Erfolgreich im - Textilzeitung

Transcription

Erfolgreich im - Textilzeitung
Mode in der
Bel Etage
01/16
Ein Special der TextilZeitung
Erfolgreich im
Schlaf
© Julian Mullan, Monika Nguyen, Sue Sellinger
Geschäftsmodelle
mit Viel Hirnschmalz
B el Etag e
EDITORIAL
06
04
04 KAVIAR GAUCHE
Zwischen Rebellion und Laisser-faire
06 MARTINA GLAUB
Professur aus Passion
08 GRÄTZLHOTELS
10 MARKTWIRTSCHAFT
Mit dem Food Truck
in die Welt der Apps
12 THOMAS BECHTOLD
E
Wohnen im Geschäftslokal
Authentisches Essen, gute Geschichten
Einfache Mode, aufwendige Konzeption
14 PETER KRAMPF
Das tapfere Schneiderlein in der Not
16 DESIGN YOUR DIRNDL
Das Dirndl erobert das Internet
18 THORSTEN TRAUGOTT
Die Zukunft beginnt jetzt
20 ROAD CRÊPE
Die Physiologie des Geschmacks
Geschichtenerzähler und Weltenretter
14
10
04 Cathleen Wolf, Christian Borth , 06 BEHRENS, WOGRAM
10 KLAUS VYHNALEK, 14 Andrea Katheder
22 ALI MAHLODY
©
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s gibt ja mittlerweile viele
und immer innovativere
Wege, wie man Geld verdient.
Manche erfinden eine FlohmarktApp (www.shpock.com), andere
bieten eine App an, mit der man
die eigenen Selfies verschönert.
Große Unternehmen, wie H&M
oder kürzlich Dolce & Gabbana,
erobern die Welt nicht per App,
sondern mit einer Hinwendung
zu neuen Zielgruppen. Beide Modekonzerne launchen eine Kollektion für Muslimas – und es werden ganz sicher nicht die letzten
sein. Auch in dieser Ausgabe der
Bel Etage ist von aufregend neuen Geschäftsmodellen die Rede.
Da gibt es luxuriöse Zimmer mitten auf dem Meidlinger Markt.
Oder die Möglichkeit, sich sein eigenes Dirndl selbst zu designen.
Oder mit einem Food Truck gutes
Essen zu verkaufen. Oder als
Universitätsprofessor und Unternehmensberater einen fränkischen Herrenausstatter zu übernehmen, an den zuletzt nicht
mehr viele Marktteilnehmer
­g eglaubt haben.
Wer heute Erfolg haben will, hat
gar keine andere Chance, als (seine) Grenzen zu sprengen. Zu viele
Geschäftsmodelle gingen in den
letzten Jahren »über den Jordan«,
zwangsläufig müssen neue her.
Mode, Gastronomie, Luxus und
Lifestyle bahnen sich mittlerweile
auf so unterschiedliche Arten
­ihren Weg, dass es manchmal
richtig verwundert, wie stabil das
eine oder andere »Old-SchoolModell« performt.
Willkommen in der neuen Welt
des Genießens! Lernen wir von
Unternehmen, die Geldverdienen
mit anderen Augen sehen.
BRIGITTE PFEIFER-MEDLIN
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3
B el E tag e
Rebellion
und Laissez-faire
Eigentlich hatte Kaviar Gauche mit Prêt-à-porter begonnen. Das erste Brautkleid war eher zufällig
entstanden. Es trug den Namen »Dream Dress« und verfehlte seine Wirkung nicht. Es war heiß begehrt.
Mit sehr hochwertigen Kleidern zählt Kaviar Gauche heute zu den erfolgreichsten Berliner Modelabels.
Die Designerinnen Alexandra Fischer-Roehler und Johanna Kühl im Interview.
FOTOS: Cathleen Wolf, Christian Borth
4 B el E ta ge
01 2016
B el Etag e
w
Wie einfach ist es, in Berlin ein Mode- das Geld, die Kollektion zu finanzieren. Durch unsere Kunden hatten
label zu gründen – und wie haben Sie
wir Aufgaben, Termine und Abgaben, und das war wichtiger, als Pro­
es geschafft?
bleme zu wälzen. Dazu kamen die Kooperationen, die uns bekannt
Es ist schwierig und einfach zugleich. ­gemacht haben und unsere Diversität gezeigt haben.
Man braucht einen langen Atem und Worin sahen Sie die Chance im Bereich Brautkleider? Was hat am
darf sich von Anfangsschwierigkeiten Markt gefehlt, generell und hinsichtlich des Stils?
nicht ins Bockshorn jagen lassen. Als wir Die Frauen suchten nach Kleidern, die sie nicht verkleideten, sondern
2004 begannen, hieß es, es wäre einfa- ihre individuelle Schönheit zum Ausdruck brachten. In fließender Seicher, in Berlin ein Modelabel a­ ufzubauen als in einer traditionellen Mo- de sieht jede Frau aus wie eine zarte Fee. Am Anfang wollten wir Opudemetropole wie Paris oder Mailand. Zum einen, weil es hier keine an- lenz eher vermeiden. Mittlerweile fragen Kundinnen auch nach fliederen Labels gab, mit denen man sich messen musste, und zum anderen, ßenden Silhouetten, die etwas opulenter sind. Als Modemarke mit
weil die Mietsituation in Berlin damals noch besser war. Dazu kam, dass Spezialisierung auf Bridal Couture arbeiten wir trendorientiert und
man durch das Internet nicht mehr so sehr lokal gebunden war. Wir ha- machen den Stil auch abhängig von der Art der Hochzeit.
ben uns entschieden, in Berlin zu arbeiten. Weil es damals noch keine Sie sprechen von »Glamour« und »made in Germany«. Stichwort
konkrete Infrastruktur für Mode gab, mussten wir den Aufwand des Rei- Glamour: Ist Braut- und Abendmode die letzte Bastion des Glasens auf uns nehmen, um in London und Paris zu präsentieren. Als aber mours? Stichwort »made in Germany«: Wie kann die aufwendige
2007 die Berlin Fashion Week gegründet wurde, war das ein ziemlicher Herstellung in Deutschland gewährleistet werden?
Luxus für uns, nur mit den Kleidersäcken in ein Taxi steigen zu müssen, Es ist auf jeden Fall so, dass man nicht auf gewisse Alltäglichkeiten
um auf einem Catwalk präsentieren zu können. Wir haben dann gleich ­achten muss. Man darf alles in das Kleid hineinarbeiten, was man norden ersten Preis beim »New Generation Award« gewonnen und durften mal nicht darf. Das sind auch Prinzessinnenträume und das ist es nach
eine Capsule-­Kollektion für ein deutsches Kaufhaus entwickeln. Seither wie vor, was Frauen wollen.
präsentieren wir regel­mäßig in Berlin. Das war wichtig für unseren Be- Hinter dem Slogan »made in Germany« steckt die Tatsache, dass wir
kanntheitsgrad, weil wir zuvor nicht viel in Berlin gemacht haben.
seit zehn Jahren mit einem Maßatelier in Berlin arbeiten und hochwerIst die Identität des Labels mit dem Standort verknüpft oder könnte tige Seidenstoffe verwenden.
der Standort des Labels auch ein anderer sein?
Wie und in welchen Ländern wird die Kollektion verkauft?
Mit einer guten Intuition und einer kosmopolitischen Gesinnung kann Derzeit läuft der Verkauf über den Online-Store sowie über derzeit
man ein Modelabel überall entwickeln. Wahrscheinlich ist unser Label zwei und ab Februar drei physische Stores in Deutschland. Den
standortunabhängig, aber Berlin war dennoch wichtig für unsere Ent- Zwischen­handel möchten wir vermeiden, weil das den Preis nach
wicklung. Wir sind französisch inspiriert,
oben treiben würde. Wir haben ein Inund das sieht man unseren Kollektionen
teresse an ­Expansion und planen, unauch an. Paris ist ein Modemekka und ­Berlin
sere Bridal Couture erneut in Paris zu
ist das Gegenteil. Wenn man zwei konträre
präsentieren. Momentan haben wir
Dinge verknüpft, entsteht etwas Eigenes. Es
aber noch nicht die Kapazitäten und
war die Freiheit, die wir hatten. Es gab viele
konzentrieren uns auf die vorhandenen
Brachstellen in der Stadt, die viel Luft zum
Vertriebsmöglichkeiten. Prêt-à-porter
Atmen gaben.
kann man seriell produzieren, bei CouWie sah die erste Kollektion aus – im Verture ist das anders. Wir sehen unsere
gleich zu heute?
Kompetenz zunehmend in sehr hochIm Studium ist man gefordert, Neues zu mawertigen Kleidern und möchten diese
chen, und wir sind mehr oder weniger direkt
Kernkompetenz noch verfestigen. Wir
Alexandra Fischer-Roehler und Johanna Kühl
vom Studium gekommen. Aber alles, wofür
haben ein tolles Team an SchnittdirektKaviar Gauche heute steht, war damals
ricen und passen in unseren Stores fast
schon vorhanden. Der künstlerische Anspruch wurde verfeinert, nicht jedes zweite Kleid individuell an. Kaum jemand hat eine Konfektionszuletzt, weil wir in den Dialog mit der Zielgruppe getreten sind. Die ers- größe. Manchmal reicht ein Fitting, manchmal sind es aber auch zwei
ten Kollektionen haben wir hauptsächlich nach China und Japan ver- bis drei. Mit österreichischen Kundinnen arbeiten wir sowohl im Münkauft, wo wir eine modeaffinere Zielgruppe vorfanden als in Deutsch- chener Store als auch im Online-Store und schätzen es sehr, wie sie
land. So konnten wir unser Label finanzieren.
Mode zelebrieren. Österreich ist ein sehr wichtiger Markt, und wir
Wie kam der Fokus auf hochwertige Kleider?
­würden gern unseren ersten Ausland-Store in Wien etablieren.
In Berlin haben wir von Anfang an viel Aufmerksamkeit von jungen, Wie funktioniert Bridal Couture im Handel auf Distanz und
­talentierten Schauspielerinnen erhalten und entwarfen gemeinsam ­welchen Stellenwert hat der Online-Store im Verkaufsvolumen?
mit ihnen Kleider für den roten Teppich. Davon haben beide Teile pro- Viele bestellen mehrere Kleider, um so die Qualität zu prüfen und auf
fitiert. Wir bekamen Presseberichterstattung und tolle Fotos und die Distanz eine Auswahl zu treffen. Wenn die Kleider überzeugen, scheuSchauspielerinnen bekamen die Kleider, die ihnen schmeichelten. en Interessierte auch längere Anfahrten nicht, um in unsere Stores zu
­Damals war Abendmode in schweren, steifen Stoffen und kräftigen kommen. Aber wir senden auch täglich Pakete in entfernte DestinatioFarben gehalten. Wir waren französisch inspiriert und arbeiteten mit nen wie Russland, Australien und London. Die Kundinnen haben kein
leichten, fließenden Seidenstoffen, zarten Farben und griechischen Problem, online zu bestellen. Änderungen können auch vor Ort in
Silhouetten, die aus jeder Frau eine Göttin machten.
­einer guten Schneiderei vorgenommen werden. Die Bedeutung des
Und wie ist »Bridal Couture« entstanden?
Online-Stores ist ausbaufähig. Es gibt mittlerweile riesige Formate. Bei
Als wir 2007 die Kollektion für Karstadt gemacht haben, war auch ein uns ist das Department personell noch eher unterbelegt. Wir sehen
Brautkleid dabei, das »Dream Dress«. Es war innerhalb kurzer Zeit aus- ­unsere Zukunft zwar vorrangig in den physischen Stores, weil wir hier
verkauft und die Kundinnen kamen und fragten, ob sie es bei uns be- die volle Betreuung gewährleisten können, gleichzeitig sehen wir aber
stellen könnten. Das zeigte uns, dass es einen Bedarf gab. Aber auch auch die Notwendigkeit, den Online-Store auszubauen.
unsere Red-Carpet-Kleider wurden schnell als Brautkleider gewünscht. Neben den Kollektionen arbeiten Sie auch ständig an Kooperations­
Was waren die größten Stolpersteine und was hat die Entwicklung
projekten. Wann ist eine Kooperation interessant?
begünstigt?
Wir legen Wert darauf, mit tollen Unternehmen zu arbeiten, die zu uns
Wir hatten oft Rückenwind und konnten die Schwierigkeiten gut meis- passen und gemeinsam mit uns etwas Schönes schaffen wollen. Dabei
tern. Für uns war es wichtig, nah am Kunden zu sein, um zu wissen, wollen wir die Idee Kaviar Gauche in verschiedene Produkte ein­bringen.
was der Markt verlangt, und um unser Label stetig weiterentwickeln zu Zurzeit arbeiten wir z. B. mit einem Kosmetikunternehmen. Wir haben
können. Indem wir immer auf die Nachfrage reagiert haben, hatten wir viele Ideen und sind ständig mit Kooperationspartnern im Gespräch. hs
zur Marke
Kaviar Gauche: Das
Label wurde 2004 von
Johanna Kühl (35) und
Alexandra FischerRoehler (40) gegründet.
die 2003 zusammen ihren Abschluss an der Esmod in Berlin machten.
Der Name des Labels ist
an das französische
»gauche caviar« angelehnt, die »Kaviar-Linke«. Der Begriff wurde
von Jean Paul Sartre für
den französischen Jetset
geprägt, der sich den
Ideen der 68er-Bewegung zuwandte. Kühl:
»Der Name gibt unsere
stilistische Gesinnung
wieder: Luxus mit einem Hauch von Rebellion und Laisser-faire.«
Ihre erste Show war eine
Guerilla-Show in Paris,
wo sie ihre Models gegenüber dem renommierten Concept Store
Colette über den Gehsteig laufen ließen. Mit
dieser Aktion schafften
sie es ins Sortiment der
amerikanischen Modekette Barneys New York.
Seither präsentieren sie
regelmäßig in Paris.
Accessoires waren von
Anfang an im Programm. Ikonisch die
fast kreisrunde, lamellenartig konstruierte
»Lamella Bag«. 2009
erweiterten sie ihr Port­
folio mit der einmal pro
Jahr erscheinenden
­Bridal Couture. 2010
wählte das Magazin
Stern Kaviar Gauche
unter die »zehn wichtigsten Modedesigner«.
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B el E tag e
Professur aus Passion
Vom Lehrling zur Professorin: Modedesignerin
Martina Glomb kann auf eine spannende Vita
verweisen. Mit Christian Derflinger spricht sie
über Punk, ihre Ära an Vivienne Westwoods
Seite und aktuelle Projekte.
s
FOTOS: BEHRENS, WOGRAM
Sie sind »50 plus« – spüren Sie noch den Punk in sich?
Oh, wenn das meine Studierenden jetzt lesen, die würden sich wahrscheinlich ins Fäustchen lachen! Ich spür
den immer. Ich liebe es, zu provozieren. Mag’s glamourös. Und ich bin sehr romantisch. Die Looks schätze ich
nach wie vor, dieses »bisschen daneben«. Ich bin nicht
jemand, der von sich selbst behauptet, er würde sich gerne vorteilhaft, schlank machend oder so anziehen. Auch wenn’s anderen
Leuten um mich herum bestimmt mal peinlich ist: Ja, ich würde mich
­immer noch als Punk bezeichnen!
Nicht als Punk, sondern als Professorin: Woran arbeiten Sie gerade?
Im Studiengang Modedesign an der Hochschule Hannover liegt mein
Schwerpunkt auf experimentellen, interdisziplinären Designprojekten.
Als meine Hauptaufgabe sehe ich, die Attraktivität von Mode und Bekleidung in Bezug auf Ästhetik, aber auch auf Tragedauer zu erhöhen beziehungsweise zu verlängern. Ein Stück, das länger im Gebrauch ist, ist meist
wertvoller – dieser Qualitätszugewinn ist mein Ziel. Zurzeit beschäftige
ich mich mit dem Thema Slow Fashion, nachhaltige Designstrategien
­stehen dabei im Mittelpunkt.
Passen grüne Mode und Massenmarkt
zusammen?
Wir Designer haben bisher ziemlich ignorant immer nur ein kleines Tortenstück des Entstehungsprozesses betrachtet, nämlich von der Idee über
den Zuschnitt bis zum fertigen Teil. Doch der Kreislauf, in dem sich das Modedesign befindet, reicht
länger in die Vergangenheit und weiter in die Zukunft. Welche Baumwolle wird wie angebaut? Wo
werden die Schafe geschoren? Und was macht der
Verbraucher, den ich gerne »Wertschätzer« ­nennen
würde, mit Kleidung, die er nicht mehr trägt? Auf
unserer Welt löst sich Weggeschmissenes nicht in
nichts auf. Ein griffiges Beispiel dazu: Eine Mischfaser aus Polyester-Baumwolle kann weder gut wiederverwertet noch gut entsorgt werden. Doch nicht
dem Konsumenten, sondern dem Designer obliegt
die Entscheidung, ob er Monotextilien verwendet:
entweder nur Poly­ester, das recycelt werden kann,
oder nur Baumwolle, die sich kompostieren lässt.
Martina Glaub
Eine ­weitere Herausforderung für uns Kreative: Wie
bekommen wir politisch k­ orrekte grüne Mode ästhetisch so hin, dass sie
massenmarkttauglich wird. Mode ist ja ein sehr intimes Thema – es ist die
Verbindung von einem selbst und der Außenwelt. Da heißt die wichtigste
Kaufentscheidung immer noch: Sieht es gut aus? Und hier hat die grüne
Mode einerseits mit dem erhobenen Finger und andererseits mit – sagen
wir mal – nicht so hochwertigen Looks einige verjagt. Ich halte es mit dem
­Soziologen H
­ arald Welzer, der sagt: »Aktionen verändern die Moral.«
Was sind herausragende Projektarbeiten mit Ihren Studierenden?
Mit unserer Schau »Schaumburger Modebilder – Nach Neuem Trachten«
wurden wir sogar zur Weltausstellung Expo 2015 nach Mailand einge­
laden. Wir hatten uns mit Niedersächsischer Tracht auseinandergesetzt,
mit dem Konflikt von Innovation und Tradition und der Tatsache, dass die
lokale Produktion von Textilien in Deutschland brach liegt. Ein anderes
Projekt drehte sich um Accessoires aus ausgemusterten Polizeiuniformen – diese grünen Motorradkombis der 70er- und 80er-Jahre, die ansonsten h
­ ätten verbrannt werden müssen. Da entwickelten wir vier
­Designs – wie Reisetasche oder Turnbeutel – so, dass von einem Overall
nichts übrig blieb und auch nichts dazugekauft werden musste. Die große
Herausforderung für uns: der Sprung vom Unikat zur Serie. Nach der
Pressekonferenz waren die 500 Stück in null Komma nichts ausverkauft.
6 B el E ta ge
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So etwas wird die Welt nicht retten, aber es ist ein schönes Beispiel und
bringt Verständnis für nachhaltige Designmethoden. Aktuell arbeiten wir
an einer Neuauflage des ­Projekts in sehr viel höherer Stückzahl. Auf Basis
von Tausenden leuchtend gelber Sicherheitsjacken, die sich im Polizeieinsatz als nicht tauglich erwiesen, entwickeln wir eine Sicherheitskollektion für Abc-Schützen, die deutschlandweit gelauncht wird.
Ihr Weg zum Modedesign: Gab’s da eine familiäre Vorbelastung?
Ja, ganz eindeutig. Mein Vater war Schneidermeister. In frühesten Kindheitserinnerungen finde ich mich auf dem Zuschneidetisch sitzend. Mit
Rosshaareinlagen in der Hand und den Gesellen um mich, die sich einen
Witz machten und mir kleine Stoffläppchen zum Bearbeiten gaben. Meine Eltern verlor ich als Kind. Vielleicht hatte ich mich deshalb, trotz sehr
gutem Abitur, gegen das Studieren entschieden und – als Rückwendung
in eine vermeintlich glücklichere Welt – eine Schneiderlehre gemacht.
Das Couture-Atelier in Bremens Parkallee war anspruchsvoll. Von Anfang
an hatte ich mit sehr wertvollen Materialien zu tun und unter strengen Bedingungen das Handwerk von der Pike auf gelernt. Zu dieser Zeit war ich
schon Punk und sah recht wild aus. Was kein Hinderungsgrund für meine
Lehrherrn war, sondern gut ankam im Atelier. So wurde ich mit meinem
exzentrischen Auftreten sogar zu Anproben beigezogen. Dann sprach
mich auf der Straße ein nicht minder exzentrisch wirkender junger Mann
an, der zwei Boutiquen betrieb und dort auch seine eigene Kollektion verkaufte. Zuerst bot er mir eine Stelle als Gesellin an, später holte er mich als
Geschäftsführerin an Bord. Unter anderem im Sortiment: Die T-Shirts von
Vivienne Westwood – damals ein Idol, auf das ich wegen der Punkbewegung schon in meiner Lehrzeit aufmerksam wurde. Mit den Geschäften
waren wir wirtschaftlich nicht sehr erfolgreich – vielleicht war’s zu früh für
die Zeit, auch hat man uns oft die Schaufensterscheiben eingeschlagen.
Jedenfalls: Nach knapp zwei Jahren begann ich das Studium Modedesign
an der Hochschule für Künste in Bremen.
Wie kam es zur Begegnung mit Vivienne Westwood?
1985 in Paris, bei einer Modeschau von Jean Paul Gaultier, sprach ich sie
an. Frau Westwood – damals noch recht unbekannt – freute
sich, dass ich sie erkannt hatte. Wir unterhielten uns blendend, sie machte mir Komplimente zu meinem selbst genähten Outfit und warf mir beiläufig zu: »Ach, wenn du mal
­einen Job brauchst …« Doch ich steckte noch mitten im
­Studium. Einer Kommilitonin, die vor mir fertig war, gab ich
den Tipp. Irgendwann, viele Monate später, rief sie mich aus
London an: »Du, wir könnten noch wen gebrauchen.
­
Komm doch!« Und ich kam. Vivienne Westwood meinte,
sich an mich zu erinnern.
Wie entwickelten sich Ihre Jahre in London?
Zuerst half ich, wo es was zu helfen gab. Man muss bedenken, dass damals bei Vivienne Westwood fünf Leute arbeiteten. Statt Computer gab’s eine Schreibmaschine, das Lagerhaus, welches das Atelier beherbergte, hatte keine
­Fensterscheiben – alles war im Aufbau. Dann kam schlagartig die Bekanntheit, Westwood wurde zweimal hintereinander als Designer of the Year der British Fashion Award verliehen, sie unterschrieb ­Lizenzverträge bis nach Fernost, eine
irre Expansion folgte. Ich bewährte mich, mir wurde zunehmend Verantwortung übertragen: zuerst die T-Shirt-Kollektion, dann die Italien-Produktion von Leder und Schaffell, gefolgt von Textildrucken. 1997 übernahm ich das Design von »Anglomania«, einer Lizenz
für Sport- und S
­ treetwear. Und bald darauf das der Zweitlinie »Red Label«.
Ging der Reiz verloren?
Nach zwölf Jahren England spürte ich das Bedürfnis, wieder einmal etwas
anderes zu machen. Ich wusste nicht so genau, was. Parallel zum Job unterrichtete ich eine Zeitlang am Royal College of Art – und merkte, wie viel
ich jungen Menschen beibringen konnte. Das überraschte und begeisterte mich total und kam mir bei der Entscheidung, als Älteste im Team das
Designhaus zu verlassen, entgegen. Eine Entscheidung, die ich nie bereut
habe! V
­ ivienne war für mich eine prägende Figur: Freundin, Mutter, strenge C
­ hefin, Inspiration zu jeder Zeit. Und was ich ganz besonders toll an ihr
­finde: obwohl mitunter eine schrille Persönlichkeit, stets »down to earth« –
mit beiden Füßen am Boden. Mit ihr bin ich auch heute noch freundschaftlich tief verbunden. Im Anschluss an meine Ära bei Westwood
erfüllte ich unter anderem einen mehrjährigen Lehrauftrag in China.
Seit 2005 bin ich Vollzeitprofessorin in Hannover und kann sehr sinnvoll das, was ich die ganzen Jahre über gelernt und gemacht habe,
­einbringen. Und mit viel Freude Wegbereiter sein: Andere fördern und
unterstützen ist meine wahre Passion.
CD
B el Etag e
zur Person
Martina Glomb
wurde 1960 in Bremen
geboren. Nach der Ausbildung zur Damenschneiderin und einem
Ausflug in die Boutiquenszene studierte sie
bis 1989 Modedesign in
ihrer Heimatstadt.
­Danach war sie bis
2002 als Designerin für
­Vivienne Westwood
in London tätig. Ihr
Wechsel in die Lehrtätigkeit führte sie u. a.
an die chinesische
Hochschule der Künste
nach Hangzhou. 2005
wurde Glomb als Professorin an die Hochschule Hannover berufen, wo sie seitdem
experimentelles Modedesign unterrichtet.
Martina Glomb ist seit
1992 mit dem DJ, Musikproduzenten und
Remix-Künstler Jens
Mahlstedt verheiratet.
Ihm gelang 1994 mit
»Loops & Tings« einer
der größten TechnoHits aus dem deutschen
Raum. Auch Mode­
projekte wurden und
werden unter seiner
­Regie und mit seinen
Klängen in Szene gesetzt. Wie der europäische Designerwettbewerb »Euro Fashion
Award«, der am
23. April im Jugendstilambiente des Kaufhauses Görlitz seine
Premiere feiert und bei
dem Martina Glomb –
neben u. a. Margareta
van den Bosch (H&MKreativchefin), dem
Österreicher Alexander
Krenn (Chefdesigner
Vivienne Westwood)
und Gudrun Allstädt
(Ressortleiterin DOB
der TW) – in der Jury
sitzt.
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7
B el E tag e
Ankommen,
runterkommen
Sie waren in ihrem früheren Leben einmal klassische Geschäfts- und Gewerbelokale,
jetzt sind sie Hotelsuiten – quer über die Stadt verteilt. Wie es sich anfühlt, Gastgeberinnen eines dezentralen
Hotels zu sein, haben Theresia Kohlmayr und Fanny Holzer-Luschnig Dagmar Lang erzählt.
FOTOS: Ingo Karnicnik, Heidrun Henke, Sue Sellinger, Julian Mullan
FOTOS: DAS IST BLINDTEXT
B el Etag e
sind ­unsere Suiten aber groß genug, den Schlaf- vom Wohnbereich zu
trennen. Man kann Freunde zu sich einladen oder eine kleine Konferenz ­abhalten.
Im Gegensatz zu den privaten Anbietern, die auf Plattformen wie
Airbnb zu Hause sind, erfüllen Sie aber alle gesetzlichen Auflagen
und zahlen auch Steuern und Ortstaxe?
Wir sind eine klassische Hotelbetreibergesellschaft der einzelnen Liegenschaften. Die Zimmer sind gewerberechtliche Nutzflächen – daher
auch in der Sockelzone von Wien; das ist ein ganz wichtiger gesetzlicher Punkt, man darf hier eben nicht dauerhaft wohnen. Wir müssen
im Vorfeld jedoch abklären, dass wir eine entsprechende Widmung bekommen; dazu bedarf es dann auch der Zustimmung anderer Mieter.
Sind wir dann mal vor Ort, ist die Reaktion sehr positiv: Was gibt es
denn Praktischeres als ein einzelnes Hotelzimmer im eigenen Haus,
wenn zum Beispiel die Schwiegereltern zu Besuch kommen?
Haben Gäste schon mal Bedenken wegen der Sicherheit geäußert,
man ist im Erdgeschoss, Fenster und Türen sind aus Glas …
Aus einbruchssicherem Glas, darauf achten wir. Wien ist außerdem
eine besonders sichere Stadt. Die Ebenerdigkeit ist ein großes Asset:
Man taucht sofort in die Stadt ein. Aber es ist eine ganz spezielle Zielgruppe, die das Grätzlhotel bucht. Das sind Menschen, die eine gewisse Abenteuer- und Eroberungslust mitbringen. Sie wollen ankommen
und runterkommen. Und hoffentlich wiederkommen. Unsere Gäste
wollen sich auf das Abenteuer einlassen: Man kommt um Mitternacht
Mit Ihrem Grätzlhotel sind Sie die pro­
in Wien an, kennt die Straße nicht, hat keinen Concierge, sondern nur
fessionelle Antwort auf Airbnb. Wie
einen Code – hoffentlich springt die Türe dann auf? Aber diese Gäste
kam es zu der Idee, aus ehemaligen
wollen genau das.
­Geschäftslokalen allein stehende
Wer genau ist denn Ihre Zielgruppe?
­Hotelzimmer zu errichten?
Kohlmayr: Wir haben uns schon in un- Sie ist zwischen 18 und 80 Jahre alt, abenteuerlustig, sucht nach indiviserem Architekturstudium mit der Frage duellen Übernachtungsmöglichkeiten, ist im Vorfeld über den Standbeschäftigt, wie wir den Leerstand vieler ort sehr gut informiert.
Geschäftslokale optimal nutzen können. Ich selber komme aus einer Woher kommt der Hype für alternative Übernachtungsmöglich­
Hoteliersfamilie und daher war die Idee, einzelne Geschäftslokale in keiten für jene, die genug haben von Hilton und Co.?
individuelle Hotelzimmer umzubauen, doch sehr naheliegend. Wir Große Hotelketten sind austauschbar, schauen auf der ganzen Welt
gleich aus, man weiß morgens nicht, ist man in
stellen dabei immer nur einzelne Zimmer, direkt von der
Wien oder in New York, man bekommt dasselbe
Straße begehbar, zur Verfügung. Die übrige InfrastrukBett und dasselbe Frühstück. Die Menschen
tur – vom Frühstück bis zum marokkanischen Hammam
­haben das Bedürfnis nach mehr Authentizität.
oder der Abendbar – wird in das »Grätzel« ausgelagert.
Bei uns schauen auch wirklich alle Zimmer anDas heißt, der Gast bucht bei uns online das Zimmer,
ders aus, atmen noch in irgendeinem Detail die
­bezahlt im V
­ oraus per Kreditkarte und bekommt zwei
Luft ihrer ursprünglichen Herkunft, sei es die
Tage vor An­reise von uns einen Willkommensbrief zugeLampen­schirmfabrik oder die Schneiderei.
mailt, der auch einen Code für einen Schlüsselsafe be­
War das für Sie eigentlich ein großes finanzi­
inhaltet, der sich immer direkt an der Fassade des jeweilielles Abenteuer oder haben Sie vorher schon
gen Zimmers befindet. Unsere Zimmer werden eigentlich
ein Vermögen gehabt?
wie ein Apartment genutzt, der Gast schätzt auch die
Wir haben den Umbau des ersten Prototyps
­Privatsphäre.
mit Studentenjobs verdient und sind 2013 auf
Stichwort Grätzlhotels: Diesen Ausdruck kennt man
­Bankenfinanzierung umgestiegen. Mit den neudoch nur in Wien. Wie vermitteln Sie, was das ist?
en Grätzlhotels am Karmelitermarkt und am
Es ist vor allem etwas typisch Wienerisches, Authentisches.
Meidlinger Markt pachten wir löffelfertige ObWir erklären, was es ist. Und gerade weil man es nicht ausjekte, damit wir schneller wachsen können. Wir
sprechen kann, kommt das Grätzlhotel international sehr
können uns in Wien so insgesamt 50 Zimmer
gut an.
­vorstellen.
Wo gibt es in Wien jetzt die Grätzlhotels?
Fanny Holzer-Luschnig, Theresia Kohlmayr
Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?
Wir haben zurzeit drei Standorte in Wien: den KarmeliterHolzer-Luschnig: Spannend wären andere Städmarkt, das Belvedere und den Meidlinger Markt. An allen
drei Standorten gibt es jeweils eine Art Empfangsstation, hier am Karme- te. Aber wir müssen uns jetzt auch einmal gut aufstellen, in der Organilitermarkt ist es unser Café »Zur Rezeption«, im Grätzlhotel Belvedere ist sation, in der Struktur – so ein dezentrales Hotel ist schon etwas a­ nderes
es unser Head Office und am Meidlinger Markt ist es ein entzückender als ein klassisches.
Stand, das »Milchbart«, wo man auch frühstücken kann. Also ganz nette Woran liegt denn für Sie die große Herausforderung verglichen mit
der Führung eines klassischen Hotels?
Anlaufstellen.
Eindeutig das Fragmentierte für das Operative. Man muss für die verWie sieht eigentlich der finanzielle Background aus? Man kann ja
schiedenen Standorte die Reinigung, die Wäsche, das Lager organi­
nicht von der Vermietung eines Zimmers leben?
Von einem nicht, von 20 aber schon. Das Geschäftsmodell ist eben ein sieren. Auch der Verkauf funktioniert ganz anders. Aber es ist irrsinnig
lustig und macht Spaß, weil man wieder total kreativ sein kann.
Immobilienentwicklungsprogramm.
Welche Marketingaktivitäten setzen Sie?
Wie viel Geld nehmen Sie in die Hand, um ein Geschäftslokal in ein
Wir haben schon das Glück, dass die außergewöhnliche Geschichte
Vier-Sterne-Hotelzimmer umzubauen?
Das kommt schon immer auf den Zustand an. Aber ich würde sagen, viele Journalisten aufmerksam macht und uns der WienTourismus
so 50.000 € pro Einheit. Der große wirtschaftliche Vorteil unseres Mo- ­unterstützt. Wir sind auf allen wichtigen Buchungsplattformen gelistet
dells ist, dass die ganzen Nebenflächen eines Hotels wegfallen. Wir und machen viele Zimmerführungen. Ein großes Marketingbudget
­haben k­ eine Lobby, keine Gangflächen, keinen Spa-Bereich. Dafür ­haben wir nicht. dl
m
zur marke
Das Grätzlhotel
gehört zur Urbanauts
Hospitality Group,
­einem Start-up, das
vor vier Jahren von
Theresia Kohlmayr und
fünf anderen Partnern
gegründet wurde. Vor
Kurzem stieß die Hotelexpertin Fanny HolzerLuschnig (Triest,
25hours Hotel) dazu.
Das Unternehmen betreibt derzeit 20 Zimmer in Wien für 120
Euro pro Nacht (Junior
Suite) und 140 Euro für
die Suite. Die Zimmer
verfügen über WLAN,
Minibar, TV, Kaffee­
maschine, Föhn, Zimmersafe und einen
­großen Tisch, den man
vom Schlafbereich optisch abtrennen kann.
Alle Suiten waren früher Geschäftslokale.
Man kann sie auch für
Events anmieten. Das
junge Unternehmen
hat schon zahlreiche
Preise bekommen:
2011 den Zukunftspreis
der Stadt Wien, Innovationspreis der europäischen Kreativwirtschaft, nominiert für
den European Hotel
Design Award.
Be l E tage 01 2016
9
B el E tag e
Die GourmetSymbiose
Der bekennende Foodie Michael Schuster liebt Markthallen. Authentisches Essen. Und
gute Geschichten. Warum daraus die Marktwirtschaft entstand, verriet er Simone Arlits.
w
FOTOS: KLAUS VYHNALEK, MICHAEL SCHUSTER, LUCANUS POLAGNOLI
Was steckt hinter der Idee zur Marktwirtschaft. Wie sind Ihr Gründungspartner Lucanus
Polagnoli und Sie darauf gekommen?
Es gibt ganz viele Ideen, was die Marktwirtschaft ist und was sie sein soll. Zuallererst haben wir
festgestellt, dass dieses Konzept – also die Symbiose aus Markthalle, Café und Restaurant – in
Wien fehlt. Wir hatten dabei ein Mittelding aus erfolgreichen internationalen Beispielen wie
Dean & DeLuca, Eataly – also Restaurant mit Verkauf – oder Borough Market – eine Mischung
aus Essen, Trinken, Verkosten, Einkaufen in der angenehmen Atmosphäre eines überdachten
Open-Air-Marktes – im Kopf. Es geht uns um die Verzahnung dieser Elemente. Natürlich kann
ich am Naschmarkt einkaufen, ich kann dort auch essen gehen. Aber diese beiden Welten haben wenig miteinander zu
tun. Der Naschmarkt hat sich mittlerweile überlebt. Da ist es an manchen Stellen nett, aber an anderen Stellen gibt er gar
nichts mehr her. Klar, in Wien gibt es mit diversen Food-Markets und kulinarischen Pop-ups immer wieder Versuche in
Richtung Borough Market, aber institutionalisiert wie der Markt in London ist nichts davon.
10 B el Eta ge
01 2016
B el Etag e
Welche Hersteller sind noch an Bord?
Was macht die spezielle Atmosphäre dieses Londoner Marktes aus?
Da gibt es zum Beispiel den besten Kaffee, den man überhaupt trinken Das Konzept beruht ja auf einer Dreiteilung. Wir haben einerseits fixe
kann (lacht), Monmouth Coffee – direkt am Borough Market. Da stehen Händler, die Waren des täglichen Bedarfs anbieten, dann gibt es das
die Leute Schlange, um Filterkaffee zu trinken. Besonders schön ist es, ­Restaurant »Die Liebe«, das Produkte aus dem Markt verwendet, um
wenn man ganz zeitig in der Früh hinschaut. Das tut zwar weh, aber ­damit zu kochen und die Idee der Verzahnung aufzugreifen, und in der
dann kann man die Marktstandler dabei beobachten, wie sie selbst noch Mitte des Geschäfts gibt es einen variablen Bereich. Hier kann man ent­
entspannt ihren Filterkaffee trinken und dann langsam zu ihren Ständen weder einen Stand oder einen Regalplatz für eine Woche oder ein paar
gehen und ihr Geschäft beginnen. Diese Atmosphäre wollten wir ein­ Tage mieten, aber er kann auch für Veranstaltungen oder Pressekonfe­
fangen. In allen Großstädten gibt es überdachte Markthallen, die diese renzen genutzt werden. Mit Jänner 2016 bieten wir auch Pop-up-Fläche
Verzahnung bieten – nur in Wien nicht. Einfach gesagt: Unsere Liebe zu an, die über mehrere Monate bespielt werden kann. Im vorderen und
hinteren Bereich des Lokals gibt es also Fixpunkte, während sich die
diesem Konzept steckt hinter der Marktwirtschaft.
­Dinge in der Mitte bewegen können und immer neue Anreize bieten.
Und es geht wohl auch darum, einen Platz zu erschaffen, an dem
Hatten die Firmen, die nun in der Marktwirtschaft vertreten sind, vorauch Sie selbst gerne sein würden …
Genau! Und es geht darum, dass mir schon immer Produkte imponiert her keine eigenen Verkaufsstellen?
haben, hinter denen eine überzeugte Haltung steht. Das müssen keine Das ist ganz unterschiedlich. Im vorderen Bereich etwa gibt es Kaffee von
teuren oder besonders seltenen Produkte sein, sondern Produzenten, Kaffemik, das auch einen eigenen Laden in der Zollergasse betreibt. Die
die eine gewisse Haltung kommunizieren. Das habe ich in Wien ver­ Marktwirtschaft ist also sein zweiter Standort. Wir haben unseren Flei­
misst! Am Naschmarkt gibt es zwar frisches Gemüse, aber es kommt oft scher Markus Dormayer, der ein Geschäft in Langenzersdorf hat und
vom selben Großhändler. Dabei ist unklar, wo es seinen Ursprung hat schon lange auf der Suche nach einem leistbaren Standort in Wien war –
und wer es angebaut hat. Der Gemüsebauer der Marktwirtschaft ist genau, was wir bieten können. Wir liefern die komplette Ausstattung, du
Slow-Food- und Arche-Noah-Mitglied, d. h. er verkauft nur, was zurzeit musst dich dann nur noch mit deiner Ware präsentieren. Der Biohof Rapf
wirklich reif ist. Das ist mühsam, entspricht aber dem natürlichen Kreis­ aus dem Seewinkel, der bei uns Gemüse verkauft, hatte vorher keinen ei­
lauf. Er verkauft dann wiederum Produkte wie Erdmandeln, die ich vor­ genen Shop, steht aber immer wieder auf verschiedenen Märkten. Für die­
her noch nie gekostet hatte, die herrlich schmecken. Dieser Bauer kann sen Produzenten war die Marktwirtschaft die Möglichkeit, einen fixen
zu jedem einzelnen Produkt eine Geschichte erzählen, weil er eine Ver­ Standort zu haben. Andere Hersteller sind nicht persönlich vor Ort, aber
bindung dazu hat. Genauso unser Fleischer Markus Dormayer, der für statten uns mit ihren Waren aus, z. B. Pöhl, Jumi, Baladin-Bier von Barolis­
seine Blutwurst bekannt ist. Er war mit 13 Jahren das erste Mal Blut­ ta, Limonaden von der Lieferei, Brot vom Gragger.
wurstweltmeister! Für ihn ist es eine Herzensangelegenheit, die besten Und wer stellt im flexiblen Marktteil aus?
Da wechselt das Angebot wöchentlich. Aber wir hatten z. B. schon
Produkte herzustellen. Da geht es um ehrliche Leidenschaft.
­Macaroom, das Macarons aus eigener Produktion anbietet, Honig im Glas,
Wie ging es nach der Ideenfindung weiter? Die aufwendige Suche
das unterschiedliche Honigarten anbietet, die man sich selbst a­ bfüllen
nach den richtigen Produzenten, dem richtigen Standort …
Das war tatsächlich umgekehrt. Wir hatten zuerst eine andere Location kann, Jamsession, das selbst gemachte Marmeladen verkauft, Am Dorf­
angedacht, auch im 7. Bezirk. Leider wurde unser Angebot nicht ange­ platz 8, das Kürbiskernöl und Chutneys im Angebot hat, Flaviar, das Spiri­
tuosen in Verkostungsboxen anbietet, und Riess
nommen. Danach mussten wir die Idee wieder für ein
Emaillegeschirr, das sich hervorragend verkauft und
Jahr begraben. Eines Tages bin ich dann an der Location
voll im Kommen ist. Die Möglichkeit, ­direkt mit den
vorbeigegangen, die es jetzt geworden ist. Insgesamt
Produzenten ins Gespräch zu ­kommen, ist für die
480 m2, davon 400 m2 Verkaufsfläche. Zu Beginn war an
Konsumenten einfach super.
diesem Standort in der Siebensterngasse 21 eine Bank,
Also sind die Marktstandler allesamt Spezialisten.
dann war das British Council mit seiner Bibliothek hier
Jeder erzählt seine eigene Story.
vertreten, zuletzt drei sehr glücklose Lokale. Also haben
Darauf kommt es eben an! Wir hatten jetzt gerade
wir wieder ein Angebot gestellt – und ich war gerade in
Hut & Stiel, eine Wiener Pilzmanufaktur, bei uns. Die
San Francisco, als der Anruf kam, dass wir den Zuschlag
Betreiber holen sich von Wiener Restaurants und
bekommen haben. Was dann folgte, war ein Jahr Umbau.
Kaffeehäusern Kaffeesatz, mischen Austernpilz­
Also ein Jahr Fixkosten und Miete zahlen, ohne Umsatz zu
sporen bei, hängen die in Plastiksäcken in einem
haben. Wir hatten Glück, dass die Vertragsbedingungen
Keller im 2. Bezirk auf, und dann wachsen aus den
sehr günstig waren.
Säcken die Austernpilze heraus. Die Pilze werden
Die Ideenfindung, ein Jahr, in dem das Projekt auf
abgeschnitten und wieder an die Restaurants und
Eis lag, ein Jahr Umbau – wie lange gingen Lucanus
Kaffeehäuser zurückverkauft. Eigentlich ein super­
Polagnoli und Sie eigentlich mit der Marktwirtschaft
cooles Recyclingkonzept. Pilze aus Wien in hervor­
schwanger, bevor es endlich zur Eröffnung kam?
ragender Qualität. Hut & Stiel stellt auch selbst Auf­
Sicher drei Jahre! Deshalb war es dann auch gar nicht
striche und Pestos her. Das ist einfach ein super
schwer, die richtigen Händler für uns zu finden, weil wir
Michael Schuster und Lucanus Polagnoli
Produkt! Aber: Wenn man die Geschichte dahinter
eigentlich drei Jahre mit diesem Suchfilter durch die Welt
nicht erklärt, dann ist es nicht mehr so super. Nur
gegangen sind. Es gibt aus dieser Zeit unzählige Konver­
sationen zwischen Lucanus und mir, in denen wir uns gegenseitig Fotos wenn man die Story dazu kennt, erkennt man die Haltung, die dahinter­
schickten und Ideen sammelten, wenn wir auf Reisen unterwegs waren. steht. Solchen Manufakturen fehlt oft der Raum, um ihre Geschichten zu
erzählen. Klar, das können sie online machen. Aber wie kommt der Kon­
So konnten wir Produkte, Orte, Lebensgefühle festhalten.
sument drauf? Und es ist relativ unwahrscheinlich, dass sie mit ihren Pro­
Da gab es doch ein Schlüsselerlebnis in Lissabon …
Bevor wir noch wussten, dass unser Angebot für den Standort ange­ dukten im Retail-Sace einer großen Lebensmittelhandelskette platziert
nommen wird, war ich in Lissabon und bin auf einen unheimlich tollen werden, denn dafür sind die Mengen zu klein. Das ist genau die Art von
Laden namens Loja das Conservas gestoßen, in dem es ausschließlich Geschichten und Produzenten, die bei uns einen Raum erhält.
Sardinen, Thunfisch usw. in Konserven gibt. Ich fand das genial, weil das Die Marktwirtschaft als Food-Concept-Store?
Produkt extrem im Vordergrund steht und jede Fischerei ihr eigenes Nein, so würde ich das nicht sehen. Unser Fokus liegt auf Lebensmitteln,
­Regal hat. Dazu Bilder und Texte, woher die Fischerei kommt, wie die Produkte wie Kochbücher oder Geschirr runden das Sortiment ab. Die
Produktion abläuft und was deren Spezialität ist. Im Endeffekt bin ich Verteilung liegt sicherlich bei 90 % Lebensmittel und nur 10 % Accessoires.
mit zehn Sardinendosen aus dem Laden spaziert. Zehn Sardinendosen Aber wenn Sie mich fragen, was die Marktwirtschaft nun genau ist: Ich
(lacht)! Im Normalfall würde ich nie zehn Sardinendosen kaufen. Aber denke, im Kern ist sie eine Markthalle.
dort war einfach alles besonders – der Laden, die Verpackungen, die Trifft die Marktwirtschaft als Erlebniskonzept den Nerv der Zeit?
­vielen Geschmacksrichtungen, die Möglichkeit, die Produkte zu ver­ Eine Entwicklung in diese Richtung ist im Food-Bereich stark spürbar. Wer
kosten. Ich wusste sofort, dass ich diese Sardinen auch bei uns in der hätte vor zwanzig Jahren Geschichten über Lebensmittel erzählt? Die Tat­
sache, dass ich heute eine halbe Stunde über Sardinen reden kann, ist be­
Marktwirtschaft haben will.
merkenswert. Wenn man vor zehn Jahren in den Supermarkt gegangen ist
und geschaut hat, welche Limonaden es gibt, dann war das vermutlich ein
Fünftel des Angebots, das es jetzt gibt. Es gibt heute viel mehr Angebot,
über das man Geschichten erzählen kann. Ein Konzept wie die Marktwirt­
schaft würde nicht funktionieren, wenn das Produkt­sortiment von vor 15
Jahren vorhanden wäre. Es gibt einen klar erkennbaren Trend hin zu
Kleinproduzenten, die Kleinstmengen herstellen. Die Hersteller trauen
sich etwas in der Produktion und im Packaging, und das wiederum bietet
dem Handel die Möglichkeit, neue Konzepte umzusetzen
SA
Zum STORE
Die Marktwirtschaft
wurde Mitte November
2015 in der Wiener Siebensterngasse 21 eröffnet. Im 7. Bezirk finden
Gourmets und überzeugte Foodies nun
­einen innovativen Indoor-Markt vor, der
ständige und flexible
Marktstände, ein Café
und das Restaurant
»Die Liebe« vereint.
Das Team rund um die
Gründer Michael
Schuster und Lucanus
Polagnoli teilt die Begeisterung und Leidenschaft für hochwertige
und vor allem ehrliche
Lebensmittel: Dani Terbu (Co-Founderin von
Die Frühstückerinnen)
und Nina Mohimi,
­beide The Coolinary
Society, sind an der
Marktwirtschaft be­
teiligt und fungieren
als Trendscouts und
­Sounding Board, während Nina Kasmaei
die ­Geschäftsführung
­übernommen hat.
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11
B el E tag e
Einfache Hose,
innovativ konzipiert
i
Thomas Bechtold ist Leiter des Instituts für
Textilphysik und Textilchemie in Dornbirn,
2015 erhielt er den Vorarlberger Wissenschaftspreis. Seinen Beitrag zum lokalen
­Textilsektor sieht er in der Strategie und der
Vorbereitung der Industrie auf die Zukunft.
FOTOS: Institung für Textilphysik und
Textilchemie Dornbirn
12 B el Eta ge
01 2016
Ihre Karriere hat mit einem Chemiestudium begonnen. Wie sind Sie auf die Textilien gekommen?
Und was fasziniert Sie nach wie vor daran?
Auslösendes Moment war, dass meine Frau, die, wie
ich, aus Vorarlberg ist, in Vorarlberg bleiben wollte.
Ein weiterer Einfluss war sicher auch die lokale
Textilindustrie, die zu einem der bedeutendsten
­
Wirtschaftszweige zählt. Zudem gab es die Höhere
technische Lehranstalt in Dornbirn, die sich im
Textil­sektor positioniert hat. In der Zeit, als ich die
Lehrtätigkeit an der HTL aufnahm, hat die Univer­
sität Innsbruck das Forschungsinstitut für Textilphysik und Textilchemie
in den Räumen der HTL errichtet, und ich hatte die Gelegenheit, mich
darin einzubringen. Im Rückblick war auch viel Zufall dabei. Gleichzeitig
bietet der Textilsektor sehr spannende Themen, und je tiefer man hinein­
kommt, desto faszinierender wird es. So gesehen war es ein glücklicher
Zufall.
Wie können wir uns einen Ihrer durchschnittlichen Arbeitstage
­vorstellen?
Als Institutsleiter bin ich viel mit der Forschungsorganisation befasst.
Umso mehr, als bereits 20 Mitarbeiter im Institut beschäftigt sind. Ich
­bespreche die Projekte mit den Klienten und erarbeite experimentelle
Arbeiten mit den Kollegen. Die aktuellen Forschungsrichtungen erge­
ben sich aus den jeweiligen Projekten. Wir arbeiten mit insgesamt 40 bis
50 Unternehmen zusammen und gestalten unsere Abläufe sehr flexibel.
Meine Kompetenz kann ich insofern einbringen, als viel Chemie in die
Textilforschung einfließt, z. B. in Kombination mit elektrochemischer
Forschung oder Polymerforschung.
Welches sind die in Ihren Augen wichtigsten Beiträge, die Sie bisher
für die (Vorarlberger) Textilindustrie geleistet haben?
Ich würde die Situation gesamthaft und im Dreigespann von For­
schungsinstitut, HTL und Textilindustrie sehen. Durch das Knüpfen von
Innovationsnetzwerken mit den lokalen Unternehmen erfahren diese
Unterstützung, die zunehmend sichtbar wird. Es ist weniger dieses oder
jenes Produkt, sondern der strategische Beitrag und die Aufgabe, die
­Industrie auf die Zukunft vorzubereiten.
Und welchen Beitrag würden Sie gern noch leisten?
Wir sehen eine Dynamik in der Vorarlberger Textilindustrie, die Hoch­
leistungsprodukte für Kleidung im Sinne von ausgezeichneter Produkt­
konzeption entwickelt. Und zu dieser Konzeption können wir beitragen.
Auch eine einfache Hose kann innovativ konzipiert sein. In Zukunft
möchten wir uns noch stärker in die Materialaspekte technischer Textili­
en einbringen und die dazu erforderlichen materialwissenschaftlichen
Grundlagen verfügbar machen.
Welche Fragen werden Sie in der neu etablierten Forschungsplattform am Fisser Schönjoch auf 2.500 m Seehöhe verfolgen?
Das Projekt ist primär auf Sporttextilien ausgerichtet und soll gemein­
sam mit dem Institut für Sportwissenschaft und einem Tiroler Start-up
im Sportbekleidungssektor realisiert werden. Das Projekt soll als Erwei­
terung der Laborarbeit fungieren und im Realtest ein nachvollziehbares
Leistungsprofil liefern, das als Basis für die Entwicklung moderner und
B el Etag e
»Die Vorarlberger
Textilindustrie entwickelt
Hochleistungsprodukte
für Kleidung im Sinne
von ausgezeichneter
Produktkonzeption.
Und zu dieser Konzeption
können wir beitragen.«
Wahrscheinlich steckt der Wunsch nach Reduktion von Komplexität
dahinter. Bei schweißtreibender sportlicher Betätigung wird man mit
natürlichen Materialien, die sich rasch mit Schweiß vollsaugen und
eine lange Trocknungsdauer haben, nicht klarkommen. Das muss
wohl der Grund für den Glauben an synthetische Materialien sein.
Aber es gibt auch andere Anwendungsgebiete von Sportbekleidung.
Der Wanderer, der ein moderateres Bewegungsverhalten aufweist, hat
vielleicht eher das Problem der Geruchsentwicklung von Textilien.
Wenn aktuell die natürlichen Eigenschaften der Wolle wiederentdeckt
werden, dann geht das einher mit der Bereitschaft, einen gewissen
Preis für Merinowolle zu zahlen. Europäische Wolle ist eher grob und
dicke Haare kratzen auf der Haut. Mit feiner Wolle kann auch Unter­
wäsche gefertigt werden. Aber da selbst Sportler derselben Kategorie,
wie etwa Skifahrer, ein höchst individuelles Bewegungsverhalten h
­ aben,
wird hier die Sprache der Sportwissenschaft durch textile Kleidung
intelligenter alpiner Sporttextilien dienen kann. Im Fokus stehen nicht ­beeinflusst, d. h. nicht jeder Skifahrer wird mit Wolle auf der Haut klarTextilien für Expeditionen, sondern für die durchschnittliche Nutzung. kommen. Bekleidungsphysiologische Fragen waren in der Vergan­
Als solches sollen die Ergebnisse auch für kleine Unternehmen verwert- genheit stark marketinggetrieben. Aber die Tendenz zu Naturfasern
bar sein. Im Unterschied zum Labortest kann der Feldtest nicht standar- bedeutet nicht, dass am Ende alle Wolle tragen.
disiert werden. Während die Laborarbeit keine realen Bedingungen ab- In der Mode ist der Ruf nach Nachhaltigkeit dringlich, aber alterbildet, setzt man sich mit dem Feldtest dem Risiko der geringen native und/oder innovative Materialien sind kaum zu finden. Wie
Reproduzierbarkeit von Bedingungen aus. Jedoch bieten Feldtests den ist das zu erklären? Wie beurteilen Sie die Chancen alternativer
Vorteil der tatsächlichen Beanspruchung, die viel unkontrollierbarer ­Fasern zu Baumwolle (Hanf, Brennnessel …)
und vielschichtiger ist, als dies im Labortest angenommen wird. Ein Bei- Wir forschen seit 15 Jahren mit Naturfarbstoffen und arbeiten dabei
spiel dafür sind Alterungsprozesse. Im Labor können die Testbedingun- auch mit Designern zusammen. Eine Anwendung ist nur dann sinnvoll, wenn sie konsequent durchgegen kontrolliert werden, in der freien Natur
führt wird. Die Entscheidung für Nanicht. Man kann das Wetter nicht kontrollieturfarben ist mit Farbeinschränkungen
ren, sondern nur sauber dokumentieren
verbunden, und das ist für Designer
und überlegen, welche Parameter relevant
ein Problem. In der Mode spielt Nachsind. Wenn wir sagen, ein Produkt ist aus
haltigkeit immer noch eine untergediesem oder jenem Grund gut oder schlecht,
ordnete Rolle, und wenn Verfahren
dann ist das oft sekundär, weil das Produkt
kompliziert werden, dann geht man
durch ganz andere Dinge zum Scheitern gerasch wieder zu herkömm­lichen Löbracht wird.
sungen zurück. Bedingt auch durch die
Der Test wird auf Puppen ausgerichtet und
kurzen Entwicklungs­zyklen.
besteht aus dem Messen von Parametern.
Alternative Fasern werden bereits in
Gemessen werden sowohl die WettersituatiProf. Dr. Thomas Bechtold
größerem Umfang eingesetzt. Eine
on als auch die Klimaverhältnisse unter der
sehr gute Gesamtbilanz zeigt die
Bekleidung. Nach einer bestimmten Zeit
werden die Textilien ins Labor zum Test gebracht, wo wir Fragen wie z. B. regene­rierte Zellulosefaser, die zudem durch Tragekomfort überzeugt.
der auffälligen Alterung nachgehen und die Effekte mit Daten unterle- Der Vorteil von Holz liegt nicht zuletzt darin, dass Bäume auch in hügeligen Landschaften wachsen. Bei anderen Pflanzen ist zu bedenken,
gen, um herauszufinden, wie diese entstehen.
dass möglicherweise Agrarflächen genutzt werden, die b
­ esser für LeWarum macht man nicht einfach Trageversuche?
Das wäre noch komplizierter. Man müsste einen Satz von Personen bensmittel zu verwenden ­wären. Bei Hanf wäre auch die Anforderung
­testen, die bestimmte Aufgaben erfüllen. Würde man z. B. Tourengeher einer gesamtheitlichen Nutzung zu bedenken. So sollten nicht nur die
testen, dann beginnt das Dilemma mit der Definition repräsentativer Fasern, sondern auch die Stängelreste und das Öl gewonnen und verAufgaben und setzt sich fort mit der Herausforderung, zehn Tourengeher wertet werden. Letztendlich ist die Gewinnung alternativer Naturfaunter gleichen Bedingungen zu halten. Es muss immer einen Kompro- sern auch eine Kostenfrage. Sowohl Hanf als auch Brenn­nesseln wären
miss geben, und unsere Testmethode ist sicher eine der modernsten und ein schönes Forschungsgebiet. Hanf leidet jedoch wegen dem THCGehalt und der Nutzung als Rauschmittel an einem Imageproblem,
hochwertigsten.
was auch die F
­ orschung erschweren würde.
In welchen Aspekten gibt es noch Verbesserungspotenzial bei
Nach dem Niedergang der europäischen Textilproduktion durch
­alpiner Bekleidung?
In den verschiedensten. Zum Beispiel setzen wir uns mit der bestehen- die Billigkonkurrenz aus China: Wie beurteilen Sie den Stellenwert
den Fluorcarbon-Ausrüstung auseinander, die aus ökologischer von Vorarlberg als Textilproduktionsstandort heute?
Perspek­tive enorm unter Druck geraten ist. Die Ausrüstung wird ihrer Aus meiner Sicht hat Vorarlberg einen sehr hohen Stellenwert. Ich sehe
wasserabweisenden Eigenschaft wegen eingesetzt und ist nicht einfach an anderen Orten selten Dinge, die ich nicht schon aus Vorarlberg
ersetzbar. Man muss vollkommen neue Konzepte entwickeln. Wenn es ­kenne. Es gibt hier eine hohe Dichte an qualitätsorientierten Unterum Recycling und Wiederverwendung geht, dann stehen wir vor dem nehmen, die auch Kooperationsbereitschaft haben. Mit der HTL und
Problem, dass eine Jacke an die zehn Materialien enthält, und überle- dem Forschungsinstitut haben sie zwei Institutionen zur Verfügung,
gen, wie die Jacke zerlegbar ist, wie man die Materialien reduzieren die Informationen liefern und neue Resultate aufbereiten. Europaweit
kann und welche logistischen Möglichkeiten im Recycling zur Verfü- gesehen ist das eine sehr spezielle Situation. Als einzeln stehendes
­Unternehmen hat man immer Probleme, qualifizierte Mitarbeiter zu
gung stehen.
rekrutieren. Ein Konsortium ist hingegen dynamisch und kann viel
Nach einer Zeit, in der künstliche Fasern in der Sportbekleidung
­erreichen. Zudem ist Vorarlberg durch die Lage in der D-A-CH-Region
für unumgänglich gehalten wurden, gibt es jetzt wieder ein klares
begünstigt, weil alle drei Länder hohe Kompetenz im Textilbereich
Bekenntnis zur Natur, z. B. mit speziell aufbereiteter und/oder
­haben. ­verarbeiteter Wolle und Baumwolle. Wie ist das zu erklären?
HS
zur Person
Professor Dr. Thomas
Bechtold wurde 1956
in Dornbirn geboren,
studierte von 1974 bis
1981 an der Universität
Innsbruck Chemie.
1982 bis 1992 unterrichtete er an der Höheren
Bundeslehr- und Versuchsanstalt für Textilindustrie in Dornbirn.
Parallel arbeitete er am
Institut für Textilchemie
und Textilphysik, die als
Außenstelle der Universität Innsbruck im Gebäude der HTL Dornbirn errichtet wurde.
1993 habilitierte er und
1997 übernahm er die
Leitung des Instituts.
Seit 2010 ist Bechtold
Universitätsprofessor
für Angewandte Chemie und Textilchemie.
Die Zahl seiner wissenschaftlichen Publikationen liegt derzeit bei 240
und jene seiner angemeldeten Patente bei
über 20. Bechtolds Arbeiten wurden mit einer
Reihe an Preisen und
Auszeichnungen belohnt. Mit EXP 3.0
­(Ex-Pollution 3.0), der
chlorfreien Filzfreiausrüstung für Wollgarne,
erhielt er 2012 den
­Innovationspreis der
Wirtschaftskammer
Vorarlberg und 2012/13
den Zukunftspreis der
Landeshauptstadt Bregenz. Zuletzt wurde ihm
der Vorarlberger Wissenschaftspreis 2015
verliehen.
Be l E tage 01 2016
13
B el E tag e
Regents
Retter
»Tapferes Schneiderlein« übertitelte die Süddeutsche ihren Bericht über Peter Krampf.
Der Unternehmensberater und Universitätsdozent hat sich eine fränkische Männermoden­
manufaktur angelacht. Die Story dahinter erzählt er Christian Derflinger.
FOTOS: Andrea Katheder
B el Etag e
d
Den Gang vor Ihrem Büro zieren viele Kun­Befreiung aus der Internierung Weißenburg nicht verließen, sondern
denfotos von Michail Gorbatschow und Franz unmittelbar nach Kriegsende mit einer Hemdenproduktion den GrundJosef Strauß bis hin zu Hollywood-Größen wie stein legten. Im letzten November gelang mir ein weiterer Coup, der das
Richard Gere, Anthony Hopkins oder Roman
Unternehmen deutlich weiterbringen wird: Die Agentur Moos + Co
Herzog. Wen wünschen Sie sich als nächsten
übernimmt den Vertrieb in der D-A-CH-Region. Auch hier stimmt die
auf dieser »Wall of Fame«?
Chemie – und Darrell Moos, der über Jahrzehnte maßgeblich für den
Mein persönlicher Traum wäre Basketballer Dirk ­Erfolg von Brioni im deutschsprachigen Raum verantwortlich zeichnete,
Nowitzki, der aktuell für die Dallas Mavericks bringt wertvolle Kundenbeziehungen ein. Übrigens: Den Kontakt f­ ädelte
spielt und gut zu uns – zu Regent – passen würde. Kurt Wiedemann von Sir Anthony in Wien ein …
Obwohl Superstar in der NBA und Millionen­ Sehen Sie sich nun mit einem Investitionsstau konfrontiert?
verdiener, pflegt der Würzburger die fränkische Maschinenpark und Anlagen sind in Ordnung – nach ordentlicher WarBescheidenheit. Und er ist 213 cm groß, also schwer einzukleiden. An tung und Instandhaltung, was die letzten Jahre vernachlässigt wurde, ist
ihm könnten wir beweisen, wie man einen gut sitzenden Anzug macht … alles in Schuss. Nähmaschinen, speziell für die Jeansfertigung, haben wir
Worin liegt die Faszination am Geschäftsmodell Regent?
sogar neu angeschafft. Denims von Regent? Das fragen sich viele! Doch
Sie wollen wohl fragen, warum ich mir das antue (lacht)? Und ja, mein die Anregung kam von außen, die extreme Nachfrage erstaunt mich
Finanzberater hätte mir sicherlich vom Kauf des insolventen Unterneh- selbst. Wichtigstes Kapital sind jedoch unsere rund 50 Mitarbeiter, ich
mens abgeraten, wenn ich ihn gefragt hätte. Vielleicht ist es der Reiz, in habe die gesamte Belegschaft übernommen. Ein Wort zum Fertigungsder Champions League mitspielen zu können. Das ist im Fußball so und wissen: Zwischen 13 und 15 Stunden brauchen Schneider, Zuarbeiter
in anderen Sportarten auch. Ganz entscheidend ist, dass Regent im Pre- und Näherinnen, um in mehr als 200 Arbeitsschritten einen Anzug hermiumsegment angesiedelt ist, ansonsten wäre ein Fertigungsstandort zustellen. Als Teil meiner Strategie haben wir zusätzlich einen Exklusiv­
Deutschland gar nicht darstellbar. Dann die Überzeugung, dass es anzug entwickelt, in dem noch mal fünf bis sieben Stunden mehr Hand­genug Potenzial für Produkt und Marke gibt. Und die Faszination des arbeit stecken. Und für den im Handel rund 1.000 € mehr bezahlt
Handwerks, die Tatsache, dass so eine Manufakturarbeit hierzulande werden – also ab 3.000 €, nach oben hin offen. Einstige Aushängeschilder
überhaupt noch existiert. Ich kenne viele Fertigungsabläufe – da s­ tehen in der Kundenkartei konnten wir bereits wieder zurückgewinnen, wie
halt Roboter und schweißen alles zusammen, dazwischen verliert sich KaDeWe, Lodenfrey oder Breuninger.
eine Handvoll Menschen. Was für mich lange nicht so beeindruckend Und wie halten Sie es mit der Kollektionsentwicklung?
ist, wie zu sehen, wie mit der Hand schöne Dinge entstehen.
Meine Formel: Wenn wir eine zahlungskräftige Klientel ab 30 für unser
Regent gehörte von 2001 bis zur Insolvenz 2015 zur
Produkt begeistern, dann haben wir sie für 30 Jahre
Tombolini-Gruppe. Was war der Fehler der Italiener?
als treuen Kunden. Daher arbeiten wir an einer
Ich musste mir von den Banken die Frage stellen las­Verjüngung der stilistischen Ausrichtung. Und offensen, was ein absolut Branchenfremder besser machen
sichtlich kommt uns der Zeitgeist entgegen. Denn
könnte als renommierte Modeprofis. Und ob das
noch bevor ich irgendetwas initiieren konnte, ver­Ganze nicht ein strukturelles Problem sei. Aber aus
spüren wir seit Sommer ein starkes Interesse bei gemeiner Sicht gibt’s kein Strukturproblem, wenn man
nau dieser Zielgruppe junger, erfolgreicher Männer.
sich alleine die Stückzahlen anschaut, die Brioni und
Die finden Regent tatsächlich sexy und cool! Ich habe
Zegna an den Mann bringen können. Zusammen
bei einigen von ihnen nachgefragt – wie bei Deutsch350.000 Ärmelteile im Jahr – da fallen unsere 5.000 gar
lands jüngstem Staatsorchester-Dirigenten, einem
nicht auf! Bei Regent waren es klare Management­
mehrfach ausgezeichneten Spiegel-Journalisten oder
fehler. Nach drei Wochen haben die Mitarbeiter in der
dem Mymuesli-Gründer –, was denn »cool« im ZuFertigung zu mir gesagt, sie hätten mich jetzt öfter
sammenhang mit unserer Marke für sie heißt. Als
­gesehen als Frau Tombolini in 14 Jahren. Ohne Prä­Älterer tue ich mich ja schwer mit diesem Wort. Das
senz und ohne Kundenkontaktpflege – die letzten
Ergebnis: Diese Leute suchen keine modische Extrazwei Jahre hatte wir nicht einmal einen Vertrieb –
vaganz. Es ist vielmehr der Brückenschlag zur Nachfunktioniert kein Geschäftsmodell. Die Hoffnung, es
haltigkeit. Dass man zu uns nach Weißenburg hinläuft alles von alleine und man kann Geld rausziehen,
fahren kann und sieht, dass unser Tun keine
kann nicht aufgehen. Ich sage von mir ungern, ich
Marketingshow ist. Dann die Individualität: z. B. dass
Peter Krampf
wäre Investor. Ich bin Inhaber und versuche das Geld
man die Handytasche dort haben kann, wo immer
in der Firma zu lassen und zu reinvestieren. Wichtig
man sie will. Und auch die 70-jährige Tradition geist, dass die Löhne gezahlt werden und wir alle davon leben können. fällt: Unsere Arbeit ist nicht etwas gerade Aufgekommenes – kein Hype,
Mein Ziel ist nicht der Millionär, sondern ein stabiles Unternehmen. Ge- der womöglich bald wieder in der Versenkung verschwindet …
schafft hat man es dann, wenn man an die nächste Generation über­ Was sind die News in der Herbstkollektion 2016?
geben kann. Ständig in irgendwelchen Umsatzrenditen zu denken, z­ ähle Als Branchenneueinsteiger bediene ich mich da lieber der Formulierunich nicht dazu.
gen von Detlev Diehm (lacht und liest vor): Ganz neu ist eine Linie mit
Wie steht Regent heute da, was ist der USP?
extrem weichen, auf Kamelhaareinlage verarbeiteten Sakkos in luxuriöIn der kurzen Zeit gelang es mir, das Team wieder zu vervollständigen. sen, flauschigen Stoffen. Ebenfalls neu: »Casual Dinner« – AnlassbekleiUnseren langjährigen Kreativdirektor Detlev Diehm traf ich am Pitti – er dung in innovativen Stoffen, frei von jeder Steifheit: gerautes Biber­
arbeitete ja mittlerweile für Scabal. Viel Überredungskraft bedurfte es gewebe aus reiner Seide, gewaschener Jersey-Samt, dazu Hosen aus
nicht, ihn von Belgien nach Weißenburg zurückzuholen, seit September Samt mit Galon. Generell wichtige Materialaussagen sind flauschig
ist er da. Ich habe einige Designer kennengelernt, doch er passt am bes- ­verstrichene Kamelhaar- und Alpakatypen, extrem feine und leichte
ten zu Regent. Er kennt die Historie, die Zielgruppe und bringt – wie auch Kammgarn-Cashmeres, luxuriöse Gestricke aus Cashmere, Seide oder
ich – das notwendige Quantum Verrücktheit mit. Bei der Stofforder habe Mischungen aus beidem. Donegal-Jerseys und strickartige Artikel aus
ich ihn begleitet, um das alles auch einmal kennenzulernen. Und ge- feinstem Yak stehen für »Casual Luxury«. In der umfangreichen Outmerkt, dass wir gut zusammen können: Beide haben wir die Begeiste- door-Kollektion dominieren neu und weich interpretierte Mäntel. Ein
rungsfähigkeit für Schönes und Herausforderndes. Der USP von Regent spezielles Schnittverfahren erlaubt Schulterlinien, die gleichzeitig korist, wie Herr Diehm schon immer zu sagen pflegte, das »Sartorial Engi- rekt und lässig wirken. Stark vertreten ist der taillierte Zweireiher – das
neering«, dieses Ingenieurgetriebene. Da sind wir halt mehr deutsch schönste Statement für eine maskuline und elegante Erscheinung. Dazu
und weniger italienisch. Wir fragen uns zum Beispiel: Kann man diesen kommen Modelle mit funktionaler Ausrichtung: Field-Jacket, Outdoorsuperleichten Seersucker, diesen extrafeinen Jersey, über den sich Sakko und Dufflecoat halten Nässe und Kälte auf stylishe Art vom ­Leibe.
­niemand anderer drübertraut, überhaupt verarbeiten? Wie bekommen Diese minimalistischen, doch luxuriösen Modelle sind entweder mit
wir das hin? Diese Besessenheit braucht’s bei Regent – ganz in der Tradi- ­
unserer bewährten fränkischen Daune oder mit einem neuartigen
tion der Gründer Henryk Barig und Michael Aisenstadt, die nach der Steppvlies aus Babykamelhaar gefüttert. cd
zur Person
Peter Krampf, (44) ist
gebürtiger Weißenburger und promovierter
Wirtschaftswissenschaftler. Nach dem
Studium in Bayreuth
führten ihn berufliche
Stationen in den Einkauf von VW, zur strategischen Unternehmensberatung
McKinsey und in die
erweiterte Geschäftsführung des Energieversorgers EnBW. In
der von ihm mitgegründeten Conadeo
GmbH (München) tritt
er als Unternehmensberater auf. Darüber
hinaus hält Dr. Krampf
Vorlesungen am Lehrstuhl für Produktionswirtschaft und Industriebetriebslehre (Uni
Bayreuth) und schreibt
Fachbücher über Beschaffungs- und Prozessmanagement. Im
April 2015 erwarb er
aus einer Insolvenz den
Herrenmodenkonfektionär Regent, der mit
Sitz in Weißenburg
heuer seinen 70-jährigen Bestand feiert und
als letzter in Deutschland produzierender
Betrieb seiner Art gilt.
50 Mitarbeiter erwirtschaften aktuell rund 2
Mio. €, eine Umsatzverdoppelung ist nach
Abschluss der Transformationsphase geplant.
Krampf ist langjähriger
Kunde des Hauses (so
trägt er seit seinem
McKinsey-Engagement
ausschließlich RegentAnzüge), verheiratet
und hat einen sieben
Monate alten gemeinsamen Sohn. Familie,
Laufen (Marathons),
Schreiben und Reisen
nennt er als Hobbys,
Regent als »absolutes
Herzblut-Anliegen«.
Be l E tage 01 2016
15
B el E tag e
Selbst ist die
Dirndlfrau!
Die Zeit ist reif für neue Ideen! Und
Modemenschen, die sich etwas trauen.
Eine davon ist Jennifer Zittiér, die mit
»DesignyourDirndl« den Trachtennerv
der Zeit getroffen hat, wie sie
Rea Hall erzählt.
FOTOS: DesignyourDirndl
16 B el Eta ge
01 2016
B el Etag e
s
Sie sind im zarten Alter von 20 Jahren, seit zwei
­Jahren haben Sie Ihr eigenes Unternehmen und
­erobern dabei die einst als verstaubt betrachtete
Trachtenwelt ausschließlich über neue Medien und
Social Networks. Wie kam es dazu?
Das ist ganz einfach – ich liebe es, neue Dinge auszuprobieren. Das gilt auch beim Shopping. Und genau das ist
das Problem. Wir leben heute in einem unfassbar langweiligen Massenmarkt. Ich bin sehr viel unterwegs – in Österreich oder auf Reisen – und DesignyourDirndl ist ebenfalls als Start-up-Unternehmen gegrünüberall, wo man hinkommt, sieht man immer nur die gleichen Labels. Es det worden. Was ist der Unterschied zu einer »klassischen Firmengibt immer weniger heimische bzw. ungewöhnliche Marken und immer neugründung«?
weniger ausgefallene Läden. Das ist langweilig – nicht nur für mich, son- Kurz gesagt: Sich selbstständig machen war noch nie so einfach. Entdern auch für Kunden, die auf der Suche nach etwas Speziellem, etwas sprechend ist auch die Start-up-Szene extrem dynamisch und sie wächst
Ungewöhnlichem sind.
rasant. Der größte Unterschied zur guten alten Firmenneugründung ist,
Aber vor allem Tracht steht doch für Heimat, Wertigkeit,
dass es auf einer sehr persönlichen Ebene abläuft. Es geht hier nicht pri­Authentizität.
mär ums Geld, sondern um Kommunikation, Austausch, Kooperation
Ja, das stimmt, und deshalb habe ich mich auch dazu entschieden, in und Networking. Diese Bewegung kommt aus den USA, wo sogenannte
diesen Markt einzusteigen. Meine Mutter und ich sind vor drei Jahren »Business Angels«, also bereits etablierte und erfolgreiche Unternehmer,
auf’s Oktoberfest gefahren. Bis dahin hatte ich kein Dirndl und war völlig jungen Kreativen mit ihrem Geld, ihrem Know-how, ihrer Zeit, ihren
enthusiastisch, das perfekte Dirndl für mich zu finden. Die Ernüchte- Kontakten helfen, Fuß zu fassen.
rung kam recht rasch, denn nach unzähligen Anproben erkannte ich, Ihr Business Angel ist Bernhard Kloucek. Wie kommt man an diese
dass es für mich kein passendes Dirndl gibt. Das erste Problem war Kontakte?
schon die Passform: Ich habe eine schmale Taille und
Das ist mittlerweile auch in Österreich sehr einfach.
eine größere Oberweite, weshalb ich kein Dirndl gefunZum einen gibt es da die Organisation Austrian­
den habe, das an beiden Stellen perfekt saß. Wenn dann
Startups, die regelmäßig Veranstaltungen wie z. B.
mal eins halbwegs passte, gefielen mir die DekoratioStammtischabende veranstaltet, wo sich Jungunternen nicht oder die Machart. Also haben meine Mutter
nehmer und potenzielle Investoren in lockerer Atund ich uns kurzerhand entschlossen, unsere eigenen
mosphäre treffen. Zum anderen gibt es die Plattform
Dirndl zu nähen, nach unseren Vorstellungen.
»Shuffle for Money«, die wirklich witzige Events wie
Der Beginn einer Erfolgsgeschichte?
z. B. Speed-Dating-Abende veranstalten. Dabei trefKann man so sagen, denn das Feedback auf unsere
fen sich jeweils drei Leute – Kreative und Investoren
Dirndl war schon während der Bahnfahrt nach Müngemischt – an einem Tisch und haben 60 Sekunden
chen enorm und auch auf dem Oktoberfest selbst
Zeit, ihre Ideen bzw. Vorstellungen zu präsentieren.
­haben uns Dutzende Frauen angesprochen, wo wir die
Das klingt innovativ. Woher kommt dieser
Teile her hätten. Und nach kurzer Überlegung war
­Umdenkprozess seitens der Unternehmer?
»­DesignyourDirndl« geboren. Die Idee dahinter: Wir
Viele, wie eben Bernhard Kloucek, haben mittlerwollen jugendlich und modern sein, dabei die Tradi­
weile erkannt, dass wieder mehr auf der persönlition bewahren, aber keinesfalls etwas Abgeklatschtes
chen Schiene laufen muss. Mit dem Einheitsbrei
zeigen. Deshalb sind unsere Dirndl nicht nur Tracht,
kommt man nicht mehr weit – es muss wieder
sondern auch extravagante Sommerkleider und mit ein
individueller, faszinierender werden. Und genau
­
paar Handgriffen auch absolut alltagstauglich.
wir Start-ups stehen für diese neuen Ideen, für
Jennifer Zittiér
Wie funktioniert das Konzept?
­besondere Produkte mit dem gewissen Etwas, die
DesignyourDirndl basiert auf drei Säulen: Erstens hanicht jeder hat, sondern die vielmehr Individualität
ben wir einen ganz normalen Onlineshop, wo meine ­eigenen Designs und Kreativität widerspiegeln und wo persönliche Geschichten dahinangeboten werden. Von jedem Modell gibt es maximal zwei bis drei terstehen. Und das ist das Konzept, Kunden zu b
­ egeistern.
Stück in den Größen 36 bis 40. Ist der Stoff vorrätig, kann auf Wunsch Dennoch ist die Lebensdauer von vielen Start-ups eher
auch eine größere Nummer genäht werden.
­bescheiden …
Die zweite Säule ist der Onlinekonfigurator, bei dem die Kundin ihre Und dann gibt es Start-ups wie Runtastic aus Österreich, die mit einer
Maße – also Länge, Brust-, Taillen-, Hüftumfang – eingibt und dann aus simplen App nach nur fünf Jahren 140 Mio. Downloads und 70 Mio. reüber 150 verschiedenen Stoffen und unzähligen Dekorationen etc. wäh- gistrierte User begeisterten und das Unternehmen mit einem Schlag um
len kann. Generell arbeite ich hier mit drei Basismodellen: Unterbrust- 22 Mio. € verkauft haben … Klar hat die Medaille zwei Seiten, aber genedirndl, Balkonettdirndl und eine schulterfreie Variante. Alles andere ist rell stehen Start-ups auch für eine Politik des schnellen Scheiterns. Das
für die Kundin frei wählbar – von der Machart der Schürze bis hin zu den heißt, wenn eine Idee nicht funktioniert, sollte man sich nicht lange
Knöpfen, Verzierungen, Bändern etc. Sämtliche Stoffe und Materialien ­damit rumquälen, sondern lieber Altlasten über Bord werfen und die
stammen dabei zu 100 % aus Österreich.
nächste Idee entwickeln.
Und die dritte Säule ist die Kooperation mit NextSalesroom, einem Start- Zurück zu DesignyourDirndl: Die Idee funktioniert. Was wird sich
up, das Flächen in Einkaufszentren oder hippen Locations an­mietet und in Zukunft tun?
diese an Designer weitervermietet, wo man in einer Art Shop-in-Shop Zwischen der Super-It-Bag von Chloé und der typischen Herzerltasche
seine Produkte präsentieren und verkaufen kann.
war der Taschenkauf zum Dirndl fast so schwierig wie der Dirndlkauf
Abgesehen von dieser Kooperation arbeiten Sie ausschließlich
selbst. Deshalb gibt es seit Kurzem auch passende Taschen zu meinen
­Online – speziell in Sachen Marketing.
Designs sowie Sackpacks und Reisetaschen, die ebenfalls aus den
Was anderes kommt für mich und meine Zielgruppe der 15- bis 35-Jähri- Dirndlstoffen gemacht werden. 2016 sollen auch zu den Dirndln
gen auch nicht infrage. Jeder hängt den ganzen Tag am Smartphone auf ­passende Maßhemden für Herren und freche Sneakers folgen.
RH
Facebook, Twitter, Instagram oder diversen Blogs. Nehmen Sie Dagi Bee,
die mit ihrem YouTube-Kanal mittlerweile über 4 Mio. Menschen erreicht. Posten, kommentieren, promoten, teilen und liken heißt die Devise. Online habe ich die Möglichkeit, meine gesamten Produkte innerhalb von fünf Klicks perfekt zu visualisieren und zu präsentieren – und
zwar auf den Kanälen, auf denen auch meine potenziellen Kunden sind.
Zur Person
Jennifer Zittiér
­studiert derzeit Inter­
nationale Betriebswirt­
schaft in Wien. Und
weil »nur« Studentin
sein dann doch etwas
zu langweilig war,
gründete sie mit 18 ihr
eigenes Trachtenlabel.
Heute ist sie 20 und lei­
tet zusammen mit ihrer
Mutter, einer Textil­
designerin, das erfolg­
reiche Online-Label
DesignyourDirndl, ein
junges Start-up, das die
heimische Trachtensze­
ne virtuell aufmischen
will. Ihre Zielgruppe:
die »Generation Smart­
phone«. Ihr zweites zu
Hause: Facebook, Twit­
ter, Instagram, You­
Tube und Bloggerinnen
jenseits der 100.000
Follower. Ihre Mission:
Weg mit dem Einheits­
brei, hin zu mehr Indi­
vidualität und Persön­
lichkeit. Wie das geht?
Mit maßgeschneider­
ten Produkten, Leiden­
schaft, Charisma und
vor allem starken
­Netzwerken.
Be l E tage 01 2016
17
B el E tag e
Future
now
w
Welche Auswirkungen hat die Flüchtlingskrise auf Europa?
Ich glaube, dass das Thema international unterschätzt wurde und dass Europa
auf einem Prüfstand steht. Es wird insbesondere in den nächsten ein bis zwei
Jahren eine große H
­ erausforderung werden, Europa so weiterzuführen, wie es
bisher war, und auch ob und in welcher Weise es erweitert wird.
Inwieweit wird dies Einfluss auf die Lifestyle- und Modebranche haben?
So, wie wir einerseits einen großen Trend betreffend die Durchmischung der
Geschlechter, also auch der weiblichen und männlichen Seiten, haben, wird es auch eine Fusion unterschiedlicher Kulturen geben. Dies wird sich in einigen Saisonen bei den internationalen Kollektionen bemerkbar machen.
Wird die Angststarre, in der wir uns im Moment befinden, einen Einfluss auf die aktuellen Makrotrends haben?
Wir beobachten schon seit einiger Zeit eine steigende Gewichtung des eigenen Heims als ultimativen
Rückzugs- und Zufluchtsort. Diese Entwicklung wird natürlich durch die Ereignisse der letzten Monate
verstärkt. Dadurch lernen die Menschen aber auch wieder Familie und Freunde mehr zu schätzen und
18 B el Eta ge
01 2016
B el Etag e
Das englische Trendbüro WGSN bietet Einblicke in die Fashion-Welt von morgen.
Zu den Kunden zählen Dolce & Gabbana, H&M oder Zara. Im Gespräch mit Irmie
Schüch-­Schamburek erklärt Thorsten Traugott, Executive Vice President EMEA WGSN,
wie sich der Lifestyle-Markt in Zeiten von Terror und Flüchtlingskrisen entwickelt.
FOTOS: WGSN/FOTOLIA
verstehen, dass diese Werte nicht einfach selbstverständlich sind. Zugleich gibt es jedoch eine Bewegung, die aktiv dem Terrorismus trotzt.
Was bedeutet dies für das Kaufverhalten?
Hier gibt es eine zweigleisige Entwicklung. Einerseits wird der E-Commerce-Bereich weiter wachsen, natürlich auch durch die aktuellen Gegebenheiten, aber es wird auch immer noch genügend Käufer geben, die
in einem realen Shop einkaufen möchten oder beide Varianten nützen.
Diese schätzen zwar das Service und die Bequemlichkeit von Online­
bestellungen, aber sie sind gelangweilt und suchen auch das besondere
Kauferlebnis.
Wie sieht das Shoppingerlebnis der nahen Zukunft aus?
In unserer Gesellschaft herrscht bereits eine gewisse Kaufmüdigkeit.
Durch die Globalisierung ist Shoppen nicht mehr spannend. Es gibt in
jeder Stadt in jedem Land die gleichen Retailer – von Mass Market bis hin
zu Luxusbrands. In der Zukunft wird immer wichtiger, dass die Menschen sich persönlich in die Kreation einbringen können, sich über die
Produkte, ganz gleich ob es sich dabei um Mode, Accessoires oder
Home-Design handelt, auch selbst verwirklichen mit »customized« Produkten, beispielsweise Print-on-Demand. Es wird nicht mehr rein um
das Produkt gehen, sondern mehr um das Service und das System rundherum. Individuell gefertigte Lösungen schützen natürlich auch vor
­einer harten Saison oder einem hohen Lagerdruck.
Wie kann ein kleiner Händler diese Wünsche erfüllen?
Er könnte beispielsweise zu seinem üblichen Prêt-à-porter-Sortiment
auch Customized-Teile anbieten, um den Kunden vor Ort in die Konzeption seines persönlichen Kleidungsstücks einzubinden. Vielleicht den
Stoff vor Ort zu fühlen, den Schnitt auszuprobieren oder die Farben der
möglichen Muster live zu sehen. Die Möglichkeit von personalisierten
Unikaten wird einen enormen Push in der Kauflust bewirken. Gerade in
den urbanen Hotspots wird sich dieser Trend schnell etablieren.
Das können jedoch die wenigsten Händler alleine bewerkstelligen.
Hier sind auch die großen Marken gefragt, die Händler dabei zu unterstützen, indem sie ihnen die entsprechenden Möglichkeiten, am besten
auch ergänzt durch entsprechende Apps oder interaktive Websites, zur
Verfügung stellen und ihnen auch dann die individualisierten Produkte
liefern. Für solche Unikate wird der Kunde auch bereit sein, einen
­höheren Preis zu zahlen, da er sie auch länger tragen möchte.
Werden die Labels durch diese Individualisierung an Bedeutung
verlieren?
Ja und nein. Die Brands müssen sich absolut transparent präsentieren,
sich wirklich und aufrichtig mit ihren Kunden befassen. Und es wird
­beides parallel geben, die Individualisten und die markenorientierten
Kunden – und auch Marken können natürlich ihre Produkte individualisieren. Was gibt es Schöneres als ein Produkt meiner Lieblingsmarke,
das für mich speziell gefertigt wurde? Brands wie beispielsweise Adidas
oder Nike, die individualisierte Schuhe anbieten, haben diesen Trend
schon aufgenommen.
Glauben Sie, dass die Kluft zwischen Arm und Reich weiterhin
wachsen wird?
Ja, doch das ist regional unterschiedlich, auch in Europa. Diese Ent­
wicklung ist schwer aufzuhalten. Doch das bringt auch mehr Chancen
für den Handel, denn heute haben wir das höchste Niveau an reichen
Menschen. In der ganzen Geschichte gab es noch nie so viele Millionäre
wie heute.
Was bedeutet das für den Mittelstand?
Der Mittelstand wir sich dramatisch minimieren. Früher war der Anspruch von 98 % der Bevölkerung, dem Mittelstand anzugehören. Heutzutage sieht das kaum jemand als erstrebenswert. Alle wollen reich sein
und den Hauch von Luxus spüren – und sei es nur in kleinen Dingen
oder Statussymbolen. Dieses Feeling ermöglicht aber auch Customized
Design. Es macht seinen Eigner glücklich und er signalisiert zugleich
­seinem Umfeld, wie einzigartig und toll er ist. Heutzutage werden insbesondere bei jungen Manschen die Fantasien des Reichtums durch die
vielen Erfolgsstorys von kleinen Start-ups genährt. Es genügt scheinbar
eine gute Idee. Diese kann, beispielsweise verbreitet durch soziale Medien wie Facebook oder Youtube, in kürzester Zeit einen unglaublichen Erfolg und Geldsegen bewirken. Der Traum von Berühmtheit, Vermögen
und fulminanter Karriere ist so präsent wie noch nie.
Haben Sie einen Tipp für den kleinen bis mittleren österreichischen
Einzelhändler, wie er sich für die Zukunft bestmöglich wappnen
kann?
zur Person
Authentizität ist das Wichtigste. Der Händler muss genau wissen, wer
seine Konsumenten sind, und ihnen auch zuhören können. Ich rate
­meinen Händlern, ihre Kunden zu fragen, wie es ihnen geht, was sie sich
wünschen, ihre Bedürfnisse zu hinterfragen. Das ist wichtig, um die
­Situation zu analysieren und Änderungen wahrnehmen zu können. Die
Bedürfnisse des Endverbrauchers ändern sich rasant. Was vor fünf oder
drei Jahren war, ist heute Vergangenheit. Ein sehr häufiger Fehler ist, von
der Vergangenheit auf die Zukunft zu schließen. Man muss den Kunden
dort abholen, wo er heute ist.
Was erwartet uns für die Herbstsaison 2016/17?
Auch wenn die Technologien immer weiter fortschreiten, hat unser
Team dennoch den Eindruck, dass »hand-made« und Handwerkskunst
erneut Terrain gewinnen werden. Es geht bei diesem von uns »Artisan«
genannten Trend primär um authentische Materialien, wie unbehandeltes Leder, pures Indigo oder hochwertige, kunstvoll gewebte Stoffe.
Diese Modeströmung legt großen Wert auf die »Echtheit« der Produkte,
auf Handarbeit, detailreiche Verzierungen, individuelle Anfertigungen
und Unikate.
Im Style-Fokus »Remaster« stellen wir uns die Frage, wie wir den Schatz
unserer Historie und Kultur in die Zukunft integrieren, wie wir Dinge, die
wir schätzen und respektieren, erneut verwenden können, da sie für uns
einen großen Wert haben. Dies drückt sich durch eine große Retrospektive der künstlerischen Einflüsse der letzten Jahrhunderte aus – mit
Schwerpunkt auf Barock und Mittelalter, modisch umgesetzt als üppige
Jacquards, strukturierte Textilien, metallisch schimmernde Optiken,
Samt und Seide. Diese Elemente verbinden sich jedoch mit höchst
­futuristischen Details und Silhouetten.
Ist der Naturtrend noch immer so allumfassend?
Dieses Thema präsentieren wir in der Tendenz »Elemental«. Sie beschäftigt sich mit der Natur, ihren Elementen und der Umwelt und handelt
von Stille und Gelassenheit. Die Farben sind sehr weich und verschwommen, fast so, als würde man sie durch Nebel betrachten. Extreme Struktur verbindet sich darin mit extremer Feinheit, die Stoffe sind schlicht,
komfortabel, weich, zumeist unifarben und taktil spannend.
Gibt es neben den gediegenen Trends auch ausgeflippte Styles?
Ja, bei »Offbeat« geht es von Ultra-Analog zu Ultra-Digital, dem Mischen
und Spielen mit verschiedenen Farben, Mustern und Textilien. Ziel ist es,
den sogenannten »Street-smart«-Status der 90er zu erzielen und mit
dem heutigen Touch von sportlicher Eleganz zu vereinen. Die Kollektion
hat einen Hang zum Psychodelischen und sogenannten RegenbogenPunk mit grafischen zweidimensionalen Designs.
Können Sie uns auch schon einen kleinen Einblick in die Herbst/
Winter-Saison 2017/18 geben?
Sie steht unter dem Hauptthema »The Great Reset«. Mensch und
­Maschine rücken immer näher zusammen und der Homo sapiens wird
sich aufgrund der technischen Rahmenbedingungen neu erfinden. Geschlecht, Klischee, Ethnie, Religion, Design, Natur, Business, alles wird
neu aufgegriffen werden und neu interpretiert und bewertet. DNA trifft
auf Technologie, auf Ästhetik, um einen personifizierten erneuerten
Wellnesseffekt zu erzielen. Auch versteckte Technik wird eine immer
wichtigere Rolle spielen, Wearables, die mit den Stoffen verschmelzen
und verschiedene interaktive Features aufweisen. Diese können klima­
aktiv sein, kommunikativ oder den Gesundheits- oder Wellnessfaktor
des Trägers erhöhen.
Zurück zum Sommer 2017, welche Themen erwarten uns?
Das ist die vorbereitende Saison für den großen »Reset« 2018, allen voran das Thema »Digital Wave«, in dem es um die rasante Entwicklung digitaler Technologien geht. Sehr spannend ist auch das Naturthema
»Earth«, das uns weiterhin erhalten bleibt. Hier wird die Bedeutung der
Erde hinterfragt, wie wir der Natur wieder näher kommen können, in
­einen neuen Dialog mit ihr treten können. Organisches Design, natur­
nahes, recyceltes, stylishes Design aus Müll – auch für den Luxusmarkt.
Auch Farben werden eine noch größere Bedeutung bekommen.
iss
Thorsten Traugott,
Executive Vice President EMEA bei WGSN,
war zuvor als Territorial Manager Germany
sowie als Business
­Development Manager
Germany & Netherlands WGSN sowie bei
Mode...information
Heinz Kramer GmbH
tätig und sammelte Berufserfahrung als Manager im Bereich Sales,
Key Account, Advisory,
Account und Business
Development national
und international inklusive Präsentationen,
Schulungen, Seminare,
Messen etc.
Be l E tage 01 2016
19
B el E tag e
r
Road Crêpe – vegane Crêpes aus dem FoodTruck
heraus verkauft. Wie kam es zu dieser Idee?
Ich habe Sport studiert, habe mich mit Bewegung und
Ernährung auseinandergesetzt. Außerdem habe ich
meinen Vater, der Gastronom ist, jedes Jahr auf die
Gastromesse in Salzburg begleitet. Dort habe ich ein
Espressomobil gesehen, sprich eine Ape, von der aus
Kaffee verkauft wurde. Parallel hat sich meine eigene
Ernährung immer mehr in Richtung vegetarisch und
vegan entwickelt und ich hatte irgendwann die Idee, dass man so eine
Ape auch für Food-Verkauf nützen kann. Zu der Zeit habe ich noch gar
nicht mitbekommen, dass Food Trucks international ein großes Thema
sind. Den letzten Kick hat mir dann ein Traum gegeben. Ich habe davon
geträumt, Crêpes zu verkaufen – et voilá, die Idee zu Road Crêpe war
­geboren. Zunächst hatte ich das Konzept von vegetarischen Crêpes im
Kopf, nachdem ich mich dann aber vorwiegend vegan ernährt habe, war
es klar, dass ich auch vegane Crêpes anbieten will. Inspirierend war für
mich auch die Tatsache, dass ich auf meinen Rucksackreisen, die mich
rund um den Globus gebracht haben, immer wieder auf Crêpes gestoßen bin. Egal, ob in Thailand, Vietnam oder Australien. In irgendeiner
Variation gab es immer Crêpes. Nur in Österreich bzw. Wien nicht. Klar,
es gibt diese typischen, billig hergestellten Crêpes, die man auf Weihnachtsmärkten usw. bekommt, die kaum Nährstoffe enthalten. Ich
­wollte wertvolles Essen verkaufen, deshalb baut meine Küche auf den
drei Säulen vegan, TCM (Traditionelle Chinesische Medizin, Anm.) und
Superfoods wie Hanf- oder Chia-Samen auf. Healthy Fast Food!
Hat sich das Bewusstsein für Ernährung grundsätzlich geändert?
Die Art und Weise, wie wir uns ernähren, ist langfristig einfach nicht
mehr tragbar. Dreimal am Tag Fleisch zu essen, das funktioniert nicht
mehr. Ganz zu schweigen vom Gesundheitsaspekt. Vegan hat sicherlich
eine Zukunft, auch wenn es um die Ernährung der breiten Masse geht.
Physiologie
des Geschmacks
20 B el Eta ge
01 2016
B el Etag e
Warum ein Traum manchmal ausreicht, um ein Business aufzubauen? Marc Schweiger
wagte den Schritt in die Selbstständigkeit – und verkauft vegane Crêpes mit seinem Food Truck.
Marktstandbesitzer ist er seit Neuestem auch, verriet er Simone Arlits.
FOTOS: Daniel Bointner
zur Person
Das bedeutet nicht unbedingt, dass man nie wieder ein tierisches Pro- auch wirklich schätzt. Ich hole mit Road Crêpe eine ganz bestimmte
dukt essen soll und kann, aber es muss ein gewisses Umdenken geben, Zielgruppe ab – ich muss sein, wo sie ist. Auf dem Donauinselfest wäre
sei es aufgrund von Umweltbewusstsein oder ethischer Motivation. Es Road Crêpe nicht richtig aufgehoben, auf einem Yogafestival oder bei
gibt Hunderte Gründe!
einem alternativen Musikevent hingegen ist mein Superfood heiß beWie ging es dann weiter – vom Traum zur Umsetzung?
gehrt. Nach einem Jahr kann ich sagen, dass die »Probierphase« abgeIch muss ehrlich gestehen, dass ich nicht viel Zeit für die Recherche schlossen ist, dass ich weiß, was mein Produkt kann und wo Nachfrage
des vorhandenen Food-Truck-Angebots in Wien aufgewendet habe. besteht. Strategisch konzentrieren wir uns 2016 auf die Zusammen­
Mein erstes Interesse galt der möglichen Finanzierung dieses Projekts arbeit mit B2B-Kunden.
und dessen Förderung durch Stellen wie Wirtschaftsagentur oder Wirt- Sie haben ein innovatives Produkt quasi über Nacht Realität
schaftskammer. Mit einer Förderung und der monetären Unterstüt- ­werden lassen. Würden Sie nach einem Jahr noch immer dazu
zung von Familie und Freunden im Rücken erfolgte der Startschuss für ­raten: »Just do it«?
die konkrete Planung dann im März 2014. Die ersten Crêpes wurden Just do it. Ja, sicher! Einfach machen, wenn man ein Ziel vor Augen hat.
schließlich im Oktober 2014 verkauft. Gerade die Entwicklung der Ape Fakt ist aber auch, dass ich sicher nicht alles richtig gemacht habe. Auf
war zeit- und kostenintensiv, da das Mobil die Maßanfertigung eines jeden Fall muss man sich darauf einstellen, dass man viel Lehrgeld
österreichischen Produzenten ist, die genau nach meinen Vorstellun- zahlt. Wenn man es schafft, über Dinge, die Geld kosten, im Vorfeld so
gen gebaut wurde. Extrem wichtig war mir z. B., dass der Food Truck nachzudenken, dass sie abschließend weniger Geld kosten, dann zahlt
von einem Elektromotor betrieben wird. Danach ging es ans Marketing sich eine längere Phase des Überlegens natürlich aus. Jeder Fehler, den
und an die Frage: Wo kann ich mit meinem Truck in Wien stehen? Im man in der Selbstständigkeit macht, kostet. Das eigentliche Problem
öffentlichen Raum der Stadt Wien eine unfassbare Aufgabe, da die ist, dass man irgendwann nicht mehr die Zeit hat, über Dinge nachzuStadt nicht bereit ist für diese Form der flexiblen Gastro­nomie. Daher denken. Dann geht es nur noch darum, schnelle Entscheidungen zu
bin ich dann auf B2B ausgewichen, habe mit Road
treffen – ja oder nein? Die ersten zwei bis drei JahCrêpe auf Festivals, Events und Universitätsgeländen,
re ist eine Sechs-bis-­sieben-Tage-Woche normal,
aber auch im Rahmen von privaten Anlässen die Leute
da bleibt einfach keine Zeit für langes Grübeln. Soverköstigt. Die meiste Zeit habe ich aber der Prolange ein S
­ elbstständiger also noch in der Entduktentwicklung gewidmet. Ich musste über alternatiwicklungsphase ist, sollte er sich sehr viel Zeit nehve Rohstoffe nachdenken, die in Abstimmung mit
men, um alles nochmals genau durchzudenken.
TCM funktionieren, musste die perfekte Mischung für
Allein die Personalfrage gilt es genau zu bedenken.
meinen Teig finden, Rezepte entwickeln … Anfangs
Mein Learning: Im ersten Jahr bleibt kaum Geld
habe ich mich allein mit der Produktentwicklung befür Personal über. Dieses ­Szenario sollte man bei
schäftigt, dann habe ich Alfred Stadler kennengelernt.
der Planung nicht vergessen.
Er ist energetischer Ernährungsberater und langjähriWie ist denn die Food-Truck-Szene in Wien
ger TCM-Koch. Mit seinem Know-how und seiner
­aufgestellt?
­Hilfe habe ich die Produktentwicklung entscheidend
Diese Szene ist prinzipiell eine sehr nette Szene mit
vorangetrieben. Dazu kam die Suche nach biologisch
lieben, hilfsbereiten Kollegen. Vereinzelt gibt es naabbaubarer Verpackung und nach Zutaten, die Fair­
türlich Ausreißer, aber grundsätzlich hilft man sich.
trade-zertifiziert sind.
Es ist noch eine sehr kleine Szene, hin und wieder
Ein wichtiges strategisches Tool im Aufbau von
gibt es Newcomer, aber dieser Trend hat sich in
Road Crêpe waren Social Media.
Wien noch nicht durchgesetzt. Es gibt Food-TruckSocial Media waren für mich sehr bedeutend, da sie
Festivals, die leider nicht immer gelungen sind. Die
ein kostenloses Medium darstellen, in dem man Aufwenigen guten Events, die es in Wien gibt, wurden
Marc Schweiger
merksamkeit für seine Produkte schaffen kann. Geravon jenen Veranstaltungen, die höchst kundenunde neue, innovative Dinge – wie meine veganen
freundlich gestaltet wurden, in Mitleidenschaft geCrêpes – werden von der Crowd gerne gelikt und shared. Zu Anfang zogen. Wenn jeder auf den Zug aufspringen will, sind leider oft auch
war da keine große Strategie dahinter. Ich habe ein Logo gestaltet, eine Nutznießer dabei. Meiner Meinung nach waren nur 20 % dieser Events
Facebook-Seite erstellt, und glücklicherweise wurde das Thema in mei- für die Food-Truck-An­bieter lukrativ bzw. für den Konsumenten internem sozialen Umfeld sofort aufgegriffen und geteilt. Ich hatte in den essant. Eine Halle anzumieten und zehn Food Trucks zu platzieren
ersten drei Wochen online bereits 1.000 Likes. Mittlerweile hat es sich ohne jegliches Rahmenprogramm, das reicht nicht.
auf 2.000 Likes eingependelt.
In Wien hat sich Streetfood noch nicht gänzlich durchgesetzt. Im
Nachdem Sie im Oktober 2014 mit ihren Crêpes auf die Straße
Gegensatz zu anderen Städten …
­gegangen sind – wie haben die Konsumenten reagiert?
London, L.A., New York – dort ist Streetfood ein fester Bestandteil der
Großteils haben sie sehr positiv reagiert, wobei man sagen muss, dass kulinarischen und gastronomischen Szene. In Berlin ist man auch auf
sie sich teilweise etwas anderes erwartet haben. Wenn man eine Crêpe dem richtigen Weg, Hamburg zieht teilweise nach. Ich muss aber klar
mit Nutella sucht, wird man bei mir nicht glücklich werden. Ich ver- sagen, dass ich mich weniger auf Trends und Szenen als vielmehr auf
wende keinen Zucker für die Crêpes, der Teig besteht aus Buchweizen, mein Produkt konzentriert habe.
Amaranth, Braunhirse, Erdmandel usw. Das ist eine ganz eigenstän­ Sie haben seit Oktober 2015 auch einen eigenen Marktstand am
dige Geschmacksphysiologie. Ich verkaufe kein Mainstream-Produkt, Meidlinger Markt: das MarctStandl.
das muss ich schon sagen. Mit einem Burger erreicht man sicherlich Das MarctStandl ist ein Bio- und Superfoods-Laden, der vegane Produkmehr als mit einer veganen Crêpe. Aber: Ich bin zu 100 % überzeugt te in ihrer Urform anbietet. Hier verkaufe ich die Ware der Bauern, mit
von dem, was ich anbiete, und besetze damit eine wachsende Nische.
denen ich kooperiere, nicht nur direkt, sondern stelle auch alle unsere
Hat es sich gelohnt, nicht Mainstream zu sein?
Speisen für Road Crêpe frisch her. Außerdem wird hier unsere eigene
Ich denke, dass es sehr viel Potenzial hat. Und ich habe gelernt, dass Produktlinie – das Essen im Glas – kreiert. Zum Mitnehmen oder zum
nichts wichtiger ist, als den Kunden zu erreichen, der dieses Produkt Essen direkt im MarctStandl. Für acht Leute habe ich Platz (lacht). SA
Marc Schweiger lernte
im Hotel Sacher, ver­
diente sich seine gastro­
nomischen Sporen in
Zürichs Nobelgastro­
nomie, studierte Sport­
wissenschaften und
­bereiste mit seinem
Rucksack die Welt. Der
umtriebige Freigeist
sprüht nur so vor Ide­
en. Seine letzte Idee
setzte er in die Tat um:
Road Crêpe war gebo­
ren. Die Geschäftsidee?
Vegane Crêpes mobil
unter die Leute brin­
gen. Sein Herzblut
steckt im Produkt: Die
Crêpes sind nach der
Fünf-Elemente-Koch­
lehre der TCM zuberei­
tet. Superfoods machen
aus den kleinen Köst­
lichkeiten kulinarische
Schätze. Mit einer
mintfarbenen Ape – ei­
nem dreirädrigen Mo­
bil samt Elektromotor –
bespielt Schweiger seit
nunmehr einem Jahr
Festivals, Events und
private Feiern. Seit
­Oktober 2015 gibt es
außerdem das Marct­
Standl, einen Bio- und
Superfoods-Laden am
Wiener Meidlinger
Markt. Die Symbiose ist
geglückt: Im Marct­
Standl werden vegane
Produkte direkt ver­
kauft, ein kleines Lokal
ist integriert und die
Küche ist Vorberei­
tungsstätte für jene ge­
sunden Leckereien, die
später über Road Crêpe
unter das Volk gebracht
werden.
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B el E tag e
»Wenn wir scheitern,
stirbt niemand«
Flüchtlingskind, Schulabbrecher, Bauarbeiter und Yuppie-Manager. Nach
40 Jobs hat Ali Mahlodji sein eigenes Unternehmen gegründet und ist heute
Geschichtenerzähler, Visionär und EU-Jugendbotschafter. Wie er damit die
Welt retten will, hat er Claudia Stückler erzählt.
FOTOS: watchado.com
Ali Mahlodji, Sie klingen wie ein waschechter Wiener …
Aber der Name Ali Mahlodji sagt ja eh schon alles! Ich bin mit zwei Jahren mit meinen Eltern aus Teheran geflohen und – typisches Flüchtlingsschicksal, damals wie heute – in Traiskirchen gelandet. Bis ich 13 war,
sind wir insgesamt zehnmal umgezogen, von Loch zu Loch – die Löcher
sind halt immer größer ­geworden. Mein Vater ist letztendlich an der
Flucht zerbrochen. Das ist etwas, was ich immer wieder beobachte: Die
Frauen schaffen es, sie integrieren sich, lernen die Sprache. Die Männer
zerbröseln hingegen förmlich. Mein Vater hat die Situation nie verkraftet,
hat sich hängen lassen und nur mehr Kette geraucht. Mit Anfang 50 ist er
völlig überraschend an einem Herzklappenfehler gestorben …
Ein Schlüsselerlebnis für Sie?
Ja, der Wendepunkt in meinem Leben. Ich habe mir nur gedacht, was bin
ich für ein verdammter Voll­trottel, Geld ist nicht alles! Ich lebe in einem
verdammten Paradies, ich kann tun, was immer ich möchte, mir kann ja
eigentlich nix passieren. Kurz darauf hatte ich ein massives Burn-out,
war wochenlang in Behandlung. Dann habe ich meinen Job gekündigt,
ich wollte nicht, dass auf meinem Grabstein steht: »hat Aktienoptionen
hochgetrieben«.
Bis zum Hochtreiben der Aktienoptionen war es aber schon ein ziemlicher Weg …
Dass ich es jemals zum Manager eines börsennotierten US-Softwareunternehmens schaffe, war mit meinem Lebenslauf gar nicht vorgesehen.
Eigentlich bin ich ja ein Fehler im System. Mit 15 hatte ich meinen ersten
Job auf einer Baustelle in Ottakring. Dort habe ich im sechsten Stock den
Kitt aus den Fenstern gekratzt. Bis heute waren es insgesamt 40 Jobs, die
ich gemacht habe. Bei McDonald’s habe ich das Foyer g­ eputzt, bis die
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Geschäftsführerin gemeint hat, hey, du sprichst aber gut deutsch. Ich
habe nur gemeint, klar, bin ja auch ein Wiener. So schnell habe ich gar
nicht schauen können, wie ich an der Kassa gestanden bin. Ich bin in
die HTL gegangen. Kurz vor der Matura habe ich dann die Schule geschmissen. Ich habe mit 13 zu stottern begonnen, als sich meine Eltern
scheiden ließen, meine Panik vor der mündlichen Prüfung war einfach
zu groß und mit dem Bildungssystem war ich überhaupt im Clinch.
Meine Mutter hat wieder geheiratet und ist nach Schweden gegangen.
Ich wollte aber in Wien bleiben – das hat bedeutet, dass ich Vollzeit arbeiten musste, um meinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Ich habe in
einer Apotheke TCM-Pulver gemischt, parallel dazu habe ich die
Abend-HTL in der Spengergasse gemacht. Als ich fertig war, habe ich
140 Kilo gewogen, weil ich nur noch gelernt, gearbeitet und gegessen
habe. D
­ anach habe ich am Technikum in Wien Verteilte Computersysteme studiert – in vier statt in sechs Semestern. Dann folgten erste Jobs
in der Softwarebranche und mit 27 war ich Global Engagement Manager for Special Projects bei einem US-Konzern.
Also am Ziel Ihrer Träume?
Das war ein absoluter Bullshit-Titel für einen Job, in dem ich kreuzunglücklich war. Ich war damals sicher das größte Arschloch, das man
sich vorstellen kann: weißer Firmen-Audi mit Ledersitzen, Krawatte,
gegelte Haare, und ich bin mir unfassbar wichtig dabei vorgekommen.
Aber ­jedes Mal, wenn ich gesagt habe, ich kündige, haben alle meine
Freunde nur aufgeschrien, dass ich völlig verrückt bin und in meinem
Leben nie mehr so viel Geld verdienen werde. Nach dem Burn-out
habe ich in ­einer Kommunikationsagentur begonnen, 2010 hatte ich
dann die C
­ hance, in einem Wiener Gymnasium Mediendesign zu un-
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zur PERSON
Ali Mahlodji wurde
1981 in Teheran
­geboren und kam
mit zwei Jahren als
Flüchtlingskind nach
Österreich, nachdem
seine Eltern aufgrund
des Regimes im Iran
flüchten mussten.
terrichten. In Gesprächen mit den Schülern ist mir klar geworden, dass
die alle keinen Plan haben, wie ihre Zukunft aussehen soll. Ich hatte
ein Déjà-vu, mir ist es mit 14 auch nicht anders gegangen. Damals habe
ich mir immer so eine Art Freundschaftsbuch für Berufsbilder gewünscht, also einen festgelegten Katalog an Fragen – Lieblingsfarbe,
Lieblingsessen, Lieblingsfilm. Damit kann man dann seine Interessen
mit denen anderer vergleichen und auf diese Art Inspiration für die eigene Lebensplanung finden. Vielleicht findet man so einen Job, an den
man von selbst nie gedacht hätte. Wir haben dann zu viert den Verein
Whatchado als Netzwerk zur Berufsorientierung gegründet – ohne Finanzierung oder Businessplan. Mit einer ganz normalen Videokamera
haben wir Leute interviewt und Filme von äußerst fragwürdiger Qualität gedreht. Am 27. Juni 2011 sind wir schließlich mit 17 Videos online
gegangen.
Und zwei Stunden später hat das die Zeit im Bild gemeldet?
Das war völlig crazy. Wir sind immer wieder gefragt worden, was wir mit
Whatchado erreichen wollen, und haben dann gesagt, wir wollen die
Welt retten. Das war auch wirklich so gemeint: Wenn ich einem jungen
Menschen mit der Plattform helfen kann, sein Karriereziel und damit
seine Zukunft zu definieren, dann habe ich seine Welt ja gerettet. Jedenfalls ist der Spruch viral geworden, eines Tages hat ein Redakteur vom
ORF angerufen und gefragt, ob ich der bin, der die Welt retten will. Ich
sollte mich melden, wenn wir online gehen, und das habe ich dann auch
gemacht. Wir haben im besten Fall mit einer ganz kurzen Meldung gerechnet, aber es kam ein minutenlanger Beitrag zur Hauptsendezeit! Danach haben sich wahnsinnig viele Menschen bei uns gemeldet, darunter
auch Unternehmen. Die wollten, dass wir Unternehmensprofile drehen.
Und dann kam die Frage: »Wie teuer ist das?« Und wir hatten überhaupt keine Ahnung, was wir verlangen sollen! Innerhalb kürzester
Zeit kamen immer weitere Firmen dazu, aber wir hatten ja nur den Verein und gar kein richtiges Unternehmen. In einem Untermietzimmer
haben wir dann die Firma gegründet. Vorerst nur nebenbei, in unserer
Freizeit, aber 2011 hatten wir dann keine Urlaubstage mehr. Ich habe
meine Mutter angerufen und ihr gesagt, dass ich ­meinen Job kündige,
um Whatchado zu machen – sie hat geheult, aber sie hat mich verstanden. Denn selbst wenn das Projekt scheitern sollte, zumindest kann ich
mit 80 sagen: Ich habe das gemacht! Derzeit sind fast 5.000 Videos aus
100 Ländern in zehn Sprachen online und monatlich kommen über
100 neue dazu. Wir haben ein wichtiges Prinzip: Für jede bezahlte Präsenz gibt es eine unbezahlte.
Was hat es eigentlich mit den weißen Turnschuhen auf sich?
Der Gründer von Sun Microsystems hat einmal gesagt: »Wenn du weiße Turnschuhe anhast, dann kannst du dich selbst nicht ernst nehmen.« Ich bin ja nie zum Chef ausgebildet worden. Da steht man dann
bei einer Firmenweihnachtsfeier vor Dutzenden Mitarbeitern, die einen erwartungsvoll anschauen, und soll dabei recht staatstragend sein.
Ich trage für meine Mitarbeiter Verantwortung, muss sie kennen, wissen, was ihre Lebensträume sind. Whatchado steht immer noch am
Anfang, wir sind ein wachsendes Unternehmen, das nach wie vor jeden Cent umdrehen muss. Wir sind aber keine Herzchirurgen, falls wir
scheitern, dann stirbt niemand. Die weißen Turnschuhe sind daher ein
Symbol für gesunde Erdung – jeder Mitarbeiter bekommt nach drei
Monaten welche. Und ich bekomme mittlerweile tatsächlich Bewerbungsmails, bei denen in der Betreffzeile die Schuhgröße steht … cs
Mahlodji ist ausgebildeter Maurer und Zimmerer, gelernter SoftwareEngineer und studierter
Experte für verteilte
Computersysteme. Nach
einem Burn-out beschloss er, seinem Leben
einen Sinn zu geben
und Lehrer zu werden.
Durch den Kontakt mit
Schülern wurde ihm
klar, dass Orientierungslosigkeit das größte
­globale Problem der
­Jugend war. 2010 beschloss er, seine Kindheitsidee des Handbuchs der Lebens­geschichten umzusetzen. Er wurde für Whatchado national und international mehrfach
ausgezeichnet, unter anderem mit dem Österreichischen Staatspreis für
Bildung und Wissen,
dem deutschen HR Excellence Award, dem
European Digital Communications Award
und von der UN mit
dem World Summit
Award für das beste Internetprojekt, das die
Welt verändern kann.
Er ist gefragter Keynote-Speaker und besucht
jedes Jahr über
50 Schulen und Bildungseinrichtungen,
um Jugendliche zu inspirieren, mit dem von
Whatchado selbst entwickelten Berufsorientierungskonzept WhatchaSkool ihren eigenen
Weg zu gehen.
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