Beitrag: Arm trotz Arbeit – Ausbeutung durch Hungerlöhne
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Beitrag: Arm trotz Arbeit – Ausbeutung durch Hungerlöhne
Manuskript Beitrag: Arm trotz Arbeit – Ausbeutung durch Hungerlöhne Sendung vom 28. Februar 2006 von Jan Bergrath, Reinhard Laska Anmoderation: Wie viel Geld braucht der Mensch zu einem anständigen Leben? Einerseits haben wir in Deutschland ein komfortables Durchschnittseinkommen von fast 30.000 Euro brutto im Jahr, andererseits müssen immer mehr Menschen für 4, 5, 6 Euro die Stunde arbeiten. Das Land führt eine hitzige Debatte um Billigjobs und Mindestlöhne. Ist der gesetzliche Mindestlohn nun ein Garant gegen unwürdige Löhne oder ArbeitsplatzVernichtungsinstrument? Wenn es mal so einfach wäre. Unsere Kollegen Jan Bergrath und Reinhard Laska haben sich als Beispiel einmal den großen Bereich der Postzustellung angesehen - einst der Hort einer gesicherten Existenz. Heute machen dort private Firmen der Post Konkurrenz, mit Preisen, die nur durch gnadenlos niedrige Löhne möglich werden. Löhne, die zum Teil unter Hartz IV-Niveau liegen. Text: Sie schuften hart für wenig Geld. Die meisten Boten verdienen keine 1.000 Euro netto im Monat. Ihr Arbeitgeber, die Berliner PIN-AG, stellt Behördenpost zu. Sie zahlt Niedriglöhne, und dass bei Arbeitszeiten von bis zu 50 Stunden in der Woche. Arm trotz Arbeit. O-Ton: Janosch Miethle, Zusteller PIN AG In Zukunft planen ist schon mal gar nicht, mit dem Geld eine Familie gründen, geht nun gar nicht. Wenn ich nun arbeiten ginge und die Frau bleibt zu Hause und passt auf das Kind auf, von meinem Gehalt, kann man da gar nicht leben. Da kann ich dem Kind doch gar nichts bieten. Wenn ich ein Kind auf die Welt bringe, dann sage ich gut, ich muss dem Kind was bieten. Zu arm um eine Familie zu gründen. Das ist bitter für den 25Jährigen. Er muss jeden Cent zweimal umdrehen. Janosch Miethle gehört zu den 20 Prozent Arbeitnehmern mit Niedriglohn, Menschen, am Rande des Existenzminimums, und es werden immer mehr. Miethle lebt in ständiger Unsicherheit, denn sein bescheidenes Gehalt besteht zu fast einem Drittel aus jederzeit widerrufbaren Prämien. O-Ton: Janosch Miethle, Zusteller PIN AG Ich weiß ja nie, was ich am Zehnten genau kriege, ob ich nun was abgezogen bekommen habe oder nicht. Oder, ob ich nun krank werde, dann ist es natürlich so, dass ich ein bisschen sparsam sein muss, viel Freizeitvergnügen habe ich natürlich nicht, weil irgendwie Kino, das kann man sich einmal im Monat leisten, das war dann auch schon. So ergeht es auch Zusteller Franz G. Aus Angst um seinen Job will er nicht erkannt werden. Franz bekommt wie seine Kollegen nur ein bescheidenes Grundgehalt. Er ist bei Wind und Wetter unterwegs, doch wenn er krank wird, bestraft ihn die PIN AG mit Lohnkürzung. O-Ton: Franz G., Zusteller PIN AG Ich bin schon arbeiten gegangen mit 40 Grad Fieber, weil man es sich einfach nicht erlauben kann krank zu sein, weil das Geld ist einfach wichtig, das macht sich bemerkbar. Und mit gebrochenen Rippen bin ich auch schon arbeiten gegangen, egal wie. Ich kenne keinen, der nicht krank schon arbeiten gekommen ist und manche Zusteller sahen aus wie Leichen und sind trotzdem arbeiten gekommen. Im Arbeitsvertrag heißt es zur so genannten Prämienordnung für Zusteller: Anwesenheitsprämie 250 Euro. "Pro Krankentag... wird die Anwesenheitsprämie um 11,90 Euro gekürzt." O-Ton: Prof. Wolfgang Däubler, Arbeitsrechtsexperte, Universität Bremen Der Arbeitsvertrag enthält zahlreiche Bestimmungen, die also nicht haltbar sind bei der Rechtssprechung. Er ist gut formuliert. Da war sicher juristische Hilfe am Werk, aber ein Jurist, der wohl versucht hat, auch jenseits der Rechtssprechung des Bundesarbeitsgerichts zu gestalten. Auf unsere Anfrage erklärt die PIN AG, sie zahle nahezu allen Mitarbeitern diese Prämie regelmäßig aus und halte sich im übrigen an die Vorgaben des Betriebsverfassungsgesetzes. Die PIN-AG gehört zur PIN Group, an der so renommierte Verlage wie WAZ, Holtzbrinck und Springer beteiligt sind. Besonders hart treffen Niedriglöhne Familienväter wie Werner W. Der Berliner Zusteller möchte nicht erkannt werden. Dem 39jährigen Alleinverdiener mit zwei Kindern zahlt die PIN-AG so wenig, dass ihm nichts anders übrig bleibt, als beim Jobcenter zusätzlich Arbeitslosengeld II zu beantragen. In seinem Fall macht das monatlich 500 Euro aus. Er fühlt sich gedemütigt. O-Ton: Frontal21 Was empfinden Sie dabei? O-Ton: Werner W., Zusteller PIN AG Tja, was empfinde ich dabei? - Wut, dass man soviel arbeitet und eigentlich nicht davon leben kann, wenn man eine Familie hat. Das ist mir auch peinlich. Wir fragen nach beim Berliner Innensenator: Weiß seine Behörde, dass Mitarbeiter der PIN AG auf staatliche Unterstützung angewiesen sind? Die Antwort lautet: Nein. O-Ton: Prof. Dr. Gerhard Bosch, Institut für Arbeit und Technik, Gelsenkirchen Eigentlich ist ja die Aufstockung des Lohnes durch ALG II gedacht, dem Arbeitslosen zu helfen, der von einem Lohn nicht leben kann. In der Wirklichkeit hat sich dieser Gedanke aber verkehrt: Die Unternehmen begreifen eine solche Unterstützung des Arbeitslosen als eine Einladung ihre Löhne zu senken, weil den Rest kann sich der Arbeitslose ja beim Arbeitsamt holen. Das ist also eine Unterstützung der Unternehmen oder eine Subvention der Unternehmen. Wirtschaftlicher Unfug. Das Land Berlin will sparen und lässt seine Behördenpost von einem Billiganbieter zustellen, der Niedriglöhne zahlt. Gleichzeitig aber muss Berlin die Zusteller mit Arbeitslosengeld unterstützen, weil deren Löhne unter dem Existenzminimum liegen. Auch in Nordrhein-Westfalen konkurrieren private Zusteller um öffentliche Aufträge. Und genau wie in Berlin wollen Behörden sparen, beauftragen Unternehmen wie Jurex - auch die speist ihre Zusteller mit kargen Löhnen ab. O-Ton: Stefan Michael, Zusteller Jurex Die Entlohnung ist 1.250 brutto, das sind netto bei Lohnsteuerklasse drei - 900 Euro, knapp. O-Ton: Frontal21 Kann man damit einigermaßen vernünftig leben? O-Ton: Stefan Michael, Zusteller Jurex Wenn ich nicht mehr zu Hause wohnen würde, nicht. Stefan Michaels Nettolohn liegt damit unterhalb der Pfändungsfreigrenze von 985 Euro, obwohl er 45 Stunden in der Woche arbeitet. Tarifverträge sind in der Branche ein Fremdwort, Gewerkschaften unerwünscht. Wer einen Betriebsrat gründen will, muss mit Entlassung rechnen. Nico Kempe hat das am eigenen Leib erfahren. O-Ton: Nico Kempe, ehemaliger Betriebsrat Jurex Wir haben dann mit ver.di ein Schreiben zur Firma Jurex geschickt, dass wir halt einen Betriebsrat installieren wollen. Und nicht mal 24 Stunden später, haben wir halt die Kündigung im Briefkasten gehabt. Kempe klagt erfolgreich, doch Jurex feuert ihn erneut. Nach der vierten Kündigung gibt er auf. Wir fragen Jurex nach ihrem Verhältnis zu Gewerkschaft und Betriebsrat. Schriftlich antwortet das Unternehmen: "Weder Betriebsratswahlen noch Betriebsräte wurden von uns bewusst behindert... Die Mehrzahl der gewählten Betriebsräte arbeitet vertrauensvoll mit der Geschäftsleitung zusammen." Ganze drei Betriebsräte sind bei dieser vertrauensvollen Zusammenarbeit übrig geblieben. Sie sind machtlos wie die Gewerkschaft. Experten fordern deshalb den Mindestlohn. O-Ton: Prof. Dr. Gerhard Bosch, Institut für Arbeit und Technik, Gelsenkirchen Wir haben in Deutschland eigentlich eine Zurückhaltung des Staates gehabt, das war auch gut so, weil die Gewerkschaften waren stark, die haben Mindestlöhne festgesetzt. Das können sie aber heute nicht mehr, sie sind schwächer geworden, deshalb haben wir in Deutschland überhaupt keine Alternative zu Mindestlöhnen. Die Briten haben das in einer ähnlichen Situation gemacht. Sie haben den Mindestlohn vorsichtig eingeführt und im Übrigen wollen die Unternehmen, gerade in den Bereichen, wo schlecht bezahlt wird, heute den Mindestlohn nicht mehr missen, weil er gleiche Konkurrenzbedingungen für alle schafft. Doch solange es den Mindestlohn nicht gibt, müssen Janosch Miethle und seine Kollegen kämpfen. In Berlin kandidieren sie deshalb für den Betriebsrat bei der PIN AG. Sie streiten für einen gerechten Lohn, einen Lohn, von dem sie leben können. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. 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