menschen libanesischer, israelischer, amerikanischer und türkischer Herkunft. Diese Menschen bilden die dritte Generation im heutigen Berlin, bringen eine Erfahrung von Eltern und Großeltern aus Konfliktzonen mit und haben neue Geschichten zu erzählen. Eigentlich hätten wir es nicht postmigrantisches Theater, sondern neues deutsches Theater nennen sollen. Kaegi: Das Interessante ist, dass auch die Zuschauermengen beginnen, sich ganz anders zu durchmischen. Wir veranstalteten mit „Ciudades Paralelas“ im September ein Festival, das an sich als Strategie migrantisch funktioniert, weil das Festival mit denselben Spielregeln, aber anderen Menschen und Schauplätzen nach Berlin in Buenos Aires stattfindet, und in Warschau und Zürich im nächsten Jahr. Dominik Huber hat darin eine Arbeit realisiert, direkt am Mehringplatz, 500 Meter vom HAU, für die er mit Familien gearbeitet und ihre normalen Bewegungen orchestriert hat, die ein Haus bewohnen, an dem man normalerweise achtlos vorbeigeht. Das Tolle war, dass bei der Premierenfeier alle diese Familien, Palästinenser, Türken und deutsche Muslime, im HAU ihre Party feierten und später wiederkamen. Sie waren zum ersten Mal in diesem Theatercafé und saßen dort zusammen mit Putzleuten TdZ · November 2010 DEBATTE S. 16: Das Spiel mit der Quote – „100 Prozent Berlin“ von Rimini Protokoll gibt die Stadt in Anteilen wieder: Für vier Prozent Türken stehen vier Menschen türkischer Herkunft auf der Bühne. Foto Marcus Lieberenz/bildbuehne.de aus dem Ibis-Hotel aus einem anderen Projekt, die wiederum aus Spanien oder Vietnam kamen. Calis: Als ich das erste Mal an einem Theater, in den Kammerspielen in München, hospitiert habe, habe ich durch eine Reibung oder durch Begabung diese Grammatik begriffen. Dass da viele Leute sind und etwas gemeinsam schaffen. Das bedeutet, egal wie stark ich mein Individuum, mein Unrechtsein in dieser Gesellschaft empfinde, es muss im Moment hintanstehen für eine gemeinsame Sache, die wir voranbringen wollen. Ich war 19, erstmals völlig weg von meiner Gang in Bielefeld, und saß in der Hochburg der Hochkultur mit 15 bis 20 Leuten, die bis aufs Blut gestritten haben. Diese Erfahrung muss man machen: Es fängt jetzt etwas an. Wenn man das auf die Sarrazin-Debatte bezieht, ist es schade, dass diese Debatte so einschlägt, weil wir gerade dabei sind, den Diskurs zu verändern. Das hat mir auch wieder gezeigt, dass ich mich selber hinterfragen muss, hinterwandern in meiner Opfermentalität. Denn es herrscht eine große Angst, und der müssen wir, die dritte Generation, uns stellen. Auch der Angst dieser Leute. Wir müssen uns dieser Debatte stellen. Wir müssen die Ängste ernst nehmen und versuchen, sie nicht zu verstärken, sondern sie zu beseitigen. Und das braucht Zeit. Langhoff: Demokratie statt Integration – oder milder gesagt: Demokratie stärkt Integration, und warum soll das nicht auch für das Theater gelten? Aber ich sehe nicht, dass wir im Moment – und das ist eine meiner größten Sorgen –, dass wir also das Theater, diesen Diskurs wirklich mitbestimmen. In der Infragestellung dieser demagogischen Debatte und deren Formeln und Inhalten hat doch Kultur, wenn wir sie als Praxis zur Veränderung sehen, als Prozess und Möglichkeit, als Instrument von Wahrnehmung und Komplexität, eine Aufgabe: diesen Dialog anzuführen. Wir müssen in diesen Diskursen eine Rolle spielen. Ob wir das mit „Hamlet“ tun, mit Nuran David Calis, mit Frank Castorf oder mit einem neu entwickelten Stück, ist egal. Denn es werden Fragen berührt, denen sich die gesamte Theaterlandschaft stellen muss und angesichts derer sie sich auch zu bewegen hat. 19 Von Elefanten und anderen Palaststürmern E s sind in den letzten Wochen viele kurzgedachte und auch einige kluge Dinge über Migration geschrieben worden. Ein Beitrag in der Zeit gehört zu Letzteren. „Offenkundig treibt uns derzeit kaum etwas mehr um als die Furcht, alles Fremde könnte uns abhanden kommen“, schrieb Adam Soboczynski da. Er erinnerte damit daran, dass es bei Diskussionen um das Fremde letztlich immer um das Eigene geht; dass in einer Welt der aufweichenden Kategorien ein Gegenüber, das als „anders“ etikettiert werden kann, eine willkommene, ersehnte Orientierung bietet, an die wir uns verzweifelt klammern. Was anders ist, beruhigt; es macht das Eigene erst erkennbar. Eine Beobachtung, die sich auf viele der jüngst geführten Diskussionen, der vielbeschworenen „Ängste“ und angewandten Argumentationsweisen beziehen ließe. Oder auf eine Szene aus „Arabboy“, der Bühnenadaption des gleichnamigen Romans von Güner Yasemin Balci, mit der der Heimathafen Neukölln Mitte 2009 seine Erfolgsgeschichte als feste Spielstätte in Berlin begann. Irgendwann im Stückverlauf muss Rashid, der titelgebende „Arabboy“, eine Jugendstrafe verbüßen. Er, der Schulschwänzer, Drogendealer, Gewalttäter „mit Migrationshintergrund“, soll Tische leimen und Stühle reparieren. In der Inszenierung von Nicole 20 Oder steckt er statt Stuhlbeinen Federbälle zusammen. Zart macht er das, fast freut er sich ein bisschen über das Lob vom Schreiner Heinz, der ihm das beibringen will. Heinz ist ein netter Typ, er will Rashid trösten. „Kopf hoch“, sagt er zu Rashid. „Du kannst doch alles, was du hier gelernt hast, auch in deiner Heimat gebrauchen.“ – „Heimat?“, fragt Rashid arglos. – „Wo du herkommst. Deine Heimat eben.“ Rashid versteht nicht. Seine Antwort, überrascht, selbstverständlich: „Meine Heimat ist Berlin.“ Kurz darauf versteht Rashid dann doch. Weil er einen fremden Namen trägt, muss er doch bitte schön auch Fremder sein; vielleicht ist Heinz lediglich so nett zu ihm, weil er denkt, dass Rashid nur Gast ist. Da fegt Rashid, sanft unterm harten Panzer der Kraftmeierei gespielt von dem Neuköllner Hüseyin Ekici, die Federbälle auf den Boden. Vorbei der kurze Moment, da alles möglich schien, auch eine Karriere des Schulabbrechers Rashid als federballmontierender Schreinergehilfe. Seine Geschichte findet ihr Ende in der Türkei, wohin er abgeschoben wird; sie endet in der Stille, im Meeresrauschen vor der türkischen Küste. Der „Arabboy“, der Berliner, aber auch Araber ist, geht beim Versuch, in einem geklauten Motorboot zurück nach Deutschland zu flüchten, irgendwo zwischen Asien und Europa verloren. Was Heinz noch zu ihm gesagt hatte: „Ach komm, Junge, du musst dich damit abfinden. In Deutschland gibt es vielleicht keine Zukunft mehr für dich.“ Nur, wo gibt es die TdZ · November 2010 Alle Welt redet von Integration – der Heimathafen Neukölln in Berlin lebt sie, ohne große Worte. Und schreckt dabei auch vor so sperrigen Randgruppen wie Studenten und Bildungsbürgern nicht zurück von Lena Schneider für Rashid, wenn nicht hier? Eine unter vielen Fragen, die „Arabboy“ aufwirft. Die Szene zwischen Rashid und Heinz greift Mechanismen von Rassismus auf, die immer wieder auch in der Debatte um Thilo Sarrazin zutage traten. Und sie berührt den Kern der Suche, die der Heimathafen Neukölln bereits im Namen trägt: Heimat, dieses lästige, notwendige Ding, das uns prägt wider Willen und oft so sperrig ist, dass ein Ort, geschweige denn ein Wort, nicht genügen will, um es zu beschreiben – nicht nur bei Jungs wie Rashid. Dennoch mag das schnörkellose, vorurteilsfreie Nachdenken über Herkunft ein Grund sein dafür, dass „Arabboy“ gerade in Neukölln so ein Erfolg bleibt. Bundesweit mit Aufmerksamkeit bedacht worden ist der Bezirk kürzlich durch das Buch der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig, dessen Titel „Das Ende der Geduld“ mit gewalttätigen Jungendlichen proklamierte. „Die Gesellschaft befindet sich aus meiner Sicht an einem Scheideweg“, schreibt Kirsten Heisig darin. „Sie könnte sich spalten: in ‚reich‘ und ‚arm‘, in ‚links‘ und ‚rechts‘, in ‚muslimisch‘ und ‚nichtmuslimisch‘.“ Das sind auch die Themen des Heimathafens, die Spaltungen, gegen die er sich sträubt. Heisigs Buch berichtet von vielen Tätern wie Rashid, dem „Arabboy“. Neben effektiveren, auch diskutablen Maßnahmen in der Bestrafung von Jugendgewalt fordert es vor allem, wie der Heimathafen auf seine Weise auch: Konfrontation mit der Realität, ehrTdZ · November 2010 lich, auf Augenhöhe, ohne Schönfärberei. In „Sisters“ zum Beispiel, nach „Arabboy“ der zweite Teil einer Neukölln-Trilogie im Heimathafen: Es ist die gleichsam utopische wie dystopische Geschichte von zwei Mädchen, die sich in einer Neuköllner Schule gegen männliche Gewalt zur Wehr setzen – mit Gegengewalt. Es ist ein Stück über soziale Unterschiede, aber auch über Gemeinsamkeiten zwischen den vielbeschworenen Parallelgesellschaften, über Formen von Gewalt, die sich hier wie dort finden. Claudia (Pegah Ferydoni) kommt aus dem feinen Charlottenburg, Miriam (Katrin Hansmeier) aus Neukölln. Dass die Feine zu Stückbeginn ein paar Sätze auf Arabisch sagt, während die Neuköllnerin keinen migrantischen, sondern einen völlig anderen Hintergrund hat – ganz und gar homemade und eindeutig der problematischere von beiden –, ist sonst kein Thema in „Sisters“. Nicht, woher die gewalttätigen Mädchen kommen, interessiert die Regie von Nicole Oder, sondern woher ihre Gewalt kommt. In Neukölln geht es eben nicht nur um Kopftuchdebatten, im bürgerlichen Charlottenburg hingegen sehr wohl auch um Gewalt. Auch das zeigt der Heimathafen. Von den 300 000 Menschen, die in Berlin-Neukölln leben, haben laut Kirsten Heisig 40 Prozent das, was gemeinhin als Migrationshintergrund bezeichnet wird. Wer die Menschen dort nach Heimat fragt, wird also viele treffen wie „Arabboy“ Rashid (die mehr als eine Heimatoption haben) und vielleicht ähnlich viele wie Tischler 21 S. 20: Heimat, dieses lästige, notwendige Ding, das uns prägt wider Willen – der Heimathafen Neukölln bietet ihr eine konkrete Adresse. Foto Verena Eidel Heinz (in deren Idee von Heimat jemand wie Rashid wenig Platz hat). Gegen die auseinanderstrebenden Entwürfe setzt der Heimathafen seine konkrete Adresse. Ironisch, ja, aber auch als ernsthaftes Angebot zu verstehen. Als Utopie. Einen Ort wünscht sich das Leitungskollektiv auf der Website, „in dem Neuköllner, Berliner und Gäste sich mit der eigenen und gemeinsamen Identität auseinandersetzen können, sich vertreten und gut aufgehoben fühlen“. Es scheint zu funktionieren: Der Heimathafen spielt nicht nur vor vollen Sälen, sondern wirtschaftet mithilfe von Lottogeldern, Einnahmen und Vermietungen offenbar auch so gut, dass die Jury des Berliner Senats angesichts knapper Kassen keine Möglichkeit sieht, das Theater 2011 weiter angemessen zu fördern. Als Abstrafung ihres Erfolgs empfinden das die Leiterinnen. Und doch war es letztlich auch die finanzielle Unabhängigkeit, die sie weg vom Stadttheater in die freie Theaterarbeit trieb, erzählt Julia von Schacky, eine der sechs jungen Frauen im Leitungsteam. Wenn sie über die Struktur des deutschen Fördersystems spricht, Die erfreuliche Erkenntnis, die einen hier beschleicht: Irgendwie sind alle integrierungswürdig bzw. -bedürftig. Es kommt eben nur drauf an, von wo man schaut. von der Arroganz einer nach wie vor vorherrschenden Idee von deutscher „Hochkultur“, einem Naserümpfen vor populären Formen, der verbreiteten, wenn auch unausgesprochenen Annahme, wenige Zuschauerzahlen seien ein Zeichen von Qualität und Anspruch, die sich auch in der Förderstruktur zeige, dann spürt man ihre Wut über ein System, in dem oft nur belächelt wird, wer „populär“ ist. Julia von Schacky war schon 2007 dabei, als das Team noch in einer Neuköllner Eckkneipe „Alle fürchten sich oder: Die Hasen in der Hasenheide“ spielte. Dann war die Gruppe eine Weile in der Alten Post Neukölln zu Hause, Mitglieder kamen dazu, andere gingen weg; 2009 wurde der Saalbau Neukölln zum Hafen. Der Name beschreibt also nicht nur, was das Theater bei den Menschen in seinem Bezirk schaffen will, sondern auch die Utopie, die die Theatermacherinnen mit einem eigenen Ort verbinden: bei sich ankommen. Dass diese Utopie keine einheitliche Ästhetik haben sollte, sondern so vielgesichtig, vielschichtig sein sollte wie der Bezirk, an den sie sich richtet, war von Anfang an klar. Nur berühren sollte es, durch den Bauch gehen oder, wie Julia von Schacky sagt: „Es soll nicht kalt sein.“ Ein anderer Begriff kommt auch immer wieder apostrophierend ins Spiel: „niedrigschwellig“. Als man nach einem Konzept für ein eigenes Haus suchte, traf sich der Widerwille gegen einen elitären Kunstbegriff mit der pragmatischen Erkenntnis, dass im theaterreichen Berlin eine Stelle unbesetzt war: die des Volkstheaters. Und welcher Bezirk würde sich besser für dessen Wiederbelebung eignen als Neukölln? Als Rixdorf war es in den Zwanzigern als glamouröses Ausgehpflaster bekannt und kommt inzwischen als Partybezirk wieder in Mode. Der große, stuckbesetzte Saalbau Neukölln, eine der beiden Spielstätten des Heimat22 hafens, zeugt von der Zeit, als hier Anfang des letzten Jahrhunderts Tänze, Boxkämpfe und Kabarett stattfanden. An diese Tradition will der Heimathafen anknüpfen. Das Trio „Die Rixdorfer Perlen“ schmettert hier regelmäßig Gassenhauer aus vergangenen Zeiten, und zwar so, dass sie auch das Heute unbequem machen. „Reine“ Unterhaltung, kopflos, unpolitisch? Wäre das so, Inka Löwendorf wäre wohl nicht mehr dabei: „Theater, das nicht politisch ist, ist sowieso für’n Arsch“, sagt sie, eine der „Perlen“, Mitglied des Leitungsteams im Heimathafen und nebenbei Schauspielerin im Ensemble der Berliner Volksbühne. „Was ist denn heute bitte politisch, wenn nicht das Theater?“ Im Heimathafen ahnt man, was das heißen kann: In Zeiten, da alle Welt über Integration redet, lockt er mit „Arabboy“ und „Sisters“ in der Studiobühne und mit dem unprätentiösen Programm im großen Saal Leute an, die sonst nie kämen – und setzt sie damit um. Ohne große Worte. Der Begriff „Integration“ selbst kommt im Heimathafen nicht vor. Muss er auch nicht. Die erfreuliche Erkenntnis, die einen hier beschleicht: Irgendwie sind alle integrierungswürdig bzw. -bedürftig. Es kommt eben nur drauf an, von wo man schaut. Wenn man die Idee eines bürgerlichen Normpublikums fallen lässt, sind auf einmal alle Randgruppe: Nicht nur die Vorzeigeaußenseiter wie Postmigranten (die in der Neuköllner Trilogie auf der Bühne stehen und im Publikum sitzen) und Wenig- oder Garnichtverdiener (die im „Blauen blauen Meer“ vom Wahl-Neuköllner Nis-Momme Stockmann zu Wort kommen), sondern auch Senioren (die sich bei den „Rixdorfer Perlen“ schieflachen), Studenten (die bei den „Rixdorfer Perlen“ ihr Fett abkriegen) und Charlottenburger Besserverdiener (die in den „Sisters“ als weltferne Touristen auftauchen und für „Arabboy“ tatsächlich nach Neukölln kommen). Wer integriert hier eigentlich wen? Vielleicht können ja, wo alle ein bisschen fremd sind, tatsächlich auch alle irgendwie zu Hause sein. So gesehen hat der Heimathafen sein vor der Eröffnung gegebenes Versprechen – „Berlin hat wieder Volkstheater!“ – nicht nur gehalten, sondern zeigt auch, was Volkstheater heute sein kann. Auf den Plakaten war damals übrigens Kurt Krömer zu sehen. Das brachte nebenbei medienwirksam einen der populären Schirmherren ins Gespräch und deutete bereits die inhaltliche Stoßrichtung der Macher an: spielerisch, selbstironisch, kiezpatriotisch, mit einem Kulturbegriff, der nicht in „hoch“ und „populär“ unterscheidet. Theater, das Innehalten genauso will wie Unterhalten. Es kommt einem dabei die Vision von einem Theatermodell in den Sinn, das der Soziologe Mark Terkessidis als „barrierefrei“ bezeichnet und immer wieder fordert. Er vergleicht herkömmliches Theater in Deutschland gern mit dem noblen Palast einer Giraffe, in dem Außenstehende, Migranten oder anders Sozialisierte fremd wie Elefanten bleiben und notwendigerweise anecken. Oder sie bleiben eben gleich draußen vor der Tür, weil sie Angst davor haben, dem Parkett und den Spiegelwänden Kratzer zu verpassen. Was Terkessidis mit seiner polemischen Anekdote deutlich macht: Will man Elefanten im Theaterzoo dabeihaben, muss man Türen verbreitern, notfalls auch Wände einreißen. Der Heimathafen arbeitet an beidem. TdZ · November 2010 Othello, wer ist das? Fragt sich Monika Gintersdorfer – und spielt in ihren Performances gemeinsam mit Kollaborateur Knut Klaßen Afrika und Europa beschwingt gegeneinander aus. Ein Porträt von Renate Klett S o stellt man sich die ideale Symbiose vor: Sie ist extro-, er introvertiert, sie redet gern, viel und temperamentvoll, er wägt jedes Wort ab, schweigt am liebsten und hört zu. Monika Gintersdorfer, 43, ist Theaterregisseurin, Knut Klaßen, 43, bildender Künstler, zusammen sind sie unter dem Namen Gintersdorfer/Klaßen die derzeit angesagteste neue freie Gruppe in Deutschland und darüber hinaus. Und spätestens, seit sie im letzten Herbst den Impulse-Preis gewonnen und dadurch ihr Erfolgsstück „Othello c’est qui“ beim Berliner Theatertreffen und den Wiener Festwochen gezeigt haben, sind ihnen die großen Häuser auf den Fersen. Doch angefangen hat alles ganz klein, stadttheaterfern, aber weltnah, billig, schnell und unbescheiden. Monika Gintersdorfer, in Lima geboren, aufgewachsen in Argentinien und Essen, ging gleich nach dem Abitur nach Mexico City, um dort „auf locker zu studieren“, Spanisch zu lernen und die in den achtziger Jahren sehr wilde Klubszene zu erforschen. Als sie sich ausgetobt hatte, zog sie nach Köln und „studierte seriös“, nämlich Film- und Theaterwissenschaft, Germanistik und Romanistik. In der goldenen Baumbauer-Zeit war sie Regieassistentin am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg und schrieb sich für den neu geschaffenen Regie-Studiengang an der Uni ein. Erste Inszenierungen waren Albert Ostermaiers „Radio Noir“ oder Enda Walshs „Bedbound“ – „literarische Stücke, bei denen der Text in den Körper geht. Kein psychologisches Rollenspiel, sondern Performances aus Sprache und Bewegung, die geprägt sind von dem, der sie spielt.“ An den Stadttheatern aber war es schwierig, Texte zu finden und durchzusetzen, die diesen Freiraum gewährten. Deshalb begann sie, „richtige Stücke“ zu inszenieren, was zu vielen Kompromissen führte. „Das war immer auf dem Level von ‚Das könnte gehen‘, aber ich wusste nie so richtig, warum ich das eigentlich mache.“ Also ließ sie es und verlagerte ihre Projekte in die freie Szene. Einfacher war das nicht, aber eben freier. Gemeinsam mit Jochen Dehn gründete sie 2004 die Gruppe Rekolonisation, die sich auf flüchtige, schnell umsetzbare Aktionen im Hamburger Stadtgebiet spezialisierte. Zwei Jahre zuvor hatte sie einen Ivorer geheiratet (nein, keinen ihrer späteren Performer!), lernte die Elfenbeinküste kennen und lieben und war erschüttert, als dort der blutige Konflikt ausbrach, der das Land zerriss. Er wurde ihr Thema. 120 Aktionen erfanden sie in einem Jahr – mal schwammen sie Schiffen hinterher, mal kämpften sie auf offener Straße, platzierten die afrikanischen Probleme in eine Umgebung, in die TdZ · November 2010 sie nicht passten. Und weil die Aktionen so flüchtig waren, wurden sie gefilmt, um sie später gebündelt zeigen zu können. Der Mann mit der Kamera hieß Knut Klaßen. Dann lud René Pollesch Gintersdorfer, Dehn und Klaßen für ein Afrika-Projekt in den Berliner Volksbühnen-Prater ein. Die drei verschwanden nach Côte d’Ivoire und kamen zurück mit fünf verschiedenen Aufführungen, die sie dort erarbeitet hatten. „Wir haben uns mit Massenphänomenen beschäftigt, mit dem, was einem auffällt, wenn man in so ein Land kommt: wie viel voller die Straßen sind, wie sich die Energieströme bewegen – plötzlich laufen alle los, und man versteht nicht, warum. Geht es um einen Dieb, ist das jetzt doch der Staatsstreich oder gibt’s dort hinten nur billig was zu kaufen? Die erste dieser Aufführungen hieß ‚Wahlen und Besessenheit‘ und hatte 80 Mitwirkende – in einem Raum für 99 Zuschauer.“ Knut Klaßen. Foto Anselm Reyle Vom Angeben und Betrügen Die Prater-Arbeiten kamen 2005/06 heraus, und mit ihnen hat die Gruppe laut Gintersdorfer „das Material für die Aufführungen angelegt, die wir heute machen“. Ihre unheilige Themen-Dreifaltigkeit heißt: Politik – Religion – Showbiz. Für das Aachener Theater inszenieren sie ein großes Religionsspektakel, das die ganze Stadt bespielt. Und, typisch für sie, auf die raumgreifende Expansion folgt eine Serie kleiner, konzentrierter Zweipersonenstücke. Typisch ist auch, wie es dazu kommt: Gotta Depri, einer der Ivorer, mit denen sie arbeiten, möchte in Hamburg bleiben, und damit die Leute sehen, was er alles kann, und ihn vielleicht engagieren, entsteht „Logobi 01“ mit Gotta Depri und Hauke Heumann, der seine Worte übersetzt und seine Bewegungen imitiert. Logobi ist der heißeste Showtanz in den Klubs von Abidjan, und im kalten Hamburg zeigt Depri nun, dass er ihn genauso gut beherrscht wie den tra- 24 ditionellen und den Straßentanz oder auch jenen anderen, den er nie verstanden hat und den die Europäer so lieben: Contemporary. Das ist, halb improvisiert, halb fixiert, sehr komisch, sehr direkt und befreiend, und dazu noch die Erfindung einer völlig neuen Theaterform. Die wird zwischen Metaebene und Glamoursehnsucht in fünf Folgen neu variiert, mit unterschiedlichen Themen und Darstellern (später hauptsächlich Franck Edmond Yao), handelnd vom Angeben und Betrügen, von Geld, Stars und Lebensstil und schließlich von Othello und der Frage, wer er ist. „Othello c’est qui“ entsteht 2008 und ist die erfolgreichste Arbeit von G/K, vielleicht auch deshalb, weil sie die Erfahrungen und Erkenntnisse der Logobi-Serie bündelt. Franck Edmond Yao und Cornelia Dörr befragen Klassik und Leben aus entgegengesetzten Perspektiven: Sie erklärt ihm die „Othellos“ von Neumeier bis Pucher, er ihr die Welt, aus der Othello kommt. Dass man 400 Jahre lang das gleiche Stück spielt, kann Yao nicht verstehen, dass der eifersüchtige Mann seine Frau für besessen hält, schon eher. Ihr Diskurs ist leicht und intelligent, mal komisch, mal abgründig; die französischen und deutschen Sätze korrelieren mit einer souverän servierten Bewegungssprache und diversen Schichten von Selbstbezüglichkeit und Mimikry. Ganz nebenbei zeigt Yao auch noch, was für einen tollen Othello er spielen könnte, wenn er nur wollte, und Dörr darf einen Monolog lang Elisabeth von England sein. Beide sind auch deshalb so beeindruckend, weil sie über Eigenschaften verfügen, die auf deutschen Bühnen eher selten anzutreffen sind: große Präsenz, Lässigkeit, Spielwut und Subversion. Bei „7 % Hamlet“, das die Gruppe im Jahr darauf in der Box des Deutschen Theaters Berlin herausbringt, interessiert sie vor allem der Geisterspuk, der angeblich sieben Prozent des Textes ausmacht. Und um den Shakespeare-Zyklus zu erweitern, haben sie kürzlich ein altes „Macbeth“-Projekt neu erarbeitet. „La Société du Mal“ (Die Gesellschaft des Bösen) ist eine aggressive Theaterséance zwischen foul und fair: Den Zuschauern werden die Schuhe von den Füßen gerissen und an die Wand geschmissen, ein Opfer wird nach allen Regeln Schwarzer Magie verhext, und das geht einem, aller westlichen Aufgeklärtheit zum Trotz, schon kräftig unter die Haut – man begreift ganz sinnlich, warum Aberglaube und Feticheure in Afrika bis heute so mächtig sind. „Très très fort“ (2009) hingegen führt die banale Seite des Aberglaubens vor: die Politik. Es erzählt die Geschichte der Elfenbeinküste seit der Unabhängigkeit als Parade hochtrabender Charaktermasken, denunziert Stilisierung und Duktus der jeweiligen Herrscher und ist dabei stets durchlässig für deutsche Parallelaktionen. Monika Gintersdorfer ist eine Grenzgängerin: Europa und Afrika, Stadttheater und freie Szene – sie holt sich die Inspiration, TdZ · November 2010 phiensaele Berlin und FFT Düsseldorf. Denen sind sie immer treu geblieben, auch wenn es Ausreißer gibt wie „Eleganz ist kein Verbrechen“, das im September im Theater Unten des Bochumer Schauspielhauses Premiere hatte. Da beschäftigen sie sich wieder einmal mit dem ivorischen Tanz- und Lebensprinzip „couperdécaler“, das sie als „Ich bau mir’s selbst zusammen und mache, was ich will“ erklären. Aber sie erklären es eben nicht, sondern sie tanzen, singen, spielen, schwitzen es heraus mit großer Lust und großem Können, und danach erheben sie den Zauberer, der einen Menschen in einen Hund verwandelt, zum afrikanischen Gegenpol der Lacans und Foucaults des alten Europa. Nur fünf Probentage später kommt am FFT Düsseldorf „Erleide meine Inspiration“ heraus, das die Kampfrhetorik von Politikern und Evangelisten miteinander verknüpft und die noch immer ausstehenden Wahlen an der Côte d’Ivoire als amerikanischen Western-Showdown imaginiert. Sie haben immer schon schnell und viel produziert, aber mitunter merkt man jetzt doch, dass sie sehr „in“ sind und auf (zu?) vielen Hochzeiten tanzen. Es kommt zu Wiederholungen und Redundanz, und manchmal wirkt es wie mit heißer Nadel genäht. Aber wahr ist auch, dass selbst eine schwächere Aufführung von Gintersdorfer/Klaßen immer noch besser ist als fast alles, was man sonst so sieht im deutschen Performancegewerbe. Das hat viel mit ihren Tänzer-Schauspielern zu tun, mit Gotta Depri und mit Franck Edmond Yao, dem Charismatiker der Gruppe. In der harten Schule der Nightclubs von Abidjan hat er eine Power, Präzision und Show-Potenz entwickelt, die jedes Publikum „knacken“ kann. Das zeigte sich auch beim Festival Rue Princesse, das gerade in Berlin und Hamburg stattfand. Die Kompaktversion eines Großspektakels, das die Gruppe im Frühjahr in Abidjan veranstaltete, war anstrengend für alle Beteiligten, auch fürs Publikum. In drei langen Nächten gab es ein gutes Dutzend Aufführungen von Gintersdorfer/Klaßen und befreundeten Künstlern, und Yao spielte in fast allen mit. Aber er durchlief seine Tour de Force, als wäre sie ein Klacks. Der Mann ist einfach fouka fouka. TdZ · November 2010 Monika Gintersdorfer. Foto Knut Klaßen wo sie sie kriegen kann. Und sie ist pragmatisch genug, sich und ihre Darsteller/-innen unterzubringen, wo immer es geht. Franck Edmond Yao alias Gadoukou la Star ist an der Côte d’Ivoire eine Berühmtheit und tritt weiterhin in dortigen Klubs auf, auch wenn er mittlerweile in Paris lebt. Dass er in Deutschland richtig Geld verdient, gefällt ihm natürlich, und er ist dabei zum hochprofessionellen Schauspieler geworden – hochprofessioneller Tänzer war er immer schon. Gintersdorfers Konzept beruht auf der Kraft der Authentizität. Niemand kann sich bei ihr verstellen, aber jeder gewinnt Tiefenschärfe. Ihre Darsteller strahlen Nonchalance und Freiheit aus, können sich über ihre Schwächen lustig machen und blitzschnell reagieren, wenn der Kollege plötzlich einen Einfall hat und also den Spielverlauf sprengt. Solche Spontanimpros sind durchaus erwünscht – „Logobi 05“ mit Yao und Richard Siegal wird jedes Mal sogar komplett improvisiert, ist jedes Mal anders und in den besten Momenten nicht weniger als die Begegnung zweier Kulturen auf Augenhöhe. Ivorische Grandezza und deutscher Sarkasmus „Beim Logobi hat jede Geste, jede Bewegung eine Bedeutung, der Tanz ist wie eine Sprache – und das hat uns natürlich gefallen! Aber wir haben ihn auch wegen seines Charakters ausgesucht, den man ungefähr so beschreiben kann: Schau mich an, schau, wie toll ich bin. Ich werde bestimmt ein Star und viel Geld verdienen, aber ich bin auch stark, und deshalb werde ich dich vorher noch mal richtig verprügeln. Diese Mischung aus Glamour und Wehrhaftigkeit – das ist es!“, sagt Monika Gintersdorfer, und das könnte auch eine Definition ihrer eigenen Arbeit sein. Sie haben sich das Halbseidene, Auftrumpfende der boîtes abgeguckt und deren wilden Charme. Und sie wollten von Anfang an Geld verdienen mit dem, was sie tun, denn sie brauchten es dringend. „Wir sind eine Gruppe, die so viele Auftritte haben will wie möglich, egal ob wir müde sind oder nicht: Wir wollen dieses Geld verdienen! Und dieses Geld wird am nächsten Tag schon wieder ausgegeben. An der Côte d’Ivoire werden die Tänzer mit Münzen und Scheinen beworfen, wenn die Stimmung gut ist. Dort ist es cool, mit seinem Geld anzugeben, indem man sich großzügig von ihm trennt. Hier klappt das natürlich nicht – wir haben es anfangs ja durchaus versucht –, hier denkt das Publikum: Ich habe schon die Karte bezahlt, das reicht.“ Und so spielen sie Afrika und Europa beschwingt gegeneinander aus – Afrika gewinnt fast immer – und lieben es, die unterschiedlichen Mentalitäten in den jeweils anderen Kontext zu setzen, ivorische Grandezza und deutschen Sarkasmus miteinander zu verquirlen. Als freie Gruppe sind sie auf Produktionshäuser angewiesen und fanden sie im Dreigestirn von Kampnagel Hamburg, So- PORTRÄT Eine Mischung aus Glamour und Wehrhaftigkeit – „Eleganz ist kein Verbrechen“ (rechts, Bochum 2010) und „Très très fort“ auf Kampnagel Hamburg (Mitte, 2009) und in Abidjan von Gintersdorfer /Klaßen. Fotos Knut Klaßen 25 König entartet, Dimiter Gotscheff und Mark Lammert übermalen an der Volksbühne Godards „La Chinoise“ von Sebastian Kirsch Z u den beständigsten Zügen im Werk Jean-Luc Godards gehört die Konfrontation des Films mit den bildenden Künsten. Zum Beispiel öffnen seine Bilder immer wieder die Assoziationsräume der Grundfarben – man denke an die wiederkehrenden monochromen Farbflächen, an das leuchtende Rot des Bluts oder an die blauweiß-rote Blechlawine aus „Le week-end“. Godards Nähe zur bildenden Kunst reicht aber noch weiter und zeigt sich vor allem in einer Montagekunst, die wie eine „Bildkompresse“ (Klaus Theweleit) extrem verdichtete Sequenzen generiert und Sehen und Denken zusammenzwingt. Man könnte auch von Schichtbildern sprechen, die Gesten aus verschiedensten Kontexten überlagern, zitieren und zitierbar machen. Damit ist Godard aber auch der Brechtianer unter den Filmemachern – und es ist ein Jammer, dass die Bühnen, die doch so oft nach Kinostoffen greifen, sich nicht stärker an seinem Werk abarbeiten. Dieses Versäumnis holt Dimiter Gotscheff an der Volksbühne nun nach; und es ist nur logisch, dass er das gemeinsam mit Mark Lammert tut, der ja nicht einfach Bühnenbildner ist, sondern Maler und bildender Künstler. „Eine Übermalung“ heißt der Abend im Untertitel, eine Bezeichnung, die Godards Schichttechnik konsequent in die Inszenierung verlängert und zugleich Heiner Müllers „Bildbeschreibung“ aufruft, einen Text, der seinerseits wie eine Bildkompresse arbeitet. „La Chinoise“ von 1967 also, Godards häufig prophetisch genanntes Porträt einer maoistischen Studentengruppe, die die elterliche Wohnung eines der Mädchen zur Kommune umdefiniert. „Kinder, die in den Ferien versuchen, ein Indianerzelt zu bauen“, hat Godard gesagt. Das Indianerspiel gipfelt im Mord an einem sowjetischen Botschafter. Allerdings benutzt der Film das Handlungsgerüst, das von fern Dostojewskis „Dämonen“ zitiert, vor allem, um zahlreiche ästhetische und politische Reflexionen einzuflechten und engzuführen: „Ein Action-Film des Sprechens“, schrieb Peter Handke 1968 über „La Chinoise“. Es ist aber auch ein Film, der sich exzessiv der Kraft der Primärfarben widmet. Einmal ist sogar die Rede davon, „dass man lediglich die drei Primärfarben Blau, Gelb und Rot in ihrer perfekten Reinheit verwenden solle, unter dem Vorwand, dass die anderen Farben darin schon enthalten seien“. Das wiederum passt hervorragend zu den Bühnen Mark Lammerts, die ihre Geräumigkeit aus konsequenter Reduktion beziehen und zudem bevorzugt mit einfarbigen Objekten operieren. Es verwundert also nicht, dass Raum und Farbe in dieser Inszenie- 26 Wo der Himmel auf den Kopf gefallen ist – in ihrer Bühnenadaption von Godards „La Chinoise“ verweisen Dimiter Gotscheff und Mark Lammert auf eine verlorene Generation, die nicht weiß, auf welches Erbe sie sich noch beziehen kann. Foto Thomas Aurin rung vielleicht mehr als je zuvor eigenständige Protagonisten sind. So stark sind diese unbelebt-belebten Akteure, dass die sieben Spieler (plus ein wechselnder Gast, der an der Rampe Prolog und Epilog spricht) es nicht leicht haben, sich gegen sie zu behaupten – es gelingt in unterschiedlichen Aufführungen unterschiedlich gut. Doch gerade diese Fragilität spricht für die Qualität der Arbeit. Wir sehen also auf dem hinteren Teil der Drehbühne einen Wald gelber Stoffwände, die sich drehen und aufklappen lassen. Die Installation ähnelt einem Labyrinth, durch das die Spieler huschen, in dem sie sich verbergen oder aus dem sie in chorischer Formation heraustreten. Zugleich ist sie das erste Beispiel dafür, wie Reduktion Vielfalt generiert. Denn man kann in ihr auch eine Demonstration sehen, mit Transparenten, die ihre Schriften verloren haben, ein Echo sozialistischer Maiparaden, eine Armee, einen antiken Chor, aber auch eine Zeltstadt, ein Nomadencamp, einen „Langen Marsch“. Die Bilder explodieren und lassen sich doch immer wieder auf das Thema des Abends rückbeziehen. Aber die bewegliche Bildermaschine erlaubt auch die strukturelle Übersetzung von Godards Filmtechniken auf die Bühne. Einmal, weil sie je nach Position und Bewegung verschiedene TdZ · November 2010 Spielräume öffnet und die Trennwände in gewisser Weise dem Filmschnitt entsprechen, aber auch in einem konkreteren Sinn. So gibt es etwa in „La Chinoise“, relativ spät, eine wunderbare Szene, die eine lange Diskussion zwischen der jungen Maoistin und dem Philosophen Francis Jeanson zeigt. Das Gespräch entspinnt sich in einem Eisenbahnabteil, die Sprechenden sitzen sich gegenüber, und die meiste Zeit fokussiert die Kamera in einer Langeinstellung das Zugfenster, an dem die Landschaft vorübergleitet. In der Volksbühne findet dieses Gespräch ganz zu Beginn zwischen Anne Ratte-Polle und Frank Büttner im Off statt. Über die gesamte Distanz ist die menschenleere Tuchlandschaft zu betrachten, die im Licht golden glänzt und verschiedenste Gelbtöne versammelt – in der Tat, in den Grundfarben sind alle anderen schon enthalten. Plötzlich erklärt dann die Frauenstimme über eine Tutanchamun-Ausstellung: „Alle Leute rennen dahin, weil alles aus Gold ist. Wäre Tutanchamun aus Papier, würde sich niemand dafür interessieren.“ Spätestens damit laden die Farben auch zu symbolischen Lesarten ein: Natürlich ist das horizontal angeordnete Goldgelb auch der Glanz des Geldes. Und als zu einem späteren Zeitpunkt Bernd TdZ · November 2010 Grawert, mit zwei roten Federn am Kopf wirklich ein maoistisches Indianerkind, die Mechanismen des Kapitals zu verbildlichen sucht, indem er die Darsteller nebeneinanderstellt – eine „Addition von Nullen“, wie er sagt –, weiß man nicht mehr recht, ob sich nun der gelbe Chor auf den Spielerchor abbildet oder umgekehrt. Dem Gelb kontrastiert ein leuchtendes Blau: Gegen Ende fällt aus dem Schnürboden ein riesiges blaues Segel herab, das sich fortan über dem Labyrinth aufspannt und seinen Drehungen folgt. Zu diesem Zeitpunkt hat sich die Kommune allerdings schon aufgelöst – von nun an treten die Spieler einzeln, maximal zu zweit, nach vorne, um Monologe aus verschiedenen Godard-Filmen zu sprechen. So schildert Marie-Lou Sellem das sexuelle Abenteuer aus „Le week-end“, eine Szene, die ein weiteres Beispiel für Gotscheffs Übersetzungsmethode ist: Wo im Film mehrmals die Musik dazwischenfährt und den Monolog unverständlich macht, fällt hier Barbara Prpic mit einem zerhackten Text aus Godards „Pierrot le fou“ ein: „Die Welt, trostlos. König entartet, Kinder krank. Idioten. Zwerge. Behindert.“ Prpic verweist damit zugleich auf eine mögliche symbolische Aufladung des blauen Segels. Denn deutlich bezeichnet dieses auch eine verlorene Vertikale. Mit ihm ist buchstäblich der Himmel auf den Kopf gefallen. Man kann auch die Schärpe des Königsmantels darin sehen, den das berühmte Porträt Ludwigs XIV. zeigt. Folgerichtig beschreibt auch Grawerts Monolog den Verlust der genealogischen Ordnung, des Erbes und des Bodens: „Wenn der Vater des Vaters meines Vaters eine schwierige Aufgabe zu erfüllen hatte, begab er sich an eine bestimmte Stelle im Wald, entzündete ein Feuer und fiel in ein Gebet.“ Der „Vater des Vaters“ hatte bereits das Gebet vergessen, kannte aber noch die Stelle und wusste, wie man Feuer macht. Der Vater hingegen konnte nur noch den Ort nennen, und dem letzten Generationenglied bleibt nichts mehr als die Erinnerung, dass es ein solches Wissen einmal gegeben hat. Damit aber ist der Punkt angesprochen, der uns jenseits aller Revolutionsrhetorik nach wie vor mit 1968 verbindet und der gerade in Godards Film so deutlich wird. Denn „La Chinoise“ zeigt letztlich Mitglieder einer verlorenen Generation, Kinder, die nicht wissen, auf welches Erbe sie noch referieren können, und die mit der Vergangenheit auch die Zukunft verloren haben. Zwischen den widerstreitenden Polen Blau und Gelb, Vertikale und Horizontale, spannt sich daher in der Tat ein gigantischer Raum auf, der komplettiert wird durch ein revolutionäres Rot. Das allerdings wird nur noch sparsam eingesetzt. Die rote Tuchwand, die zu Beginn vor dem gelben Wald aufgebaut ist, wird fortgetragen, noch bevor die Spieler sich gezeigt haben. Nur ab und an kommt sie in einer spontanen revolutionären Regung („Ich mach’s. Gebt mir eine Bombe“) mal nach vorne. Damit findet der Abend zu einer Pointe, die jenseits aller Revolutionsnostalgie liegt. Letztlich sind Theater oder Kunst nur dann interessant, wenn sie mit einer wie auch immer gearteten Vorstellung vom anderen Leben verbunden bleiben. Vielleicht ist davon heute nur noch das Negativ übrig. Aber ohne den Bezug bleibt nichts als die gelbe Horizontale. 27 AKTUELLE INSZENIERUNG Kinder krank Look Out [9] Musik ist kein Geschmacksverstärker Die wundersamen Klangwelten des Komponisten, Musikers, Sounddesigners und Performers Kornelius Heidebrecht von Friederike Felbeck W as ist er eigentlich wirklich: Komponist schrieben haben, täg- oder Sounddesigner für Schauspiel und lich sieben, acht Stun- Tanz, Bühnenmusiker oder Livemusiker, den am Klavier sitzen? Multi-Instrumentalist oder Pianist, Er- Kornelius Heidebrecht zähler, Performer, Schauspieler? Bei will mehr und studiert Kornelius Heidebrecht gehen einem an der Robert Schu- schnell die Worte aus. Sein erstes In- mann Hochschule Düs- strument jedenfalls war das Klavier. Als seldorf im Fachbereich Kind stellt er sich anstatt der Noten manchmal Bücher von Lenin auf Bild und Ton: Zu seinen und improvisiert dazu. Fächern zählen auch In- Geboren wird Kornelius Heidebrecht 1979 in Alma-Ata, Kasachstan. Sein Vater ist Bühnenbildner, seine Mutter Chorleiterin. Bereits mit Wie klingt Neverland? – Kornelius Heidebrecht (hier mit Valery Tscheplanowa) in „Alice im Wunderland“. Foto Alexander Paul Englert formatik, Elektro- und Nachrichtentechnik. fünf Jahren besucht er eine Schule für besonders begabte Kinder, lernt Zeitgleich entwickelt er mit dem TAD – Theater Arbeit Duisburg Sprachen, Mathematik, wird in Gehörbildung unterrichtet und singt zahlreiche Projekte wie „Meet John Doe – Das Weiße wird uns immer im Chor. 1989 siedelt die Familie nach Deutschland um. An der Nie- fremder“. Hier begegnet er auch dem Regisseur Martin Kloepfer, mit derrheinischen Musik- und Kunstschule bereitet er sich auf ein Kla- dem er bald eine fruchtbare Symbiose eingeht für Abende wie Wede- vierstudium vor, nimmt an Regional- und Landeswettbewerben teil, kinds „Lulu“ (Theater Koblenz, 2007), „Der futurologische Kongress“ gibt Konzerte. Aber sich nur mit Werken beschäftigen, die andere ge- nach Stanislaw Lem (Deutsches Theater, 2009), „Parzival“ (Zürcher Spielmann mit rätselhaft amorpher Bühnenpräsenz – Kornelius Heidebrecht (r.) in „Parzival“. Foto Toni Suter / T+T Fotografie Schauspielhaus, 2009) und „Die Pest“ (Schauspiel Frankfurt, 2010). Kloepfer sieht vor allem Heidebrechts darstellerisches Potenzial und seine rätselhaft amorphe Bühnenpräsenz. Er besetzt ihn in „Lulu“ als Hugenberg, macht ihn im „Futurologischen Kongress“ zum anarchischen Bühnenpartner des Schauspielers Thomas Schmidt und zum Spielmann der Gralslegende. Hier, im Zürcher „Parzival“, führt er, eine Lanze rhythmisch skandierend in seiner Rechten, eine Horde von müden und verstaubten Gralsrittern über die Bühne, die in Blockflöten pusten, gefolgt von einer Tuba und einer Marschtrommel. Unter der Bühne sind Mikrofone versteckt, die den Klang ihrer Wanderschaft abtasten, digitalisieren, sampeln und wieder zu den anderen Klängen auf die Bühne zurückschicken. Dort entsteht eine ganz eigene Welt aus Rhythmus, Live Art und vielschichtiger musikalischer Erzählung: das Umblättern eines Buches, das Ticken einer Uhr, Geräusche von Hundespielzeug, das Rufen eines Uhus, der Klang einer Bowlingkugel aus Eis, die in tausend Stücke zerbirst, mischen sich mit einem präparierten Klavier oder einer indischen Shrutibox. Keine Sounds auf Bestellung, keine Atmosphäre, denn Musik ist kein Geschmacksverstärker. Am Schauspiel Frankfurt hat er in der vergangenen Spielzeit ein künstlerisches Zuhause gefunden: Mit Valery Tscheplanowa steht er in „Alice“ nach Lewis Carroll auf der Bühne, eine mutig offen gehaltene, verzaubernde Improvisation. Nun phantasiert er Songs und Sounds für „Peter Pan“, eine Koproduktion zwischen FFT und Theater an der Ruhr. Er selbst spielt den kleinen Michael, der mit seiner Schwester ins Neverland entführt wird. Wie es dort wohl klingt? 28 TdZ · November 2010 haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern. Heimat ist ein Gefühl Die Stücke der Autorin Marianna Salzmann sind Plädoyers für die Komplexität des Menschen von Mehdi Moradpour Sardehaie T heater ist per se ein Politikum.“ Der Mikrokosmos einer Liebesbeziehung – etwa zwischen Tochter und Vater („Muttermale Fenster blau“) – und Geschichten im Amtsgericht in Gebärdensprache („geistern folgen“) sind für Marianna Salzmann genauso politisch wie der Wunsch, Deutschland umzudenken („Nudisten Barbecue“) oder Thesen über „Ausländer mit kriminellen Genen“ („Weiß- brotmusik“). Die 1985 in Wolgograd geborene Autorin schreibt für das Theater, um unmittelbare Reaktionen und Stellungnahmen zu er- Hinter solchen Taten stehen nicht in erster Linie kulturelle Hintergründe, sondern Menschen – sagt die Autorin Marianna Salzmann, hier eine Szene aus ihrem Stück „Weißbrotmusik“. Foto Ursula Holmeier zielen. Ihre Texte fallen nicht nur durch die provokanten Inhalte, sondern auch durch Experimente mit sprachlichen Stilen und bewusstes Verwischen gedachter Trennlinien zwischen unterschiedlichen Definitionen und Begrifflichkeiten auf. Konversationsmaximen oder Schreibkonventionen spielen keine Rolle. Mal bestehen die Textfragmente aus philosophisch anmutenden Gedankenspielen poetischer Art, mal aus bewusst überzeichneten Darstellungen. In Moskau aufgewachsen, übersiedelte Marianna Salzmann 1995 sechs Stücke geschrieben. Auf die Frage, ob sie ihre eigenen Stücke mit ihrer Familie nach Deutschland. Den Begriff Heimat definiert sie auch inszenieren möchte, sagt sie: „Es wäre so, als würde ich meine immer wieder neu. „Sie ist auf jeden Fall ein Gefühl. Mit Orten ver- eigenen Fragen selber beantworten, um mir meinen Weltblick zu be- binde ich sie selten.“ 2005/06 studierte Salzmann Literatur, Theater stätigen. Ich will auch sehen, was ich noch nicht weiß über meinen und Medien an der Universität Hildesheim. Nach Absolvierung ver- Text.“ schiedener Regie- und Dramaturgieassistenzen am Schauspielhaus Zurzeit interessieren Marianna Salzmann vor allem Helden und Hannover und Theaterhaus Jena führte sie bei der Studentenproduk- Heilige: Ausgehend vom Phänomen des Stimmenhörens und in An- tion „Ein Attentat auf Godot“ Regie. Das Stück, ein satirischer Blick lehnung an den Mythos von Jeanne d’Arc geht sie der Frage nach, auf Becketts Werk jenseits intellektueller Rezeptionen, gewinnt 2007 was eigentlich Helden sind. Oder Heilige. Und warum sie dazu ge- den Publikumspreis des Theaterfestivals Faust in Hannover und wird macht werden. Helden braucht auch die junge schwangere Nurit, dort im selben Jahr als deutschsprachiges Stück zum Osteuropäischen eine der Hauptfiguren von „Weißbrotmusik“, das 2009 den Wiener Theaterfestival eingeladen. Ihre bevorzugte Ausdrucksform ist aber Wortstaetten-Autorenpreis gewann und Ende November am BAT in das Schreiben: Sie ist Redakteurin beim Magazin freitext und studiert Berlin gezeigt wird. Der Vater von Nurits ungeborenem Kind hat zu- seit 2008 Szenisches Schreiben an der UdK Berlin. Seitdem hat sie sammen mit einem Freund einen Rentner fast zu Tode geprügelt und wird möglicherweise abgeschoben. Marianna Salzmann reagiert mit dem Stück auf einen Vorfall in der Münchner U-Bahn im Dezember 2007 und verhandelt die daraus entstandenen Debatten um den Zusammenhang zwischen Kriminalität und kulturellen Wurzeln. In bilderreicher Sprache stellt sie Figuren dar, die sich in Situationen Marianna Salzmann. Foto Lucian Carballad wiederfinden, die sie überfordern, und deshalb scheitern. Salzmann geht es dabei nicht um einfältige Thesen zu kulturspezifischen Normen einer Gesellschaft. Sie gibt keine eindeutigen Erklärungen. Stattdessen zeigt sie, dass in Fällen wie dem in der Münchner UBahn selten kausale Zusammenhänge existieren. Ihre Texte fordern auf, die Komplexität der Ereignisse anzuerkennen: Hinter solchen Taten stehen nicht in erster Linie kulturelle Hintergründe, sondern Menschen. TdZ · November 2010 29 TDZ ENTDECKT Von diesen KünstlerInnen Käuzchenrufe und DasArts in Amsterdam will für seine Studenten vor allem künstlerisches Labor sein – fern von Produktionszwängen und Spartendenken von Nicole Gronemeyer L aboratorium ist wohl die knappste Umschreibung für das, was DasArts in Amsterdam seinen Studenten sein will. Ins Leben gerufen und über viele Jahre geleitet wurde die Schule von Ritsaert ten Cate, dem Gründer des legendären Mickerytheaters, eines der wichtigsten Orte der Theateravantgarde, an dem Robert Wilson, die Wooster Group oder Jan Lauwers groß wurden. Nach der Schließung des Mickery gründete ten Cate DasArts, genauer: De Amsterdamse School – Advanced Research in Theatre and Dance Studies. Heute ist sie Teil der Theaterschool, die als eine von sechs Fakultäten der Amsterdamer Kunsthochschule in den verschiedenen Bereichen von Tanz, Theater und Performance ausbildet. In seinen Anfängen ab 1994 war DasArts ein Postgraduiertenstudium für Theaterschaffende; ein Ort für Regisseure, Bühnenbildner, Choreografen und Mimen, die sich auf die Suche nach neuen Formen und Methoden für ein Theater der Gegenwart machen wollten. Seit dem vergangenen Jahr, im Zuge des Bologna-Prozesses, in dem die Studiengänge europaweit vereinheitlicht werden sollen, ist die Ausbildung auf den Abschluss Master of Theatre umgestellt worden. Für DasArts war das auch ein Anlass, sich nach 15 Jahren neu zu positionieren. Künstlerinnen und Künstlern unterschiedlichster Disziplinen will DasArts einen Ort fern von produktiven Zwängen und engem Spartendenken geben, an dem sie gemeinsam lernen und ihre individuelle künstlerische Entwicklung vorantreiben können: „International training laboratory for professionals in the field of the performing arts“ nennt man sich nun. Dennoch war die Entscheidung für den Abschluss Master of Theatre anstelle des ebenso denkbaren Master of Performing Arts eine bewusste, denn der Blick, mit dem die Studierenden evaluiert werden, ist ein „theatralischer“ und geht von den Grundbegriffen „Repräsentation“, „Narrativität“ und „Live“-Erlebnis aus. Doch theoretisch auf Linie gebracht werden soll niemand, man sucht im Gegenteil das, was hier „significant collisions“ genannt wird: DasArts will ein Laboratorium sein, in dem produktive Elemente aufeinanderstoßen und eine Reaktion in Gang setzen, die den Studierenden und schließlich auch dem Theater neue Impulse geben kann. Der Ort, an dem dies stattfindet, ist ein schlichtes zweistöckiges Haus in der Mauritskade, einer Straße, die an ein eher ruhiges Wohnviertel im Osten Amsterdams grenzt. Früher war hier ein Sanatorium für lungenkranke Kinder untergebracht, die von der breiten Terrasse des Hauses aus in den Oosterpark blicken konnten. Heute liegen in den hellen Fluren mit den vielen Fenstern und 30 offenen Türen die Büros der Mitarbeiter sowie Seminar- und Studioräume, Werkstätten und Bibliothek und eine große Gemeinschaftsküche. Fünfzehn Studentinnen und Studenten aus aller Welt werden hier jedes Jahr neu aufgenommen, um die viersemestrige Ausbildung zu absolvieren. Eine von ihnen ist die Bulgarin Zhana Ivanova, die ihren Abschluss gerade in der Tasche hat und beschreibt, wie sie zu DasArts kam. Sie hat Linguistik und Theaterwissenschaften in London studiert und als Übersetzerin gearbeitet, daneben gehörte sie zu einer Performancegruppe. Ihr künstlerischer Weg war ihr immer klar, sagt sie, sie hatte immer ein Interesse an linguistischen Strukturen, mit denen sie arbeiten wollte. Zu DasArts kam sie, weil sie sich in einer Situation befunden hatte, in der sie von Projekt zu Projekt hetzte und im Begriff war, ihre künstlerischen Ziele aus den Augen zu verlieren. Hier fand sie den Freiraum, den sie für ihre Arbeit brauchte. Sie setzt sich mit der Struktur von Sprache auseinander und schreibt Skripte, bis hin zu den Dialogen, um sich dann Laien oder Performer zu suchen, mit denen sie diese Texte erarbeitet und Liveperformances, vorwiegend in Galerien, macht. Die UnterstütTdZ · November 2010 HOCHSCHULEN Ku-Klux-Kandy zung, die sie bei DasArts gefunden hat, beschreibt sie als sehr produktiv: Sie wurde immer dazu aufgefordert, ihre Ideen zu realisieren, und fand in der Schule ein Umfeld vor, das sie von ihren Ideen überzeugen musste, das dann aber immer hinter ihr stand. So konnte sie experimentieren und sich eine Art toolbox erarbeiten, die ihr nun, so hofft sie, den Start in neue Arbeiten ermöglicht. Georg Weinand, langjähriger Dramaturg der Schule, erklärt die Ausbildungsstruktur, die dieser Erfahrung zugrunde liegt. Am Anfang der Ausbildung stehen Fragen: Wo steht man, wo will man hin? Welche Fähigkeiten bringt man mit? Und auch: Welches Projekt will man realisieren? Daraus werden im Gespräch mit einem Mentor objektive Beurteilungskriterien in einem Studienplan festgelegt, der im Verlauf der vier Semester zur Referenz wird, um die individuelle Entwicklung einzuschätzen. Die Mentoren kommen nicht aus dem (sehr kleinen) Kollegium der Schule, sondern sind Journalisten, Kuratoren oder andere Kulturschaffende, die mit ihren Erfahrungen den Mentee während des gesamten Studi- ums begleiten. Reguläre Vorlesungen oder Seminare gibt es nicht, sondern während der vier Semester wechseln sich zwei Blocks und zwei Contextuals ab. Während es in Letzteren um die individuelle Projektarbeit geht, ist der Block ein zehnwöchiges Programm, das von einem Gastkurator geleitet und zu dem Spezialisten aus den unterschiedlichsten Disziplinen eingeladen werden. „The Glamour of Violence“ oder „Who is I?“ lauten etwa die Titel der Blocks, in denen in Workshops, mit Vorträgen und auf Reisen einem Thema in allen seinen Verzweigungen nachgegangen wird. Die Fragestellung ist abstrakt, die Annäherung durchaus sinnlich, etwa eine Bondage-Session, um der Faszination der Gewalt auf die Spur zu kommen, oder ein Arbeitsaufenthalt in TdZ · November 2010 einem israelischen Kibbuz zum Thema „Learning by Living“. Die Idee der Blocks ist, die Studenten mit einer solchen Fülle an unterschiedlichsten Informationen zu bombardieren, dass sie lernen, ihren eigenen Pfad durch den Dschungel zu schlagen und mit „performativen Antworten“ zu reagieren. Am Ende des Studiums steht der Master Proof, der in den regelmäßig im Haus stattfindenden Open Labs öffentlich präsentiert wird. Im diesjährigen Open Lab haben acht Studentinnen und Studenten ihre Arbeiten vorgestellt, mit denen sie auf den Block „Learning by Looking, Learning by Living, Learning by Teaching“, kuratiert von dem Schriftsteller und Dramaturgen Peter Stamer, geantwortet haben. Die Mehrzahl dieser Arbeiten hat den Charakter einer Installation, viele sind Videoarbeiten, wie die des Niederländers Nir Nadler. Er zeigt in einer Endlosschleife das Gesicht einer jungen farbigen Frau, das seiner Kommilitonin Ntando Cele, die ausgiebig und mit Hingabe einen weißen Lutscher in der Form eines Ku-Klux-Klan-Mitglieds zerbeißt: „Ku Klux Kandy“. Er will die Leute erreichen und sucht deutliche Bilder, sagt Nir Nadler; ein versammeltes und auf das Kunstereignis konzentriertes Publikum wie im klassischen Theater interessiere ihn nicht. Dem steht die Arbeit von Elina Cerpa diametral entgegen. Ihre Performance findet im abgedunkelten Studio mit dem freundlichen Namen RitSael statt. Die 1977 geborene Lettin hatte bereits mit Alvis Hermanis gearbeitet und eigene Performances am Theater in Riga herausgebracht, bevor sie zu DasArts kam. Auch sie wollte aus einer Vermarktungsschleife aussteigen und zu ihren Inspirationsquellen zurückfinden, zu denen eine starke Naturbindung gehört. Ihre Performance mit dem Titel „Uii iii Ui Uiiii iii i“ reagiert auf eine Nachtwanderung mit den Teilnehmern des Blocks während des Kibbuzaufenthalts. Daraus ist eine sehr fragile Arbeit entstanden, in der sie sich zur Musik von Arvo Pärt gemeinsam mit dem Vogelstimmenimitator Arend de Jong über die Bühne bewegt. Man hört seine eindringlichen Käuzchenrufe, zu denen Elina Cerpa in einen Dialog tritt, indem sie selbst Natur nachahmt, sich mal in einen Baum verwandelt, mal an ein Tier erinnert, bis beide schließlich anfangen, in menschlicher Sprache miteinander zu sprechen, und gemeinsam den Raum verlassen. Elina Cerpa nennt DasArts ihr „safe house“, in dem sie den Freiraum und den Rückhalt gefunden hat, den sie für ihre sehr poetische Kunst braucht. Vielleicht ist DasArts vor allem dieses: ein Ort, der den Künstlern, die sich hier zusammenfinden, das Angebot macht, miteinander auf die Suche zu gehen und ihr Talent zu entwickeln. 31 Spielen unterm Damoklesschwert W o ich bin, ist keine Provinz“ – am Theater Neubrandenburg/Neustrelitz glaubt man heute mehr denn je an diesen Satz von Christoph Schroth, der hier gerade „Kabale und Liebe“ inszenierte. Provinz? Auf ihre Weise waren Neustrelitz und Neubrandenburg immer zugleich auch Metropolen – kleine, überschaubare gewiss, die je nach politischem Klima im Lande den Nachteil oder den Vorteil besaßen, eher im Verborgenen zu liegen. Neustrelitz sieht man die Residenzstadt von einst wieder an, restaurierte Schlossanlagen, Seen und eines jener wunderbaren Theatergebäude, wie sie sich die Städte vor über hundert Jahren noch leisteten. Neubrandenburg: eine der Bezirksstädte der DDR. Ein Verwaltungsstandort zwischen Berlin und Rostock, mit viel Beton und wenig Gesicht. Aus dem Theatergebäude aus dieser Zeit, einer Mehrzweckhalle, ist man inzwischen umgezogen in die Pfaffengasse. Was sich etwas hochtrabend Schauspielhaus nennt, ist eine etwas größere Studiobühne, aber eine mit Atmosphäre. Die Provinz hat es in sich, zumal in Zeiten, da die großen Metropolen zerfallen, die Stadtzentren sich in uniforme Einkaufsmeilen verwandeln. Säuberlich auseinandersortiert liegen die Viertel der Reichen auf der einen und die Ghettos der neuen Unterschichten auf der anderen Seite. Multiple Parallelwelten. Was hier glaubt, nicht zusammenzugehören, wächst auch nicht zusammen. Da öffnet sich ein seelischer Leerraum, den zu füllen hier vielleicht leichter fällt als anderswo. Die Überschaubarkeit der Provinz erleichtert Aufklärung, aber nur, wenn man den Mut hat, aus dem geheimen Zirkel des Schweigens herauszutreten. Da hilft das Selbstbewusstsein solcher großen Regisseure wie Christoph Schroth, die in jeder Hinsicht frei genug sind, der Provinz ihre Provinzialität zu nehmen. Das strahlt aus, gerade auch auf die jungen Schauspieler, die sich, wenn sie anderswo gefragt werden, wo sie denn engagiert seien, bei den Namen Neustrelitz und Neubrandenburg oft mitleidig-herablassende Blicke gefallen lassen müssen. In der Provinz lernt man viel, auch den Unterschied zwischen jenem Selbstbewusstsein, das einen standhalten lässt, und einer Selbstüberhebung, die aus Mangel an Demut vor der Kunst kommt. Katja Paryla inszenierte im Frühsommer Ray Cooneys Komödie „Außer Kontrolle“ – und in diesem Hochenergiestück findet sich keine Spur von jener Biederseligkeit, mit der man etwa in Berlin im Theater am Kurfürstendamm oder dem Renaissance-Thea- 32 ter in Versuchung stünde, derartige „leichte Stücke“ zu spielen. Woran es liegt? Hier bedient man eben nicht für ein spezielles homogenes Segment des Bürgertums ganz bestimmte Unterhaltungserwartungen, hier fehlt jene schenkelklopfende Selbstzufriedenheit, mit der man andernorts ein solches Stück verderben würde – man spielt für alle, und so mischt sich Avantgardehaltung mit dem Volkstheaterangebot. Das Gedächtnis der Provinz funktioniert anscheinend besser als das der Großstadt, man lebt selbstverständlicher aus dem Gestern heraus – mit ambivalenten Auswirkungen. Auch Christoph Hein hat hier „Die wahre Geschichte des Ah Q“, die einst Alexander Lang am Deutschen Theater inszeniert hatte, noch einmal herausgebracht, in der Regie von Ekkehardt Emig von der Berliner Schule für Schauspiel. Das ist jene Ausbildungsstätte, von der die meisten der jungen Schauspieler – wie Susanne Groß, Nancy Spiller oder Christoph Bornmüller – hierher gekommen sind. Wer Erfahrungen machen oder sie weitergeben will, ist hier richtig. Karriere machen ist dabei nicht das Thema. Es sind lang erprobte Verbindungen, die sich als fruchtbar erwiesen haben – und die sich nun unter dem Dauerdruck einer geplanten Fusion in einem „Kulturkooperationsraum“ bewähren müssen. Ein Theaterverbund, der von Neustrelitz, Neubrandenburg und dem jetzt schon mitbespielten Güstrow bis nach Greifswald, Stralsund und Putbus reichen soll? Eine Idee, wie sie nur Bürokraten haben können. Täglich ändert sich die Lage, die ständige Verunsicherung spielt immer mit, der Druck bleibt. Als Annett Wöhlert, Oberspielleiterin des Hauses, im Frühjahr an der Berliner Akademie der Künste einen Förderpreis erhielt, wirkte sie wie die einzige Erwachsene unter lauter egomanen Kindern, die hier für ihre verspielten Projekte prämiert wurden. Aber wer aus einem Haus wie Neustrelitz kommt, dem ist der Sinn für solche Selbstdarstellung abhanden gekommen, dem merkt man die Last der Verantwortung an, die er trägt. Und was sie dann sagte, es passte in all dem Ernst, mit dem sie die Lage beschrieb, so gar nicht zu den fröhlich-unbeschwerten Dankesreden der anderen. Welch Ohnmacht einer unberechenbar gewordenen Politik gegenüber! Und dennoch der ständige Versuch, einen Auftrag ernst zu nehmen, der andernorts längst aufgegeben – oder soll man sagen: verraten? – wurde. Solch konzentrierten Arbeiten wie Annett Wöhlerts „Drei Schwestern“ oder auch dem Ost-West-Liederabend „Wir wollen niemals auseinandergehn ...“ begegnet man nicht oft. Darum erträgt Intendant Ralf-Peter Schulze es nur schwer, wenn durchreisende Journalisten sich darüber verwundern, dass auch hier Menschen ihre Arbeit beherrschen. Allerdings! Und die TdZ · November 2010 Kunst, die daraus resultiert, ist dann auch noch auf eine spezielle Weise mit diesem Ort verbunden. Und mit dem Mut, sich großen Themen zu stellen. Mit dem „Faust“ trieb Annett Wöhlert die Leistungsfähigkeit des Ensembles bis an die Leidensgrenze. Seit zwei Jahren ist er im Programm und jedes Mal, wenn er gespielt wird, herrscht am Theater der Ausnahmezustand. Wie mit dem Damoklesschwert über den Köpfen produktiv umgehen? Ralf-Peter Schulze pointiert die Zumutung, unter diesen Bedingungen Theater machen zu müssen, indem er das Dauerthema obskurer „Theatergutachten“ – um die Winzigkeit einer geistvollen Akzentverschiebung – zum Spielzeitmotto macht: „Theater gut achten!“ Die derzeitige Lage? Das Mehrspartentheater bleibt erhalten, auf Pläne, Neustrelitz zur bloßen Abspielstätte zu machen, hat auch die Stadt mit vehementer Ablehnung reagiert. Und solange die Kreisgebietsreform nicht abgeschlossen ist, der Großkreis neuer Träger nicht existiert, hat man eine Galgenfrist. Die Zeit, weiß Schulze, muss man nutzen für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Der „Fusionierungsrausch“ sei ohnehin vorbei, die Probleme, die man mit einer solchen Fusion löst, sind das eine – die, die man schafft, das andere. „Vielfalt statt Einfalt“ setzt das Theater dagegen. Ohne künstlerische Identität kann man den öffentlichen Auftrag nicht wahrnehmen, das Ensemble wäre dann bloß noch eine gesichtslose Tourneetruppe. Schulze macht sich über die Politik des Landes MecklenburgVorpommern wenig Illusionen und teilt seinem Publikum zur Saisoneröffnung mit, dass es an der Zeit sei, sich um die eigenen TdZ · November 2010 Angelegenheiten zu kümmern: „Solange die Gesellschaft das Theater als einen Ort begreift, wo gesellschaftliche Verhältnisse künstlerisch verhandelt werden, wird das Theater in diese eingewoben sein. Doch Theater heute kann sich auf den Vertrag mit der Politik nicht mehr verlassen: Wenn es vertrauensvoll darauf wartet, weiterhin versorgt zu werden, arbeitet es an seinem Verschwinden.“ Starke Worte, denen ebenso starke Spielzeitvorhaben folgen. Im Dezember kommt „Jedem das Seine“ von Silke Hassler und Peter Turrini im Marstall Neustrelitz unter der Regie von Annett Wöhlert zur deutschen Erstaufführung. Damit schließt sie thematisch an ihre Inszenierungen von Taboris „Mein Kampf“ und „Jubiläum“ an, stößt an Tabus im kollektiven Gedächtnis. „Witz und Katastrophe“ fordern den Zuschauer heraus. Im nächsten April inszeniert Ralf-Peter Schulze „Ein Volksfeind“, in Fortsetzung von Ibsen-Inszenierungen der vergangenen Jahre. Wie viel Wahrheit kann man sich leisten? Das ist die Frage, vor der Ibsens Badearzt Stockmann steht, der immerhin ein öffentliches Amt bekleidet. Wann also ist der Punkt erreicht, da man nicht mehr mit sich handeln lassen darf, wo man selber anfangen muss zu handeln? P.S.: Nach Redaktionsschluss wurde bekannt, dass die Philharmonie und die Theater in Neubrandenburg und Neustrelitz wieder eigenständige Unternehmen werden sollen. Das war das Ergebnis einer Sondersitzung der Hauptgesellschafter der Theater- und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz. Ziel sei es, vor dem Hintergrund der erneuten Finanznot der GmbH mit der Aufspaltung klare Verantwortlichkeiten zu schaffen. 33 TdZ November MO:November 22.11.2010 14:23 Uhr Seite 34 Blindflüge Bulgarien versucht, sich Richtung Europa zu reformieren – und lässt dabei die Kultur auf der Strecke. Ein Reisebericht von Dorte Lena Eilers „Nur ein Genie kann uns retten“ – fasste der bulgarische Theaterautor Hristo Boytchev die Lage seines Landes einmal zusammen. Überall fehlt es an Geld. Auch die Theater müssen sparen – und wissen oftmals nicht, wie sie die laufende Spielzeit überstehen sollen. Foto Dorte Lena Eilers D ie Nächte in Bulgarien können tückisch sein. Besonders in den trägen Monaten dieses Spätsommers, in denen sich über die allgemeine Entspanntheit eine seltsame Ruhe gelegt hat, deren dumpfe Verschwiegenheit lauernd klingt, irgendwie unheilvoll. Selbst an den Stränden der Schwarzmeerküste scheinen die bulligen Beats aus den Bars und Diskotheken zu später Stunde blasser zu werden, kraftloser, als hätten sie längst aufgegeben, die Leute bei Laune zu halten – oder sollte man besser sagen: sie daran zu hindern, schlafen zu gehen? Erschöpft hatten wir um zwei Uhr nachts nach etlichen Gesprächen am Theater Varna die Strandpromenade erreicht. „Absurd“, hatte so mancher die Situation in der Stadt kommentiert und sich dabei immer wieder an die Stirn getippt. Eine Geste, die für diese Tage typisch ist. Wortlos starren wir aufs Meer. Irgendwo dort draußen, hatte die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff einmal geschrieben, gebe es eine Insel, deren Existenz weitgehend unbekannt sei, sie camoufliere das Meer und sei deshalb vom Land aus nicht zu sehen. Das Besondere: Die Insel horte alles Glück dieses Landes. Und Zeit, die dort nur gemächlich verstreicht. Heute müsste man sagen: Auch das ist Glück. Denn anderswo, auf dem Festland, katapultiert sie sich momentan explosionsartig vorwärts – wirft alles über den Haufen, von einem Tag auf den anderen. Fast scheint es, als habe Plamen Dimitrov nur darauf gewartet, uns, den Gästen aus Deutschland, von diesen tückischen Nächten und ihren turbulenten Folgetagen zu erzählen. Wie ein verschwörerisches Grüppchen sitzen wir in seinem Büro im Theater Varna: Holger Schultze, der Intendant des Theaters Osnabrück, der eigentlich bloß mit einem Gastspiel hier vorbeischauen wollte, dessen Pressevertreterin, eine Dramaturgin und zwei Journalistinnen. Derjenige, um den es hier geht, ist nicht dabei. Er sitzt im Nebenzimmer, sie nennen ihn bloß „den Mann“, und auch sonst hört man über ihn nichts Gutes. Die Gründe enthüllt uns Plamen Dimitrov, ganz stilecht und äußerst ernst, durch den Rauch seiner Zigaretten hindurch. Und es sind viele Zigaretten, die während dieses Gesprächs verglimmen. Dimitrov überrollten die Ereignisse an einem Tag im August. Neun Monate lang war er als Direktor des Theaters in Varna zu Bett gegangen und als solcher auch wieder aufgestanden. Bis zu diesem Tag. Mitten in der Spielzeitpause hatte das Kulturministerium beschlossen, aus Kostengründen Schauspiel und Oper zusammenzulegen, die jeweiligen Direktoren wurden zu Spartenleitern heruntergestuft, an ihrer Statt trat ein neuer Mann an die Spitze: Slavcho Slavov, gelernter Ingenieur, Gründer einer privaten Business-School und – ganz nebenbei – Mitglied einer regionalen Untergruppe der derzeit regierenden GERB-Partei. Hinter vorgehaltener Hand hat „der Mann“ deshalb auch noch einen anderen Namen: Parteisekretär – bezogen auf den Modus seiner Ernennung. Ein Vorgang, der dem Geist der GERB-Partei eigentlich widerspricht. Vor einem Jahr hatten die Konservativen die wegen Misswirtschaft angekratzten und von der EU allzu oft zurechtgeTdZ · November 2010 wiesenen Sozialisten (BSP) abgelöst mit dem Versprechen, neben Kriminalität und Korruption auch die miese finanzielle Lage des Landes zu bekämpfen und damit den traurigen Titel als Schlusslicht der EU endlich zu tilgen. Doch schon bei den Wahlen ging es – fast schon traurige Routine – drunter und drüber. Bargeld, Essen oder Schuldenerlasse seien gegen Wählerstimmen feilgeboten worden, schreibt die dpa. Bürgermeister kutschierten Wähler mit ihren Autos zum Wahllokal, während bulgarische Aussiedler aus der Türkei mit Bussen in die südöstlichen Regionen des Landes gekarrt wurden, um dort ihre Stimme abzugeben. Zwiespältig berühmt wurden in dieser Zeit auch die Galewi-Brüder, die aus dem Gefängnis heraus kandidierten, da sie zeitweilig wegen Verdachts der Schutzgelderpressung einsaßen. Ein weiteres Beispiel für die sinkende politische Moral im Lande, kommentierte der Nachrichtensender n-tv. Das Zynische: Auch das Gemunkel um den führenden Mann an der Spitze der GERBPartei, Boris Borissow, reißt nicht ab. Der Ex-Karatetrainer und Expolizist im damals noch kommunistischen Bulgarien hatte sich nach der Wende einen Namen als Inhaber einer Sicherheitsfirma gemacht, zu deren prominentesten Kunden der abgesetzte Machthaber Todor Schiwkow und Exkönig Simeon II. zählten. Als Letzterer 2001 Regierungschef wurde, machte er seinen Bodyguard zum zweiten Mann im Innenministerium. Fortan zog Borissow als oberster Mafiajäger durch die Lande. Großes Jagdglück, so die AUSLAND Das Europa der Künstler – Nikolay Dimitrov (links), Schauspieler aus Russe, in der Osnabrücker Produktion von Fassbinders „Katzelmacher“. Foto momchilmihaylovimageware Presse, sei ihm nicht beschieden gewesen – nur wenige fragten sich, warum. Borissow versteht es, sich geschickt populistisch als Retter der Nation zu inszenieren. Als Bürgermeister von Sofia war er damit erfolgreich. Jetzt will er auch im Staat aufräumen. Und sorgt doch, wie so viele vor ihm, erst einmal nur für Chaos. Reformen für eine europäische Entwicklung Bulgariens 2009 habe das bulgarische Kulturministerium plötzlich festgestellt, dass in den Kassen ein riesiges Loch gähne, schreibt Gergana Dimitrova, Ansprechpartnerin des Goethe-Instituts Sofia für die dortige Theaterszene. Eigentlich nicht überraschend in einem Land, das chronisch mit den Finanzen ringt – das Wort „plötzlich“ aber ist es, was einen misstrauisch macht. Nach den Misserfolgen der zahllosen Vorgänger – als impulsive Wechselwähler spülten die Bulgaren bei jeder Parlamentswahl seit der Wende immer wieder neue Parteien an die Spitze – hat es die GERB-Partei eilig, alles in den Griff zu bekommen, auch im Bereich der Kultur. Theater wurden aufgefordert, umgehend 20 Prozent ihrer Ausgaben zu kürzen, Dutzende von Leuten wurden mit einem Schlag entlassen, Theater zusammengelegt oder zu Gastspielbühnen umgestaltet, drei Philharmonien sind bereits Vergangenheit. Das Managementmodell in Varna gilt als Pilotprojekt dieser Reformen. „Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“ heißt GERB übersetzt. Was gespenstisch klingt, blickt man auf die jüngsten Diskussionen an den Theatern in Hamburg und Halle. „Der Mann“, sagt Plamen Dimitrov und deutet mit einem Kopfnicken Richtung Nebenzimmer, „soll unser Theater sanieren, ohne etwas von Kunst zu verstehen. Wie soll das gehen?“ Nebulös verdampft diese Frage im Raum. Zurück in Deutschland, konsultiert das Theater Osnabrück zumindest sofort den Deutschen Bühnenverein. Dieser geht prompt mit einer Resolution an die Öffentlichkeit: „Wir fordern das Kulturministerium und die Regierung in Sofia auf, den drastischen Kulturabbau sofort zu stoppen!“, heißt es. Doch wie so oft ist es ganz so einfach dann eben doch nicht. „Zweifelsohne“, erklärt Rashko Mladenov, Intendant des Sava-Ognyanov-Theaters in Russe, das mit den Osnabrückern seit drei Jahren einen regen Austausch pflegt, „bedarf das bulgarische Theatersystem Reformen.“ Noch immer gebe es, ein Erbe der sozialistischen Zeit, für ein solch kleines Land wie Bulgarien zu viele Theater. Oder sind es bloß zu viele Theater für ein 36 marodes Finanzierungssystem? 43 Theater gibt es derzeit in Bulgarien, die meisten von ihnen werden zu 100 Prozent vom Staat finanziert – über ein, wie es scheint, eher sperriges Solidarprinzip: So gehen alle in einer Spielzeit erbrachten Einnahmen am Ende einer Saison an das Kulturministerium zurück, das auf dieser Grundlage für jedes Theater das Budget für die nächste Spielzeit neu berechnet. „Wir bekommen weniger, als wir einspielen“, erklärt Mladenov. Das soll sich nun ändern. Flexibler, effizienter, finanziell autonomer – mit diesem Vokabular jongliert, wer beschreibt, wie die mächtigen Staatsapparate der Kultur, in denen die Mitarbeiter wie Beamte angestellt sind, verschlankt werden sollen. Sieben Staatstheater sollen bleiben, andere zu Stadttheatern umgewidmet oder personell zu Gastspielbühnen eingedampft werden. Ein Vorgang, der auch der freien Szene gefällt, wittert sie nun die Chance, als Ort der „wahren Avantgarde“ dem „angestaubten Repertoirebetrieb“ der Staatstheater endlich finanziell gleichgestellt zu werden. Die Hoffnungen sind groß – das Misstrauen ebenso. Hinter der Rhetorik um Reformen im Kultur- und Wissenschaftsbereich, meint Violeta Detcheva, Professorin für Theaterwissenschaft an der St.-Kliment-Ohridski-Universität und der Neuen Bulgarischen Universität Sofia, verstecke sich etwas ganz anderes: Kürzungen der Kulturmittel und ein Rückzug des Staates. Es drohe eine Ultraliberalisierung des geistigen Feldes, meint Detcheva warnend. Verdächtig in der Tat: Der Staat scheint keine langfristige Strategie für die Zukunft zu haben. Viele Fragen, die Auswirkungen der Reformen betreffend, bleiben offen: Können Gemeinden, deren Staats- nun Stadttheater werden sollen, diese finanziell überhaupt tragen, wenn derartige Posten im Haushalt bisher nicht vorgesehen waren? Wie verändert sich die künstlerische Arbeit, wenn Schauspieler künftig nur noch für einzelne Produktionen „eingekauft“ werden? Wie stark wächst die Unsicherheit in einem Bereich, der eh schon mit prekären Bedingungen zu kämpfen hat? Wie groß wird der Quotendruck an den sich fortan anteilig selbstfinanzierenden Theatern? Diese Fragen zu klären, bleibt kaum Zeit: Bereits im Januar 2011 – so heißt es – treten die Reformen in Kraft. Die Theater mussten sich dem fügen, haben die Spielzeiten bis zum Dezember geplant, obwohl bis heute kein Gesetz vorliegt, das die Reformen definiert. Ein kräftezehrender Blindflug. Oder wissen andere im Land ganz genau, wohin die Reise geht? TdZ · November 2010 Einfach wegfahren Fliegen an sich ist eine schöne Art zu reisen. Doch klingt das Wort in diesen Tagen auch ambivalent, wie eine zu schnelle Bewegung von einem Ort zum nächsten, ohne zu sehen, was unter einem vorüberzieht. Solch rasenden Zeiten müsste das Theater daher eine ganz andere Bewegungsart entgegensetzen: das Umherschweifen, das Flanieren, das Wandern. Das Theater Russe und das Theater Osnabrück haben auf diese Weise schon etliche Kilometer zurückgelegt und damit dem Kulturabbau die Stirn geboten. „Wanderlust“ heißt der Fonds der Kulturstiftung des Bundes, der das dreijährige Projekt unterstützt. Ein Name, der an Romantik denken lässt, aber auch an harte Arbeit: Wer gemeinsam wandert, lernt den anderen kennen, die bezaubernden wie auch die bedenklichen Seiten. Gescheut hat das an beiden Theatern bisher niemand. Im Gegenteil: Sie nahmen es beim Wort und schickten jetzt zwei ihrer Schauspieler auf eine recht abenteuerliche Tour. Laurenz Leky, Schauspieler aus Osnabrück, und Nikolay Dimitrov, Schauspieler aus Russe, tauschten für die Dauer einer Produktion die Plätze. Leky spielte in Russe in Dimitré Dinevs „Eine heikle Sache, die Seele“ Josef Schutt, den Chef einer Wiener Baufirma, Dimitrov in Osnabrück den bulgarischen Gastarbeiter Georgi (eigentlich Jorgos und Grieche) in Rainer Werner Fassbinders „Katzelmacher“. Dramaturgisch gesehen eine wenig überraschende Setzung, inszenatorisch jedoch eine Herausforderung für den gewohnheitsträgen Staats- und Stadttheaterbetrieb, prallen hier doch nicht nur unterschiedliche Schauspieltraditionen aufeinander, sondern auch so manches Missverständnis: Fassbinder wird auf Deutsch gespielt, Dinev auf Bulgarisch, ohne dass die Schauspieler die Sprache so recht beherrschen. Auch dies ein Blindflug, allerdings, auf seine spielerische Art, mit großer Authentizität für die Bühne. Die Stücke verhandeln aus unterschiedlichen Perspektiven das Thema Migration. Schutt weilt als österreichischer Vorarbeiter unter lauter Exilbulgaren in Wien, Georgi kämpft sich als Gastarbeiter durch eine deutsche Großstadt. Die Spannungen, Reibungen und Ressentiments müssen die Regisseure Boian Ivanov und Henning Bock gar nicht erst inszenieren, sie schweben – mal witzig, mal abgründig – beständig im Raum. Migration heißt ursprünglich Wandern, nur dass den Weg zurück keiner gerne geht. So wurde diese Art des Wanderns zum Streitfall gemacht – und führt doch ohne Umschweife mitten hinein ins Theater. Die, die wandern, haben viel zu erzählen. Und ihre Geschichten sind es, ihre Erfahrungen und Erlebnisse, ihr Scheitern und ihr Erfolg, ihre Enttäuschungen und Hoffnungen, ihre Verachtung und ihre Liebe, die, auf der Bühne erzählt, das Denken und Handeln in Bewegung halten. „Ich weiß nicht“, zweifelt Helga, als Georgi am Schluss seine Sachen packt, um weiterzuziehen, „einfach wegfahren. Und so weit.“ Fassbinder hat gezeigt, dass Stillstand in der Gesellschaft Stumpfsinn gebiert. Daran denkt man in dieser Nacht am Schwarzen Meer: Gut, dass sich Dinge manchmal ändern. Hier in Varna zumindest werden ein paar Wochen später die Künstlerproteste lauter. Der Posten des Direktors wird neu ausgeschrieben, diesmal wird sogar ein Künstler oder Kulturmanager gesucht. Auch in Sofia wird heftig debattiert, Listen gehen rum, auf denen landesweit Intellektuelle gegen die Reformen protestieren. Es gibt eben nicht nur ein Europa der Banken und Bankiers, wie das Programmheft zur „Heiklen Sache“ Pierre Bourdieu zitiert, sondern auch ein Europa der Künstler. Und auch die haben es eilig. TdZ · November 2010 Die nächsten Premieren NEUES THEATER 13.11.10 DER STURM von William Shakespeare | R: Christoph Werner (Koproduktion mit dem Puppentheater) 26.11.10 WONDERFUL WORLD von Richard Dresser | R: Heike Frank 12.02.11 PENSION SCHÖLLER von Wilhelm Jacoby und Carl Laufs | R: Frieder Venus 26.03.11 DER BOSS VOM GANZEN von Lars von Trier | R: Tanja Richter 07.05.11 TARTUFFE von Jean Baptiste Molière | R: Matthias Brenner 21.05.11 DIE GESAMMELTEN WERKE VON BILLY THE KID von Michael Ondaatje | R: Claudia Bauer (Koproduktion mit dem Puppentheater) THALIA THEATER (Kinder- und Jugendtheater) 17.11.10 BRÜDERCHEN UND SCHWESTERCHEN nach den Brüdern Grimm, Bühnenfassung von Gabriele Hänel | R: Moritz Sostmann 23.11.10 DER JUNGE IM BUS von Suzanne van Lohuizen | R: Oliver Lisewski 25.11.10 DIE WELT IST RUND von Gertrude Stein (mobile Produktion) | R: Gabriele Hänel 18.01.11 ZU GAST BEI GRAF DRACULA I interaktives Theater 02.03.11 CLOCKWORK ORANGE von Anthony Burgess | R: Katka Schroth 07.04.11 DAS LUSTIGSTE LAND von Einar Schleef | R: Oliver Lisewski 15.04.11 KÄTHCHEN VON HEILBRONN ODER DIE FEUERPROBE von Heinrich von Kleist | R: Gabriele Hänel 17.06.11 MINNA VON BARNHELM ODER DAS SOLDATENGLÜCK von Gotthold Ephraim Lessing R: Oliver Lisewski Theater- und Konzertkasse | Große Ulrichstraße 51 06108 Halle (Saale) | Tel. (0345) 5110–777 [email protected] | www.buehnen-halle.de 37 AUFTRITT Stuttgart Bauen und Fällen Staatsschauspiel: „Der Bau“ von Heiner Müller Regie Hasko Weber, Bühne Hannes Hartmann, Kostüme Ute Noack „Teil der Lösung“ nach dem Roman von Ulrich Peltzer Regie Seraina Maria Sievi, Bühne Susanne Hiller, Kostüme Vânia Oliveira „Hamlet in Leuna, Hans Wurst auf dem Bau“ – Hasko Weber zeigt, dass Müllers Stück „Der Bau“ heute zu Unrecht so selten gespielt wird (hier mit Markus Lerch). Foto Mathias Dreher „Missionen der Schönheit“ (UA) von Sibylle Berg Regie Hasko Weber, Ausstattung Janina Thiel Februar 2006 im Schauspielhaus – eine Szene aus „Faust 21“: Philemon und Baucis, zwei rührende Umweltschützer, verteidigen ihr letztes Fleckchen Erde aus alter Zeit mit Jurte und Bäumen drauf. Am Ende werden sie brutal „weggeräumt“. Mit derlei Szenen aus seinem umgeschriebenen „Faust II“ und mit Bürgerchören auf der Bühne ließ Volker Lösch Parallelen zwischen Fausts „Welt-Besitz“Allüren und dem „Jahrhundertprojekt“ namens „Stuttgart 21“ durchscheinen. Im Oktober 2006 beschloss der Landtag von Baden-Württemberg dann endgültig „S 21“, im Kern den Bau eines neuen, unterirdischen Durchgangsbahnhofs. Heute, besonders seit Beginn der Abrissarbeiten im August 2010, gehen regelmäßig Tausende gegen das nach Bahnangaben 4,1 Mrd. Euro teure Projekt auf die Straße. Erst recht nach dem unverhältnismäßig gewaltsamen Polizeieinsatz bei der Baumfällaktion Ende September. Die Stadt befindet sich im Ausnahmezustand. Die Sache brennt. Nicht nur die jahrzehntelang unangefochtene konservative Mehrheit in Baden-Württemberg ist akut einsturzgefährdet. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt die Landtagswahl 2011 prompt zur „Volksabstimmung“ auch über „S 21“. Medial ist der Schwabenprotest längst Thema zur Prime Time geworden. Wo blieb dabei das Staatsschauspiel? Immerhin, es mischte indirekt mit. Einzelne Theaterleute sind prägend vor Ort präsent – 38 etwa der Schauspieler Walter Sittler oder der Regisseur Volker Lösch. Walter Sittler, bis 1995 in Stuttgart Ensemblemitglied, ist zu einem medienpräsenten Sprecher des Widerstands geworden. Volker Lösch wiederum ist mit seinen Bürgerchören vor Ort dabei. Sittler und Lösch spielen mit den Demonstranten regelmäßig „Schwabenstreiche“, machen täglich einmal richtig „Krach“ – „infernalisch laut“. Ansonsten hielt sich das Staatsschauspiel bei „S 21“ bisher eher zurück. Es war im September zunächst mit ganz anderen Großaufgaben okkupiert: Weil das Schauspielhaus bis Ende 2011 für 24 Mio. Euro generalsaniert wird, musste an der neuen Interimsspielstätte Türlenstraße, einer ehemaligen MercedesBenz-Niederlassung, ein kompletter Ausweich-Spielbetrieb aufgebaut werden. Mag sein, dass die moderate Haltung auch mit einer gewissen Loyalitätsverpflichtung den Geldgebern gegenüber zu tun hat. Erst später schaltete sich das Ensemble ein und verurteilte die eskalierte Polizeigewalt bei der Baumfällaktion. Wer im Stuttgarter Bahnhof ankommt, sieht sie von weitem leuchten: die weiße Faust, das Emblem des Schauspiels, auf dem Dach des früheren Autohauses Türlenstraße. Die Interimssaison begann in der weitläufigen Arena (450 Plätze) sprachgewaltig und spektakulär: mit Heiner Müllers früher, skeptischer DDR-Zwischenbilanz „Der Bau“ (1963/64). Konflikte von vorgestern? Vielleicht, doch der regieführende Intendant Hasko Weber lässt offen, ob Müllers Zweifel an betonköpfiger Fortschrittsgläubigkeit nicht heute genauso gelten wie damals. Es gibt in Webers Inszenierung Momente, in denen alle plötzlich ausrasten. Dann tanzen die Arbeiter der Brigade, genervt vom bürokratischen Planungschaos, mit ihren Schubkarren Rock’ n’ Roll, eine schwarze Wolga-Limousine knattert über die Bühne, und aus den Lautsprechern ballert „Johnny B. Goode“ ins Publikum. Ansonsten lässt Weber den Müller-Text so, wie er ist: sperrig, spröde, zynisch, bitter. Zwischen hochfahrenden Mythologiebezügen und kantiger realsozialistischer Problemdebatte: „Hamlet in Leuna, Hans Wurst auf dem Bau“. Frei nach Erik Neutschs Roman „Spur der Steine“ geht es um eine Brigade, die sich durchs Direktivenchaos der Bauleitung einen eigenmächtigen Weg bahnt. Kein Wunder, dass die Zensur das Stück verbot – mit dem Notat „Falsche Sicht der Partei“, auf dessen unfreiwillig komische Doppeldeutigkeit Müller gern hinwies. Vor allem der Satz „Hätt’ ich gewusst, dass ich mein eignes Gefängnis bau hier“ wurde beanstandet – das Stück spielt zu Zeiten des Mauerbaus 1961. Erst 1980 wurde „Der Bau“ dann an der Berliner Volksbühne unter Fritz Marquardt uraufgeführt. In den Spielplänen heute findet sich das Stück so gut wie gar nicht. TdZ · November 2010 AUF TRITT Stuttgart Weber verschärft die Vorlage mit gezielten Verfremdungen zur postsozialistischen Groteske und lässt den Kommunismus höchstselbst auftreten: eine abgewrackte Entertainerin im langen roten Abendkleid, die im Pathosgestus Revolutionslieder knödelt, doch am Ende nur noch gallige Systemnachrufe aus Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee IV“ vom Stapel lässt (Anja Brünglinghaus). Oberbauleiter Belfert ist bei Sebastian Kowski ein Basta-Entscheider, der aber selbst nicht einmal einen ferngesteuerten Spielzeugpanzer unfallfrei über den Palettenboden der Arena dirigieren kann. Da resigniert sogar Jonas Fürstenaus rauer, tatendurstiger Baustellenrebell Barka, in Webers Regie christusähnlich gebeugt mit schweren Bakelitplatten auf dem Rücken: „Arbeit, Arbeit. Ein Jahr stirbt ins andere – warum lebst du?“ Selbst die Liebe zwischen Ingenieurin und Parteisekretär hat in diesem Gestrüpp aus Nachschublücken und Männliche Gier, weibliche Demut und viel geborgte Authentizität – Sibylle Bergs „Missionen der Schönheit“, hier mit Lisa Wildmann. Foto Sonja Rothweiler TdZ · November 2010 Harmlose Lovestory in Zeitlupe – „Teil der Lösung“ nach Ulrich Peltzer mit Michael Stiller und Boris Burgstaller, Inszenierung Seraina Maria Sievi. Foto Sonja Rothweiler Fehlplanungen kaum eine Chance. Kurzum, Weber weitet Müllers ätzende DDR-AufbauBilanz zu einer großangelegten Parabel auf verblichene Utopien und aktuelle Fortschrittseuphorien – mit optional mitschwingenden „S 21“-Bezügen. Ein sehenswerter, nur am Ende etwas langatmiger Saisonstart. Die zweite Auftaktpremiere, eine Bühnenfassung von Ulrich Peltzers Roman „Teil der Lösung“, kommt eher beschaulich daher. Denn vom hektischen Großstadttempo des Textes, der 2003 in Berlin und Paris spielt, lässt Regisseurin Seraina Maria Sievi nichts übrig. Stattdessen zelebriert sie, zwischen Campingstühlen, Freiluftkino-Leinwand, Getränkekiosk und Boulebahn, nur eine nette, aber auch harmlose Lovestory in Zeitlupe. Motto: Liebenswert knuddliger Journalist (Bijan Zamani) will Exmitglieder der italienischen Untergrundorganisation „Rote Brigaden“ interviewen und verknallt sich in flammende Globalisierungsgegnerin (Stephanie Schönfeld). Die großen Weltentwürfe? In „Der Bau“ scheitern sie, in „Teil der Lösung“ sind sie nur noch ferne Geschichte. Kann ein Theater unbeirrt den Spielplan durchziehen, während gleichzeitig im Schlosspark mit Gewalt gegen Demonstranten vorgegangen wird? Das Schauspiel entschied sich am Abend der Uraufführung von Sibylle Bergs „Missionen der Schönheit“ für einen Kompromiss: Ja, die angesetzte Premiere fand statt. Aber gleichzeitig forderte das Ensem- ble, „bestürzt und zornig“ über die „Eskalation der Gewalt gegen friedlich demonstrierende Stuttgarter Bürger, darunter Kinder und Jugendliche“, ein „Innehalten“, „ein Moratorium und sachbezogene Gespräche“. Die Inszenierung selbst empfing die Zuschauer, die es gerade noch so an den Polizeiabsperrungen der Innenstadt vorbei bis zur Türlenstraße geschafft hatten, mit schummriger Nachtklubatmosphäre. Vier Schauspielerinnen im glamourösen Divenlook (Anja Brünglinghaus, Gabriele Hintermaier, Katharina Ortmayr, Lisa Wildmann) halten ungehaltene Reden im doppelten Sinn – geheimste Geständnisse und bitterste Analysen. Die ursprünglich für „Judith“ geschriebenen Texte (eine Stuttgarter Koproduktion mit den Salzburger Festspielen 2009) wirken nun, in eigenständiger Form, wie ein weiblicher Anklagechor, den Regisseur Hasko Weber zur sarkastischen Ladies-Revue glättet. In fiktiven Monologen kommen Zwangsprostituierte, Transsexuelle, autoaggressive Jugendliche und mordende Ehefrauen von São Paulo bis Kiew zu Wort, verzweifelt, böse, charmant, in makabrem Chansonstil oder in hartem Bekenntniston: „Die Welt erstickt in männlicher Gier und weiblicher Demut.“ Eine in ihrer geborgten Authentizität eher schwächere Produktion, aber berechtigt und gut gemeint. Auch wenn in Stuttgart derzeit ganz andere Konflikte dominieren. Otto Paul Burkhardt 39 Berlin Das Auge der Köchin Schaubühne: „Fräulein Julie“ nach August Strindberg Regie Katie Mitchell und Leo Warner, Ausstattung Alex Eales deokünstler Leo Warner ein Filmset auf die Bühne gestellt: Die Schaubühne mutiert zum Studio. Alle Utensilien zum Erzeugen von Geräuschen, zum Synchronisieren, verschiebbare Wände für Kamerafahrten in Fräulein Julies Haus von innen und außen, mal mi- Ein Mehr an Ausdrucksmöglichkeiten – Katie Mitchells „Fräulein Julie“ zeigt, dass Video im Theater auch sinnreich sein kann. Foto Steven Cummiskey Erst einmal stürzt der Videocomputer ab. Jemand tritt auf und sagt, es dauert einige Minuten, bis er wieder hochgefahren ist. Der Beginn der Premiere verzögert sich. So ist das: Der hochfahrenden Lust folgt der energielose Absturz – und man kann in der Zeit, da das Theater hier lahmliegt, darüber nachdenken, ob uns nicht viel erspart bliebe, wenn vor jedem „Sommernachtstraum“ jemand prophylaktisch einen Netzstecker herauszöge. Ja, es bliebe uns viel erspart, vielleicht zu viel. Denn ohne die Verstrickung von Lust und Leid, von Traum und Alptraum, von Versprechen und Verrat – was wäre unsere Kunst dann noch anderes als ein gefährlich ausrechenbarer, militant-moralischer Katechismus? Katie Mitchell seziert in nüchtern-angelsächsischer Manier einen merkwürdig überspannten – hysterischen! – Höhenflug der Sinne, der eine Mittsommernacht lang andauert. Was ist diese geheimnisvolle Energie, die Menschen zur Selbstzerstörung treibt? Ist es eine dämonische Kraft oder bloß naturhafter Trieb? Mitchell hat, um das minutiös recherchieren zu können, zusammen mit dem Vi40 kroskopisch dicht dran und mal distanziert zurücktretend, alles ist vorhanden, samt dem Betrieb eines solchen Drehs. Wir sollen sehen: Unser Bild des Geschehens ist erzeugt, ein ganzer technischer Apparat ist mit dem Verfertigen von Traumbildern, echten wie falschen, befasst. Eine Entillusionierung – oder blicken wir hier bereits in die Alchimistenwerkstatt der Neuverzauberung? Alles liegt in Mitchells multimedialer Inszenierung offen – und alles verbirgt sich gerade darum. Der stereoskopische Blick sagt mehr über den Sehenden als über das, was er sieht. Das ist irgendwie beruhigend. Ich kann alle Indizien zu einer lückenlosen Beweiskette aneinanderreihen, alle Details penibel zusammensetzen – und doch verschiebt sich damit nur die Grenze, hinter der das beginnt, was wir nicht verstehen. Was passiert mit Julie (sehr jung und fordernd: Laura Tratnik) und Jean (charmant lavierend und kalt kalkulierend: Tilman Strauß) in dieser Nacht? Sie erkennen sich – aber nicht wie Liebende, sondern wie Herr und Knecht. Ein Machtspiel der Umverteilung. Am Ende mutiert Jean, der herrische Diener, zum Aufsteiger ohne Skrupel, der Julie hinunterstößt auf seinem Weg nach oben. Jean verkörpert den neuen Typus des Herrn, der für Strindberg im 20. Jahrhundert heraufdämmert. Das ist jemand, der eine sich ihm bietende Chance – die augenblickhafte, aus einer Emotion herrührende Schwäche seines Gegenübers – ausnutzt, dabei sachlich seine Chance auf Erfolg abwägend. Aber es gibt da ja noch die Köchin Kristin, durch die das herrschaftliche Fräulein Julie bei ihrem offensiven Werben um Jean hindurchblickt, als sei sie aus Glas. Das ist ganz im Sinne Strindbergs, der über die Figur der Köchin in dem Text „Ein wirksames Drama“ (1900) schreibt: „Kristin schließlich ist eine Sklavin, unselbständig und stumpfsinnig, verdorben am Herdfeuer, vollgepfropft mit Moral und Religion, die sie als Deckmantel und Entlastung zugleich benutzt. Sie geht in die Kirche, um leicht und behende ihre Hausdiebstähle auf Jesus abzuladen und eine neue Ladung Unschuld aufzunehmen. Im Übrigen ist sie eine Nebenperson und darum absichtlich nur skizziert ...“ Man darf das anders sehen, und Katie Mitchell unternimmt dann auch den Versuch, das Stück aus der Perspektive von Kristin spielen zu lassen. Ein kluger Ansatz, der „Fräulein Julie“ seine Dynamik zurückgibt, die es in der bloßen Zweierkonstellation von Jean und Julie zu verlieren droht. Jule Böwe macht die Köchin Kristin auf herb-minimalistische Weise – dafür sind dann die Kamera und die Projektion des Geschehens auf eine Leinwand tatsächlich sinnreich! – zur Hauptperson des Stücks. Winzige Veränderungen ihres Gesichts erscheinen nun in Großaufnahme. Wenn schon Video im Theater, dann doch so: mit einem Mehr an Ausdrucksmöglichkeiten. Kristin: die übersehene und aufreizend beiläufig gedemütigte Frau inmitten einer fremden nächtlichen Erhitzung, der sie ohnmächtig beiwohnt. An das Drama des Fräulein Julie, die sich mit dem Diener einließ und sich darum am Ende selbst umbringt, möchten wir heute doch nicht mehr so ganz glauben. Aber an das Drama Kristins, die das Drama von Erkenntnis als fortgesetzter Ernüchterung verkörpert, durchaus. Gunnar Decker TdZ · November 2010 AUF TRITT Wien Über die Unmöglichkeit der Vollkommenheit Schauspielhaus: „Bruno Schulz: Der Messias“ (UA) von Małgorzata Sikorska-Miszczuk Regie Michał Zadara, Ausstattung Magdalena Musial Bücher erscheinen, doch dass der Messias erscheint, bleibt eine Sehnsucht. In Małgorzata Sikorska-Miszczuks neuem Stück „Bruno Schulz: Der Messias“ hegen verschiedenste Figuren in unterschiedlichen Zeiten die Hoffnung, das wohl verschollene, wahrscheinlich aber auch nie vollendete Zentralwerk „Der Messias“ des 1892 im damals österreichischungarischen, heute ukrainischen Drohobycz geborenen Autors Bruno Schulz zu finden. Sikorska-Miszczuk hat eine aberwitzige Komödie geschrieben, die munter zwischen den zeitlichen Ebenen von 1942 bis in die Gegenwart springt. Sie ist sich der unlösbaren Problematik bewusst, die die Rekonstruktion eines Werkes mit sich bringt, von dem lediglich ein paar Hinweise in der Korrespondenz des Autors und wilde Geheimdienstgerüchte existieren. Mit einem geschickten Kunstgriff stellt sie den Theaterabend daher gleich zur Diskussion: Eine junge Regisseurin (Bettina Kerl) schaut stirnrunzelnd zu und ist nie zufrieden mit den Vorschlägen, die die von ihr engagierte Autorin (Nicola Kirsch) liefert, um das gewünschte Stück über jenen „Messias“ von Bruno Schulz zu schreiben. Der andere Strang, der sich durch den Abend zieht, beginnt denkbar düster: Schulz (Steffen Höld) tastet sich die weiße Feuermauer entlang, während sich eine kopflose Statue zu drehen beginnt. Der ausgestreckte Arm mündet im gezogenen Revolver. Aufgeschreckt von Maschinengewehrsalven und Hundegebell taumelt Schulz in die Schusslinie und stammelt wirre Worte, bevor er getroffen niedersinkt. Doch Schulz erlebt diese Szene nicht nur einmal, er steht auf, immer wieder ereignet sich sein Tod, bis er dem Schuss zuvorkommend aussprechen kann: „Ich werde den ‚Messias‘ schreiben.“ Hier beginnt mit einem herrlich lakonisch im Unterhemd hereinschlendernden polnischen Herrgott (Max Mayer) die Komödie. Gott gewährt dem Autor ein Jahr – und TdZ · November 2010 der stürzt direkt in die Schreibblockade. Der Beginn erzählt von dem, was wirklich war: Schulz wurde 1942, offenbar kurz vor seiner geplanten Flucht, im Ghetto von Drohobycz auf offener Straße erschossen. So dokumentarisch das Stück in vielen Teilen ist, die Figur der Regisseurin stemmt sich vehement dagegen, einen Abend über den Holocaust zu machen. Und so verlegt sich die Autorin (sowohl die fiktive als auch Sikorska-Miszczuk) auf die Räubergeschichten, die sich um die Suche nach dem „Messias“ ranken: Ein Doppelagent will es vernichten, die polnische Kulturbehörde ist dahinter her, ein schwedischer Botschafter wähnt es im KGB-Archiv, und der Schulz-Herausgeber Jerzy Ficowski soll als Sachverständiger bei einer Transaktion helfen, bei der ein unbekannter Lemberger dem entfernt verwandten Alex Schulz ein Konvolut an Texten verkaufen will. Immer wieder tritt eine Figur aus dem Spiel heraus und reflektiert das Probierte. Die Deutung des Ganzen kommt von der Regisseurin in einer Rede, die genauso Parodie auf die Kulturwissenschaften ist, die allem mit Walter Benjamin beizukommen glauben und schnell mal etwas zur „Performance“ erklären, wie auch ernstgemeinte Interpretation. Das Schlimmste, was Bruno Schulz’ „Messias“ passieren könnte, wäre zu erscheinen. „Es gibt Dinge, die können gar nicht stattfinden – sie sind zu groß, um ins Geschehen zu passen“, zitiert die Regisseurin Schulz. Der Autor selbst hatte in der Erzählung „Das Buch“ seine Utopie von einem lebenden, wachsenden Original festgehalten. Das formlose Werk, das sich in der Rezeption erst entfaltet, „dessen Grenzen allen Fluktuationen nach allen Seiten hin offenstehen“. „Der Messias“, nicht der Geschriebene, sondern der Ersehnte, Konstruierte, Verschollene, könnte dieses Original sein. Doch den größeren Teil des Abends bestimmt die temporeiche Komödie. Regisseur Michał Zadara und ein wunderbar spielfreudiges Ensemble tragen das Ihre dazu bei, um aus dem Dokumentarischen das Komödiantische herauszuholen. Max Mayer und Vincent Glander schlüpfen in immer neue Rollen und spannen so das komplizierte Handlungsnetz. Zadara setzt nicht auf psychologisch genaue Charaktere, sondern lässt die grob geschnitzten, gern auch dem Klischee entsprechenden Figuren wie Marionetten tanzen, bis man kaum glauben kann, dass sich da keine Fäden verheddern. Das alles ist virtuos, es ist zutiefst theatral, und es ist bestens gemacht. Dem Zuschauer schwirrt hernach munter der Kopf ob der vielen Figuren, Geschichten, Ebenen, die alle wie bunte Kreise um die Unmöglichkeit der Vollkommenheit wirbeln. Judith Staudinger Die Utopie von einem wachsenden Original – Małgorzata Sikorska-Miszczuks Literatenkrimi „Bruno Schulz: Der Messias“ über einen Autor und seinen verschollenen Roman. Foto Alexi Pelekanos 41 Mainz Ökodämmerung am Amazonas Stell dir vor, es ist Weltrettung und keiner geht hin – Lisa Mies als konfus-patente Feministin in „Gegengipfel“ von Laura Fernàndez. Foto Bettina Müller Staatstheater: „Gegengipfel“ (UA) von Laura Fernández Regie Philipp Löhle, Ausstattung Evi Wiedemann Als der Dramatiker Harald Müller im OrwellJahr 1984 vier Todgeweihte durch das vergiftete, postatomare Europa schickte, traf sein „Totenfloß“ die Endzeitgefühle einer Gesellschaft, die sich in Gläubige und Ungläubige des Waldsterbens geteilt und eben erst den Bundestagseinzug der Grünen bestaunt hatte. Was damals subversiv war, hat heute eine internationale Lobby, Machtstrukturen und die zugehörige Sprache. Ohne diesen veränderten Ausgangspunkt wäre „Gegengipfel“ nicht zu begreifen. Die junge argentinische Dramatikerin Laura Fernández unterwirft ihr Aktivistentrio einem einfachen Kniff. Sie entsendet die konfus-patente Feministin (tränenumschleiert: Lisa Mies), die immer sprungbereite Pharmaindustrie- und Kinderarbeits-Gegnerin (falsche Anführungsstriche in die Luft malend: Pascale Pfeuti) und den zornigen jungen AKWund Rüstungskritiker (Sexualobjekt in der Frauenklammer: Felix Mühlen) zum geografischen Antipoden des G8-Gipfels von Japan. Dort, am Amazonas, wollen sie einen Gegengipfel zu dem der globalen Hauptsünder veranstalten und ihre heroische Gegenwahrheit ins Licht rücken. Schöner Plan. Sein Schönheitsfehler: Die verachtete, unverzichtbare Presse bleibt dem Urwald fern. Stell dir vor, es ist Weltrettung – und keiner geht hin. Zug um Zug führt die leerlaufende Gruppendynamik der vermummten Kapuzenjackenträger ohne einen, dem das Pathos zu verkaufen wäre, zur entlarvenden Selbstzerfleischung – wenn nicht der Positionen, so zumindest derer, die sie verfechten. Evi Wiedemann hat für die Inszenierung von Philipp Löhle das Innere des TiC-Werkraums mit rundum gehängten Stoffbahnen zum luftigen Zelt von trauter Heimeligkeit ausgebaut. Für Löhle ist es die erste Regie, denn hervorgetreten war er seit 2005 stets als Dramatiker, der in Stücken wie „Genannt Gospodin“ und „Lilly Link“ eine Vorliebe für scheiternde Idealisten zeigte. Den Wechsel 42 vom Schreiben zum Inszenieren vollzieht er, wenn man so will, in Dramatikerhaltung: weniger interpretierend als montierend und ergänzend, so besonders mit dem Einfall, einen Übergriff der Figuren aufs Publikum einzubauen. Den ersten Auftritt unter beliebig-kitschiger Weltmusik aus dem westlichen Verwertungsreißwolf hat ein Eingeborener, der alle Klischees versammelt und so die Authentizität des „schönen Wilden“ ironisiert: Die Kriegsbemalung ist vielleicht vom Amazonas, der Bastrock aber aus der Südsee, der Kopfjägerkult von der indonesischen Insel Lombok, und Videobisons jagt er wie Winnetou. Der ganze Kerl, gespielt von Jan-Philip Frank, tanzt sich in Trance und wird lakonisch-statuarisch den Goldstandard setzen, an dem die eurozentrischen Weltretter nur scheitern können. Gleich bei ihrem Auftritt stürzen sich die drei aufs Naturkind, um dessentwillen sie angeblich alles tun, fesseln ihn und lassen ihn ungerührt so lange gefesselt liegen, bis sie etwas von ihm zu wollen geruhen. Ihre Botschaften, vom flugs aufgebauten Podium durchs Megafon getrötet und auf Transparenten verkündet, brauchen keinen Wilden, der blöd rumsteht und nicht weiß, was Sache ist. Nur schade, dass die „Journaille“ fehlt. Wozu kämpfen, wenn gerade keiner zuguckt? Ersatzweise verlesen uns die drei nervösen Westler, die mit Techno-Feeling den Tanzstil des Eingeborenen usurpieren werden, ihre Tagespläne, die sie so rechthaberisch durchziehen wollen wie anderswo Bahnhofsbauten. Irgendwann nehmen sie uns zu Geiseln und teilen uns unter einem Selektionsgehabe, das sie gar nicht erst in den Blick kriegen, in Gruppen. Als die erste Resolutionsrhetorik verpufft ist, langweilen sie sich und zeigen im Stil von „Weißer Hai“ ihre Kriegsnarben aus dem Überlebenskampf vor (mein Durchschuss aus Genua!), leiden ein wenig an Wind (Ventilator) und Wetter (aus dem Off), hampeln ohne Sinn für kulturelle Differenz mit „ihrem“ Wilden herum und träumen eitel vom Dableiben: „Abends duschen unterm Wasserfall, Uga-Uga tanzen und alle mit allen, ne?“ Zuletzt startet Pascale ihren Zickenkrieg um Felix, für den sie die hehrsten Ziele und schmutzigsten Mittel aufbietet: „Wir brauchen einen Toten – eine Weiße!“ Nur den Indianer ficht nichts an. Wenn Stück und Regie ökologische und Attac-Anliegen karnevalesk auf den Kopf stellen, so keineswegs ohne Sympathie. Die Darsteller, die sich beim Vornamen adressieren, pflichten einigen Positionen sogar aus der Rolle tretend bei („Das stimmt wirklich!“). Was gäbe es denn auch pro Kinderarbeit zu sagen? Löhle, selbst erfolgreicher Jungdramatiker und Hausautor am Berliner Maxim Gorki Theater, hetzt das Trio voller Spiellust übers Stück hinaus, dass es uns die autonome Aggression nur so in die Haut brennt. Eine griffig inszenierte, häretische Farce auf den ökologisch-gutmenschlichen Komplex, welche die grüne Rhetorik gnadenlos auf Sprachregelungen und engagierte Lebenslügen abklopft: eine skeptische Ökodämmerung aus Groteske, Psychodrama und Parabel, ein Vierteljahrhundert klüger als „Totenfloß“. Marcus Hladek TdZ · November 2010 AUF TRITT Plauen /Zwickau Keine Sterne über Hundsgrün Theater Plauen-Zwickau: „Schneemond“ von Christian Martin Regie Roland May, Ausstattung Oliver Kostecka Seine Familie kann man sich nicht aussuchen. Seine Heimat in seltenen Fällen. Und seine Arbeit, darüber entscheiden meist auch die anderen. So ist das Schicksal des Tischlermeisters Anton Kantl bereits vorgezeichnet. Seine Frau betrügt ihn, seine alte Mutter beschimpft ihn, seine Tochter belügt ihn, der Betrieb geht in den Ruin. Nach vier Fünfteln des Stückes „Schneemond“ hängt der Mann tot am Strick von der Decke. „Schneemond“, vom Autor Christian Martin als „ein stück volk“ untertitelt, kommt als Volksstück daher. Milieu, Kummer, Mundart, Machtlosigkeit. Volksstücke flüchten sich angesichts dessen gern in die Sozialidylle oder raimundsche Nostalgie. Oder, der Gegenentwurf, sie nutzen das Idyll, um es gründlich kollabieren zu lassen. In der Inszenierung von „Schneemond“ durch Roland May am Theater Plauen-Zwickau scheint am Anfang alles idyllischer zu sein als im wirklichen Leben. Inmitten des mit allen Mitteln der Schreinerkunst hergestellten Bühnenbildes, für das rechts und links der Bühne zwei Hausfassaden aus naturbelassenem Holz nachgebaut sind, liegen zwei kräftige, rohe Planken auf zwei Holzböcken. Anton „Toni“ Kantl (Johannes Lang) macht auf ihnen einige Bleistiftstriche, skizziert sein Arbeitsvorhaben. Das wirkt alles sehr heimelig. Doch dann nimmt das Unglück schnell und unerbittlich seinen Lauf. Die Großmutter (Ute Menzel) hetzt auf die Ehefrau (Else Hennig) ihres Sohnes Anton. Deren Tochter (Angelina Häntsch) wird erst flügge, dann schwanger, die Kunden im Tischlerbetrieb bleiben aus, und die Bank will nur eins, nämlich ihr Geld zurück. Die zwei groben Planken auf den zwei Böcken in der Mitte der Bühne, die mal als Küchentisch, mal als Tisch im Büro des Bankers dienen, lässt Kantl bald verzweifelt in die Ecke krachen. Auf dem Tresen der örtlichen Wirtschaft von Hundsgrün singt er das „Lied von der Gleichheit“, während der Alkohol sein Übriges tut und über dem Tresen ein Schild mit dem Slogan der SternquellBrauerei Plauen die Richtung leuchtet: „Da bist du zu Haus“. Erlebt man die Geschwindigkeit der Szenenwechsel, gut 30 Szenen in 100 Minuten, folgt man der wie ein Uhrwerk arbeitenden Dramaturgie, so sieht man ein well-made play, freilich mit tragischem Ausgang. Doch das Unglück kommt vollkommen schnörkellos daher. Es rattert so mächtig und unaufhaltsam an uns vorbei wie ein vollbeladener Güterzug mit Seelenqualen. Martins Bühnensprache darf bei dieser Dichte keine Umwege machen. Sie atmet den Ton des grauen Alltags: „Du Unglück, so unaufhaltsam wie ein voll beladener Güterzug mit Seelenqualen – „Schneemond“, „ein stück volk“ von Christian Martin. Foto Peter Awtukowitsch TdZ · November 2010 kommst nur, wenn du Geld brauchst“, mault die Großmutter den Sohn an. „Sieht man dich auch mal wieder“, bekommt die Tochter zu hören. „Sie flattert nur ins gemachte Nest“, wird über die Schwiegertochter hergezogen. Schade nur, dass dazu ein seltsam verkürzter Volksstückton angeschlagen wird, den der Autor, wie er im Programmheft bekennt, als „Kunstdialekt“ bewusst gewählt hat: „Hast’ vollgetankt?“, „Wo willst’ hin?“, „Bist mich angegang’ wie eine Wildkatz’“. Hier wurden nach dem immer selben Schema bloß Subjekte und Vokale herausgestrichen, ohne dass ein verbal und syntaktisch differenzierter (Kunst-)Jargon entwickelt worden wäre. Die immer gleichen Verknappungen klappern bald im Ohr wie der Sound eines kaputten, blechernen Lautsprechers. „Adam und Ev“ wären besser „Adam und Eva“ geblieben. Und auch in einer der poetischsten Szenen, dem Dialog zwischen dem Wirt des Dorfes (Dieter Maas) und dem Dorfirren Dalli (Sebastian Ganzert), wäre weniger mehr gewesen. Während der Wirt den sturzbetrunkenen Anton Kantl in einem Bollerwagen nach Hause zieht, findet er den Dorfaußenseiter im Wald. Die beiden Männer blicken in den nächtlichen Himmel, dessen Wolken die Sterne fast alle verdecken. Millionen, Abermillionen werden es dahinter sein, vermutet der Wirt. 15 nackte Glühlampen leuchten über der Bühne. Dieser arme Realismus macht mehr kaputt, als man durch ihn gewinnt. Da wäre die bloße Imagination das wirkungsvollere Mittel gewesen. Doch den Kern der klarsichtigen Inszenierung und die geschlossene Ensembleleistung berührt das nur am Rande. Und auch der Autor bleibt sich treu. Seiner well-made Dramaturgie folgt die hässliche Pointe: Wurde dem Dorfirren noch zu Beginn des Stücks erklärt, dass das Christuskind im Kirchspiel kein wahres Baby sei, sondern eine Puppe, so meint er in der letzten Szene der Aufführung seine Lektion gelernt zu haben. Der Schnee fällt, und er findet ein Neugeborenes, ausgesetzt von der Tochter des toten Tischlermeisters: „Bist nur eine Pupp’. Alles ein Spiel. Bloß ein Spiel“, murmelt er. Und erschrickt, als ein Kinderschrei erklingt. Christian Horn 43 Konstanz God’s away on business Theater Konstanz: „Woyzeck“ von Georg Büchner, Robert Wilson, Tom Waits und Kathleen Brennan Regie und Ausstattung Andrej Woron Noch bevor sich der Vorhang öffnet, erkennt man durch den weißen Stoff eine schemenhafte Figur, an ein Seil gebunden. Mit rasselndem Atem rennt sie unablässig im Kreis. Es ist Woyzeck, der gedemütigt wird. Das Seil dient an diesem Abend noch oft diesem Zweck. An das Seil gebunden, wird Woyzeck kopfüber baumeln, wird er vom Arzt in ein Wasserbassin getaucht oder einfach kraftlos darin hängen, nachdem er kurz zuvor zusammengeschlagen wurde. Schon Büchners Stück lässt keinen Zweifel zu: Woyzeck ist Opfer. In der Regie von Andrej Woron verschärft sich der Blick: Die Repräsentanten der Gesellschaft, zu denen Woyzeck nie gehören darf, verkörpern keine Norm. Da haben wir einen Arzt (Ralf Beckord), der – stilecht mit Arztkittel bekleidet – den größenwahnsinnigen Sadisten mimt, seine menschliche Laborratte zu einer Urinprobe zwingt und ihm dabei triebhaftes Verhalten vorwirft, der sich in sei- ne Machtphantasien hineinsteigert und dem völlig erledigten Woyzeck beim Abgang noch ein paar Geldscheine zuwirft. Bei Woron schält der schonungslose Blick den Wahnsinn derer heraus, die die Normalität gepachtet zu haben scheinen. Andrej Woron findet in der Personalunion von Regisseur und Ausstatter kraftvolle Bilder für die Qualen des einen und den Wahnsinn der anderen. Der Tambourmajor (Alexander Peutz) erscheint als erfolgsverwöhnter Narzisst, von dem sich die Frauen benutzen lassen wollen. Charaktere gerinnen so zu scharf konturierten Typen: ein Hauptmann (Ingo Biermann), der klischeehaft zwischen seiner Homophobie und seiner Homosexualität schwankt und diese Unsicherheit mit Paranoia paart, der Woyzeck sein uneheliches Kind und damit fehlendes Moralbewusstsein vorhält, nur um ihn im Anschluss zu vergewaltigen. Generell geben sich auch die übrigen Personen, in Sadomasokostüme gekleidet, ihrem sexuellen Fetisch zügellos hin. In der wuchtigen Kombination von Bühne, Spiel und Musik entsteht das eindrucksvolle Bild einer wahnsinnigen Gesellschaft. Die Konsequenz daraus ist, dass sich der Fokus von Woyzeck wegbewegt. Johannes Merz als Woyzeck reagiert auf sämtliche Schikanen stoisch, stumm und emotionslos. Nur in wenigen Momenten entlädt sich so etwas wie Frust oder Verzweiflung. Der Mord an Marie ist keiner dieser Momente. Woron lässt ihn still und ohne großes Aufsehen vonstatten gehen. Das ist ungewöhnlich, denn ansonsten sprechen die Bilder dieser Aufführung für sich: wenn Marie ihr behütetes Dachgeschoss verlässt, um sich am Boden dem Tambourmajor hinzugeben, wenn Woyzeck sich im Dachgebälk der Spiegelhalle des Theater Konstanz verkriecht, um seinen Peinigern zu entkommen, oder die Bühne zur Arena für das umjubelte Dressurpferd Tambourmajor wird. Vielleicht ist dies aber auch der Tatsache gezollt, dass dieser Mord ohne richtiges Motiv auskommen muss. Denn gemessen an der so im Fokus stehenden Verrücktheit aller anderen, den erlittenen Erniedrigungen, wäre ein rasender Amoklauf nachvollziehbarer als der Mord an der fremdgegangenen Freundin. Abgründig wird der stoische Woyzeck der Konstanzer Inszenierung vor allem in der Musik von Tom Waits. Über die Lieder hat Woyzeck eine Ausdrucksmöglichkeit seiner Sehnsüchte, und wenn diese zerstört werden, besitzt der Zuschauer eine Ahnung davon, was kaputtgegangen ist. Ob das als Motiv für den Mord reicht? „Every night she comes / to take me out to dreamland / when I’m with her, I’m the richest / man in the town“, singt Woyzeck, wenn er ins Dachgebälk hinaufsteigt, während Marie mit dem Tambourmajor hinabsteigt. Das Lied besingt den Wunsch, sich zu vereinigen; die brutale Realität lässt davon eine zerstörte Seele zurück. Ja, Tom Waits’ Texte geben Aufschluss über die Abgründe der Figuren. Und dennoch: Die Übermacht der Musik lässt individuelle Tragik kollektiv verschwinden. Denn, der Arzt singt es, Marie bemerkt es, als sie versucht zu beten, und Woyzeck hofft vergebens –, in dieser Welt ist „God away on business“. Bianca Schillinger / Anna Schughart Die Qualen des Einen, der Wahnsinn der Anderen – Ralf Beckord als Arzt und Johannes Merz als Titelfigur in „Woyzeck“. Foto Ilja Mess Fotografie 44 TdZ · November 2010 AUF TRITT Zürich Und nach zwei Minuten fangen sie wieder an Theater an der Winkelwiese: „Haus des Friedens“ (SEA) von Lothar Kittstein Regie Stephan Roppel, Ausstattung Marcella Incardona Drei Bundeswehrsoldaten sitzen mit einem defekten Jeep in einer verlassenen Impfstation auf 3000 Metern Höhe im afghanischen Niemandsland fest, mitten im „Haus des Friedens“, wie auf Arabisch das gesamte Gebiet der islamischen Länder bezeichnet wird. Marie ist gerade erst aus Deutschland gekommen, mit Idealismus, durchtrainiertem Körper und einer gehörigen Portion missionarischer Selbstüberzeugung: „Ich tu das, was richtig ist. Ich tu’s mit allem, was ich hab.“ Jost, der seit Beginn des Krieges dabei und entsprechend desillusioniert ist, hat sich gegen eine Frau in seiner Truppe gewehrt. Und nun schickt man ihm ausgerechnet eine „heilige Jungfrau von Orléans“, die die Welt retten will. Und natürlich verliebt sich sein junger Kollege Lorenz, der mangels Alternativen in der Armee gelandet ist und lieber zu Hause eine Familie gründen würde, sofort in die kluge Soldatin. Lothar Kittstein lässt zwischen den drei Figuren seines in Bonn uraufgeführten Stücks „Haus des Friedens“ vielschichtige Spannungen entstehen. Marie bringt ihre beiden Kollegen als Frau und Idealistin gleichermaßen ins Wanken. Aber schon vor ihrer Ankunft hat Jost einen Fehler begangen, den Lorenz nun zu vertuschen hilft. Und beide Männer versuchen, mit dem Verlust eines Kollegen durch eine Landmine zurechtzukommen. Es wird bald klar, dass potenzielle Gefahr nicht nur von den kargen Hügeln im Umland droht, sondern auch von den Kollegen, auf die man auf Gedeih und Verderb angewiesen ist. Kittstein verdichtet diese Spannungen nicht zum Konflikt. Es geht ihm weniger darum, eine Handlung zu entwickeln, als verschiedene Reaktionen auf die Ausnahmesituation, verschiedene Haltungen zum Krieg und verschiedene Gründe für den Einsatz aufzuzeigen. Also platziert er seine Figuren in einer Wartesituation, die sie mit sich selbst und mitTdZ · November 2010 einander konfrontiert und in der sie nichts von den schwierigen Fragen und Gefühlen ablenkt, die ihre Mission aufwühlt. Stephan Roppel, der künstlerische Leiter des Theaters an der Winkelwiese, inszeniert die Schweizer Erstaufführung in einem wirkungsvoll reduzierten Bühnenbild. Von der Decke hängende weiße Stoffbahnen definieren einen quadratischen Raum. Der ausgetrocknete knirschende Lehm auf dem Boden verbindet sich mit den beigen Steingewölben der Winkelwiese zu einem starken Bild der Unwirtlichkeit. Darin lässt Roppel die Schauspieler in ausgebleichten Kampfanzügen und wechselnden Konstellationen, stehend oder sitzend, meist frontal zum Publikum aufeinandertreffen. Dabei rückt er überzeugend den Text in den Vordergrund, inszeniert aber eigenartig energische Auftritte und unvermittelt heftige, oft überraschend aggressive Reaktionen, die im reduzierten Bühnenbild und kleinen Raum ein wenig zu groß und zu künstlich wirken. Auch stimmlich wird es immer wieder lauter, als es für Raum und Situationen sinnvoll erscheint. Außerdem vermisst man zwischen den direkt aufeinanderfolgenden Szenen Atempausen, Momente, in denen eine Figur allein ist und etwas von der Isolation und Langeweile spürbar wird, mit denen sie konfrontiert ist. Aber Kittsteins gekonnte Figurenzeichnung und sein Humor sowie die Spielfreude der Darsteller tragen die eineinhalbstündige Aufführung. Vor allem Sarah Hostettler überzeugt als Marie mit Stärke und Präsenz. Es gelingt ihr, in die kühl gehaltene Härte der jungen Frau auch Zerbrechlichkeit zu weben und eine gläubige Christin frei von Klischees und Überzeichnung darzustellen. Gerrit Frers wird immer lockerer als naiver Lorenz, der nicht weiß, wieso er da ist, und der sich nach einem strafenden Gott, Schlaf und Unsichtbarkeitsanzügen sehnt. Auch Michael Wolf gewinnt als Jost an Kraft, je mehr er vom harten Vorgesetzten zum gebrochenen Verbitterten wird, der dauernd Geräusche hört und im Unterschied zu Marie den Sinn dieses Krieges fundamental in Frage stellt: „Wenn wir in hundert Jahren hier weggehen, dann ist das Land ein, zwei Minuten lang still. Ganz still. Und dann gehen überall in den Lehmziegelhäuschen die schiefen Tür- Gefährlich sind nicht nur die Hügel im Feindesland, sondern auch die Kollegen – „Haus des Friedens“. Foto Judith Schlosser chen auf, und lauter kleine braune Gesichter mit schwarzem Schnurrbart gucken heraus und schnuppern, ob die Luft rein ist. Und dann fangen sie wieder an.“ Schwierige Fragen stellt der 40-jährige Autor in seinem Stück. Antworten gibt er keine. Auf diese Weise findet der Konflikt dann doch seinen Weg ins Stück, nur dass er sich nicht zwischen den Figuren, sondern im Kopf des Zuschauers manifestiert – als ein leichtes Unbehagen, wie das durch den Lehmstaub des Bühnenbodens verursachte Jucken in der Nase. Simone von Büren 45 gelesen von Gunnar Decker Frank Beyer drehte in der Endzeit der DDR einen Film mit dem gleichen Titel: „Geschlossene Gesellschaft“. Eine Ehegeschichte, in der sich zwei das Leben zur Hölle machen – dabei besser einfach auseinandergehen sollten und es doch nicht können. Sie bleiben für immer zusammen, als „tote Seelen“ wie bei Gogol. Jean-Paul Sartre hat sein Stück so erklärt: „... wenn meine Beziehungen zu anderen schlecht sind, begebe ich mich in die totale Abhängigkeit von andren. Und dann bin ich tatsächlich in der Hölle.“ Eine geschlossene Gesellschaft ist wie ein Raum ohne Türen. Niemand kann herein, aber auch niemand kommt hinaus. Der natürliche Austausch zwischen innen und außen ist gestört. Man kann nicht ohne den anderen leben, aber mit ihm erst recht nicht. Die Welt hinter einer Glasscheibe, jederzeit sichtbar, aber nie fassbar. * Was ist Freiheit, wenn ich gleichzeitig verantwortlich bin für andere, mit denen ich lebe? Totale Freiheit ist die Hölle, denn sie ist rücksichtslos, vermag keine Opfer zu bringen. Entfremdung ohne Ausweg – ein ewiges Rad des Immergleichen, und jede Handlung verliert sofort allen Wert? Ja und nein. Sartre verweigert sich Becketts Endzustandsdiagnose unserer westlichen Kultur. Es hat doch alles keinen Sinn?! Bei Sartre haben sich diejenigen, die in der Hölle sind, nicht mit ihrem Schicksal abgefunden. Sie rebellieren. Sartre lässt in „Geschlossene Gesellschaft“ drei soeben gestorbene Menschen in einer – komfortablen – Hölle ihrem schlimmsten Alptraum begegnen: Handlungen, die Folgen haben. Wer handelt, wird immer irgendwie gegen irgendjemanden schuldig. Die Vorstellung der eigenen Schuld ist ihnen neu, treibt sie alle schließlich in die Verzweiflung, gibt ihnen den Charakter von Untoten, die darauf warten, von ihrer Schuld erlöst zu werden. Also trägt jeder seinen Folterknecht in sich, er ist „der andere“ in ihnen selbst – die Stimme des Gewissens. Das ist die Inquisition im Zeitalter der Aufklärung: Richte dich selbst! So wird hier auch geschrien, gewütet und verletzt – alles nur, um sich selbst zu versichern, dass man noch lebt, obwohl man doch schon tot ist: „Ich spüre Sie bis ins Mark meiner Knochen. Ihr Schweigen brüllt mir in die Ohren. Sie können sich den Mund zukleben, können Sie sich deshalb daran hindern zu existieren? Können Sie Ihr Denken anhalten? Ich höre es, es macht ticktack, wie ein Wecker, und ich weiß, dass Sie auch meins hören.“ Und tatsächlich scheinen sie so zu neuem Leben zu erwachen. Sie träumen von Korrektur. Zu spät? Es ist eine absurde Situation, auf die Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ hintreibt: In der Zuspitzung des Bewusstseins davon, dass man längst tot, also in einem verfehlten Dasein gefangen ist, finden alle drei zu neuem Leben. Ist das mit Buße gemeint? Bei Sartre kreist die Frage nach dem richtigen Leben immer um den Zeitbegriff. Auch darum irritiert er uns damit, dass es zwischen Erde und Hölle, zwischen Leben und Tod, Gestern, Heute und Morgen anscheinend keine Grenze gibt – CAO CULTURE SIMONE UND MONIKA KEFEI SCAPES TRUONG LI NING, CHINA LIVING XIAO KE, ZHANG DANCE OVERSEAS 2010 5. – 8. November STUDIO MEMORY 7. November 46 DER RUNDE MOND 9. / 10. November MENGQI CAPRI CONNECTION/ LIVING DANCE STUDIO THE MYSTERY 12. – 15. November PERSPEKTIVENWECHSEL 11. November oder aber eine unsichtbare, die wir erst bemerken, wenn wir gegen sie wie gegen eine Glasscheibe laufen. * Die Worte lügen in der Mediengesellschaft, sie haben sich alle längst entwertet. Was Wahrheit ist, können wir nur dann noch erfahren, wenn es uns an Worten fehlt, einen Schmerz auszudrücken. Wenn uns die Verzweiflung über verfehltes Leben stumm macht, nur dann lügen wir nicht. Sartre blickt in seinem Venedigbuch „Königin Albemarle oder Der letzte Tourist“ von Anfang der 50er Jahre, das nach seiner großen Biografie über Jean Genet als Meditationsbuch zur eigenen Erbauung gedacht war – dann von politischen Ereignissen in Paris abrupt unterbrochen und nie wieder aufgenommen wurde –, in die milchigen Wasser der Lagune. Es erscheint ihm wie ein Spiegelbild des modernen Menschen: Scheinbar gibt es keine Grenzen, scheinbar stehen alle Türen offen. Das ist die moderne Hölle, die angesichts einer ihren Untergang so kunstvoll zelebrierenden Stadt wie Venedig, trotz der Überschwemmung mit Millionen Touristen jedes Jahr, zur Absurdität mutiert. „Man hat die Arche Noah verpasst“, schreibt Sartre. Die „glatten Wände einer entschwindenden menschlichen Welt“ vor Augen, fühlen wir einen nicht nachlassenden Schmerz, der sich seiner Verwandlung in Melancholie beharrlich entzieht. * Die geschlossene Gesellschaft maskiert sich mit Offenheit. Und die moderne Hölle hält sich fürs Paradies. MIKESKA: PLUS: BLENDWERK OPENING NIGHT::ORPHÉE 20. – 29. November w w w. g e s s n e r a l l e e . c h LESARTEN Jean-Paul Sartre: „Geschlossene Gesellschaft“ TdZ · November 2010 D TdZ · November 2010 Zurzeit läuft es gut für Christoph, eine Uraufführung da, eine Uraufführung dort, „Die Kunst des Fallens“ in Köln, „Eisenstein“ in Bochum. „Eisenstein“ ist eine Familiensaga, erzählt in großem romanhaftem Bogen. Die einen kommen zur Welt, die anderen sterben (oder bleiben einfach weg). Das ist wie im Leben, sagt Christoph. Gerade noch tuscheln zwei im Theater, schon verlieren sie sich aus den Augen. Die da getuschelt haben, waren wir beide, auf einer Probe von Thomas Ostermeier, der damals das Nußbaumeder-Stück „Liebe ist nur eine Möglichkeit“ inszenierte. Ich weiß nicht, was uns da dauernd eingefallen ist, nicht mal, ob wir zugestimmt oder geunkt und gelästert haben. Außerdem ist mir Getuschel zuwider. Aber es stimmt, dass wir uns dann längere Zeit nicht mehr getroffen haben. Als Christoph Martin Sperr besucht, lebt dieser als Frührentner in Landshut. Einer, den das Theater fast schon vergessen hat. Man sieht ihn spazieren gehen oder im Wirtshaus sitzen und eine Pfannkuchensuppe löffeln. Man sieht ihn oft in Großaufnahme, viel schweigen, wenig sagen, aber wenn er etwas sagt, dann sitzt es. Sperr hat noch einmal ein Stück geschrieben, über den Räuber Kneißl, ein Musical will er es nicht nennen, weil das so saublöd klingt, er sagt, es sei ein Singspiel. Mit 300 Rollen. Spielen aber will es ihm kein Theater. Die denken immer, ich bin so untauglich fürs Tägliche, sagt die Kellnerin Sigrid in „Die Kunst des Fallens“. Und Paul sagt: Ich weiß nicht, was das Tägliche ist. Sigrid: Sich zurechtfinden, oder? Und Paul: Da kenn ich niemanden, der das kann. So schaut es aus in den Stücken von Christoph Nußbaumeder. Und wieder und wieder kreisen sie um ein Unding der Liebe. Am Ende von „Eisenstein“ wird Georg bekennen: Am glücklichsten war ich mit ihr, nur gemerkt hab ich’s nicht. Wahrscheinlich hab ich das Glück unterschätzt, man muss es aushalten können. So schaut es aus. Ich sag: Was machst du als Nächstes? Ein Singspiel, sagt Christoph. Foto privat ie einfachen Fragen haben es in sich. Zum Beispiel stellt der Stückeschreiber Christoph Nußbaumeder einmal die Frage, ob das Leben Spaß mache. Er fragt nicht dich oder mich, sondern Martin Sperr, den mittlerweile verstorbenen Autor. Sperr sagt: Wenn man sich den Spaß selber macht, dann schon. Ich glaub nicht, dass das Leben als reiner Vorgang Spaß macht. 2001 hat Christoph ein dreißigminütiges Porträt über Martin Sperr gedreht, einen Film, der kaum wo zu sehen war; einmal haben sie ihn in der Berliner Schaubühne gezeigt. Warum Sperr? Christoph sagt: Er stammte aus einfachen Verhältnissen, genauso wie ich. Und er stammte aus meiner Gegend. Bei ihm hab ich früh gespürt, dass man trotz allem eine Schrift haben kann. Sperr hat sehr früh sehr großen Erfolg gehabt, mit „Jagdszenen in Niederbayern“ oder „Landshuter Erzählungen“. Dann, 1972, erlitt er einen Zusammenbruch, in seinem Gehirn war ein Aneurysma geplatzt, mit der Folge, dass er sein Gedächtnis verlor. Im Film erzählt Sperr: Ich wusste nicht mehr, wer ich bin. Alles musste ich neu lernen – essen, gehen, schreiben. Und dann hat mir die Krankenschwester meine Stücke zum Lesen gegeben. Da ist was Merkwürdiges passiert, ich hab gespürt, dass das mir gehört. Und mit der Zeit sind wieder Erinnerungen aufgetaucht, die ich nicht erst hab lernen müssen. Irgendwann frage ich Christoph, wieso er es immer wieder mit dem Volksstück hat. Erst sagt er nichts, dann sagt er: Das hab ich mir nicht bewusst überlegt. Aber es ist das mir vertraute Milieu. Und darin zeigt sich besonders gut, dass der Mensch schwankt zwischen dem, was ihm bewusst, und dem, was ihm nicht bewusst ist. Intellekt und Affekt. Beides zusammen ergibt den Charakter. Niederbayern, sagt Martin Sperr, ist ganz anders als Oberbayern. Es ist urwüchsiger und so gesehen auch gesünder. Alles kommt aus der Landschaft. Meine Sprache ist ein verkürztes Niederbayrisch. Sie bringt die Sache auf den Punkt. Ich trau mich nicht, mit der Sprache zu spielen. Dazu ist sie zu wertvoll für mich. KOLUMNE Ein Unding der Liebe von Ralph Hammerthaler 47 Menschen zu besseren Menschen machen Der Autor und Regisseur Nurkan Erpulat im Gespräch mit Patrick Wildermann Nurkan Erpulat, das Stück „Verrücktes Blut“, das Sie gemeinsam mit Jens Hillje verfasst haben, basiert auf dem französischen Film „La journée de la jupe“ (Heute trage ich Rock). Er erzählt von der Lehrerin einer Problemschulklasse, die ihre Schüler mit vorgehaltener Pistole als Geiseln nimmt. Hat der Plot Ihnen zugesagt? Nurkan Erpulat: Ich hatte schon Probleme mit dem Film. Er erzählt das Melodram der Lehrerin, einer jungen Frau, die selbst einen Migrationshintergrund hat und versucht, diese Migrantenkinder zur Ordnung zu rufen. Allein, sie kriegt es nicht hin. Sie ist selbst Opfer und muss scheitern, wie die anderen Migranten. Diese Gleichmacherei ist sehr einseitig. Dazu wird die Perspektive der Schüler überhaupt nicht erzählt, wir sehen sie nur als Gruppe, nicht als Individuen. Das ist ja grundsätzlich das Problem, wenn man über Migranten redet. Da ist man schnell bei dem Klischee der dummen, schlecht erzogenen Migrantenkinder, die weder integrationswillig noch integrationsfähig sind, wenn man Thilo Sarrazin oder Necla Kelek folgt. Ihre Inszenierung, eine Koproduktion von Ruhrtriennale und Ballhaus Naunynstraße, führt dieses Klischee zu Beginn ironisch ad absurdum. Sie zeigen eine Klasse voller rotzender Rüpel, schlimmer als das Schreckbild der Rütli-Schule. Hatten Sie keine Angst vor dem Missverständnis, Sie selbst würden Vorurteile bedienen? Erpulat: Angst nicht, aber bestimmte Reaktionen habe ich vorausgesehen. Es passiert bei meinen Inszenierungen oft, dass Zuschauer 90 Prozent des Geschehens einfach ausblenden und sich nur auf das konzentrieren, was sie sehen wollen, was sie vorher erwartet haben. Da verzweifle ich manchmal – an mir selbst, nicht am Publikum. In „Verrücktes Blut“ lasse ich die Schauspieler auf die Bühne kommen, sie reden normal miteinander, ziehen die Kostüme an und steigen dann in ihre Rollen ein – ganz nebenbei, das ist ja nicht neu, das gibt es ja seit Brecht (lacht). Aber diese Brechung wird schon von vielen nicht wahrgenommen. Mir war es wichtig, eine bestimmte Sichtweise auf diese Jugendlichen erst mal zu zeigen, um sie dann wieder dekonstruieren zu können. Ich inszeniere nicht, wie sie sind, sondern wie sie betrachtet werden. Weshalb rückt die Lehrerin in Ihrer Version den Schülern mit Schillers „Ästhetischer Erziehung des Menschen“ und den „Räubern“ zu Leibe? Erpulat: Erst mal: weil sie Theaterunterricht macht! Und weil sie tatsächlich daran glaubt, dass die Kunst Menschen zu besseren Menschen machen kann. Daran glaube ich übrigens auch. Sicher, ihre Methodik ist eher problematisch, aber anders als mit der Pistole in der Hand dringt sie zu den Schülern nichtdurch. Ich will das gar nicht rechtfertigen,verstehen Sie mich nicht falsch, aber es spiegelt die Wunschphantasie von vielen: Wir möchten euch helfen, Freunde, aber wie soll das gehen? Ihr seid so dumm und unreflektiert, dass man euch mit Gewalt erziehen muss! Dieser Satz kommt auch der Lehrerin über die Lippen. Hätte es Sie genauso gereizt, Schiller im Original zu inszenieren? Erpulat: Ich wäre bereit, viele Klassiker zu inszenieren. Ich habe eine klassische Ausbildung genossen, auch in der Türkei, nicht nur an der Ernst-Busch-Schule in Berlin. Ich behaupte mal, dass ich Shakespeare besser ken- ne als Neuköllner Straßengeschichten. Aber den Intendanten fehlte bis jetzt der Mut, mich auch solche Stoffe inszenieren zu lassen. Das ändert sich gerade, was mich sehr freut, ich habe jetzt auch Shakespeare- und TschechowAngebote bekommen. Bis dato war ich ja ausschließlich für interkulturelle Themen zuständig. In „Verrücktes Blut“ wird auch darüber gespottet, dass die deutschen Bühnen für Schauspieler mit Migrationshintergrund nach wie vor die Kanakenrollen reserviert haben. Macht ein interkulturelles Ensemble wie das von Karin Beier in Köln da Hoffnung? Erpulat: Leider ist Karin Beier ein Einzelfall. Bis auf wenige Ausnahmen ist das deutsche Theater weiß. Das gilt selbst für eines meiner Lieblingstheater, das Grips. Mindestens 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die da hinkommen, haben einen Migrationshintergrund, bei manchen Vorstellungen sind es deutlich mehr. Aber als ein Freund von mir, ein wirklich guter Schauspieler, sich dort beworben hat, wurde ihm gesagt: Wir finden dich super, wenn wir einen Türken brauchen, rufen wir dich an! Ist ein Theater wie das Ballhaus Naunynstraße so gesehen wichtig als Sprungbrett, um Schauspieler oder Regisseure wie Sie an die großen Häuser zu bringen? Erpulat: Das Ballhaus ist ein Sprungbrett und gleichzeitig ein eigenständiges Haus. Ich finde es wichtig, dass es in dem Sinne nicht nur Modell wird bzw. verschiedene Protagonisten weitervermittelt, sondern dass dort tatsächlich viel produziert wird, auch auf der Textebene, schwarz auf weiß. Das hat noch einmal anders Bestand als das beste Projekt. wurde 1974 in Ankara geboren und lebt seit 1999 in Berlin. Er studierte Schauspiel an der Dokuz Eylül Üniversitesi in Izmir und Schauspielregie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Vornehmlich arbeitet er in Berlin, aber auch in Hannover, Linz, Heilbronn und Istanbul. Zu seinen Regiearbeiten zählen u. a. „Faked“, „Jenseits – Bist du schwul oder bist du Türke?“, „Schattenstimmen“, „Man braucht keinen Reiseführer für ein Dorf, das man sieht“, „Lö Bal Almanya“. Ferner war er als Lehrbeauftragter an der Universität der Künste Berlin tätig. Er ist 2011 Mitglied der Stückemarkt-Jury vom Theatertreffen Berlin. Seine neueste Produktion „Verrücktes Blut“, die in Koproduktion des Ballhauses Naunynstraße mit der Ruhrtriennale entstanden ist, wurde gerade für den Friedrich-Luft-Preis nominiert. 48 Foto Ute Langkafel Nurkan Erpulat TdZ · November 2010 STÜCK Verrücktes Blut von Nurkan Erpulat und Jens Hillje Frei nach Motiven aus dem Film „Heute trage ich Rock“, Drehbuch und Regie von Jean-Paul Lilienfeld Sonia Kelich, Lehrerin Mariam, Schülerin Latifa, Schülerin Musa, Schüler Bastian, Schüler Hakim, Schüler Ferit, Schüler Hasan, Schüler 1. Szene Übertriebene freundschaftliche Ghettobegrüßung zwischen den Schülern. Sonia tritt mit einem Stapel Reclamhefte auf die Bühne. In dem Stück geht es nicht um die Schüler. In dem Stück geht es nicht um die Lehrer. In dem Stück geht es nicht um die Schule. In dem Stück geht es um den Blick darauf, es geht um das Publikum. Prolog Die Schauspieler kommen in den Raum. Sie unterhalten sich und ziehen sich um. Die Schauspielerin, die Mariam spielt, bindet ihr Kopftuch usw. Sie nehmen ihre Stühle und gehen auf die „Bühne“. Sie stellen die Stühle in eine Reihe und setzen sich. Einer nach dem anderen kommt als Privatperson an den vorderen Bühnenrand und wird dort zum Kanaken. Hasan, Sonia, Latifa, Bastian, Mariam, Musa, Ferit, Hakim stehen in einer Reihe und führen chorisch den Kanon der Kanakengesten vor: Rotzen, Ausspucken, Schwanzkorrigieren, Style-Korrigieren, Anmachen/ Flirten, Mit-dem-handy-Telefonieren, Über-Sex-Reden, Fick-dich-Anpöbeln, usw. Auf jede Geste folgt ein Moment des Innehaltens. Stille. Blick ins Publikum. Die Reihe löst sich auf. Die Schauspielerin, die die Lehrerin spielt, geht, um sich umzuziehen. Sie wird zu Sonia Kelich, der Lehrerin. Die anderen Schauspieler werden zur Schulklasse. Der Gestenkanon wird nun situativ in der Gruppe gespielt und endet in einem lauten Streit. Stille. Oskar Gomez Mata / Anton Reixa 23.11–05.12. black.box Sébastien Grosset / Cie RDH 25.11–05.12. white.box TdZ · November 2010 SONIA: Guten Morgen! Sonia wiederholt es mehrfach, die Schüler ignorieren sie. Sie wendet sich dem Publikum zu. Grüßt. Bastian schubst Latifa nach vorne. FERIT: Affenarsch! HAKIM: Affengeiler Arsch. LATIFA: Hey! HAKIM: Hab’ ich dir schon mal gesagt, dass ich auf dicke Ärsche stehe? FERIT: Was ist los mit dein Hintern? Hast du dir Botox gespritzt? HAKIM: Ich hab noch nie so einen runden Arsch gesehen. LATIFA: Doch deinen eigenen. FERIT: Brauchst du eine Arschmassage? HAKIM: Ich will nur einmal rüberstreicheln. LATIFA: Geht weg! FERIT: Wir haben Respekt vor Frauen. HAKIM: Nur ein bisschen. LATIFA: Fass doch seinen Arsch an. HAKIM: Nein man. Ist langweilig geworden. Der ist klein. FERIT: Ja geil. HAKIM: Ja, so nen runden Arsch, so was mögen wir. LATIFA: Dann geh doch zum Arsch deiner Mutter. FERIT: Dicker – ich hab ihren Arsch angefasst. LATIFA: Hey! Bastian geht dazwischen. BASTIAN: Ey sag mal, was soll denn das du Arschloch? FERIT: Was soll denn los sein? HAKIM: Was soll sein? BASTIAN: Bist du behindert, oder was man? FERIT: Bleib’ mal ganz ruhig. BASTIAN: Ihr zwei gegen ein Mädchen? HAKIM: Sowieso! BASTIAN: Fasst euch doch gegenseitig an den Arsch. Du auch Alter. HAKIM: Übertreib’s mal nicht! Bastian fasst Latifa auch an den Po. BASTIAN, FERIT, HAKIM: Affenarsch! SONIA: Hört auf, das ist sexuelle Belästigung. BASTIAN: Dein Gesicht ist sexuelle Belästigung. SONIA: Setzt euch und lasst sie in Ruhe. LATIFA: SONIA: LATIFA: SONIA: HAKIM: SONIA: Wir klären das allein, Fräulein. Ich – Mischen Sie sich nicht ein, ja? Bisschen Respekt! Genau, reden wir mal über Respekt. Es ist 8 Uhr 20 und wir haben immer noch nicht mit Theaterunterricht anfangen können. Das stimmt nicht, es ist 8 Uhr 19. Wir haben entschieden, unseren diesjährigen Projekttag Friedrich Schiller zu widmen. Wir wollen uns heute mit seinen Dramen aus der Epoche des Sturm und Drang beschäftigen und einige Szenen daraus lesen und spielen. Das wichtigste Drama dieser Zeit sind „Die Räuber“. Eine junge Generation der deutschen Literatur wendet sich im ausgehenden 18. Jahrhundert gegen Autorität und Tradition. 2. Szene Bastian und Hakim wenden sich Hasan zu. Sonia spricht während der folgenden Szene weiter und richtet sich ans Publikum: SONIA: An Stelle von Regeln, die man in Dichterakademien lernen konnte, setzen die „jungen Wilden“ die Selbstständigkeit des Genies, das sein Erleben und seine Erfahrungen in eine individuelle künstlerische Form bringt. Die überkommenen Regeln werden mit dem Verweis auf das eigene Können und die Kraft genialer Originalität als Krücken verworfen. Nicht in eine Form solle das Werk passen, sondern in die Welt, wie die Generation des Sturm und Drang sie erlebt und ihr Lebensgefühl widerspiegeln. Das Gefühl rückte ins Zentrum der literarischen Aussage. „Die Stimme des Herzens ist ausschlaggebend für die vernünftige Entscheidung.“ Dieses Zitat von Johann Gottfried Herder zeigt den Protest gegen die herrschenden Moralvorstellungen, die Entscheidungen von der Moral und nicht vom Herzen abhängig machten. Hinzu kam die Kritik am feudalen System. Dessen Überwindung hatte die Aufklärung ebenfalls zum Ziel, sah jedoch die Vernunft als höchstes Gut, während im Sturm und Drang das Gefühl an erster Stelle stand. Die Hauptform der Dichtung in der Epoche des Sturm und Drang stellt das Dra- SUIS À LA MESSE, REVIENS DE SUITE www.grutli.ch I. Akt Théâtre du Grütli –Transthéâtre–Genf Personen: A L’OUEST DE L’HOMME 49 ENSEL UND KRETE // Uraufführung nach dem Roman von Walter Moers // ab 12. November 2010 noch lebt und Karl kehrt inkognito in seine Heimat zurück, um sie zu sehen. Er befreit seinen Vater und erfährt von den Intrigen seines Bruders. Franz begeht Selbstmord. Da Karl den Räubern Treue geschworen hatte, kann er nicht mit ihr glücklich werden. Nur ihr Tod kann ihn befreien. Er tötet sie und ist somit frei. Er will sich dem Gericht stellen und die Belohnung auf seinen Kopf lässt er einem Tagelöhner zukommen. Ihr solltet das Stück für heute gelesen haben. Wir fangen mal an mit der zweiten Szene. Na wer möchte den Karl Moor lesen? Bastian lässt Hasan aufstehen. Hakim führt ihn in die Mitte. BASTIAN: Na da ist ja der Hasan schon wieder. HAKIM: Der Hasan! MUSA: Hassaaaaaaaaaaaaaaaan! HAKIM: Hasanowitsch! MARIAM: Hasanette! LATIFA: Knecht. MUSA: Patient. MARIAM: Knecht. FERIT: Kunde. HAKIM: Shake hands … Guten Morgen. FERIT: Wie geht`s? Alles in Ordnung? MUSA: Was ist los man? HAKIM: Mensch, Hasan, mach mal nicht so. Kommst hier bei uns herein und siehst aus wie ein PlayboyFERIT: Wuay, Playboy – Hassaaaaaaaan – Wie viele Frauen hast du geknallt, he? Oder Männer? MARIAM: (überlappend) Hey, hast du Hausaufgaben gemacht? LATIFA: Gib mal die Tasche. MARIAM: Hast du die Hausaufgaben gemacht? Man, gib doch mal her, Alter. FERIT: Sei mal nicht so geizig man. HAKIM: Gib doch mal her. Hakim gibt Mariam die Tasche, die beiden Mädchen setzen sich auf ihre Stühle und kramen in der Tasche. HASAN: Meine Tasche! BASTIAN: (äfft ihn nach) Meine Tasche! FERIT: Geizkopf, Alter. BASTIAN: Leih mir mal was. HAKIM: Darf ich ganz kurz, darf ich? Hakim nimmt Hasan die Brille ab und gibt sie Musa. BASTIAN: Klar darfst du, er ist unser Freund, oder? FERIT: Natürlich ist er unser Freund. BASTIAN: Schicke Mütze ey! HASAN: Gib’s zurück. BASTIAN: Was? HASAN: Ich möchte meine Mütze wieder. HAKIM: (äfft ihn nach) Ich möchte meine Mütze. MUSA: Bleib doch mal locker man. MUSA: Man Hasan jetzt nicht weinen, man. FERIT: Huähh. BASTIAN: Heul doch. HAKIM: Hasan, du hast ja ein blaues Auge. BASTIAN: Du musst dich doch nicht schämen. HAKIM: MUSA: Steht dir. (packt Hasan) Komm mal her man, lass doch mal gucken, tut’s noch weh? HASAN: Ein bisschen. BASTIAN: Ach, ein bisschen. MUSA: Soll ich das andere auch so machen? HAKIM: Abooo. MUSA: Soll ich? BASTIAN: Hast du ein neues T-Shirt? Damenabteilung oder was? FERIT: Schööön. Bastian zieht ihm sein T-Shirt aus, tanzt mit Musa, Hakim und Ferit und schwenkt das T-Shirt. Sonia will sich Hasans Auge ansehen. SONIA: Wie ist das passiert? HASAN: – SONIA: Wer war das mit dem Auge? Das kannst du mir ruhig sagen. LATIFA: (nimmt Mariams Handy) Zeig mal, zeig mal, zeig mal... MARIAM: Gib mir mal bitte mein Handy zurück. SONIA: Wir finden das schon heraus. (Weiter mit ihrem Schillervortrag zum Publikum.) LATIFA: Mmh, wo hast du denn das her? MARIAM: Ey, jetzt gib mir mal mein Handy zurück. LATIFA: Bleib mal ganz ruhig. MARIAM: (sehr laut) Jetzt gib mir mal mein Handy. LATIFA: Da wird aber jemand aggressiv. MARIAM: Gib mir mal mein Handy. LATIFA: Nein. MARIAM: Ich habe dir gesagt du sollst mir mein Handy geben. LATIFA: Will ich aber nicht. MARIAM: Ach nee, willst du aber nicht? Mariam zieht Latifa an den Haaren quer über die Bühne. Die Jungs feuern sie an. Mariam nimmt Latifa das Handy ab. LATIFA: Du Tussi. SONIA: Das Stück „Die Räuber“ hat auch heute noch Aktualität, da die Themenbereiche, z.B. Unterdrückung, Gewalt, Wunsch nach Freiheit, Macht, Geld, Liebe und Kommunikationsarmut noch nicht veraltet sind. Auch Konflikte in der Familie sind heutzutage noch an der Tagesordnung … BASTIAN: (zu Hakim) Man, hast du Kohle? HAKIM: Ich hab nichts, zwei Cent oder so. BASTIAN: Ey, hast du ein bisschen Kohle für mich? MARIAM: Nee. BASTIAN: Wie, was nee. Du musst doch was haben. MARIAM: Schülerticket, hallo. BASTIAN: (zu Ferit) Du schuldest mir 10 Euro. FERIT: Seit wann? BASTIAN: Seit zwei Sekunden. FERIT: Hab kein Geld. BASTIAN: Ach ja? FERIT: Walla. BASTIAN: Mal sehen! Bastian zieht ihm einen Geldschein aus der Tasche. FERIT: Hey, gib mir das zurück. BASTIAN: Vergiss es, man. FERIT: Gib mein Geld zurück. SONIA: Hört auf! Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen KINDER UND JUGENDTHEATER TÜBINGEN AM LTT Bühnenbildentwurf ma dar. Das immer wiederkehrende Thema ist der Konflikt der nach Freiheit strebenden, widerspenstigen Jugend, mit den Schranken der bestehenden Weltordnung, die die handelnden Personen als Aufrührer und Verbrecher erscheinen lässt. Die exaltierte, ungebändigte und doch gefühlsund ausdrucksstarke Sprache des Sturm und Drang ist voller Ausrufe, halber Sätze und forcierter Kraftausdrücke und neigt zum derbrealistisch Volkstümlichen. Man nimmt kein Blatt mehr vor den Mund und bringt die Sprache des Volkes und der Jugend auf die Bühnen. Eine eigenständige Jugendkultur in der Literatur war entstanden. Friedrich Schiller wird am 10.11.1759 in Marbach/Neckar geboren. Herzog Karl Eugen von Württemberg zwingt den jungen Schiller, in die Militärakademie Karlschule zu gehen. Hier schreibt er heimlich an seinen ersten Stücken. „Die Räuber“ ist die erste große dramatische Arbeit Schillers. Sie entstand in seiner Jugendperiode, also 1779/1780. Der Anstoß für die Arbeit sind mehrere Erzählungen, z.B. die über den schwäbischen Straßenräuber Friedrich Schwan. Die ersten Szenen der Räuber werden von Friedrich Schiller schon 1777 verfasst und 1780 vollendet. Da ihm der Herzog den Umgang mit Literatur verboten hatte, druckt er sein Werk heimlich. Da kein Verlag bereit war, das Werk zu veröffentlichen, schreibt Schiller eine Bühnenfassung, die 1782 in Mannheim Premiere feiert. Das Publikum ist von dem Stück begeistert. Da ihm der Herzog verboten hatte, sich mit Literatur zu beschäftigen, flieht Schiller schließlich im gleichen Jahr nach Mannheim. Das Stück „Die Räuber“ hat auch heute noch Aktualität, da die Themenbereiche, z.B. Unterdrückung, Gewalt, Wunsch nach Freiheit, Macht, Geld, Liebe und Kommunikationsarmut noch nicht veraltet sind. Auch Konflikte in der Familie sind heutzutage noch an der Tagesordnung. Das Drama handelt von der Selbstzerstörung einer Familie. In der Familie Moor kommt es durch einen intriganten Brief von Franz, dem Zweitgeborenen, zum Bruch zwischen dem Vater und Karl. Aufgrund dieses Streits mit dem Vater wird Karl Hauptmann einer Räuberbande. Franz sagt seinem Vater, dass Karl tot sei und der Vater fällt daraufhin in Ohnmacht und wird in den Turm gesperrt. Somit wird er Herrscher und will Amalia, die Braut seines Bruders, als Frau. Doch sie willigt nicht ein. Franz erzählt ihr, dass Karl tot ist. Karl kämpft um Gerechtigkeit, die anderen Räuber begehen dagegen grausame Verbrechen. Amalia erfährt, dass Karl www.landestheater-tuebingen.de 50 TdZ · November 2010 SONIA: Es reicht. Stellt die Stühle auseinander. Mariam, Sie schalten sofort das Mobiltelefon aus. Hakim, Ferit, setzt euch bitte auf eure Plätze. (Zu Musa und Bastian) Und ihr zwei steht sofort auf. FERIT: Schon gut, mach dich mal locker, ey. Wir haben uns die Plätze gegeben. MUSA: Ja, aber kein Problem, Jungs. Setzt euch ruhig her. Es ist schon gut, wenn die Lehrerin sagt, setzt euch wieder hierher, dann setzt ihr euch hierher. HAKIM: Wir sitzen super hier Frau Kelich, mehr wollen wir nicht. MUSA: Sehen Sie Frau Kelich, wir sind nett. Ihr könnt’s bezeugen, ist alles voll Zeugen hier. (leiser zu Mariam) Was guckst du immer, bin ich Kino? SONIA: Aufhören, Musa, jetzt übertreib’s nicht. Wollen Sie mich für dumm verkaufen? So, und jetzt zieht eure Jacken aus, die Mützen weg. Los, ein bisschen Beeilung, es ist 8 Uhr 35 – MUSA: Was ziehen Sie aus? Ey, ich schwöre ihre Eltern müssen Terroristen sein, so Bombe ist die. SONIA: Also, ihr solltet den Anfang der 2. Szene auswendig lernen, aus dem 1. Akt von „Die Räuber“. Mariam, kommen Sie doch bitte auf die Bühne. MARIAM: Echt nicht Frau Kelich. Ich bin nicht verrückt. Ich stell mich nicht vor diese Schakals. HAKIM: Schakale. MARIAM: Halt die Schnauze, du Arsch. SONIA: Mariam! MARIAM: Nein, echt keine Chance, ich mach’s nicht. SONIA: Mariam, ich warte hier auf Sie! Oder können Sie den Text nicht auswendig? BASTIAN: Spinnst du? MUSA: Ey, ich bin der Boss! SONIA: (zu Hakim) Du machst das gut, nur deutlicher. FERIT: Ey, Hasan wo hast du denn Deinen Cowboyhut gelassen? SONIA: (zu den anderen) Haltet den Mund! HAKIM: Jetzt frisch mit den Türken aus Asien, weil’s Eisen noch warm ist, und Zedern gehauen aus dem Libanon, und Schiffe gebaut – SONIA: Mach weiter, Hasan. HASAN: Kamerad! mit den Narrenstreichen ist’s nun am Ende. BASTIAN: (laut) Bist du geizige Judensau, oder was? Ich schwör auf Koran, ich geb’ zurück. MUSA: Was weißt du von Koran? Weiße Käsefresse! (hält die Tasche weg von Bastian) SONIA: (nimmt ihm die Tasche weg) Was ist denn so Wichtiges drin in dieser Tasche, he? Musa und Bastian springen auf. MUSA : Du spinnst wohl, du Tusse. Gib sofort zurück. SONIA: Ach, ich werd auch noch geduzt. MUSA: Die Tasche, Alter! SONIA: Schluss jetzt, ich hab die Nase voll, ab jetzt zum Direktor. MUSA: Ich habe schon lange die Nase voll. SONIA: Schluss jetzt. BASTIAN: Willst du sterben, oder was? MUSA: Dazu haben Sie kein Recht, Frau Kelich. Nehme ich Ihnen Sachen weg? SONIA: Musa, Sie sind intelligent genug. Sie wissen, das kann man nicht vergleichen. Und jetzt raus. MUSA: Hör’n Sie mir zu Frau Kelich: Sie geben mir die Tasche zurück oder ich skalpier’ Sie. Also, schön ruhig bleiben und kein Gelaber von Direktor. Und ich schwöre, keiner von Bastarden in der Klasse nervt Sie mehr. Dann stehen Sie unter meinen Schutz, Frau Kelich. SONIA: Ihr bleibt wo ihr seid und seid bitte ruhig, keiner rührt sich hier weg. BASTIAN: Wo willst du hin? Bastian will Sonia aufhalten, packt die Tasche, eine Pistole fällt aus der Tasche auf den Boden. Stille. SONIA: Was ist denn das? Ihr beiden, sofort raus, und das, das bleibt da liegen, habt ihr verstanden. BASTIAN: Sag mal, geht’s noch, oder was? Musa greift nach der Pistole, Sonia ist schneller BASTIAN: Vorsicht, die ist echt! MUSA: Die gehört uns nicht, Frau Kelich. Ich hab die geliehen. Die Typen bringen uns um, wenn wir die nicht zurückgeben. Ist nichts passiert. (zu den anderen) Keiner hat was gesehen! (zu Sonia) Machen Sie was ich sage und ich schwöre, Ihnen passiert nichts. SONIA: (richtet die Pistole auf Musa) Raus hier! Es, es geht jetzt auf der Stelle zum Direktor. www.mousonturm.de / Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt/M. Waldschmidtstr. 4, 60316 Frankfurt/M. TdZ · November 2010 51 VERRÜCKTES BLUT_NURKAN ERPULAT UND JENS HILLJE 3. Szene MARIAM: Klar kann ich auswendig, aber ich komm trotzdem nicht vor. SONIA: Dann machen Sie es von Ihrem Stuhl aus. MARIAM: Von mir aus: Pfui! Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert, zu nichts nütze, als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen... HAKIM: Ey, nimm deine Treter darunter! SONIA: Hakim, wenn Sie sich äußern wollen, dann gehen Sie auf die Bühne. HAKIM: Aber Frau Kelich, der stellt immer seine Füße da drauf. Er denkt ich bin seine Fußmatte. Nimm die weg, du Bastard! Bastian steht auf. Hakim steht auf und schubst ihn. Musa steht drohend auf. Sonia geht dazwischen. SONIA: (zu Hakim) Kommen Sie auf die Bühne! Ihr setzt euch sofort hin! Hasan, es bleibt noch genügend Zeit zum Zuhören. Bitte gehen Sie auf die Bühne. (gibt ihm ein Textbuch) BASTIAN: Los, du Drecksack. FERIT: Scheiß Streber! Hasan kommt mit seinem Stuhl nach vorne. SONIA: Die Szene spielt im Stehen. LATIFA: Eh, Hasan hast du dich geschminkt vor der Schule? SONIA: Pssst! (zu Hasan) Ah dass der Geist Hermanns ... HASAN: Ah! Dass der Geist Hermanns noch in der Asche glimmte! – Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen. HAKIM: Bravo! Bravissimo! Ich will dir was ins Ohr sagen, Moor, das schon lang mit mir umgeht, wie wär’s, wenn wir Juden würden und das Königreich wieder aufs Tapet brächten! HASAN: Ah! Nun merk’ ich – nun merk’ ich – du willst – SONIA: Hasan, dass ist gut aber … MARIAM: (redet im Hintergrund mit Latifa) ... so klein waren die. SONIA: … ein bisschen lauter. Hasan, nehmen Sie sich Zeit, nehmen Sie sich die Zeit, ein bisschen lauter. HASAN: – du willst die Vorhaut aus der Mode bringen – FERIT: Ihr Schwuchteln! SONIA: Ist da mal langsam Ruhe? HASAN: – weil der Barbier die deinige schon hat? HAKIM: Daß dich, Bärenhäuter! Ich bin freilich wunderbarerweis schon voraus beschnitten. Aber, sag’, ist das nicht ein schlauer und herzhafter Plan? Wir lassen ein Manifest ausgehen in alle vier Enden der Welt und zitieren nach Palästina, was kein Schweinefleisch ißt. Da beweis’ ich nun durch triftige Dokumente, Herodes sei mein Großahnherr gewesen. Das wird ein Victoria abgeben, Karl, wenn sie Jerusalem wieder aufbauen dürfen. Während Hakim spielt, beugen sich Musa und Bastian über eine Tasche und beginnen zu streiten. Kidd Pivot Frankfurt RM © Jörg Baumann Ferit schubst Bastian, Bastian schubst Ferit. SONIA: HÖRT AUF! FERIT: Ich fick dich! BASTIAN: Du bist tot man. SONIA: HÖÖÖÖÖÖÖRT AUUUUUUUF! FERIT: Amına korum lan, ver paramı! MUSA: Heeey! Aufhören! Sie hören auf. MUSA: (steht auf) Gib sein Geld zurück! SONIA: Ja, gib ihm bitte sein Geld zurück. BASTIAN: Was? MUSA: Sofort, lan! SONIA: Sofort! BASTIAN: Aber... Bastian gibt ihm das Geld zurück. Ferit und Bastian setzen sich. MUSA: Alles klar, Frau Kelich? Sonia nickt. MUSA: So, gib das Geld zu mir! Ferit gibt Musa das Geld. Musa scheucht Ferit und Hakim von den Stühlen, er und Bastian setzen sich auf ihre Plätze. Musa gibt Bastian das Geld. BASTIAN: Keiner kommt hier raus, bis wir das Ding wieder haben. MUSA: Gib rüber, Süße. SONIA: Zurück! MUSA: Sag mal, weißt du, was du mit deinem Leben anstellst... SONIA: Weg da. Bleib weg. MUSA: Nur mal so’n Beispiel, du kommst nach Hause in die Belfortstraße 22, 4. Stock rechts, he. Ist dir klar, was da auf dich wartet, ja? Zwei Riesenschwänze. Zwei Riesentürkenschwänze, die es dir mal so richtig besorgen, du Nutte. MARIAM: Hör auf mit dem Scheiß verdammt. MUSA: Halt die Fresse. Musa greift nach der Pistole, Sonia drückt ab. (SCHUSS.) MUSA: Aaah! Panik. Alle schreien durcheinander. FERIT: Scheiße! LATIFA: Hilfeeee! HASAN: Imdaaaaat! LATIFA: Sie hat ihn erschossen! FERIT: Kafayı yemis! MUSA: Diese Nutte hat mir die Hand abgeschossen! MARIAM: Hilfeeeee! HAKIM: Sharmuta wallah! HASAN: Was haben Sie getan? MUSA: Man es tut weh ... Oh shit! BASTIAN: Schon gut, is nur ‘n Streifschuss. MARIAM: Wir brauchen einen Krankenwagen. SONIA: Was machst du da? MARIAM: Ich rufe einen Krankenwagen. SONIA: Handy weg Mariam! Heul nicht Latifa. HAKIM: Er blutet. BASTIAN: Geben Sie uns die Waffe und alle hier vergessen, was passiert ist. Ich schwör’s. SONIA: Bleib, wo du bist. Bleib weg. Ich schieße. MUSA: Jetzt steckst du voll in der Scheiße. Eine Lehrerin schießt auf ihre Schüler. Du bist ja voll psycho – MARIAM: Hör auf Musa! SONIA: Wer ist hier der Psychopath, he? Wer hat denn die Waffe mitgebracht, in meinen Unterricht? MUSA: Du Opfer! SONIA: Halt die Schnauze du blöder Lackaffe, du hörst jetzt auf unseren Projekttag zu sabotieren. Du bist so doof, du kotzt mich so an ... Latifa, Ferit und Hakim wollen raus. SONIA: Nein nein nein nein. Sie verschließt die Tür. Panik. Geschrei. HAKIM: Die ist verrückt. LATIFA: Lassen Sie uns raus! SONIA: Ruhe jetzt. Alle bleiben hier. Der Unterricht ist noch nicht zu Ende! LATIFA: Ich will hier raus. FERIT: Sind Sie bescheuert? HASAN: Seid doch endlich ruhig. HAKIM: Die blöde Kuh spinnt total. LATIFA: Hilfeeee! SONIA: Sei ruhig! MARIAM: Hilfeeee! (SCHUSS.) SONIA: Hinlegen. Legt, legt euch auf den Boden, los, wie im Fernsehen. Alle auf den Boden. Sie legen sich hin, Bastian zuletzt. BASTIAN: Gleich sind die Bullen da, dann... SONIA: Dieser Raum ist absolut schalldicht. Habt ihr verstanden? Schalldicht! Keiner kann euch hören. Auch die Waffe nicht. Und deswegen seid ihr jetzt ruhig. MUSA: Dafür gehst du in den Knast, du Schlampe. SONIA: Nenn mich nicht so! Ich bin keine Schlampe! Jetzt will ich mal wissen, wer immer diese primitiven Schimpfwörter auf die Innentafel schreibt, he, he, he? Wer Rock trägt ist also eine Schlampe? He? Wer hat das geschrieben? Steckt Ihr alle unter einer Decke, ihr Affen? Und wer hat die Reifen von meinem Auto aufgestochen, he? Wer? HAKIM: Mann, was wollen Sie denn von uns? MUSA: Du machst dir echt Probleme, Schlampe. HASAN: Hör endlich auf! BASTIAN: Halts Maul, du Stück Scheiße! HAKIM: Was macht die Nutte mit uns? MARIAM: Was haben Sie denn jetzt vor? (SCHUSS.) SONIA: Ruhe hab ich gesagt! Ich stelle euch jetzt eine einzige Aufgabe und die lautet: Ihr haltet jetzt einmal die Fresse! Keine Kommentare! Kein Muckser! Lange Stille. SONIA: Es ist 8 Uhr 45. Ich glaube, wir können dann jetzt zum Unterricht übergehen. Bevor wir wieder zu den Räubern kommen, reden wir über Schiller und seine Idee von ästhetischer Erziehung. Ein gutes Thema. 1. Lied Alle stehen langsam auf und singen. Wenn ich ein Vöglein wär Wenn ich ein Vöglein wär’ und auch zwei Flügel hätt’ flög’ ich zu dir Weil’s aber nicht kann sein, weil’s aber nicht kann sein, bleib ich allhier. Bin ich gleich weit von hier, träum ich doch stets von dir, bin nicht allein Wach ich vom Schlafe auf, wach ich vom Schlafe auf, bin ich allein. 0%4%2 5.$ $%2 7/,& NACH DEM MUSIKALISCHEN -ËRCHEN VON 3ERGEJ 0ROKOFJEW +OPRODUKTION VON 4(%!4%2 !. $%2 0!2+!5% UND NORTONCOMMANDERPRODUCTIONS W WW PAR KAUE DE 'EBURTSTAG 52 II. AKT 1. Szene (SCHUSS.) Alle legen sich schnell hin. SONIA: (Pistole in der Hand) Friedrich Schiller schreibt „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ nach den Schrecken der Französischen Revolution. Er fragt sich: Wie kann der Mensch dazu gebracht werden mit seiner Freiheit verantwortlich umzugehen – Ferit, was meinen Sie dazu? FERIT: Ey, was weiß isch – SONIA: ICH! ICH! ICH! und wie kommt man zu einem Ich, das diesen Namen verdient? He? Durch die Kunst, sagt Schiller, durch Spiel, durch Selbstbildung im Spiel! Diese Arbeit an sich selbst führt zu innerer Freiheit. Dann wird man auch zu äußerer Freiheit fähig. Interessiert Sie das nicht, Ferit? FERIT: Doch, doch, Frau Kelisch. SONIA: KeliCH. Sprich mir nach Ferit: Friedrich Schiller FERIT: FriedrischSONIA: FriedriCH FERIT: FriedriCH SONIA: Schiller FERIT: Schillller SONIA: Ästhetische Erziehung FERIT: Ästhe…ti…sche Erziehung SONIA: (liest vor) Man wird niemals irren, wenn man das Schönheitsideal eines Menschen auf dem nämlichen Weg sucht, auf dem er seinen Spieltrieb befriedigt. Wenn sich die griechischen Völkerschaften in den Kampfspielen zu Olympia an den unblutigen Wettkämpfen der Kraft, der Schnelligkeit, der Gelenkigkeit und an dem edleren Wechselstreit der Talente ergötzen, und wenn das römische Volk an dem Todeskampf eines erlegten Gladiators – (schaut auf Musa) den haben wir schon – sich labt, so wird es uns auf diesem einzigen Zug begreiflich, warum wir die Idealgestalten einer Venus, einer Juno, eines Apolls nicht in Rom, sondern in Griechenland aufsuchen müssen. Nun spricht aber die Vernunft – (zu Hasan) VERNUNFT HASAN: Vernumft. SONIA: Vernunft. HASAN: Vernumft. SONIA: Vernunft. Wer soll euch denn glauben, dass ihr keine Affen seid, wenn ihr nicht mal dieses schöne deutsche Wort richtig aussprechen könnt: Vernunft. HASAN: Vernunft. SONIA: Nun spricht aber die Vernunft: das Schöne soll nicht bloßes Leben und nicht bloße Gestalt, sondern lebende Gestalt sein. Mithin tut sie auch den Ausspruch: der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er 0REMIERE .OVEMBER 5HR 2EGIE "àHNE (ARRIET -ARIA UND 0ETER -EINING +OSTàME !NDY "ESUCH 'ROE *UBILËUMSWOCHE VOM n .OVEMBER TdZ · November 2010 SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: HASAN: SONIA: HASAN: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: HASAN: FERIT: SONIA: – aber wenn Blllutliebe? Blutliebe. Wenn Blutliebe zur Verräterin, wenn Vaterliebe zur Me … ? Megäre! Megäre? Ja. Schiller erklärt hier: Karl ist eigentlich nett, und wird nur böse, weil sein Vater ihm keine Anerkennung gibt. Ah Megäre. Zur Megäre wird: verwildere zum Tiger, samftmütiges Lamm … sanftmütiges Lamm. samftmütiges Lamm. sanftmütiges Lamm. Ist wie Vernunft. sanftmütiges Lamm. sanftmütiges Lamm. Ist wie Vernunft. Sanft. Sanft. Ist wie Vernunft. Vernunft. Sanftmütiges Lamm!!! Sanftmütiges Muschi-Lamm! (Sonia richtet die Pistole auf ihn) Ok – und jede Faser recke sich auf zu Grimm und Verderben! Grimmm und Verderrrben!!! Sind Sie voll durschgeknallt? DURCHGEKNALLT. Sprich mir nach. Sind Sie voll durchgeknallt? Sind – Sie – voll – durchgeknallt? Es geht doch. Du Muschi. Du kannst ja richtig Deutsch sprechen. Du durchgedrehte Muschi! – Nicht aussteigen! Weiter! Los Hasan! Hör, Moor! Nicht Hör, Moor. Höre, Moor! Höre, Moor! Was denkst du davon? Ein Räuberleben ist doch auch besser, als bei Wasser und Brot im Turm? Ist das … Ist das Vatertreue? Ist das Liebe für Liebe? Ich möchte ein Bär sein und die Bären sein … und die Bären des Nordlands wider dies mörderische Geschlecht … anhetzen ... keine Gnade und kein Er … (laut) keine Gnade! kkkkeine Gnade … keine Gnade und kein Erbarmen! (laut) kein Erbarmen! Ja, ja, keine Gnade und kein Erbarmen! (laut) Keine Gnade und kein Erbarmen, ja? Ja. (lauter) keine Gnade und kein Erbarmen! Ja! Ja! (leise) Komm mit uns in die böhmischen Wälder! Wir wollen eine Räuberbande sammeln, und du – Weg, weg von mir! Ist dein Name nicht Mensch! Warte, Warte – den Anfang habe ich nicht verstanden. Noch mal. Komm mit uns in die böhmischen Wälder … Das ist kon- HASAN: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: HASAN: SONIA: HASAN: SONIA: FERIT: SONIA: FERIT: SONIA: spirativ – (leise) Komm mit uns in die böhmischen Wälder! Wir wollen eine Räuberbande sammeln, und du – Weg! Weg von mir! Weg, weg von mir! … Weg, weg von mir! Ist dein Name nicht Mensch! Hat dich das Weib nicht gebrochen? Was hast du gerade gesagt? Was hast du gerade gesagt? Geboren. (leise) Geboren. (sehr sanft) Hat dich das Weib nicht geboren? Hat dich das Weib nicht geboren? – Aus meinen Augen, du mit dem Menschengesicht! (schreit) DU mit dem MENSCHENgesicht. Du mit dem Menschengesicht! – Ich habe ihn so unausspreschlich geliebt! unaussprechlich. – Ich – habe – ihn – so – unaussprechlich – geliebt! So liebte kein Sohn – Schäumend. Schäumend auf die Erde stampfend. Was ist schäumend? Schäumend. Vor Wut schäumend. Schäumend. Verstehst du? Schäumend. Er ist so wütend, dass ihm die Spucke im Mund zusammenschäumt. Schäumend. (Er geht schäumend auf Hasan zu) (verzückt) Ja! (leise) Du sollst unser Hauptmann sein! Du musst unser Hauptmann sein! (schreit) Du sollst unser Hauptmann sein! (schreit) Du sollst unser Hauptmann sein! Du musst unser Hauptmann sein! Stiert ihn an: Wer blies dir das Wort ein? Wer blies dir diese Worte ein? Höre, Kerl! indem er Schweizer hart ergreift. – Ja, pack ihn dir. (ab jetzt ohne Textheft. Er packt Hasan) Der Gedanke verdient Vergötterung – Räuber und Mörder! – So wahr meine Seele lebt, ich bin euer Hauptmann! Los jetzt: Alle mit lärmendem Geschrei. Es lebe der Hauptmann! (SCHUSS.) ALLE: Es lebe der Hauptmann! FERIT: Mein Geist dürstet nach Taten, mein Atem nach Freiheit. – Mörder, Räuber! (wirft Hasan zu Boden) – Ich habe keinen Vater mehr, ich habe keine Liebe mehr! SONIA: Ja! Mörder, Räuber, das seid ihr jetzt – ohne Vater und ohne Liebe – das seid IHR! Und jetzt könnt Ihr es endlich mal aussprechen. FERIT: (spricht ab jetzt auch ohne Akzent) Kommt, kommt! – (zu Musa) Ich bin euer Hauptmann! – Tretet her um mich ein Jeder, und schwöret mir Treue und Gehorsam zu bis in den Tod! – Schwört mir das bei dieser männlichen Rechten! – Und bei dieser 6 and the City 5 - Die Stuttgart Lounge | Stuttgarter Fernsehturm Künstlerische Gesamtleitung: Petra Weimer und Stephan Bruckmeier Mit: Caroline Betz, Susanne Weckerle, Stephan Bruckmeier, Alexander Merbeth Uraufführung: 01. November 2010 - Vorstellungen: 02. - 04. November 2010, 20 Uhr Papas In Motion | Ronald Rudoll Inszenierung und Bühne: Stephan Bruckmeier Mit: Caroline Betz, Gabriela Hütter, Anita Kolbert, Angela Schneider, Petra Weimer, Andreas Göbel, Anselm Lipgens, Alexander Merbeth, Ronald Rudoll und Peter Strauß Stuttgart Premiere: 10. November 2010 Vorstellungen: 10. - 13. November 2010, 20 Uhr | 16. - 20. November 2010, 20 Uhr November 2010 Der Krieger erwacht | Samuel Hof & Jonas Zipf Eine Koproduktion mit dem O-TEAM Inszenierung: Samuel Hof | Jonas Zip Mit: David Berger, Folkert Dücker, Monika Hölzl, Barbara von Münchhausen, Sebastian Schäfer Premiere: 26. November 2010 Vorstellungen: 27. | 30. November 2010 | 01. - 04. Dezember 2010 , jeweils 20 Uhr TdZ · November 2010 Filderstraße 47 | 70180 Stuttgart Karten: 0711. 620 09 09 - 16 Infos: 0711. 620 09 09 - 0 | www.theaterrampe.de 53 VERRÜCKTES BLUT_NURKAN ERPULAT UND JENS HILLJE soll nur mit der Schönheit spielen. Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Wir wiederholen den Satz jetzt zusammen: Er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. ALLE: Er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. SONIA: Noch mal. ALLE: Er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. SONIA: Dieser Satz, der in diesem Augenblicke vielleicht paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten. Er wird, ich verspreche es Ihnen, das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigeren Lebenskunst tragen. … er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. (überlegt einen Moment) – Ferit, stehen Sie auf. Aufstehen. Ferit steht zitternd auf, er hat Angst um sein Leben. Das Drama „Die Räuber“ erzählt von einer völlig zerstörten Familie. Karl sitzt in einer Kneipe und trinkt statt zu lernen und zu studieren. Er hat Schulden, aber er macht weiter Party. Seine Freunde wollen ihn zur Gründung einer Räuberbande überreden. Aber Karl will zurück nach Hause zu seinem Vater und zu seiner Braut Amalia. Er hofft, dass sein Vater ihm erlaubt Heim zu kehren. Da kommt ein Brief, in dem steht, dass er enterbt und verstoßen ist, – ja, weil er respektlos war und Schande über die Familie gebracht hat. Karl gerät außer sich. Er weiß nicht, dass dieser Brief von seinem Bruder Franz manipuliert wurde. – Ferit, Sie sind Karl Moor. Hasan, Sie sind Schweizer. Hallo, sind Sie noch unter uns? (zu Ferit) So, arbeiten wir erstmal an Ihrer Aussprache. Ich lese die Regieanweisungen und wir fangen an mit Seite 34, Karl tritt herein in wilder Bewegung und läuft heftig im Zimmer auf und nieder. FERIT: Welsche Menschen. Nein. Menschen – Menschen! falsche, heuchlarische Krokodilbrut! SONIA: Heuchlerische. FERIT: Heuchlarische. SONIA: (lauter) HEUCHLERISCHE. FERIT: (lauter) Heuchlllllllariische SONIA: Nicht mit dem Rücken zum Publikum. Sonia blickt ins Publikum, Ferit ist irritiert, er sieht das Publikum nicht. Heuchlerische! FERIT: Heuchlerische! SONIA: Gut. FERIT: Heuchlerische. SONIA: Heuchlerische. FERIT: Heuchlerische – Na – Krokodilbrut SONIA: Weiter. FERIT: Ihre Augen sind Wasser! Ihre Herzen sind Erz! Schwerter im Busen!... Löwen und Leoparden füttern ihre Jungen, und er, er SONIA: Stille. männlichen Rechten schwör’ ich euch hier, treu und standhaft euer Hauptmann zu bleiben bis in den Tod! Den soll dieser Arm gleich zur Leiche machen, der jemals zagt oder zweifelt, oder zurücktritt! Ein Gleiches widerfahre mir von Jedem unter euch, wenn ich meinen Schwur verletze! Es funktioniert. Ja. Es funktioniert. Weil der Vater Karl verstoßen hat, muss er Räuber werden – genau wie ihr! Versöhnt euch mit euren Vätern! Es gibt andere Wege! Also für was steht der Vater? 2. Szene Handyklingeln. SONIA: Von wem ist das? Wessen Handy ist das? (SCHUSS.) SONIA: VON WEEEEM? MUSA: Meins, verdammt. SONIA: Habe ich nicht gesagt, dass ihr eure Handys ausschalten sollt. He?Man, man, man ... Ihr hört mir nicht zu. Ich möchte euch helfen. Ich möchte euch was beibringen. Das braucht einfach die Konzentration. FERIT: Helfen mit der Waffe? SONIA: Anders kriegt ihr das nicht hin. Latifa, steh auf. LATIFA: Ich hab nichts gemacht. SONIA: Steh auf. Latifa, nimm sein Handy und leg es auf den Stuhl. Latifa durchsucht Musa, nimmt sein Handy. MUSA: Was macht sie? SONIA: Schnauze. Latifa, durchsuch alle nach Handys. Mariam, hilf ihr! BASTIAN: Ich lass mich nicht von ner Schlampe anfassen. Ey ich knall dir eine. MUSA: Sie sind doch völlig verrückt. HAKIM: Fass mich nicht an du Nutte! SONIA: Was hat er gesagt, Latifa? Wie kommst du denn darauf, dass Latifa eine Nutte ist? Findet ihr das gut, dass Hakim Latifa als Nutte beschimpft? FERIT: Das ist seine Meinung. SONIA: Hasan, was ist eine Nutte? HASAN: Ein Schimpfwort. SONIA: (zu den Mädchen) Weiter! HAKIM: Das ist respektlos. SONIA: Ah – Respekt, ja? Ich verstehe, Respekt. Meine ganze Jugend lang habe ich nichts anderes gehört. Das ist Betrug, dieser Respekt. Was ist eine Nutte, Bastian? Erklär mir mal, was eine Nutte ist. BASTIAN: Ne Tussi, die mich anmacht, das ist für mich ne Nutte. SONIA: Ihr redet alle über Begriffe und wisst noch nicht mal, was eine Nutte ist. Mariam, was ist eine Nutte? MARIAM: Eine Nutte ist eine Frau, die für Geld mit Männern schläft. SONIA: Noch mal. MARIAM: Eine Nutte ist eine Frau, die für Geld mit Männern schläft. SONIA: Kapiert? FERIT: Ja. SONIA: Kapiert? FERIT: Ja. HAKIM: Und solche Röcke trägt wie Sie. SONIA: Aha! Trägt Deine Mutti keine Röcke? Was trägt denn Deine Mutti? HAKIM: Normale Hosen. SONIA: Durchsuchen. HAKIM: Fass mich nicht an! SONIA: Normale Hosen, ja? HAKIM: Ja. SONIA: Du lügst! – Hakim. Hast du jemals deine Mutter als Nutte beschimpft? HAKIM: Was geht dich meine Mutter an, du verfickte Hure! Fick deine Mutter, ey … qiss ummik, qiss uchtik ya sharmuta, wahid qur’an, ich schwör Ihr Leben ist haram ... (spuckt aus) SONIA: Wisst ihr, wozu ich jetzt Lust habe? Wir ziehen dem Hakim jetzt die Hose aus und machen aus ihm eine männliche Nutte. Komm Latifa, zieh ihm die Hose aus. Zieh ihm die Hose runter. LATIFA: Muss ich? HAKIM: Fass mich nicht an. SONIA: Zieh ihm die Hose aus. Mariam, hilf Latifa. Zieh ihm die Hose aus. MARIAM: Wir wollen ihn aber nicht anfassen. HAKIM: Das ist Respekt. LATIFA: Nein, das ist Ekel. Du Arschloch. SONIA: Ekel. Latifa, was findest Du an Hakim eklig? LATIFA: Ihn. SONIA: Weißt du, was ich an ihm eklig finde? Ich finde an ihm eklig, dass er sich ständig an seinem kleinen Pimmel juckt. Eklig. Steh auf. Steh auf. HAKIM: Ich? SONIA: Nein, deine Mutter. Steh auf. Los, steh auf. Hose aus. Los, Hose aus. Große Fresse nichts dahinter, große Fresse nichts dahinter. HAKIM: Ich mach’s nicht. SONIA: Komm Latifa, Hose aus. HAKIM: Ich will das nicht. SONIA: Los, Hose aus. (zu Mariam) Du schaffst das. MARIAM: Nee. SONIA: Nicht? Wir machen eine Nutte aus Hakim. LATIFA: Ich will das nicht sehen. SONIA: Ich will es aber sehen. Hose runter. Ich zähle bis fünf. 1,2,3 – (zielt auf sie) Hose runter. Hose runter. Hose runter. HEY. Hose runter. Latifa zieht ihm die Hose runter. Alle sind peinlich berührt. Stille. SONIA: Na, wie fühlst du dich? HAKIM: Nicht gut. JOHANNES SCHRETTLE SONIA: HAKIM: SONIA: HASAN: SONIA: HAKIM: SONIA: HAKIM: SONIA: Schämst du dich? Ja. Gut. – Jetzt haben wir die Konzentration. Wir machen weiter. Jetzt fangen wir an mit dem Unterricht. Hasan? Hasan, sind Sie noch bei uns? Ja. Ich zähle bis fünf. Und auf fünf sitzen alle außer Hakim und Latifa auf ihren Stühlen. 1, 2, 3, 4, 5. (gibt den beiden Texte in die Hand) Kabale und Liebe. Du bist Ferdinand und du bist Luise. (zu Hakim) Du kommst zu Luise um sie zur Rechenschaft zu ziehen, du willst herausfinden, ob sie eine Schlampe ist oder nicht. Kapiert? Er denkt, dass sie eine Schlampe ist. Er denkt, dass alle Frauen Schlampen sind. (zu Latifa) Und du hast ein Riesenproblem: Du liebst diesen Typen, aber du hast deinem Vater versprochen, dass du niemals die Wahrheit sagen wirst. Ist das klar? (wirft den Text auf den Boden) Ey ich hab keinen Bock, nur weil Sie eine Waffe haben denken Sie, Sie können alles mit uns machen. Nimm den Text. Du kannst Ferdinand nicht im Stich lassen. Ferdinand kann mir einen lutschen. (zielt auf ihn) Heb den Text auf. Ich bin heute nicht zum Scherzen aufgelegt. Nicht im Geringsten. (Hakim hebt den Text auf) Ferdinand kommt mit dem Brief in der Hand zu Luise und möchte von ihr hören, ob dieser Brief der Wahrheit entspricht oder nicht, verstanden Hakim? Ich bin doch da um dir zu helfen. Luise, hast du irgendwelche Fragen, Latifa? (sanft) Ich bin da, um euch zu helfen, und ich möchte, dass ihr das versteht. (SCHUSS.) SONIA: So, fang an. HAKIM: Guten Abend. Sprich, Unglückselige! Schriebst du diesen Brief? BASTIAN: Sie ist doch krank! SONIA: Schnauze. Das ist die Abschiedsszene. LATIFA: O dieser Brief, mein Vater – HAKIM: Giftige Natter, schriebst du diesen Brief? LATIFA: Ich schrieb ihn. SONIA: Sie lügt. Sie hat ihn nicht geschrieben. Sie lügt ihrem Vater zuliebe. HAKIM: Luise! – Nein! So wahr meine Seele lebt! Du lügst – Ich fragte zu heftig – Nicht wahr, Luise – Du bekanntest nur, weil ich zu heftig fragte? LATIFA: Ich bekannte, was wahr ist. SONIA: Fleh Sie an. HAKIM: Was? SONIA: Du sollst Sie anflehen. HAKIM: Wie jetzt? SONIA: Du hast diesen Brief entdeckt. Deine große Liebe scheint jemand anderes zu lieben. Fleh sie an. Du glaubst es nicht. Fleh sie an. FELICIA ZELLER FLIEGEN/GEHEN/SCHWIMMEN KASPAR HÄUSER MEER MIT: DAVID ALLERS, GERRIT FRERS, PETRA SCHMIDIG, NICOLE TOBLER, REGIE: HANNAH STEFFEN VORSCHAU: UTA KÖBERNICK: KLEINKUNST. NAHKUNST. KUNST HALT 18. NOVEMBER 2010 MATTO KÄMPF:TOAST HAWAII 08. – 11. DEZEMBER 2010 ANDREAS ZUMACH: POLITIK AM STEHTISCH 23. NOVEMBER 2010 / 21. DEZEMBER 2010 SCHWEIZER ERSTAUFFÜHRUNG PREMIERE: 13. NOVEMBER 2010, 20.30H VORSTELLUNGEN: 17. NOVEMBER BIS 04. DEZEMBER 2010 04. – 06. NOVEMBER Theater Winkelwiese, Winkelwiese 4, CH-8001 Zürich, Telefon 0041 44 252 10 01, www.winkelwiese.ch, [email protected] 54 TdZ · November 2010 SONIA: LATIFA: SONIA: HAKIM: SONIA: HAKIM: SONIA: HAKIM: SONIA: MUSA: BASTIAN: SONIA: HAKIM: SONIA: HAKIM: SONIA: MARIAM: SONIA: MARIAM: SONIA: HAKIM: SONIA: HAKIM: LATIFA: HAKIM: LATIFA: HAKIM: SONIA: MARIAM: SONIA: LATIFA: SONIA: FERIT: SONIA: LATIFA: Luise! – Nein! So wahr meine Seele lebt! du lügst – Ich fragte zu heftig – Nicht wahr, Luise – Du bekanntest nur, weil ich zu heftig fragte? Ja. Ja – weiter. (zitternd) Ich – bekannte – was – wahr – ist ... – So geht es nicht. Bitte lassen Sie uns gehen. Hör auf ständig an Dir selbst zu zweifeln. Weiter. Darf ich mich wieder anziehen? Nein. Isch will anziehen verdammt. ICH will anziehen. ICH will anziehen. Ich will anziehen, Bastian, was fehlt in diesen Satz? Deine Muschi. Nur mit der Knarre hast du so ne große Klappe. Was hat er gesagt? Fick disch, du Hure. Dich. CH. Fick dich. Fick dich, du Hure! (zielt auf ihn) Fick dich, du Hure! (beginnt zu weinen) 1,2,3,4,5 Peng und du bist tot. Habt ihrs jetzt kapiert? Habt ihrs jetzt kapiert? Mariam, sag noch mal ganz laut, was eine Nutte ist. Eine Nutte ist eine Frau, die für Geld mit Männern schläft. Lauter. Eine Nutte ist eine Frau, die für Geld mit Männern schläft. Hast Du es kapiert Hakim? 1, 2, 3, 4 – – Hakim, ich gebe dir hier eine Chance. (sanft) Verstehst du. Ich gebe dir hier eine letzte Chance. Du darfst Ferdinand sein. (hebt den Text auf) Wußtest du, was du mir warst, Luise? Du wußtest nicht, dass du mir Alles warst! Alles! O, es ist schrecklich! Sie haben mein Geständnis. Ich habe mich selbst verdammt, gehen Sie nun! Gut! gut! Noch eine Bitte, Luise – die letzte! Mein Kopf brennt so fieberisch. – Ich brauch Kühlung – Willst du mir ein Glas Limonade zurecht machen? Trinken Sie! Der Trank wird Sie kühlen. (ab jetzt ohne Textheft) Das wird er auch ganz gewiß – Die Metze ist gutherzig; doch, das sind alle! Was bedeutet Metze? Schlampe! Ja, Schlampe! Warum sagt er Schlampe zu mir? Weil er denkt dass du ihn betrügst. Aber, Luise, du tust es nicht! Weil er sie liebt. Aus Liebe heraus. Weiter! Das deiner Luise, Ferdinand? SONIA: LATIFA: SONIA: HAKIM: SONIA: HAKIM: SONIA: HAKIM: LATIFA: HAKIM: LATIFA: SONIA: HAKIM: LATIFA: HAKIM: SONIA: HAKIM: LATIFA: SONIA: HAKIM: SONIA: LATIFA: HAKIM: SONIA: FERIT: LATIFA: HAKIM: SONIA: HAKIM: LATIFA: Was? Das deiner Luise, Ferdinand? So kommen wir nicht weiter. Latifa streng Dich an. Darf ich die Hose hochziehen? Nein. Bitte. Nein. Komm. Mach die Passage noch mal. Du machst das großartig. (Sie gibt Latifa eine Wasserflasche) Gut! gut! Noch eine Bitte, Luise – die letzte! Mein Kopf brennt so fieberisch. Ich brauch Kühlung – Willst du mir ein Glas Limonade zurecht machen? (ab jetzt ohne Textheft) Trinken Sie! Der Trank wird Sie kühlen. Das wird er auch ganz gewiß – Die Metze ist gutherzig; doch, das sind alle! Das deiner Luise, Ferdinand? Er tut das Gift rein. (trinkt) Die Limonade ist matt wie deine Seele – (streckt ihr die Flasche hin) Versuche. Versuche! (trinkt) Die Limonade ist gut. Wohl bekomm’s! Er vergiftet sie und sagt dazu noch: Guten Appetit! Luise! Hast du den Marschall geliebt? Du wirst nicht mehr aus diesem Zimmer gehen. Fragen Sie, was Sie wollen. Ich antworte nichts mehr. Ich antworte nichts mehr. Sorge für deine unsterbliche Seele, Luise! Ehe dieses Licht noch ausbrennt – stehst du – vor Gott! Sie stirbt! (Latifa sinkt zusammen) Nein, nein bleib stehen! Was ist das? – und mir wird sehr übel. Gift! Gift! O mein Herrgott! So fürchte ich. Deine Limonade war in der Hölle gewürzt. Du hast sie dem Tod zugetrunken. Keine Rettung, musst jetzt schon dahin – aber sei ruhig. Wir machen die Reise zusammen. Oh Gott! Er tötet auch sich selbst. Ehrenmord! Ferdinand, auch du? Gift, Ferdinand? Von dir? O Gott der Gnade, nimm die Sünde von ihm – Sieh du nach deinen Rechnungen. Aber sie stirbt unschuldig. Sie stirbt unschuldig. Nun kann ich nicht mehr schweigen – Der Tod – der Tod hebt alle Eide auf – Ferdinand! – Ich sterbe unschuldig, Ferdinand. Ich lüge nicht – hab’ nur einmal gelogen mein Leben lang – als ich den Brief schrieb an den Hofmarschall. Dieser Brief – Meine Hand schrieb, was mein Herz verdammte – dein Vater hat ihn diktiert. ... Ferdinand – man zwang mich – vergib – SONIA: (gleichzeitig mit Latifa) Der Tod – der Tod hebt alle Eide auf – Ferdinand! – Ich sterbe unschuldig, Ferdinand. Ich lüge nicht – hab’ nur einmal gelogen mein Leben lang – als ich den Brief schrieb an den Hofmarschall. Dieser Brief – Meine Hand schrieb, was mein Herz verdammte – dein Vater hat ihn diktiert. SONIA: Vergib ihr! HAKIM: Gelobt sei Gott, Luise! SONIA: Kommt euch langsam näher bitte. Du auch, Latifa! HAKIM: Ich kann nicht. SONIA: Komm näher. Näher! LATIFA: Weh! Es ist dein Vater – SONIA: Näher. HAKIM: Mehr kann ich nicht. SONIA: Dass du nicht mehr kannst, weiß ich. Aber, was du nicht weißt, ist, dass ich will, dass du mehr kannst – verstehst du? HAKIM: Mörder und Mördervater! SONIA: Mörder und Mördervater! HAKIM: Mörder und Mördervater! LATIFA: Sterbend vergab mein Erlöser – Heil über dich und ihn. (sinkt in sich zusammen) SONIA: (leise) Nein, bleib stehen. Bleib stehen. HAKIM: Halt! Halt! Engel des Himmels! Luise! –Luise! – Ich komme – SONIA: Ja. Jetzt umarmt euch. Ihr sterbt, umarmt euch. HAKIM: Ich fass sie nicht an. SONIA: Doch! Umarmt euch! Was machst du da? LATIFA: Ich sterb hier. SONIA: Langsam! Du liebst ihn doch, Luise! LATIFA: Aber ich will nicht, dass er mich anfasst. SONIA: Aber Luise liebt ihn doch! LATIFA: Das ist Theater. SONIA: Natürlich ist das Theater. Das ist mehr als Theater. LATIFA: Aber ich fass ihn nicht an. Ich kann auch langsam sterben, aber er fasst mich nicht an. SONIA: Aber du liebst doch Ferdinand. LATIFA: Er nennt mich hier Metze und Schlampe. SONIA: Er sagt es, weil er dich liebt. FERIT: Hab ich doch gesagt, ja! LATIFA: Aber er bringt mich doch um. SONIA: So, ihr kommt jetzt zusammen. BASTIAN: Das können Sie doch nicht – SONIA: Es ist ganz wichtig, dass ihr die Erfahrung macht. Schau sie dir an, sie stirbt unschuldig. Sie ist keine Schlampe. Umarmt euch. LATIFA: (weint) bitte bitte SONIA: Dein letzter Satz noch mal. HAKIM: Halt! Halt! Engel des Himmels! Ich komme! SONIA: Umarmt euch, umarmt euch – (SCHUSS.) Latifa und Hakim umarmen sich SONIA: Es geht doch, jaaaa, ja, ja – es funktioniert. Stille. Uraufführung U raufführung SCHNEEWITTCHEN S CHNEEWITTCHEN LEBT! LEB BT! Eine K Komödie omödie für Kinder | nach Grimm Grimm | von von Katrin Katrin a Lange Lange Premiere: P remiere: 21 21.. 11. 11. 2010 | Theaterhaus Theaterhaus Saal I: Irmgar Irmgard Paulis A: Martin Käs Käser er M: Michael R Rodach odach V V:: Christian Hir Hirschlipp rschlipp U raufführung Uraufführung TIMM THALER Nach J Nach James ames Krüss | Spielfassung: Spielfassung: Marion Firlus Firlus Premiere: P remiere: 27. 11. 11. 2010 | Kleine Büh Bühne hne I: K Katja atja Lehmann A: J Jule ule Dohrn v van a R an Rossum ossum O Spieg »O pi e n Sp mei h sch eriis ber be ub zau za d Freund e nziger ei lei n allle en de h seh Welt se mi Fon 0341 . 486 60 16 www .tdjw.de www.tdjw.de TdZ · November 2010 55 VERRÜCKTES BLUT_NURKAN ERPULAT UND JENS HILLJE HAKIM: SONIA: Hasan, sind Sie noch bei uns? – Ihr versteht die Grundsituation Eurer Figuren? Was lernen wir aus dieser Szene? MUSA: Wir lernen, dass schlechte Energien nicht gut fürs Leben sind. SONIA: Luise ist keine Nutte. MUSA: Hab ich das nicht gesagt? SONIA: Luise ist keine Nutte! FERIT: War sie noch nie. SONIA: War sie noch nie! Und was lernen wir noch, Musa? Manchmal werden Menschen zu Dingen gezwungen, verstehst du das? Und es ist nicht fair, Menschen immer gleich zu verurteilen. FERIT: Sie könnte ehrenhaft sterben indem sie sagt: Nein, ich werd das nicht schreiben? SONIA: Sie hats aber ihrem Vater versprochen. MARIAM: Was redest du für Scheiße, ehrenhaft sterben, wieso soll sie sterben? FERIT: Aber ehrenhaft. HAKIM: Dürfen wir ... auseinander gehen? 2. Lied Ferit holt die Zweitwaffe, hält sie in die Luft und gibt Sonia die Pistole. Hakim zieht langsam die Hose hoch. Herbstlied Das Laub fällt von den Bäumen, das zarte Sommerlaub, das Leben mit seinen Träumen, zerfällt in Asch’ und Staub. Die Vöglein im Walde sangen; wie schweigt der Wald jetzt still Die Lieb’ ist forgegangen, kein Vöglein singen will. Die Liebe kehrt wohl wieder im künft’gen lieben Jahr, und alles tönt dann wieder, was hier verklungen war. Der Winter sei willkommen, sein Kleid ist rein und neu; den Schmuck hat genommen, den Keim bewahrt er treu. 3. Szene SONIA: ALLE: SONIA: ALLE: SONIA: MUSA: SONIA: MUSA: SONIA: MUSA: euer Hauptmann! – ich hab die dicksten Eier – SONIA: Ja lass es raus. MUSA: (leise) Schlampe. SONIA: (leise) Zuhälter. MUSA: Mein Geist dürstet nach Taten, mein Atem nach Freiheit. – Mörder, Räuber! – Mit diesem Wort war das Gesetz unter meine Füße gerollt – Menschen haben Menschheit vor mir verborgen, da ich an Menschheit appellierte, weg denn von mir, Sympathie und menschliche Schonung! SONIA: Freiheit! Räuber! Mörder! So, jetzt springen wir in den zweiten Akt und schauen uns an, was aus unserem respektierten Räuberhauptmann geworden ist. Ferit, Sie sind der Roller und Sie machen den Schufterle, Bastian. Sonia drückt ihnen Texthefte in die Hand. BASTIAN: Ich bin doch keine Schwuchtel man SONIA: Doch, Sie kommen jetzt auch mal auf die Bühne. Jeder ist mal dran. Sie brauchen den gar nicht groß zu spielen, Sie sind das ja schon. – Hey. Ich hab nichts gegen Schwule. So aufstehen los. Karl hat den Roller grad vom Galgen gerettet, Musa – MUSA: Nee, isch will nich SONIA: ICH MUSA: Nee, isch will nich SONIA: Ich MUSA: Icke FERIT: Ich! SONIA: So kommen Sie nicht weiter Musa, merken Sie das nicht? MUSA: Ich will auch nicht weiterkommen. BASTIAN: Sie kommen auch nicht weiter. SONIA: Ich komm weiter, nur schnallt ihrs nicht, das ist der kleine feine Unterschied. Er verhindert, dass ihr weiterkommt. BASTIAN: Mit Räuber? Damit Sie weiterkommen? SONIA: Euch sollte man ins Militär stecken. Ihr Wichser! MUSA: Scheiß aufs Militär! Scheiß auf dich! Scheiß doch auf die! SONIA: Ja genau soo muss man mit euch umgehen, beschimpfen muss man euch. Ja?! Hat dein Papi dich gequält? Hat er dich geschlagen? Gesagt, Musa, du bist zu nichts nutze, hä? Wenn ihr euch selbst nicht ernst nehmt, glaubt ihr etwa, dass andere Menschen euch jemals ernst nehmen werden?! MUSA: Scheiß auf dich. (SCHUSS.) MUSA: (schnell) Freiheit! Freiheit! – Der Stab war schon über dich gebrochen – FERIT: Das war er freilich, und noch mehr. Ich komme grades Wegs vom Galgen her, sag’ ich. Dem Hauptmann dank’ ich Freiheit, Luft und Leben. BASTIAN: (liest mit Leseschwäche) Es ... war ... ein ... Spaß ... der … sich ... hören ... lässt – Laurent Chétouane Tanzstück #4 : leben wollen ( zusammen ) Keith Hennessy A Brief History (of my life in performance) theater kosmos53 BRITNEY BRITNEY Foyerismus Planet Porno mit Patrick Wengenroth November 12)(13*)(14 November 18) November 25)(26)(27 November 27) Sophienstraße 18 10178 Berlin www.sophiensaele.com T (030) 283 52 66 *) Publikumsgespräch im Anschluss 56 Wie lauten die letzten Worte Karl Moors in den Räubern? Dem Mann kann geholfen werden. Ich hab nicht alle gehört. Wie lauten sie? Dem Mann kann geholfen werden. Wie lauten sie? Was ist? Der Schiller geht mir am Arsch vorbei. Ich werd Fußballer, so sieht’s aus. Wie lauten die letzten Worte Karl Moors in den Räubern? Fick doch deine Mutter, du Nutte. Was hast du gesagt? (steht auf, geht auf sie zu) Du sollst deine Mutter ficken. Sonia gibt ihm eine Kopfnuss. Musa geht zu Boden. BASTIAN: Was soll das? SONIA: Zidane hat getroffen, Zidane hat getroffen, ja. Zidane Kopfnuss, Kopfnuss. Was denn, macht man doch so beim Fußball, oder nicht? He, beleidigst du meine Mutter: Kopfschuss. (zu Musa, zielt auf ihn) Wie lauten die letzten Worte Karl Moors in den Räubern? MUSA: Scheiße, was willst du eigentlich von mir? Ich hab dir nichts getan. Du bist doch völlig verrückt, drück doch ab, mir doch egal. SONIA: Eh, drück doch ab, Alter, fett, fett, fett, fett. Wie lauten die letzten Worte Karl Moors in den Räubern? (zielt auf Musa) – Eins MUSA: Dem Mann kann geholfen werden. Ist gut jetzt, lass mich, verdammt. SONIA: Ja sehen Sie, Sie können lernen, wenn Sie wollen, he? – Man, aus dir kann ja noch richtig was werden. MUSA: Sie haben keine Ahnung. Die Typen von denen ich die Kanone hab, die sind was, die kriegen Respekt. Das ist bei uns so. SONIA: Genau. Und deswegen soll ich mich nicht einmischen, oder?! Jetzt sag ich dir mal was. Multikulti-Kuschel ist das, nichts weiter! – Sie beschneiden Frauen, das gehört zu ihrer Kultur. Sie ermorden ihre Schwester, ja schrecklich, aber das gehört zu ihrer Kultur. Sie zocken den Staat ab, ziehen deutsche Jugendliche auf der Straße ab, sie schlagen halt schnell mal zu, selber schuld, wenn du schwul bist. Ja, ja, diese Gewalt, so sind sie halt, meistens bringen sie sich ja nur gegenseitig um. Alles OK. MUSA: Ich hab’ ja keinen getötet. SONIA: Warum hast du dann diese Waffe mitgebracht? MUSA: Töten wollt ich bestimmt nicht. SONIA: Das ist egal. Gewalt ist Gewalt. Und die hört nicht mehr auf, wenn es einmal angefangen hat. Ein bisschen Gewalt, das gibt es nicht. Wenn du einmal eine Waffe in der Hand hast, wirst du auch schießen. Aber Gewalt schlägt immer auf einen zurück. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. (Überlegt kurz, nimmt ein Textheft, hält es Musa aufgeschlagen hin) Los lesen Sie hier. MUSA: Nein. SONIA: Nehmen Sie Ihren Text. MUSA: Ich hab nein gesagt, Schlampe. SONIA: Zuhälter. Aber nicht mal das kriegst du hin. MUSA: Zahltag, bald ist Zahltag und wenn dann die Kohle nicht stimmt dann bläst du mir einen. SONIA: Los lesen Sie hier. MUSA: (nimmt den Text) Räuber und Mörder! – So wahr meine Seele lebt, ich bin TdZ · November 2010 BASTIAN: MUSA: SONIA: BASTIAN: SONIA: BASTIAN: SONIA: BASTIAN: SONIA: BASTIAN: SONIA: Gut. Bastian fangen Sie noch mal an. Die Aufgabe ist, dass Sie Ihren Mitschülern eine Geschichte erzählen und zwar – Sie waren gestern Abend auf ner Party und haben da was erlebt, und das erzählen Sie so, dass diese Primaten alle zuhören und nicht abhängen, ok? OK. Was hörst du auf die blöde Kuh, lan! Ich versuch ihm einen Gedanken zu geben. Sie waren auf ner Party und Sie hatten Spaß. Können Sie sich das vorstellen? (Blick zu Musa) Nein. Los versuchen Sie’s. Versuchen wir mal Spaß zu haben. Ich möchte, dass die Geschichte bei mir glaubwürdig ankommt. Eins, zwei – Es war ein Spaß – Stop! Das glaub ich nicht: Es war ein Spaß – Wir feiern halt so. Ihr feiert halt so, nee, also Sie kommen so daher und sagen: Es war ein Spaß, der sich hören lässt – (versucht sie zu imitieren) Es war ein Spaß – Nein, noch mal und hör auf mit diesen Theatertönen, das kotzt mich echt an. (SCHUSS.) Das Textheft fliegt durch die Luft. BASTIAN: (voll im Spiel) Es war ein Spaß, der sich hören lässt. Wir hatten den Tag vorher Wind gekriegt, der Roller werde morgen am Tag – das war heut – den Weg alles Fleisches gehen müssen – Auf! sagt der Hauptmann, was wiegt ein Freund nicht? – Wir retten ihn, oder retten ihn nicht, so wollen wir ihm wenigstens doch eine Todesfackel anzünden, wie sie noch keinem König geleuchtet hat. Wir passten die Zeit ab, bis die ganze Stadt zum Galgen zog dem Spektakel nach. Jetzt, sagt der Hauptmann, brennt an, brennt an! SONIA: Haben Sie gemerkt, wie Ihnen alle gebannt folgen, wenn Sie sich selbst ernst nehmen, he? Und jetzt Sie, Ferit, Sie spielen den Einfachen, Ehrlichen. FERIT: Morbleu! – da lag die Stadt wie Gomorrha und Sodom – ... Gomorrah? SONIA: Das ist eine Stadt in der Bibel. FERIT: Aber ich bin doch kein Christ. SONIA: Hab ich gesagt, du bist Christ? Du bist kein Christ. Du kannst trotzdem was lernen. Komm in die Mitte, trau dich. FERIT: (ab jetzt ohne Textheft) – da lag die Stadt wie Gomorrha und Sodom, der ganze Horizont war Feuer, Schwefel und Rauch – ich war losgebunden, da meine Begleiter versteinert wie Loths Weib zurückschau’n. BASTIAN: Macht sich die Stadt eine Freude daraus, meinen Kameraden wie ein verhetztes Schwein abzuschlachten, was, zum Hen- ker! Sollten wir uns ein Gewissen daraus machen, unserem Kameraden zu lieb die Stadt drauf gehen zu lassen? FERIT: Sagt einmal, was habt ihr weggekapert? – weggekapert? MUSA: Man, gekapert, wie Piraten -– BASTIAN: Ich und Bügel haben einen Kaufladen geplündert und bringen Zeug für unser funfzig mit. FERIT: Weißt du nicht, Schufterle, wie viel es Tote gesetzt hat? BASTIAN: Drei und achtzig, sagt man. Der Turm allein hat ihrer sechzig zu Staub zerschmettert. MUSA: Roller, du bist teuer bezahlt. SONIA: Soviel Tote, das wollte Karl nicht. Er wollte doch nur Roller retten. Aber es kommt noch schlimmer. BASTIAN: Was heißt aber das? – ja, wenn’s Männer gewesen wären – aber da waren’s Wickelkinder, eingeschnurrte Mütterchen, ausgedörrte Ofenhocker, die keine Türe mehr finden konnten – Patienten, die nach dem Doktor winselten. MUSA: Oh der armen Gewürme! Kranke, sagst du, – Greise und Kinder? BASTIAN: Ja zum Teufel! Und wie ich von ungefähr so an einer Baracke vorbei gehe, hör’ ich drinnen ein Kind, noch frisch und gesund, das lag auf dem Boden unterm Tisch, und der Tisch wollte eben angehen – Armes Tierchen, sagt’ ich, du verfrierst ja hier, und warf’s in die Flamme – SONIA: Wenn es Männer gewesen wären, aber es waren Frauen und Kinder und Babies! MUSA: (ab jetzt ohne Textheft) Wirklich, Schufterle? Ich verfluche dich! Und diese Flamme brenne in deinem Busen, bis die Ewigkeit grau wird! – Fort. Ungeheuer! Laß dich nimmer unter meiner Bande sehen! Musa geht auf Bastian zu, der wehrt ihn ab. Musa schlägt seine Hand weg. Ich kotze, fasst mich nicht an! BASTIAN: Was bist denn so aggressiv, man? MUSA: Murrt ihr? Überlegt ihr? – Verfluchter Hund! BASTIAN: Verdammt, warum schlägst du mich? Musa prügelt Bastian, Bastian geht zu Boden. SONIA: Das reicht Musa! Lass ihn los. Karl ist selbst schuld an dem Tod dieser wehrlosen Kindern und Frauen. Er ist der Hauptmann. BASTIAN: Mann Ihr seid doch bekloppt. MUSA: (leise) Fort mit ihm, sag’ ich, Volltrottel, wenn ich befehle folgt ihr mir. Wer überlegt, wenn ich befehle? – (packt Ferit) Es sind noch mehr unter euch, die meinem Grimm reif sind. SONIA: Bereue es! MUSA: Ich ... ich ... BASTIAN: Man, sie will uns nur gegeneinander aufhetzen, merkst du das nicht, mit ihrem Scheißtheater? MUSA: Ihr versteht doch gar nichts, ihr Idioten, was macht ihr den ganzen Tag? BASTIAN: Hast doch auch was von, hast du was zu rauchen, was solln die Scheiße. MUSA: Du wolltest doch bei der Alten einsteigen. SONIA: Was redet ihr da? BASTIAN: Ich habe dir nicht gesagt, dass du deswegen ne Knarre in die Schule bringensollst. MUSA: Wenn du Idiot nicht die Knarre rausgeholt hättest – BASTIAN: Man – MUSA: – halt die Klappe. Jetzt hat sie die Knarre und wir sitzen hier. BASTIAN: Is doch nicht meine Schuld man. Ich wollte nur n bisschen nachhelfen, mehr nicht. SONIA: Wovon redet ihr? MUSA: Idiot. Du wolltest meinen Namen in den Dreck ziehen.(geht auf ihn los) Sowas kannst du nicht machen. BASTIAN: Wollt’ ich auch nicht. Musa würgt ihn. MARIAM: Frau Kelich! (SCHUSS.) Musa lässt ihn los. Stille. LATIFA: Was haben sie jetzt vor? SONIA: Gute Frage! MARIAM: Warum versuchen sie uns mit Gewalt beizubringen, dass – SONIA: Weil ihrs nicht anders gelernt habt, ihr Versager! Rausgeschmissenes Geld seid ihr! Ihr seid ohne Disziplin, ohne Willen. Was euch fehlt, ist Mannszucht, wie das früher hieß. Ihr macht den ganzen Tag einen auf dumme Machos und seid auch noch stolz drauf. Hier rumficken wie eine Sau und am Ende eine Unberührte aus dem Dorf importieren! Das ist für euch Tradition! Und ihr Mädels, schön die Haare bedecken, damit ihr nicht in die Hölle kommt, auf euren Schatz achten zwischen den Beinen und sich lieber in den Arsch ficken lassen, damit der zukünftige Ehemann keinen Koller kriegt in der Hochzeitsnacht und der Bruder euch keine Kugel in den Kopf jagt! Und alles im Namen der Religion! Ja, der Islam! In den Hinterhofmoscheen loben irgendwelche Hodschas Osama bin Laden und sie landen nicht im Knast, das ist Meinungsfreiheit! Ich ficke deine Mutter! Das ist keine Meinungsfreiheit! So denkt ihr! Was meint ihr, was der Prophet mit seiner neunjährigen Braut in der Hochzeitsnacht gemacht hat? Playstation gespielt? Aber auf die Schweinefresser runterschauen: pädophil, das sind für euch nur die anderen, die katholischen Priester! Jetzt sag ich euch mal was. Die haben euch aber einiges voraus! Die jammern nicht immer, die anderen sind schuld. Die kritisieren sich selbst. Glaube mit Vernunft! Ich bin nicht deiner 24.11. Premiere TdZ · November 2010 : 26.11. : 27.11. butscheidtplatz.de Vampires of the 21st Century oder Was also tun? 1 Lorant Racz theatercombinat / Claudia Bosse 57 VERRÜCKTES BLUT_NURKAN ERPULAT UND JENS HILLJE SONIA: Meinung, aber ich würde mein Leben dafür opfern, damit du deine Meinung frei äußern darfst! Das bedeutet Aufklärung. Kriegt ihr das hin? Wenn nicht, dann geht zurück nach Hause! 4. Szene SONIA: HAKIM: SONIA: FERIT: SONIA: MARIAM: SONIA: FERIT: SONIA: LATIFA: SONIA: LATIFA: SONIA: MARIAM: SONIA: FERIT: MARIAM: SONIA: HASAN: SONIA: HASAN: SONIA: MARIAM: SONIA: 58 Wisst Ihr was hier falsch läuft? Das Problem sind nicht die Jungs. Nein. Das Problem ist, dass die Mädchen das mitmachen. Genau, ist doch gut. Das hast du falsch verstanden, Idiot, aber das ist normal, der Islam ist ja 500 Jahre jünger. Ihr lebt gerade im Mittelalter von Europa. Ey, was sagen Sie da? Es gab keine Aufklärung! Die Männer unterdrücken euch. Ihr müsst euch dagegen wehren, versteht ihr? Ich bin nicht unterdrückt. Ach ja? Woher kommt das hier? Sie ist gläubig! Bist du Muslima, Latifa? Ja. Gläubig? Ja. Es geht auch ohne Kopftuch. Ich will aber das Kopftuch. Falsch. Es wurde dir so beigebracht, verdammt. Es schützt vor Blicken von Männer. Zum Beispiel. Siehst du, genau das meine ich. Wehr dich dagegen. Du musst dich dagegen wehren. Hasan! Hasan, steh auf. Steh auf! Du wirst der Mariam helfen. Wir spielen weiter. Räuber. Friedrich Schiller. Da ist das alles drin. Versteht ihr nicht? Ihr habt großes Glück. Das Glück in Deutschland leben zu dürfen. Vielleicht ist es in eurer Heimat schwierig, sich zu entfalten. Aber ihr sei ja in Deutschland, in einer Demokratie. Nutzt diese Chance. Ihr könnt ja dann irgendwann in eure Heimat zurückkehren und euren Landsleuten helfen. Ich bin Kurde. Wir haben kein Land. Oh man! Immer dieser Nationalismus. Du und dazu diese wehleidigen Muschis, ihr macht mich alle. Du spielst jetzt Franz. Hat man dir in deiner Heimat die Eier ausgerissen? Wo ist denn deine Männlichkeit? Deine stolze anatolischer Männlichkeit? Ach ja, du bist ja ein gepeinigter Kurde. Oh weh, na da machst du jetzt mal das Beste draus. Wir wollen mal mutig sein. Wenn nicht jetzt, wann dann? Nimm dein Schicksal in die Hand, Hasan. Du bist jetzt Franz. Franz? Franz. Nix jetzt Hasan anymore. Und Franz hat ziemlich dicke Eier. Franz hat keine Angst. Franz hat ein ziemlich großes Selbstbewusstsein. Mariam, würde so ein Franz aussehen, den ich grade beschrieben habe? Nein würde er nicht. Müssen wir dran arbeiten, Hasan. Wir fangen damit an, dass du den Kopf hebst. Kopf heben!! Sehr gut, immer geradeaus schauen, nie auf den Boden gucken, erste Regel. Zweite Regel, das Atmen nicht vergessen. Gut, Mariam, könnte so ein Franz aussehen? (nickt) Ja, find ich auch. Also Franz ist supergut drauf. Weil der den Posten seines Vaters übernommen hat. He’s the king of the city, Hasan. Und jetzt vergiss mal dein trauriges kurdisches Schicksal. Leg das mal ab. Diese ganzen Traumata, ich kann’s nicht mehr hören. Du bist jetzt Franz. Und das ist gut, weil, Mariam wird jetzt Amalia spielen. (zu Mariam) Komm steh auf. Ma- HASAN: SONIA: MARIAM: SONIA: HASAN: SONIA: HASAN: SONIA: HASAN: MARIAM: SONIA: HASAN: SONIA: HASAN: SONIA: HASAN: MARIAM: HASAN: SONIA: HASAN: SONIA: MARIAM: HASAN: SONIA: MARIAM: SONIA: MARIAM: HASAN: riam will rebellieren lernen. Und du hilfst ihr dabei, ok? Du kommst nämlich, um Amalias Herz zu erobern. Du hast den Posten des Königs, aber der Posten der Königin ist noch frei, und ohne Muschi ist er nichts wert ok? – Du hast wieder diesen Angstblick. Was ist die erste Regel? Augenhöhe. Augenhöhe! Ihr müsst immer auf Augenhöhe sprechen. Kommen wir zu Amalia. Er ist der Bruder von Karl – (nickt) – und du liebst Karl und den hat sein eigener Bruder, der Franz, verraten und jetzt kommt der her und will, dass du seine Frau wirst. Und das mit einer Selbstverständlichkeit ja, für ihn ist das sauklar aber für dich nicht, ok? Ab jetzt, Hasan, bist du Franz, ok? Franz tritt auf. Kein so finsteres stolzes Gesicht! Du betrübst mich, Amalia – Du betrübst mich auch Hasan! Nicht mit wackligen Knien. Wie soll sich Mariam gegen dich wehren, wenn du kein Arschloch bist. Wie kann sie das lernen? Gegen dich zu rebellieren ist zu einfach, du kleine Maus. Du musst das Arschloch spielen, tu es für sie, damit sie weiterkommt. Kein so finsteres stolzes Gesicht! Du betrübst mich, Amalia. Ich komme, dir zu sagen – Ich komme dir zu sagen, ich, der große Franz, komme dir zu sagen – Ich komme, dir zu sagen – Ich muss wohl hören, Franz von Moor ist ja gnädiger Herr worden. Aha, Amalia weiß Bescheid. Ja, ich bin Herr. Aber ich möchte es vollends ganz sein, Amalia. – (zielt mit der Pistole auf ihn) Fass dich an die Eier! Fass dich an die Eier! Und spürst du sie, spürst du sie, hey? Ja. Ja! Dann zeig mir, dass du sie spürst. Ich spür deine Eier nicht. Auf man so eine kleine Schlampe, das schaffst du doch Du weißt, was du unserm Hause warst, du wardst gehalten wie Moors Tochter, selbst den Tod überlebte seine Liebe zu dir, das wirst du wohl niemals vergessen? Niemals. Die Liebe meines Vaters musst du in seinen Söhnen belohnen, und Karl ist tot – Staunst du? Schwindelt dir? Bitte Hasan, beweise mir, dass du kein hoffnungsloser Fall bist. Fass dir noch mal an die Eier. Nachfassen! Franz tritt die Hoffnungen der edelsten Fräuleins mit Füßen ... Franz kommt und bietet einer armen, hilflosen Waise sein Herz, seine Hand und mit ihr all sein Gold an und all seine Schlösser und Wälder. Tja, da will dich einer kaufen. Du hast meinen Geliebten ermordet, und Amalia soll dich Gemahl nennen! (ab jetzt ohne Textheft) Nicht so ungestüm, allergnädigste Prinzessin! – Franz spricht, und wenn man nicht antwortet, so wird er – befehlen. Jaaa, jetzt spür ich die Eier! Wurm, du, befehlen? Mir befehlen? Befehlen?! Der kann doch nicht befehlen! Beschimpf ihn, Wurm, provozier ihn, Wurm, genau ein Wurm ist er. (ab jetzt ohne Textheft) Wurm, du, befehlen? Mir befehlen? – und wenn man den Befehl mit Hohnlachen zurückschickt? Das wirst du nicht. Gib Acht! Jetzt hast du mich die Kunst gelehrt, wie ich dich quälen soll – Diese ewige Grille von Karl soll dir mein Anblick aus dem Kopfe geißeln; an den Haaren will ich dich in die SONIA: HASAN: MARIAM: SONIA: MARIAM: SONIA: MARIAM: SONIA: MARIAM: SONIA: HASAN: SONIA: HASAN: SONIA: MARIAM: SONIA: MARIAM: SONIA: MARIAM: SONIA: MARIAM: SONIA: MARIAM: SONIA: MARIAM: SONIA: MARIAM: SONIA: HASAN: MARIAM: SONIA: HASAN: SONIA: MARIAM: SONIA: MARIAM: SONIA: MARIAM: SONIA: MARIAM: SONIA: MARIAM: Kapelle schleifen, – Ja es funktioniert doch!! Ja!! Fass noch mal nach! Jaa! Nachfassen! So weiter. An den Haaren will ich dich in die Kapelle schleifen, den Degen in der Hand dir den ehlichen Schwur aus der Seele pressen, dein jungfräuliches Bette im Sturm ersteigen und deine stolze Scham mit noch größerem Stolze besiegen. Nimm erst das zur Aussteuer hin. (stößt ihn weg) Der will dich in die Kapelle schleifen, dich zur Ehe zwingen, an den Haaren will er, den Degen in der Hand, dir den Schwur aus der Seele pressen. Dich besteigen!Was? Was bistn du für ne Muslima? Hast du nicht gehört, was er gesagt hat? Und er hat’s so gut gesagt. Hau ihm eine runter! Scheuer ihm eine!! Nimm erst das! (fängt an ihn zu ohrfeigen) Er will dich an den Haaren ziehen. Er will deine Jungfräulichkeit. Nimm erst das. Schlag ihn! Ja, noch mal. Wehr dich. Nimm Rache. Nimm erst das. Das. Das. Ja. Hasan, Text. Franz! Nicht meine Gemahlin – meine Maitresse – Maitresseeeeeee! Meine Maitresse sollst du werden. Komm – Komm mit in meine Kammer – ich glühe vor Sehnsucht. Er will dich in sein Schlafzimmer zerren! Ja. Er glüht vor Geilheit, dich zu vögeln, er nennt dich Mätresse. Ja. (schlägt ihn zu Boden) Mariam lass alles raus ja! LAAAASS EEEEEES RAUUUUUUUS! Weiter! Siehst du, Bösewicht, was ich jetzt aus dir machen kann? Weiter! Ich bin ein Weib, aber ein rasendes Weib – Ja, ich bin ein Weib und ich schäme mich auch nicht dafür, zeig deine Titten! Ich bin ein Weib! Siehst du, was er für’n Haufen Elend ist? Spast. Spast. Fleuch auf der Stelle! Komm Hasan, Text. Was machen wir? Versteh kein Wort. Wir verstehen dich nicht, lauter! – Und ab. Uiiiiiiiii. Verstehst du, du hast ihn fertig gemacht. Wie wohl dir ist... ja ja... Ah! wie mir wohl ist! – Jetzt kann ich frei atmen – ich fühlte mich stark wie das funkensprühende Roß, – Ich mich auch, jaaaaa! – grimmig wie die Tigerin, dem Sieg brüllenden Räuber ihrer Jungen nach – Bettler, sagt er? So hat die Welt sich umgedreht, Bettler sind jetzt Könige, und Könige sind Bettler! – In den Staub mit dir, du prangendes Geschmeide! Genau, weg damit! Seid verdammt... Ja! Seid verdammt, Gold und Silber und Juwelen zu tragen, ihr Großen und Reichen! Seid verdammt, an üppigen Mahlen zu zechen! Verdammt, euren Gliedern wohl zu tun auf weichen Polstern der Wollust! So bin ich Wert – Ja, befreie dich von allem. Seid verdammt... ihr Wichser, ihr Spastis, ihr Kurdenficker, ihr könnt mich am TdZ · November 2010 3. Lied Nun ade, du mein lieb Heimatland Nun ade, du mein lieb Heimatland, lieb Heimatland ade! Es geht jetzt fort zum fernen Strand, lieb Heimatland ade! Und so sing’ ich denn mit frohem Mut, wie man singet, wenn man wandern tu, lieb Heimatland, ade! Und so sing’ ich denn mit frohem Mut, wie man singet, wenn man wandern tu, lieb Heimatland, ade! Begleitest mich, du lieber Fluß, lieb Heimatland ade! Bist traurig, daß ich wandern muß, lieb Heimatland, ade! Vom moos’gen Stein am wald’gen Tal, Da grüß ich dich zum letzten Mal, lieb Heimatland ade! Vom moos’gen Stein am wald’gen Tal, Da grüß ich dich zum letzten Mal, lieb Heimatland ade! Lieb Heimatland, ade! III. AKT FERIT: 1. Szene Alle sitzen auf ihren Stühlen. SONIA: Eure Eltern sind fort aus ihrer Heimat, damit ihr später ein besseres Leben habt als sie. Ihr müsst das einfach schaffen, hört ihr, damit das Opfer eurer Eltern einen Sinn hat. Versucht euch mal vorzustellen, was das bedeutet, ihr verlasst von heute auf morgen eure Heimat, ihr kommt in ein fremdes Land, wo alles neu ist, wo ihr die Sprache nicht könnt.. – Und alles damit ihr es besser habt. Damit ihr später glücklich sein könnt in Eurem Leben. Ihr müsst das, was ich sage Ernst nehmen. Wenn man in dieser Gesellschaft ein Moslem ist, Araber, Türke, Kurde – Aber das ist kein Grund, dass ihr sagt ‚ich bin ein Opfer’, das ist nicht meine Schuld. Ihr könnt die Verantwortung für euer Leben nicht auf andere schieben. Weil man ein Opfer ist, heißt das nicht, dass man nicht auch zum Henker werden kann. Eure einzige Chance ist, dass ihr in der Schule arbeitet. Sonst war das alles umsonst. Tut es nicht mir zuliebe, tut es euren Eltern zuliebe. Du kannst doch, wenn du willst, Ferit. Beweis es denen, du kannst es doch. Ihr habt so viel Energie in euch, um euch zu wehren. Nutzt sie doch. Häh? Latifa. Musa, du warst so ein großartiger Räuberhauptmann – MUSA: Frau Kelich mir ist schwindelig. (kippt vom Stuhl) HAKIM: Eh, Musa, eh SONIA: Musa, Musa hörst du mich? HASAN: Sie haben ihn umgebracht. SONIA: Kannst du mich hören? BASTIAN: Ey, man, jetzt sind Sie hier die Verbrecherin. MARIAM: Ich rufe einen Krankenwagen. SONIA: Hörst du mich, Musa, hörst du mich? Musa packt Sonia, wirft sich auf sie und würgt sie. HAKIM: Hör auf, Musa. Mariam hebt die Pistole auf und zielt auf Musa. MARIAM: Hör auf. Hör auf, du Idiot. Hör auf Musa! (SCHUSS.) MARIAM: Hör auf! HASAN: Mariam!? HAKIM: Was machst du? Was machst du da? MARIAM: Halt die Fresse. FERIT: Was soll die Scheiße? BASTIAN: Bist du behindert oder was? MUSA: Gib die Waffe her. MARIAM: Bleib da, wo du bist. MUSA: Gib die Waffe her. (SCHUSS.) FERIT: Mariam, mach kein Scheiß. MARIAM: Haltet die Fresse! LATIFA: Was bringt das? MARIAM: Dass ihr endlich mal die Fresse haltet. zürcher premiere 10. november premiere 25. november F WIE FÄLSCHUNG (NACH ORSON WELLES) Ein Abend von und mit Malte Scholz Regie: Boris Nikitin ARE YOU STILL AFRAID OF VIRGINIA WOOLF? www.theaterneumarkt.ch Willst du den totalen Krieg? TdZ · November 2010 Was machst du da? Bist du jetzt eine von uns oder nicht du Verräterschlampe? MARIAM: Wer ist hier die Schlampe? Bin ich eine Schlampe? Ich bin ne Schlampe? (zielt auf ihn) Hose runter. FERIT: Bist Du verrückt geworden? MARIAM: Hose runter oder ich schieße. Ferit zieht seine Hose runter. MARIAM: Was ist ne Schlampe? FERIT: Du bist ne miese Schlampe. MARIAM: Falsch. Du Affe. Latifa, was ist eine Schlampe, sag was eine Schlampe ist. LATIFA: Hey hör auf, lass uns raus gehen. MARIAM: Falsch. Falsch. Also, eine Schlampe ist eine Frau, die … he? He? LATIFA: … die für Geld mit Männern schläft. HASAN: Lass uns raus Mariam. MUSA: Isch mach dich kalt du Muschi. MARIAM: Ich mit CH. ICH, wiederhole. MUSA: ICH MARIAM: (zu Bastian) Buchstabier mal Muschi. SONIA: Muschi. M-u-s-c-h-i MARIAM: Der kann das alleine Frau Kelich. Was ist eine Muschi? Sag doch. BASTIAN: Keine Ahnung. MARIAM: Wo kommst du her? BASTIAN: Aus Berlin. MARIAM: Nein, wo bist du rausgeschlüpft? Aus der Muschi deiner Mutter. Hat dich das Weib nicht geboren? Ihr seid alle Muschigeburten. Sag – Ich bin eine Muschigeburt. BASTIAN: Ich bin eine Muschigeburt. MARIAM: Hasan, sind Sie noch bei uns? Steh auf. HASAN: Schon wieder ich? MARIAM: Man, du Weichei! Geh zu Bastian und hau ihm eine runter. Hasan ohrfeigt Bastian. MUSA: Ach Frau Kelich, ich kann jeden Tag die Waffe mit zur Schule bringen, wenn Sie wollen. MARIAM: Du hältst den Mund. Du hältst definitiv den Mund. Du hörst jetzt auf mich als Schlampe zu bezeichnen, du hörst auf schlecht Deutsch zu sprechen, du hörst auf Waffen mit in die Schule zu bringen, du hörst auf Frauen nicht zu respektieren. Und du umarmst jetzt Frau Kelich. Musa hilf ihr auf. Du nimmst sie jetzt in den Arm und sagst, dass es dir leid tut. Ich schieße. MUSA: Es tut mir leid. MARIAM: Jetzt sagst du ihm, dass du die Entschuldigung annimmst. SONIA: Ich nehme die Entschuldigung an. MARIAM: Nein, nein, nein. Ich will ein bisschen Emotion sehen. Und zum Publikum. Latifa, fass Hakim an seinen fetten Arsch. Hakim, du küsst Bastian. MUSA: Es reicht das Theater hier. Gib mir die Pistole, und wir verlassen den Saal. MARIAM: Komm mir bloß nicht näher. (SCHUSS.) MARIAM: Musa, auf den Boden. Hasan, fessle ihn. Ey, ich hab dich gerufen. (Hasan schüttelt den Kopf.) Ein Projekt von Barbara Weber und Michael Gmaj Regie: Barbara Weber Von mir aus. 59 VERRÜCKTES BLUT_NURKAN ERPULAT UND JENS HILLJE Arsch lecken... Ja, Text weg, ja, jetzt Kopftuch weg. Nee. Doch, das geht alles weg. Nee, mach ich nicht. Mariam, du bist kurz davor. Du bist kurz bevor, dich zu befreien. Kopftuch weg. Spür der Amalia nach. MARIAM: – SONIA: Wir sind so nah dran, was ist denn los? MARIAM: Ich mach mein Kopftuch nicht weg. SONIA: Warum nicht? MARIAM: Was gefällt ihnen denn nicht an meinem Kopftuch? SONIA: Es unterdrückt dich. MARIAM: Nein. SONIA: Doch. MARIAM: Nein. SONIA: Ich möchte einfach, dass du dich frei entfaltest, als Mensch! MARIAM: Ich bin frei entfaltet. SONIA: Bist du nicht. MARIAM: Bin ich wohl. SONIA: Ein Scheißdreck bist du! MARIAM: Ich weiß gar nicht, was sie von mir wollen. SONIA: (richtet die Pistole auf sie) Ich möchte, dass du deine Angst besiegst. Ich möchte in deinen Augen die Angst nicht mehr sehen. Ich möchte nicht, dass die Leute dich wegen deines Kopftuchs angucken. MARIAM: Die gucken doch, sollen die doch. SONIA: Ich zähl bis fünf. Mariam schüttelt den Kopf. Sonia zielt auf Hasan. SONIA: Ich erschieß den. Den braucht sowieso keiner. Wenn du dein Kopftuch nicht abmachst.1, 2, 3, – MARIAM: Ich machs. (Sie fängt an, es auszuziehen. Zu Hasan) Guck weg. Spast. SONIA: Stopp. Du machst es doch wieder für einen Mann. Du solltest es doch für dich machen. Verdammt. SONIA: MARIAM: SONIA: MARIAM: SONIA: Saarländisches Staatstheater Scheiße. Na, kriegt Ihr das mit? Das ist der große Gangster, der uns das ganze Jahr nervt. Und du Hakim? Bi-t-hâfu minhû akfâr mâ bi-t-hâfutullâh! HAKIM: Was redest du da ey? MARIAM: Du weißt, was ich gesagt habe. Du hast mehr Angst vor ihm als vor Gott. MUSA: He, Imam, kannst du nur Schimpfwörter auf Arabisch? Wie betest du denn? HAKIM: Sprich dein Gebet. Bete! MUSA: Was? HAKIM: Bete, Du weisst, dass du gleich stirbst. Bete, denn ich bring dich um. Du Sohn einer Hure. (packt Musa) MUSA: Lass mich los. MARIAM: Lass ihn los, Hakim. Das bringt es nicht. Eh, das bringt es echt nicht. Fessel’ seine Hände. HAKIM: Wie? Ich hab’ nichts zu fesseln. MARIAM: Hier. Fessel ihn mit dem Tuch. Mariam nimmt sehr langsam das Tuch ab und wirft es auf den Boden. MARIAM: (ihr Körper zuckt wie von einem Urschrei) Grroughoäääääää. LATIFA: Mariam, was ist los? Was ist denn los? MARIAM: Cool, cool, cool, ich bin cool. Mariam sieht ihr Haar und erschrickt davor. Das Zucken ihres Körpers verwandelt sich in einen Tanz. Sie gibt die Pistole Hakim. HAKIM: Alles in Ordnung? FERIT: Mariam, was bist du jetzt? Mariam tanzt mit Latifa. Hakim gibt die Pistole Ferit und fesselt Musa mit dem Kopftuch die Hände. Hakim reißt sich die Kleidung vom Leib. Ferit tanzt mit der Pistole. Mariam nimmt sich Musas Handy, um zu filmen. MUSA: Was machst du mit meinem Handy? MARIAM: Halt die Klappe, du Wichser. MUSA: Nutte. MARIAM: Hasan. Hasan! HASAN: Eh, bleib mir bloß weg du. MARIAM: Geht das schon lange? HASAN: Was soll schon lange gehen? Ich versteh nicht, was Du meinst. HAKIM: Was ist los? MARIAM: Geht das schon lange? LATIFA: Was ist mit Hasan? MARIAM: Das bist du auf dem Film. HASAN: Lasst mich in Ruhe. Mariam zeigt den anderen den Film auf Musas Handy. Sie nimmt die Pistole zurück. HAKIM: (zu Musa) Wie kannst du sowas tun? Wie kannst du so was tun? LATIFA: Das wirst du teuer bezahlen, du Arschloch! MARIAM: Gucken Sie mal das an, Frau Kelich! FERIT: Was macht ihr da mit ihm, wieso ist er nackt? Wie kann man das einem Mitschüler antun, he? MUSA: Ich hab nix gemacht, ich hab nur gefilmt. Filmen ist kein Verbrechen. MARIAM: (zielt auf Musa) Du hast das gefilmt und sagst, du hast nichts gemacht? Das hat einen Namen im Gesetz: Mittäterschaft. 60 MUSA: Ne Schwuchtel ist das. Warum hat er sich nicht gewehrt, wenn’s ihm wehgetan hat? LATIFA: Warum hast du dich nicht gewehrt? MARIAM: Was soll ich nur mit dir machen? Mariam geht zu Sonia und hält ihr die Pistole hin. LATIFA: Mariam? BASTIAN: Spinnst du? Mach das nicht, die ist total durch. MARIAM: Hier. Scheiße, machen Sie schon. SONIA: Ich will nicht mehr. MARIAM: Frau Kelich, bitte kümmern Sie sich drum, dass es gut wird. BASTIAN: Man, wir hätten alle rausgehen können. FERIT: Sei still, du verfickter Hurensohn. SONIA: Also, ich hab Bauchschmerzen und mir gehen auch langsam die Ideen aus. Ich finde, du machst das gut, Mariam, weiter so. Du siehst fantastisch aus. MARIAM: Machen Sie was, Frau Kelich! Das sind die Versager, die Hartz IV-Empfänger, faule, kriminelle Machos, das sind die Hinterhofmoscheegänger, die Unterdrücker, die Bauchklatscher im Prinzenbad, das sind die Abzocker, die Schwesternhasser, die Ehrenmörder, die Pädophilen, Rassisten, Antisemitisten, das sind die Schulklassenniveausenker, die Integrationsverweigerer, das sind die Ghettogangster. Sie haben doch gesehen, was er Hasan angetan hat. Machen Sie was! SONIA: Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll. MARIAM: Scheiße. Ich auch nicht. (legt die Pistole auf den Boden) Sie sind doch die Intelligente hier. Wir reißen uns den Arsch für Sie auf und Sie lassen uns im Stich. LATIFA: Bitte Frau Kelich. FERIT: Wir brauchen Sie. Hakim legt Sonia seine Hand auf die Schulter. SONIA: Ihr habt Recht. Ihr habt doch Recht. In Anbetracht der Situation sind wir ziemlich weitergekommen. (legt ihre Hand auf Hakims Hand) Ich bin stolz auf euch. OK, (nimmt die Pistole) Ihr stimmt ab. HAKIM: Was? SONIA: Ja, wir machen eine demokratische Abstimmung. Ihr entscheidet. Was machen wir mit Musa? Es ist ganz einfach; es gibt zwei Möglichkeiten. A: Freilassung. B: Hinrichtung. Stille. SONIA: Also, ich erschieß den, das bleibt dann unter uns und dann können wir alle nach Hause gehen. OK? Ihr stimmt ab. 4. Lied Sonia hilft Musa hoch. Gelübde Ich hab mich ergeben mit Herz und mit Hand dir Land voll Lieb und Leben, mein deutsches Vaterland dir Land voll Lieb und Leben, mein deutsches Vaterland Will halten und glauben an Gott fromm und frei will Vaterland dir bleiben auf ewig fest und treu will Vaterland dir bleiben auf ewig fest und treu Laß Kraft mich erwerben in Herz und in Hand zu leben und zu sterben fürs heil’ge Vaterland zu leben und zu sterben fürs heil’ge Vaterland 2. Szene Stuhlkreis. Musa steht vor seinem Stuhl in der Mitte. MUSA: Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid. Ich weiß nicht warum ich so was gemacht habe. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich ... Ich entschuldige mich bei euch allen. Das wars. (setzt sich) SONIA: Also, Auswertung: Freilassung, hmm. Freilassung. Freilassung. Wie jetzt? Freilassung, Freilassung, Freilassung. Ihr seid alle für die Freilassung? Spinnt ihr? Hä?! HAKIM: Gewalt ist keine Lösung, Frau Kelich. FERIT: Er ist auch nur ein Mensch. Jeder Mensch macht mal Fehler – SONIA: Schnauze. FERIT: Ich weiß, innen drin ist er ein guter Mensch. LATIFA: Ich finde, dass Musa eigentlich ein ziemliches Arschloch ist, aber wenn wir ihn töten, dann bringt ihn das auch nicht weiter. Ich glaube, er kann mal drüber nachdenken, whatever ... SONIA: Habt Ihr sie nicht mehr alle – wie könnt ihr denn so einen Vollidioten frei lassen? Der ist gewalttätig durch und durch. BASTIAN: Ich glaube, jeder Täter ist früher mal Opfer gewesen und in einer Welt wo 20 Länder im Krieg sind – SONIA: Aaaaah! HAKIM: Wir dürfen nicht versuchen, einen Menschen mit Gewalt zu verändern. Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. SONIA: Du, auch Hasan? HASAN: – SONIA: Du … Du enttäuschst mich! Boah, ihr seid blöder als ich gedacht hab. Ich würd ihn erschießen. MARIAM: Ich bin nicht deiner Meinung, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass du deine Meinung frei äußern darfst. Die Französische Revolution und ihr Unterricht haben mir gezeigt, dass ich mich frei – SONIA: Schnauze. Französische Revolution? Fang mir jetzt bloß nicht mit der Französischen Revolution an. – was ist denn passiert mit Robespierre? FESTIVAL FRANKOPHONER GEGENWARTSDRAMATIK FESTIVAL D’ÉCRITURE DRAMATIQUE CONTEMPORAINE 17.– 20. November 2010, Saarbrücken / Forbach ....................................................................................................................................................... Karten: (0681) 3092- 486, www.saarlaendisches-staatstheater.de TdZ · November 2010 3. Szene SONIA: Halt die Klappe! Setzt Euch hin und tut nicht auf einmal so als hättet ihr irgendetwas begriffen. Ihr habt doch keine Ahnung von der Demokratie. (Hasan setzt sich) Ihr … Ihr ... Ihr Muschis ... Machos ... Spasten ... Sizi, zavalli Aptallar! Delikanli olun. Azicik delikanli olun! Söylediginiz sözün arkasinda kalin bari... BASTIAN: Was? SONIA: Ne bakiyorsunuz öyle salak salak? He? Daha önce Türkce konusan birini görmediniz mi? FERIT: Sen Türksün? SONIA: Delikanli! Bu mu senin delikanliligin? MARIAM: Bist du Türkin oder was? MUSA: Warum haben Sie uns das nicht gesagt? SONIA: Weil das niemand was angeht! Das hier ist eine deutsche Schule, hier wird deutsch gesprochen, klar? LATIFA: Aber Sie heißen Kelich. SONIA: Ich habe einen Deutschen geheiratet, du dummes Stück. FERIT: Sie sind Türkisch! SONIA: Ist doch vollkommen scheißegal, ob ich Türkin bin oder nicht. Ich erschieße den jetzt trotzdem. HAKIM: Krass, wenn Sie das früher gesagt hätten... SONIA: Was dann? HAKIM: Keine Ahnung, aber... SONIA: Was dann? Egal. Ist ja auch egal, was mache ich gerade? Was mache ich hier? Was spielen wir? Für wen? Ich fühle mich... (blickt ins Publikum) Ich fühle mich beobachtet. Ich bin... was bin ich? Es tut mir leid... Was machen wir? Es tut mir wirklich leid. Den Schuldigen finden wir heute eh nicht mehr. Musa, kusura bakma, (löst Musas Fesseln) canini yaktim galiba. Cocuklar, kusura bakmayin. MUSA: Canim ne önemi var? FERIT: Bazen geliverir öyle bosver... SONIA: Ey, ich hab kein Bock mehr. Immer diese Kanakenselbsthassnummer, das steht mir echt bis hier. Was bringt das denn? Bak iste bunlara oynuyoruz... Cok birsey anladilar sanki... Lass uns aufhören! Die Schuhe drücken wie Sau. Die Perücke löst sich auch langsam auf. Außerdem hab ich Hunger. SIMPLE LIFE FESTIVAL HAMBURGER KLANGWERKTAGE FESTIVAL FÜR NEUE MUSIK TdZ · November 2010 FERIT: Lass uns Döner essen gehen. BASTIAN: Döner macht schöner. FERIT: Ja man, außerdem ich schwitze, ich stinke, (ab hier alle Sätze zum Publikum) hep aynem bok bu teater HAKIM: Halas, harra MARIAM: Immer diese Kopftuchnummer, sexuelle Befreiung, ich hab keinen Bock mehr eure Kümmeltürken zu spielen. Ich mach jetzt ‘nen Tarantino-Film... LATIFA: Ich will nicht immer geschlagen werden, ich will eine vernünftige Rolle, wo ich auch mal die anderen schlage. HAKIM: Kacinci oynadigim Kanacke rolü, Hose runter, Hose runter, sikildim, bitsin artik... MUSA: Benim de ... Hep adam vur, döv, öldür... Normal bir rol oynayamadim ... Alle reden durcheinander, räumen ihre Sachen zusammen und wollen die Bühne verlassen. Das Weihnachtsmärchen! Thilo Reffert König Drosselbart Premiere: 20.11. Theater Koblenz MERLIN VERLAG 21397 Gikendorf 38 Tel. 04137 - 810529 [email protected] www.merlin-verlag.de Epilog HASAN: (hat die Pistole) Keiner geht hier raus. (SCHUSS.) BASTIAN: Was ist denn jetzt mit dir? MARIAM: Was soll das denn? MUSA: Es ist vorbei, komm runter ... HASAN: Halt die Klappe, Musa ... MUSA: Ich bin kein Musa mehr ... HASAN: Doch, bist du ... Bist du! Du bist Musa. MUSA: Oh man, komm ... SONIA: Tu das mal weg, es is vorbei jetzt ... FERIT: Man, ist doch fertig, wir können Döner essen gehen... HASAN: Ihr legt euch jetzt hin alle. Alle hinlegen. BASTIAN: Das ist jetzt doch nicht dein Ernst. LATIFA: Tu die Pistole weg, man... HASAN: Geb ich die Waffe nicht zurück. Geb nicht zurück. Gehen wir hier raus, und was dann? Was passiert dann? Ändert sich gar nichts. Also will ich, dass das hier mein Leben lang weiter geht. HAKIM: Bitte... HASAN: Haltet die Schnauze. Wir spielen weiter. Räuber. (SCHUSS.) HASAN: Und ich werde Franz spielen. Ich bin Franz und ich bleibe Franz … Ich habe große Rechte über die Natur ungehalten zu sein … Warum musste sie mir diese Hässlichkeit aufladen? Gerade mir diese Hottentottenaugen? Was seht ihr in mir? Einen Schauspieler oder einen Kanaken? Immer noch? Frisch also! mutig ans Werk! – Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin. Wer hat wann wem was verweigert? Wer ist Schuld? Was wollen Sie von mir? Das Einzige was in dieser Schule funktioniert, ist die Bühne. Theaterbühne! Wir spielen Theater. Aber was wird aus mir, wenn das LOLA ARIAS / BECKER & BECKER, DANCETHEATER CHANG, MOOK WAT E.V., DIN A13, DANCE FACTORY ACCRA, PEEPING TOM, CIE CRÉATION EPHÉMÈRE, PIPPO DELBONO WWW.KAMPNAGEL.DE hier zu Ende ist? Oberstudienrat, wie Sie Frau Kelich? Ein echter Erfolgskanake? Oder Ehrenmörder in Alarm bei Cobra 11. Tja, tut uns Leid, aber Erfolgskanakenkapazität ist gerade zu Ende. Der Kanakentatortkommissar ist schon besetzt. Wie viele Erfolgskanaken erträgt das Land? Schwimme, wer schwimmen kann, und wer zu plump ist, geh unter! Solang wir spielen geht’s klar. Einziger Ort, der funktioniert. Und er ist schalldicht. Schalldicht! Hört uns jemand? Herr muß ich sein, daß ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht. Hasan richtet die Pistole auf das Publikum. SONIA: (wendet sich zum Publikum) Der Unterricht ist zu Ende. (SCHUSS.) Letztes Lied Alle kommen nach vorne an den Bühnenrand. Schlaflied Schlafe mein Kindchen schlaf balde schließe die Äugelein zu Vöglein schlafen im Walde schlafe, nun schlafe auch du schlafe, nun schlafe auch du © Nurkan Erpulat und Jens Hillje 2010 A. T. DE KEERSMAEKER, JÉRÔME BEL ELBPHILHARMONIE AUF KAMPNAGEL NOVEMBER K A MP N A G E L H A MBURG 61 VERRÜCKTES BLUT_NURKAN ERPULAT UND JENS HILLJE MUSA: Ich verspreche, ich mach’s nie wieder. MARIAM: (tritt zu Musa, legt ihm die Hand auf die Schulter) Musa hat Reue gespürt. Deshalb wollen wir ihm eine Chance geben sich zu bessern. Sie hatten Recht. Ich danke Ihnen dafür, was Sie heute mit uns gemacht haben. SONIA: Jetzt auf einmal, oder was? MARIAM: Musa hat sich geändert, Frau Kelich. Also – (zieht Latifa zu sich. Alle stellen sich hinter Musa) Wir haben uns geändert. Sie haben uns – MAGAZIN Flanieren Mit „Ciudades Paralelas / Parallele Städte“ lässt sich vergleichen, wie sich Alltag zusammensetzt – etwa durch die Optimierung von Betriebsabläufen in Gerardo Naumanns „Fabrik“ im Mercedes-Benz-Werk (oben) oder durch das Putzen von Hotelzimmern in Lola Arias’ Beitrag „Zimmermädchen“ im IbisHotel. Fotos Bresadola/Drama 62 „Ciudades Paralelas / Parallele Städte“ – das Berliner Hebbel am Ufer als Ausgangspunkt für einen Parcours auf Reisen Das neue Projekt der beiden Theatermacher Lola Arias (Buenos Aires) und Stefan Kaegi (Berlin) ist eine Art wanderndes Festival, das acht verschiedene Performance-Installationen in mehreren Städten zeigt: Das vom Berliner Hebbel am Ufer mit dem Schauspielhaus Zürich koproduzierte, von der Bundeskulturstiftung, Pro Helvetia und vom Goethe-Institut geförderte Projekt hatte jetzt in Berlin Premiere, im November folgt Buenos Aires, nächstes Jahr Warschau und Zürich. Die Produktionen der acht beteiligten Künstler werden in allen Städten neu erarbeitet, den jeweiligen Spielorten und Kontexten angepasst. So eröffnet das Projekt neue Horizonte für ortsspezifische Produktionen, die gerade mit der Austauschbarkeit funktionaler Orte arbeiten: Bibliothek, Hotel, Fabrik, Shoppingcenter, Haus, Dach, Bahnhof und Gericht. Die Touren, welche die Inszenierungen verknüpfen, machen das Theater des Alltags auf neue Weise erfahrbar. Insgesamt werden die „Parallelen Städte“ einen Rahmen auch für die Wahrnehmung von Differenzen schaffen: Ein Gericht in Buenos Aires hat jedenfalls eine andere Geschichte und Atmosphäre als in Berlin oder Zürich. Schon am einzelnen Ort wird ein vergleichender Blick angeregt: Über dem Eingang zum Festivalzentrum zeigen drei Monitore nebeneinander Bilder der jeweiligen Orte in Berlin, Buenos Aires und Zürich. Auch innerhalb einer Stadt machen die Touren den Vergleich der Orte und Situationen intensiver, als es bei einem beliebigen Mix von Einzelaktionen der Fall wäre. Eine kuratorische Handschrift ist durchaus spürbar, nicht explizit oder gar didaktisch, sondern in Korrespondenzen. Die Installationen, Rundgänge oder szenischen Situationen fordern uns als Zuschauer heraus – indem wir zu Akteuren werden, unser Verhalten als Voyeure oder auch als Zeugen reflektieren können und zugleich wahrnehmen, wie sich gerade das alltägliche Leben in Städten aus zahlreichen parallelen Welten zusammensetzt. TdZ · November 2010 Am Anfang der ersten Runde steht die Bibliothek mit der Installation „The Quiet Volume“ von Tim Etchells (Sheffield) und Ant Hampton (London). Die Besucher werden zu zweit an einem Tisch der Bibliothek platziert und durch ein Notizbuch sowie über Kopfhörer mit Instruktionen versorgt. Flüsternde Stimmen lassen uns einige Seiten in bereitgelegten Büchern lesen und eine Vielzahl kleiner Geräusche wahrnehmen: Blättern, Atmen, Schritte im Hintergrund. Die intensive Reise durch Texte und Atmosphären der neuen Grimm-Bibliothek der Humboldt-Universität eröffnet einen eher intimen Zugang zum städtischen Leben im Lesesaal, der – wie Foucault die „Heterotopie“ beschreibt – verschiedenste Zeiten und Räume in sich fassen kann. Im Anschluss geht es ins IbisHotel, wo Lola Arias’ Installation uns mit dem Leben der „Zimmermädchen“ konfrontiert. Im Akkord putzen die zumeist aus asiatischen Ländern stammenden Frauen und Männer die Zimmer der Gäste, die sie kaum zu Gesicht bekommen. Die Teilnehmer stoßen in den Zimmern auf Spuren: Gegenstände, Bilder, Filme von den Reinigungskräften, die ihren Alltag, ihre Geschichte und ihre Träume dokumentiert haben. Sie sind Teil des Ortes, führen aber ein gespenstisches Schattendasein, das wir ebenso rasch durcheilen, wie hier sonst geputzt wird: zehn Minuten pro Zimmer. Die zweite Tour „Fabrik“ findet bei Mercedes-Benz in Marienfelde statt, inszeniert von Gerardo Naumann (Buenos Aires). Die Besucher werden von einem Mitarbeiter zum nächsten geführt, durch die Verwaltungsetagen bis in die Montagehalle für Automotoren. Wir hören viel über die Optimierung und Kontrolle jedes Handgriffs, aber auch über das private Leben der Werktätigen, die mit ihrem Betrieb hoffnungslos verwachsen scheinen – eine ebenfalls gespenstische, fast schon vollautomatische Inszenierung von Effizienz. Eine Leistungssteigerung für Passanten ist im Shoppingcenter zu erleben. Die Gruppe Ligna (Ole Frahm, Torsten Michaelsen und Michael Hueners) hat in den „Arkaden“ am Potsdamer Platz eine „kollektive Zerstreuung“ organisiert, durch Anweisungen, die mit Radios und Kopfhörern zu empfangen sind. Die Shopping-Mall wird zum Handlungsspielraum. Um „Agent“ für die „Erste Internationale der Shopping Malls“ zu werden, lernen die Besucher: sich unauffällig verhalten, jemand anders werden, den Rhythmus der Passage spüren und verändern, sich in Waren einfühlen, Gruppen bilden, auf den Spuren von Walter Benjamins Flaneur für eine Stunde subversiv werden. Im Prunktreppenhaus des Amtsgerichts Berlin-Mitte wird – komponiert von Christian Garcia (Lausanne/Berlin) – ein Wechselgesang vorgeführt, mit dem sich die Sänger wie in einer liturgischen Prozession allmählich zum Publikum herunter begeben. Im Namen des Volkes regiert die strenge Zeremonie, Gerichtstheater zwischen Kirche und Gefängnis. Den Blick aufs private Leben lenkt Dominic Huber (Zürich) mit der Station „Prime Time“ in einem Haus am Mehringplatz: fünf Wohnungen, in denen gleichzeitig die Wohnzimmerlichter aus- und die Fernseher angehen. Die überwiegend türkischen Familien verbeugen sich auf ihren Balkons vor dem kleinen Publikum, das draußen über Kopfhörer an ihrem Leben teilnehmen konnte. Noch expliziter mit Zufällen arbeitet Mariano Pensotti (Buenos Aires), der im Hochbahnhof Hallesches Tor vier Leinwände installiert hat. Darauf wird als Text projiziert, was die vier anwesenden Autoren (Jörg Albrecht, Gesine Danckwart, Anne Habermehl und Tilman Rammstedt) gerade notieren. Teilnehmer und Fahrgäste merken allmählich, dass ihr Verhalten lesbar wird: ein Theater des Wartens, der wechselseitigen Beobachtung. Auf dem Dach des HAU 2, inszeniert von Stefan Kaegi, erzählt ein blinder Musiker (Markus Virck) aus seinem Berliner Leben und singt uns das Lied von den „unsichtbaren Augen der Dinge“. „Review“ heißt dieser Ausblick auf die nächtliche Stadt, der auch einen Rückblick auf die am Tag erlebten Orte und Situationen erlaubt. Nicht alle waren gleichermaßen intensiv, manche hätten länger dauern oder stärker die sozialen Konstruktionen der jeweiligen Orte thematisieren können. Was die Reise durchs alltägliche Leben eröffnet, ist eine Erfahrung unserer Existenz in parallelen Städten und Welten, Theater unterwegs. Patrick Primavesi 63 MAGAZIN zwischen Orten und Ländern Auch wenn das Leben danebengeht Das 7. GlückAufFest „Dostoprimetschatelnosti“ der Neuen Bühne Senftenberg zwischen Bühne und Zuschauerraum und platziert uns – die wir nicht nur die Beobachtenden, sondern auch die Betroffenen sind, anteilnehmend an den Sehnsüchten, Irrtümern, Zu Gast in der russischen Provinz – bei den „Drei Schwestern“ (v.l.n.r.) Eva Kammigan, Juschka Spitzer und Maria Priestel sowie Inga Wolff als Natalja. Foto Steffen Raschke Nach gut sieben Stunden Theater waren alle wie besoffen – erleichtert, glücklich, begeistert. Das Konzept des diesjährigen GlückAufFests als Gesamtkunstwerk, nicht nur als Anhäufung von Einzelstücken, ist voll aufgegangen. Begonnen hatte es mit einer schon für das Frühjahr geplanten Inszenierung von Tschechows „Drei Schwestern“: Man fand sie zu „schade“ für den Repertoirealltag und beschloss, sie zum Ausgangs- und Mittelpunkt eines nun „Dostoprimetschatelnosti“ (Sehenswürdigkeiten) genannten Überblicks über russische Dramatik des letzten Jahrhunderts zu machen, eines ebenso empathischen wie kritischen Blicks auf Russland als Ort der Sehnsucht, der Hoffnungen, der Utopien. „Nach Moskau!“ ist ja auch eine Metapher, eine weiträumige dazu. Im Grunde beruht das Konzept auf einem (oder zwei) sehr schlichten, aber ungemein einleuchtenden Gedanken: dass das „richtige“ Leben immer woanders ist als man selber und dass – wie es in den „Drei Schwestern“ heißt – das Leben solchen Spaß macht, auch wenn es völlig danebengeht. Der durchschlagende Erfolg des Senftenberger Unternehmens beruht auch darauf, denke ich, dass damit ein spezifisch ostdeutsches Lebensgefühl berührt wird. Wir Zuschauer sind zu Gast bei den Schwestern in der russischen Provinz. Bühnenbauer Tobias Wartenberg setzt die große Familientafel auf die (aufgehobene) Grenze 64 Selbsttäuschungen der Spielenden – drum herum. Und wir werden selbstverständlich in den Pausen auch mit Keksen, Tee und Wodka versorgt. Geht Castorf in der Volksbühne mit seiner neuen Tschechow-Version eher zurück (in Spielweise wie szenischem Outfit an seine Dostojewski-Inszenierungen anknüpfend), so schaut Sewan Latchinian vorwärts, quasi via Ibsen (die „Lebenslüge“) auf die Gegenwart, unsere Gegenwart. Und er hat dafür ein wunderbares Ensemble zur Verfügung. An der Spitze die drei Schwestern Eva Kammigan, Juschka Spitzer und Maria Prüstel. Ihnen gelingt, auch die psychologischen Nuancen auszuloten, die Ambivalenz in den Beziehungen bzw. Nichtbeziehungen, die offenen und versteckten Animositäten, die oft schroffen Brüche zwischen Beleidigung und Umarmung. Anfängliche Hektik und ein gelegentliches Chargieren weichen schnell einem ruhigen, dennoch spannungsvollen Rhythmus von Auf- und Abschwüngen. Nach diesem Hauptstück des Abends (in der kräftig-heutigen Übersetzung von Thomas Brasch, ohne gewaltsame Kürzungen) hat der Zuschauer die Wahl zwischen vier „Miniaturen“ auf den Probe- und Studiobühnen. Der Hausherr selber inszenierte Nikolai Erdmans „Selbstmörder“ als Posse in der StummfilmÄsthetik der Entstehungszeit des Stücks (1928) mit dem vielversprechenden Senftenberger Neuzugang Marco Matthes als Pod- sekalnikow. Christoph Schroth entdeckte „Die Kröte“ des Zeitgenossen Sergej Medwedjew (1960 geboren), Esther Undisz wiederentdeckte „Zwanzig Minuten mit einem Engel“ von Alexander Wampilow (1962 geschrieben), und Justus Carriere inszenierte als deutsche Erstaufführung „Nächtliche Stimmen“ von Nikolaj Schmeljow (Monolog nach einer 1988 entstandenen Erzählung) mit Sybille Böversen. Es hat vermutlich kaum jemanden überrascht, zum Abschluss des langen Abends im Saal wieder den Tisch der Schwestern vorzufinden, das ganze szenische Arrangement der Tschechow-Inszenierung. Auch in Mehrheit deren Darsteller, die nun zum Finale schreiten: „Na sdorowje!“ vulgo Prost, mit natürlich russischem Liedgut. Auch das eine Zeitreise, von den „Moskauer Abenden“ über „Kalinka“ (den Hit des legendären Alexandrow-Ensembles) bis zu den aufrührerischen Liedern Wladimir Wyssozkis und den wodkaseligen Hits der Russendiscos unserer Tage. Angefeuert von den Musikern von Wallahalla (die schon beim „Selbstmörder“ Akzente setzten), ging es tief hinein in die russische Seele. Und es hat funktioniert, das „Konzert“ organisch aus dem Milieu und der Stimmung der „Drei Schwestern“ heraus zu inszenieren und damit den Kreis zu schließen, das Gesamtkunstwerk „Dostoprimetschatelnosti“ zum krönenden und bejubelten Abschluss zu bringen. Natürlich entsprach auch das Ambiente dem Thema des Abends, im Zarenzimmer wie an der Feldküche (mit authentisch russischer Besetzung) gab es Soljanka und Pelmeni, jede Menge Wodka und Krimsekt und ein augenzwinkerndes Einverständnis zwischen Theatermachern und Besuchern. Ohne prostituierendes Ranschmeißen an das Publikum gelingt eine vertrauensgestützte Begegnung auf Augenhöhe. Das zu bewirken, ist vielleicht überhaupt das Wichtigste an den GlückAufFesten, und die sind damit auch ein praktischer Beitrag zur immer noch verkrampften Diskussion um die Zukunft der deutschen Stadttheater, um verkrustete Strukturen und strangulierende Sparzwänge. Wer in diesem Prozess das Publikum auf seiner Seite weiß, hat noch nicht gewonnen, aber die bessere Ausgangsposition. Martin Linzer TdZ · November 2010 „King Kongo – Eine skandalöse postkoloniale Revue“ erzählt auf dem Festival Fidena 2010 in Bochum vom schweren Erbe eines Landes Der Gradmesser des internationalen Figurenund Objekttheaters, das Festival Fidena in Bochum, forderte dieses Jahr mit dem Motto „Let’s get loud!“ programmatisch dazu auf, sich Gehör zu verschaffen. Passend zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit des Kongos hieß es, dass diese Forderung wohl am besten von dem Stück „King Kongo – Eine skandalöse postkoloniale Revue“ erfüllt werden sollte. Es wurde in Kinshasa und Bochum produziert und feierte nun im Rahmen des Festivals in der Bochumer Kunstkirche Christ König Weltpremiere. „Laut wird es auf jeden Fall und leidenschaftlich wird es auf jeden Fall“, hieß es dazu von der Festivalleitung. Laut und leidenschaftlich tanzten und musizierten dann auch schon vor der Premiere einige der vornehmlich jungen kongolesischen Darsteller durch die Innenstadt Bochums. Dass sie nicht wie eine multikulturelle Beigabe zu den anderen Projekten des Eröffnungstages wirkten, verdankt sich vor allem ihrer darstellerischen Kraft. Die Jugendlichen sind Teil der „Fanfare Masolo“, einer von Nious Lulemba geleiteten Brassband, die aus der Arbeit des Kulturzentrums „Espace Masolo“ in der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa entstand. Das mittlerweile international renommierte Sozialprojekt bildet auf der Straße lebende Kinder und Jugendliche in kreativen Disziplinen aus und bereitet sie darauf vor, mit künstlerischen Mitteln ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Inhaltlich greift die Inszenierung, die u. a. in Zusammenarbeit mit den Projektleitern des Gütesiegel Kultur, Stefanie Oberhoff und Lambert Mousseka, entstand, auf verschiedene Ebenen zurück. Zum einen auf die Inbesitznahme des Kongos durch den belgischen König Leopold II. bei der Berliner Konferenz von 1884/85, die das Land in eine langanhaltende, gewaltsame Repression stürzte. Zum anderen auf die persönlichen Erfahrungen der Mitwirkenden, die zum Teil noch immer mit den Auswirkungen dieses Zustands zu kämpfen haben. Eingebettet werden die harten Fakten in eine märchenhafte Geschichte von der TdZ · November 2010 Entstehung des Menschen, der Gemeinschaft, der Kultur und der (Kolonial-)Herrschaft. Die Probe eines königlichen Besuchs bildet den Hauptteil der Handlung und führt im weiteren Verlauf zu ungekannten Machtspielen, Streit und Gewalt, stets karikierend überhöht und mit französisch gesprochenen Kommentaren des kongolesischen Erzählers Hubert Mahela versehen. Die bewusst subjektive deutsche Dolmetscherin (Stefanie Oberhoff) greift dessen Rede vor, stellt manches als unglaubwürdig dar und übersetzt frei, sogar aus dem ihr sonst unverständlichen Lingala. Er wiederum spricht daraufhin deutsch, was die Konstellation ganz ad absurdum führt. Unterhaltsam wird so mit der ernsten Form der rituellen Erzählung gebrochen und zugleich auf die Schieflage interkultureller Verständigung verwiesen. Einzig die stets präsente Musik bleibt unmissverständlich, wobei auch die Kommunikation via Buschtrommel amüsant versagt. Das betont körperliche Spiel der jungen Darsteller, das sich besonders in Initiations- und Überraschungsmomenten abzeichnet, besticht besonders durch seine gute Choreografie. Ebenso wie die Mimik bewegt es sich an der Grenze des Maskenhaften, rutscht dabei aber nie ins Lächerliche ab. Die Spieler bieten präzisen, pointierten Slapstick, wenn sie durch den weitläufigen Saal rennen, klettern und stürzen und dabei wie nebenher Bilder der Unterdrückung aufscheinen lassen. MAGAZIN Was sonst nicht gehört wird Zugleich reflektiert sich die Inszenierung selbst als armes Theater, das sich seiner beschränkten Mittel stets bewusst sein muss. Die Ausstattung ist karg und muss doch dem majestätischen Ansinnen genügen. Stöckelschuhe, Bart und natürlich die vieldiskutierte Krone sind nötig für die Wahrwerdung des Bühnenkönigs. Die Requisiten werden zu Reliquien, mit Bedeutung aufgeladen durch die Imagination der Probenden. Musikinstrumente werden entfremdet und zum Foltern und Hinrichten von Widersachern genutzt. Ihren Höhepunkt erreicht die Aufführung schon vor dem spektakulären musikalischen Abgang. Die Darsteller setzen sich nach und nach auf den Boden der Kirche und berichten leise und vielstimmig von ihrer eigenen Geschichte. Das Stück pausiert, und das Erzählerduo versucht, all den Stimmen gerecht zu werden und sie dem Publikum zu übersetzen. Doch nur Bruchstücke dringen durch. Sie deuten Leid an, lassen aber auch erkennen, dass es niemals möglich sein wird, alles zu erfahren. In diesem Moment zeigt sich die wahre Intensität der Inszenierung. Wenn sie auch sonst bravourös ihrer Ankündigung gerecht wird und sehr laut, aber vor allem gekonnt auf die politischen und sozialen Hintergründe deutet, so zeigt sich die Stärke vor allem dann, wenn auf das verwiesen wird, was nicht gehört oder überhört wird. Gerrit Münster Laut, leidenschaftlich, aber vor allem gekonnt – „King Kongo“ mit kongolesischen Jugendlichen beim Fidena Festival in Bochum. Foto Christian Schaubelt 65 etc. Bücher „Die Stadt Hamburg ist eine gute Stadt. Hier herrscht nicht der schändliche Macbeth, sondern hier herrscht Banko“, kalauerte Heinrich Heine einmal. Lang, lang ist’s her – und angesichts der jüngsten Erdbeben in der hanseatischen Metropole, die ihre Kultureinrichtungen rigoros zusammenschrumpft, um im gleichen Moment eine Kulturtaxe einzuführen, müsste man, in Heines Manier weitergewitzelt, heute wohl eher von der Herrschaft „Blankos“ sprechen. Zugegeben, es gibt bessere Pointen als Banko-Blanko. Und doch ist ihr Niveau noch immer höher als das, auf dem die Hamburger Jobcenter ihre spezielle Art von Theater betreiben – nicht in der bedrohten Institution der Hochkultur nämlich, sondern als Hartz-IVMaßnahme. Seit einiger Zeit gibt es in Hamburg den Prototyp eines „Aktivierungs-Centers in Form einer Übungsfirma“, eine Bezeichnung, hinter der sich ein kompletter Fake-Supermarkt inklusive simuliertem Lagerraum verbirgt. Allen Ernstes werden Jobsuchende hier dazu verpflichtet, maximal neun Monate lang Supermarkt zu spielen, um sich auf eine eventuelle Tätigkeit als Arbeitskraft bei Lidl oder Aldi vorzubereiten. 85 Hartz-IV-Empfänger fahren 40 Stunden pro Woche (es gibt Stechuhren) mit dem Gabelstapler Warenpakete im Lager hin und her, packen sie aus oder sortieren sie korrekt in die Regale ein: Käsekugeln, Joghurtpaletten, Eierkartons, Wein und Saft. Allerdings sind die Käsekugeln aufblasbare Plastikbälle, die Joghurts leer, die Eier aus Schaumstoff und Wein und Saft in den Flaschen gefärbtes Wasser. Andere Arbeitslose müssen das Kassieren proben; es gibt eigens angefertigtes Spielgeld, das auch schon einmal von, ebenfalls eigens angefertigtem, Falschgeld unterschieden werden muss – Simulation in der Simulation. Wieder andere dürfen die Käufer spielen und sich spätrömischer Dekadenz hingeben: Sie können an einem Tag Tausende Euro Theatergeld für gefakte Waren hinblättern, die sie sich realiter und mit ihren außerhalb des „Übungssupermarkts“ gültigen 359 – nein, mittlerweile ja 364! – Euro auch in einem halben Jahr nicht leisten könnten. Manchmal wird ein Ladendiebstahl simuliert. Und der Geschäftsführer des Schulungszentrums heißt – wahrscheinlich das Einzige, was hier keine Inszenierung ist – mit Nachnamen auch noch Westerwelle. Wenn es die Realität nicht schon gäbe, dann müsste man sie erfinden. Wenn allerdings Heine seinerzeit schon das normale Theater zu den Merkwürdigkeiten Hamburgs zählte (ein Gebäude voller „Hausväter, die sich nicht verstellen können und niemanden täuschen können“) – zu welchen Spottgedichten hätten ihn erst die Inszenierungskünste im heutigen Deutschland angeregt. Sebastian Kirsch Regie: Ruth Berghaus. Geschichten aus der Produktion. Hrsg. von Irene Bazinger, Rotbuch, Berlin 2010, 304 S., 22,95 EUR, ISBN 978-3-86789-117-2. 66 Die Schauspielerin Christine Gloger, die eine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Ruth Berghaus am Berliner Ensemble und an der Staatsoper verband, erzählt von einer „Lukullus“-Probe, auf der die Berghaus sie fragte: „Ach, kannst du nicht wie ein Schmetterling kommen?“ Also kam Gloger, die in der Inszenierung die „Kommentierende Frauenstimme“ spielte, als Schmetterling die schmale Feuerleiter herunter: ein unvergesslicher Auftritt. „Und dann hat sie gelacht und dann war’s der Schmetterling.“ Es sind diese Momentaufnahmen aus Arbeitsgesprächen und Proben, die in Irene Bazingers Erinnerungsbuch die Regisseurin Ruth Berghaus lebendig und ihre Ästhetik sinnfällig werden lassen. 1927 in Dresden geboren und an der Palucca-Schule in Tanzregie und Tanzpädagogik ausgebildet, hat ihr Weg an die Oper und zum Theater mit Musik und Choreografie begonnen. Nach ihrem Umzug nach Berlin arbeitete Berghaus als Choreografin und Regieassistentin am Theater der Freundschaft, hospitierte am Berliner Ensemble, lernte dort Paul Dessau kennen und inszenierte dessen „Verurteilung des Lukullus“ 1960 an der Staatsoper. 1964 ging sie als Choreografin ans BE, wo sie es nach Helene Weigels Tod bis zur Intendantin brachte. Ihre Zusammenarbeit mit Heiner Müller, Karl Mickel und Einar Schleef trug ihr das Misstrauen der SED ein, ihre modellfernen Brecht-Inszenierungen Konflikte mit den allwissenden Erben. 1977 musste sie als Intendantin zurücktreten, und was zum Trauerspiel am Schiffbauerdamm wurde, erwies sich für die Oper als Glücksfall. Ruth Berghaus inszenierte ab 1978 in Berlin, Frankfurt am Main, Dresden, Wien und Hamburg und wurde zu einer der führenden und umstrittensten Opernregisseurinnen Europas. Irene Bazinger hat Intendanten, Komponisten, Sänger, Schauspieler und künstlerische Mitarbeiter aus all diesen Jahren versammelt, die über ihre Erfahrungen mit Ruth Berghaus berichten. Darunter finden sich Opernlegen- den wie Anja Silja und Michael Gielen, Regisseure wie Jürgen Flimm und Hans Neuenfels, Bühnenbildner wie Achim Freyer und Erich Wonder. Wichtige Stimmen, vor allem aus den Anfangsjahren in der DDR, fehlen, manche haben sich verweigert, andere sind verstummt. Aber selbst für den Leser, der nur eine der späten Arbeiten von Ruth Berghaus auf der Bühne sehen konnte, entsteht ein ebenso faszinierendes wie widerspruchsvolles Kunst- und Lebensbild einer außergewöhnlichen Frau. Es erzählt von einer Zeit, da das Singen und Spielen noch geholfen hat und der Orchestergraben noch keine Trennungslinie zwischen Künstlern und Publikum war. Die Fotografien von Maria Steinfeldt zeigen, dass es auch eine heitere Zeit war, allen Repressalien zum Trotz, und die gestrenge Ruth Berghaus ein fröhlicher Mensch. Holger Teschke Penelope Wehrli: raum partituren. Ich wohne in der Möglichkeit. Benteli Verlag, Sulgen 2010, 332 S., 32 EUR, ISBN 978-3-7165-1615-7. Penelope Wehrli dürfte den meisten Theatergängern in maximal zweierlei Gestalt begegnet sein. Die meisten mögen sie als Bühnenbildnerin – und hier vor allem als Gestalterin der kühlen Räume für das aufgeladene Choreografische Theater Johann Kresniks – kennengelernt haben. Vielen ist die in Berlin lebende Schweizerin ebenso als virtuose Arrangeurin medial geschichteter Klang-, Bildund Gehräume bekannt. Sie könnte aber auch noch anders bezeichnet werden, aufgrund ihres Zugangs zu ihren Figuren, z. B. Orpheus und Emily Dickinson, und Themen, u. a. Stanislaw Lems „Solaris“ und die Katastrophe TdZ · November 2010 Bücher von Tschernobyl, als Poetin etwa, die lediglich mit technologisch avancierteren Instrumenten als Stift und Papier operiert. Frühen Weggefährten ist sie als Performerin vertraut. Die kürzlich im Schweizer Benteli Verlag erschienene Monografie „raum partituren. Ich wohne in der Möglichkeit“ übernimmt nun die dankenswerte Aufgabe, Wehrli chronologisch in all ihren Gestalten vorzustellen. Sie entwirft das Bild einer Künstlerin, die sich systematisch mit den Elementen auseinandergesetzt hat, die das Theater ausmachen: Körper, Blick, Klang, Wort, Raum, Material, Bewegung, Zuschauer, Kommunikation. Wehrli ist in dieser jahrzehntelangen Tour de Force auf dem Planeten der darstellenden Kunst nicht nur zu bemerkenswerten Positionen gelangt. Die Publikation, die diese präsentiert, erweckt sogar die Lust, mit all diesen neu konfigurierten Elementen auf einmal zu spielen und so die Möglichkeiten eines Theaters der Zukunft auszuloten. Insofern ist „raum partituren“ mehr als eine Künstlermonografie. Es ist ein Manifest. Das Buch setzt in den 80er Jahren ein, als Wehrli mit Aufhänge-Performances im Stile Stelarcs auf sich aufmerksam machte. Zwar rammte sie sich nicht wie der spätere Prothetiker die Haken ins nackte Fleisch (sie hing in Seilen und Netzen), aber der damals verbreitete Ansatz, sich erstens den normativen Kräften der Welt – wie etwa der Schwerkraft – zu entziehen, zweitens durch Stillstellung und Neupositionierung des Körpers zu neuen künstlerischen Positionen zu gelangen, drittens das Bewusstsein für den Ort, an dem das Ereignis sich vollzieht, zu wecken und viertens Realräume und Kunsträume füreinander durch- TdZ · November 2010 aufgelesen lässig zu gestalten, wird offensichtlich. Die Verfahren zur Organisation des Blicks und der Schichtung von visuellen Elementen, die Wehrli in ihren frühen Performances entwickelt hat, finden sich dann auch in den „klassischen“ Bühnenarbeiten ab 1990 wieder. Sie staffelt und rahmt die Tänzer („Frida Kahlo“, „Ulrike Meinhof“). Sie schafft gleißende, sowohl abweisende wie durch Spiegelung das Geschehen wieder inkorporierende Flächen („Francis Bacon“). Sie erobert die Vertikale („Gastmahl der Liebe“, „Norma“) und inszeniert die Vervielfältigung der Objekte („Antonin Nalpas“). Sie (wieder-)entdeckt die leere Raummatrix („Kaspar“) und kreiert ein Palimpsest aus Raumschichten („Platonov“). All diese Verfahren setzt sie ab 1998 – konsequenter und radikaler – in ihren eigenen multimedialen Räumen ein. Bild, Performer, Klang und Sprache sind nun gleichberechtigte Elemente in einem Handlungs- und Assoziationslabyrinth. Manchmal fragte man sich als durch diese Räume Stromernder allerdings, ob die Fülle der Überlagerungen nicht der Angst vor dem Erkennen einer Haltung geschuldet ist. Der auch in der Monografie wiederholt platzierte Imperativ „Zuschauer, konstruiere selbst deinen Abend!“ ist banal. Denn, mit den sich überlagernden Stimmen des Kommunikationswissenschaftlers Paul Watzlawick und des Neurobiologen Umberto Maturana gesprochen: Wir können nicht nicht konstruieren; selbst dann nicht, wenn wir in einem Theaterraum sind. Wer das SelberKonstruieren als Quintessenz von Wehrlis Kunst ausgibt, wird deren Potenzial nicht gerecht. Es gelingt ihr nämlich, mit ihren gestochen scharfen Bildern jene Unbestimmbarkeit und Rätselhaftigkeit zu erzeugen, die Marshall McLuhan am unscharfen Gepixel des frühen Fernsehens so sehr begeisterte, dass er ihm aufgrund der Kognitionsarbeit des Betrachters das Attribut des „kühlen“ Mediums zuerkannte. Und mit ihren Kommunikationsanordnungen wie etwa „Aether“ oder „Kriegshörplatz“ führt sie das Theater in jene kommunikativen Weiten, die real wie digital durchsetzt sind und neue Versammlungsformen für globale Nomaden ermöglichen. Penelope Wehrli lädt ein, in den Möglichkeiten zu wohnen. Man muss nur noch mitwohnen wollen. Tom Mustroph Der Suhrkamp-Verlag ist immer wieder für Überraschungen gut. Jetzt bringt er – 53 Jahre nach ihrer französischen Erstveröffentlichung – die erste vollständige Ausgabe von Roland Barthes’ „Mythen des Alltags“ auf den Markt (326 S., 28 EUR), ein Werk, das bislang in ein schmales Suhrkamp-Bändchen gepresst war. Nun kann man ja getrost sagen, dass die „Mythen des Alltags“ in einem halben Jahrhundert selbst mythischen Charakter angenommen haben (in Intellektuellenkreisen selbstredend). Umso erstaunter dürfte also sein, wer das französische Original nicht kennt und jetzt den neuen, schönen, dicken Hardcoverband mit dem zerfledderungsanfälligen Taschenbüchlein von vor Jahr und Tag vergleicht: Erklärte damals eine Herausgebernotiz, dass in der deutschen Ausgabe „einige kürzere Texte des ersten Teils“ fortgelassen wurden, „deren Thematik und Bedeutung einem mit den Verhältnissen in Frankreich wenig vertrauten Leser nur unzureichend sich erschlossen hätten“, so stellt sich jetzt plötzlich heraus: Ganze 34 von insgesamt 53 Alltagsmythologien enthielt man einst dem deutschen Publikum vor! Und es braucht schon höhere barthessche Dechiffrierkunst, um herauszubekommen, welche mythischen Vorstellungen vom deutsch-französischen Verhältnis 1964 geherrscht haben müssen, dass grandiose Lesestücke etwa über die „Welt des Catchens“, die „Marsmenschen“ oder über „Seifenpulver und Detergenzien“ den Deutschen nicht zugetraut wurden. Nun, dafür scheint die bald viermal so teure neue Ausgabe, auf deren Umschlag – natürlich – nach dem berühmtesten Text der Citroën DS 19 in Serie prangt, laut auszurufen: „Roland Barthes, zum ersten Mal ganz und vollständig“, und sich mit der ganzen Autorität des Klassikers auf den alten draufzusetzen. Es ist schon ein verflixtes Ding um die Mythenbildung. Um dieser auf die Spur zu kommen, sind die „Mythen des Alltags“ allerdings noch immer unerlässlich. 53 hinreißend scharfe Texte, die allesamt darauf abzielen, das zu entwickeln, was man mit dem – damals für Barthes ausschlaggebenden – brechtschen Vokabular die „Zuschaukunst“ nennen könnte; und dann der berühmte theoretische Anhang, der die Methode systematisiert und erklärt, was es mit dem Mechanismus des (Trivial-)Mythos auf sich hat: Ein zweites semantisches System besetzt das erste, in dem ein Gegenstand steht, und naturalisiert dieses dabei, verwandelt also die Geschichte des Dings in scheinbare Selbstverständlichkeit. Wenn sich seitdem die Theorie auch verfeinert hat: Barthes’ „Mythen des Alltags“ waren und sind noch immer eine der elegantesten Sehschulen, die je eingerichtet wurden. Sebastian Kirsch 67 RADIOVORSCHAU Hingehört von Gerwig Epkes Frau Kitty Warren führt einen getarnten Bordellbetrieb. Selbst einst Prostituierte – durch soziale Not dazu gezwungen –, zog sie ihre Tochter Vivie mit dem „unmoralisch“ verdienten Geld groß. Als diese davon erfährt, ist sie schockiert über die Unmoral ihrer Mutter. Kitty Warren ist ihrerseits schockiert über das Verhalten ihrer Tochter. Die puritanische Erziehung und Ausbildung in Cambridge haben also nicht nur Tochter und Mutter entfremdet, sondern auch das Gefühl von Dankbarkeit verhindert. Vivie verlässt ihre Mutter, will auch nicht durch Heirat ihren Lebensunterhalt sichern, sondern durch eigene Arbeit. 1893 schrieb George Bernard Shaw dieses Schauspiel, das erst 1926 in England Premiere hatte. Die sozialen Ursachen der Prostitution mussten genauso beflissen vertuscht werden, wie die Bordelle nur getarnt funktionieren konnten. „Frau Warrens Gewerbe“ von George Bernard Shaw Andrea Maria Schenkel KALTEIS 4 D, 3 H Bühnenfassung: Anna Wenzel UA: frei In einem Rausch war ich, … wie ein wildes Tier, … ich bin wieder los … immer wieder. THEATERSTÜCKVERLAG · Korn-Wimmer München · Tel. +49/(0)89/36101947 www.theaterstueckverlag.de ist ein Theatermitschnitt des Senders RIAS aus dem Jahre 1955, den der berühmte Theaterjournalist Friedrich Luft für die damaligen Sendereihen „Wir gehen ins Theater“ und „Mit dem RIAS ins Theater“ besorgte. Produktion: RIAS 1955. Frau Warrens Gewerbe, MDR Figaro, Montag, 1. November 2010, 22.00 Uhr. Die hohen Weihen der Kunst des Glücklichseins – das sucht eine Truppe junger Schauspieler im alten Babylon. Nirgends aber scheint das Glück von Dauer. Der Regisseur Jörg Jannings, der im November seinen 80. Geburtstag feiert, setzte George Taboris Hörspiel Wie man glücklich wird, ohne sich zu verausgaben um. Produktion: RIAS/ SWF 1991. Deutschlandfunk, Samstag, 13. November 2010, 20.05 Uhr. Leo Tolstoi beginnt 1890 ein Stück zu schreiben: „Und das Licht scheint in der Finsternis“. Es soll eine dramatische Autobiografie werden, bleibt jedoch unvollendet. Interessant ist, dass Tolstoi darin seine dramatische Flucht in ein Dasein ohne Besitz und Familie vorwegnimmt, die er 1910 dann selbst vollzog. Das Stück behandelt aber nicht nur seine Konflikte in Leben und Werk, sondern Probleme, die auch heute noch aktuell sind. Zum 100. Todestag von Leo Tolstoi: Und das Licht scheint in der Finsternis. Von Leo Tolstoi. Hörspielbearbeitung von Gerhard Ahrens. Produktion: DLF 2010. Ursendung. Deutschlandfunk, Samstag, 20. November 2010, 20.05 Uhr. Joël Pommerat gründete vor 20 Jahren die Compagnie Louis Brouillard. 20 selbstgeschriebene Theaterstücke brachte er bisher mit der Truppe zu Uraufführungen, stets unter eigener Regie. Der Saarländische Rundfunk hat viele seiner Stücke als Hörspiele adaptiert. So auch „Die Händler“. Es geht um die Beschäftigten einer ganzen Region, die von der Arbeit bei der Waffenfirma Norscilor leben. Auch eine junge Frau, alleinerziehende Mutter eines neunjährigen Sohnes, möchte bei dieser Firma arbeiten. Nun erscheint sie aber allen etwas seltsam. Auch Norscilor. Deshalb wird sie nicht eingestellt. Als eines Tages jedoch der Standort von Norscilor geschlossen zu werden droht, kann nur eine alle Arbeitsplätze retten. Die Händler. Von Joël Pommerat. Aus dem Französischen von Bettina Arlt. Produktion: SR 2008. SR2 Kulturradio, Donnerstag, 25. November 2010, 18.00 Uhr. Der liberale jüdische Arzt Bernhardi hindert im Wien um 1900 einen katholischen Priester daran, einer jungen Frau die letzte Ölung zu erteilen. Bernhardi möchte vermeiden, dass der Frau, die sich nach einer Abtreibung in einem kritischen Zustand befindet, bewusst wird, dass sie in Lebensgefahr schwebt. Eine antisemitische Kampagne gegen Bernhardis menschliche Entscheidung ist die Folge. Er erhält Berufsverbot und zwei Monate Kerkerhaft. Bernhardi wird zur Galionsfigur der Liberalen. Professor Bernhardi. Von Arthur Schnitzler. Produktion: DRS 1966. WDR 3 Bühne: Radio, Sonntag, 28. November 2010, 20.05 Uhr. Culturescapes China: Shanghai Lounge | Jin Xing Dance Theatre & Liquid Loft/Chris Haring 9 NOV 10 RMB City Opera | Cao Fei 11 & 12 NOV 10 Young Choreographer‘s Project | Zhang Mengqi, Xiao Ke, Tao Dance Group, He Yufan 16 NOV 10 Heiler werden | CapriConnection & Treatment | Living Dance Studio 17 & 19 NOV 10 Memory | Living Dance Studio 21 NOV 10 KASERNE BASEL / KLYBECKSTRASSE 1B / 4005 BASEL / SCHWEIZ / WWW.KASERNE-BASEL.CH 68 TdZ · November 2010 Linzers Eck (29) E inen Monat nach dem 20. Jahrestag der Beitrittszeremonie war nicht zu erwarten, dass der 21. Jahrestag der Demonstration auf dem Alexanderplatz öffentliches Interesse finden würde. Aber da warf Christoph Links, dessen Verlag sich – seriös und wissenschaftlich fundiert – an der Geschichte der DDR abarbeitet, ein Büchlein auf den Markt, das die Vorgeschichte der legendären Demo dokumentiert. Ein Tontechniker des Deutschen Theaters hatte am 15. Oktober 1989 die Veranstaltung mitgeschnitten, die von einer Gruppe Berliner Schauspieler (vom DT dabei Thomas Neumann, Johanna Schall, Jutta Wachowiak) als „Protestversammlung“ gegen die brutalen Übergriffe von Stasi und Polizei auf friedliche Demonstranten am 7. und 8. Oktober geplant war und mit dem Antrag auf Genehmigung einer Demonstration am 4. November endete. Der Archivar des DT, Hans Rübesame, hat erst später den unter Verschluss gehaltenen Mitschnitt entdeckt, ihn transkribiert, vom damaligen Moderator der Versammlung Thomas Neumann prüfen lassen, und Christoph Links hat ihn gedruckt, mit einem ausführlichen Vorwort des Herausgebers. Das ist ein ebenso erstaunliches wie auch anrührendes Dokument, das die gesellschaftliche Stimmung der Wendezeit, also der wundersamen Zeit der Anarchie zwischen dem 7. Oktober, dem aus dem Ruder gelaufenen 40. Jahrestag der Gründung der DDR, und dem 9. November, dem Tag der Maueröffnung, authentisch wiedergibt: den Zorn der Dagebliebenen auf die Agonie und den Zynismus der honeckerschen Gerontokratie (die den massenhaft Flüchtenden „keine Träne nachweiTdZ · November 2010 nen“ wollte), ihre Unsicherheit im Umgang mit der neuen, zwar herbeigesehnten, aber sie überfordernden Situation, ihre Hoffnungen auf einen Neuanfang – aber doch im Sinne eines reformierten, menschenfreundlichen Sozialismus. Noch galt: Wir sind das Volk! Noch nicht: Wir sind ein Volk! (Heiner Müller: Ich bin Volker.) Forderung der Alex-Demo war der Respekt vor den Artikeln 27 (Meinungsfreiheit) und 28 (Versammlungsfreiheit) der Verfassung der DDR, nicht der Ruf nach Artikel 23 des Grundgesetzes der BRD. Die Dokumentation der hitzigen, manchmal auch hektischen Diskussion im DT erinnert daran, dass es auch in den Großbetrieben der DDR gärte (Kollegen vom VEB BergmannBorsig meldeten sich zu Wort), dass es auch in anderen Kunstbereichen Protest gab, sich Widerstand regte (bei den Rockmusikern wie bei den bildenden Künstlern), dass das Neue Forum schon aktiv war (der von Jutta Wachowiak mitgebrachte Antrag auf Genehmigung einer Demonstration kam aus deren Reihen), sie erinnert auch daran, dass ein junger Rechtsanwalt, Gregor Gysi, professionelle Hilfe anbot, aber sie erinnert vor allem daran, dass es Theaterleute waren, die den Protest öffentlich machten und sich selber die „Bühne“, also den Alexanderplatz organisierten. Wobei es gewiss kein Zufall ist, dass die Initiative vor allem aus Theatern kam, die auch in ihrer Arbeit, mit ihren Projekten den Finger in die offenen Wunden des real existierenden Sozialismus gelegt hatten. Aus dem Deutschen Theater, wo Heiner Müller 1988 den „Lohndrücker“ inszenierte, auch gestützt durch die Autorität des Intendanten Dieter Mann; aus dem Maxim Gorki Theater, wo Thomas Langhoffs Inszenierung von Brauns Foto Holger Herschel Ich stelle den Antrag, die Demonstration zu beantragen oder Wie es zum 4. November 1989 kam. Eine Buchempfehlung „Übergangsgesellschaft“ die Zuschauer aktivierte; aus Dresden, wo Wolfgang Engel mit den „Nibelungen“ nicht nur die deutsche Vergangenheit befragte, wo in Christoph Heins „Ritter der Tafelrunde“ sich die abgewirtschaftete Altherrenriege der Partei abgespiegelt sah. Die Dresdner Resolution aus jenen Tagen „Wir treten aus unseren Rollen heraus“ war das wahrscheinlich klarsichtigste Pamphlet, das die Wende mit vorbereitete. An vielen Orten hatten Theaterleute politische Verantwortung übernommen – und damit auch ihren Beruf richtig verstanden, nicht nur passive Chronisten ihrer Zeit zu sein. Zeitgleich mit der Demo auf dem Alexanderplatz fand eine Kundgebung in Wittenberg statt, Theaterleute initiierten Demos in Dresden, Erfurt, Frankfurt (Oder), Karl-Marx-Stadt, Rudolstadt, in Schwedt dann am 19., in Schwerin am 20. November. Und heute? Da bin ich fast gerührt, wenn sich ein bekannter Fernsehkommissar auf die Seite der Gegner von „Stuttgart 21“ stellt. Und erfreut, wenn sich Berliner Theaterschaffende für den Erhalt des Kulturstandorts Thälmann-Park engagieren, auch wenn es da nicht um ihre eigenen Brötchen geht. Ich erwarte auch gar nicht mehr, dass die Schauspieler wieder auf die Straße gehen, wenn sie nur in ihrem Kerngeschäft, also auf der Bühne, Flagge zeigen würden. Aber das ist nun, mit meinem Kritikerkollegen Theodor Fontane zu reden, ein weites Feld. Martin Linzer Apropos, die Buchempfehlung: „Antrag auf Demonstration. Die Protestversammlung im Deutschen Theater am 15. Oktober 1989“, hrsg. von Hans Rübesame, Christoph Links Verlag, Berlin 2010, 156 Seiten, 19,90 EUR. 69 PREMIEREN 2010 | 2011 Eine Auswahl Oliver Kluck Warteraum Zukunft Nationaltheater Weimar, Schauspielhaus Salzburg, Junges Theater Göttingen – Pedro Almodovar / Samuel Adamson Alles über meine Mutter Theater Osnabrück – Philipp Löhle Die Überflüssigen Schauspielhaus Wien, ÖE – Ralf Westhoff Shoppen Winterhuder Fährhaus – Philipp Löhle Die Unsicherheit der Sachlage Theater St. Pölten, ÖE – Jordi Galceran Die Grönholm-Methode Schauspiel Essen, Noordtheater Antwerpen, BE, Volkstheater Wien, Theater Kanton Zürich – Laura de Weck Lieblingsmenschen Gostner Hoftheater – Lilian Groag Die weisse Rose Fritz-Rémond-Theater im Zoo, Stadttheater Bruneck – Oliver Schmaering Trailer für die nahe Zukunft Theater Plauen, UA – Moises Kaufman 33 Variationen Volkstheater Wien, Tournee des Euro-Studios Landgraf – Franca Rame / Dario Fo Offene Zweierbeziehung Theater der Jungen Welt Leipzig, Vereinigte Bühnen Bozen, Theater der Altmark Stendal – Volker Ludwig Linie 1 Theater Lüneburg, Schleswig-Holsteinisches Landestheater, Kammertheater Karlsruhe, Landestheater Linz – Holger Schober Clyde und Bonnie Theater Aachen, Theater Hagen, Theater Lübeck, Theater Schloss Maßbach, de Toneelmakerij – Mike Kenny Der Junge mit dem Koffer Hans-Otto-Theater Potsdam, DSE, Theater der jungen Welt Leipzig, Nationaltheater Mannheim – Jonas Hassen Khemiri Fünf mal Gott Theater Biel-Solothurn, DSE – David Pharao Der Gast Theater Krefeld-Mönchengladbach Bleibtreustraße 38/39 10623 Berlin Tel 030 28 49 76 0 Fax 030 28 49 76 76 [email protected] www.pegasus-agency.de www.verlag-autorenagentur.de 70 Große Liebe? Hans Fallada Kleiner Mann, was nun? Eigenbearbeitung möglich Nora Ephron / Marcy Kahan Harry und Sally 3D, 4H, Statisten Thomas Richhardt Bonnie und Clyde 1D, 2H Samuel Taylor Sabrina 5D, 5H, Nebendarsteller Eva Rottmann Eidechsen und Salamander 4D, 3H Jan Liedtke Kamikaze Pictures 1D, 2H, 1 Stimme Carole Fréchette Das kleine Zimmer im ersten Stock 4D, 1H, frei zur DSE Jonathan Harvey Beautiful Thing 2D, 3H Shaun McKenna Diktat der Leidenschaft 4D, 5H, frei zur DSE Hardenbergstraße 6 10623 Berlin Telefon 030-313 90 28 Telefax 030-312 93 34 [email protected] www.felix-bloch-erben.de TdZ · November 2010 Wo wird bei Ihnen gespart? Eine Frage und acht Antworten Baden-Württemberg: „Musterländle“ der Kultur Eigentlich versteht das Land derzeit nur Bahnhof – mit Blick auf „Stuttgart 21“. Was die Theateretats des Landes 2008 bis 2010 angeht, so wurden sie „nicht nur gehalten, sondern auch ausgebaut“, sagt Kulturstaatssekretär Dr. Dietrich Birk. Dennoch: Zwei Zitate aus dem „Musterländle“ der Kultur werfen Schlaglichter auf die disparate Situation. Während Hasko Weber, Intendant des Staatsschauspiels Stuttgart, das momentan für 24 Mio. Euro generalsaniert wird, meint, das, was das Land und Stuttgart derzeit für die Kultur und besonders für die Staatstheater leisten, sei „im bundesweiten Vergleich einzigartig“, gesteht Enrico Urbanek, Intendant der Reutlinger Kleinbühne Die Tonne, einer städtischen GmbH mit einem Etat von rund 900 000 Euro: Die Tonne ist nicht im Deutschen Bühnenverein, denn würde das Theater Tarif zahlen, „könnten wir gleich zumachen“. Otto Paul Burkhardt Hamburg: Zur Musical-Boomtown degeneriert „Hey Stuth, don’t make it bad“, protestieren und spotten die Kulturschaffenden in der Hansestadt Hamburg mit Galgenhumor über blamablen Politiker-Dilettantismus. Bürgermeister Ahlhaus und Kultursenator Stuth planen, die Subventionen des Deutschen Schauspielhauses um 1,2 Mio. Euro – die Hälfte des künstlerischen Etats – zu kürzen. Interimsintendant Jack Kurfess, ein erfahrener Rechner, sieht das größte deutsche Sprechtheater existenziell bedroht. Auch die Privatbühnen müssen mit Kürzungen in Höhe von 700 000 Euro ihrer gerade aufgestockten Förderung rechnen, denn um bis zu 10 Mio. Euro will die „Kulturmetropole des Nordens“ ihre Ausgaben für die Kunstinstitutionen senken. Eine Katastrophe für die endgültig zur Musical-Boomtown degenerierte Hansestadt. Klaus Witzeling Hessen: Alle wurden errettet! Aus Klaus Wowereits „Berlin ist arm, aber sexy“ macht Dieter Buroch, Frankfurts Mousonturm-Intendant: „Frankfurt ist heute nicht nur sexy, es hat auch das nötige Geld dazu.“ Recht hat er – und das gilt für die Rhein-MainTdZ · November 2010 Region gleich mit. Sogar neue Geldtöpfe wie der Kulturfonds Frankfurt Rheinmain sind aufgetaucht und finanzieren von Burochs erfolgreicher Tanzoffensive über die Studioförderung am Schauspiel Frankfurt bis zum Frankfurt-Lab manche Wunschkinder mit. Die Schließungen des TAT und von Ballett Frankfurt (2004–2005) sind fast so vergessen wie der Kulturdezernent, der sie umsetzte. Frankfurts Kulturpolitiker wollen ihr Theater und ihre Kultur. Wiesbaden und Darmstadt geht es ähnlich gut. Fast möchte man meinen, es sei doch noch eingetroffen, wovon William Forsythes Tänzer in ihrem Abschiedsstück 2005 nur träumen konnten: „In der letzten Sekunde der Ära dieses Prinzen ist ein Wunder passiert, und alle wurden errettet!“ Marcus Hladek Mecklenburg-Vorpommern: Ein vorprogrammiertes Fiasko! Im Nordosten Deutschlands scheint die Landespolitik noch mehr als anderswo zu glauben, sie allein bestimme die Konditionen, unter denen Theater gemacht werden kann. Eine bürokratische, phantasielose, die Kunst selbstherrlich missachtende Art und Weise des Umgangs mit den Theatern prägt die Kulturpolitik Mecklenburg-Vorpommerns. Die Theater sind in all diese Fusionsplanspiele gar nicht erst einbezogen worden. Die auf dem Papier bereits bestehenden „Kulturkooperationsräume“ – sinnlose Großstrukturen für einen Theaterverbund von Neubrandenburg bis Putbus – sind für die Kulturpolitik Mecklenburg-Vorpommerns das, was „Stuttgart 21“ für die Bahn ist. Ein vorprogrammiertes Fiasko! Gunnar Decker Niedersachsen: Die Szene lebt Schon fast beängstigend ruhig geht es in der niedersächsischen Kulturszene zu. Oder ist sie bereits in Todesstarre verfallen? Nein, nein: Die staatlichen Häuser in Hannover, Braunschweig und Oldenburg machen nach wie vor spannendes Theater. Und das größte kommunale Theater in Osnabrück macht ohnehin von sich reden – nicht weil Geld fehlt, sondern weil’s auf der Bühne rundgeht. Und als die Kulturverwaltung der freien Szene in der drittgrößten Stadt Niedersachsens an den Kragen wollte, formierte sich lautstarker Protest, und Die Kontrakte des Kaufmanns; Schauspiel Köln. Foto David Baltzer Aus den Korrespondentenbüros die Sparkommissare ruderten zurück. Ganz klar: Die Szene lebt. Ralf Döring Sachsen: Lieber beim „Provinztheater“ sparen Sächsische Finanzminister, angefangen bei Milbradt bis hin zu Unland, hätten die Landesbühnen Sachsen, die einzige deutsche Landesbühne in reiner Landesträgerschaft, schon immer gern der Kommune aufgehalst. Der Haushaltentwurf 2011/12 macht damit Ernst: Lieber beim „Provinztheater“ eine Sparte schließen, als die acht Kulturräume für die Mitfinanzierung der Landesbühnen nun 7 Mio. Euro abgeben zu lassen. Michael Bartsch Sachsen-Anhalt: Ebbe und etwas Hub In Sachsen-Anhalts Kassen herrscht Ebbe, mit Hoffnung auf ein wenig Hub: Während der Intendant des Anhaltischen Theaters in Dessau, André Bücker, Hoffnung schöpft, städtische Kürzungen ab 2013 noch rechtzeitig abwehren zu können, ist es in Halle fünf vor zwölf. Das Thalia Theater, größtes Kinder- und Jugendtheater des Landes, soll geschlossen werden. Wenn nicht kurzfristig ein Haustarifvertrag zustande kommt, sogar bereits zum Ende der laufenden Spielzeit. Christian Horn Schleswig-Holstein: Fällt der Vorhang endgültig? „Rettet das Landestheater“, schallt der Hilferuf durch Schleswig-Holstein. Bastelt die Verwaltung in Kiel zunächst noch vorsorglich an Szenarien, wie das Theater Kiel nach 2012 dastehen würde, wenn bis zu 3 Mio. Euro an Subventionen eingespart werden müssten, so könnten zu diesem Zeitpunkt in den drei Landesbühnen mit 950 Beschäftigten die Lichter bereits ausgegangen sein. Der neue Intendant des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters Peter Griesbach muss mit einer Finanzierungslücke von 600 000 Euro starten und sieht 2012 den Vorhang endgültig fallen, wenn sich das Land weiterhin weigert, die Tariferhöhungen auszugleichen. Klaus Witzeling 71 Heiner Goebbels wird nach einer Entscheidung der Kultur Ruhr GmbH neuer Intendant der Ruhrtriennale für die Spielzeit 2012 bis 2014. Der 58-Jährige leitet das Institut für angewandte Theaterwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Bonn und komponiert und inszeniert Hörstücke, Konzerte, Stücke für Ensembles und Musiktheaterstücke. Dem Theaterregisseur Christoph Schroth wurde für sein berufliches Engagement das Bundesverdienstkreuz verliehen. Schroth arbeitete am Maxim Gorki Theater und inszenierte an der Berliner Volksbühne und am Landestheater Halle/ Saale. 1974 bis 1989 war er Direktor des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin, bevor er für zwei Jahre zum Berliner Ensemble ging. 1992 bis 2003 war er Intendant des Staatstheaters Cottbus. Seither ist er Freiberufler. Ebenfalls ausgezeichnet wurden der Filmregisseur Fatih Akin und die Schauspielerin Katja Riemann. Die Hamburger Kultursituation spitzt sich zu: Nachdem Schauspielhaus-Intendant Schirmer wegen der angekündigten Einsparungen um 330 000 Euro Ende September zurückgetreten ist und die Kürzungssumme von Senator Stuth auf 1,2 Mio. Euro nach oben korrigiert wurde, formiert sich in der Stadt eine stärker werdende Protestbewegung. Während der Uraufführung von Volker Löschs „Hänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg“ ging das Stück in eine Auflehnungsbekundung vieler Bühnenangehöriger über und erweckte Zustimmung seitens des Publikums. Mit Musikern, Künstlern und Bürgern der Stadt soll in den kommenden Wochen der Protest gegen die Einsparungen organisiert werden. BRUT IM +~NSTLERHAUS UND /KTOBER UND .OVEMBER 5HR Doris Uhlich 2ISING 3WAN brut im Konzerthaus 11. bis 14. November, 20 Uhr Dramatikerinnen und Dramatiker aus ganz Europa sind aufgefordert, neue Stücke für den Stückemarkt des Theatertreffens 2011 einzusenden. Unter dem Motto „Erkenne dich selbst, verrate den anderen“ werden Texte gesucht, die zu den Schieflagen unserer Gegenwart Stellung beziehen und neue Impulse für das Theater liefern. Der Stückemarkt verleiht zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung den mit 5000 Euro dotierten Förderpreis für neue Dramatik und den mit 7000 Euro dotierten Werkauftrag des tt Stückemarkts. Bewerbung bis 01.12. unter: www.stueckemarkt.de Leichter Besucheranstieg für staatliche und städtische Theater in der Spielsaison 2008/09: Laut Statistik des Deutschen Bühnenvereins hatten die Stadt-, Staatstheater und Landesbühnen 1,7 Prozent mehr Besucher als in der Vorsaison. Die Gesamtbesucheranzahl für alle Theater und Orchester lag bei etwa 31,1 Mio. Die Zahl der Mitarbeiter, der Abendgäste und der produktionsbezogenen Gastverträge nahm ebenfalls zu. Die Statistik umfasst die Angaben von 144 Stadtund Staatstheatern, Landesbühnen, 129 Orchestern, 196 Privattheatern und 33 Festspielbetrieben. Der Aufsichtsrat der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle hat am 8. Oktober die Schließung des Thalia Theater beschlossen. Um die Umsetzung des Beschlusses hinauszuzögern, sprach sich der Aufsichtsrat gleichzeitig für die Aufnahme von Haustarifvertragsverhandlungen aus. Im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen wird das Thalia Theater zum Ende der Spielzeit 2010/2011 geschlossen und das Ensemble aufgelöst. brut im Künstlerhaus .OVEMBER BIS $EZEMBER 5HR 05331.808-417 Wie erst jetzt bekannt wurde, starb nach langer Krankheit am 17. August in Bremen die Begründerin des Litag Theaterverlags Angela Kingsford Röhl. Nach mehreren Engagements als Schauspielerin und Dramaturgin gründete sie 1978 den Verlag, mit dem sie speziell englischsprachige, aber auch deutsche und später auch israelische Stücke des zeitgenössischen Theaters aufnahm. Der Schweizer Schauspieler Renato Grünig, der die Bremer Shakespeare Company mitbegründet und die Kulturszene der Stadt geprägt hat, ist am 28. September im Alter von 64 Jahren gestorben. Grünig stand mehr als 30 Jahre lang mit der Shakespeare Company, aber auch im Theater am Leibnitzplatz und bei mehreren Gastspielen in ganz Europa auf der Bühne. Seit 2007 war er Mitglied des Ensembles des Lübecker Theaters. Erratum Die Übersetzung des Textes „Ein Stern für die Schiffbrüchigen“ (10/10, S.43) aus dem Französischen stammt von Kira Taszman. Gin/i Müller brut im Künstlerhaus 18. bis 20. November, 20 Uhr Who shot the Princess? "OXSTOP 4ELENOVELAS TESTAMENT She She Pop und ihre Väter Verspätete Vorbereitungen zum Generationswechsel nach Lear Ann Liv Young #INDERELLA brut im Konzerthaus: 11. bis 14. November BRUT IM +~NSTLERHAUS&OYER .OVEMBER BIS $EZEMBER JEWEILS 5HR 2OBERT 3TOLZ0LATZ BIS .OVEMBER Club Real $ER GELIEBTE &EIND %INE 3TADTINTERVENTION ZUR ySTERREICHISCH türkischen Wunschbeziehung Katarzyna Kozyra Opowieść letnia/Summertale www.brut-wien.at 72 Bühnenlicht mit einfachen Mitteln und unter schlechten Bedingungen in nichttheatralen Räumen www.bundesakademie.de MELDUNGEN Koproduktionshaus Wien GmbH +ARLSPLATZ ! 7IEN TdZ · November 2010 PREMIEREN DEUTSCHLAND Bamberg E. T. A.-Hoffmann-Theater H. Darjes/C. Alexander: Shakespeare in Trouble (B. Tauber, 20.11.) Berlin Ballhaus Naunynstrasse O. Pamuk: Schnee (H. S. Mican, 25.11.) Berliner Festspiele T. Williams: Un Tramway (K. Warlikowski, 20.11.) Box BrotfabrikBühne Berlin Silflay: Die Schildkröte und der Wunschfelsen (Silflay, 07.11.); M. TiMaru: Shirokurochan (M. Kondo/T. Longo, 25.11.); J. Capek: Winterzeit bei Hündchen und Kätzchen (K. Balsevicius, 28.11.) Deutsches Theater S. Kaminski: Kaminski on Air: Es kam von oben (S. Kaminski, 07.11.); Junges Deutsches Theater: Corpus (G. Herrbold/B. Tornau, 11.11.); O. Kluck: Warteraum Zukunft (S. Solberg, 13.11.); R. Schimmelpfennig: Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes (M. Kušej, 19.11., DEA); S. Berg: Nur Nachts (R. Sanchez, 26.11.) Hebbel am Ufer (HAU) H. Kroesinger: Black Water. Private Military Companies (H. Kroesinger, 04.11., UA); C. Kondek/C. Kühl: Money – It came from outer space (13.11., UA) Schaubühne am Lehniner Platz M. v. Mayenburg: Perplex (M. v. Mayenburg, 20.11., UA) Theater an der Parkaue n. S. Prokofjew: Peter und der Wolf (norton.commander.productions, 16.11.) Theater Thikwa K. Valentin/L. Karlstadt: Sturzflug – Lachforschung mit Texten von Karl Valentin (G. Hartmann, 25.11., UA) Theater und Komödie am Kurfürstendamm P. Quilter: Glorious (M. Woelffer, 07.11.); T. Firth: Kalender Girls (M. Woelffer, 27.11., DEA) Theater unterm Dach G. Heym: Heymweh (C. Clemens, 11.11.) Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz W. Mehring: Der Kaufmann von Berlin (F. Castorf, 18.11.) Bochum Prinz Regent Theater H. W. Henze/P. M. Davies: Der Idiot/Eight Songs for a Mad King (S. Broll-Pape, 18.11.) Bundesbühne Bochum K. Wiefel: Cortés – The Killer (D. Schwantes, 04.11.) Bonn Theater Bonn E. Kästner: Pünktchen und Anton (F. Heuel, 06.11.); H. Ibsen: Hedda Gabler (K. Weise, 13.11.) Braunschweig Staatstheater Braunschweig F. Zorn: Mars (H. Koffler, 05.11.); M. Jinghui: Lebensansichten zweier Hunde (M. Becker, 20.11., DEA) Bremerhaven Stadttheater Bremerhaven F. Schiller: Maria Stuart (K. Uttendorf, 06.11.) Bruchsal Badische Landesbühne A. Ayckbourn: Doppeltüren (Jü. Lingmann, 18.11.) Cottbus Staatstheater Cottbus W. Shakespeare: König Lear (M. Holetzeck, 20.11.) Darmstadt Staatstheater Darmstadt B. Erasmy: Supernova (H. Schein, 21.11., UA) Dresden Dramaten G. Büchner: Woyzeck (V. Metzler, 20.11.) Eisleben Landesbühne Sachsen-Anhalt Lutherstadt Eisleben J. Schwarz: Die verzauberten Brüder (P. Kube, 25.11.) Frankfurt a. M. Schauspiel Frankfurt N. Stockmann: Die Ängstlichen und die November 2010 Fürth Gera Göttingen Halle Hamburg Hannover Heidelberg Heilbronn Hildesheim Karlsruhe Kassel Kiel Koblenz Brutalen (M. Kloepfer, 12.11., UA); A. Lindgren: Ronja Räubertochter (M. Schönfeldt, 13.11.); Showcase Beat Le Mot/n. B. Grimm: Die Bremer Stadtmusikanten (Showcase Beat Le Mot, 23.11.) Theater Willy Praml n. J. W. Goethe: Faust 1. Solo. Goethe (W. Praml/M. Weber, 19.11.) Stadttheater Fürth C. Schidlowsky/A. Maar: Luzi und die Tanten (C. Schidlowsky, 20.11., UA) TPT Theater & Philharmonie Thüringen n. H. C. Andersen/H. Gehlen/E. Gehlen: Die Schneekönigin (A. Zacek, 26.11.) Junges Theater Göttingen A. d. Bont: Mutter Afrika (G. Grünewald, 11.11.); Die Berater (Ensemble des Jungen Theaters, 27.11.) Neues Theater Halle W. Shakespeare: Der Sturm (C. Werner, 13.11.); S. v. Lohuizen: Der Junge im Bus (O. Lisewski, 23.11.); R. Dresser: Wonderful World (H. Frank, 26.11.) Thalia Theater Halle G. Hänel/n. B. Grimm: Brüderchen und Schwesterchen (M. Sostmann, 17.11.); G. Stein: Die Welt ist rund (G. Hänel, 25.11.); R. Dahl: Sophiechen und der Riese (T. Richter, 27.11.) Hamburger Kammerspiele T. Holman/T. v. Gogh: Das Interview (H. Bock, 14.11.) Thalia Theater n. C. Funke/R. Koall: Steinernes Fleisch (M. Storman, 03.11.); n. B. Grimm: Der gestiefelte Kater (W. Sprenger, 07.11.); R. Schimmelpfennig: Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes (W. Minks, 20.11.); n. H. Hegemann: Axolotl Roadkill (B. Kraft, 21.11.); W. Shakespeare: Was ihr wollt (J. Bosse, 27.11.) Schauspiel Hannover lunatiks produktion: Die Welt ohne uns (III): Wachsen oder Weichen – Drei Jahre nach Ende der Menschheit (lunatiks produktion, 04.11., UA); E. Kästner: Das doppelte Lottchen (F. Fiedler, 14.11.); A. Ayckbourn: Ab jetzt (T. Kühnel, 20.11.) Theater und Philharmonisches Orchester der Stadt Heidelberg M. Scheye: Medicament (A. Milstein, 14.11., UA); J. v. Düffel/n. J. Swift: Gullivers Reise (A. Büschelberger, 20.11., UA); n. R. Schamoni: Dorfpunks (T. Schweigen, 28.11.) Theater Heilbronn D. Isitt: Gatte gegrillt (C. Marten-Molnár, 13.11.); S. Sinclair/A. McCarten: Ladies Night (T. Rese, 19.11.) TfN • Theater für Niedersachsen M. McKeever: Der süßeste Wahnsinn (Jö. Gade, 06.11.) Badisches Staatstheater Karlsruhe n. B. Grimm/T. Goritzki: Der gestiefelte Kater (T. Goritzki, 07.11.); E. Palmetshofer: hamlet ist tot. keine schwerkraft (F. v. Hoermann, 25.11.); A. Tschechow: Der Kirschgarten (J. Lepper, 27.11.) Staatstheater Kassel J. Schwarz: Die verzauberten Brüder (P. Seuwen, 17.11.); E. Labiche: Das Sparschwein (V. Schmalöer, 27.11.) Schauspielhaus F.-L. Engel / n. H.-Chr. Andersen: Die kleine Meerjungfrau (F.-L. Engel, 20.11., UA); H. Ashman / A. Menken: Der kleine Horrorladen (A. Kloos, 27.11.) Theater der Stadt Koblenz T. Reffert/n. B. Grimm: König Drosselbart (C. Göbel, 20.11.) 3UIXQJVWHUPLQH XQG ,QIRUPDWLRQHQ ]XU $QPHOGXQJ VLQG DXI XQVHUHU ,QWHUQHWVHLWH ]X ¿QGHQ · KWWSZZZ]KGNFK"GGN :JOH\ZWPLS ¶ 9LNPL ¶ ;OLH[LYWpKHNVNPR :aLUVNYHÄL) OULUIPSK ¶ +YHTH[\YNPL · 4P[ (IZJOS\ZZ )HJOLSVY \UKVKLY 4HZ[LY VM (Y[Z PU ;OLH[LY TdZ · November 2010 73 Mehr Leben mit Kultur Berlins größte Buchauswahl erwartet Sie Friedrichstraße Friedrichstraße 90 . 10117 Berlin www.kulturkaufhaus.de Fon: 030 - 20 25 11 11 Montag-Samstag 10-24 Uhr Köln Krefeld Leipzig Lüneburg Mannheim Meiningen Orangerie wehrtheater: Spiegelungen (A. Bleikamp, 12.11., UA); I. Pratama: Nostalgie einer Stadt (K. Szabo, 17.11.) Studiobühneköln All Inclusive – Eine Tourismus-Trilogie (Jö. Fürst, 10.11., UA) Theater der Keller M. Becker: Meier, Müller, Schulz oder nie wieder einsam (P. M. Gehle, 05.11.); D. Loher: Blaubart – Hoffnung der Frauen (E. Baumeister, 12.11.) Theater Krefeld G. Büchner: Lenz (F. Hänig, 18.11.); G. Büchner: Woyzeck (M. Gehrt, 25.11.) Centraltheater Leipzig n. T. Mann: Der Zauberberg (S. Hartmann, 06.11.); F. Kater: we are blood (S. Hawemann, 19.11.) Spinnwerk R. Gehn: Kein Ort (R. Gehn, 05.11.) Theater der Jungen Welt J. Krüss/M. Firlus: Timm Thaler (K. Lehmann, 27.11., UA) Theater Lüneburg O. Preußler: Das kleine Gespenst (S. Bahnsen, 27.11.) Nationaltheater Mannheim T. Walser/K. H. Ott: Die ganze Welt (B. C. Kosminski, 20.11.) Das Meininger Theater – Südthüringisches Staatstheater G. Büchner: Leonce und Lena (S. Wirnitzer, 04.11.); D. O. Hanke: Weihnachten im Zelt – ein Theaterzirkus (A. Altaras, 26.11., UA) Theaterhalle E. Bell/n. C. Collodi: Pinocchio (J. Jensen, 11.11., UA) Mönchengladb. Theater Mönchengladbach L. Jordan: Cowboys und Prinzessinnen – Folge 2 (D. Schwantes, 17.11.) München Münchner Volkstheater H. Ibsen: Ein Volksfeind (B. Bruinier, 25.11.) TamS-theater B. Fassnacht: VIRGIN WOOL (H. Schneider, 04.11., UA) Münster Städtische Bühnen Münster D. Böhling/n. G. v. Bassewitz: Peterchens Mondfahrt (M. Kopf, 21.11.) Neuss Rheinisches Landestheater Neuss J. Kander/F. Ebb: Cabaret (B. Jahnke, 20.11.) Nürnberg Staatstheater Nürnberg S. Berg: Nur Nachts (S. Khodadadian, 11.11., DEA); F. Schiller: Kabale und Liebe (C. Mehler, 12.11.) Oberhausen Theater Oberhausen n. E. Ronstand/J. Roets/G. Vissers: Cyrano (B. Mannes, 07.11.); A. Lindgren: Mio, mein Mio (M. Storman, 20.11.) Oldenburg Oldenburgisches Staatstheater A. Sommer-Bodenburg: Der kleine Vampir (I. Putz, 14.11.); B. Wegenast: Erwin und Frosch (G. Vierhuff, 28.11.) Osnabrück Theater Osnabrück S. Beckett: Das letzte Band (D. Nieder, 14.11.) Radebeul Landesbühnen Sachsen J. W. Goethe: Faust I (A. Retzlaff, 13.11.); J. Neumann: goldfischen (M. Mienert, 25.11.) Rostock Volkstheater Rostock U. Hub: Nathans Kinder (A. Straube, 04.11.); n. T. Storm/K. Wuschek: Der Schimmelreiter (K. Wuschek, 19.11.); n. F. Wolf/P. Ensikat: Die Weihnachtsgans Auguste (T. Heilmann, 26.11.) Rudolstadt Theater Rudolstadt J. M. Synge: Der Held der westlichen Welt (H. Olschok, 20.11.); N. Ebel: Ox und Esel (M. Kliefert, 27.11.) Schwerin Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin C. Gellrich: Fressen Lieben Kotzen (M. Wünsch, 05.11.) Stuttgart Altes Schauspielhaus und Komödie im Marquardt F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame (V. Kamm, 04.11.); J. Popplewell/M. Hirschle: Koi Leich’ ohne d’Lilly (S. Stroebele, 12.11.); E. E. Schmitt: Oskar und die Dame in Rosa (C. H. Voss, 19.11.); L. F. Baum: Der Zauberer von Oz (I. A. Keppel, 24.11.) Moers THEATERTREFFEN 06. BIS 22. MAI 2011 t t TALENTE GESUCHT ! STÜCKEMARKT NEUE STÜCKE GESUCHT ! INTERNATIONALES FORUM THEATERMACHER GESUCHT ! Dramatiker / innen und Theaterverlage aus ganz Europa sind aufgerufen, neue, noch nicht aufgeführte Stücke in allen europäischen Sprachen einzusenden. Eine Jury wählt acht Autoren aus, fünf Texte werden in szenischen Lesungen präsentiert, drei weitere Autoren zum Dramatikerworkshop eingeladen. Der Stückemarkt vergibt den »Förderpreis für neue Dramatik« und den »Werkauftrag«, Deutschlandradio Kultur wählt ein Stück als »Theatertext als Hör- Das Internationale Forum (08. bis 22. Mai 2011) ist ein zweiwöchiges, international ausgeschriebenes Programm für professionelle Theatermacher. Es beinhaltet neben den Workshops Besuche der TheatertreffenAufführungen sowie Werkstattgespräche. spiel« aus. ALLE WEITEREN LÄNDER INFORMATIONEN ab Dezember 2010 www.goethe.de /internationalesforum bis 15. 01. 2011 www.theatertreffen-blog.de | www.theatertreffen-berlin.de BEWERBUNG DEUTSCHLAND UND ÖSTERREICH www.internationales-forum.de bis 31. 01. 2011 SCHWEIZ THEATERTREFFEN-BLOG INTERNATIONALE KULTUR-BLOGGER GESUCHT ! Debatten im Netz kennen keine Grenzen. Die dritte Ausgabe des Theatertreffen-Blogs lädt deutsch-, englisch- und spanischsprachige Blogger bis 35 Jahre ein, das Theatertreffen 2011 zu begleiten. Es gilt, neue Feuilletonformate zu erproben, die sich multimedial und vielseitig mit dem Theatertreffen sowie aktuellen kulturellen Themen auseinandersetzen. www.prohelvetia.ch bis 31. 01. 2011 BEWERBUNG kontakt: uwe.goessel @ berlinerfestspiele.de kontakt: theatertreffen @ berlinerfestspiele.de www.stueckemarkt.de bis 01. 12. 2010 Telefon +49 (0) 30 254 89-128 Telefon +49 (0) 30 254 89-233 kontakt: yvonne.buedenhoelzer @ berlinerfestspiele.de Telefon +49 (0) 30 254 89-318 74 Das Theatertreffen wird gefördert durch die TdZ · November 2010 Theater Trier P. Turrini: Josef und Maria (F. Burg, 17.11.) Zimmertheater Tübingen B. Kohlhepp/A. Krauße: Macht hoch die Tür (A. Krauße, 06.11.) Ulm Theater Ulm C. Sternheim: Bürger Schippel (P. Jescheck, 18.11.); M. Bartlett: Nachwehen (M. Kaiser, 19.11.) Wasserburga.I. Belacqua Theater H. v. Kleist: Der zerbrochne Krug (A. Segerer, 26.11.) Weimar Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle Weimar O. Kluck: Kluck-Labor (C. Meyer, 12.11., UA); n. J. Swift/J. v. Düffel: Gullivers Reise (M. Diaz, 13.11., UA) Wilhelmshaven Landesbühne Niedersachsen Nord L. Hall: Kunst statt Kohle (J. Steinbach, 20.11., DEA); W. Menge: Ein Herz und eine Seele, Folge 11 (A. J. Fündeling, 27.11.) Theater am Meer S. Keck: Wi Rockt op Platt Episode twee (A. Preuß, 05.11.) Wuppertal Wuppertaler Bühnen D. Kelly: Liebe und Geld (P. Wallgram, 12.11.) Zittau Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau E. d.: Tiefland (K. Arauner, 06.11.); n. B. Nemcová: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (T. Quaas, 27.11. PREM P REM IO IO ÖSTERREICH Graz Innsbruck Linz St. Pölten Wien SCHWEIZ Basel Luzern St. Gallen Zürich Schauspielhaus Graz Der Fall Dorfrichter Adam (B. Nikitin, 27.11., UA) Tiroler Landestheater H. Hirzenberger: Von einem anderen Stern (H. Hirzenberger, 21.11., UA) Landestheater Linz n. B. Grimm/A. Proto: Rumpelstilzchen (V. Koch, 14.11.); W. Shakespeare: Der Widerspenstigen Zähmung (K. Hiller, 18.11.) Landestheater Niederösterreich R. L. Stevenson: Die Schatzinsel (A. Hochholdinger, 27.11., ÖEA) Schauspielhaus Wien Franzobel: Die Pappenheimer oder das O der Anna O. (J. Gockel, 04.11., UA) TAG – Theater an der Gumpendorfer Straße P. tefan: The Sunshine Play (K. Cherif, 17.11., DEA) Volkstheater Wien B. Brecht: Herr Puntila und sein Knecht Matti (T. Schulte-Michels, 19.11.) Theater Basel F. Loewe: My fair Lady (T. Ryser, 11.11.); C. Marthaler: Meine faire Dame – Ein Sprachlabor (C. Marthaler, 12.11.); J. Spyri: Heidi (F. Klepper, 18.11.) Luzerner Theater Playstation: Familie (C. Friedrich, 18.11.) Kellerbühne St.Gallen A. Tabucchi: Die drei letzten Tage des Fernando Pessoa (J. v. Jascheroff, 17.11., SEA) Theater St. Gallen Ö. v. Horváth: Der jüngste Tag (T. Kramer, 12.11.) Schauspielhaus Zürich n. M. Frisch: Stiller (H. M. Goetze, 10.11.); J. Tardieu: Der Schalter (A. Munteanu Rimnic, 18.11.) Theater Winkelwiese J. Schrettle: fliegen/ gehen/ schwimmen (H. Steffen, 13.11.) FESTIVAL Fernsehturm Autorenprojekt: 6 and the City 5 (S. Bruckmeier, 01.11., UA) Staatstheater Stuttgart G. E. Lessing: Emilia Galotti (B. Brüesch, 04.11.); G. Kaiser: Von morgens bis mitternachts (N. Mattenklotz, 20.11.); F. Günther/n. W. Shakespeare: Was ihr wollt (C. Weise, 23.11.) Theater Rampe R. Rudoll: Papas in Motion (S. Bruckmeier, 10.11.); S. Hof/J. Zipf: Der Krieger erwacht (J. Zipf/S. Hof, 26.11., UA) Uraufführungs-P Uraufführungs P Produktion DEUTSCHLAND Berlin Bielefeld Dresden Leipzig Münster Potsdam Berliner Festspiele spielzeit´europa (11.11.–21.12.) Theaterlabor im Tor 6 360° (30.10.–06.11.) Theater Junge Generation Frühe Kindheit (04.11.–07.11.) euro-scene Leipzig (02.11–07.11.) Städtische Bühnen Münster HALBSTARK (03.11.–10.11.) Hans Otto Theater Internationales Theaterfestival UNIDRAM (29.10.–06.11.) Weitere Ver anst alt un gen im November und im Schl achthaus: www.schl achthaus .ch S a 3 0 . 1 0 . ( P re m i e re ) , M i 3 . 1 1 . , D o 4 . 1 1 . , Fr 5 . 1 1 . , S a 6 . 1 1 . / j e w e i l s 2 0 : 3 0 ©'HU UXQGHUUH 0RQG ፋ ፋ 7DJHEFKHUU GHU %UlXWHª Eine Theaterrrecherche von Kefei Cao C und Mats Staub (Peking/Bern) ( Mit: Wenmin Jowanka Zhang, Z Qin Streller-Shen, Cao Maan, Xu Qin Hauser, Tingshan Cav velty, Sebastian Krähenbühl und dem Chiao-Aii Chor. Produktion: Peter-Jakob Kelting, K North By North West Ku ulturprojekte (Basel). In Koproduktion mit:: Schlachthaus Theater Bern, Kleeintheater Luzern und Beijing Co ome&Go Center fo for Arts. In Kooperation mit dem d Theater Roxy Basel. TdZ · November 2010 75 PREMIEREN Trier Tübingen MUT ZUR FREIHEIT DSE Steinbeck Miller JENSEITS VON EDEN Sarantos Zervoulakos TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN Pamuk Felix Rothenhäusler SCHNEE DSE Becker Martin Süß JAKOB DER LÜGNER Martin Nimz UA Rottmann UNTER JEDEM DACH (EIN ACH) UA Nunes, Bauer & Kahnwald Dominique Schnizer DON´T WANNA DIE WATCHING SPIDERMAN 3 Schamoni Antú Romero Nunes DORFPUNKS Tomas Schweigen Theaterpartnerschaft FAMILIENBANDE Akin UA Scheye GEGEN DIE WAND MEDICAMENT Mareike Mikat Avishai Milstein DSE Edelstein, Milshtein UA BERG THE PEACE SYNDROME Timo Krstin UA Stockmann UA Šagor EXPEDITION & PSYCHIATRIE MY FATHER Nis-Momme Stockmann THEATER.HEIDELBERG www. .de www.buergerkomitee.info/aktuell-baustelle.htm Gil’ad Kimchi HOTEL POST HIDDENSEE A P PA RT E M E N T S · S U I T E N Wiesenweg 26 D-18565 Vitte /Hiddensee Telefon 03 83 00/64 30 · Fax 6 43-33 E-Mail: [email protected] www.hotel-post-hiddensee.de 76 TdZ · November 2010 Foto: Daniel Josefsohn Theater Marie von: Samuel Beckett mit: Insassen der JVA Lenzburg Öffentliche Aufführungen 25. und 27. November in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg 78 Theater Marie Aarau [email protected] www.theatermarie.ch TdZ · November 2010 Michael Bartsch, Journalist, Autor und Kritiker, Dresden Simone von Büren, freie Autorin, Bern Otto Paul Burkhardt, Kritiker, Tübingen Ralf Döring, Kulturredakteur, Osnabrück Gerwig Epkes, Hörfunkredakteur, Baden-Baden Friederike Felbeck, Kulturjournalistin, Düsseldorf Nicole Gronemeyer, Lektorin, Berlin Ralph Hammerthaler, Autor, Berlin Markus Hladek, Kritiker, Schwalbach/Taunus Christian Horn, Kritiker, Leipzig Renate Klett, Theater- und Tanzkritikerin, Berlin Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur, München Martin Linzer, Kritiker, Berlin Mehdi Moradpour Sardehaie, Theaterwissenschaftler, Hispanist und Übersetzer, Berlin Ute Müller-Tischler, Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin, Berlin Gerrit Münster, Theaterwissenschaftler, Karlsruhe Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Patrick Primavesi, Theaterwissenschaftler, Leipzig Bianca Schillinger, Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaftlerin, Konstanz Anna Schughart, Literatur-und Politikwissenschaftlerin, Konstanz Judith Staudinger, Kritikerin, Wien Holger Teschke, Schriftsteller und Regisseur, Berlin Patrick Wildermann, Theaterkritiker, Berlin Klaus Witzeling, Kritiker, Hamburg IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik Herausgegeben von der Interessengemeinschaft Theater der Zeit e.V., Berlin Redaktionsanschrift Im Podewil, Klosterstraße 68, 10179 Berlin, Tel (030)24722414 / Fax (030)24722415 Redaktionsleitung Harald Müller (V.i.S.d.P.), Dr. Frank Raddatz Redaktion Dorte Lena Eilers, Lena Schneider, Sebastian Kirsch, Dr. Gunnar Decker (030)24722414 / (030)24630950, [email protected] Mitarbeit Jana Fröbel (Korrektur), Denise Czerny (Hospitanz) Verlagsleitung Harald Müller (030)24749809, [email protected] Verlagsbeirat Dr. Friedrich Dieckmann, Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte, Prof. Heiner Goebbels, Martin Linzer, Dr. Johannes Odenthal, Kathrin Tiedemann Anzeigen (030)2423626, [email protected] Gestaltung Sonja Hennersdorf, Avenir Medienbüro, Berlin Bildbearbeitung Margret Kowalke-Paz Marketing /PR Paul Tischler (030)2423626, [email protected] Abo / Vertrieb Ramona Griebel (030)2423688, [email protected] Einzelpreis € 7,– / CHF 14,– Jahresabonnement € 70,– / CHF 140,– / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,–/ CHF 45,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: TASTOMAT Druck, Eggersdorf gedruckt auf Recycling-Papier 65. Jahrgang. Heft Nr. 11, November 2010. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 7.10.2010 www.theaterderzeit.de 79 TdZ · November 2010 IMPRESSUM Autoren 80 Vorschau Nina Hoss. Foto Bresadola/drama-berlin.de Irgendetwas läuft da doch völlig schief. Während sich deutsche Politiker auf die Schultern klopfen, wie toll sie die Finanzkrise gemeistert haben, und auch international ganz stolz aus der Wäsche schauen, wird unterm Kassentisch in Deutschland kräftig zugetreten. Leidtragende ist die Kultur. Schauspielhaus Hamburg, Oper Leipzig, nun das Thalia Theater in Halle. Ein Betrieb nach dem anderen springt über die Finanzklinge der Stadt- und Landespolitiker. Nur ein regionales Problem? Von wegen. Anfang des Jahres war es, von manchen inzwischen fast vergessen, das Goethe-Institut, dem der Bund die Mittel empfindlich kürzte. Nun ein Drama in Halle: Im Februar 2010 wurden die Tariferhöhungen des öffentlichen Dienstes beschlossen. Rolf Stiska, Geschäftsführer der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle, wusste spätestens seitdem, dass steigende Löhne sein Budget für die Spielzeit 2010/11 sprengen. Das Kürzungsbeil wollte er jedoch durch den Aufsichtsrat fallen lassen, unter Vorsitz der Politik. Am 8. Oktober dann der Beschluss: Schließung des Thalia Theaters, des größten Kinder- und Jugendtheaters in SachsenAnhalt, Ende dieser Spielzeit. Sollte ein Haustarifvertrag doch noch zustande kommen, schließt man erst, wenn dieser abgelaufen ist. Den famosen Schlusssatz dieses Verwaltungslangweilers sprach die Aufsichtsratsvorsitzende und Bürgermeisterin der Stadt Halle, Dagmar Szabados (SPD): „Für mich hat der Haustarifvertrag absoluten Vorrang gegenüber der Umsetzung einer schnellen Schließung.“ Ach? Allerdings: All das ist eigentlich nur folgerichtig. Politiker, die nicht in der Lage sind, halb so kreative Lösungen in der Kulturpolitik zu entwickeln, wie sie dies für die Finanzpolitik tun – Stichwort: Bad Bank –, müssen die Konsequenzen ziehen. Punkt, Absatz, zwei Häkchen. Die Frage ist aber auch, wie sich der Kulturbetrieb demgegenüber verhalten soll. Vor wenigen Wochen ist in Hamburg der Intendant des Schauspielhauses Friedrich Schirmer demonstrativ von Bord gegangen, weil er sein Haus massiv unterfinanziert sah. Zugegeben, etwas kurzfristig. Auch innerhalb der Theaterfamilie kritisierte man ihn heftig. Doch warum sollte ein Theaterprofi wie er sich einem Unternehmen verschreiben, das ihm aussichtslos erscheint? Hat er mit seinem Abgang wirklich im strategischen Sinne dem Haus und seinen Mitarbeitern geschadet? Von keinem Arbeitnehmer, von keinem Manager wird ein Bleiben in solchen Momenten verlangt. Die Politik spekuliert auf diesen selbstauferlegten Moralanspruch der Treue von Theaterkünstlern zu ihren Häusern. Annegret Hahn, Intendantin des Thalia Theaters Halle, hat mit ihrer öffentlichen Reaktion auf den Schließungsbeschluss zwei Tage gewartet. Dann wendete sie sich mit einem klugen Schreiben an die Öffentlichkeit. Darin prominent der Hinweis auf Kooperationen mit der Deutsche Bank Stiftung, der IKEA Stiftung, Lotto-Toto und großen deutschen Kulturstiftungen. Längst hatte sie breitere Produktionsstrukturen etabliert, als die schmale städtische Schulter sie tragen kann. Dramaturgen sind an ihrem Haus durch Projektleiter ersetzt. Vom kommunalen Institutionsverständnis hatte man sich gelöst. Das zahlt sich für die Mitarbeiter beim Finden neuer künstlerischer Betätigungsfelder hoffentlich aus. Und während mancherorts immer noch zu viel Energie verschwendet wird, trantütige Kulturpolitiker zu schmähen, hat Florian Stauch, Schauspieler am Thalia Theater, klar erkannt: „Ich glaube nicht, dass eine Lichterkette vorm Rathaus irgendwelche Abhilfe schaffen kann. Wir als Schauspieler haben uns entschieden, dass wir unsere Leistung für uns sprechen lassen wollen. Das ist unsere Form, uns mit der Öffentlichkeit auseinanderzusetzen. Wir haben 300 Plätze, die können gerne alle voll werden. Wir werden bis zum letzten Mann spielen.“ Einige Zeit ist es her, dass Halle bereits schon einmal die Rücklichter des Kulturbetriebs sah. Vor den Toren der Stadt hatte ein umtriebiger Mann aus Weimar ein Theater errichtet. Hier, in Bad Lauchstädt, kurte die finanzkräftige Gesellschaft, und es wurde ein einträgliches Geschäft. Dies obendrein, da ganz unerwartet weiteres Publikum anreiste. Denn in Halle hatte man, die Stadtväter waren Pietisten, das Theater kurzerhand ganz verboten. Der Mann hieß Goethe und er wusste: Wer aussitzt, hat verloren. Christian Horn Theater der Zeit Porträt: Nina Hoss ist Filmstar und Bühnenarbeiterin zugleich. In beidem überzeugt sie mit strengem Anspruch an sich und ungewöhnlicher Ausdruckskraft. Was macht das Schauspiel dabei zur Kunst? Wie spielt man ein Geheimnis? Theater der Zeit traf die Schauspielerin anlässlich der Inszenierung von Gorkis „Kinder der Sonne“ am Deutschen Theater Berlin. Foto © Bresadola/drama-berlin.de KOMMENTAR Halle: Aussitzen ist out Musiktheater: Ist die Oper zu retten? Jürgen Flimm, neuer Intendant der Berliner Staatsoper, startete gleich mit einer Grundsatzfrage in die Spielzeit. Warum geht es in den meisten – auch zeitgenössischen – Inszenierungen mehr um das Verklären von Wirklichkeit als um Aufklärung?, war eine seiner Überlegungen auf einem Symposium im Oktober. Eine Frage, die wir uns schon lange stellen – und deren Beantwortung nicht nur Christoph Schlingensiefs unvollendetes Opus „Metanoia“ an der Staatsoper versucht, sondern auch und vor allem die freie Szene. Kleiner, flinker und näher am Leben dran, so könnte man die Produktionen zwischen Neuköllner Oper und Hebbel am Ufer, Sophiensaelen und dem Radialsystem beschreiben. Während sich in den großen Häusern die Oper meist in voller Größe und Prächtigkeit über die Bühne wälzt, experimentieren auf den kleinen Bühnen Komponisten, Musiker und Regisseure an neuen Formen, Ästhetiken und Themen. Wir blicken in einem Schwerpunkt auf den Auftakt an der Staatsoper, streifen durch die Berliner Off-Musiktheaterszene und diskutieren die Ausbildungssituation junger Musiktheatermacher, Sänger und Bühnenbildner an den Berliner Hochschulen. TdZ · November 2010 Titel November 2:Layout 1 19.10.2010 17:25 Uhr Seite 2 Titel November 2:Layout 1 19.10.2010 17:25 Uhr Seite 1 „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje malawi CROSSING BORDERS – VON SEE ZU SEE EINE KOOPERATION DES THEATER KONSTANZ MIT NANZIKAMBE ARTS IN BLANTYRE, MALAWI NKHATA BAY (AT) (UA) REGIE UND STÜCKENTWICKLUNG CLEMENS BECHTEL 02.2011 THEATER KONSTANZ 07.2011 GASTSPIEL IN MALAWI NANZIKAMBE ARTS (UA) 06.2011 GASTSPIEL IN KONSTANZ A NEW DIVISED PLAY (UA) GEMEINSAME INSZENIERUNG DES THEATER KONSTANZ UND NANZIKAMBE ARTS 06.2012 IN KONSTANZ 07.2012 IN BLANTYRE, MALAWI GEFÖRDERT IM FONDS WANDERLUST DER MIT UNTERSTÜTZUNG DES GOETHE-INSTITUT VERBINDUNGSBÜROS MALAWI Theater der Zeit EUR 7 / CHF 14 / www.theaterderzeit.de November 2010 · Heft Nr. 11 Setting of a Drama Bühneninstallationen von Bert Neumann togo EN ATTENDANT GODOT SAMUEL BECKETT EIN PROJEKT DES THEATER KONSTANZ IN ZUSAMMENARBEIT MIT LA COMPAGNIE LOUXOR DE LOMÉ 2010 IN LOMÉ, TOGO 2011 IN KONSTANZ THEATER KONSTANZ INTENDANT PROF. DR. CHRISTOPH NIX INSELGASSE 2-6, 78462 KONSTANZ WWW.THEATERKONSTANZ.DE Theater der Zeit November 2010 konstanz FOTO © SPIECKERMANN GEFÖRDERT IM RAHMEN DER AKTION AFRIKA DES AUSWÄRTIGEN AMTES Neues deutsches Theater Wer ist wir? Gespräch Shermin Langhoff, Azadeh Sharifi, Nuran David Calis, Stefan Kaegi Gintersdorfer / Klaßen und Heimathafen Neukölln im Porträt Stück „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje