beständigkeit - Deutsche Bank Wealth Management

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beständigkeit - Deutsche Bank Wealth Management
Mitarbeiter dieser Ausgabe
Gerald Bucher, Sarah Elsing, Andreas
Feßer, Paul Flückiger, Mar tin Haake,
Dan Hannen, Ingeborg Harms, Volker
Hinz, Hans-Michael Koetzle, Erna
Lackner, Andreas Lindlahr, Alexander
Marguier, Axel Mar tens, Sven Michaelsen, Konrad R. Müller, Christiane
Opper mann, Har tmut Palmer, Manuel
Pandalis, Jan Rieckhoff, Lisa Rokahr,
Daniela Schröder, Wieslaw Smetek,
Michael Specht, Jörn Voss,
Harf Zimmermann
Anzeigenvermarktung
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Repro
Einsatz Creative Production,
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Druck
Beisner Druck GmbH & Co. KG,
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Nachdruck, auch in Auszügen, nur mit
Genehmigung von Wealth Management
und dem Verlag. Keine Gewähr für
unverlangt eingesandte Manuskripte oder
Fotos. Keiner der Beiträge und keine Aussage
darin stellt eine Aufforderung zum Kauf oder
Verkauf von Produkten und Dienstleistungen
des Herausgebers oder anderer Unternehmen der Deutsche Bank Gruppe dar.
Beiträge, Inter views und Zitate geben ausschließlich die Meinung der Autoren bzw.
der zitier ten Personen wieder.
Eine Plattform zum Austausch von Ideen
zu schaffen und einen intensiven Dialog
zu fördern, beispielsweise zum wichtigen
Thema der nachhaltigen Investments, ist
dem Wealth Management der Deutschen
Bank ein großes Anliegen. Die Bandbreite
reicht dabei von Vermögensverwaltungen, die nach rein ethischen Kriterien
arbeiten, bis hin zu Investments, die eine
Brücke zwischen philantropischem
Ansatz und nutzenorientiertem Anlegen
schlagen. Ein Beispiel ist der „Africa
Agriculture and Trade Investment Fund“
(AATIF), der in kleine und mittlere
afrikanische Unternehmen investiert und
so die Lebensbedingungen der Menschen
in der Region verbessert.
Menschen in Entwicklungsländern zu
helfen und soziale Ungerechtigkeiten zu
bekämpfen, das ist auch seit Jahren das
Anliegen des Friedensnobelpreisträgers
Prof. Muhammad Yunus, der seinen
Social-Business-Ansatz exklusiv vor
Gästen des Wealth Management erklärt
hat: „Ein Charity-Dollar wird nur einmal
eingesetzt“, sagte der Wirtschaftswissenschaftler. „Ein Social-Business-Dollar
wird immer wieder investiert und trägt
zur Lösung eines konkreten sozialen oder
ökonomischen Missstands bei.“ Als ein
Beispiel nannte er die Nachtblindheit von
Kindern in Bangladesch. Da sie auf
Vitaminmangel zurückzuführen ist,
verkaufte Yunus für einen geringen
Betrag Saatgut an arme Familien. Durch
den Verzehr selbstangebauten Gemüses
konnte die Nachtblindheit eingedämmt
werden. Wir im Wealth Management
sind immer wieder bestrebt, gesellschaftlich relevante Diskussionen aufzugreifen
und Zugänge zu schaffen.
Fotos: D e u t s c h e B a n k
n o. 7 – 2 0 12
Weal t h Management
Herausgeber
Deutsche Bank AG
Wealth Management,
Taunusanlage 12, 60325 Frankfur t,
www.pwm.db.com
V.i.S.d.P.
Michaela Luhmann-Utsch,
Kerstin Rapp
Verlag
BEHNKEN & PRINZ GMBH & CO. KG ,
Hohe Bleichen 24, 20354 Hamburg,
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Chefredaktion
Wolfgang Behnken, Leonard Prinz
Art Direktion
Alexandra Engelhard
Layout
Anna Moritzen
Fotoredaktion
Gesche Wendt, Nadine Yun
Die Deutsche Bank hat bei den „Digital
Communication Awards 2012“ in der
Kategorie „YouTube Channel“ Platz 1
belegt. Die internationale Auszeichnung
wird von der Quadriga Hochschule
Berlin an Unternehmen, private Institute und Nichtregierungsorganisationen
aus ganz Europa vergeben. Die Preisträger werden dabei von einer hochrangig
besetzten Jury aus Wissenschaft und
Wirtschaft ausgewählt, im Mittelpunkt
stehen besonders innovative Lösungen
in der Online-Kommunikation.
Die Deutsche Bank wurde für ihre
innovativen digitalen Animationsfilme
und Infografiken gelobt, da sie einen
wichtigen Beitrag zu aktuellen Wirtschaftsthemen und -diskussionen leisten.
Die Filme kann man online bei YouTube
sehen, die Infografiken sind bei Visual.
ly zu sehen. Durch das Internet erreichen die Studienergebnisse der Deutschen Bank mehrere Hunderttausend
Menschen auf einmal.
Die Fachjury war davon angetan,
wie es der Deutschen Bank gelingt,
hochkomplexe Studienergebnisse
und Analysen, zum Beispiel von den
Experten von DB Research, leichtverständlich und unterhaltsam darzustellen.
„Die digitale Kommunikation ist ein
sehr wichtiger Bestandteil der Kommunikationsstrategie der Deutschen Bank“,
sagt Thorsten Strauß, Global Head of
Communications, CSR & Public Affairs
der Deutschen Bank. „Zukünftig werden
wir die Kommunikation der Bank im
Internet – vor allem im Web 2.0 – noch
weiter ausbauen.“
Das Magazin für Geist, Geld & Gesellschaft
i mpressu m
AUSZEICHNUNG FÜR DIE
DEUTSCHE B ANK
no. 7 – 2 012
DIALOG MIT
PROFESSOR YUNUS
INFORMATION
Das preisgekrönte Video
„The Digital Society“
und andere Filme der
Deutschen Bank können Sie
bei YouTube anschauen.
BESTÄNDIGKEIT
75 jahre volkswagen: ein starkes stück deutschland
report: immobilien, infrastruktur, energie – eine führung durch die welt der sachwerte
werte-gespräche: hans-dietrich genscher, wolfgang joop und klaus von dohnanyi
mythos leica: die kamera, die den blick auf die welt veränderte
werte regional: 14 seiten aus der freien und gründerstadt hamburg
K A P I TA L M A R K TA U S B L I C K
WERTE
DEUTSCHLAND FÄHRT
WEITER VORAUS
KAPITALMARKTAUSBLICK 2013: KONJUNKTURELLE AUSSICHTEN UND ANLAGECHANCEN.
Text: MARCEL HOFFMANN • Illustration: WIESLAW SMETEK
E
ine Reihe politischer Unsicherheiten führte 2012 zu
einer deutlichen Verlangsamung der globalen Konjunktur. In den USA waren im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen die Fronten zwischen Demokraten und
Republikanern so verhärtet, dass keine Einigung in Budgetfragen möglich war und das Risiko für automatische Haushaltskürzungen (häufig als Fiskalklippe bezeichnet) zunahm.
Wegen der Unsicherheiten in Bezug auf Abschreibungsmöglichkeiten und Steuerpolitik hielten sich die Unternehmen
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mit Investitionen zurück. In China hatte sich das Wachstum
ebenfalls abgeschwächt, und die Führungsriege nahm vor dem
Machtwechsel auf dem 18. Parteitag der Kommunistischen
Partei keine stärkeren fiskalpolitischen Stützungsmaßnahmen
vor. In Europa belasteten die starken Einschnitte zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte vor allem in den südlichen
Peripherieländern sowie die anhaltenden Unsicherheiten in
Bezug auf die Reformmaßnahmen und EU-Rettungsinstrumente. Die aus diesen Unsicherheitsfaktoren resultierenden
Belastungen haben mittlerweile abgenommen. In Europa hat
vor allem die Einführung des Ankaufprogramms der EZB für
Staatsanleihen (Outright Monetary Transactions, OMT) zu
einem deutlichen Stimmungsumschwung geführt.
In den USA hat nach der Wahl die Hoffnung zugenommen,
dass eine Einigung in der Haushaltsplanung gefunden werden kann, und in China wird erwartet, dass die neue Führung
weitere Reformen voranbringt. Der Stimmungsumschwung
macht sich bislang vor allem in den Geschäftsklima-Indizes
bemerkbar. Doch lässt dies darauf schließen, dass im Verlauf
des Jahres 2013 auch die fundamentalwirtschaftlichen Daten
folgen werden. Unsere volkswirtschaftliche Abteilung geht
davon aus, dass das globale Wirtschaftswachstum sich im
Jahr 2013 auf 3,1 Prozent beschleunigen wird. Die stärksten
Zuwachsraten werden in den aufstrebenden Ländern Asiens
erwartet, die USA sollten mit 1,9 Prozent wachsen, und die
Eurozone hinkt vor allem aufgrund der in Rezession verharrenden südlichen Peripherieländer mit einem erneuten Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,2 Prozent hinterher.
Deutschland behauptet sich innerhalb der Eurozone vergleichsweise gut. Wie die Bruttoinlandsproduktzahlen des
dritten Quartals gezeigt haben, liefern die Konsumausgaben
und Bauinvestitionen einen soliden Wachstumsbeitrag. Eine
entscheidende Rolle spielen aber weiter die Exporte. Hier bewähren sich die Flexibilität und der gesunde Produktmix der
deutschen Unternehmen. Die regionale Verschiebung der
globalen Wachstumszentren spiegelt sich in der Struktur der
deutschen Güterexporte wider.
Wie Daten des Statistischen Bundesamts zeigen, hat sich
der Anteil der Ausfuhren in die von der Schuldenkrise gebeutelten Länder der Eurozone 2012 deutlich auf zuletzt nur
mehr knapp 40 Prozent verringert. Exporte in die USA (Januar bis August 2012 plus 21 Prozent gegenüber dem Vorjahr)
und China (plus acht Prozent) konnten demgegenüber deutlich wachsen. Auffallend ist dabei, dass die Exporte dabei stark
auf einzelne Branchen konzentriert sind. Vor allem die Automobilindustrie, der Maschinenbau und die Pharmabranche
konnten in diesem Jahr ihre Exporte in die USA steigern. Ein
ähnliches Bild zeigt sich bei den Exporten nach China. Auch
hier konnten vor allem der Automobilsektor und Maschinenbau zulegen, deutliche Steigerungsraten gab es aber auch bei
Elektronikexporten.
Aus der Perspektive internationaler Investoren gehört
Deutschland zu den attraktivsten Anlageländern auf dem Globus. Innerhalb Europas ist es das Land mit der besten Wachstums-Schulden-Relation. Weltweit betrachtet, beheimatet es
eine ganze Reihe globaler Marktführer und Exportchampions.
Die Konditionen für den Einstieg in deutsche Aktien sind infolge der Schuldenkrise attraktiv. So weisen deutsche Aktien
im internationalen Vergleich mit die niedrigsten Bewertungen auf. Die Zinsen sind günstig, was aus Unternehmenssicht
vorteilhaft für die Konsolidierung der Bilanzen und neue Investitionen ist. Aus Anlegersicht sind die extrem niedrigen
Zinsen hingegen ein Ärgernis. Die Renditen deutscher StaatsFoto: Deutsche Bank
anleihen sind selbst im längeren Laufzeitbereich so niedrig,
dass sie auf absehbare Zeit keinen Ausgleich der Inflation
ermöglichen. Währungsaspekte spielen für inländische Anleger bei der Anlage in deutschen Staatsanleihen keine Rolle.
Internationale Investoren können im Fall eines Scheiterns des
Euros mit der Aufwertung einer neuen Währung rechnen.
Inländische Anleger hätten in diesem Fall oder im Fall einer
neuerlichen Eskalation der Schuldenkrise lediglich temporäre
Kursgewinne als Resultat eines Wiederauflebens des „sicheren Hafen“-Aspekts. Für den Erhalt des Vermögens ist dies
nicht ausreichend. Auch die Renditen im hochgeschätzten
deutschen Pfandbriefmarkt ermöglichen kaum eine Vermögensmehrung. Die „doppelte Sicherheit“ durch Emittentenbonität und Sondervermögen gehen zu Lasten der Rendite.
Auswege eröffnet das Segment der Unternehmensanleihen.
Gesunde Unternehmensbilanzen, globale Marktführerschaft und hohe Wettbewerbsfähigkeit haben die Schuldverschreibungen deutscher Unternehmen zu soliden Anlagealternativen am Rentenmarkt gemacht. So solide, dass die
Kurse infolge der starken Nachfrage kräftig gestiegen und die
Renditen im Gegenzug deutlich zurückgekommen sind. Gerade in der „ersten Reihe“ der deutschen Unternehmen bieten
„Corporates“ aber oft kaum noch einen adäquaten Renditeaufschlag gegenüber Staatsanleihen vergleichbarer Laufzeit.
Dem Halter einer Schuldverschreibung drohen zwar Rückschläge, falls sich Konjunktur- oder Unternehmenslage eintrüben, er hat aber kaum noch Möglichkeiten, an einer positiven Entwicklung zu partizipieren.
Wer in die Zukunftsfähigkeit der deutschen Exportchampions investieren möchte und gleichzeitig auf eine attraktive
Ausschüttung schielt, sollte den Kauf von Aktien dieser Unternehmen ins Auge fassen. Die angeführten Argumente wirken
sich positiv auf die Kursaussichten von deutschen Aktien aus.
Die durchschnittliche Dividendenrendite der DAX-Unternehmen liegt nicht nur weit über den Renditen am Rentenmarkt,
solide Bilanzen und hohe Wettbewerbsfähigkeit lassen auch
Raum für weitere Dividendenanhebungen und Aktienrückkaufprogramme. Beides bietet gewisse Risikopuffer für den
Fall temporärer Kursrückschläge. Diese sind aufgrund geopolitischer Risiken, konjunktureller Rückschläge und einem
Wiederaufflammen der Schuldenkrise nicht auszuschließen.
In der Summe sprechen aber niedrige Bewertungen, solide Bilanzen, attraktive Dividendenrenditen und die starke Position
deutscher Unternehmen im globalen Wettbewerb für weiteres
deutliches Kurspotenzial. Nicht zu vernachlässigen ist darüber
hinaus der ausgeprägte Sachwertaspekt im Fall steigender Inflations- und Krisenängste.
MARCEL HOFFMANN
Leiter Por tfoliomanagement Key Clients,
Deutsche Bank AG, Wealth Management
Tel: +49 (0)69 91031772
E-Mail: [email protected]
29
RUBRIK
„WACKELN UND
FACKELN IRRITIERT
DIE WÄHLER“
HANS-DIETRICH GENSCHER, DER GROSSE ALTE MANN
DER FDP, ÜBER EUROPA, SEINE PARTEI, FREUNDSCHAFTEN
UND VERLÄSSLICHKEIT IN DER POLITIK.
GESPRÄCH
Gespräch: HARTMUT PALMER • Foto: JONAS UNGER
Dieses Magazin trägt den schönen Titel WERTE. Deshalb erlauben Sie uns zu Beginn unseres Gesprächs eine durchaus
grundsätzliche, aber trotzdem sehr persönliche Frage: Welche
Rolle haben Verlässlichkeit, Beständigkeit und Vertrauen im
langen Leben des Politikers und Privatmenschen Hans-Dietrich Genscher gespielt?
Verlässlichkeit, Beständigkeit und Vertrauen sind, wenn man
den Begriff der Berechenbarkeit hinzufügt, ein wichtiges Kapital eines Politikers. Ich habe mich stets bemüht, diesem hohen Maßstab gerecht zu werden und habe andere danach eingeschätzt, inwieweit ihnen das gelungen ist.
Gab oder gibt es Politiker, mit denen Sie mehr verband als
nur die politische Überzeugung?
Ich habe in der Politik wirkliche Freunde gefunden. Die eben
genannten Eigenschaften waren mir stets wichtiger als übereinstimmende politische Überzeugungen. Um in der unmittelbaren Nachbarschaft zu bleiben: mich verbindet eine feste
Freundschaft mit dem dänischen Liberalen Uffe EllemannJensen, aber genauso mit dem französischen Sozialisten Roland Dumas. Das Gleiche galt für meine leider früh verstorbenen Freunde, den tschechischen Sozialliberalen Jirí
Dienstbier und den polnischen Christdemokraten Skubiszewski. Aber wie gesagt, das sind beispielhaft Namen aus der
unmittelbaren Nachbarschaft.
Wie erklären Sie sich, dass die meisten der heute aktiven Politiker von den Bürgern eher geringgeachtet werden, während umgekehrt diejenigen, die nicht mehr aktiv sind, wie
Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, aber eben auch
Sie, um Rat gebeten werden?
Das ist keine neue Erscheinung. Als ich wesentlich jünger
war als heute, verwies man gern auf große Liberale der Vergangenheit wie Theodor Heuss, Thomas Dehler oder Reinhold Maier, aber auch auf Konrad Adenauer, Ludwig Erhard
oder Kurt Schumacher.
Viele Bürger suchen nach großen Linien, man könnte auch
sagen: nach den Visionen in der Politik. Woran liegt das?
Visionen zu haben bedeutet, in Perspektiven zu denken und
zu handeln. In einer Zeit, in der der Grundsatz der Nachhaltigkeit eine immer größere Rolle spielt, wirkt ein Handeln
ohne solche Perspektiven ziel- und planlos. Freiheit und Verantwortung bedeutet nicht nur Verantwortung für das Heute,
sondern auch für die Folgen des Handelns von heute.
Hans-Dietrich Genscher
im Garten seines Hauses
in Bad Godesberg.
Sie selbst sind zwar seit über zehn Jahren als Politiker im
Ruhestand, aber in letzter Zeit sind Sie wieder sehr aktiv als
unermüdlicher Mahner für das europäische Projekt unterwegs. Was treibt Sie an und um?
Es ist über 20 Jahre her, dass ich aus dem Ministeramt ausgeschieden bin. Die daraus gebotene Zurückhaltung in der Öffentlichkeit darf mich nicht daran hindern, für das Zukunftsprojekt Europa einzutreten, wenn es in gefährliches
Fahrwasser gerät. Das ist es, was mich umtreibt.
Ist es auch die Sorge, dass Ihr politisches Lebenswerk, nämlich die dauerhafte Vertiefung der europäischen Einigung,
leichtfertig verspielt werden könnte?
Wenn ich sehe, wie leichtfertig manche mit dem Zukunftsprojekt Europa umgehen, fällt mir das Bibelwort ein: „Sie wissen
nicht, was sie tun.“
Sie standen immer für Kontinuität in der deutschen Außenund Europapolitik. Kann es sein, dass Sie diese Beständigkeit
bei einigen maßgeblichen Akteuren auf der politischen Bühne heute vermissen?
Deutschland trägt als größtes Land in der EU, als Land mit
den meisten Nachbarn eine besondere Verantwortung für die
Zukunft Europas. Zu den Irrwegen der europäischen Geschichte gehörte der Anspruch, dass Größe auch mehr Rechte
gebe. Größe bedeutet in Wahrheit größere Verantwortung.
Ihr Parteifreund, der FDP-Vorsitzende Philipp Rösler, sagte
kürzlich, ein Austritt Griechenlands aus dem Euro habe für
ihn seinen Schrecken verloren. Sie haben daraufhin kritisiert, in Sachen Europa werde zu viel „neonationalistisches
Blech“ geredet. Wen haben Sie damit gemeint?
Als ich diesen Satz niederschrieb, hatte ich in den Tageszeitungen eine besonders törichte Erklärung aus München gelesen. Dorthin habe ich mich gewandt und nicht an Philipp
Rösler.
Können Sie sich ein Europa ohne Griechenland vorstellen?
Nein.
Jürgen Habermas hat erklärt, für ihn wäre „der Verzicht auf
die europäische Einigung“ gleichbedeutend mit Europas
„Abschied von der Weltgeschichte“.
Diesen Befund teile ich in vollem Umfang.
Mehr Europa heißt aber auch Souveränitätseinbußen der
nationalen Parlamente. Wie soll die fortschreitende europäische Einigung ohne eine gleichermaßen fortschreitende parlamentarische Kontrolle auf europäischer Ebene funktionieren?
31
G R O S S E G E I S T E R U N D D A S G E L D – F O L G E 1 : M A RT I N L U T H E R
WERTE
Für ein demokratisch verfasstes Europa ist die parlamentarische Kontrolle systemimmanent. Das heißt aber nicht, dass
nur nationale Parlamente, nicht aber das Europäische Parlament diese Kontrolle ausüben könnten.
Obwohl das Bundesverfassungsgericht den dauerhaften europäischen Rettungsschirm ESM für verfassungskonform
hält, hat der CDU-Politiker Karl Lamers das Gericht wegen
seines „nationalen Untertons“ gerügt. Erleichtert der Spruch
der Karlsruher Richter die europäische Einigung, oder wird
diese dadurch erschwert?
Ich habe Verständnis für die Sorge von Karl Lamers. Meine
Sorge müsste noch größer sein, wenn es tatsächlich die Auffassung von Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts
wäre: „Das Grundgesetz ist europaoffen.“ Das hieße ja, deutsche Politik kann europäisch sein, muss es aber nicht. In
Wahrheit ist die aktive Teilnahme der Bundesrepublik
Deutschland am Prozess der europäischen Einigung ein Verfassungsauftrag, der nicht nur für die deutsche Politik verpflichtend, sondern auch für das Bundesverfassungsgericht
maßgebend ist.
fragen so vor sich hin. Mal liegt sie über, mal unter der FünfProzent-Grenze. Woran liegt das?
Das Thema Europa wird für die nächste Bundestagswahl
maßgeblich sein. Wir haben das beispielhaft gerade in den
Niederlanden erlebt, wo die Europagegner eine vernichtende
Niederlage erlitten haben. Europa ist in der Krise. Da werden
diejenigen gewählt, die mit klarem Kurs und fester Hand das
Schiff durch den Sturm steuern. Das Ansehen der Bundeskanzlerin und des Bundesfinanzministers bestätigen die
Richtigkeit dieser Analyse. Je schneller die FDP die von einigen aus ihren Reihen genährten Zweifel am liberalen Europakurs überwindet, umso schneller wird die FDP sich erholen. Als die Berliner FDP bei den Wahlen zum Berliner
Abgeordnetenhaus einen antieuropäischen Kurs steuerte,
landete sie bei weniger als zwei Prozent. Was eine klare Haltung in einer schwierigen Situation bewirken kann, haben
Christian Lindner in Nordrhein-Westfalen und Wolfgang
Kubicki in Schleswig-Holstein gezeigt. Wer wackelt und fackelt, irritiert die Wähler.
Ist Europa eine Wertegemeinschaft?
Natürlich ist Europa eine Wertegemeinschaft. Freiheit, Menschenwürde, das Demokratiegebot und das Gebot sozialer
Gerechtigkeit sind Grundwerte unserer Verfassung, die mit
denen Europas identisch sind.
War es nicht so, dass früher die FDP vor allem deshalb eine
Rolle spielte, weil sie für ein großes politisches Projekt stand?
Wir erinnern uns an die Zeit, als die FDP an der Seite Konrad
Adenauers für die Westbindung der Bundesrepublik kämpfte
oder an der Seite Willy Brandts für die Ostverträge. Was ist
heute das große Projekt der FDP?
Das liberale Europa.
Die Europäische Union, so der Vorwurf von EU-Skeptikern,
verstehe sich heute mehr denn je als eine Gemeinschaft, die
zum Zweck der Selbsterhaltung laufend darauf verzichte,
sich an die eigenen Rechtsvorschriften zu halten. Sind diese
Einwände berechtigt?
Auch wenn es so wäre, so spräche das nicht gegen Europa,
sondern gegen die Akteure. Indessen erscheint eine Verallgemeinerung unberechtigt. Aber Anlass zur Sorge besteht
schon.
Nach dem gegenwärtigen Stand der Umfragen werden
CDU/CSU und FDP bei der nächsten Bundestagswahl keine
Mehrheit mehr bekommen. Sollte sich die FDP darum bemühen, zusammen mit der SPD und vielleicht den Grünen eine
neue Koalition zu bilden?
Ein klarer Europakurs der FDP kann die Mehrheit für die
Fortsetzung der erfolgreichen CDU/CSU/FDP-Koalition sichern. Aber wer sich von der gemeinsamen Saat abwenden
würde, könnte auch nicht ernten.
Beispiel: Die EZB darf keine Staatsanleihen von EU-Mitgliedsstaaten kaufen, tut es aber trotzdem. Kein Land darf
für die Schulden eines anderen haften – das Gegenteil ist der
Fall. Was sagen Sie EU-Skeptikern und -Kritikern, wenn sie
Ihnen diese Beispiele vorhalten?
Direkt erworben hat sie noch keine. Und was zur Erfüllung
ihrer Stabilitätsverantwortung notwendig ist, kann sie im
Rahmen ihrer Verantwortung entscheiden. Mir erscheinen
die in der Frage liegenden summarischen Unterstellungen
unberechtigt.
Könnte es sein, dass das Thema Europa und die Bewältigung
der Schuldenkrise alles andere in den Hintergrund drängt
und die Bundestagswahl auch ein Plebiszit über das künftige
Europa sein wird? Ihre Partei, die FDP, dümpelt in den Um32
Der Reformator Martin
Luther im Kreise seiner Familie,
1866 vo
von Gustav Adolph
Spange
Spangenberg in Öl gemalt.
BETTELMÖNCH
UND
MILLIONÄR
WAR MARTIN LUTHER
GEIZIG ODER GROSSZÜGIG,
SPARSAM ODER SPENDABEL?
AN DIESER STELLE WOLLEN
WIR ZUKÜNFTIG VON KLUGEN
KÖPFEN UND IHREM UMGANG
MIT DEM GELD ERZÄHLEN.
Text: ALEXANDER MARGUIER
HANS-DIETRICH GENSCHER
Der Jurist wurde 1927 in Halle geboren. Von 1969 bis 1974
war er Bundesinnenminister und von 1974 bis 1992 fast
ununterbrochen Bundesaußenminister sowie Vizekanzler.
Seit 1992 ist er FDP-Ehrenvorsitzender. Genscher ist in
zweiter Ehe verheiratet und Vater einer Tochter. Foto:
Genscher mit Ehefrau Barbara.
Foto: ddp images/dapd/Timm Schamberger
Martin Luther hat sich zeit seines Lebens viele Gedanken über Geld und
Vermögen gemacht, nur um die eigenen Einkommensverhältnisse kümmerte er sich verhältnismäßig wenig.
Tatsächlich war Luther in jungen
Jahren Bettelmönch gewesen und dadurch an den Verzicht auf weltliche
Güter durchaus gewohnt. Außerdem
Foto: AKG Images
war er als späterer Reformator, Prediger, Denker und Universitätslehrer
viel zu beschäftigt, um auch noch den
privaten Haushalt genau im Blick zu
behalten.
Für diese Aufgabe hatte er seine
Käthe: Katharina von Bora, die „entlaufene Nonne“, welcher Luther am 27.
Juni 1525 das Jawort gegeben hatte, war
so etwas wie die Finanzministerin der
rapide anwachsenden Familie. Bereits
am Tag der Hochzeit hatte ein überraschender Geldsegen das frischvermählte Paar – fast möchte man sagen:
heimgesucht –, denn das Geschenk von
50 Gulden stammte ausgerechnet aus
der Schatulle des Erzbischofs Albrecht
von Mainz. Natürlich wollte Luther
als konsequenter Kapitalismuskritiker
diese Zuwendung umgehend retour
gehen lassen, stamme sie doch von dem
„Nimrod und Giganten von Babylonien“, wie er sich echauffierte. Doch Ehefrau Käthe, längst ahnend, dass das Leben an der Seite des Reformators auch
ein finanzielles Vabanque-Spiel werden
dürfte, legte schnell ihr Veto ein und
überzeugte ihren Mann, das Geld zu
behalten. Überhaupt sorgte Katharina
von Bora durch ihre umtriebige und
geschäftige
Art nicht nur für allgemeigesch
nes Aufsehen,
sondern auch für eine
A
Verstetigung
der Einkünfte. Was
Ver
freilich
nichts daran änderte, dass
fr
auch
au im Hause Luther der Wohlstand
sta Höhen und Tiefen kannte.
Zum
Zu Zeitpunkt der Hochzeit bezog
Martin
Marti Luther zwar ein Jahresgehalt
von 100
1 Gulden, welches ihm die sächsischen
sische Kurfürsten gewährten und das
später sogar verdoppelt wurde. Doch
neben sechs eigenen Kindern mussten
eben auch noch weitere elf Sprösslinge
von zwei
früh verstorbenen Schwesz
tern Martin
Luthers mitversorgt werM
den. Noch
dazu verzichtete der studierN
te Theologe
auf Honorare aus seinen
Th
Schriften ebenso wie auf eine Entlohnung durch seine Studenten. So musste man sich in schwierigen Zeiten immer mal wieder von Grundstücken und
Häusern trennen, in die Martin Luther auf Anraten seiner Gattin investiert hatte. Sogar das eine oder andere
Stück aus seiner geliebten Sammlung
silberner Becher stand bei finanziellen
Engpässen zur Pfändung bereit. Wenn
Luther also wortgewaltig gegen Wucherer wetterte, die an den Galgen gehörten, weil sie wollten, „dass alle Welt
in Hunger, Durst, Not und Jammer
verderben muss“, dann tat er das nicht
zuletzt aus eigener Erfahrung.
Nach seinem Tod im Jahr 1546 hinterließ Luther immerhin ein beträchtliches Vermögen, bestehend aus Immobilien, Schmuck, Kunstwerken und
Büchern. 9000 Gulden, nach heutiger
Rechnung ungefähr eine Million Euro,
soll das Erbe wert gewesen sein. Doch
das Testament, in dem er Katharina
von Bora als Alleinerbin eingesetzt
hatte, konnte wegen juristischer Mängel nicht vollstreckt werden. Nur eine
kurfürstliche Pension verhinderte, dass
Martin Luthers geschäftstüchtige Witwe nicht in Armut versank.
33
W E RT E
S A C H W E RT E
FLUCHTPUNKT
SACHWERTE
In unsicheren Zeiten sehnen sich die Menschen
zunehmend nach sicheren Geldanlagen.
Der SachWERTE-Report zeigt Chancen und
Risiken auf – von Immobilien über Infrastruktur
und Energie bis zum Wald.
Text: CHRISTIANE OPPERMANN
30 %
DER WELT SIND WALD
Jahr für Jahr werden rund 3,5 Milliarden
Kubikmeter Holz weltweit verbraucht.
Bis 2015 wird der Bedarf auf 5 Milliarden
Kubikmeter steigen. Die Preise für
Wald steigen entsprechend.
36
37
WERTE
D
roht eine Inflation? Was wird aus
dem Euro? Wo und wie ist das
Vermögen sicher? Fragen wie
diese stellen sich viele Anleger angesichts
astronomischer öffentlicher Schulden,
immer größerer Rettungspakete, weltweiter Krisen und der Sorge um eine globale
Rezession. Die Aktienmärkte sind volatil,
Staatsanleihen bringen je nach Emittent
entweder magere Renditen oder bergen
unkalkulierbare Risiken.
10,9
MILLIARDEN MENSCHEN
Die Vereinten Nationen erwar ten
bis 2100 einen Anstieg der Weltbevölkerung von 7 auf 10,9 Milliarden
Menschen. Der Bedarf an Rohstoffen
wird riesig sein. Foto: Ölförderung
im Kaspischen Meer.
RUBRIK
1 Mrd.
Dieser Sorge um das Vermögen steht der
wachsende Wunsch der Anleger nach sicheren Häfen gegenüber. Vor allem Sachwerte
werden in dem Zusammenhang immer wieder
genannt. Was alles zu Sachwerten zählt, hat
Antje Stobbe, Analystin bei Deutsche Bank
Research, definiert: „Von Geldwertschwankungen unabhängige Güter, die bei hohen
Inflationsraten das Vermögen vor Kaufkraftverlusten schützen.“ Eine Umfrage unter institutionellen Investoren hat ergeben, dass
Immobilien, Land und Forst, Edelmetalle
sowie fossile und Agrarrohstoffe als Sachwerte einzuordnen sind. In der Praxis eröffne sich dadurch ein breites Spektrum potenzieller Anlageobjekte – vom Windkraftpark
über Telekommunikations-, Strom- und
Straßennetze, von Schiffen über Diamanten bis hin zum weiten Feld der Luxusgüter.
Sachwerte erfordern jedoch ein höheres Maß an Wissen und, wenn es sich um
Luxusgüter handelt, auch an Leidenschaft.
NEUE WOHNUNGEN
Demographie, Globalisierung und der
Klimawandel sorgen dafür, dass bis
2030 weltweit eine Milliarde neue
Wohnungen gebaut werden müssen.
Foto: die Erschließung eines
neuen Wohnvier tels in den USA.
Die Anlagemaxime des Amerikaners Warren
Buffett gilt hier mitunter mehr als an den
Aktienmärkten: „Investiere nie in Märkte,
von denen du nichts verstehst.“ Ohne Sachkenntnis, ohne professionelle Beratung ist
das Risiko groß, dass Vermögen vernichtet
werden. Und noch eine Regel sollte beherzigt werden: „Diversifikation gilt als the
only free lunch in investment“, sagt Professor Manfred Weber, Experte in Behavioral
Finance an der Universität Mannheim: „Di-
Fotos: Jochen Knobloch (3); Vincent Prado/Laif; Alex MacLean/landslides.com
8,9 Mio.
versifikation hat eine noch größere Bedeutung bei dem Erwerb von realen Werten.“
Die Gründe für Investitionen in Sachwerte sind vielfältig: Mal geht es in erster
Linie um eine breitere Streuung des Anlagekapitals, mal steht der Inflationsschutz im
Vordergrund, aber auch Risikoreduzierung
ist eine wichtige Motivation oder eben Ertragssteigerung und Absicherung gegen
unerwünschte Marktentwicklung, heißt es
bei Deutsche Bank Research.
TONNEN GETREIDE-IMPORT
Der Bedarf an Weizen, Roggen und
Gerste wächst, doch die deutschen
Bauern können ihn nicht mehr bedienen. 2011 mussten 8,9 Mio. Tonnen impor tier t werden. Kosten: 2,4 Milliarden
Euro. Foto: ein Acker bei Stralsund.
Die Motive der Investoren entscheiden
nicht nur über einzelne Anlagekategorien,
sondern auch über die Form – ob Direktinvestment, geschlossene oder offene Fonds,
oder ob Aktien an Unternehmen der jeweiligen Branche im Einzelfall vielleicht passender sind. Investitionen in Sachwerte sind
keine Selbstläufer, sondern immer eine Herausforderung für Berater und informierte
Anleger. Aber es gibt auch Sachwerte, die
„neben langfristiger Wertsteigerung auch
94 %
eine emotionale Rendite, einen Spaßfaktor“ bieten können, wie das Hamburgische
WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) in seinem jüngst veröffentlichten SachwerteReport feststellt. Das trifft auf die Investmentobjekte der Kategorie Luxusgüter
und Kunstobjekte zu, mit denen sich neben
dem Vermögen Lebensstil und Lebensqualität mehren lassen. Neben ökonomischem
Sachverstand sprechen sie auch Leidenschaft, Emotionen und Risikobereitschaft
HÖHERE INVESTITIONEN
Laut Uno-Umweltprogramm UNEP
stiegen die Investitionen in erneuerbare
Energien von 2007 auf 2011 um
97 Prozent auf 257 Milliarden Dollar
weltweit – Tendenz weiter steigend.
Foto: Windräder im Saarland.
an. Ob antike Uhren, Oldtimer, Schmuck,
Weine, Gemälde oder Pferde – immer ist neben Kapitaleinsatz und fundiertem Wissen
auch eine glückliche Hand, ein Gespür für
Wertentwicklung und Qualität gefragt.
Unabhängig davon, für welche Sachwerte
sich Anleger entscheiden, erfolgreiche Investments brauchen Geduld, um den besten
Zeitpunkt für den Verkauf und ein gutes Ergebnis finden zu können, zieht der HWWIReport Bilanz.
Lesen Sie bitte auf den folgenden Seiten, was für
oder gegen einzelne Sachwerte-Klassen spricht.
WERTE
IMMOBILIEN
EIN FUNDAMENT
AUS BETONGOLD
Gebäude – Wohnhäuser oder Gewerbeimmobilien – sind die populärste Form einer Sachwerte-Investition.
Gerade bei Krisenstimmung steigt das
Interesse am Betongold.
Bisher bevorzugten Privatanleger in
Deutschland bei Wohnimmobilien direkte inländische Investments: Von den
39,6 Millionen Wohnungen werden
40 Prozent vom Eigentümer bewohnt,
37 Prozent gehören Kleinanlegern, die
ihre Objekte oft auch selbst vermieten
und verwalten, ermittelte der Immobiliendienstleister Jones Lang LaSalle.
Prognosen zur demographischen
Entwicklung weisen zwar auf eine
schrumpfende Bevölkerung hin, gleichzeitig wird der Bedarf an Wohnraum
für Ein-bis-zwei-Personen-Haushalte
aber zunehmen. Leben heute noch im
Schnitt 2,2 Personen in einer Wohnung, werden es 2030 nur noch 1,8 Personen sein. Dies gilt vor allem für Städte, denn alle Prognosen gehen von einer
Reurbanisierung, einer Landflucht der
Menschen in die Städte aus.
Direkte Investitionen setzen jedoch
genaue Kenntnisse des lokalen Immobilienmarkts voraus, raten Experten.
Bei Einzelobjekten – Eigentumswohnungen etwa – ist die Wertsteigerung
abhängig von der Stadtentwicklung
und den Beschlüssen der Eigentümergemeinschaft. Der Erwerb eines gesamten Mehrfamilienobjekts reduziert
zwar die Risiken unerwünschter Mitsprache anderer Eigentümer, führt aber
zu höheren Standortrisiken.
42
Zur Diversifizierung des Kapitaleinsatzes und der Risiken boten sich in der
Vergangenheit vor allem offene Immobilienfonds an. Der Anleger erwarb
einen Anteilsschein, und das Fondsmanagement übernahm Kauf und Verwaltung der Objekte. Bis 2009 belief sich
das Anlagekapital offener Immobilienfonds in Deutschland auf rund 100
Milliarden Euro. Ob offene Fonds weiter ihren Platz im Portfolio behaupten
können, hängt von Entscheidungen der
EU-Kommission ab. In Brüssel wird
ein Gesetz vorbereitet, demzufolge es
künftig nur noch geschlossene Fonds
geben soll.
Diese Anlageform spielt bei Großprojekten und in der gewerblichen Immobilienwirtschaft schon lange eine
gewichtige Rolle. Der Immobilienfonds
DWS ACCESS Deutsche Bank Türme
etwa, der 2011 die Konzernzentrale der
Deutschen Bank in Frankfurt erworben hat, ist ein gutes Beispiel: Nach der
Sanierung auf höchsten ökologischen
Standard wurden die Türme mit rund
76 000 Quadratmeter vermietbarer
Fläche für rund 583,6 Millionen Euro
vom Fonds gekauft. Als Alleinmieter
zahlt die Bank rund 32 Millionen Euro
im Jahr, der Mietvertrag läuft 15 Jahre
mit Option auf Verlängerung. „Für den
Fonds sprechen der finanzkräftige Mieter, der lang laufende Mietvertrag und
natürlich die Immobilie selbst“, sagt
Katrin Esser von Feri EuroRating.
Geschlossene Fonds sind unternehmerische Beteiligungen mit allen Rechten und Risiken. Das eingesetzte Kapital ist oft auf mehr als ein Jahrzehnt
gebunden. Für vorzeitige Veräußerung
von Anteilen gibt es zwar einen Zweitmarkt, dort werden aber oft erhebliche
Abschläge verlangt. Die Summe der
gehandelten Fondsbeteiligungen stieg
laut HWWI von 56 Millionen Euro im
Jahr 2002 auf 213 Millionen Euro 2011.
Neben den Immobilienfonds-Beteiligungen gibt es noch die Möglichkeit,
Aktien von Immobilien-Gesellschaften
oder Real Estate Investment Trusts zu
erwerben. Beide Anlageformen unterliegen allerdings Schwankungen am
S AC H W E RT E
Aktienmarkt und scheiden für Anleger,
die Schwankungsrisiken minimieren
wollen, aus.
ERNEUERBARE ENERGIEN
EINE SAUBERE SACHE
MIT RISIKEN
Eine Sonderrolle spielen erneuerbare Energien vor allem in Deutschland
durch die zurzeit noch hohen gewährten Subventionen. Hier haben Anleger
durchaus Gelegenheiten für direkte Investments, wenn sie beispielsweise ihre
eigenen Immobilien mit PhotovoltaikAnlagen ausrüsten, Dächer, Fenster
und Fassaden unter Effizienzgesichtspunkten erneuern und dadurch ihre
Betriebskosten senken. Auch das sind
Investments in Sachwerte, die sich über
Jahrzehnte auszahlen.
Beteiligungen an Herstellern von
Photovoltaikanlagen und Solarzellen
unterliegen hingegen steigenden Risiken. Die staatliche Förderung wie das
„100 000-Dächer-Programm“ oder die
„EEG-Einspeiseverordnung“ hat Investments in Unternehmen bisher abgesichert. Doch künftig werden diese
Einspeisevergütungen für Neuanlagen
geringer ausfallen und Solartechnikanbieter aus Fernost mit Billigware die
bislang führenden deutschen Hersteller
unter Druck setzen.
Windkraftanlagen werden schon
lange mit Hilfe offener oder geschlossener Fonds errichtet. Doch auch hier
sind die Gelegenheiten für neue Windparks begrenzt. „In Norddeutschland
sind die Flächen mit guter Windernte
bereits besetzt“, sagt Ronny Meyer,
Geschäftsführer der Deutschen Windenergie Agentur (WAB) in Bremerhaven. Sie setzt daher auf die Errichtung
von Windkraftanlagen in der Nordsee.
Pilotprojekte laufen bereits, doch noch
fehlen verlässliche Daten zur Risikoabschätzung.
Wasserkraftwerke waren bisher selten für Privatanleger verfügbar, weil
wenig Kapitalbedarf bestand und die
Eigentümer nicht bereit waren, Rendite
zu teilen. Doch Megaprojekte wie etwa
die Speicherung von Strom aus norddeutschen Windkraftanlagen in norwegischen Hydrokraftwerken werden
einen hohen Finanzbedarf generieren,
bei dem dann vermutlich auch privates
Anlagekapital willkommen sein wird.
INFRASTRUKTUR
IN DIE ZUKUNFT
INVESTIEREN
Die Weltbevölkerung wächst, ihr
Lebensstil und ihre Erwartungen an
eine saubere und funktionierende
Umwelt steigen. Doch die Vorausset-
zungen dafür – belastbare Strom- und
Telekommunikationsnetze, funktionierende Wasser- und Abwasserleitungen,
ausgebaute Straßen- und Schienentrassen – halten mit der Entwicklung
nicht Schritt. Während es in Entwicklungs- und Schwellenländern vor allem
um den Neubau dieser existenziellen
Infrastruktur geht, fehlen in den Industriestaaten die Mittel für dringend
nötige Erweiterungen und Reparaturen bestehender Strukturen. Die OECD
schätzt den weltweiten Kapitalbedarf
auf drei Billionen US-Dollar – pro Jahr.
Ein weites, unübersichtliches Feld für
Privatinvestoren, ohne deren Beteiligung die Missstände jedoch nicht zu
beheben sind.
„Eine bessere Infrastruktur fördert
den Produktionsfortschritt, unterstützt
das Wachstum und erhöht insgesamt
den Wohlstand der Bevölkerung eines
Landes“, erklärt Kathryn Koch, Senior
Portfolio Strategist bei Goldman Sachs.
Auch sie sieht „erhebliche Chancen
für Anleger“. Investoren haben dabei
die Wahl zwischen Aktien von Unternehmen, die am Bau von Infrastrukturmaßnahmen beteiligt sind, oder Fonds,
die das Kapital für Ausbau oder Reparatur bereitstellen und später die Straßen
oder Netze an staatliche oder private
Betreiber vermieten.
Die Renditen hängen von den Einnahmen ab. So bildet etwa bei einer mit
privaten Mitteln gebauten Straße die
Maut die Basis für Ausschüttungen der
Fondsgesellschaft. Abgezogen werden
Zinsen und Tilgung für Fremdkapital,
Management- und Verwaltungsgebühren. Das Risiko dieser Investitionen
liegt einerseits in falschen Prognosen
über die Nutzungs- und Einnahmenentwicklung, aber auch in Kurswechseln in der Politik. Bisher sind Infrastrukturfonds vor allem eine Domäne
der institutionellen Anleger. Ihre Beteiligungen sind seit 2010 um mehr als
1000 Prozent gestiegen, ermittelte der
Verband geschlossener Fondsanbieter.
Insgesamt haben die Fondsvolumen
von 51,7 auf 440 Millionen – also um
751 Prozent – zugelegt.
ROHSTOFFE
FÜR DEN MOTOR
DES FORTSCHRITTS
Öl, seltene Erden, wertvolle und edle
Metalle sind der Schmierstoff der Weltwirtschaft. Wer hiervon profitieren will,
ist auf Aktien von Rohstoffkonzernen,
Ölfirmen oder Fördergesellschaften
oder aber auf Zertifikate angewiesen.
„Als Rohstoff-Investor braucht man
neben dem nötigen Anlagekapital vor
allem zwei Dinge: einen langen Atem
und gute Nerven“, stellen die Experten
des HWWI in ihrem Anlagereport fest:
„Ein Charakteristikum von RohstoffZyklen liegt in deren extremer Länge
von bis zu 40 Jahren. Ein anderes in den
enormen Preisausschlägen, die sich intrazyklisch durchaus mehrfach einstellen können.“
Die Rohstoffzyklen folgen den langen Konjunkturwellen, die durch bedeutende Innovationen ausgelöst werden. Der gegenwärtige Zyklus wird
von der Informations-, Internet- und
Kommunikationstechnologie
sowie
durch Nachholbedarf in den Schwellenländern bestimmt. In China und Indien
gibt es noch erhebliches Wachstumspotenzial, das auch die Nachfrage nach
Rohstoffen weiter steigen lässt.
Zunehmende Industrieproduktion
und wachsende Motorisierung der Bevölkerung werden den Bedarf an Öl
erhöhen und für steigende Preise sorgen. Einen Engpass durch abnehmende
Ölvorkommen befürchten die Wissenschaftler des HWWI nicht: „Der technische Fortschritt und die steigenden
43
WERTE
Einnahmen werden in den nächsten
Jahrzehnten für ausreichende Ölvorkommen sorgen.“
Größere Gefahren gehen von spekulativen Käufen aus, die immer wieder
große Schwankungen provozieren. Der
Zeitpunkt des Investments ist daher das
entscheidende Kriterium. Dies gilt erst
recht für das, was verunsicherten Anlegern schon immer als sicherer Hafen
galt – Gold. Das Edelmetall hat in jeder
Krise Konjunktur. Durch die Schuldenkrise, den schwächelnden Euro und
niedrige Zinsen wurde der Goldpreis in
bisher nicht erreichte Höhen katapultiert. Während sich der Goldpreis aus
der Sicht der europäischen Anleger bis
2006 parallel zu den Verbraucherpreisen entwickelt hatte, hat er die Inflationsrate in den vergangenen sechs Jahren um 78 Prozent übertroffen.
NUTZFLÄCHEN
STEIGENDE
NACHFRAGE
Der amerikanische Börsenprofi Jim
Rogers favorisiert Investments in Rohstoffmärkten. Rogers, einst Partner von
George Soros, setzt bei langfristigen Investments auf Öl und Gold. Und er geht
44
noch einen Schritt weiter: „Ich rate
jungen Leuten, Landwirt zu werden.“
Ackerland und Wälder sind gesuchte
Investments. Die wachsende Weltbevölkerung braucht Nahrungsmittel und
ändert ihre Essgewohnheiten: Weltweit
kommt mehr Fleisch statt Getreide
und Gemüse auf die Teller. Getreideund Weideflächen auf der Erde werden
knapp – zumal auch ein Teil der Ackerflächen für den Anbau von Biomasse
und Biospritpflanzen verwendet wird.
In Indonesien und Brasilien werden Regenwälder gerodet, um Flächen
für Weiden oder den Anbau von Soja
und Kokospalmen zur Produktion von
Palmöl für die Kosmetik- und Lebensmittelindustrie zu gewinnen. Ein Run
auf landwirtschaftlich nutzbare Gebiete
hat begonnen: Chinesische Unternehmen kaufen in Afrika riesige Ländereien auf.
Etwa 16,8 Millionen Hektar Fläche
für Ackerbau und 11 Millionen Hektar Wald gibt es in Deutschland. Das ist
mehr, als die Nachfrage der Investoren
abdecken kann. „Waldinvestments sind
eine gute Diversifikationsmöglichkeit,
aber wir würden niemals empfehlen, einen Großteil des Vermögens darin anzulegen“, sagt Harry Assenmacher, der
die auf ökologische Wachstumsanlagen
spezialisierte ForestFinance Gruppe gegründet hat. Das Kapital werde meist
über lange Zeiträume gebunden. Etwa
20 Jahre dauert es, bis Tropenholz vom
Setzling zum „erntereifen“ Baum herangewachsen ist. Bei europäischen
Mischwäldern können auch 100 Jahre
vergehen, bis die Bäume eine vermarktungsfähige Größe erreicht haben.
Die Preise für Wald sind bereits erheblich gestiegen. Pro Quadratmeter
werden zwischen 3 und 7,50 Euro verlangt. Als wirtschaftlich gelten Waldflächen ab 100 Hektar – bei einem
mittleren Preis von fünf Euro pro Quadratmeter wären das fünf Millionen
Euro. Dazu kommen noch die Kosten
für Bewirtschaftung, Fällen und Aufzucht neuer Bäume. Die Renditen aus
der heimischen Forstwirtschaft werden
auf zwei bis vier Prozent beziffert, und
S AC H W E RT E
die Anleger müssen es mit völlig neuen
Gegnern aufnehmen: Nicht Spekulanten können ihnen den Ertrag verderben, sondern Borkenkäfer und Stürme.
Deshalb ziehen es viele Investoren vor,
in geschlossene Fonds zu investieren,
die Wälder von Rumänien bis Brasilien
verwalten.
LUXUSGÜTER
SACHWERTE IN IHRER
SCHÖNSTEN FORM
SCHIFFSBETEILIGUNGEN
UNTERWEGS IN
STÜRMISCHER SEE
„Wichtigste Parameter für die Rendite sind Einkaufspreis, Qualität des
Schiffs, Höhe und Laufzeit der Charterraten, Entwicklung der Schiffsbetriebskosten, Zinsen und Tilgung der Kredite
bzw. Darlehen, Verwaltungskosten der
Fondsgesellschaft sowie der Marktwert des Schiffs am Ende der Laufzeit“,
heißt es bei Deutsche Bank Research.
Im Idealfall steigen die Renditen mit
zunehmender Laufzeit des Vertrags an,
weil zu Beginn Zins und Tilgung für
Fremdkapital höher ausfallen.
In guten Jahren – von 2003 bis 2008
– profitierten Anleger von zweistelligen Wachstumsraten der Charterpreise. Wenn Charterverträge hingegen zu
schlechteren Konditionen verlängert
werden, teure Reparaturen anfallen
oder Zinsen für Fremdkapital steigen,
geht der Investor leer aus oder muss sogar Kapital nachzahlen. Innerhalb nur
eines Jahres schrumpften die Kapitalzuflüsse in Schiffsbeteiligungen von 1,67
Milliarden Euro im Jahr 2010 um 42
Prozent auf 0,9 Milliarden Euro Ende
des Jahres 2011.
Antiquitäten, Schmuck, Oldtimer,
klassische Uhren, Kunst und alter Wein
sind Liebhaberstücke und Sammelobjekte, die mitunter auch erworben
werden, um Anlagerisiken zu streuen.
Astronomische Preissteigerungen in
Einzelfällen verstellen jedoch oft den
Blick für das spekulative Risiko oder
Nachteile bei Vermarktung, Erwerb
oder Aufbewahrung dieser Schätze.
Der Erwerb von Diamanten ist nur
bedingt tauglich für eine auf Werterhalt ausgerichtete Vermögensanlage
von Privatinvestoren, obwohl sie sehr
seltene Güter sind, ihre Produktion
nicht gesteigert werden kann und die
Nachfrage größer als das Angebot ist.
Den Abbau von Diamanten teilen sich
weltweit fünf Konzerne – DeBeers in
Afrika, Alrosa in Russland, Rio Tinto
in Australien, BHP Billiton und Harry Winston in Kanada. Der wertmäßig
größte Teil der jährlichen Diamantenproduktion stammt aus Angola, Botswana, Zimbabwe, Namibia, Südafrika
Australien, Kanada und Russland. Die
Wertschöpfungskette, die Diamond
Pipeline, läuft vom Abbau im Bergwerk über den Rohdiamantenhandel,
an Schleifereien und dann weiter an
Juweliere zum Endkunden. Dabei stieg
der Wert der Jahresproduktion im Jahr
2010 von 12,2 Milliarden US-Dollar
auf 60,2 Mrd. US-Dollar in 2011.
Trotz der hohen Wertkonzentration
auf kleinstem Volumen sind Diamanten für Privatanleger aber kein empfehlenswertes Investment, sagen Experten.
Die offiziellen Vertriebswege laufen
über zertifizierte Händler oder Juweliere, die mit einem Aufschlag von 40 bis
60 Prozent verkaufen und bei der Rücknahme Abschläge von 10 bis 40 Prozent
verlangen. Hohe Abschläge werden vor
allem fällig, wenn der Kunde nicht bekannt ist.
Immer wieder wird versucht, illegal
abgebaute Steine in die Absatzmärkte
zu schmuggeln. Dazu gehören auch die
sogenannten Blutdiamanten, mit denen
die Bürgerkriege in Afrika finanziert
werden. Für Käufer gilt als oberstes Gebot: „Keine Steine ohne Zertifikat der
Minengesellschaft kaufen!“ Auch Diamantenfonds haben sich nicht bewährt.
Wer an der zu erwartenden Preissteigerung bei Diamanten, die auf steigender
Nachfrage bei gleichbleibendem Angebot beruht, teilhaben will, muss direkt
oder über Fonds in Aktien der Konzerne investieren.
Mehr spekulativ als kalkulierbar
sind Anlagen im Kunstmarkt, in alten
Weinen und Oldtimern. In vielen Fällen handelt es sich um Unikate, besondere Jahrgänge oder spezielle Modelle,
deren Schönheit – und Wert – im Auge
des Betrachters liegt. Obwohl durch
den Aufbau von Preislisten und Börsen
versucht wird, objektive Kriterien zu
schaffen, bleibt es dem Käufer überlassen, durch eigenes Fachwissen und
vertrauenswürdige Beratung die Spreu
vom Weizen zu trennen. Die Freude am
Besitz des Objekts sollte größer sein als
die Rendite beim Wiederverkauf.
CHRISTIANE OPPERMANN
Die Journalistin war Leiterin des Wirtschaftsressorts der „Woche“ und schrieb für „FAZ“,
„Manager Magazin“ und „Spiegel“.
Lesen Sie bitte auf der nächsten Seite,
was unser Experte Dr. Hermann Wüstefeld
über die einzelnen Sachwerteklassen sagt.
Illustration: JAN RIECKHOFF für WERTE ; Fotos: ddp images/AP/Sang Tan; Bulls Press/Mirror Pix; ddp images/United Achieves;
ddp images/AP/Lefteris Pitarakis; ddp images/dapd/David Hecker ; Syltpictures/Volker Frenzel; Ullstein Bild/AP
LIEB + TEUER
EIN KLEINER AUSFLUG IN DIE
BUNTE WELT DER SACHWERTE UND
WAS MENSCHEN BEREIT SIND, FÜR
IHRE LIEBHABEREI ZU ZAHLEN.
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Quadratmeter:
Waterküken auf Sylt.
2 Mio. €
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Der „Gelbe
Tre-Skilling“, ein
157 Jahre alter
Fehldruck.
45
S AC H W E RT E
„SACHWERTE HABEN
REALEN NUTZEN“
DR. HERMANN WÜSTEFELD ÜBER
CHANCEN UND RISIKEN BEI SACHWERTEN
Sachwerte stehen hoch im Kurs. Was raten Sie Investoren?
Sachwerte haben einen eigenen Nutzwert. Sie beruhen auf realen
Erträgen und zeichnen sich durch begrenzte Verfügbarkeit bei
strukturell steigender Nachfrage aus. Sie sollten Bestandteil der
strategischen Vermögensverteilung sein. In der aktuellen Situation
ist es wichtig, sich bei Anlageentscheidungen an Zukunftsthemen zu orientieren, da sie von den Turbulenzen an Aktien- und
Rentenmärkten relativ unabhängig sind. Zukunftsthemen sind
der demographische Wandel, Wachstum der Schwellenländer,
Nachhaltigkeit bei der Rohstoffversorgung und die weiterhin latent
hohe Inationsgefahr. Gerade hier bieten sich Sachwertanlagen als
integrierter Bestandteil des Portfolios an. Wichtig ist, das Portfolio
über einzelne Sachwertsegmente hinweg zu diversizieren.
Deutsche Anleger hatten immer schon großes Interesse an Sachwerten. Von den zwölf Billionen Euro Vermögen sind etwa zwei Drittel in
dieser Kategorie, vorwiegend in Immobilien, investiert.Welche Entwicklung erwarten Sie für den Immobilienmarkt?
Er bewegt sich im Spannungsfeld zwischen niedrigen Zinsen, Inationsangst und makroökonomischer Unsicherheit. Es gibt gute
Gründe, in Immobilien zu investieren, aber auch Einwände, die zur
Vorsicht raten. In einigen Segmenten scheinen Immobilien mittlerweile recht teuer zu sein. Da stellt sich die Frage, ob es eine gute
Idee ist, noch in so einen Markt einzusteigen.
Ist Deutschland noch ein guter Standort?
Es spricht viel für Deutschland, insbesondere die stabile Entwicklung und die zentrale Rolle in Europa. Der deutsche Wohnimmobilienmarkt sollte in den nächsten Jahren aufgrund weiterhin niedriger Fertigstellungszahlen und zunehmender Haushalte attraktiv
bleiben. Man sollte aber selektiv investieren und auf eine Streuung
über Objekte und Standorte achten. Bei Gewerbeimmobilien ist
das Bild differenzierter. Im Bürobereich hat sich der Beschäftigungsanstieg bundesweit noch nicht in Mietzuwächsen niedergeschlagen,
im Einzelhandel ndet ein starker Verdrängungswettbewerb statt.
Wo erwarten Sie im Ausland Wachstum?
Die USA scheinen wieder zunehmend attraktiv zu werden. Hier
sind vor allem die positiven Bevölkerungsprognosen zu betonen,
die im Immobilienmarkt langfristig zu Nachfrage führen sollten.
Auch das Einstiegsniveau empnde ich aktuell als attraktiv. Zudem
gibt es für Euro-Anleger die Möglichkeit der Währungsdiversizierung über den Dollar. Von den Emerging Mar kets ist die Türkei interessant. Da haben wir mit dem Shoppingcenter Marmarapark, das
gerade termingerecht eröffnete, sehr gute Erfahrungen gemacht.
Institutionelle Investoren sorgen für erheblichen Mittelzuuss bei
Infrastrukturfonds. Bietet sich da eine Chance für private Investoren?
Das Interesse an Infrastrukturinvestments ist sehr hoch. Da es
eine noch neue Anlagekategorie ist, fangen viele institutionelle
Investoren erst an, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Viele
46
G E L DA N L AG E
VOM EINFLUSS DER
WERTE AUF DIE GELDANLAGE
private Investoren haben bereits in Infrastruktur investiert, zum
Beispiel in Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energie. Auch
Investitionen in Pegeimmobilien können als Infrastruktur deniert
werden. Infrastrukturinvestments sind sinnvoll, weil auch hier eine
reale Nachfrage bedient wird. Eines der Hauptrisiken ist politisch
bedingt. Das darf man bei Anlageentscheidungen im Infrastrukturbereich nie vergessen.
Wie solide sind Investments in Ackerland und Wald?
Beide bieten solide Investments. Sie beruhen auf realer Nachfrage
und erfüllen gut die Kernanforderungen an Sachwerte wie reale
Erträge, begrenzte Verfügbarkeit und strukturell steigende Nachfrage. Durch den Verkauf von Agrarrohstoffen oder Holz werden reale Erträge erzielt. Geeignete Flächen sind nur begrenzt verfügbar,
eine wachsende Weltbevölkerung und zunehmender Wohlstand
beeinussen die Nachfrage.
Welche Risiken sind damit verbunden?
Die Risiken unterscheiden sich bei Ackerland und Wald und nach
der Art des Investments. Bei Wald hat man den Vorteil, dass Bäume
unabhängig von der Marktentwicklung langfristig wachsen und das
Investment allein dadurch an Volumen und Wert gewinnen kann.
Realisiert wird diese Wertsteigerung dann durch das Fällen von
einzelnen Bäumen und den anschließenden Verkauf des Holzes –
wenn der Holzpreis gerade attraktiv ist.
Bei Agrarinvestments hat man diese zeitliche Flexibilität nicht. Absichern kann man sich hier nur bedingt durch Terminbörsen. Risiko
hat man nur dann weitgehend reduziert, wenn lediglich das Land
erworben und das dann an einen Dritten verpachtet wird. Dann
sind allerdings die Cash-Renditen recht niedrig, und man ist auf die
Wertsteigerung von Grund und Boden angewiesen, um angemessene Rendite erzielen zu können.
Was sagen Sie Kunden, die Rohstoffanlagen ethisch bedenklich nden?
Man muss zwischen der Anlage in rohstoffproduzierende Investments und reiner Spekulation unterscheiden. Kapital für die Produktion von Gütern zur Verfügung zu stellen, für die es eine reale
Nachfrage gibt, sollte ethisch unbedenklich sein. Wenn dadurch ein
Agrarrohstoff wie Getreide produziert wird, so kann das meiner
Meinung nach kein unethisches Unterfangen sein. Natürlich spielt
bei allem die Art, wie investiert wird, eine große Rolle, und eine
derartige Strategie sollte von einer ESG-Richtlinie (Environmental-,
Social- and Governance) geleitet sein.
DR. HERMANN WÜSTEFELD
Leiter Geschlossene Fonds
DWS Finanz-Service GmbH
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MARKUS MÜLLER SCHREIBT ÜBER ADAM SMITH, ANLEIHEN UND AKTIEN.
O
b Einkauf im Supermarkt, Arbeit in der Montagehalle oder die Entscheidung eines Investors, Anleihen oder Aktien zu kaufen, jedes Handeln hinterlässt eine Spur in den Märkten. Wir sind Teil eines Systems,
das für Erzeugung und Verteilung sorgt. Wir nehmen daran
teil und beeinflussen es als Konsumenten, Arbeitnehmer, Unternehmer, Manager oder Investoren.
Unser Handeln wird bestimmt von einem Nutzenkalkül.
Ob wir einer altruistischen oder eigennützigen Motivation
folgen, ist im Grunde gleichgültig, solange unsere Handlung
einem allgemein gültigen Wertekodex folgt, dessen wichtigster Grundsatz darin liegt, dass wir unseren Nächsten nicht
übervorteilen oder dessen Lebensgrundlage gefährden. So
hat es der Vater der klassischen Nationalökonomie, Adam
Smith, vor fast 250 Jahren postuliert. Wachsender Wohlstand
einer Gesellschaft lässt sich nur erzielen, wenn auch das Individuum sein Vermögen durch Arbeit und Teilhabe mehren
kann. Smith war Theologe und Moralphilosoph, er glaubte
daran, dass der Mensch empathisch handelt und auf seine
Mitmenschen Rücksicht nimmt. Auf dieser Überzeugung hat
er auch seine Wirtschaftstheorie aufgebaut. Adam Smiths
Lehren werden heute gern zitiert. Doch welcher Wert wird
ihnen noch beigemessen? Bedenken wir wirklich immer das
große Ganze, wenn wir Entscheidungen treffen?
Nach Ansicht von Prof. Matthew Braham, der an der Universität Bayreuth politische Philosophie und Ethik lehrt, zeigen Menschen selten ein in sich schlüssiges Verhalten: „Wir
sorgen uns alle, dass Erderwärmung und Klimawandel unsere
Lebensgrundlagen und vor allem die unserer Kinder schädigen, aber in unserem Alltag werden diese Sorgen ausgeblendet. Obwohl es bekannt ist, dass der Individualverkehr mehr
klimaschädliche Stoffe pro Kopf ausstößt als der öffentliche
Nahverkehr, nehmen wir selbst für kürzeste Strecken das
Auto.“ Wer Brahams Überlegungen folgt, stößt überall auf
solche Unstimmigkeiten.
Im Grunde hätte die Euro- und Schuldenkrise vermieden
werden können, wenn alle Investoren in Anleihen der Krisenstaaten in der Peripherie investiert hätten und wenn nicht
der schnelle Profit beherrschendes Motiv gewesen wäre, sondern die langfristige Sicherung einer angemessenen Rendite.
Die Turbulenzen in der Eurozone und auf den internationalen
Kapitalmärkten – Inflation, Rezession und Kursverfall –, die
durch „unvernünftiges“ Verhalten entstanden sind, treffen
jeden Investor stärker und schaden ihm mehr, als es der Kauf
einiger griechischer, spanischer oder italienischer Staatsanleihen zur rechten Zeit getan hätte.
Fotos: Deutsche Bank (2)
Die Einschätzung von Risiken und Chancen ist ein sehr
komplexes Thema nicht nur in Krisenzeiten. Neben den wirtschaftlichen Bedingungen spielen auch persönliche Überzeugungen und Bedürfnisse eine Rolle. Traditionelle Grundsätze
beeinflussen den Umgang mit Geld. So lässt sich noch heute
beobachten, dass in katholisch geprägten Kulturen Anleihen
den Aktien vorgezogen werden. Dahinter steht das im 12.
Jahrhundert erlassene Zinsverbot der katholischen Kirche,
das offiziell 1830 aufgehoben wurde, dessen Folgen aber bis
heute in der Form von Zero-Bonds weiter bestehen. In der
angelsächsischen, vorwiegend protestantischen Welt werden
Aktien favorisiert.
Die Aktienaffinität der Nordamerikaner trägt den
Optimismus der Siedler und Pioniere in unsere Zeit. Die
Migranten waren überzeugt, dass sie sich in der Neuen Welt
bessere Lebensbedingungen erschaffen können als in Europa.
Aufbruchstimmung und Abenteuerlust von einst finden ihre
Fortsetzung an den Aktienbörsen heute. Familien, die unter
der Hyperinflation der 1930er Jahre hohe Verluste erlitten
haben, reagieren noch heute sensibel auf Inflationsgefahren.
Die Kenntnis solcher Befindlichkeiten und Zusammenhänge ist wichtig, weil sie unterschwellig Anlageentscheidungen
beeinflussen und darüber entscheiden, ob eine Vermögensberatung zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit führt.
Dabei versteht es sich von selbst, dass wirtschaftliche und
politische Daten und Prognosen aktualisiert vorhanden sein
müssen. Die Überzeugungen und tradierten Werte geben
eher die Richtung vor. Zu einer vertrauensvollen Anlageberatung gehört allerdings auch, dass Berater und Kunde die
objektiven Rahmenbedingungen von Anlagen kennen und
im gesamtwirtschaftlichen Umfeld einordnen können.
Langfristig werden sich die Zielsetzungen der Teilnehmer
am wirtschaftlichen Handeln, ob in der Rolle des Verbrauchers, Anlegers oder Unternehmers, nur vereinbaren lassen,
wenn die wirtschaftlichen Zusammenhänge von beiden Seiten erkannt und akzeptiert werden. Gleichgültig aus welcher
Perspektive wir unsere Märkte betrachten: „Wirtschaft“ ist
ein fester Bestandteil unseres Lebens – wie das Einmaleins,
das Alphabet und das Internet, da wäre es sinnvoll, sie so früh
wie möglich in die Lehrpläne der Schulen zu integrieren.
MARKUS MÜLLER
Leiter Anlagestrategie
Deutsche Bank AG, Wealth Management
Tel: +49 (0)69 91049093
E-Mail: [email protected]
47
F OTO G R A F I E
ANDREAS FEININGER
porträtierte den Fotojournalisten Dennis Stock
1951 für das Magazin „Life“
mit dessen Leica.
ANDREAS KAUFMANN,
Investor und Aufsichtsratsvorsitzender der Leica
Camera AG, mit einer
aktuellen Leica.
MYTHOS LEICA
DIE TRADITIONSMARKE UND
IHR RETTER
Text: HANS-MICHAEL KOETZLE
LEICA HAT DIE FOTOGRAFIE REVOLUTIONIERT UND DEN MODERNEN
FOTOJOURNALISMUS ERST MÖGLICH GEMACHT. WERTE ERZÄHLT
VOM MYTHOS LEICA UND WIE DER UNTERNEHMER ANDREAS KAUFMANN
DIE MARKE ZU NEUEN ERFOLGEN FÜHRT.
65
64
WERTE
RUBRIK
ROBERT LEBECK
fotograerte Joseph Beuys
1972 auf einem Hügel
oberhalb von Edinburgh.
66
66
67
67
WERTE
F OTO G R A F I E
ELLIOTT ERWITT
Der Magnum-Fotograf ist berühmt für
seine humorvollen
Momentaufnahmen.
Beide Fotos entstanden 1989 in Paris.
DENNIS STOCK Das Foto von James Dean am Times Square
wurde zur Ikone einer ganzen Generation, New York 1955.
68
Fotos: Andreas Feininger/Time & Life Pictures/Getty Image; PR ; Rober t Lebeck; Dennis Stock/Magnum Photos/Agentur Focus;
Elliott Erwitt/Magnum Photos/Agentur Focus (2)
69
WERTE
F OTO G R A F I E
1913
A
So ng alles an: Oskar
Barnacks erster funktionsfähiger Prototyp
für 35-mm-Kinolm.
ndreas Kaufmann strahlt. Mehr als
eintausend Gäste sind seiner Einladung gefolgt – zu einer Art Preview zur photokina 2012. Es
ist der 17. September. Und gleich wird Kaufmann, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Leica Camera AG, die neuen Produkte vorstellen. Dann wird Seal zusammen mit Till Brönner und ist die Leica auch. Aber als einzige Kamera hat sie es gedie Halle 1 zum Beben bringen. Es wird geklatscht, gefeiert schafft, zum Kultobjekt zu avancieren. Umgeben von einer
und getrunken. So ausgelassen hat sich die Marke schon lange Art Heiligenschein werden Leicas zu exorbitanten Preisen gekauft, gesammelt, ersteigert. Erst im Mai 2012
nicht mehr präsentiert, so stolz und zukunftskam ein Exemplar der sogenannten Null-Sesicher. Es herrscht Aufbruchstimmung. Was
rie bei einer Auktion in Wien auf sagenhafte
schon erstaunlich ist, wenn man sich vor Au2,16 Millionen Euro – Weltrekord für einen
gen führt, dass noch vor wenigen Jahren der
schlichten Fotoapparat. Es gibt MarkengalePleitegeier über dem Solmser Unternehmen
rien, -clubs und -shops. Ein „Leica Collectors
kreiste. Jetzt glänzt es mit einem Messedesign,
Guide“ listet auf 624 Seiten Hunderte von
das die Mitbewerber buchstäblich alt aussehen
MIT DER LEIC A
Kameras nebst Zubehör und Objektiven auf.
lässt – ein Phoenix aus der Asche.
WURDE
Amerika und Japan sind wohl die RegioLeica – ein klingender Name. Ein techniDIE IDEE DER
nen, in denen der Mythos am innigsten kulsches Wunder. Eine große Marke. Und mit
tiviert wird. Demnächst werden SüdameriBlick auf die Fotografiegeschichte: ein MeiMOBILEN,
ka und die Golfstaaten hinzukommen. Und
lenstein. Als Kamera hat sie Standards gesetzt,
BEWEGLICHEN
natürlich China. „China“, sagt Dr. Andreas
die noch heute, im digitalen Zeitalter, Geltung
FOTOGRAFIE
Kaufmann, „ist unser Wachstumsmarkt der
haben. Mit ihr wurde die Idee des Kleinbilds,
POPULÄR UND
Zukunft.” Allein die fotobegeisterten Enthuder mobilen, beweglichen Fotografie populär
siasten aus der Mittelschicht machten schon
und zur Norm des 20. Jahrhunderts. Es war
ZUR NORM
400 000 bis 500 000 potenzielle Kunden aus.
die erste wirklich durchdachte, ausgereifte KaDES 20. JAHR„Das sind kleine Zahlen für China, für uns
mera ihrer Art. Die erste kleine, die tatsächlich
HUNDERTS.
aber eine ganze Menge.“ Das klingt nach eifunktionierte, praktisch alle Motivbereiche
nem Jahrzehnt der Krise optimistisch. Und
abdeckte und geeignet war, unser Sehen zu
tatsächlich scheint die Leica Camera AG mit
revolutionieren. Das nach wie vor gültige Nefrischen Ideen, neuen Produkten und einer
gativformat von 24 x 36 mm, das dem Goldekulturellen Offensive den Turnaround genen Schnitt folgende Seitenverhältnis von 2 : 3
schafft zu haben.
und die Filmpatrone für 36 Aufnahmen gehen
Noch Mitte des Jahrzehnts hatte es so ausauf die ersten Leicas zurück. All die raffiniergesehen, als sei das hessische Traditionsunterten, erfolgreichen, die internationalen Märkte
nehmen ein Fall für den Insolvenzverwalter.
dominierenden Canons und Nikons und MiZu lange hatte man auf analoge Technik genoltas der 1960er bis 1980er Jahre – ohne das
setzt, gehofft, sich mit Replikas, modischen
Vorbild Leica wären sie nicht denkbar.
Kameravarianten oder Sammlerstücken geDie Welt der Fotografie hat viele Marken
gen eine Konkurrenz zu behaupten, die längst
kommen und gehen sehen – Contax, Plaubel,
auf der digitalen Schiene davoneilte. Leica
Rollei. Sie alle waren perfekte Werkzeuge in
suchte die Nische. Aber Nischen können auch
den Händen bedeutender Fotografen. Das war
70
zu klein sein fürs Überleben. Der Absatz brach ein. Man
schrieb Verluste in Millionenhöhe, ohne mit einem Konzept für die Zukunft aufwarten zu können. Heute wäre die
Marke wohl Geschichte, hätte sich mit dem Österreicher
Andreas Kaufmann nicht ein Retter in der Not gefunden.
Kaufmann, 58, ist das, was man als Aficionado zu bezeichnen pflegt. Er liebt die Leica, liebt die Marke. Andreas
Kaufmann stieg in das Unternehmen ein, sicherte sich die
Aktienmehrheit und bestimmte einen neuen Kurs. Eine
Zeitlang sorgte Leica noch mit verfehlten Personalentscheidungen für Schlagzeilen. Doch spätestens seit der M9
als erster digitaler Messsucher-Systemkamera mit Vollformatsensor spricht man wieder über die Kameras der
deutschen Marke. Inzwischen ist man sogar so weit, sich
eigene Sensordesigns leisten zu können, „die spezifisch auf
ein Produkt und unsere exzellenten Objektive abgestimmt
werden“, so der Vorstandsvorsitzende Alfred Schopf. Um
stolze 57 Prozent auf 248 Millionen Euro stieg der Umsatz
im Geschäftsjahr 2010/11; 296 Millionen waren es im vergangenen Jahr. „Unser Ziel am Ende des Tages“, meint Andreas Kaufmann, „ist ein Marktanteil von einem Prozent.“
Mit aktuell 0,2 Prozent ist Leica ein ökonomischer
Zwerg, aber einer mit unerhörter Strahlkraft. Was die
Markenbekanntheit betrifft, liegt Leica weit vorn. Fast jeder kennt den roten Punkt, der als merkfähiges Symbol
längst seinen Platz unter den großen Warenzeichen hat.
Aber woher kommt diese Faszination? Auch andere Kameras funktionieren, tun klaglos ihren Dienst. Was macht
die Leica so anders, zum Gegenstand globaler Begierde?
Sicher ist: Sie ist schön. Sie ist der Porsche unter den
Kameras. Genaugenommen ist sie das logische Ergebnis
einer handwerklich fundierten, funktionalen Gestaltungspraxis. „Form follows function“ war ein Schlagwort der
konstruktivistischen 1920er Jahre. Zwar hatte Oskar Barnack, Ingenieur bei Leitz und Schöpfer der Leica, mit dem
Bauhaus nichts zu tun. Aber auch sein Wirken folgte der
Idee, eine Form mit sparsamen Mitteln logisch aus der
Funktion heraus zu entwickeln. Letzlich war es ein Streifen
Blech, den er um ein Miteinander von Schlitzverschluss,
Aufzug, Räderwerk und Federn legte: Fertig war die Leica.
Ihre Form war so schlüssig, nüchtern, zeitlos, dass sie bis
heute funktioniert. Noch den jüngsten Mitgliedern der MFamilie sieht man ihre Gene an. Die Leica M gibt sich betont schlicht, schnörkellos und aufgeräumt in den wenigen
Bedienelementen – eine Kamera mit Charakter.
Rund 400 Gramm wog das erste Modell. Zum Vergleich: Allein zwölf Negativ-Platten für eine 13 x 18 Zentimeter große Kamera bringen drei Kilo auf die Waage.
Mit der Leica ließen sich in schneller Folge 36 Aufnahmen
machen. Zudem war sie mit ihrem versenkbaren Objektiv
flach und passte in jede Manteltasche, was sich von den
„GELD IST FÜR MICH
GESTALTUNGSMITTEL“
WIE DER EHEMALIGE LEHRER ANDREAS KAUFMANN
LEICA VOR DEM UNTERGANG BEWAHRTE
Nomen est omen, möchte man meinen. Aber so einfach ist es
nicht. Zwar stammen seine Vorfahren aus Frankfurt und betätigten sich dort tatsächlich als Kaueute. Aber es hat gedauert,
bis aus dem Weltverbesserer und promovierten Philologen
Andreas Kaufmann ein engagierter Unternehmer wurde, dessen
Tag nicht mit Hesse, sondern mit dem Wirtschaftsteil beginnt.
Aber vielleicht kann man die Welt auch verbessern, indem man
eine traditionsreiche Firma vor dem Konkurs bewahrt, Arbeitsplätze sichert und einer Region den Glauben an die Zukunft.
Kurz gesagt: eine Utopie Wirklichkeit werden lässt. In genau
diese Richtung scheinen die Interessen von Andreas Kaufmann
zu gehen. Statt sein unerwartetes Erbe als Lebemann unter die
Leute zu bringen, setzt er es kreativ ein. „Geld“, sagt er, „war für
mich immer ein Gestaltungsmittel.“ Kaufmann, 58, ist von Hause
aus Germanist. Lange Jahre war er Lehrer an einer Waldorfschule
in Göppingen, und vermutlich würde er noch heute vor der Tafel
stehen, hätte ihm nicht das Schicksal ein Millionenerbe zugespielt.
Kaufmann und seine beiden Brüder gelangten, nachdem Onkel
und Tante ohne Nachkommen verstorben waren, in den Besitz
des österreichischen Papierherstellers Frantschach. Seinen Beruf
gab Kaufmann auf und widmete sich von nun an der Verwaltung
des ererbten Vermögens bzw. beteiligte sich – nach dem Verkauf
der Frantschach AG – an produzierenden Unternehmen. Nur die,
so Kaufmann, böten ihm die Chance, sich gestaltend zu betätigen.
2004 sicherte sich Kaufmann die Mehrheit an der Leica
Camera AG – als Marke ein Juwel, als Kameraschmiede ein
Sanierungsfall. Vor allem den Trend zur Digitalfotograe hatte
man verschlafen. Aus dem Trendsetter von einst war ein Museum
geworden. Doch Kaufmann, selbst begeisterter Hobbyfotograf,
glaubte an die Zukunft der Marke. Er motivierte die verbliebenen
Mitarbeiter, nahm einige Millionen in die Hand und schaffte den
Turnaround. Seit 2010 schreibt Leica wieder schwarze Zahlen.
Mit innovativen Produkten und einem exklusiven Shopkonzept
erobert man Marktanteile zurück – und verlorenes Vertrauen. In
den kommenden fünf Jahren will Kaufmann den Umsatz verdoppeln. Für Leica sehe er nicht nur einen Silberstreif: „Es gibt einen
ganzen silbernen Himmel.“
71
WERTE
seinerzeit üblichen Klapp- und Spreizenkameras nicht sagen ließ. Als der junge
Robert Capa 1932 nach Kopenhagen reiste, um Leo Trotzki zu hören, musste er
erleben, wie Pressefotografen reihenweise
abgewiesen wurden: Fotografierverbot. Capa
hatte eine Leica in der Tasche, fotografierte
unbemerkt und schrieb Pressegeschichte.
Aus heutiger Sicht scheint die Entwicklung
einer kompakten Metallkamera für 35-mmFilm nichts weniger als zwingend. Um 1920
war Barnacks Idee vor allem kühn und ihr
Markterfolg alles andere als garantiert. Bekanntlich hatte Barnack, selbst ein begeisterter Hobbyfotograf und -filmer, bereits vor dem
Ersten Weltkrieg begonnen, eine handliche
Metallkamera für perforierten 35-mm-Film
zu konzipieren. Damit schuf er die Grundlage für eine praxistaugliche Kleinkamera, die
schließlich 1925 in den Handel kam.
Im Vorfeld hatten sich so ziemlich alle gegen Barnacks „Spielzeug“ ausgesprochen. Allen voran die Fachfotografen, die man befragt
hatte. Aber auch die Entscheidungsträger im
Hause Leitz konnten gute Argumente gegen
die Kamera vorbringen. Der verfügbare Kinofilm sei zu grobkörnig. Das stimmte. Um von
den kleinen Negativen zu brauchbaren Bildern zu gelangen, benötige man ein Vergrößerungsgerät. Das stimmte. Es fehle ein eingespieltes Händlernetz, das die neue Kamera
offensiv unter die Leute bringen würde. Das
war ebenfalls nicht von der Hand zu weisen.
Letztlich war es die ökonomische Dauerkrise
der 1920er Jahre, die die vor allem für ihre Mikroskope bekannten Leitz Werke in Wetzlar
zwang, sich nach einem weiteren Standbein
umzusehen. Mit Oskar Barnacks Kamera lag
es buchstäblich auf dem Tisch. Nach einer erregt geführten Sitzung 1924 entschied Ernst
Leitz II gewissermaßen im Alleingang: „Barnacks Kamera wird gebaut.“
Es gibt Tüftler. Es gibt Erfinder. Und es gibt
Visionäre. Ernst Leitz II, 1871 geboren, seit
1906 Teilhaber im väterlichen Unternehmen
und seit 1920 dessen Chef, muss ein solcher
Visionär gewesen sein. Vergleichen könnte
man ihn in neuerer Zeit mit Namen wie Bill
Gates oder Steve Jobs, die ja ebenfalls nicht
einfach ein neues, schickes Produkt auf den
Markt gebracht, sondern mit einer Idee unsere
72
OSKAR BARNACK
Der berühmte LeicaKonstrukteur (1879-1936)
an seinem Arbeitsplatz.
Hier erfand er die erste
praxistaugliche Kleinbildkamera der Welt.
WER EINE
LEIC A KAUFT,
ERWIRBT
NICHT
EINFACH EINE
KAMERA –
ER WIRD
MITGLIED
EINER FAMILIE.
QUEEN ELIZABETH II
Die Königin mit Leica –
traditionsbewusst auch
beim Fotograeren.
F OTO G R A F I E
Medienwelt verändert haben. Die Welt,
die Leitz mit seiner auf der Leipziger
Frühjahrsmesse 1925 vorgestellten und
von da an verkauften sogenannten Kleinbildkamera veränderte, war die Welt der
Fotografie. Die Leica hat unser Sehen verändert, unsere Wahrnehmung entfesselt. Nicht
nur in der Verwendung des konfektionierten,
perforierten 35-mm-Films stand sie dem Kino
nahe. Auch in der Dynamisierung des Blicks
ist sie dem jungen Kino verwandt. Im Grunde
war die Leica die stimmige Antwort auf eine
temporeiche Zeit.
Technikgeschichtlich repräsentiert sie ein
Stück deutscher Ingenieurkunst. Geistesgeschichtlich fügt sie sich in eine Ära, die mit
Surrealismus oder Futurismus nach neuen
Antworten auf alte Fragen suchte. Nicht zufällig waren es zunächst Quereinsteiger, die
sich für die Leica interessierten. Medientheoretiker wie Moholy-Nagy, Juristen wie Erich
Salomon, Ethnologen wie Wolfgang Weber,
Philologen wie Nachum Gidal oder Künstler
wie der Russe Alexander Rodtschenko. „Wir
haben eine Leica gekauft“, vertraute dessen
Ehefrau Anfang der 1930er Jahre ihrem Tagebuch an. „Ich kann es kaum glauben. Wir sind
ganz aufgeregt. Rodtschenko ist sehr glücklich. Es macht so viel Vergnügen, an die Leica
zu denken. Ich setze mich einen Moment hin,
nur um sie zu bewundern. Sie stand den ganzen Tag auf seinem Tisch. Erst als der Abend
einbrach, lud er sie und machte eine Testaufnahme. Er entwickelt sie jetzt.“
Ganze 903 Exemplare der Leica I hatten
1925 das Werk in Wetzlar verlassen. Mehr als
16 000 wurden vier Jahre später gebaut. 1936
ging die 200 000. Kamera in den Handel. Die
Million wurde 1961 überschritten. Das ist viel
für ein Premiumprodukt. Allerdings: Von allein kam das nicht. Von Anfang an bediente
sich Leitz ungewöhnlicher Marketingmethoden, ließ Profis wie den Leica-Pionier Anton
F. Baumann Vorträge halten, organisierte
Ausstellungen, die die Leistungsfähigkeit des
Kamerasystems unter Beweis stellen sollten,
oder überreichte – öffentlichkeitswirksam
– Leicas mit markanten Seriennummern an
Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur
oder Politik – unter ihnen Sven Hedin, Paul
Wolff, Henri Cartier-Bresson, Pandit Nehru
oder Konrad Adenauer. Eine Tradition, die das mittlerweile in Solms bei Wetzlar tätige Unternehmen unlängst mit
Barbara Klemm und Nick Út fortgeschrieben hat. „Fotografen“, meint Andreas Kaufmann, „sind für uns Freunde.
Eine Kamera selbst ist ja gar nichts. Sie ist ein Werkzeug.
Hoffentlich ein gutes Werkzeug. Das Entscheidende ist,
was man mit ihr macht.“
Die Leica ist nicht billig, sie war es noch nie. Rund 6000
Euro kostet die digitale M9, ohne Objektiv wohlgemerkt.
Und die digitale Spiegelreflexkamera der S-Klasse kommt
auf fast 20 000 Euro. Doch wer eine Leica kauft, erwirbt
nicht einfach eine Kamera. Er wird Mitglied einer Familie, wie es Magnum-Fotograf Guy Le Querrec ausdrückt.
Erstaunlich viele bedeutende Fotografen des 20. Jahrhunderts haben sich für sie entschieden: Henri Cartier-Bresson, William Klein, Nan Goldin oder William Eggleston. In
jüngerer Zeit fungieren auch Popstars wie Seal oder Bryan
Adams, Köche wie Paul Bocuse oder Fernsehmoderatoren
wie Markus Lanz als Markenbotschafter. Ist es der Mythos, der die Wahl bestimmt? Oder der weich und feminin klingende, von Leitz Camera abgeleitete Name? Ist es
das Design? Die Tatsache, dass die Leica sehr viel weniger
aggressiv auftritt als die modernen Geschütze mit ihren
optischen Kanonen? Oder ist es das Gefühl, etwas wirklich
Wertiges zu besitzen? In jedem Fall schwingt eine emotionale Komponente mit. „Man muss ja keine Religion daraus machen“, meint Le Querrec, „aber die Leica hat etwas
Magisches“, und er fügt hinzu: „Nicht selten sieht man
einen Fotografen seine Leica streicheln.“
Die Leica, so viel ist sicher, ist keine einfache Kamera.
Le Querrec vergleicht sie mit einem Fahrzeug ohne Servolenkung. Mit der Leica M wird das Fotografieren zu einem bewussten Akt der Bildgestaltung. Kein Autofocus.
Keine Belichtungsautomatik. Dafür der Blick durch einen
großen, hellen Sucher, in dessen Rechteck sich vorzüglich
komponieren lässt. Ist das der Grund, warum Leica-Bilder
anders sind? Entschiedener in der Geometrie, mutiger im
Verletzen von Regeln? Dass der Sucher nicht genau das
zeigt, was der Film bzw. Sensor sieht, bringt den Zufall ins
Spiel. Und doch: Wer mit der Leica fotografiert, weiß genau, was er tut. „Wir stehen nicht für das gute Bild“, sagt
Andreas Kaufmann, „sondern für das bessere Bild.“
Die Geschichte der Leica lässt sich als Technikgeschichte erzählen. Aber auch als Kunst- oder Mediengeschichte
– schließlich hat diese Kamera die klassische Reportage
beflügelt. Oder man erzählt sie als Familienroman, der
Mitte des 19. Jahrhunderts begann, mit dem Verkauf des
Unternehmens in den 1970er Jahren unterbrochen wurde und nun fortgesetzt wird: mit Andreas Kaufmann als
Mehrheitsaktionär und entschlossenem Unternehmer.
Mit attraktiven, zukunftsweisenden Produkten. Einem of-
FOTOS,
DIE GESCHICHTE
SCHRIEBEN
BEWEGENDE MOMENTE – FÜR DIE EWIGKEIT
FESTGEHALTEN MIT EINER LEICA.
1937
Der Absturz der „Hindenburg“ in Lakehurst
am 6. Mai 1937, von
SAM SHERE für die
Geschichtsbücher
festgehalten.
1945
Menschen feiern am Times Square das
Ende des Zweiten Weltkriegs.
Ein Leica-Foto von
ALFRED EISENSTAEDT.
1960
ALBERTO
KORDA
gelang das
berühmteste
Porträt von
Che Guevara.
1960
Der Kongo wird unabhängig – ein Symbolbild von
ROBERT LEBECK.
1967
„Flower against guns“, von
MARC RIBOUD. Die 17-jährige
Jan-Rose demonstriert vor dem
Pentagon gegen den Vietnam-Krieg.
1972
„Kim Phúc – Napalm
gegen vietnamesische
Zivilisten“; ein Foto
von NICK ÚT.
Fotos: Leica PR (2); Mar tin Leissl/Laif; Tim Graham/Getty Images; Sam Shere/Getty Images; Alfred Eisenstaedt/Time & Life Pictures/
Getty Images; Ullstein Bild; Rober t Lebeck/Stern/Picture Press; Marc Riboud/Magnum Photos/Agentur Focus; Ullstein Bild AP
73
WERTE
fenbar gut funktionierenden Ladenkonzept, das zweifellos
vom zeitweisen Aktionär Hermès und dessen exklusiven
Stores gelernt hat. Und nicht zuletzt mit der anstehenden
Rückkehr von Solms an den traditionellen Leica-Standort
im zehn Kilometer entfernten Wetzlar.
Mehr als 55 Millionen Euro werden in den „LeitzPark“ investiert, in dem ab Herbst 2013 neben zwei bereits
ansässigen Feinmechanik- und Optikherstellern auch die
600 Angestellten aus Leica-Verwaltung, -Entwicklung,
-Forschung und -Fertigung arbeiten sollen. Mehr noch
als die Bündelung der Aktivitäten an nur einem Ort, ist
der Umzug vor allem ein Bekenntnis zu den eigenen Werten und Wurzeln. Leica kehrt zu seinen Ursprüngen in
Wetzlar zurück und will hier, wie Andreas Kaufmann es
nennt, „am optischen und feinmechanischen Know-how
der gesamten Region teilhaben“. Über moderne Fertigungsanlagen hinaus sieht das Konzept einen gläsernen
Produktionsbereich, Gastronomie und ein Museum für
internationale Fotokunst vor.
Die Geschichte der Optischen Werke Ernst Leitz und
mit ihr die der Leica formt schon eine erstaunliche Saga,
und man wundert sich, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, den Stoff zu verfilmen. Schließlich ist alles
geboten, was ein gutes Drehbuch braucht: ein überschaubarer Ort, ein selbstbewusster Clan, Persönlichkeiten mit
Charisma, schicksalhafte Augenblicke. Hinzu kommen
Pioniergeist, Innovationsbereitschaft, selbstbewusstes Unternehmertum. Abstürze gab es natürlich auch. Vor allem
aber erfreuliche Momente, so dass am Ende von einer
stolzen, rund hundertfünfzigjährigen Unternehmensgeschichte gesprochen werden kann.
Etwas zu kurz in unserem Storyboard kommt die Intrige. Im Gegensatz zur geläufigen Soap punktet unsere Erzählung mit positiven Werten. Mit Zivilcourage,
Charakterstärke, Unternehmerstolz, sozialer Verantwortung – auch und gerade, was die zeitweise 5000 Mitarbeiter betrifft. Dass Ernst Leitz II in schwerer Zeit jüdischen
Angestellten zur Flucht in die USA verholfen hat, ist erst
in jüngerer Zeit bekanntgeworden. So ist es vor allem die
neuere Politik, die mit zwei Weltkriegen, Inflation und Nazispuk immer wieder Schatten auf eine Erfolgsgeschichte
ohnegleichen wirft. In deren Mittelpunkt – ein Produkt.
Eigentlich eine ganz normale Kamera. In Wirklichkeit ein
Mythos von globaler Ausstrahlung und einer nicht enden
wollenden Verfallszeit. Ihr Name: Leica.
HANS-MICHAEL KOETZLE
lebt als Schriftsteller, Fotohistoriker und Kurator in
München. Zuletzt betreute er für die Deichtorhallen
Hamburg/Haus der Photographie die Ausstellung „Eyes
on Paris – Paris im Fotobuch 1890 bis heute“.
74
WERT DES ESSENS
„EIN FENSTER
ZUR WELT“
FRIEDHELM HÜTTE ÜBER KULTURELLES KAPITAL
UND DIE ENTWICKLUNG DES FOTOMARKTS.
Was macht für Sie den Wert der Fotograe aus?
Fotograe eröffnet ein neues Panorama, weil sie weit über die
Wahrnehmungsmöglichkeiten des Auges hinausgeht. Sie kann
einen Augenblick xieren, Geschichten erzählen, Stimmungen
festhalten. Fotograe kann eine besondere Symbolkraft entfalten. Oft reicht schon ein ikonenhaftes Bild, um ein Ereignis
in Erinnerung zu rufen. Außerdem ist sie eine zeitgenössische
Technik, die jedem vertraut ist. Daher bietet Fotograe eine
gute Möglichkeit, Menschen an Kunst heranzuführen.
Welchen Stellenwert hat sie in der Sammlung der Deutschen Bank?
Fotograe war von Beginn an ein wichtiger Bestandteil der
Sammlung. Seit 30 Jahren sammeln wir Werke auf Papier und
zählen dazu neben der Zeichnung, dem Aquarell oder der
Druckgrak auch die Fotograe. Das war Ende der Siebziger
gar nicht selbstverständlich. Aber die Fotograe hat inzwischen
einen wahren Siegeszug angetreten. Heute benden sich mehr
als 4100 fotograsche Arbeiten in unserer Sammlung.
Warum kaufen Sie vor allem Arbeiten junger Künstler?
Die junge Generation ist zumeist am nächsten an der Gegenwart dran. Kunst und Fotograe sind ein Fenster zur Welt. Sie
zeigen gesellschaftliche Veränderungen, Techniken und Trends,
die im Mainstream oft erst sehr viel später sichtbar werden.
Warum sammelt die Deutsche Bank überhaupt Kunst?
Unser Konzept orientiert sich an den Ideen des Bauhauses, das
die Lebenswirklichkeit durch Kunst und Gestaltung verbessern
wollte. Wir verstehen Kunst als kulturelles Kapital. Sie hat nicht
nur ästhetisches Potenzial, sie ist auch Katalysator für Kommunikation – einerseits zwischen Bild und Betrachter, andererseits
zwischen den Menschen, die über Kunst ins Gespräch kommen.
Wie wird sich der Markt für Fotokunst entwickeln?
Ich bin überzeugt, dass Fotograe weiterhin vielversprechend
bleibt. Allerdings rate ich dazu, bei Auagen und Formaten genau hinzuschauen. Ein wichtiges Thema ist auch Haltbarkeit. Anders als bei Gemälden oder Zeichnungen ist ein Foto für immer
zerstört, wenn fotochemische Prozesse einmal eingesetzt haben.
FRIEDHELM HÜTTE
Global Head of Art, Deutsche Bank AG
Tel: +49 (0)69 91035725
E-Mail: [email protected]
INFORMATION
Ich freue mich, wenn ich Ihr Interesse am
Kunstengagement und an der Kunstsammlung
der Deutschen Bank geweckt habe. Mehr
Hintergrundinformationen nden Sie hier.
WIR SIND GASTGEBER
THOMAS BÜHNER IST MIT DREI MICHELIN-STERNEN HOCH DEKORIERT. WICHTIGER IST IHM,
MIT DEM „SALON DE LA VIE“ EINEN ORT FÜR BEGEGNUNGEN GESCHAFFEN ZU HABEN.
Bestimmte Leitlinien zählen
natürlich nicht auf meiner
zu meinem Leben: Die geKarte. Er hat es bekommen
meinsame Mahlzeit gehört
und danach gesagt, so wundazu. Für mich ist Essen mit
derbar habe sein Lieblingsgemenschlicher Beziehung gericht noch nie geschmeckt. Es
koppelt – das bedeutet: ein
kommt halt auf das Wie an.
großer Tisch, an dem Leute
Das Berufsbild des Kochs
sitzen, die sich unterhalten,
hat sich gewandelt. Anfangs
lachen, diskutieren. Die soziawaren wir nach Küchendünsle Komponente ist mir wichten riechende Dienstboten,
tig. Essen darf nicht allein
dann tischten die prämierten
stattfinden, nicht im Gehen,
Köche in Gourmet-Tempeln
nicht im Stehen. Wir, unser
ihre Kreationen huldvoll auf.
Team – vierzehn in der Küche, fünf im SerHeute spielen wir eine Rolle, die mir gefällt: Wir
vice –, sitzen jeden Tag ab 18.30 Uhr beim Essind Gastgeber. So bringen wir hier zum Beispiel
THOMAS BÜHNER
sen zusammen und debattieren, was wir besser
im ‚Salon de la vie‘ interessante Menschen aus
und seine Frau Thayarni
machen könnten. Kochen ist Mannschaftssport.
Gesellschaft, Kultur, Politik und Wirtschaft zuKanagaratnam
Wenn etwas schiefläuft, bespreche ich das in
sammen. Und wie jeder gute Gastgeber bemühen
übernahmen 2006 das
Restaurant
„la
vie“
Ruhe mit dem jeweiligen Mitarbeiter. Passt einer
wir uns, es ihnen so angenehm wie möglich zu
in Osnabrück. (www.
nicht ins Team, ist er nicht lernfähig, liegt das an
machen. Ein Haus wie unseres, das mit drei Sterrestaurant-lavie.de).
mir. Ich habe ihn schließlich eingestellt.
nen die höchste Auszeichnung eines Restaurants
Den dritten Michelin-Stern
Ein anderer meiner Richtsätze heißt: Proerreicht hat, weckt hohe Erwartungen. Mein Ehrerrang das Haus 2011.
dukte haben nicht den gleichen Preis, aber imgeiz ist es, sie immer wieder zu erfüllen.
mer den gleichen Wert. Und so soll jede einzelne
Die Örtlichkeit spielt natürlich eine Rolle. Es
Zutat auch behandelt werden. Meine Aufgabe
war ein Glücksfall, als mir der Unternehmer Jürlautet also: Was mache ich, damit die Kartoffel,
gen Großmann das denkmalgeschützte klassizisdie Rotbarbe – oder was auch immer – bestmögtische Haus in der Altstadt anbot. Einen besseren
lich schmeckt? Nicht selten muss nur die GarPlatz konnte ich nicht finden und keinen besseren
temperatur geändert werden oder die SchnittPartner, der gleichzeitig großzügig und zielsicher
form. Manchmal ist es schwieriger. So tüftelte
sein Geld einsetzt. Er gab mir völlig freie Hand
BLICK HINTER DIE
ich lange an einer aromatischen Jus für ein Rehbeim Umbau. Die einzige Prämisse hieß: Keinen
KULISSEN
gericht ohne Zusätze von Röstaromen und GerbEuro mehr als das festgelegte Budget.
Gerne begrüße ich Sie
stoffen. Schließlich habe ich Rehfleisch grob persönlich im „La Vie“. Bitte
Beruflich bin ich ein Spätentwickler. Ich hockkontaktieren Sie mich.
durch den Fleischwolf gedreht, es anschließend
te nicht wie viele meiner berühmten Kollegen
in Vakuum verpackt im Wasserbad erwärmt. Daschon als Kind in der Küche und half Muttern.
bei tritt der reine Saft des Fleisches aus, den ich dann reduziere Ich hatte keine Ahnung, was ich nach Schulabschluss werden
– eine unvergleichliche Essenz.
sollte. Beim Arbeitsamt musste ich einen Fragebogen ausfülKreativität gehört zum Kochen. Aber man sollte es auch len. Drei Berufe kamen schließlich in Frage: Landwirt, Bäcker
nicht übertreiben. Ich halte nichts von diesen wechselnden oder Koch. Bauer ging nicht – wir hatten kein Land. Bäcker,
Moden in ihrer Ausschließlichkeit: mal Mus, mal Molekular. um Gottes willen – ich hasse Frühaufstehen. Okay, sagte ich:
Die meisten Esser sind konservativ. Nicht umsonst sind die Ich werde Koch – und ich verspreche, ich werde ein guter. Man
Italiener die erfolgreichsten Gastronomen in Deutschland, muss immer das Beste draus machen. Meine Frau, sie stammt
mit ihren ewigen Tomate/Mozzarella, Pasta und Pizza. Neu- aus Sri Lanka, wollte eigentlich Krankenschwester werden.
lich hatte ich einen Gast, der etwas verschämt gestand, er wür- 2003 wurde sie zum „Oberkellner des Jahres“ ausgezeichnet
de am liebsten Bratkartoffeln und Steak essen. So etwas steht und 2010 mit ihrem Team zum „Service des Jahres“.
Fotos: D e u t s c h e B a n k ; R e s t a u r a n t l a v i e
75
WERTE
POLEN – EUROPAS
MUSTERKNABE
LÄNDER-REPORT
NIEDRIGE LÖHNE,
WENIG SCHULDEN, FLEISSIGE
MENSCHEN UND DER
WILLE, IN EUROPA MEHR
VERANTWORTUNG
ZU ÜBERNEHMEN, MACHEN
POLEN ATTRAKTIV.
Text: PAUL FLÜCKIGER
Illustration: WIESLAW SMETEK
GEEINTES EUROPA – UND POLEN MITTENDRIN
Zu Zeiten Józef Chełmońskis (1849 – 1914) war Polen arm und von Bauern geprägt,
wie das Gemälde des berühmten polnischen Landschaftsmalers zeigt. Bei der Neuinterpretation des Klassikers
liegt Polen in der Mitte Europas und hat sich zu einem modernen Wirtschaftsland gewandelt.
Das Original mit dem Titel „Altweibersommer“ hängt im Warschauer Nationalmuseum.
52
Wer hätte den Polen das vor ein paar
Jahren zugetraut? Als einziges EUMitglied hat ausgerechnet Polen in der
Wirtschafts- und Finanzkrise keine Rezession verzeichnet. Stattdessen ist die
Wirtschaft seit 2008 um über 15 Prozent
gewachsen. Allein 2009 legte das Land
um 4,3 Prozent zu – Europarekord! Im
laufenden Jahr sollen es zwar nur noch
2,5 Prozent werden, doch auch dies kann
sich im europäischen Vergleich sehen
lassen. Dies lässt Polen für Investoren
nicht nur als eine sichere Insel erscheinen, es hat an der Weichsel auch zu einem neuen Selbstvertrauen geführt.
„Wir wollen ein führendes Land in
der EU werden“, sagt Regierungschef
Donald Tusk regelmäßig. Warschau
will nicht nur seine Position als EUMusterknabe verteidigen, sondern auch
politisch ganz vorn mitmischen. Bei der
Eurorettung etwa will das verhältnismäßig wenig verschuldete Land mitzahlen,
obwohl es die Gemeinschaftswährung
noch gar nicht eingeführt hat. Warschau
versteht sich zudem nicht nur als Führungsmacht der zwölf EU-Neumitglieder, sondern auch als Brücke nach Osten
– über die Ukraine bis zur RussischWeißrussisch-Kasachischen Zollunion.
Schließlich redet Warschau einer mutigen EU-Erweiterung von Kroatien bis
nach Georgien das Wort.
Polens Aufschwung begann mit dem
EU-Beitritt im Mai 2004. Heute profitiert das Land nicht nur von den immensen
EU-Strukturhilfezahlungen,
die etwas über drei Prozent des BIP
ausmachen, sondern auch von einer bildungshungrigen und im Grundgefühl
optimistisch eingestellten Gesellschaft.
Innerhalb von nur zehn Jahren hat sich
die Zahl der Hochschulabsolventen fast
verdoppelt. Das gute Bildungsniveau
wird von Investoren immer häufiger als
Hauptgrund für ihre Standortwahl angegeben. Talent-Pooling hat den Faktor
Billiglohn längst abgelöst, zumal nun die
geburtenstarken Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt drängen. Vor allem Investoren aus der IT-Branche sowie aus den Bereichen Forschung und Business Process
Outsourcing haben Polen in den letzten
Jahren als großen Wachstumsmarkt entdeckt.
Doch in allen Branchen lautet die
Frage längst nicht mehr, wer eigentlich
in Polen vertreten ist, sondern wer es
noch nicht ist. Über 6000 deutsche Firmen haben sich in Polen niedergelassen.
Für viele von ihnen ist Polen mit seinen
38 Millionen Einwohnern nicht nur ein
vielversprechender Absatzmarkt, sie
nutzen die günstige Lage mitten in Zentraleuropa auch als Brücke nach Osten.
Viele deutsche Qualitätsprodukte werden inzwischen in Polen gefertigt, von
Nivea-Creme bis hin zu ganzen Fahrzeugreihen von Opel und Volkswagen.
Marktführer wie Siemens, Bertelsmann
und MAN lagern ganze Backoffice-Bereiche nach Polen aus.
Emigrationsschübe nach Großbritannien haben die Löhne für Facharbeiter
und Spezialisten in Polen derart in die
Höhe getrieben, dass nun die Früchte eines breiteren Wohlstands geerntet
werden. So hat die Inlandsnachfrage den
Export als Wachstumsmotor abgelöst.
Eine konsumfreudige Mittelschicht, oft
Doppelverdienerhaushalte, wächst und
gewinnt auch politisch an Einfluss.
38
MIO.
BEVÖLKERUNG
Mit 38 Millionen Einwohnern bietet Polen den weitaus größten Binnenmarkt
innerhalb der zwölf EU-Neumitglieder.
Jedoch schlägt sich das Land inzwischen
mit den gleichen demographischen Problemen wie Deutschland herum. Die
Geburtenzahlen sind rückläufig, die
Lebenserwartung steigt. Der Anteil der
unter 14-Jährigen an der Gesamtbevölkerung hat sich seit der Wende von 1989
halbiert. Die Fruchtbarkeitsrate liegt mit
1,3 Kindern pro Frau sogar unter jener
Deutschlands. Vor Jahresfrist sah sich
die Regierung deshalb gezwungen, das
Rentenalter schrittweise bis 2031 auf 67
Jahre anzuheben. Etwa zwei Millionen
Polen haben ihre Heimat seit dem EUBeitritt 2004 auf der Suche nach Arbeit
verlassen. Laut EU-Statistik ist jeder
vierte Pole armutsgefährdet. Gleichzeitig jedoch haben sich die Reallöhne in
den vergangenen zehn Jahren von umgerechnet durchschnittlich 530 Euro auf
930 Euro fast verdoppelt.
GESCHICHTE UND
POLITIK
Die Teilungen im 18. Jahrhundert sowie
die über hundertjährige Fremdherrschaft haben die Polen bis heute geprägt.
Freiheitsdrang und Unbeugsamkeit sind
deshalb ausgeprägter als anderswo. So
kommt es nicht von ungefähr, dass das
Ende des Kommunismus in Polen begann – mit der Gründung von Solidarnosc, der ersten freien Gewerkschaft
Osteuropas, im August 1980. Und trotz
Adolf Hitlers Überfall auf Polen hat seit
der Wende Pragmatismus im deutschpolnischen Verhältnis alle alten Reparationsforderungen abgelöst. Daran konnte auch die kurze Regierungszeit der
Kaczynski-Zwillinge von 2005 bis 2007
nichts ändern. Zwei von drei Polen hätten laut Umfragen heute nichts gegen
einen deutschen Schwager, drei Viertel
sind froh, Deutschland als Nachbarn zu
haben. Seit dem Wahlsieg des liberalkonservativen Donald Tusk herrscht ein
besonders enges Verhältnis zwischen
Warschau und Berlin.
53
POLEN
WERTE
GESELLSCHAFT
Seit dem EU-Beitritt gleichen sich Lebenswelt und -standard der Polen immer mehr dem der reicheren nördlichen
EU-Mitglieder an. Zwar bezeichnen
sich auch heute noch 96 Prozent der
Polen als gläubige Katholiken, dennoch
hat die Kirche ihre bestimmende Stellung in der Gesellschaft verloren. Das
Vertrauen in die Kirche hat seit der
Wende abgenommen, die Sexualmoral
junger Polen unterscheidet sich Umfragen zufolge kaum noch von Gleichaltrigen in anderen Ländern. Statt zur
Messe gehen viele am Sonntag lieber
ins Einkaufszentrum. Eine moralische
Autorität bleibt auch über seinen Tod
2005 hinaus der polnische Papst Johannes Paul II. Junge Frauen sind in Polen
heute ambitionierter als die Männer,
sie liegen auch bei Hochschulabschlüssen vorn.
EU-MITGLIEDSCHAFT
Hat sich Polen während der EU-Beitrittsverhandlungen jahrelang als besonders egoistisch gezeigt, so genießt
Warschau in Brüssel inzwischen den
Ruf eines Vorzeige-Europäers. Polen
will sich nicht nur aktiv bei der Eurorettung beteiligen, die Regierung hat
während der polnischen EU-Ratspräsidentschaft 2011 eine ganze Reihe von
Initiativen für eine vertiefende europäische Integration lanciert. Dies alles
geschieht nicht ohne Eigeninteresse,
profitiert Polen doch sehr von den
Direktzahlungen in der Landwirtschaft
sowie von EU-Strukturhilfegeldern.
Letztere machen knapp über drei Prozent des BIP aus. Trotz der Euro-Krise
hält die Regierung Tusk am Ziel der
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Euro-Einführung fest. Allerdings wird
auf eine Datumsangabe verzichtet, denn
nur noch eine Minderheit der Bürger
will den Zloty durch den Euro ersetzen.
Knapp unter 80 Prozent der Polen befürworten jedoch die EU-Mitgliedschaft
– auch dies ist ein Spitzenwert.
WACHSTUMSZENTREN
Polen ist ein zentralisiertes Land, daher fließt das meiste Geld nach Warschau. Als guter Investitionsstandort
hat sich jedoch schon früh vor allem
Schlesien etabliert. Das Lohnniveau ist
hier niedriger als in der Hauptstadt, die
Lebensqualität gilt gleichzeitig als hervorragend. Gleiches gilt für die einstige
Grubenstadt Katowice. Das in der Nähe
liegende Gliwice ist für sein Opel-Werk
bekannt. Das niederschlesische Wroclaw
hat sich mit gezielter Investorenanwerbung einen Namen als Outsourcing-Paradies gemacht. Neben Schlesien haben
sich Krakau und das bis heute preußisch
geprägte Posen als Polens Wachstumszentren etabliert. Aus seinem Dornröschenschlaf ist in den letzten Jahren
selbst das arme Ostpolen erwacht, dort
vor allem Rzeszów und Lublin.
ENERGIE UND UMWELT
Polen hat außer Braun- und Steinkohle
sowie Erdgas keine eigenen Ressourcen
und ist daher hochgradig von Russland
abhängig. Einzig die Stromproduktion
kann selbst geleistet werden, hier allerdings zu 90 Prozent mit wenig umweltfreundlicher einheimischer Kohle.
Als große Hoffnung werden zurzeit
vermutete Schiefergasvorkommen von
rund 5,3 Billionen Kubikmetern – so
viel wie nirgendwo in Europa – gehan-
delt. Polen wäre demnach für die kommenden 380 Jahre mit Erdgas versorgt
und könnte sich vom bisherigen Moskauer Preisdiktat und damit einhergehendem politischem Druck befreien.
2022 steht auch die Fertigstellung eines
ersten Atomkraftwerks an. Bis 2030 soll
zudem der heute verschwindend kleine Anteil erneuerbarer Energieträger
erhöht werden. Obwohl die polnische
Unweltgesetzgebung inzwischen EUStandard erreicht, ist das ökologische
Bewusstsein noch unterentwickelt.
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ZUKUNFT UND
INVESTITIONEN
Mit Hilfe von EU-Geldern baut Polen
das in fast 50 Jahren realsozialistischer
Herrschaft vernachlässigte Bahn- und
Straßennetz aus. Aus 1200 Kilometer
Autobahn sollen bald 2000 Kilometer
werden; Schnellbahntrassen sollen sich
wie ein Netz über das Land legen. Doch
die Regierungspläne stoßen in der Umsetzung an Grenzen. Ausschreibungsverfahren, die den Preis vor Qualität
setzten, haben 2012 zu großen Konkursen in der Baubranche geführt. Auch die
aufgeblähte Bürokratie ist ein Erbe des
Kommunismus, dem keine Regierung
bisher beikommen konnte. Politisch ist
das EU- und Nato-Mitglied Polen stabil
und als Brücke zwischen Ost und West
in einer guten wirtschaftsstrategischen
Lage. Doch manches hängt von den Entwicklungen an der immer autoritärer
regierten östlichen EU-Außengrenze
ab. Entscheidend für Polen sind allerdings Reformwille und Krisenbewältigung der EU insgesamt.
PAUL FLÜCKIGER
Der Journalist lebt seit zwölf Jahren
in Warschau und schreibt u. a. für „Focus“,
„Zeit“ und „Neue Zürcher Zeitung“.
VON TUGENDEN
UND WÄHRUNGSANLAGEN
NACH EINSCHÄTZUNG DER DEUTSCHEN BANK BLEIBT DAS WIRTSCHAFTLICHE
UMFELD IN POLEN AUCH 2013 ATTRAKTIV. KAI-ARNO JENSEN ÜBER CHANCEN UND RISIKEN
FÜR ANLEGER BEI WÄHRUNGSANLAGEN.
D
ie Aussage „Polen sind fleißiger als Deutsche“ von Bundespräsident Joachim Gauck Mitte
November sorgte für große Schlagzeilen in der deutschen Presse. Unabhängig davon, nach welcher statistischen
Metrik „Fleiß“ gemessen wird und in
welchen Dimensionen diese Aussage
zutrifft, sind Bemerkungen dieser Art
ein guter Anlass, möglicherweise vorhandene Vorurteile zu überprüfen und
die Zuordnung von Tugenden neu zu
überdenken.
Mit durchschnittlich 4,3 Prozent per
anno wuchs die polnische Wirtschaft
in den letzten 20 Jahren so stark wie
kaum eine andere Volkswirtschaft in
Europa. Zwar macht sich aktuell die
Konjunkturschwäche der Eurozone bemerkbar, die polnische Regierung hat
aber reagiert und Mitte Oktober ein
mittelfristiges Investitionsprogramm
in Höhe von etwa 700 Milliarden Zloty
(PLN) angekündigt. Vor allem in Energie, Schiefergas, Straßenbau, Schienennetz, sowie Bildung und Wissenschaft
soll investiert werden. Von Seiten der
Geldpolitik hat die polnische Zentralbank Anfang November einen Zinssenkungszyklus eingeleitet. Nach einer
Absenkung auf 4,5 Prozent sind drei
weitere Zinsschritte um jeweils 25 Basispunkte für die nächsten zwölf Monate in den Markterwartungen eingepreist. Dies führte am Rentenmarkt zu
einem Renditerückgang zehnjähriger
Staatsanleihen von knapp sechs Prozent am Jahresanfang auf aktuell etwa
4,2 Prozent.
Foto: Deutsche Bank
KAI-ARNO JENSEN
Deutsche Bank AG, Wealth Management
Tel: +49 (0)69 910 40 243
E-Mail: [email protected]
„NEBEN DEM ZLOTY
SIND AKTUELL ANLAGEN
IN BRASILIANISCHEN
REAL, TÜRKISCHEN LIRA,
SCHWEDISCHEN KRONEN
UND MEXIKANISCHEN
PESOS INTERESSANT.“
Das beschriebene Zins- und Wachstumsumfeld macht den polnischen Zloty zu einer Währung, die sich für die
Strategie einer Anlage in einen diversifizierten Währungskorb von Ländern
mit kräftigem Wirtschaftswachstum
und einem attraktiven, deutlich höheren Zinsniveau als am Heimatmarkt
qualifiziert. Neben dem Zloty sind unter
diesen Gesichtspunkten aktuell Anlagen
in Brasilianischen Real, Türkischen Lira,
Schwedischen Kronen und Mexikanischen Pesos interessant. Die genannten
Währungen bieten teils deutliche Zinsvorsprünge gegenüber dem Euro. Der
Zinsvorsprung erfüllt dabei aus Anlegersicht zwei Funktionen: Werten die
Fremdwährungen nicht wie erwartet
auf, sondern entwickeln sich seitwärts,
ergibt sich aus dem Zinsvorsprung eine
laufende positive Ertragskomponente.
Sollte die Währungsseite wider Erwarten temporär ins Minus rutschen, bietet
der Zinsvorsprung einen Risikopuffer.
Durch Währungsanlagen können
Renditevorteile wahrgenommen werden. Neben dem Renditeaspekt bieten
sie aber auch gute Diversifizierungseigenschaften. Dies gilt vor allem auch für
die Währungsbewegungen in diesem
Jahr, die weniger von relativen Konjunktur- und Zinsentwicklungen beeinflusst
waren als vielmehr von Änderungen
der Risikoneigung und des Sentiments
an den internationalen Finanzmärkten.
Im aktuellen Umfeld halten wir, je nach
individuellem Anlageprofil, Fremdwährungsanteile von rund 20 bis 50 Prozent
des Wertpapiervermögens für sinnvoll.
55
W E RT E R E G I O N A L
GRÜNDER
HACKFWD
„WIR BRINGEN JUNGE
UNTERNEHMER UND GRÜNDER
ZUSAMMEN UND FÖRDERN DEN AUSTAUSCH
VON IDEEN UND INNOVATIONEN.“
Frank Schriever
AUERBACH SCHIFFFAHRT
MIT FRACHTERN GEGEN DEN STROM
FREIE UND GRÜNDERSTADT
HAMBURG
SIE HABEN INNOVATIVE IDEEN, SIND INTERNATIONAL VERNETZT UND
WOLLEN DIE WELT EROBERN. SECHS GRÜNDER IM PORTRÄT.
Text: DANIELA SCHRÖDER
Hamburgs jüngste Reeder steuern zurück in die Zukunft.
Abseits vom Geschäft der Containerriesen und Charter-Flotten
bauen Alexander Tebbe, 30, und Lucius Bunk, 33 (im Foto
rechts), seit zwei Jahren eine klassische Reederei auf – eine
Reederei mit eigenen Schiffen. Auch beim Finanzieren geht das
Start-up andere Wege: Bunk und Tebbe setzen nicht auf die
üblichen Schiffsfonds – sie beteiligen ihre Investoren lieber als
Gesellschafter am gesamten Unternehmen. Gut ein Dutzend
sind bisher an Bord, der Großteil alteingesessene Hamburger
Kaufmannsfamilien.
Wachstum auf Substanz bauen, reale Unternehmenswerte
schaffen, das galt lange Zeit als altmodisch. Doch die Werte
von gestern sind auch die Werte von morgen, ist das GründerDuo überzeugt. Die vergangenen Boom- und anhaltenden
Krisenjahre in der Branche seien der Beweis. „Möglichst schnell
möglichst viel Geld verdienen, dabei aber keine Verantwortung
für Verluste übernehmen, das funktioniert auf Dauer nicht“,
sagt Tebbe. „Ein Schifffahrtsunternehmen ist kein Spekulationsobjekt“, ergänzt der zweifache Familienvater Bunk. „Es muss
wieder zu dem werden, was es über Jahrhunderte gewesen ist:
ein Transportpartner für den weltweiten Handel mit Waren
und Gütern.“
In Krisenzeiten etwas Neues auf die Beine zu stellen ist
schwer. Die Schifffahrtskaueute, seit Jahren Kollegen und
Freunde, wagten es trotzdem. „Manchmal muss man gegen
den Strom schwimmen“, sagt Tebbe. „Wenn es dunkel ist, dann
kommt auch wieder Licht.“ Eine Krise ist auch eine Chance,
Bunk und Tebbe nutzten sie. Einen zweistelligen Euro-MillionenBetrag stellten ihre Investoren bislang bereit, drei Frachter sind
mittlerweile für Auerbach Schifffahrt unterwegs, transportieren
Stückgut über die Weltmeere. Als Reeder sehen sich die beiden
allerdings nicht. „Wer ein Schiff kauft, der ist noch lange kein
Reeder“, sagt Bunk. „Reeder ist ein Titel, den man sich über
viele Jahre verdienen und erarbeiten muss.“ Hanseatisches
Understatement – noch ein alter Wert mit Zukunft.
www.auerbach-schifffahrt.de
GRÜNDERN BEIM GRÜNDEN HELFEN
Dieser Mann hat großen Spaß am Gründen. Er hat das
Online-Netzwerk Xing gegründet und erfolgreich an die Börse
gebracht. Nun hilft er anderen jungen Unternehmern mit Geld
und Zuspruch auf die Sprünge. Lars Hinrichs will sie regelrecht
zum Verwirklichen innovativer digitaler Geschäftsideen anstiften.
Seine neue Firma heißt HackFwd (kurz für HackForward)
und versteht sich als Mix aus Geldgeber und MentorenNetzwerk. Nicht der Geschäftsplan zählt für Hinrichs, sondern
die Idee. Anschubnanzierung bekommt von ihm, wer eine
Online-Idee entwickelt hat, die es auf dem Markt noch nicht
gibt. Von Geldsorgen befreit, sollen sich die Programmierer
dann auf die Entwicklung ihres Produkts konzentrieren können.
Um Investorensuche, Marketing, Management sowie passende
Mitarbeiter kümmert sich HackFwd – und erhält dafür knapp
ein Drittel der Anteile der Neugründung.
„In keiner Branche gibt es so viele Chancen für Gründer wie
in der Internetwirtschaft“, erklärt der 35-Jährige. Das Internet
sei ein extrem junger, dynamischer und riesiger Markt, dessen
Potenzial auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht
schrumpfe. Im Gegenteil, sagt Hinrichs: „Egal ob Krise oder
Nicht-Krise – neue Technologien machen das Leben einfacher,
also setzen wir sie auch immer stärker ein.“ Und: „Programmierer sind die Künstler des 21. Jahrhunderts. Nur sie können
die digitale Industrie verändern.“ Darum greift ihnen HackFwd
unter die Arme.
Der aus einer Hamburger Bäckerei-Dynastie stammende
Unternehmensgründer und -mentor hält seiner Heimatstadt
die Treue. Denn um Chancen zu erkennen und sie in Erfolge
umzusetzen, brauche es zwei Dinge – Bodenständigkeit und
Offenheit. „Egal ob alteingesessene Unternehmer oder JungGründer“, sagt Lars Hinrichs, „Hamburger sind keine Glücksritter, aber stets offen für Neues.“
www. hackfwd.com
Pro-Gründer und leidenschaftlicher
Netzwerker : Lars Hinrichs an der Alster.
83
WERTE REGIONAL
GRÜNDER
MY TAXI
Prototypen unter sich: Thomas König, Oliver Schmidt
und Porsche 356 vor der Oberhafenkantine.
PROTOTYP
TRÜFFELSUCHER AM HAFENRAND
Weiße Wände, weiße Böden, das Ambiente einer modernen Kunstgalerie. Allerdings zeigt die Ausstellung Prototyp in
der HafenCity historische Exponate: alte deutsche Rennwagen
– die meisten Unikate aus den frühen Nachkriegsjahren – plus
eine Reihe Porsche-Raritäten. Weit mehr als eine Sammlung
alter Schätzchen, nden die Ausstellungsmacher Oliver Schmidt,
39, und Thomas König, 42. Daher interpretierten sie das Konzept eines Automuseums neu.
Digitale Medien und Original-Dokumente erzählen von den
Konstrukteuren und Fahrern, Fotoausstellungen führen große
Menschen und Momente des Rennsports vor Augen. „Der
Faktor Kunst und Kultur macht einen entscheidenden Teil der
Faszination von Autos aus“, erklärt König den ungewöhnlichen
Anspruch. Begonnen hat alles mit einem alten VW, den die
beiden Jugendfreunde vor zwei Jahrzehnten restaurierten. Nach
und nach kamen weitere Oldtimer hinzu, irgendwann beschlossen der Architekt und der Kaufmann, ihre Passion zur Profession zu machen.
Den passenden Rahmen für ihr Konzept fanden sie in einem
alten Fabrikgebäude in der HafenCity. Heute ist es das größte
innerstädtische Stadtentwicklungsprojekt in Europa; als König
und Schmidt sich für den Standort entschieden haben, war es
jedoch noch eine Brachäche. „Aber als Autosammler sind wir
sowieso Trüffelschweine“, sagt König, „daher glaubten wir an die
Zukunft des neuen Quartiers.“ Der Mut der Pioniere zahlte
sich aus: Die Besucherzahlen wachsen beständig, im vergangenen Jahr kamen mehr als 50 000 Auto-Interessierte. Was neben
den Inhalten der Ausstellung auch am Standort liegt, sagt König.
„Wir protieren davon, dass Hamburg eine gute Marke ist.“
www.prototyp-hamburg.de
84
INDIVUMED
MIT DEM TAXI NACH AUSTRALIEN
INTERNATIONALE KREBSDATENBANK
Seit Sven Külper und Niclaus Mewes auf die Straße gingen
und die Revolution ausriefen, steht die Taxiwelt kopf. Vor drei
Jahren brachten die Hamburger mit einer App ein System auf
den Markt, mit dem sich ein Taxi per Smartphone an jeden Ort
bestellen lässt – ohne den üblichen Umweg über eine Taxizentrale und sogar ohne die Angabe irgendeiner Adresse, da der
Fahrer seinen Kunden einfach via Internet orten kann.
„Wir hatten schon seit längerem die Idee, bestehende
Mobilitätsangebote wie zum Beispiel Mitfahrzentralen über eine
App zu optimieren. Als wir dann eines Nachts in München kein
Taxi fanden, kam uns die Idee“, erzählen der 33-jährige Külper
und sein ein Jahr älterer Cousin. Die jungen Gründer nannten
ihre Firma myTaxi, Startkapital kam von der Telekom und von
Daimler – sehr zum Ärger so mancher Taxizentrale, die um
Marktanteile fürchtet. Zu Recht, denn die App wurde bis heute
1,7 Millionen Mal runtergeladen, 15 000 Taxis in 30 Städten in
Deutschland machen mit, darüber hinaus funktioniert myTaxi in
Barcelona, Graz, Wien und Zürich – und bald auch in Australien.
Die Hamburger Idee kommt so gut an, dass die junge
Gründung auf der CeBIT unter 50 internationalen Teilnehmern
als innovativste Geschäftsidee mit dem CODE_n12 Award
ausgezeichnet worden ist.
Mittlerweile tummelt sich auch eine Reihe Nachahmer auf
dem Markt. Um die Konkurrenz auf Abstand zu halten, erndet
myTaxi immer wieder neue Extras, zuletzt zum Beispiel eine in
die App integrierte Bezahlfunktion. Beim Sichern des Technikvorsprungs bauen die Firmenchefs übrigens auf eine Talentschmiede vor der Haustür: Neue Weiterdenker ndet myTaxi
an der Fachhochschule Hamburg-Wedel, einem der führenden
deutschen Informatik-Institute.
Der Kampf gegen den Krebs gilt als eine der größten Herausforderungen der Medizin. Nicht nur wegen der verschiedenen Krebsarten. Auch identisch diagnostizierte Erkrankungen
unterscheiden sich von Patient zu Patient, Ursachen und Verlauf
sind individuell wie ein Fingerabdruck. Einheitstherapien gelten
daher als falscher Ansatz. Für das Entwickeln maßgeschneiderter Konzepte brauchen Ärzte jedoch detaillierte Informationen
über Tumor und Patient. Dies alles war für Krebsforscher Hartmut Juhl Grund genug, ein Unternehmen zu gründen, das genau
an diesem Punkt ansetzt. Seit 2002 sammelt, analysiert und
erfasst Indivumed Tumor- und Gewebeproben sowie Angaben
zur Krankheitsgeschichte. Mehr als 300 Details erfassen seine
Mitarbeiter pro Patient – und das bereits in den Krankenhäusern. „Das Gewinnen von Proben und Daten für die Forschung
muss nach wissenschaftlichen Standards erfolgen“, erklärt Juhl.
„Bei jedem Patienten gleich und egal in welchem Krankenhaus
er liegt.“
Hamburg ist dafür ideal. „Die Zahl an leistungsstar ken, auf
unterschiedliche Krebserkrankungen spezialisierten Krankenhäusern ist hier sehr hoch.“ Gut 16 500 Gewebe-Steckbriefe
enthält die Datenbank bereits. Mit dem Verkauf von Wissen an
Pharmahersteller nanziert Indivumed die eigene Forschung,
Krankenhäuser greifen als Kooperationspartner auf die Daten
zu oder geben Analysen in Auftrag.
Eine Chance, die auch amerikanische Krebszentren nutzen:
Indivumed unterhält bereits Niederlassungen in den USA.
Trotz des Erfolgs tickt der 52-jährige Firmengründer weiterhin
wie ein Forscher: „Wir sind nicht nur Dienstleister für das
Entwickeln individueller Krebstherapien“, beschreibt er die
Philosophie seines 100-Mitarbeiter-Unternehmens. „Wir entwickeln selbst diagnostische Tests für den personalisierten Einsatz
neuer Krebsmedikamente.“
www.mytaxi.net
myTaxi-Gründer Sven Külper und Niclaus Mewes vor
ihrem Büro an der Großen Elbstraße.
Janna Schmidt-Holtz und Judith Bentas
(rechts) mit Kaiserwetter-Team.
KAISERWETTER
GESUNDES WACHSTUM MIT BIOKOST
Regenloch der Nation? In Sachen Wetter ist Hamburgs Ruf
ramponiert, dabei regnet es an der Elbe statistisch bewiesen
viel weniger als etwa an der Isar. Mehr noch: Die Hamburger
können jeden Tag Kaiserwetter genießen – wenn sie sich eine
Pause in den gleichnamigen Cafés von Janna Schmidt-Holtz
und Judith Bentas gönnen.
Schwarzbrotstullen und Hühnersuppentopf, Quarkspeisen
und Apfelkuchen – die beiden Gründerinnen setzen auf gute
alte deutsche Hausmannskost. Sie wird jeden Morgen in der
eigenen Großküche zubereitet, der Fokus liegt dabei auf
Bio-Zutaten aus der Region.
Eine ordentliche Portion Heimat steckt auch in der Einrichtung der Cafés: Massive Holztische, rot-weiß karierte Kissen,
alte Emaille-Lampen an den Wänden. „Unsere Gäste sollen
sich bei uns zu Hause fühlen“, sagt die 33-jährige Judith Bentas.
„Wir bieten ihnen gesunde, bodenständige Gerichte in netter
Atmosphäre.“
„Etwas Bodenständiges“, danach suchte die 28-jährige Janna
Schmidt-Holtz, die zuvor Unternehmensberaterin in London
und Mitbegründerin einer Internetrma in Berlin war. „Ich
wollte nicht nur eigenverantwortlich als Unternehmerin
arbeiten, sondern auch etwas Handfestes machen.“ Die passende Partnerin fand sie in Judith Bentas, einer Eventmanagerin
und leidenschaftlichen Köchin.
Im Herbst 2009 eröffneten sie ihre erste Kaiserwetter-Filiale
in der Innenstadt, im vergangenen Frühjahr kam die zweite
dazu. 45 Mitarbeiter gehören mittlerweile zum Team, der
Jahresumsatz lag zuletzt bei gut 1,5 Millionen Euro. Und die
beiden Gründerinnen wollen expandieren: Mindestens sieben
weitere Läden sollen in den nächsten drei Jahren dazukommen.
Das große Ziel ist ein deutschlandweites Filialnetz. Allerdings
steht bei ihnen gesundes, langfristiges Wachstum an erster
Stelle. „Wir wollen zwar zum Mond iegen“, sagt Janna
Schmidt-Holtz, „doch auf dem Weg dorthin liegen schon
Sterne – und auch mit denen kann man glücklich sein.“
www.kaiserwetter-food.com
Fotos: AXEL MARTENS für WERTE (3); Gulliver Theis; Hack Fwd PR; Kaiserwetter PR
www.indivumed.com
Gründer Hartmut Juhl im Indivumed-Labor.
85
WERTE REGIONAL
UNTERNEHMERGESPRÄCH
ALTER HASE TRIFFT
JUNGE DACHSE
FRANK SCHRIEVER BAT ZWEI UNTERNEHMERGENERATIONEN ZUM GESPRÄCH
ÜBER HANSEATISCHE KAUFMANNSTUGENDEN UND KRISENMANAGEMENT.
UNTERNEHMERGESPRÄCH
frank schriever: Hamburg verzeichnet 2011 einen Anstieg der Gewerbeanmeldungen um 5,7 Prozent. Was macht
Hamburg so attraktiv?
claus heinemann: Hamburg ist eine
spannende Stadt, weltoffen, international, hat den Menschen viel zu bieten.
lucius bunk: Wir waren immer fasziniert von den Hanseaten, die es geschafft haben, in Krisenzeiten zu
gründen und über mehrere Zyklen
kontinuierlich Geschäft aufzubauen.
Das geht nicht ohne Werte. Für uns
sind das: vor Entscheidungen länger
nachdenken, kontinuierlich wachsen,
nachhaltige Strukturen schaffen, mit
denen sich Krisen überstehen lassen.
alexander tebbe: Die Frage nach dem
Standort haben wir uns auch gestellt.
Lucius ist dann sogar aus Shanghai
nach Hamburg umgezogen, um hier
Auerbach Schifffahrt zu gründen …
lucius bunk: Wir wollten ein Unternehmen auf den Tugenden des ehrbaren
Kaufmanns und mit Hanseaten aufbauen, die diese verkörpern. Natürlich hätte
man auch in Shanghai gründen können.
Doch dort denkt man anders: kurzfristiger, mit schnellerem Turnaround und
billigen Assets. Das wollten wir nicht.
claus heinemann: Heutzutage schmückt
sich doch jede Firma mit Werten …
lucius bunk: Aber bei uns sind das keine Floskeln. Wir sind 2010 mit dem Ziel
angetreten, mit Geduld und Vorsicht zu
agieren. Wir wollen Auerbach auf lange
Sicht etablieren und nicht das schnelle
Geld um jeden Preis machen.
frank schriever: Zu den Hamburger
Kaufmannstugenden zählen unter anderem Wagemut, Sparsamkeit, Weitblick, Fleiß und Demut. Was hat Sie
besonders inspiriert?
86
Auerbach-Gründer Lucius Bunk und Alexander
Tebbe, Gastgeber Frank Schriever und Claus
Heinemann (v. l.) im Atrium der Deutschen Bank.
Zwei Welten an einem Tisch: Am 27.
September trafen sich im Atrium der
Deutschen Bank am Adolphsplatz zwei
Generationen Hamburger Kaufleute
zum Dialog. Auf der einen Seite Claus
Heinemann, der das 1879 gegründete
Familienunternehmen Gebr. Heinemann (5500 Mitarbeiter, zwei Milliarden Euro Umsatz) leitet. Auf der
anderen Seite Lucius Bunk und
Alexander Tebbe, die in der größten
Krise ihrer Branche Auerbach Schifffahrt gegründet haben. Frank Schriever
hat das von Respekt geprägte Gespräch moderiert.
frank schriever: Herr Heinemann,
Sie haben auch einen Wertekodex …
claus heinemann: Wichtig ist, dass
Werte keine Hülle sind. Wir stellen
daher unsere persönliche Note und
unsere Eigenarten in den Vordergrund. Das sind familiärer Umgang
miteinander, eine nette Arbeitsatmosphäre und, ganz wichtig, Humor.
frank schriever: Warum Humor?
claus heinemann: Ich bin der Meinung, dass sich die Deutschen viel zu
ernst nehmen, dabei lassen sich mit
Humor viele Probleme leichter lösen.
frank schriever: Wie behält man in
Krisen Humor?
claus heinemann: Wenn Sie gute
Mitarbeiter haben, an die Zukunft
glauben und Vertrauen in den Markt
haben.
frank schriever: Das mag für ein 133
Jahre altes Unternehmen wie Gebr.
Heinemann gelten. Gilt das aber auch
bei jungen Dachsen?
claus heinemann: Diese jungen Leute hier haben Beistand von erfahrenen
Reedern, die aus der gleichen Branche
kommen wie sie. Das gibt ihnen und
Außenstehenden Sicherheit. Da mache ich mir keine Sorgen. Was die viel
mehr brauchen, sind finanzstarke und
geduldige Gesellschafter. Da sehe ich
die Hauptschwierigkeit.
frank schriever: Sie sind ja auch noch
recht jung in einem alten Gewerbe.
alexander tebbe: Es gibt viele, die uns
gesagt haben: Jetzt seid ihr gerade mal
30 Jahre alt. Seid ihr nicht noch ein bisschen zu jung für das große Geschäft? Es
ist gerade eine schwierige Zeit für Reeder. Wartet doch erst mal ab, bis sich die
Wogen geglättet haben.
lucius bunk: Die Investoren, die wir haben, sehen das genau andersherum. Die
freuen sich, dass wir erst 30 sind. Die sagen uns: Ihr habt euer Kaufmannsleben
noch vor euch. Wir stehen euch dabei
mit unserer Erfahrung zur Seite.
frank schriever: Wo sehen Sie die Risiken?
lucius bunk: Wir rechnen noch mit
einer länger anhaltenden Krise. Es ist
über Jahre hinweg viel gekauft und
investiert worden, vielfach am Markt
vorbei. Es wurden Schiffe mit drei Jahren Vorlaufzeit bestellt, die werden jetzt
erst ausgeliefert. Wir machen unseren
Investoren keine falschen Hoffnungen.
frank schriever: Wie schützen Sie sich
vor den Risiken?
alexander tebbe: Auf Sicht fahren.
Flexibel sein. Wir haben mit unseren
Gesellschaftern zum Glück eine gesunde Grundstruktur.
frank schriever: Wie kann Ihnen ein
Beirat helfen?
claus heinemann: Der Beirat kann bei
Fragen der strategischen Ausrichtung,
bei Generationenproblemen oder neutraler Betrachtung behilflich sein.
alexander tebbe: Strategisch langfristige und kapitalintensive EntscheidunFotos: DAN HANNEN für WERTE (4)
gen werden mit unserem Beirat besprochen. Da sitzen wir auf Augenhöhe …
lucius bunk: … und das haben wir von
Anfang so gewollt. Die Schifffahrt hat
ja in vielen Bereichen noch archaische
Strukturen. Da ist ein gewisser Nachholbedarf, was die Optimierung von
Prozessen angeht, die Offenheit für ITLösungen, Vernetzung und Controlling
etwa. Da haben wir Potenzial, gehen mit
frischem Blick heran. Aber das kann nie
die Erfahrungen von gestandenen Unternehmern ersetzen, die wissen, was es
zum Beispiel bedeutet, wenn ein Markt
überhitzt – und wie man dann reagiert.
frank schriever: Wie häufig sollte man
sein Geschäftsmodell hinterfragen?
claus heinemann: Man muss sich permanent in Frage stellen, darf sich nie
zurücklehnen, auch nicht, wenn man
Erfolg in der Vergangenheit hatte.
alexander tebbe: Unseren Investoren
war wichtig, dass wir alle an einem
Strang ziehen. Erst kürzlich saßen wir
wieder bei Kaffee und Tee zusammen,
zwei bis drei Stunden lang, und haben
alle Themen intensiv und offen besprochen. Am Ende haben wir eine gemeinsame Entscheidung getroffen.
frank schriever: Wie finden Sie gute
Mitarbeiter?
alexander tebbe: Wir haben bei Facebook eine Anzeige geschaltet.
frank schriever: Würden Sie mit diesen jungen Unternehmern arbeiten?
claus heinemann: Wenn das Geschäftsmodell stimmt und, genauso wichtig,
wenn es sympathische und intelligente
Menschen wie diese beiden sind, dann
ein klares Ja. Sympathie und Vertrauen sind wichtig – Menschen bestimmen
mehr denn je die Erfolgsaussichten!
„DIE MISCHUNG AUS GUTEM
INVES TITIONSKLIMA, KAUFMÄNNISCHEM WAGEMUT,
WEITSICHT UND INTERNATIONALEM DENKEN MACHT
HAMBURG SEIT JEHER ZUR
STADT DER GRÜNDER.“
Frank Schriever
frank schriever: Welche Vorteile haben junge Unternehmer?
claus heinemann: Eine Firma neu aufzubauen bedeutet, dass man keine alteingesessenen Strukturen hat, die mitunter kostenintensiv sind.
frank schriever: Gibt es etwas, was Sie
von jungen Unternehmern lernen?
claus heinemann: Offenheit gegenüber Veränderungen und die ganze
Social-Media-Welt. Ich bewundere vor
allem den Mut der jungen Leute, heute
in der Schifffahrt zu investieren.
frank schriever: Und welche Nachteile
sehen Sie?
claus heinemann: Der ältere Unternehmer hat Strukturen, auf die er aufbauen kann. Da ist zum Beispiel das
gewachsene Vertrauen zu Mitarbeitern.
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