Wintertest gratis Wintertest von Markus Weinberger
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1 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Wintertest von Markus Weinberger Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 2 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Fred wollte nie der weltbeste Autofahrer sein. Er hat sich eigentlich nie Gedanken darüber gemacht, ob er der weltbeste Autofahrer sein wollte. Tatsächlich ist er auch nicht der allerbeste Fahrer, aber es geht. Fred sitzt in einer großen Limousine und schaut über deren lange Motorhaube in die Landschaft. Alles ist verschneit, tief verschneit. In der Ferne beginnt ein Wald, der aber nicht so dicht ist, wie der in Freds Heimat im Süden Deutschlands. Es gibt hier nur Nadelbäume, die aber dafür so aussehen wie die Plastikbäumchen in den kitschigen Schneekugeln, die die japanischen Touristen gerne als Souvenir nach Hause bringen. In Freds Schneekugellandschaft schneit es aber nicht – die Sonne scheint und der Schnee auf den sanften, bewaldeten Hügeln in der Ferne glitzert. Die große Ebene bis zum Waldrand wirkt mit all dem konturlosen, funkelnden Weiß geradezu unweltlich abgehoben. Fred ist froh, dass er seine Sonnenbrille dabei hat auf diesem zugefrorenen See. Er startet den Achtzylinder, legt die Fahrstufe der Automatik ein und tritt das Gas fast ganz durch. Sofort beginnt die Traktionskontrolle zu regeln. Im Kombiinstrument blinkt eine gelbe Kontrollleuchte. An der Hinterachse kommt bei Weitem nicht die Leistung an, wie dies auf Asphalt der Fall gewesen wäre. Dennoch schiebt der schwere Wagen kraftvoll an und schießt über die Eisfläche. Trotz beherztem Drehen am Lenkrad bei ungefähr 60 Kilometer pro Stunde bleibt das Auto relativ gut kontrollierbar. Genau das wollte Fred sehen. Langsam rollt er zurück zum Ausgangspunkt und schaltet dort das elektronische Stabilitätsprogramm aus. Jetzt muss er vorsichtiger beschleunigen, um ein haltloses Durchdrehen der Räder zu verhindern. Dennoch erreicht er schnell 50 Stundenkilometer, dreht kurz am Lenkrad Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 3 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 und schon ist jegliche Kontrolle dahin. Die Limousine kreiselt über die Schleuderfläche; an ein Abfangen bräuchte auch ein Michael Schumacher jetzt keinen Gedanken mehr zu verschwenden. Als sowohl das Auto als auch Freds Kopf das Kreiseln beendet haben, beschließt er den restlichen Sonntagnachmittag noch etwas zu spielen. Er steuert jetzt die kreisrunde Schleuderplatte an, um etwas zu driften. Da das ESP immer noch abgeschaltet ist, bricht das Fahrzeug sofort aus, als Fred auf die Kreisbahn einbiegt und etwas mehr Gas gibt. Doch diesmal ist die Provokation der Physik so wohldosiert, dass es Fred gelingt gegenzusteuern – obwohl er nicht der weltbeste Autofahrer ist, wie wir wissen. Jetzt folgt ein Ritt auf einer sehr kleinen, instabilen Kanonenkugel. Dosiert Gas geben, gegenlenken und so das Auto im Drift um den Kreis jagen. Das ist Freds Ziel. Fast wie beim Computerspiel, nur besser. Wenn er einen Fehler macht, fliegt er von der Strecke und bekommt ein neues Spielleben. Neben der Strecke liegt der Schnee deutlich höher, aber für Fred besteht keine Gefahr. Wenn es blöd läuft, bekommt das Auto ein paar Kratzer an Front- oder Heckschürze oder es bleibt im tieferen Schnee stecken. Für den letzteren Fall hat Fred aber eine Schaufel im Kofferraum. Wenn es ganz schlimm ist, muss er per Handy Hilfe holen. Dann kommen die Jungs von der Werkstatt und ziehen ihn mit ihrem Mercedes G-Modell wieder raus. Das kostet ihn dann üblicherweise einen Kasten Bier und etwas Häme von mitfühlenden Kollegen. Heute braucht Fred keine Schaufel und auch kein Handy zum Autofahren. Er dreht locker ein paar Runden um den Kreis. Anfangs ist er etwas zu zögerlich. Der Drift bricht immer wieder ab. Aber Fred hat eben Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 4 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 keine Lust zu schaufeln. Mit der Zeit tastet er sich näher an die Grenze heran und schafft am Schluss zwei volle Runden ohne Unterbrechung. Als er die Schleuderplatte verlässt, wird es schon langsam dunkel. Hier in Nordschweden wird es im Februar eben früher dunkel. Er fährt zurück über die rechteckige Schleuderfläche, biegt an deren Ende rechts ab und folgt der Zufahrt zur Teststrecke in umgekehrter Richtung. Links und rechts liegt der Schnee ungefähr einen halben Meter hoch, aber die Fahrbahn ist freigeräumt. Die Icemaker haben gute Arbeit geleistet. Mehrere Firmen sind in der Gegend darauf spezialisiert, auf den zugefrorenen Seen Teststrecken genau nach Spezifikation zu präparieren. Fahrbahnverläufe, die Form der Schleuderplatten, Handlingskurse, die jeweiligen Reibwerte auf dem Eis, bis zur Beschilderung, alles wird gemäß Vorgabe umgesetzt. Außerdem kontrollieren die Icemaker jeden Tag die Tragfähigkeit des Eises und geben dann den See frei. Als Fred plötzlich leicht bergauf fährt und auch wieder kleine Büsche neben der Fahrbahn stehen, ist klar: Er hat das Ufer erreicht. Fred befindet sich jetzt auf dem Gelände der International Automotive AG, für die er arbeitet. Er stellt den Wagen neben dem Hauptgebäude ab, betritt eine Werkstatthalle und geht von dort in sein Büro, um am Laptop noch schnell E-Mails zu checken. Ist aber nichts Tolles dabei. Als Fred wieder im Auto sitzt, ist es schon dunkel. Er rollt langsam auf die Pforte zu. Der Wachmann kommt ans Auto, um den Ausweis zu kontrollieren. Auf dem gesamten Testgelände der International Automotive AG sind die Sicherheitsvorkehrungen relativ streng. Hier werden die elektronischen Systeme für neue Automodelle erprobt, die die Firma an die Autohersteller verkauft. Es wird oft an Prototypen gearbeitet, für die strenge Geheimhaltungsvorschriften gelten. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 5 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Nach dem Tor fährt Fred zwei Kilometer über eine kleine Straße, die durch den lockeren Wald führt, der sich überall über das Ufer des Sees erstreckt. Dann biegt er nach links auf die Landstraße Richtung Arjeplog ein. Bald hat er die Ortschaft erreicht. Fred denkt über die Einkaufsliste nach. Er will mit seinen Kollegen als kulinarisches Highlight des Sonntags schwäbische Kässpätzle machen. Dafür haben sie extra einen Spätzlehobel quer durch Europa gekarrt. Fred biegt zum Supermarkt ab. Vor dem flachen Gebäude gibt es einen kleinen Parkplatz, auf dem nur wenige Autos stehen. Am Sonntagabend kann man in Arjeplog zwar einkaufen, aber ansonsten ist nicht viel los. An sich ist in dem 3000 Einwohnerort eigentlich nie wirklich viel los. Umso größer ist der Zufall, dass mit Fred noch ein weiterer Wagen auf den Parkplatz fährt, doch das bemerkt Fred nicht. Er geht in den Laden und sucht die Zutaten für das Abendessen, was leichter wäre, wenn Fred wenigstens etwas Schwedisch könnte. Eier lassen sich leicht identifizieren. Die Unterscheidung zwischen Mehl- und Zuckerpackungen ist schon schwieriger. Salz haben sie noch in ihrer Küche. Milch für das Frühstücksmüsli lässt sich auch finden. Die Bestandteile eines Salates lassen sich auch auftreiben. Alles in allem ist die Aufgabe auch ohne Schwedisch lösbar. Dennoch ist es eine Schande, dass Fred nicht mehr als Bitte und Danke sagen kann. Schließlich verbringt er jedes Jahr mehrere Wochen hier. Er sagt also »takk« zur Kassiererin und verlässt das Geschäft. Er bemerkt etwas Auffälliges auf dem Parkplatz. *** Franz spricht recht gut Schwedisch. Er ist darauf angewiesen, sich mit Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 6 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 den Leuten unterhalten zu können. Ohne die Informationen, die man an der Tankstelle, einer Hotelbar oder auch im Supermarkt nebenbei aufschnappen kann, wäre sein Job deutlich schwerer zu machen. Franz ist Anfang 50, etwas untersetzt, aber er fühlt sich fit wie ein Turnschuh, und er hat Adleraugen, die er noch dringender braucht als seine Sprachkenntnisse. Er hat einen sehr visuellen Job. An diesem Sonntagnachmittag wollte er ursprünglich ein wenig schwimmen und den Tag dann vor dem Fernseher in seinem Hotelzimmer ausklingen lassen. Doch im Hallenbad haben sich diese beiden Typen unterhalten – auf Deutsch. Ganz automatisch hat er mitgehört. Er kann diesen Reflex schon lange nicht mehr unterdrücken. Er muss einfach zuhören, wenn sich irgendwo Leute unterhalten. Und diesmal hat es sich gelohnt. Das wusste er, als er »S10« hörte. Die beiden Kerle hingen am Beckenrand und sprachen darüber, dass ein gewisser Fred mit dem S10 auf den See gefahren sei, um dort etwas zu spielen. In dem Moment wusste er, dass er keinen ruhigen Abend vor dem Fernseher verbringen würde. Der S10 ist ein neuer Hispano-Suiza. Ein deutscher Automobilkonzern hat die Rechte an dieser traditionsreichen, katalanisch-französischen Luxusautomarke gekauft und plant, sie wieder zu beleben. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Hispano-Suiza-Modelle teilweise teurer als Rolls Royce verkauft. Der interne Entwicklungscode des ersten Modells der neuen Generation lautet eben S10. Diese Informationen sind alle weitgehend bekannt, keine Geheimnisse und auch Prototypen des S10 sind schon gesehen und fotografiert worden – allerdings immer aus der Ferne und nur von außen. Das Interieur hat noch keiner vor das Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 7 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Objektiv bekommen. An dieser Stelle kommt Franz ins Spiel. Er möchte der Erste sein, der solche Bilder macht. Damit könnte er seine laufenden Kosten für ein paar Monate bestreiten. Das ist sein Geschäft. Er verkauft Bilder von geheimen Autoprototypen, sogenannten Erlkönigen, an Zeitschriftenverlage oder Agenturen. Der S10 ist ja nun nicht mehr in der höchsten Geheimhaltungsstufe. Wenn das noch der Fall wäre, würde das Auto kaum auf öffentlichen Straßen zu sehen sein, auch nicht in Nordschweden oder erst recht nicht dort. Die wenigen Autos, die die gesicherten Werksgelände verließen, wären noch sehr stark getarnt. Die Karosserie wäre durch zusätzliche Anbauteile so stark verändert, dass man kaum eine Linie des neuen Autos richtig erkennen könnte. Auch die Form der Scheinwerfer, die Fensterflächen, alles wäre getarnt. Nur die wichtigsten Abmessungen, wie Länge und Breite der Karosserie, Radstand oder Spurbreite wären erkennbar. Die Anbauteile zur Tarnung wären bei dem Mutterkonzern, der die Entwicklung des S10 betreibt, aus Kunststoff und sie wären sehr sauber auf die eigentliche Karosserie aufgeklebt, an manchen Stellen würden vielleicht Nieten zur Fixierung eingesetzt. Was die Entwicklungsmethodik angeht, wird der S10 behandelt wie die übrigen Fahrzeugprojekte des Konzerns auch. Andere Fahrzeughersteller sind da nicht so sorgfältig, da kommen dann gerne Styropor-Klötze und jede Menge Klebeband zum Einsatz. Wie gesagt: wäre. Der S10 ist äußerlich nur noch leicht getarnt. Ein paar Blenden verschleiern noch die endgültige Form der Scheinwerfer, Seitenscheiben und Rückleuchten und der mattschwarze Lack ist auch noch von der bisherigen Camouflage geblieben. Er soll das Auto auf den Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 8 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Bildern von Leuten wie Franz als konturlosen Klumpen erscheinen lassen. Weit weniger als über das Äußere der neuen Luxuslimousine ist, wie gesagt, über deren Inneres bekannt. An den Armaturenbrettern aller Erprobungsfahrzeuge sind immer noch große Kunstlederlappen angebracht, die neugierige Blicke auf das Kombiinstrument, die Mittelkonsole und das Infotainmentsystem, also Navi- und Musikanlage, verhindern. Alle Fahrer der Prototypen sind angewiesen, diese Lappen nur beim Fahren hochzuschlagen. Bisher hat das geklappt. Es gibt noch keine Bilder des Innenraumes auf dem Markt. Die Chance, jetzt so ein Foto zu schießen, will sich Franz nicht entgehen lassen. Dafür opfert er gerne einen Abend vor dem Fernseher. Sein Problem ist nur, dass er immer noch nicht weiß, wo das Auto sein soll. Ja, »auf dem See« hat er gehört. Aber d e n See gibt es in Arjeplog nicht. Der ganze Ort ist von unzähligen großen und kleinen Seen umgeben. In den 70er Jahren haben einige Entwickler herausgefunden, dass diese Seen in gefrorenem Zustand ideale Teststrecken für alle möglichen Fahrversuche abgeben. Seit dieser Zeit hat sich der Ort zu einem der Zentren des europäischen Autotestzirkuses entwickelt. Alle großen Autohersteller unterhalten mehr oder weniger ausgedehnte Testeinrichtungen an Land und eben auch auf den Seen. Zusätzlich sind auch viele Zulieferer vor Ort, die hier ebenfalls testen. Der ganze Trubel findet nur im Winter statt. Im Sommer gibt es ein paar Urlaubsgäste. So, damit hat Franz jetzt ungefähr zehn Seen, die er absuchen könnte. Es sind nicht wirklich so viele unterschiedliche Seen, auf denen Autos Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 9 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 getestet werden. Vielmehr werden abgelegene Buchten des gleichen Gewässers von verschiedenen Firmen genutzt. Dennoch immer darauf bedacht, möglichst uneinsehbare Areale zu haben. Absuchen wäre also auch nicht so richtig einfach. Aber es gibt noch eine Chance. Franz muss nur unauffällig den beiden jungen Männern im Hallenbad hinterherschwimmen. Wie gut, dass er sich fit fühlt wie ein Turnschuh. In einem 25-Meter-Becken ist das Risiko, die beiden zu verlieren, ja eigentlich nicht so groß, aber die ganze Zeit am Beckenrand zu sitzen und dann zufällig im gleichen Moment das Schwimmbad zu verlassen wie seine unfreiwilligen Informanten, das wäre dann doch zu wenig zufällig. Also dreht er weiter Runden und hofft, dass die Kollegen bald genug haben. Nach ungefähr 42 Minuten ist es soweit. Sie verlassen die Schwimmhalle Richtung Umkleide. Franz beeilt sich. Er lässt die Dusche aus und trocknet sich nur hastig ab. Dafür sitzt er schon relativ unauffällig in der Eingangshalle, als die zwei an ihm vorbei zum Ausgang gehen, und schon hat er die gewünschte Info. Manchmal braucht man eben Glück. Einer der beiden trägt einen dieser blauen Goretex-Anoraks mit der Aufschrift »International Automotive AG«. Franz steigt in sein Auto, einen 15 Jahre alten Volvo 740, der in Schweden ungefähr genauso auffällt wie in Stuttgart ein alter Baby-Benz. Er fährt zügig, aber ohne Hast los in Richtung des Testgeländes der IAA. Im Gegensatz zu den meisten Versuchsfahrzeugen, die normale Winterreifen haben, hat Franz' Auto »Piggdäck« – Spikereifen. Damit kann dann auch der alte Volvo mit viel stärker motorisierten Autos mithalten. Nach wenigen Minuten Fahrt erreicht Franz die Abzweigung der Nebenstraße, die zum IAA-Gelände führt. Er biegt nicht ab, sondern fährt Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 10 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 einfach weiter. Er will sich hinter der nächsten Kurve an den Straßenrand stellen. Es ist schon fast dunkel und damit steht Franz hier genau richtig. In dem relativ lockeren Wald sind die Scheinwerfer eines anderen Fahrzeuges gut zu sehen. Er braucht also nur zu warten und kann sich dann an das Objekt seiner Begierde dranhängen. Inzwischen kann er die Fotoausrüstung, die immer griffbereit liegt, checken. Er legt sich schon mal die Kamera mit der kurzen Brennweite zurecht und überprüft die Akkus des Blitzes. Die Bedingungen für tolle Bilder sind natürlich bei Nacht nicht so ideal. Dafür hilft die Dunkelheit dabei, überhaupt in die Nähe eines geheimen Autos zu kommen. Da kommt auch schon ein Scheinwerferpaar aus der Richtung von IAA und biegt auf die Straße Richtung Stadt ein. Es ist der S10. Er folgt ihm in einiger Entfernung. Das ist kein Problem, weil es hier keinen dichten Verkehr gibt, in dem man ein anderes Auto verlieren könnte. Auf dem Supermarktparkplatz steigt der Fahrer aus und Franz parkt so, dass er den Prototyp und den Eingang des Geschäftes gut sehen kann. Nach kurzer Wartezeit steigt er ebenfalls aus und wagt einen kurzen Blick ins Innere des neuen Autos. Aber es erwartet ihn keine Überraschung. Der Armaturenträger ist sauber abgedeckt. Kein Profi wäre so doof, auf einem öffentlichen Parkplatz die Tarnung zu vernachlässigen. Aber das hatte Franz auch nicht erwartet. Er wird dranbleiben und seine Chance bekommen. *** Als Fred aus dem Supermarkt tritt, sieht er eine Gestalt zu einem Kombi laufen. Eigentlich nichts Besonderes, aber er hat den Eindruck, dass der Typ – dass es ein Mann ist, erkennt er an der Statur. Die Alternative, Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 11 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 dass es sich um eine schwangere Freistilringerin handeln könnte, schließt er dabei wegen Unwahrscheinlichkeit einfach aus. Also, er hat den Eindruck, dass der Typ an seinem Auto, dem S10 war. Die Richtung, in die er lief, hat gepasst und sonst ist da nichts. Auf dem Parkplatz stehen nur noch zwei andere Fahrzeuge, aber in der anderen Ecke. Er denkt kurz und eher nebenher an die Vorträge, die sie in der Firma von ihrer Sicherheitsabteilung über den Schutz der Prototypen gehört haben. Aber was soll er tun? Hingehen und den Typ fragen, was er an seinem Auto wollte? Und dann? Und wer legt sich schon gerne mit jemandem an, der die Statur einer schwangeren Ringerin hat? Fred nicht! Er geht zu seinem Auto, legt die Tüten mit den Einkäufen auf den Rücksitz und steigt ein. Er fährt zu dem Haus, das er mit seinen Kollegen während des dreiwöchigen Aufenthalts in Arjeplog bewohnt. Es ist ein ganz normales Wohnhaus, in dem sonst die Familie Andersson wohnt. Während der Zeit, in der sich Arjeplog in die Zentrale der Autotester verwandelt, ziehen sie zu Herrn Anderssons Eltern, die ein recht großes Haus im einige Kilometer entfernten Arvidsjaur haben. Die Großeltern freuen sich immer, wenn sie die Enkelkinder bei sich haben, und so können die Anderssons ihr Haus in Arjeplog zu einem sehr guten Preis an die Autotester vermieten, was das Familieneinkommen erheblich verbessert. Die Ingenieure sind wiederum froh, weil es in Arjeplog nur ein paar annehmbare Hotels gibt, die bei Weitem nicht genügend Betten für alle haben. Die Ferienhäuser oder teilweise eher Hütten, die auch noch als Unterkünfte angeboten werden, sind A-tens recht klein und B-tens teilweise im skandinavischen Winter auch ziemlich kühl. Außerdem sind die Privathäuser oft recht gemütlich. Man wohnt mit zwei oder drei Kollegen in einem Haus und versorgt sich selber; so kommt fast Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 12 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Ferienlagerstimmung auf. Die Eigentümer des Hauses bekommt man normalerweise nicht zu sehen. Aber man kann mit ihnen kommunizieren. In fast allen Häusern liegen irgendwo Zettel mit Instruktionen, zum Beispiel: »Diesen Wasserhahn bitte nie benützen, weil er sonst einfriert.« Diese Hinweise sind meist schon da, wenn man einzieht. Manchmal gibt es aber auch neue Anweisungen oder Instruktionen, an denen man dann erkennen kann, dass die eigentlichen Hausbewohner tagsüber, wenn die Mieter arbeiten, mal nach dem Rechten gesehen oder vielleicht die Handtücher ausgetauscht haben oder so. Diese Art von Briefen eignet sich dann für Antworten. Man kann sich beispielsweise für die neuen Handtücher bedanken oder darauf hinweisen, dass ein Wasserhahn anscheinend eingefroren ist. Nicht immer, aber ab und zu entwickelt sich dann ein netter Briefwechsel – manchmal ist er dann auch nicht so nett, wenn es schon Instruktionen gab, um das Einfrieren von Wasserhähnen zu vermeiden. Wie dem auch sei. Fred biegt in die Einfahrt des Hauses am Granvägen ein, öffnet das Garagentor und stellt fest, dass dort schon der BMW F01 – also ein 7er – steht, den das Team als Versuchsfahrzeug auch noch zur Verfügung hat. Also muss sein Auto vor der Garage stehen bleiben. Das hat hauptsächlich den Nachteil, dass das Auto am nächsten Morgen ziemlich sehr kalt und eventuell auch ziemlich sehr zugefroren sein könnte. Die geheizte Garage – haben hier fast alle Häuser – ist da schon nicht schlecht. Drinnen warten Freds Kollegen schon. Er bewohnt das Haus zusammen mit Uli und Stephan. Uli ist Anfang dreißig und eher der Genießer. Er weiß immer, wo es ein gutes Restaurant gibt, und wenn nicht, dann setzt er viel daran, eines zu finden. Trotzdem und obwohl er sich nicht viel aus Sport macht, ist er nicht dick, nicht einmal mollig. Mit Designerbrille und Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 13 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 angesagten Klamotten, auf die er auch Wert legt, kommt er recht dynamisch rüber. »Rüberkommen«, das passt zu ihm. Stephan ist erst Ende zwanzig und legt auf »rüberkommen« eher weniger Wert. Er ist der Sportler im Team, macht Triathlon – sehr athletisch. Damit gibt es natürlich immer mal wieder kleinere Reibereien. Denn bei zu langem Sitzen wird er einfach zappelig, andererseits gehören zum Job eben lange Autofahrten und endlose Besprechungen. Und das Fahrrad kann er auf die Erprobungsfahrten auch nicht mitnehmen. Heute sollte es aber nicht so schlimm kommen. Stephan war mit Uli am Nachmittag im Schwimmbad. Er hatte also genügend Auslauf. Fred liegt in vielen Aspekten zwischen seinen beiden Kollegen. Er ist gut in Form, aber eher so der Genusssportler. Er würde sich nie zu einer Trainingseinheit zwingen. Ab und zu läuft er, wenn er nach der Arbeit noch schnell den Kopf frei bekommen möchte. Er ist immer noch ein ganz passabler Schwimmer, weil er als Kind im Schwimmverein die richtige Technik gelernt hat. Richtigen Spaß macht ihm aber das Klettern – davon wird später noch die Rede sein. Er isst gerne gut, würde aber nicht meilenweit dafür laufen. Er sieht sich eher als unkompliziert. Mancher möchte vielleicht sagen, er sei etwas langweilig, ohne Leute wie Fred würde aber vielen Teams der Kitt fehlen, der die Truppe zusammenhält. Neben den dreien sind noch Andreas und Karl zum Essen gekommen. Sie arbeiten in der gleichen Abteilung bei IAA, aber an anderen Projekten, und sie wohnen hier in Arjeplog ein paar Häuser weiter in der gleichen Straße. Uli inspiziert sofort die Einkäufe, die Fred mitgebracht hat. Fred war nur Erfüllungsgehilfe für das Einkaufen. Die Liste stammte von Uli; er hat das Kommando für die Zubereitung des Essens. Und davon macht er jetzt Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 14 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 auch Gebrauch. Er delegiert das Waschen und Schnippeln der Salatzutaten an Karl und Andreas. Stephan und Fred sollen den Spätzleteig machen und den Käse reiben. Gut, er hätte sicher mehr Elan und Engagement freisetzen können, wenn er die Aufgaben etwas besser an die jeweiligen Vorlieben angepasst hätte. Karl und Andreas jedenfalls machen sich nicht wirklich viel aus Salat und zeigen entsprechend wenig Motivation. Sie würden jederzeit eine Zigarette und eine Tasse Kaffee einer Salatplatte zum Mittagessen vorziehen. Einzig der Gruppenzwang gebietet ihnen, ihren Job zu erledigen. Stephan und Fred sind motivierter. Allerdings ist es echt anstrengend, den Spätzleteig klümpchenfrei zu bekommen. Stephan sieht diesen Teil der Aufgabe zwar als weitere Trainingseinheit, er kann aber nicht verhehlen, dass ihm schon drei Kilometer im Schwimmbad in den Oberarmen stecken. Also, alle jammern und zetern, aber Uli führt ein hartes Regiment und bald sitzen sie gemütlich um den Esstisch von Familie Andersson und lassen sich die schwäbische Spezialität schmecken. Es wird ein lustiger Abend. Da werden Witze gerissen, die alle schon kennen und über die sie sich trotzdem kaputtlachen, und es wird natürlich auch über Kollegen gelästert. Sie sind vielleicht keine richtige Clique, weil sie nicht freiwillig in dieser Besetzung unterwegs sind. Aber sie sind alle schon seit mehr als drei Jahren in der gleichen Abteilung. Fred, Uli und Stephan arbeiten seit fast zwei Jahren an dem S10-Projekt. Kurz, sie waren schon oft zusammen auf Erprobungsfahrten, mal nur ein paar Tage, mal mehrere Wochen am Stück, von morgens bis abends zusammen, vom Frühstück bis zum Bierchen am Abend. Sie kennen sich etwas besser, als sich Kollegen auf dem Amt normalerweise kennen. So ist die Atmosphäre an diesem Abend. Als Andreas und Karl aufbrechen, um zu ihrem Haus zu Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 15 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 gehen, ist es schon kurz vor Mitternacht. Fred bringt die beiden noch zur Tür und als er sie öffnet, meint er in der Einfahrt des gegenüberliegenden Hauses eine Gestalt zu sehen, die es gerade nicht mehr geschafft hat, sich rechtzeitig hinter einen Busch zu ducken. Er kann sich aber auch getäuscht haben, schließlich ist es drinnen hell und draußen ist stockfinstere Nacht und ein paar Bier hat er auch schon getrunken – und selbst wenn. *** Das ist der Teil, den Franz an seinem Job hasst. Er hat den S10 vom Supermarkt bis zu diesem Haus verfolgt und sich bereits am Ziel gewähnt. Doch diese doofen Autotester wollen ihm sein bescheidenes Auskommen anscheinend nicht gönnen. Jedenfalls hat er sein Auto um die nächste Ecke abgestellt und sich dann wieder zum Haus geschlichen, was praktisch nicht ganz so einfach ist. Einerseits möchte er von den Leuten im Haus nicht gesehen werden, andererseits soll es für Leute, die vielleicht zufällig auf der Straße vorbeikommen, oder die aus einem der Nachbarhäuser schauen, nicht so aussehen, als schleiche da jemand rum. Franz hat da so seine Technik entwickelt. Am besten soll ihn niemand sehen, denn jetzt hat er ja seine Kamera dabei. Die ist zwar nicht ganz so riesig, wie sonst manchmal, weil er heute nur das Gehäuse mit dem Weitwinkelobjektiv mitgenommen hat. Aber so richtig verbergen lässt sie sich auch nicht so leicht. Und bei Leuten mit großen Kameras reagieren hier inzwischen alle allergisch. Die Autotester wollen ihre Testautos nicht fotografieren lassen, und die Schweden wollen die Autotester nicht vergraulen, weil sie viel Geld bringen. Er stapft also los. In den Vorgärten liegt Schnee und auch die Straße ist Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 16 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 mit Schnee bedeckt, der fest verdichtet und relativ glatt ist. Franz kann trotzdem ganz gut laufen. Er hat nicht nur die Reifen des Autos mit Spikes ausgerüstet, sondern auch seine Schuhe. In jedem schwedischen Supermarkt gibt es die zu kaufen. Sieht aus wie eine übergroße Gummisandale, die man über die Schuhe zieht, unten sind dann kleine Eisennoppen dran. Meist werden die Dinger hier von älteren Leuten gekauft, aber für Franz' Zwecke sind sie auch sehr praktisch. Sie haben ihm schon manches Mal den entscheidenden Vorteil verschafft. Man muss sich halt nur zu helfen wissen, denkt er sich, dann kann man auch mit diesen sportversessenen Jungspunden mithalten. So gerüstet nähert sich der Fotograf nun dem Haus mit dem S10 vor der Tür. Er hat schon beim Vorbeifahren vorhin gesehen, dass das Auto nicht in der Garage abgestellt wurde. Das Glück scheint ihm also hold zu sein. Er schaut sich nochmal um: Alles ist ruhig. Nicht dass er bisher etwas ernsthaft Bösartiges getan hätte. Viele drücken sich die Nasen an den Scheiben der Prototypen platt, sobald die irgendwo auf einem Parkplatz stehen. Wenn sich aber einer mitten in der Nacht die Nase an einem Auto in einer Einfahrt in Arjeplog platt drückt und dann auch noch eine Profikamera in der Hand hält, dann ist schon halbwegs klar, dass diesen jemand nicht nur die reine, naive Neugier treibt. Dann ist es eher schon wahrscheinlich, dass dieser jemand versucht, mit ein paar netten Bildern vom neuen Auto Geld zu machen. Das wiederum gefällt den Ingenieuren, die an den Autos arbeiten, nicht, weil man denen eingebläut hat zu verhindern, dass zu früh Fotos der Prototypen auftauchen. häppchenweise Die Veröffentlichung Marketingstrategen von Details des wollen neuen die Modells möglichst selbst gestalten und sich nicht durch Paparazzi-Fotos die Show verderben lassen. Noch schlimmer wird das mit dem Fotos-VerhindernSie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 17 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Wollen, wenn die Leute nicht beim Autohersteller selber arbeiten. Wenn klar ist, dass die die Bilder nicht verhindert haben, erheben manche Autohersteller gleich Vorwürfe, der Zulieferer habe seine Verträge nicht eingehalten. Die Motivation, Fotos von den Autos zu verhindern, ist also hoch, sei es durch Flucht, durch Tarnung oder auch, indem der Fotograf gestellt wird. An dieser Stelle wird es dann unangenehm für Franz. Dann braucht er die Spikes am meisten – die an den Schuhen und am Auto. Das alles geht ihm nicht durch den Kopf, als er die Hand ans Seitenfenster des S10 hält, um hineinzusehen. Er denkt nur eins: »Scheiße!« Diese kleinen, fiesen Streber haben wieder ganz vorschriftsmäßig ihre Tarnabdeckungen über den Armaturenträger und die Mittelkonsole geklappt. Nichts ist zu sehen, nicht das kleinste Eckchen. Erkenntnisse über das Innenleben: Null. Und dafür schleicht er hier am Sonntagabend in der Kälte rum. Aber so schnell will er nicht aufgeben. Der S10 ist ein sehr wertvolles Projekt, in vielerlei Hinsicht. Es geht ja schließlich um eine sehr exklusive Luxuskarosse. Da ist jede Menge an Entwicklungsarbeit zu leisten. Gleichzeitig sind die Versuchsautos extrem teuer. Soll das fertige Produkt schon zu Stückpreisen von etwas über einer viertel Million Euro verkauft werden, kostet ein Prototyp leicht das Fünf- bis Zehnfache. Diese Autos werden ja quasi von Hand gebaut. An eine Serienfertigung ist in diesem Entwicklungsstadium Autohersteller noch bemüht, nicht zu so wenige denken. dieser Deshalb sogenannten sind die Erlkönige aufzubauen, wie möglich. Das ist ein sehr wichtiger Hebel, um die Kosten für die Entwicklung des neuen Autos zu drücken. Und das wiederum bedeutet, dass Franz echt Schwein hatte, diesen S10 zu finden. Er wird also jetzt nicht so einfach aufgeben. So platziert er sich im Vorgarten des gegenüberliegenden Hauses. Es Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 18 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 brennt kein Licht, also nimmt er an, dass niemand daheim ist, dass er den Rücken frei hat. Und nun beginnt wieder einer der Teile seiner Arbeit, die Franz hasst. Er hockt hinter einem Busch und wartet, bei Temperaturen, bei denen das Warten nicht sehr lange Freude macht. Er überlegt schon mal, welche Rechnungen er von dem Honorar des erhofften S10-Fotos bezahlen könnte und wie viel dann noch übrig bleibt. Er sollte sich doch eine Belohnung für diese elende Warterei in dieser Sch...kälte gönnen dürfen. Doch so lang ist seine Wunschliste gar nicht. Er hält sich eigentlich für einen genügsamen Menschen. Aber es gibt immer Rechnungen zu bezahlen. Das Geld reicht nie wirklich. Ein richtiger Coup wäre schon mal nicht schlecht. So kreisen die Gedanken. Aber die Kälte tut das ihre, das Kreisen zu stoppen. Nach einiger Zeit, er hat das Gefühl für die Zeit längst verloren, steht Franz auf. Er kann nicht anders, wie ferngesteuert läuft er ein paar Schritte, er läuft weiter und bis er richtig realisiert, dass er gerade sein Versteck verlassen hat, ist er schon wieder auf dem Rückweg von dem Prototyp. Er hat wohl wieder nichts Spannendes gesehen, wie auch, es hat sich ja nichts geändert. Er läuft hundert oder auch zweihundert Meter die Straße entlang, um seine Zehen wenigstens etwas aufzuwärmen und seine Glieder zu lockern. Viel hilft das alles nicht. Was aber langsam wirklich blöd wird, ist die Tatsache, dass er eigentlich gar nicht so genau weiß, warum er eigentlich vor diesem Haus sitzt. Gut, er hat gesehen, dass dieser Typ im Supermarkt für eine Art Party eingekauft hat, für mehr Leute als üblicherweise in so einem Haus wohnen. Aber vielleicht waren das auch einfach die Wocheneinkäufe. Anyway, jetzt hat er schon so lange auf die Chance gesetzt, dass da doch eine Party läuft, die irgendwann zu Ende geht, und dass sich dann noch irgendwas tut. Jetzt bleibt er auch weiter da. Aber irgendwie ist das doch wie beim Roulette oder einem anderen Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 19 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Glücksspiel. Wenn man schon jede Menge verloren hat – oder die Zehen schon fast erfroren sind – spielt man dennoch weiter. Irgendwann muss man ja gewinnen. Alles andere wäre doch ungerecht. Und dann verliert man endgültig alles – oder wird am nächsten Tag als Eisklumpen gefroren in einem schwedischen Vorgarten gefunden. Doch noch während er seine Gewinnchancen abwägt, tut sich tatsächlich etwas. Die Tür geht auf und er hört Stimmen. So schnell das mit Eisklumpenfüßen geht, sucht er Deckung hinter einem Busch in seinem angestammten Vorgarten. Schon kommen drei Männer aus dem Haus. Der eine ist der vom Supermarkt. Die anderen kennt Franz noch nicht. Trotzdem hellt sich seine Stimmung auf. Jetzt muss doch noch was Spannendes passieren. Doch diese Hoffnung bekommt gleich wieder einen Dämpfer. Der, der anscheinend einer der Gastgeber war, verabschiedet seine beiden Kumpels nur und verschwindet wieder im Haus. Das Auto bleibt unverändert stehen und die beiden anderen machen sich anscheinend zu Fuß auf den Heimweg. Tja, wat nu sprach Winnetou? Die letzte Chance besteht wohl in der Verfolgung der Besucher. Und jetzt bekommt Franz doch noch seinen Treffer. Nach wenigen hundert Metern erreichen die beiden ihre Unterkunft, vor der auch ein Auto geparkt ist. So weit so spannend. Die beiden verschwinden im Haus, drinnen geht Licht an. Wer aus einem hell erleuchteten Raum hinaus ins Dunkle sieht, kann eh nichts erkennen. Franz geht langsam näher, so langsam es seine Ungeduld zulässt. Als ihm klar wird, dass er wieder einen S10 vor sich hat, wird er immer schneller. Er kramt im Laufen die Kamera aus seinem Rucksack. Wenn er sie die ganze Zeit in der Hand gehabt hätte, wären ihm schon lange die Finger abgefroren. Er steht am Auto. Yes! Diese beiden Pappnasen waren nicht so sorgfältig wie der Typ aus dem Supermarkt. Sie haben Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 20 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 zwar die Kunstlederlappen runtergeklappt, aber sie sind nicht ganz sauber gefallen. Ein kleines Eck der Mittelkonsole ist sichtbar geblieben. Er setzt die Kamera an, drückt ab, schaltet den Blitz ein, drückt wieder ab. Die Kamera löst viermal aus. Vier Blitze. Er rennt und ist dank seiner überlegenen Spikeschuhe schon fast um die Ecke, als die Haustür auffliegt und jemand hinausschaut. Die Blitze haben sie drinnen wohl doch bemerkt. *** Franz ist endlich wieder in seinem Zimmer im Hotell Lyktan. Es ist nicht gerade das tollste Hotel in Arjeplog, aber für seine Zwecke ganz OK. Als Erstes lässt er etwas laukühles Wasser in die Badewanne, um seine Füße wieder aufzutauen. Das tut erstmal gemein weh, aber dann ist es umso angenehmer, wenn der Schmerz nachlässt. Anschließend macht er sich daran, seine Beute zu sichern und zu sichten. Er nimmt die Compact Flash Karte aus der Kamera und steckt sie in den Kartenleser seines Laptops. Zunächst kopiert er die Bilder auf die Festplatte des Rechners, dann noch eine Kopie auf einen USB-Stick, den er als Backup für die wichtigsten Dateien benutzt. Das hier sind die Früchte wirklich harter Arbeit, die sind wichtig. Erst jetzt öffnet er die Files. Die ersten beiden Bilder, die ohne Blitz, sind nicht so dolle. Er hat zwar ein lichtstarkes Festbrennweitenobjektiv verwendet und der Bildsensor seiner Canon hat auch eine hohe Empfindlichkeit, aber letztlich war es dann halt doch schon etwas sehr dunkel. Dennoch macht Franz oft diese Art von Bildern. Der Blitz ist recht verräterisch. Lieber zwei, drei nicht so gute Bilder im Kasten, bevor man einerseits die Bilder optimiert, jedoch andererseits auch das Risiko, entdeckt zu werden, Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 21 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 erhöht. Die geblitzten Bilder sind schärfer, haben aber dafür Reflexionen, die der Blitz auf der Scheibe hinterlassen hat. Diese Bilder werden es wohl nicht direkt in eines der Automagazine schaffen. Das ist schade. Dennoch sind sie ein Knaller, weil man darauf einige sehr interessante Details erkennen kann. Der S10 scheint eine recht breite Mittelkonsole zu bekommen, die fast vollständig mit Wurzelholz verkleidet ist – so weit man das eben unter der Abdeckung sehen kann. Auf der Rücksitzbank liegt eine Tastatur, die mit dem Hispano-Suiza Logo – einem fliegenden Storch – versehen ist. Sie scheint also irgendwie zum Auto zu gehören. Es ist eine vollwertige Laptoptastatur, sogar mit einem kleinen Touchpad, aber vom Format her ist sie relativ klein – also eher eine Netbooktastatur. Jetzt fällt Franz die Sonnenblende am Beifahrerplatz auf. Sie ist nur teilweise auf dem Bild zu sehen, und das auch nur, weil sie heruntergeklappt ist. Es sieht so aus, als könnte man die kleine Tastatur in der Sonnenblende verstauen. Das wäre ja mal eine coole Lösung. Ständig reden alle vom Internet im Auto. Aber die Bedienung ist in vielen Belangen noch eher umständlich. Eine ordentliche Tastatur ist für das Verfassen von Mails oder Ähnlichem doch noch immer die beste Lösung. Zumindest solange Spracherkennungssysteme noch nicht in der Lage sind, ohne weiteres Zutun Texte vollständig aufzunehmen. Der absolute Clou an diesem Foto ist aber der verchromte Schriftzug, der auf der Mittelkonsole bündig in das Holz eingelassen ist. Naja, ein verchromter geschwungener Schriftzug in einem Auto ist so besonders auch wieder nicht, aber was hier steht, kann nur der Name des neuen Autos sein. Und das ist der Hammer, denn den kannte bisher noch keiner. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 22 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Franz ist ganz aus dem Häuschen und muss sich erstmal ein Bierchen aus der Minibar genehmigen – ein unerhörter Luxus, um wieder einigermaßen runterzukommen. Als er an diesem Abend einschläft, murmelt er immer noch ständig diesen Namen vor sich hin – HispanoSuiza »San Remo«. Am nächsten Morgen sammelt Franz nochmal die Fakten, die er jetzt anhand der Bilder über das neue Auto herausgefunden hat. Er stellt das ganze Paket zusammen und freut sich. Dieser Knaller, den Namen des geheimen Projektes zu kennen, ist fast genauso viel wert wie Bilder vom kompletten Armaturenträger. Es geht einfach darum, den Leuten etwas zum Träumen zu geben, gerade wenn es um Luxus-Autos geht. Sie wollen sich vorstellen, wie es wäre, in so einem Auto zu fahren. Alles, was die Phantasie in dieser Richtung anregt, wollen die Leute wissen. Wie sieht das Auto aus? Aber auch, wie sieht es von innen aus? Wie wäre es wohl, selbst darin zu sitzen und auf die Instrumente zu sehen? Und wenn man das Ganze auch noch mit einem klangvollen Namen benennen kann, macht das die Vorstellung noch konkreter. Etwas zu bieten, das die Leute interessiert, ist logischerweise das Wichtigste für den Erfolg aller Medien. Das ist bei Autozeitschriften ja nicht anders. Entsprechend positiv ist Franz gestimmt, als er beginnt, die Redaktionen anzurufen, mit denen er sonst meist zusammenarbeitet. Er beschreibt kurz, was er hat, natürlich ohne die Informationen schon zu verraten, und nennt seinen Preis. Die Redakteure, mit denen er gesprochen hat, können nicht ohne Rücksprache mit ihren Vorgesetzten entscheiden. Aber nach fünf Minuten rufen die Leute von Motorhobby zurück. Sie sagen zu, die geforderten 4000 Euro zu bezahlen. Also schickt er eine Mail mit dem wertvollen Inhalt los. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 23 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Dieses war der erste Streich, doch natürlich möchte Franz jetzt auch den Rest noch. Er muss also versuchen, an dem S10 dranzubleiben. Ist nur die Frage wie. Er hat keine richtige Ahnung, so fährt er einfach nochmal zum Gelände der IAA, und siehe da: Er hat diesmal kein Glück. Es tut sich nichts. Er fährt ein paar Mal die Straße auf und ab. Aber er sieht nur einen blauen Golf, der zum Testgelände abbiegt. Er kann sich auch nicht überwinden, sich schon wieder auf die fast arktische Lauer zu legen. Also kehrt er zum Hotel zurück. Das Glück wird schon bald wieder auf seiner Seite sein. *** Zur Feier seines tollen Erfolges will Franz ausgehen. Ausgehen, das heißt für ihn in Arjeplog, ins Hotel Silverhatten, das fast schon legendär ist, zu gehen. Das Hotel besteht aus mehreren Gebäuden, die mit ihren dunkelroten Fassaden gut zur schwedischen Architektur passen. Es liegt am Rand des Ortes auf einem leichten Hügel. An diesem Ort trifft man sich. Tagsüber machen alle ein Riesengeheimnis um ihre Prototypen und die neuesten Entwicklungen. Es regiert harter Wettbewerb in der Automobilbranche. Abends stehen dann die Prototypen vieler internationaler Autohersteller einträchtig vor der Tür dieses Hotels. Drinnen fachsimpeln die, die tagsüber Konkurrenten, Kunden oder Lieferanten sind, beim Bier an der Bar. Jetzt treten die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund. Alle sind Technik- und insbesondere Autofreaks; alle sind über Wochen hier im dunklen Norden, getrennt von ihren Familien. Viele kennen sich seit Jahren, auch wenn sie nicht für die gleiche Firma arbeiten. So wird viel Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 24 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 geredet an dieser Bar, auf Deutsch, Englisch, Französich, Italienisch, natürlich Schwedisch. Das sind sicher nur die häufigsten Sprachen. Dass sich unter die Leute auch Journalisten mischen, stört hier niemanden wirklich. Die meisten sind so professionell, dass sie auch nach drei Bier noch ganz genau wissen, was wirklich ein Geheimnis ist, das an keiner Bar der Welt etwas zu suchen hat – die meisten. Das macht es für Franz schwer, an diesem Ort abzuschalten. Er ist einfach immer auf Empfang. Deshalb hat er auch fast schon automatisch ein paar Bilder der Autos auf dem Parkplatz mit seiner Handykamera gemacht, bevor er gut gelaunt das Hotel betritt und ohne weitere Umwege die Bar ansteuert. Die ist für ein Hotel dieser Größe recht ansehnlich, der Tresen steht prominent im Raum, so dass man rund um die eigentliche Bar sowohl am Tresen als auch an Tischen sitzen kann. Es herrschen helle, warme Töne vor. Die Atmosphäre ist sehr angenehm. Er bestellt sich ein Bier, schaut suchend in die Runde und sieht auch gleich ein bekanntes Gesicht. Es ist Julia Morgenfrüh, eine Kollegin, was eigentlich schon Bände spricht. Es gibt nicht viele Frauen hier, nicht viele unter den Autotestern und erst recht nicht viele unter den Erlkönigjägern. Julia ist eine der wenigen Ausnahmen und in der Szene bekannt wie ein bunter Hund. Franz kennt sie schon lange. Er geht zu ihr und reicht ihr zur Begrüßung die Hand. Sie ist wie immer freundlich und Franz platzt gleich mit seinem tollen Fang vom Vortag heraus. Natürlich nicht richtig. Ein ungeschriebenes Gesetz, das wahrscheinlich die Grundlage für ihre gute Beziehung ist, besagt, dass sie sich gegenseitig nichts verraten; keine Tipps, keine zugeschobenen Geschichten, nichts. So gibt es keine Missverständnisse oder Erwartungen, die dann zu Ärger führen würden. Also erzählt er nur, dass er den richtigen Namen eines tollen Entwicklungsprojektes herausbekommen hat. Vor lauter Begeisterung Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 25 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 über seinen Erfolg bemerkt er zunächst Julias gedämpfte Stimmung überhaupt nicht. Erst als er seinen ersten Redeschwall losgeworden ist, fällt ihm auf, dass sie nur ab und zu genickt hat, aber nicht wirklich auf seine Geschichte eingegangen ist. Auf seine Frage, was denn los sei – die ja eigentlich nicht so richtig sensibel ist – beginnt Julia ihr Leid zu klagen. Sensibilität erwartet in dieser Umgebung kaum jemand. Sie hat Streit mit ihrem Lebensgefährten. Franz wusste, dass sie liiert war, aber nicht mit wem und wie lange. Sie hätten sich zufällig in einem Fotogeschäft kennengelernt. Zunächst sei alles ganz toll gelaufen und Julia machte insgeheim schon weitergehende Pläne, doch ihr Leben als Fotografin geheimer Autos konnte und wollte sie zumindest zunächst nicht aufgeben. Und das sei das Problem. Er komme nicht damit zurecht, dass sie dauernd unterwegs sei, völlig unplanbar von einem Tag auf den anderen verreise, immer rastlos irgendwelchen vagen Hinweisen oder Tipps folgend, die sie aus irgendwelchen Quellen – natürlich nicht von Franz – hat. Auch er sei ständig unterwegs und er wolle eigentlich eine Freundin, die daheim auf ihn warte. Sie hätten sich schon öfter deshalb gestritten, und die Sache werde auch dadurch nicht einfacher, dass Julias gesamtes Arbeitsumfeld männlich sei. Jetzt sei der Streit mal wieder eskaliert. Julia glaube nicht, dass die Beziehung noch lange halte. Franz kann Julias Situation gut nachvollziehen. Ihm ist es schon ähnlich ergangen. Der Job, den sie beide lieben, ist nicht sehr beziehungsfördernd. Insofern ist Julia froh einen verständigen Zuhörer zu haben. Sie unterhalten sich also angeregt an diesem Abend. Als Julia mal kurz verschwindet, ertappt sich Franz schnell bei Abwägungen, was er an ihr toll oder nicht so toll findet. Sie ist nicht im ersten Sinne eine Schönheit, Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 26 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 aber attraktiv ist sie auf jeden Fall. Und sie ist natürlich eine der sehr wenigen Frauen, die Verständnis für den etwas unsteten Lebenswandel, den der Job so mit sich bringt, haben sollten. Aber er ist eh nicht der Typ, der gleich voll im Angriff ist. Für ihn müssen sich solche Dinge entwickeln. Aber wenn sie nun quasi wieder frei wäre? Dann wäre er sicher froh, wenn ihr Kontakt zukünftig etwas weniger zufällig wäre. »Am Dienstag geht es endlich wieder auf die Heimfahrt, dann sollten wir am Freitag morgens mit der Stena in Kiel und abends daheim ankommen«, hört er neben sich einen Gesprächsfetzen. Als er sich etwas in die entsprechende Richtung dreht, sieht er einerseits Julia wieder auf ihn zukommen, andererseits die Quelle des Gesprächsfetzens. Und das ist einer der Typen aus der Schwimmhalle. Die Leute vom S10-Projekt wollen also morgen abfahren. Jetzt ist es wieder soweit: Franz kann nicht abschalten und sich auch nicht mehr richtig auf die Unterhaltung mit Julia konzentrieren, obwohl sich die gerade in Richtung erfreulicherer Themen entwickelt – nach dem Schema: »Warst du dieses Jahr schon im Urlaub? Wo warst du denn?« Seine Gedanken kreisen um die Frage, wie er seine Chance nutzen kann, den S10 doch noch vor die Linse zu bekommen. Heute sind zwar wohl keine weiteren Infos mehr zu bekommen, weil sich die IAA-Leute, die immer noch neben ihm an der Bar stehen, jetzt darüber unterhalten, welchen Kollegen daheim sie wie viel Lachs mitbringen müssen. Der Lachs, den man hier kaufen kann, ist sehr gut und vergleichsweise günstig, also werden immer wieder Bestellungen der daheimgebliebenen Kollegen angenommen – am meisten vor Weihnachten, aber auch jetzt haben sich noch nicht alle satt gegessen. Also die quatschen über Lachs, er grübelt über die beste Jagdstrategie nach und folgt mit Mühe der Unterhaltung mit Julia, was jetzt auf sie weniger einen trampeligen als eher einen recht desinteressierten Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 27 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Eindruck machen dürfte. Umso erstaunlicher ist es, dass sie sich trotzdem seine Handynummer notiert. Sie notiert sich seine, nicht er ihre; so toll war der Eindruck, den er bei ihr gemacht hat, dann doch nicht. Franz ist froh, als er irgendwann wieder draußen vor dem Hotel steht. Es sind schon deutlich weniger Autos, die jetzt noch hier parken. Julia hatte sich schon kurz vorher verabschiedet, also ist er jetzt allein und beschließt noch ein paar Schritte zu laufen, bevor er wieder in sein Hotel zurückkehrt. Bisher waren seine Gedanken nur gekreist, sie konnten sich nicht für eine bestimmte Richtung entscheiden. Das heißt, die Gedanken hatten sich schon wieder für die Arbeit entschieden. Julia war im Moment erstmal wieder ausgeblendet. Welche Optionen gibt es denn? Er könnte natürlich morgen versuchen, die Abfahrt der Ingenieure abzupassen, und direkt die Verfolgung aufnehmen. Der Nachteil daran wäre, dass diese ganze Aktion entweder sehr auffällig wäre oder mit einem hohen Risiko verbunden, den Konvoi zu verlieren. Normalerweise fahren in so einem Entwicklungsteam ein paar Autos zusammen. Vielleicht sind auch noch Kollegen dabei, die an einem anderen Projekt arbeiten. So können sie sich gegenseitig helfen, wenn es Probleme an einem Auto oder der Technik gibt. Die Prototypen sind meist nicht so zuverlässig wie die fertigen Serienautos, Pannen sind da nicht auszuschließen. Das heißt aber, dass viele Augen dabei sind, denen ein fremdes Auto, das ständig dem Konvoi folgt, auffallen kann – fast muss. Auf den Straßen hier oben ist nicht so viel Verkehr, da fällt jedes andere Auto auf, und die Entwickler machen immer wieder Stopps, um Messungen zu machen oder die Technik zu prüfen, was sollte er da jedes Mal tun? Alle Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 28 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 fünfzehn Minuten eine Pinkelpause markieren, zufällig immer an den gleichen Stellen, an denen die Versuchsautos stehen? Das scheint nicht die beste Idee zu sein. Verlockend wäre sie nur, weil unterwegs wahrscheinlich zwei Hotelübernachtungen anstehen würden, die Gelegenheit bieten könnten, unauffällig und ungesehen an die Autos ranzukommen. Aber wirklich raten, wo diese Stopps eingelegt werden, kann er auch nicht. Aber er hat ja noch eine Info. Die Entwickler wollen eine Fähre der Stena Line nach Kiel nehmen. Das ist ein gewisser Fixpunkt. Die Stena fährt von Göteborg nach Kiel. Wenn er es schaffen würde zu erraten, welches Schiff sie genau nehmen wollen, dann könnte er auf der gleichen Fähre mitfahren und hätte dort eventuell Gelegenheit, an die Autos zu kommen. Das scheint erstmal praktikabler. Als Franz wieder am Hotel Silverhatten zurück ist, kommt gerade ein Pulk Leute raus. Wieder wird in verschiedenen Fremdsprachen gesprochen. Nur nebenbei registriert er, dass diesmal auch ein paar der Männer Russisch sprechen, was insofern ungewöhnlich ist, als die russische Autoindustrie bisher noch nicht in Schweden vertreten ist. Außerdem steigen die Leute in einen schwarzen Porsche Cayenne. Auch der weist sie deutlich als Osteuropäer aus, denn er ist für den westlichen Geschmack etwas zu offensiv aufgemotzt. Da fehlt nur noch der Fuchsschwanz an der Antenne, denkt Franz. Sein dezenter Volvo ist ihm da schon lieber. Aber damit ist die Episode auch schon abgehakt. Er muss in sein Hotel zurück und packen. *** Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 29 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Fred hat seine Klamotten schon gepackt. Das ist der kleinste Teil der Vorbereitungen für die Abfahrt. Er und seine Kollegen haben am letzten Tag vor der Abreise Richtung Heimat noch ein paar Versuche auf dem See gefahren, ein paar Parameter neu eingestellt – sie nennen das appliziert – und sogar noch einen Fehler in der Software gefunden. Aus diesen Resultaten haben die Kollegen in ihrem schwäbischen Zuhause einen neuen Softwarestand für das ACC gebaut. Das ACC ist das Steuergerät, an dem Fred und seine Kollegen arbeiten. ACC ist die Abkürzung für Adaptive Cruise Control, was landläufig eher unter Abstandregeltempomat bekannt ist. Bei Autos, die ACC haben, ist die Funktion des normalen Tempomats erweitert. Er kann nicht nur eine bestimmte Geschwindigkeit fest einhalten, sondern auch auf andere Fahrzeuge reagieren. Nähert man sich einem langsameren Auto, verzögert das ACC-Auto und hält dann einen bestimmten Abstand zu diesem langsameren Auto. Die vorausfahrenden Fahrzeuge werden mit Hilfe eines Radarsensors, der in der Frontschürze eingebaut ist, erkannt. Zum Bremsen und Beschleunigen ist eine hoch komplexe Vernetzung mit vielen anderen Steuergeräten notwendig. Die Motorsteuerung muss Befehle zum Gasgeben Verzögerungsbefehle annehmen. verarbeiten Das und Bremssystem Informationen muss über Geschwindigkeit und Beschleunigungszustand liefern. Und wie immer steckt der Teufel im Detail. Wenn man sich einem langsamen Vordermann nähert, soll man dann in den Sicherheitsabstand eintauchen und sich dann wieder zurückfallen lassen – eher komfortabel? Oder soll man das auf jeden Fall vermeiden und lieber stärker bremsen – nicht ganz so komfortabel? Wenn auf einer mehrspurigen Straße zum Beispiel drei Autos nebeneinander fahren, das ACC-Auto auf der mittleren Spur Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 30 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 dahinter, welches der drei Autos muss dann vom ACC berücksichtigt werden – wenn man in einer leichten Linkskurve ist? Die Arbeit der Applikationsingenieure besteht nun nicht darin, so ein ACC neu zu erfinden. Sie müssen ein bestehendes ACC an ein neues Fahrzeugmodell, wie den S10, anpassen. Die gerade beschriebene Kommunikation mit den anderen Steuergeräten läuft bei jedem Fahrzeugtyp ein bisschen anders und jeder Fahrzeughersteller hat etwas andere Vorstellungen, was das Verhalten des Systems angeht – eintauchen oder nicht. Die Applikateure koordinieren, dass alle fahrzeugspezifischen Änderungen in die Software des ACC einfließen, denn zum größten Teil findet die Anpassung in der Software statt, und sie stimmen das System nach den Wünschen des Kunden ab. Der Kunde ist der Autohersteller, für Freds Projekt also offiziell Hispano-Suiza; IAA ist der Lieferant des ACC. Sie haben also am Abend vor der Abreise von den Kollegen noch einen neuen Softwarestand bekommen. Damit beginnt der größere Teil der Vorbereitungen für die Heimfahrt. Die paar Sachen, die sie in ihrem Büro auf dem Testgelände von IAA hatten, sind auch schnell verpackt, aber jetzt muss die Software in Betrieb genommen werden. Vorher macht es keinen Sinn abzufahren. Fred geht vom Büro nach nebenan in die Fahrzeughalle. Dort stehen die beiden S10. Er öffnet den Kofferraum des ersten, entnimmt diesem ein Netzwerkkabel und öffnet die Beifahrertür. Dort verbindet er die Messtechnik, die im Auto eingebaut ist, mit einer der Netzwerkdosen in der Fahrzeughalle. So kann er bequem die neue Software direkt herunterladen. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 31 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Die Messtechnik macht sich in dem Versuchsauto dort breit, wo normalerweise eine nette Beifahrerin sitzen sollte. Deren Sitz ist ausgebaut und macht einem würfelförmigen Rack aus Aluprofilen Platz, das mit den Sitzschienen verschraubt ist. Darin sind zwei PCs eingebaut. Oben auf dem Rack befindet sich ein Flachbildschirm und es gibt natürlich auch eine Tastatur mit Trackball, über die man beide Rechner steuern kann. Die gesamte Mess- und Applikationstechnik ist also digital. Der eine Rechner zeichnet die Daten des Fahrzeuges auf, während der andere mit dem ACC-Steuergerät verbunden ist. Er speichert Messgrößen direkt aus dem Steuergerät, und mit diesem Computer kann man auch Variablen in der ACC-Software verändern – online während der Fahrt. Das geht natürlich nur mit einem speziellen Entwicklungssteuergerät, das mit einem entsprechenden Anschluss ausgestattet ist. Diese ganze Konfiguration ist das Ergebnis langer, leidvoller Erfahrungen und Experimente mit Laptops, die die Entwicklungsabteilung machen musste. Die Festplatten in den PC sind besonders robuste Typen und sie sind gegen Stöße gedämpft aufgehängt, um Schäden und Störungen bei Fahrten über schlechte Straßen zu verhindern. Der Einbau in dem Rack anstelle des Beifahrersitzes ist sehr sicher. Alle Teile sind fest verschraubt, nichts kann im Falle eines Falles durchs Auto fliegen, und nichts ruckelt bei Fahrbahnunebenheiten rum. Das kommt auch der Funktion der unzähligen Stecker zugute, die das Kabelgewirr in diesem Versuchsauto zusammenhalten. Außerdem lässt sich so alles recht bequem bedienen. Die Ingenieure sind eigentlich immer zu zweit im Auto. Einer der Ingenieure fährt und ein Kollege sitzt auf der Rücksitzbank und bedient die Messtechnik. Mit der kleinen Tastatur auf den Knien kann man dabei bequem sitzen und arbeiten. Nur wenn die Strecke recht Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 32 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 kurvig ist, kann es einem schon mal schlecht werden, so wie es vielen Menschen beim Lesen im Auto ergeht. Fred hat also mit schlafwandlerischer Sicherheit den richtigen Anschluss für das Netzwerkkabel gefunden. Er hat diese Handgriffe schon unzählige Male und unter viel widrigeren Bedingungen als in einer warmen Halle gemacht. Er setzt sich auf die Rücksitzbank, um die Software zu flashen, das heißt die Software auf das Steuergerät zu laden. Mit einem Druck auf eine rote Taste an dem Rack schaltet er einen der beiden Computer ein. Noch während der bootet ertönt ein schriller Warnton. Fred hat mit schlafwandlerischer Sicherheit vergessen den Strom anzuschließen. Noch eine Besonderheit an diesem Auto. Die ganze Technik braucht natürlich ordentlich Strom. Deshalb ist zum einen eine Extrabatterie im Kofferraum eingebaut und zum anderen eine ausgeklügelte Elektronik, die den Ladezustand der Batterien überwacht. Es macht halt nur wenig Spaß, wenn man zwar lange an der Messtechnik arbeiten kann, dann aber keinen Strom mehr zum Starten des Motors hat. Deshalb der Warnton. Fred könnte jetzt den Motor anlassen und fahren, um mehr Strom zu haben, oder das ebenfalls eingebaute Ladegerät an die Steckdose hängen. Also geht er wieder zum Kofferraum und zieht das Stromkabel von der eingebauten Kabeltrommel Richtung Steckdose. Das erinnert ihn immer an den Staubsauger daheim. Inzwischen ist der Rechner hochgefahren. Er kopiert das Softwarefile auf die Festplatte und startet das Flash-Programm. Noch ein Passwort eingeben und schon läuft der Prozess. So weit so problemlos. Die Software ist drauf. Jetzt muss aber noch eine kurze Testfahrt gemacht werden, um sicher zu gehen, dass sie auch grundsätzlich funktioniert. Fred schaltet die Zündung des Hispano-Suiza wieder aus. Die war an, um Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 33 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 das ACC mit Strom zu versorgen. Jetzt muss ein Reset gemacht werden, ganz wie beim PC daheim; nach der Installation neuer Software muss der Computer neu gestartet werden. Er öffnet das Tor der Halle und rollt langsam mit der schweren Limousine hinaus. Ein Druck auf eine der Tasten am Lenkrad. Ein grünes Lämpchen im Kombiinstrument leuchtet auf. Das Steuergerät ist eingeschaltet. Das ist schon mal die erste wesentliche Hürde. Er gibt Uli ein Zeichen, dass dieser auch den zweiten S10 flashen kann. Schon auf dem Weg zum Tor des IAA-Geländes kann er die ersten Punkte der Checkliste, die er jetzt abarbeiten muss, erfolgreich testen. Auf dem Weg zur Hauptstraße die nächsten. Beschleunigung auf 30 Stundenkilometer, aktivieren des ACC, beschleunigen auf 50 Kilometer pro Stunde. Alles tut. Auch die weiteren Tests verlaufen zufriedenstellend. Das ist eigentlich schon beängstigend. Für jede Änderung an der Software müssen die Kollegen von der Softwareentwicklung einen komplizierten Prozess durchlaufen, auch wenn es sich nur um eine vermeintliche Kleinigkeit handelt. Dabei kann leicht mal ein Fehler passieren, der auch bei den Tests, die die Software noch in Deutschland durchlaufen muss, nicht gefunden wird. Diesmal scheint alles zu passen. Als Fred nach fünfzehn Minuten wieder zurück ist, ist auch das zweite Auto schon fast fertig. Auch bei diesem muss aber noch die Probefahrt gemacht werden. Schnell laden er und Stephan die letzten Dinge in den Kofferraum und schon sind sie abfahrbereit – schon um zehn Uhr. Das lässt auf einen guten Verlauf der Heimreise hoffen. Mehr als Hoffnung ist es allerdings nicht. Denn auf der viertägigen Fahrt kann doch noch einiges passieren. Sie fahren mit drei Autos, den beiden S10 und dem 7er BMW, den sie auch als Versuchsfahrzeug für die Entwicklung verwenden, bei dem es Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 34 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 sich aber um ein normales Serienmodell handelt. Vor ihnen liegen mehr als 2500 Kilometer, wobei die Fähre zwischen Göteborg und Kiel noch nicht mitgerechnet ist. Heute wollen sie bis Umeå, dort haben sie ein Hotel reserviert. Das sind gut 300 Kilometer über kleine nordschwedische Landstraßen, die sicher zum größten Teil nicht schnee- und eisfrei sein werden. Außerdem müssen während der Fahrt Messungen und Versuche gemacht werden. Möglicherweise treten Fehler auf, die dann zu analysieren und beheben sind. Eine zeitige Abfahrt ist also angeraten, lässt sich aber nicht immer verwirklichen – heute schon. Sie verlassen das Werksgelände und biegen nach kurzer Zeit auf die Hauptstraße Richtung Arjeplog ein. Es fällt ihnen nichts Besonders auf. Sie haben vor einer Stunde zuletzt ihre E-Mail gecheckt. Es waren noch keine Warnmeldungen vor Erlkönigjägern da. Die Entwickler der IAA warnen sich gegenseitig per Mail vor den neugierigen Fotografen. Dennoch wissen sie, dass in der Gegend von Arjeplog immer damit gerechnet werden muss, dass plötzlich ein verdächtiges Auto auftaucht. Meist versuchen sie dann abzuhauen oder mit einem ungefährdeten Fahrzeug, wie zum Beispiel ihrem 7er, die Sicht zu behindern. Die kleine Kolonne durchquert die Stadt und fährt weiter Richtung Süden. Bis Umeå werden sie durch keine größere Ortschaft mehr kommen. Die meisten anderen Entwicklungsteams, die zum Beispiel am elektronischen Stabilitätsprogramm, dem ESP, arbeiten, fahren die Strecke von und nach Deutschland nicht. Sie verladen ihre Entwicklungsautos ein paar Tage früher auf LKW und fliegen dann nach Schweden. Beim ACC kann aber ein Großteil der Arbeit nicht auf Teststrecken gemacht werden. Für diese Funktion braucht man realen Verkehr und verschiedene Straßenformen – Land- und Schnellstraßen, Autobahnen. Deshalb sind die vielen Tausend Kilometer An- und Abfahrt Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 35 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 wertvoller Bestandteil dieser Wintererprobungen. Die ACCler werden bei Umeå die Küste erreichen. Dieser werden sie dann fast bis Stockholm folgen. Von dort geht es quer durchs Land nach Göteborg, wo immer abends eine Fähre nach Kiel abfährt, die am nächsten Morgen dort ankommt. Dann folgt der letzte Tag auf Autobahnen quer durch Deutschland bis nach Ludwigsburg, wo IAA einen Entwicklungsstandort unterhält, an dem Fred und seine Kollegen arbeiten. Dort wollen sie am Freitag nach vier Tagen Fahrt ankommen. Aber so weit sind sie noch lange nicht. *** Franz hat im Prinzip die gleiche Strecke vor sich. Allerdings muss er keine Versuche und Tests machen. Er muss nur fahren und am richtigen Tag vor den Entwicklern an der Fähre sein. Das sollte eigentlich nicht schwer sein. Immerhin gibt es täglich nur eine Fähre. Es stellt sich höchstens die Frage, ob sie die am Mittwoch- oder am Donnerstagabend nehmen wollen. Aber mit dieser Unsicherheit lässt sich umgehen. Ansonsten muss er nur noch sein Auto umrüsten. Er ist im Januar mit seinem alten Volvo nach Schweden gefahren, um nicht auf Mietautos angewiesen zu sein. Außerdem gibt es keine bessere Tarnung als einen alten Volvo-Kombi. Franz' Volvo ist dunkelblau, aber selbst in leuchtendrot wäre der in Arjeplog so gut getarnt wie ein Leopard im Steppengras, auch wenn dieser Vergleich jetzt seltsam anmuten mag. Jeder hier fährt einen Volvo. Er möchte mit seinem Camouflage-Mobil am Dienstag gleich bis Stockholm durchfahren. Dort hat er sich bei seinem Freund Harald angekündigt, in dessen Garage auch die Allwetterreifen für den Volvo Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 36 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 liegen. Mit den Spikes, die im Norden so hilfreich sind, darf er in Deutschland nicht fahren. Wenn alles gut läuft, und davon geht Franz mal aus, ist er abends bei Harald. Dann könnten sie ins Engelen gehen. Dieses Restaurant ist wegen seiner Steaks bekannt, nicht nur bei Franz und Harald, sondern auch bei manchen Autotestern. Bei denen gehört es anscheinend zum Einarbeitungsprogramm für Neueinsteiger. Franz möchte aber versuchen, mal nicht ständig andere Gespräche zu belauschen. Er möchte einfach mal wieder mit seinem Freund schnacken. Am Mittwoch könnte er in Ruhe nach Göteborg weiterfahren. Abends würde er dann sehen, ob die S10 schon auf die Fähre kommen oder aber nochmal übernachten und dann wahrscheinlich die Passage am Donnerstag nehmen. In diesem Fall könnte er auch noch ein bisschen im Internet recherchieren, was zum S10 schon an Infos zu bekommen ist. Dazu hatte er bisher noch keine Zeit. So weit sein Plan. Der geht auch fast so auf. Er ist am Mittwochabend am Anleger der Stena Line Fähren und wartet darauf, dass die S10 auftauchen und sich in die Schlange der wartenden Autos einreihen. Das einzig Kribbelige ist, dass er noch kein Ticket hat. Bis 30 Minuten vor Abfahrt kann er noch einchecken. Das sollte eigentlich dicke reichen, aber was, wenn die Leute von der IAA auf den allerletzten Drücker ankommen? Vielleicht haben sie Probleme und kommen deshalb spät, oder sie warten absichtlich, um eventuelle Verfolger abzuschütteln. Das mit dem Abschütteln wäre dann bei Franz erfolgreich, was für ihn eher bescheiden wäre. Seine Chancen, nochmal an die Autos ranzukommen, würden damit deutlich sinken. So viel ist ihm klar: Die Applikateure haben meist vorher schon ihre Fährtickets gebucht. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 37 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Franz wartet am Mittwochabend zunächst ganz entspannt an der Fähre, dann als es auf 18:30 Uhr zugeht, wird er etwas nervöser, weil das dann ja die Zeitspanne ist, in der er fast im wahrsten Sinne des Wortes ausgebootet werden könnte. Aber dann geht um 19:00 Uhr die große Ladeluke zu und er entspannt sich wieder. Die Objekte der Begierde sind nicht erschienen und er gewinnt einen weiteren Tag des Wartens. Am Donnerstag wird er die Fähre aber in jedem Fall nehmen. Er kauft also gleich die nötigen Tickets für sich und sein Auto. Den nächsten Tag verschläft er fast zur Hälfte. Danach gibt es ein ausgiebiges Frühstück. Dann sucht er sich einen WLAN-Hotspot. Viele Hotels bieten ihren Gästen einen solchen Internetzugang als Service und in einem größeren Hotel fällt es nicht auf, wenn jemand, der wie ein Gast aussieht, in der Lobby seinen Laptop auspackt. Franz hat schon beim zweiten Versuch Erfolg. Er kann seinen Rechner gebührenfrei mit dem Internet verbinden. Um seinen Aufenthalt in der Hotelhalle halbwegs zu legitimieren, bestellt er sich ein kleines Mineralwasser. Als Erstes überprüft er seine E-Mail. Die Redaktion der Motorhobby möchte wissen, ob er schon weitere Infos über den S10 bieten kann. Anscheinend ist das Interesse groß und das Angebot klein. Da sollte es sich doch lohnen, an dem Projekt dranzubleiben. Er scrollt weiter und fischt zu seiner Freude zwischen all den Spammails auch eine Nachricht von Julia raus. Sie schreibt, dass sie sich über das Gespräch im Silverhatten gefreut habe und dass sie vorhabe, noch mindestens zwei Wochen in Arjeplog zu bleiben. Sie habe gehört, es würden noch ein paar interessante Fahrzeuge kommen, die auf den letzten Drücker noch auf Eis und Schnee getestet werden sollten, bevor Ende März die Wintertestsaison zu Ende gehe. Franz drückt gleich auf den Antwortknopf und sitzt dann erstmal zwanzig Minuten vor dem leeren E-Mailformular, Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 38 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 ehe er mit seiner Antwort beginnt. Er bedankt sich auch für das nette Gespräch – nein, nochmal löschen. Er schreibt, dass er sich auch über ihr zufälliges Treffen gefreut habe, dass er aber jetzt schon auf dem Weg nach Deutschland sei. Er sei an ein paar Leuten von IAA dran, die am S10-Projekt arbeiten. Ja, das entspricht nicht der ungeschriebenen Vereinbarung, sich gegenseitig keine Tipps zu geben – von Gesetz will er in diesem Zusammenhang dann doch nicht mehr sprechen – aber Julia hat ihm ja auch verraten, dass es sich lohnen könne, noch in Schweden zu bleiben. Seine Internetrecherche zum S10 bringt keine besonders aufregenden Erkenntnisse. Er durchforstet insbesondere verschiedene Foren, in denen mehr oder weniger professionelle Autofreaks diskutieren. Der neue Hispano-Suiza ist dort ein Thema, aber über das Interieur wird nur spekuliert – keine konkreten Infos. Der wirkliche Name des Autos scheint noch nirgends bekannt zu sein. Das ist doch schon mal toll. Zur Technik gibt es noch nicht viel. Hauptsächlich wird über ein neues Sicherheitssystem diskutiert, dass es beim S10 unmöglich machen soll, Steuergeräte zu manipulieren oder auszutauschen. Tuning wird damit ziemlich schwierig. Der S10 soll hier Vorreiter für alle zukünftigen Modelle des Konzerns sein. Das ist zwar plausibel, weil man die komplizierte Technik so an einem Modell einführen kann, das nicht gleich zu hunderttausenden auf die Straße kommt, Franz findet es trotzdem langweilig. Für solche Themen interessieren sich nur Nerds; weder er noch die meisten normalen Leser von Automagazinen finden so etwas aufregend. Am Abend läuft dann alles nach Plan. Er fährt als einer der Ersten auf die Fähre und sucht sich dann einen guten Aussichtspunkt, von dem er die Laderampe im Auge behalten kann. Relativ knapp vor der Abfahrt Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 39 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 kommen die S10. Die getarnten Versuchsautos erregen viel Aufmerksamkeit. Väter und Söhne recken gemeinsam die Hälse und rätseln, um welche Automarke es sich wohl handeln mag. *** Fred ist froh, endlich auf der Fähre zu sein. Die letzten drei Tage Fahrt waren recht anstrengend. Jeden Tag waren sie mindestens zwölf Stunden unterwegs. Immer wieder mussten Messungen gemacht werden und viele Versuche mussten sie zigmal wiederholen, bis endlich alles geklappt hat. So kommt man natürlich nicht wahnsinnig schnell voran, wenn man bei jeder Haltebucht und an jedem Rastplatz stehen bleibt, um wieder Daten zu speichern, Parameter zu verändern und öfter mal einen Reset zu machen – Motor und Zündung aus, warten, Zündung wieder an, Motor wieder starten. Aber immerhin haben sie die Strecke von Stockholm nach Göteborg ohne den ganz großen Stress geschafft. Mit dem harten Anschlag – Abfahrt der Fähre – ist es auf vielen Wintererprobungen schon recht knapp geworden, wenn schon am Vormittag viel Zeit vertrödelt wurde. Sie laden ihre Taschen aus und achten darauf, die Innenraumtarnung ordentlich anzuwenden. Die Autos stehen ja auf einem der ganz normalen Fahrzeugdecks. Da kann man nicht verhindern, dass alle möglichen Leute an die Autos kommen. Abhauen geht hier auch nicht so gut. Also wird alles dicht gemacht und dann laden sie ihren Kram in den Kabinen ab. Diesen Luxus gewährt ihnen die IAA glücklicherweise. Sie müssen ja auch den ganzen nächsten Tag wieder im Auto sitzen und arbeiten. Zuerst gehen Fred und die Kollegen aber ins Bordrestaurant. Das Abendessen dort ist der traditionelle Abschluss jeder Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 40 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Wintererprobungsfahrt. Der Erprobungsleiter gibt ebenfalls traditionell eine Runde Pils aus. Der Erprobungsleiter ist Uli, aber davon merkt man eigentlich nicht viel. Er ist natürlich dafür verantwortlich, die Fäden beisammenzuhalten, aber mit einem so erfahrenen Team wie mit Stephan, Fred und den anderen hat er da nicht sehr viel zu tun. Nicht zu vergessen ist natürlich noch die sehr beliebte Aufgabe des Erprobungsleiters, den Bericht zu schreiben. Da hat ein so erfahrenes Team dann den Nachteil, dass sich diese Aufgabe traditionell an niemanden einfach so delegieren lässt. Sie lassen in gemütlicher Runde die Erlebnisse der letzten Wochen Revue passieren. Zum Beispiel als Stephan eines Abends den Rollladen in seinem Zimmer schließen wollte – in ihrem Schwedenhaus – und plötzlich von einem Paar großer Augen vor dem Fenster angestarrt wurde. Nach dem ersten Schreck erkannte er, dass der Besitzer des Augenpaars ein riesiger Elch war, der ungefähr genauso verdutzt in Stephans Gesicht glotzte. Wenn es im Winter sehr kalt wird, kommen immer wieder Elche in die Nähe der Siedlungen. Trotzdem ist es was Besonderes, wenn man mal einen zu sehen bekommt. Dass man dann plötzlich einem dieser Riesentiere mit einem Meter Abstand in die Augen schaut, ist schon etwas unerwartet. Die langen Erprobungsfahrten haben immer einen Touch von Abenteuer, das ist es ja, was Fred an diesem Job so liebt. Bei den Abschlussrunden auf der Fähre gibt es immer neue Geschichten zu erzählen. Und sie sind mit vielen Traditionen verknüpft, die die Gemeinde der Autotester wie Kitt verbinden. Als gegen zehn alle zu ihren Kabinen aufbrechen, geht Fred nochmal Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 41 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 zum Auto. Er möchte noch kurz etwas nachlesen, um für die Tests, die am nächsten Tag anstehen, gut vorbereitet zu sein. Die Funktionsbeschreibung hat er aber in einem Schnellhefter im Auto liegen lassen. Die Funktionsbeschreibung ist ein Dokument, in dem die Algorithmen der ACC-Software mit allen Variablen und Konstanten im Detail beschrieben sind. Was er sieht, als er das Fahrzeugdeck der Fähre betritt, gefällt ihm nicht. Ein Mann, groß, eher hager, fotografiert über die Motorhaube des einen S10 in den Innenraum. Als er Fred kommen sieht, macht er sich aus dem Staub. Er duckt sich nach wenigen Metern zwischen die abgestellten Autos. Da ist jede Verfolgung sinnlos. Was sollte Fred auch tun? Er kann ja niemandem verbieten, auf der Fähre Fotos zu machen, auch, wenn es ihm nicht passt. Was er an der Entdeckung hauptsächlich ungemütlich findet, ist die Tatsache, dass der Typ nicht einfach das Auto von außen fotografiert hat. Das machen normalerweise die Leute, die sich freuen, dass sie zufällig mal einen Erlkönig sehen. Das Verhalten des Unbekannten lässt eher auf einen Profi schließen, allerdings machen Fotos durch die Windschutzscheibe ja auch wieder weniger Sinn. Für einen Erlkönigjäger sind doch das Interessanteste am Inneren eines neuen Autos der Instrumententräger und die Mittelkonsole. Aus der Perspektive, die er bei seinen letzten Fotos hatte, konnte er davon aber nicht viel sehen, erst recht nicht mit der Tarnung. Nur sein Schnellhefter lag oben auf dem Armaturenbrett. »So what?« schließt er den Gedankengang ab, schnappt sich den Hefter und geht auch auf seine Kabine, natürlich nicht ohne vorher nochmal zu checken, dass alles bestens gesichert und abgeschlossen ist. Er kann sich ja nicht gut die ganze Nacht neben die Autos setzen und darauf warten, dass der seltsame Fotofritze dann doch nicht wiederkommt. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 42 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 *** Franz ist enttäuscht und frustriert. Gleich nachdem das Schiff abgelegt hatte, ist er wieder zu den Autodecks gegangen und hat die riesigen Hallen nach den S10 abgesucht. Eine halbe Stunde hat er sich zwischen den eng geparkten Autos durchgezwängt und sich dabei die Jacke total versaut. Dann hat er endlich diese blöden Karren gefunden, um festzustellen, dass da kaum was zu holen war. Jetzt, wo er wirklich ausgiebig Zeit gehabt hätte ein paar nette Bilder zu machen, war alles perfekt abgedeckt – zum Mäuse melken. Das einzige Ergebnis der Unternehmung ist die Firmenadresse dieses Fred Buck. In einem Auto lag ein Schnellhefter, auf dem eine Visitenkarte von diesem Buck klebte. Also ist er mit nur sehr kleiner Beute wieder abgezogen und hat sich zu seinem Ruhesessel begeben. Eine Kabine wollte er sich nicht leisten, was er aber jetzt bereut. Der Ruhesessel hat seinem Namen überhaupt keine Ehre gemacht. Ruhe sollte ja das Gegenteil von Lärm sein, ein Versprechen, das seine Ruhestätte auf diesem Schiff nicht einlösen konnte. Mit dem Wort Sessel assoziiert man gemeinhin ein gewisses Maß an Bequemlichkeit, eine Eigenschaft, mit der dieser Ruhesessel ebenfalls nicht glänzen konnte. Kurz, Franz hat während der Nacht kaum ein Auge zugetan und fühlt sich am Morgen der Ankunft in Kiel entsprechend unfit. Und wenn ein Tag schon mal bescheiden anfängt, dann geht er bei Franz auch so weiter. Er schafft es zwar direkt nach der Fähre an den Erprobungsautos dranzubleiben, obwohl die nicht langsam fahren. Aber zu seinen Fotos von deren Innerem kommt er den ganzen Tag nicht. Man merkt, dass die Ingenieure jetzt langsam auch die Nase voll haben und endlich nach Hause wollen. Sie gehen nicht mehr jedem Fehler bis ins Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 43 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 letzte Detail nach, was häufige Stopps erfordern würde, um Messdaten auszuwerten. Gerade auf solche Stopps hätte Franz aber gehofft. Vielleicht ein Foto mit dem Teleobjektiv, wenn irgendwo auf einem Rastplatz angehalten wird und mal eine Tür offen steht, oder noch besser, eine Gelegenheit, wenn die Besatzung eines Autos mal um die Ecke muss und für die kurze Abwesenheit nicht die komplette Tarnung sauber über den ganzen Innenraum drapiert. Aber nein, die IAAler halten während der ganzen Fahrt kaum mal an und bei der längsten Rast um die Mittagszeit ist die Tarnung der Autos wieder perfekt. Richtig übel ist aber etwas anderes. Gerade bei diesem Mittagsstopp wird er erwischt. Die Tester sind gerade in der Raststätte verschwunden, wahrscheinlich, um sich zum letzten Mal den Bauch mit Currywurst und Pommes vollzuschlagen, bevor ihnen ihre Frauen und Freundinnen daheim wieder gesunde Kost angedeihen lassen werden. Franz macht sich also sofort auf, um zu sehen, ob er diesmal gute Fotos bekommt, und dann kommt da der eine, den er schon in Schweden beobachtet hat, dieser Fred, nochmal raus. Hat wohl irgendwas vergessen – der Depp. Und Franz steht da im kurzen Hemd, eine Kamera in der Hand, die ihn klar als Profi ausweist. Sie zögern kurz, sehen sich an, Fred beschleunigt seinen Schritt wieder und Franz beschleunigt auch so gut er kann in die andere Richtung. Er rennt zu seinem Auto und schaut erst zurück, als er den Knopf für die Verriegelung der Fahrertür runterdrückt. Er ist froh zu sehen, dass ihm der Typ nicht hinterhergelaufen ist. Trotzdem hat er vermutlich das Kennzeichen seines Wagens gesehen. Das wird jetzt wahrscheinlich in der ganzen Firma bekannt gemacht. An eine weitere Verfolgung ist so nicht zu denken und überhaupt wird er jetzt nicht mehr so leicht in die Nähe der S10-Versuchsautos kommen. Er muss sich irgendwas einfallen lassen. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 44 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 *** Fred ist erstmal froh, wieder nach Hause zu kommen. Es ist Freitagabend und sie sind den ganzen Tag gefahren. Jetzt nur noch die Autos abstellen und dann nichts wie heim. Sie grüßen am Werkstor von IAA den Pförtner und der öffnet ihnen die Schranke. Nach wenigen Metern fahren sie rechts durch das große Rolltor in die sogenannte Einbauhalle, eine Mischung aus Autowerkstatt und Elektroniklabor. Es gibt mehrere Hebebühnen, die die Arbeit an den Versuchsfahrzeugen erleichtern, aber vom Boden könnte man essen, so sauber ist alles. Hier werden keine Ölwechsel gemacht oder Zylinderkopfdichtungen getauscht. Hier werden Sensoren und Messtechnik ein- und ausgebaut und Messdaten ausgelesen. Danach steht Fred und seinen Kollegen jetzt aber nicht mehr der Sinn. Beim Einfahren ins Werksgelände sind ihnen schon einige Kollegen winkend entgegengekommen, die auf dem Weg ins Wochenende waren, und genau dahin wollen sie jetzt auch. Die Ausrüstung, die Messdaten von der Heimfahrt und der Erprobungsbericht können gut bis nächste Woche warten. Fred nimmt nur die Tasche mit seinen Klamotten aus dem Auto und geht in die Tiefgarage, wo sein eigenes Auto steht – ein Audi A3. Er verlässt das Werksgelände, biegt einmal links ab, und da ist es wieder. Er greift automatisch zur Handbremse, um sich zu vergewissern, dass sie nicht angezogen ist. Sein Audi ist nicht untermotorisiert mit 130 PS, aber immer wenn er länger mit über 400 PS unterwegs war, hat er das Gefühl, er würde mit angezogener Handbremse fahren. Man gewöhnt sich eben an alles, auch an die tollsten Luxuslimousinen. Nach ein paar Monaten Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 45 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Einarbeitungszeit waren die für Fred zum Gegenstand seiner alltäglichen Arbeit geworden – meistens jedenfalls. Hin und wieder war sie aber doch noch groß, die Faszination. All diese Gedanken schießen ihm nicht durch den Kopf, als er auf dem Weg zu seiner Wohnung ist. Er freut sich darauf, Sandra wiederzusehen, seine Freundin. Mit ihr wohnt er seit zwei Jahren in einer kleinen Wohnung in Kornwestheim in der Nähe von Ludwigsburg. Fred kann es kaum erwarten. Er rennt die letzten Stufen hinauf zur Wohnung und schließt auf. Doch seltsam, alles ist dunkel. Es scheint niemand daheim zu sein, nur der Geruch nach Essen passt nicht zu der Szenerie. Fred versucht gerade einen klaren Gedanken zu fassen, da fährt er vor Schreck zusammen. Sandra springt mit einem lauten Schrei aus dem Badezimmer. Fred sitzt kreidebleich am Boden und bemüht sich, seinen Puls wieder unter 200 zu drücken. Sandra krümmt sich neben ihm am Boden – vor Lachen. Das ist ihr spezielles Spiel, sich gegenseitig erschrecken, aber so fies, zur Begrüßung nach dreiwöchiger Abwesenheit. Das ist schon der Hammer. Fred weiß immer noch nicht, ob er lachen oder weinen soll. Es dauert ein paar Minuten, bis er sich von dem Schrecken erholt hat. Aber schließlich gibt es doch sehr viel zu erzählen. Während der Erprobung hatten sie nur alle paar Tage telefoniert. Noch bevor Fred beginnen kann, von seinen Abenteuern in der Ferne zu erzählen, platzt es aus Sandra heraus. Sie hat schon mit Freunden über den nächsten Urlaub gesprochen und schwärmt Fred von einer Woche am Gardasee vor. Es soll schon in zwei Wochen losgehen. Da müsste es dort schon schön warm sein und sie könnten den beginnenden Sommer so richtig genießen. Dass Fred bei all den verheißungsvollen Schilderungen eher Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 46 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 still wird, bekommt sie zunächst gar nicht mit. Sie redet und redet über die geplante Reise, wo Fred doch gerade von einer längeren Reise nach Hause gekommen ist. Als er sie bittet, doch erstmal ankommen zu dürfen, bevor er gleich wieder die nächste Reise planen solle, reagiert sie eher verständnislos. Er solle sich doch freuen, dass sie alles organisiere und so weiter und so fort. Beinah wären sie gleich in einem Streit gelandet, aber sie schaffen es gerade noch, die Kurve zu kriegen und das Thema zu vertagen. Das ist zwar nur eine Schmalspurlösung, aber aus der Ferne betrachtet haben sie ja auch nur ein Schmalspurproblem. Es wird dann doch noch ein schöner Wiedersehensabend. Sandra hat schon Toast und Sahnemeerettich vorbereitet, und Fred hat ja auch was von dem leckeren schwedischen Lachs mitgebracht. Nach ein paar Bissen haben sie sich wieder lieb – Bissen ins Brot, Fred und Sandra beißen sich nicht gegenseitig – und mit der Zeit wird Fred auch noch ein paar Geschichten aus dem Norden los. Und dann geht es an diesem Abend früher als sonst in die Kiste. Am nächsten Morgen wacht Fred schon um sieben auf. Er döst noch etwas vor sich hin, betrachtet seine Freundin neben sich und freut sich auf den gemeinsamen Urlaub am Gardasee. Sandra und Fred passen gut zusammen. Sie ist absolut unabhängig, hat Germanistik studiert und sich danach einen guten Job in der Personalabteilung eines großen Pharmakonzerns erarbeitet. Fred und Sandra haben sich schon vor vielen Jahren bei einer Kletterausfahrt des Alpenvereins kennengelernt und seitdem den Kontakt nicht mehr verloren. Eine Beziehung wurde aus diesem Kontakt aber erst vor ungefähr vier Jahren, als sie beide schon im Studium waren. Meist ist sie die aktivere. Dann stellt sie Fred den gepackten Kletterrucksack oder den Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 47 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Tourenrucksack vor die Füße, mit der Ansage, dass er eine halbe Stunde oder auch eine Stunde Zeit habe, ebenfalls seinen Kram zu packen. Auf diese Weise hat sie Fred schon an manchem Wochenende davor bewahrt, vor dem Fernseher oder Computer zu vergammeln. *** Franz ist nach dem Vorkommnis auf dem Rastplatz den Rest des Heimwegs ganz gemütlich gefahren, obwohl ihm überhaupt nicht nach Gemütlichkeit zu Mute war. Er war frustriert wegen des Misserfolges und bemerkte, wie er sich immer mehr verkrampfte. Er hatte ja mehrere Tage in die Verfolgung der S10 investiert, um noch ein paar gute Bilder oder sonst noch geldwerte Informationen zu bekommen, und jetzt wollte er einfach nicht loslassen. Er wollte nicht akzeptieren, dass es das gewesen sein sollte mit diesem Projekt. Er wollte mehr wissen, aus professioneller und privater Neugier und aus einem noch privateren Ehrgeiz heraus. Genau dieser Ehrgeiz wirkte sich immer wieder negativ auf seine Coolness aus. Also zergrübelte er sich auf seiner gemütlichen Heimfahrt sein Hirn, wie er denn am besten an diesem Fred und seinen Kollegen dranbleiben könnte. Langsam wurde ihm dieser Typ immer unsympathischer, obwohl der doch nichts anderes getan hatte als Franz ein paar Tage Arbeit zunichte zu machen. Er spielte auf der langen Fahrt jede Menge mehr oder weniger abstruse Szenarien durch, wie er noch weitere Infos bekommen könnte. Während er so auf der mittleren Spur durch die Kassler Berge zuckelte, wäre er beinah von einem besonders »rücksichtsvollen« Verkehrsteilnehmer von der Straße gekegelt worden. Er hörte nur noch ein dumpfes Röhren, da war die Kiste auch schon fast vorbei. Dass es der peinlich aufgemotzte Cayenne war, den er schon in Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 48 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Arjeplog gesehen hatte, entging Fred dennoch nicht. Das war aber auch schon der größte Aufreger dieses Tages. Als er endlich die Tür seiner Wohnung in Kornwestheim öffnet, schlägt ihm der Geruch einer Wohnung entgegen, in der seit drei Wochen niemand mehr war. Vermischt mit einer leicht beißenden Note. Er geht in sein Wohn-Schlafzimmer und öffnet das Fenster. Er geht in die Küche. Jetzt wird die beißende Note stärker und dominiert den abgestandenen Geruch einer normalen Wohnung, in der seit drei Wochen niemand mehr war. Franz' Wohnung ist anders. Er hat vergessen vor seiner Abreise den Müll wegzubringen. Also entsorgt er dieses inzwischen eigentlich schon schützenswerte Biotop jetzt und reißt alle Fenster auf. Bald ist seine kleine Dachwohnung von frischer Luft durchströmt. Er kann sich also gleich wieder an die Arbeit machen. Er hat eines der nur mittelmäßig abstrusen Szenarien von der Heimfahrt zur Realisierung auserkoren. Doch als er seinen Briefkasten öffnet und flüchtig seine Post durchsieht, weiß er, dass er zuerst noch mit jeder Menge Ärger und Arbeit fertig werden muss. Auf einer einfachen weißen Karte steht fein säuberlich mit Schreibmaschine – wo bitte kann man überhaupt noch Farbband für Schreibmaschinen kaufen? – getippt: Sehr geehrter Herr Franz Schimmelbeck, wir müssen Sie leider erneut darauf aufmerksam machen, dass Sie letzte Woche Ihre Kehrwoche nicht gemacht haben. Bei Wiederholung drohen wir Ihnen Konsequenzen an. Hochachtungsvoll Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 49 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Die Hausgemeinschaft Das hat Franz gerade noch gefehlt, wegen Missachtung der Institution »Kehrwoche« von der Hausgemeinschaftsinquisition verfolgt zu werden. Dann lieber doch das Versäumte nachholen und das Treppenhaus eben jetzt putzen. Das Schild, das jedem klar ersichtlich macht, wer mit der Reinigung der allgemein zugänglichen Bereiche des Hauses an der Reihe ist, hat man an dem kleinen Nagel neben seiner Wohnungstür hängen lassen. Diese Mühsal bringt er hinter sich. Immer in der Gewissheit, dass ihn je ein aufmerksames Auge hinter den Wohnungstürspionen im ersten Stock links und im dritten Stock rechts beobachtet. Sollte er sich eine kleine Abkürzung vom vorgeschriebenen Kehrwochenweg erlauben, würden sich die dort beheimateten Damen sicher sofort bemühen, ihn wieder auf den rechten Weg zurückzuleiten. Nach diesem Nachmittag fühlt sich Franz endgültig urlaubsreif. Ein paar Tage im Süden und dann kann die Jagd nach dem S10 weitergehen. Er hat auch schon eine vage Idee, wie er das am besten anstellen könnte. *** Für Fred sind es zwei stressige Wochen. Nach der WE, so kürzen sie die Wintererprobung ab, gibt es immer viel zu tun und schon übernächste Woche soll sein Urlaub beginnen. Zuerst müssen die Autos ausgeladen werden. Neben den schon erwähnten Schneeschaufeln liegt noch einiger anderer Kram in den Kofferräumen verstreut. Roman, der Herr der Einbauhalle, führt ein strenges Regiment und duldet keine Unordnung. Er ist schon seit fast Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 50 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 dreißig Jahren bei der International Automotive AG und war einer der Ersten, die begannen ABS-Systeme im Winter in Schweden zu testen. In seinen ersten Monaten bei IAA hatte Fred beinahe Angst vor Roman und seiner brummigen Art, aber mit der Zeit lernte er seine absolute Zuverlässigkeit schätzen und es blieb ihm nicht verborgen, dass sich hinter der etwas groben Fassade ein gutmütiger Mensch versteckte. Fred hätte das so allerdings nie gesagt. Er hätte gesagt, Roman sei in Ordnung oder ganz ok. Dennoch oder gerade deshalb will er nicht mit dessen Ordnungsliebe in Konflikt geraten und gibt sich die größte Mühe, Verlängerungskabel, Starthilfegeräte, Adapterstecker, Klebeband und so weiter in ihre jeweils angestammten Schrankfächer zurückzulegen. Als Nächstes müssen die Daten, die sie während der letzten Wochen gesammelt haben, gesichert und ausgewertet werden. Ähnlich wie in der Einbauhalle in Schweden kann er auch hier die Messtechnik der Versuchsfahrzeuge direkt mit dem Computernetzwerk verbinden und so recht komfortabel die der Firma Messdateien auf Netzwerkverzeichnisse kopieren. Dort sind sie sicher, weil sich die ITAbteilung um regelmäßige Backups kümmert. Früher mussten alle Messungen mühsam per Diskette oder später USB-Stick kopiert werden. Mühsam – wegen der großen Datenmengen – und heute verboten. Disketten und USB-Sticks sind bei IAA nicht mehr erlaubt. Zu leicht ließen sich damit unbemerkt vertrauliche Informationen aus der Firma schaffen. Das Verbot wird sowohl mit Taschenkontrollen am Werkstor als auch mit Software überwacht, die die Benutzung von Wechseldatenträgern erkennt und automatisch der IT meldet. Nach ein paar Minuten sind die wertvollen Daten also auf das Laufwerk kopiert und die eigentliche Arbeit beginnt. Die Messungen müssen ausgewertet werden. Da muss das ganze Team zusammenarbeiten, das Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 51 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 heißt, dass nicht nur Fred, sondern auch Stephan und Uli die nächsten Tage hauptsächlich am Schreibtisch verbringen werden. Jede einzelne Messdatei muss mit der entsprechenden Software geöffnet werden. Anhand des Kommentars, den der Ingenieur eingetragen hat, als die Messung aufgezeichnet wurde, kann man erkennen, auf was man bei der Auswertung zu achten hat. Tritt zum Beispiel während der Fahrt ein Fehler auf, wird eine Messung ausgelöst und im Kommentar zumindest eingetragen, dass ein Fehler der Grund für die Messung war. Wenn bewusst ein bestimmter Test gefahren und dokumentiert werden soll, wird ebenfalls gemessen. Im Kommentar steht dann z. B. die Nummer des Tests, unter der dieser im sogenannten Fahrmanöverkatalog zu finden ist. So weit die Theorie zum Thema Kommentare in Messdateien. In der Praxis sind die Kollegen oder auch man selbst ab und zu einfach zu bequem für vernünftige, aussagekräftige Kommentare, was dann zu Unmut bei der Auswertung führt. Je nach Art der Messung muss man dann ein Messsignal nach dem anderen als Graph auf den Monitor holen und analysieren – die Fahrzeuggeschwindigkeit, den Status des Steuergeräts, einen eventuellen Fehlercode und so weiter. Eine recht mühselige Angelegenheit – vor allem, wenn man nicht so recht weiß, wonach man sucht. Besser ist es, wenn die Daten aus der Videomesstechnik kommen. Dann kann man zu reinen Messdaten auch noch einen kleinen Videofilm sehen, der von einer Kamera hinter dem Rückspiegel des Versuchsautos stammt. In dem Videobild sind die Objekte markiert, die der Radarsensor des ACC-Systems erkennt, und daneben werden die wichtigsten Systemdaten angezeigt. Sobald diese Messtechnik läuft, werden ständig die entsprechenden Daten in einem sogenannten Ringspeicher abgelegt, so dass man beim Auslösen der Messung auch noch Daten abspeichert, die schon eine Minute alt sind. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 52 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Den Rest der Woche sitzt das Team also im Großraumbüro und brütet über den Messdaten und dem Erprobungsbericht, der alle Ergebnisse so zusammenfassen soll, dass man sie möglichst auch in zwanzig Jahren noch versteht. Das Nette an diesen Zeiten im Büro ist, dass man da auch die Kollegen mal wieder trifft, die mit am gleichen Projekt arbeiten. Das sind hauptsächlich die Software- oder Funktionsentwickler, die – kurz gesagt – die Ergebnisse der Applikationsingenieure in neue Softwarestände für das Projekt fließen lassen. Das Projekt hat also die Aufgabe, das ACC an die Gegebenheiten beim neuen Hispano-Suiza San Remo anzupassen. Dabei sind die Schnittstellen zu den anderen Steuergeräten im Auto, zum Beispiel der Motorsteuerung oder dem ESP, eine der Hauptbaustellen. In den Autos von heute sind diese Steuergeräte über das Controller Area Network miteinander vernetzt – auch CAN-Bus genannt. Über dieses Netzwerk tauschen die Steuergeräte Informationen aus. Zum Beispiel sind an das ESP Raddrehzahlsensoren angeschlossen, aus deren Informationen das ESP-Steuergerät die Geschwindigkeit des Fahrzeugs berechnet. Diese Information versendet das ESP dann auf dem CAN, so dass sie beispielsweise vom Kombiinstrument dem Fahrer angezeigt werden kann. Auch das ACC muss natürlich die aktuelle Geschwindigkeit des Autos kennen, um die Tempomatfunktion zu gewährleisten. In der sogenannten CAN-Matrix ist festgelegt, welches Steuergerät welche Informationen in welchem Format sendet. Und diese CAN-Matrix ist eben nicht genormt, sondern bei praktisch jedem Auto unterschiedlich. Deshalb muss hier Anpassungsarbeit gemacht werden. Neben dem CAN gibt es in vielen Autos noch mindestens ein weiteres Netzwerk, über das die Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 53 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Diagnose läuft, dahinter verbergen sich auch die Funktionen, die in der Werkstatt gebraucht werden, um Fehler an den immer komplexeren Automobilen moderner Machart zu finden. Beim S10 gibt es dabei noch eine Besonderheit. Wenn ein Exemplar des S10 in der Fabrik fertig zusammengebaut ist, wird noch am Fließband mit einem geheimen Diagnosebefehl eine Prozedur gestartet, in deren Verlauf sich alle verbauten Steuergeräte mit einem Passwort bei einem zentralen Steuergerät anmelden. Das Passwort wird nach einem ebenfalls geheimen Verfahren berechnet. Der ganze Aufwand soll zweierlei bewirken: Man kann ein Steuergerät, zum Beispiel eine Motorsteuerung, nicht ohne weiteres aus einem S10 aus- und in ein anderes Exemplar einbauen, weil dann die Passwörter nicht mehr stimmen. Damit soll ein durchaus beliebter Geschäftszweig der organisierten Kriminalität abgeschnitten werden. Teilweise werden keine ganzen Autos mehr geklaut, sondern nur noch begehrte und teure Ersatzteile, oder geklaute Autos werden nicht im Ganzen weiterverschachert, sondern eben auch in Teilen, wobei die Elektronik am meisten bringt. Der zweite Effekt betrifft die Tuning- und Kilometerstandjustagebranche. Durch die eindeutige und gesicherte Identifizierung der Systeme in einem Auto kann man, wie schon besprochen, Steuergeräte nicht einfach austauschen, wenn man die Verschlüsselungsmechanismen nicht kennt. Das bedeutet auch, dass man das sogenannte Chiptuning nicht durchführen kann, weil dabei im Wesentlichen die Originalmotorsteuerung durch eine veränderte Version ersetzt wird. Eine getunte Software aufzuspielen geht ebenfalls nicht, weil dadurch das Passwort für das Zentralsteuergerät ungültig würde. Diese Auswirkungen der Verschlüsselung stellen auch einen weitgehenden Schutz vor Manipulationen des Kilometerstands dar. Jeder, der schon mal ein gebrauchtes Auto gekauft oder verkauft hat, weiß, dass ein Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 54 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 niedriger Kilometerstand bares Geld wert ist, auch wenn das Auto in der Realität schon viel mehr gefahren wurde. Der S10 soll in dieser Hinsicht Vorreiter bei dem bayrischen Fahrzeughersteller werden, unter dessen Konzerndach die Marke Hispano-Suiza läuft. Wenn die Einführung des komplizierten Systems bei dem Luxusfahrzeug, das nur in sehr kleinen Stückzahlen gebaut wird, geklappt hat, wird der gleiche Mechanismus auch in den Großserienmodellen des gleichen Herstellers angewendet. Am Donnerstag der zweiten Woche nach der WE kommt bei Fred jedenfalls langsam Urlaubsstimmung auf. Es sieht so aus, als würde er mit seinem Teil der Erprobungsnachbereitung halbwegs fertig. Dann muss er nur noch am Freitag die Gruppensitzung überstehen, ohne dabei vor Langeweile in ein dreiwöchiges Koma zu fallen. Bei diesen äußerst beliebten Veranstaltungen, die jede Woche immer freitags stattfinden, berichtet Freds Gruppenleiter, also sein direkter Chef, aus der grauen und neblig dumpfen Welt des Managements. Dabei geht es zu 90% um Themen, die einen stark narkotisierenden Effekt auf Fred und die meisten seiner Kollegen haben, zum Beispiel um die neueste Prozessverbesserungsinitiative. Jeder Mitarbeiter »darf« fünf Vorschläge machen, wie ihre Applikations- und Projektmanagementprozesse effektiver gemacht werden könnten, na wunderbar. In diesem Stil geht es in der Sitzung gerade weiter. Alle Teams sollen von den kürzlich absolvierten Erprobungen berichten. Auch dieser Punkt ist immer sehr beliebt. Was lief gut, was lief schlecht? Die letzteren Themen nehmen naturgemäß meist mehr Raum ein als die gut gelaufenen. Dann kommt der einzige spannende Punkt der Tagesordnung an die Reihe – der Bericht zum Stand der Projektakquise. Das ist natürlich schon Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 55 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 interessanter. Hier geht es darum, welche Projekte für die Gruppe in nächster Zeit anstehen könnten, wenn die Verkaufsverhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden können. Es macht für die Truppe natürlich einen gewaltigen Unterschied, ob ein neuer Rolls Royce oder die Neuauflage des Fiat Panda das wahrscheinlichere Nachfolgeprojekt ist, auch wenn man als Applikateur Luxusautos natürlich rein professionell und ganz cool sieht. Der letzte Tagesordnungspunkt des Meetings hat Fred also gerade rechtzeitig wieder aus der Narkose erwachen lassen. Wäre ja auch peinlich gewesen, wenn er als Einziger schnarchend im Besprechungsraum zurückgeblieben wäre. Jetzt möchte er nur noch kurz die letzten Mails checken und dann geht es ab in den Urlaub. In puncto Maileingang gibt es ja unterschiedliche Charaktere. Da sind zum einen die Cherry Picker, die tausende Mails ungelesen in ihrem Posteingang haben und immer nur die wichtigsten bearbeiten, in ständigem Kampf um Überblick. Fred dagegen gehört zu der Fraktion, der ein Posteingang mit mehr als zehn ungelesenen fast schon körperliche Schmerzen bereitet. Wahrscheinlich ist diese genetische Ausstattung in Zeiten zunehmender Nutzung Sozialer Medien mit unzähligen News-, Activity- oder Microblogstreams ein evolutionärer Nachteil. Das alles überlegt sich Fred in diesem Moment nicht. Er hasst es, einen vollen Posteingang zu haben, und vor dem Urlaub möchte er ihn am liebsten ganz leer haben. Vor der Gruppensitzung war er schon bei null ungelesenen Mails. Jetzt sind schon wieder drei neue da. In einer kündigt Roman an, dass am Montag Benzin für die Tankstelle der Einbauhalle geliefert wird. Er bittet darum, die Versuchsautos nicht in diesem Bereich abzustellen, damit der Tankwagen rangieren kann. Die zweite kommt von einem Kollegen, der einen Versuchsbericht verschickt, Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 56 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 der interessiert Fred jetzt nicht mehr so sehr und er betrifft ja sein Projekt auch nicht direkt. Die dritte Mail ist etwas seltsam: Von: [email protected] An: [email protected] Gesendet: Freitag, 13. April 2007, 14:38 Uhr Hallo Herr Buck, wir brauchen dringend Informationen zu Ihren Projekten, dem S10 und anderen. Rufen Sie uns sofort an: 0169 / 6783921012! Viele Grüße Freunde In der Tat zumindest etwas seltsam. Fred hat schon den Mauszeiger auf den Löschen-Button gestellt. Aber der reine Spam kann es auch nicht sein. Immerhin wissen seine neuen »Freunde«, dass er an dem S10Projekt arbeitet. Aber er ärgert sich über den Befehlston. Also wird die Mail wieder – und das hasst Fred wirklich – auf »ungelesen« gesetzt. Er wird dann irgendwann nach seinem Urlaub nochmal über einen Anruf nachdenken. All die anderen Fragen, die sich ihm bei dieser ungewöhnlichen Ansprache aufdrängen könnten, sind anscheinend auch schon im Wochenende. Jedenfalls wird sich Fred erst in ein paar Tagen mit ihnen beschäftigen müssen. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 57 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 *** Es ist Samstagvormittag und die Urlaubsreise beginnt. Fred sitzt am Steuer und fühlt sich wie Captain Kirk auf der Brücke der Enterprise. Neben ihm sitzt Sandra alias Lieutenant Ohura. Vor ein paar Monaten hat sich Fred einen Traum erfüllt. Er hat einen alten VW Bus gekauft, einen T3, Baujahr 1986, also den eher eckigen, mit 2,1l Hubraum, dem wassergekühlten Boxermotor und Automatikgetriebe. Trotz seiner Farbe, die man als Bundeswehrbraunmetallic beschreiben könnte, ist dieses Fahrzeug der perfekte Urlaubsgleiter. Der Motor blubbert fast so wie der Boxer eines älteren Porsche, obwohl er natürlich nicht sechs, sondern nur vier Zylinder hat, und er hat ausreichend Leistung. Die Multivan-Ausstattung umfasst neben einer Rücksitzbank, die sich in eine Liegefläche umbauen lässt, auch Fahrer- und Beifahrersitze mit je zwei Armlehnen. Wer darauf Platz nimmt, hat sofort dieses Enterprise-Feeling. Sie cruisen gemütlich über die A7 nach Süden und dann über den Fernpass nach Österreich. Von Innsbruck nehmen sie die alte Brenner Bundesstraße. Das hat Tradition. Diese Strecke fährt Fred seit er mit 16 zum ersten Mal mit Freunden an den Gardasee gefahren ist. Damals war Geldsparen die oberste Priorität nach möglichst viel Spaß haben, und deshalb kam die teurere Mautstrecke über die Autobahn mit der Europabrücke überhaupt nicht in Frage. Am frühen Nachmittag sind sie auf dem Brennerpass. Dort treffen sie die Freunde, mit denen sie den Urlaub verbringen wollen. Cindy und Bert sind aus Ingolstadt gekommen. Die beiden heißen eigentlich Hubert und Katrin. Aber Hubert sieht aus wie Bert aus der Sesamstraße, bis auf die Gesichtsfarbe, die ist bei Hubert natürlich nicht gelb. Weil aber Katrin Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 58 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 nichts mit Ernie gemein hat, musste sie eben in Cindy umbenannt werden. Stefan und Alexandra sind in München abgefahren. Sie heißen im richtigen Leben Stefan und Alexandra. Die vier sitzen schon vor ihrer Stammmetzgerei, wenn es so etwas geben kann, und essen die sehr traditionelle Urlaubsanfangs-Mortadella-Semmel. Nach der Stärkung geht die Fahrt weiter nach Bozen, Trento und von da nach Arco, das etwas nördlich des Gardasees liegt. Aus dem Sarcatal kommend überquert man am Ortseingang den gleichnamigen Fluss. Danach biegt man gleich rechts ab und folgt der kleinen gewundenen Straße, die parallel zur Sarca verläuft. Den ersten Campingplatz »Camping Arco« lassen die Freunde mit einem leichten Naserümpfen links – eigentlich rechts – liegen, so will es auch hier wieder die Tradition. Man geht immer auf den Camping Zoo. Der hat seinen Namen von ein paar erbärmlichen Käfigen, in denen einige bemitleidenswerte Tiere ein Dasein fristen, das nicht nur eingefleischten Tierschützern die Tränen in die Augen treibt. Doch die Tradition ist stärker als das Mitleid. Also biegt die kleine Karawane in die Einfahrt von Camping Zoo ein. Der Platz ist schön gelegen. Auf der einen Seite ist er durch das Flussbett begrenzt, auf der anderen erhebt sich imposant der Monte Colodri mit seinen knapp 300 Meter hohen Felsen. 99 Prozent der Leute auf dem Camping Zoo sind zum Klettern und oder zum Mountainbiken da. Die Surfer, die die dritte große Fraktion am Nordende des Gardasees stellen, bleiben meist in Torbole, wo es Campingplätze direkt am See gibt. Die schon oft erwähnte Tradition mag recht borniert erscheinen, für Fred bedeutet sie einen unbeschwerten Urlaub. Er hat hier nicht den Anspruch Neues zu entdecken. Er möchte in quasi gewohnter Umgebung Spaß mit seinen Freunden haben und Sport treiben. Die einzige Evolution der Tradition ist der Bus. In den ersten Jahren hausten sie in den damals noch sehr modernen Kuppelzelten. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 59 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Dann wurden die Zelte größer und jetzt haben sie ein festes Dach über dem Kopf. Auch die beiden anderen Paare müssen nicht mehr mit der Isomatte auf dem Boden schlafen. Das ist ihr Fortschritt in Sachen LagoUrlaub. Die Tage beginnen immer mit einer sehr entscheidenden Frage: Klettern oder Mountainbiken? Bert und Stefan sind die Biker. Fred ist eher der Kletterer. Trotzdem verbringen fast immer alle den ganzen Tag zusammen; auch, wenn sich die Frauen manchmal über das Zusammenglucken beschweren. Fred findet die Klettersteige rund um Arco toll. Die bieten ihm mit ihren Drahtseilen ein subjektives Maß an Sicherheit, und dennoch kann man sich auf extrem schweren Routen austoben. Der Klettersteig in Sarche gefällt ihm zum Beispiel sehr gut. Er geht durch eine ungefähr 300 Meter hohe, fast senkrechte Wand. Das Drahtseil ist an einigen Stellen mitten über glatte Felsplatten gespannt. Jeder Kletterer trägt natürlich einen Gurt, einen Helm und ein sogenanntes Klettersteigset, das aus zwei Karabinern besteht, die mit einem Seil verbunden sind. Dieses wiederum läuft durch eine Bremse. Ein Karabiner ist immer in das Drahtseil des Steigs eingehängt. Im Fall eines Sturzes rutscht der Karabiner daran bis zur nächsten Befestigung. Dann wird das Seil bis zum zweiten Karabiner durch die Bremse gezogen, was die Wucht des Sturzes stark dämpft und so die Belastung für den Körper und auch das Material reduziert. Fred hat das noch nie erlebt, was auch besser ist, denn trotz der guten Sicherung ist ein Sturz am Klettersteig nicht das, was man sich so im Allgemeinen wünscht. Der Sarche-Steig, der eigentlich einen anderen Namen hat, den sich Fred aber noch nie merken konnte, erfordert viel Kraft, weil er so wenig Tritte und Griffe bietet. In einigen Passagen bleibt dem Durchschnittskletterer nichts als das Eisenseil. Außerdem ist er saumäßig Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 60 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 ausgesetzt, was auf Hochdeutsch bedeutet, dass er extreme Tiefblicke bietet. Das ist der Aspekt, der Fred fast am meisten reizt. Er ist nämlich nicht annähernd so schwindelfrei, wie Lieschen Müller das von einem Kletterer erwarten würde, der nach einer harten Tour verschwitzt, aber unheimlich cool mit klimpernder Ausrüstung am Gurt in einem Biergarten aufkreuzt. Und weil er eben nicht so abgebrüht ist, freut sich Fred, wenn er seine Angst besiegen kann. Bei den Klettersteigen, die mit fixen Drahtseilen gesichert sind, kriegt er das eigentlich immer hin. Bei Wänden, die mit dem eigenen Seil abzusichern sind, gelingt ihm das meist nicht. Deshalb hat er insgeheim auch vor der Colodri-Ostwand Angst, die direkt an den Campingplatz grenzt. Da trifft es sich gut, dass er der Kletterer der Gruppe ist. So kann er die Klettervorschläge steuern. Und an diesem Tag setzt sich sein Vorschlag durch, an die Platten am See zu fahren. Fred weiß auch nicht, wie dieser Klettergarten wirklich heißt – Corno di Bò. Aber alle sagen »die Platten am See«. Die Freunde fahren alle zusammen in Freds Bus los. Die Strecke von Arco nach Riva sind sie schon gefühlte tausendmal gefahren, oft auch mit dem Fahrrad. In Riva halten sie sich links Richtung Torbole, das sie anschließend durchqueren, um am östlichen Seeufer entlangzufahren. Die Straße ist relativ eng und verläuft am steilen Seeufer. Nach dem Ortsausgang von Torbole fährt man noch durch einen Tunnel und folgt weiter der Uferstraße. Beim zweiten Tunnel ist man schon angekommen. Direkt über den Tunneleingang zieht sich eine riesige, relativ stark geneigte Felsplatte. Fred fährt auch noch durch diesen Tunnel, denn Parkplätze gibt es nur wenige und die liegen eben dahinter. Dann machen sie sich zu Fuß auf den Weg zurück durch den Tunnel. Das ist wahrscheinlich der gefährlichste Teil des Klettertags, denn die Röhren an Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 61 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 der Uferstraße sind eng und unbeleuchtet. Es ist der erste Tag des Urlaubs und alle wollen es erstmal ruhig angehen lassen. Deshalb steigen sie am Tunnelausgang angekommen gleich ein paar Meter ab, bis sie den kleinen Kiesstrand des Sees erreichen. Jetzt ist Zeit für eine kleine Stärkung und ein bisschen ausspannen. Sie liegen in der Sonne oder im Schatten der Zypressen und lassen es sich gut gehen, dösen etwas, essen, ratschen. Die Sonne scheint angenehm warm, aber nicht heiß. Das finden alle, nicht nur Fred, der den Winter am Polarkreis noch in den Knochen hat. Eine leichte Brise wiegt sanft die Bäume. Erst zwei Stunden später findet Freds zunehmendes Quengeln Gehör, und Stefan erklärt sich zu einer ersten Klettertour bereit. Die Kalksteinplatte ist ungefähr 30 Meter breit und 120 Meter hoch. Darüber sind ein paar Risse und Haken verteilt. Für sehr gute Kletterer gähnend langweilig. Fred ist kein sehr guter Kletterer. Ihm macht es Spaß, hier zu klettern, und er liebt die Szenerie direkt am Ufer des Gardasees. Mit etwas Klettern, viel Quatsch, Spaß und sehr relaxed vergeht der Nachmittag. Am frühen Abend kann Fred Sandra motivieren, ihn bei einer Tour durch die ganze Wand zu begleiten. Bis dahin waren alle Touren des Tages nach 30 oder 40 Metern zu Ende. Aber man kann auch weiter klettern, bis man ganz oben einen Gittermast erreicht. Von dort kann man auf einem kleinen Pfad wieder zum Fuß der Wand laufen. Aber so weit sind die drei noch nicht. Fred hat sich in das Doppelseil eingebunden und macht sich fertig für den Vorstieg. Ein Doppelseil besteht aus zwei Seilen, die aber parallel benutzt werden. Eigentlich ist die Wand relativ flach geneigt und eigentlich ist der Kalkstein auch recht griffig, was nicht bedeutet, dass es große Griffe gäbe. Im Gegenteil, an manchen Stellen gibt es eigentlich gar keine Griffe. Man tritt mit den Kletterschuhen in Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 62 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 kleine Dellen des Steins, stützt sich mit den Händen an der glatten Wand ab und verlässt sich auf ausreichende Reibung zwischen Gummisohle und Stein. Im untersten Teil ist dieser Stein allerdings durch die vielen Kletterer, die hier ihrem Sport nachgehen, schon recht glatt poliert. Hier hilft ein senkrechter Riss, der Griffe und Tritte bietet. Diesem Riss folgt Fred. Nach ein paar Metern erreicht er die erste Zwischensicherung – ein Haken, der in den Stein einbetoniert ist, sehr solide. Er hängt den einen Karabiner einer Expressschlinge in den Haken. In den zweiten klinkt er beide Stränge des Doppelseils ein, das er hinter sich herzieht. Erst jetzt ist er richtig gesichert. Sandra hat das Seil mit einem Halbmastwurf durch einen Karabiner an ihrem Gurt geschlungen und gibt immer gerade so viel Seil nach, dass Fred ungehindert weitersteigen kann. Im Fall eines Sturzes würde Fred unterhalb der Zwischensicherung vom Seil aufgefangen. Sandra könnte diesen Sturz wegen der Klemmwirkung des speziellen Knotens an ihrem Karabiner ohne Probleme abfangen. Das ist der Vorstieg. Fred klettert weiter und hängt alle paar Meter Sicherungen in die vorhandenen Haken ein. Nach fast 40 Metern erreicht er ein schmales Band. Hier macht er Stand. Er verbindet seinen Klettergurt direkt mit dem massiven Haken, der hier am Fels angebracht ist. Dann ruft er Sandra zu, dass er fixiert sei. Sie gibt das Seil aus dem Sicherungskarabiner frei. Nach wenigen Minuten hat Fred an seinem Standplatz eine gleichartige Sicherung für Sandra eingerichtet. Sie beginnt mit dem Nachstieg. Ihr Sicherungsseil kommt jetzt von oben. Sollte sie stürzen, würde sie sofort den Zug des Seiles an ihrem Klettergurt spüren und könnte dann die Tour an der gleichen Stelle fortsetzen. Auf ihrem Weg zu Fred sammelt sie an den Zwischensicherungen dessen Expressschlingen wieder ein. Während Sandra klettert, sitzt Fred bequem auf seinem Felsband und hat Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 63 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 etwas Muse, den Augenblick zu genießen. Die Sonne steht jetzt schon etwas tiefer und sorgt für eine angenehme Wärme auf seiner Haut. Sie taucht die Umgebung in einen goldenen Farbton. Der Gardasee glitzert; auf ihm ziehen unzählige Surfer ihre Bahnen, die die Ora nutzen. Praktisch jeden Nachmittag macht sie das Nordende des Sees zum Surferparadies. Ein kräftiger Wind aus Süden, der durch das sich verengende Tal beschleunigt wird. Fred hat Richtung Norden über einige Zypressen hinweg einen wunderbaren Blick auf Riva und Torbole, die durch den Monte Brione getrennt sind. Aber noch mehr als den Anblick liebt er den typischen Klettergeruch, den er jetzt wieder wahrnimmt. Der wird bestimmt durch den Geruch des Kalksteins und des Staubs, der sich in allen Spalten und Löchern des Felses sammelt, vermischt mit dem Geruch des Schweißes, der eben zum Sport gehört. Dieses Aroma ist hier in Italien sehr ähnlich wie im Altmühltal, wo Fred als Jugendlicher das Klettern gelernt hat. Für ihn ist er untrennbar mit Begriffen wie Freundschaft, Freiheit und sportlicher Spannung verknüpft. Fred betrachtet seine Freundin, die gleichmäßig und bedacht ihre Füße in die winzigen Trittmulden setzt und so sicher näherkommt. Nur noch wenige Züge, dann kann er sie mit einem Kuss begrüßen. Danach werden wieder Karabiner eingeklinkt und gesichert, Bandschlingen gewähren etwas Bewegungsfreiheit. Bevor Fred den Vorstieg der zweiten Seillänge beginnt, greift er in seinen Chalkbag und verteilt die Magnesia an seinen Händen. Das ist bei dieser Tour zwar einigermaßen sinnlos, weil es eh keine Griffe gibt, aber Fred ist so an diese Handgriffe gewöhnt, dass er nicht darüber nachdenkt. Außerdem sieht es immer irgendwie wichtig aus, in die kleine Stofftasche an seinem Gurt zu greifen. Der Standplatz nach der zweiten Seillänge ist deutlich weniger bequem. Hier gibt es kein Band zum Sitzen, man kauert sich einfach an die Platte Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 64 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 oder steht gegen den Zug einer Bandschlinge gestemmt darauf. Nach der dritten Seillänge ist das Ende der Tour beim Gittermast erreicht. Sandra und Fred beschließen, nicht den Abstieg zu Fuß zu nehmen, sondern über die Platten abzuseilen, aus reinem Genuss. Sie lösen das Seil von ihren Gurten. Hier oben gibt es ausreichend Platz, sich ohne Gefahr zu bewegen. Fred legt die beiden Stränge des Doppelseils um einen Fuß des Masts und verbindet sie mit einem Achterknoten. Die beiden losen Enden des Seils werden ebenfalls mit einem Achter verknotet. Dann nimmt er das ganze Seil in weiten Schlingen auf, bevor er es über die Platten nach unten wirft. Mit Hilfe ihrer Abseilachter können die beiden jetzt an dem Doppelstrang nach unten rutschen, das heißt sie laufen quasi rückwärts die Platten hinunter und werden dabei durch das Seil gehalten. Nacheinander gelangen sie so wieder zu ihrem zweiten Standplatz. Sie sichern sich an dem dort vorhandenen Haken. Dann beginnt Fred das Seil abzuziehen. Er löst den unteren Knoten und zieht an einem der Enden. Das ist immer etwas spannend, denn wenn sich das Seil unterwegs irgendwo verklemmt hat und sich nicht abziehen lässt, wird es kompliziert. Diesmal klappt es aber ohne Probleme. Bald kommt der obere Knoten in Sicht und Fred wundert sich, weil da irgendwas dranzuhängen scheint. Als er den Knoten direkt vor sich hat, sieht er, dass daran ein Zettel mit Klebeband befestigt ist. Sandra bemerkt den besorgten Blick ihres Freundes nicht, als dieser das Papier entfaltet und liest. Jetzt ist sie mit dem grandiosen Ausblick beschäftigt. In einer wahrscheinlich absichtlich krakeligen Handschrift steht auf dem Papier: Hallo Fred, ruf endlich an: 0169 / 6783921012! Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 65 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Das ist jetzt schon die zweite Aufforderung. Wir haben nicht so viel Geduld! Viele Grüße Freunde Als Fred die Telefonnummer sieht, stellen sich ihm die Nackenhaare auf. Er erkennt die Nummer aus der Mail, die er am Tag vor dem Urlaub in der Firma erhalten hat. Er hatte diese Mail als eine geschäftliche Anfrage verstanden. Jetzt wird ihm plötzlich klar, dass es hier anscheinend nicht nur um das Geschäft geht, sondern, dass ihn da jemand persönlich anspricht, in einer leicht bedrohlichen Art und Weise. Denn wer einen Zettel an ein Kletterseil hängen kann, der kann auch ganz andere Dinge mit diesem Seil anstellen. *** Franz sitzt in seinem Volvo und freut sich. Er hat sich zwei Wünsche auf einmal erfüllt. Er fährt in den Urlaub und er wird Julia wieder treffen. Das einzige kleine Problem besteht darin, dass Julia noch nicht weiß, dass sie mit Franz in den Urlaub fährt. Aber vielleicht muss sie das ja auch gar nicht erfahren. Franz sitzt jedenfalls in seinem Volvo und fährt gefühlt Richtung Süden, auch wenn es geografisch erstmal eher nach Osten geht. Er tuckert die A8 von Stuttgart Richtung München entlang. Den Flaschenhals rund um den Albaufstieg, an dem es oft Staus gibt, hat er schon hinter sich. Jetzt ist die Autobahn eher weniger stark befahren, und Franz beginnt sich zu Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 66 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 entspannen. Er freut sich auf die Fahrt an München vorbei, weiter Richtung Rosenheim und dann nach Österreich, Saalfelden, Zell am See. Wo andere ihr Urlaubsziel erreicht haben, hält es Franz nicht. Er fährt von Zell noch das kurze Stück nach Fusch. Das Wichtigste an Fusch ist für Franz der Zusatz »an der Großglocknerstrasse«. Für normale Leute ist Fusch nicht unbedingt ein Urlaubsort erster Wahl. Für einen Erlkönigjäger, der sowieso nie richtig Urlaub machen will, ist es erste Wahl – wegen der Großglocknerstrasse. Dabei handelt es sich um eine der längsten, wenn nicht um die längste, ununterbrochene Gefällestrecke in den Alpen. Das zieht die Testfahrer verschiedener Autohersteller an, die hier Bremsen und damit verbundene Systeme ihrer Fahrzeuge testen. Franz hat alles auf eine Karte gesetzt und Julia einfach eingeladen, ein paar Tage mit ihm in Fusch zu verbringen, um Autos zu jagen. Vielleicht täte sich ja etwas Interessantes auf. Dafür ist der Großglockner eigentlich immer ganz gut gewesen – etwas Interessantes auftun. Wer nicht wirklich exzellente Beziehungen hat, kann kaum abschätzen, wann welche Prototypen dort sein werden. Aber mit etwas Glück und Geduld, wie man sie am besten im Urlaub aufbringt, fährt einem dann doch manchmal ein lohnendes Objekt vor die Linse. Außerdem ist es gerade Anfang Mai und Franz hat im Internet nachgelesen, dass die Passstraße seit zwei Tagen geöffnet ist. Alle Entwickler, die eine Erprobung am Großglockner auf ihrem Programm stehen haben, mussten also bis jetzt warten. Die Chancen, wirklich ein paar lohnende Fahrzeuge zu sehen, könnten jetzt also höher als zu anderen Jahreszeiten sein. Als Franz am späten Nachmittag beim Gasthaus »Lampenhäusl« in Fusch ankommt, ist Julia schon da. Sie lädt gerade ihr Gepäck, das nur aus einer kleinen Reisetasche besteht, aus ihrem Auto aus. Sie fährt keinen alten Volvo. Sie scheint es irgendwie geschafft zu haben, Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 67 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 tatsächlich Geld mit diesem Job zu verdienen. Anders wäre der schicke MX5 nicht zu erklären. Franz ist ganz hin und her gerissen zwischen Julia und ihrem Auto. Nein, ganz so doof ist Franz dann doch nicht. Er kann seine Augen schon deutlich leichter von dem Mazda losreißen als von Julia. Die sieht einfach gut aus, leger gekleidet in Jeans und Turnschuhen, die Haare zu einem kleinen Pferdeschwanz gebunden, der bei jeder Bewegung etwas wippt. Franz ist richtig beschwingt, als er aus seinem Auto steigt. Weil um diese Tageszeit keine großen Jagderfolge mehr zu erwarten sind, beschließen sie, den Tag abzuhaken und ihn nett ausklingen zu lassen. Sie bringen das Gepäck auf ihre Zimmer und machen sich frisch. Julia scheint ein anderes Verständnis von »sich frisch machen« zu haben als Franz. Er ist nach fünf Minuten fertig und wartet vor der Pension. Nach weiteren fünf Minuten entscheidet er sich dann, noch eine kurze Runde zu gehen; eine gute Wahl, weil er sich anderenfalls eine halbe Stunde wartend um die Ohren hätte schlagen müssen. So kann er schon mal kurz die Lage checken. Zu seiner Zufriedenheit sieht er im ganzen Ort keine Versuchsautos oder Leute, die nach Testfahrern aussehen. Eigentlich wäre dieser Befund natürlich gar nicht zu seiner Zufriedenheit, aber wie schon erwähnt sieht Franz diesen Aufenthalt in Österreich eher als Urlaub denn als professionellen Jagdausflug. Wieder zurück beim Gasthaus muss er nur noch weitere fünf Minuten auf Julia warten. Als sie aus der Tür tritt, sieht sie für Franz genauso aus, wie bei ihrer Ankunft. Dabei übersieht er, dass Julia im Gegensatz zu ihm frisch geduscht ist und die Haare gewaschen hat. Er übersieht, dass sie noch vier andere Outfits anhatte, bevor sie dann doch wieder bei den gleichen Jeans und Turnschuhen geblieben ist, die sie auch schon zur Fahrt trug. Er übersieht, dass sie ihr neues Parfum aufgelegt hat und Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 68 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 dass sie die neue Halskette trägt. Das alles übersieht Franz, der sich kurz etwas Wasser ins Gesicht geworfen und den Deoroller benutzt hat, um sich »frisch zu machen«. Macht aber ja auch nichts, denn er fand Julia ja auch vorher schon attraktiv. Franz ergreift die Initiative und schlägt vor, nach Zell am See zum Abendessen zu fahren. Um die Abendsonne zu nutzen, nehmen sie Julias Auto. Nach ein paar Sekunden ist das Verdeck in seinem Kasten verschwunden und die Sonne wärmt ihnen angenehm den Nacken, als sie losfahren. Das Glück, das so eine Cabriofahrt bedeutet, bleibt ihnen weiter hold – ohne langes Suchen finden sie einen Parkplatz beim Grand Hotel, ganz in der Nähe des Sees. Sie sind sich schnell einig, noch ein paar Schritte auf der Uferpromenade zu machen, weil es zum Essen noch etwas früh wäre. Am Seeufer gibt es Tretboote, die an die Touristen verliehen werden, oder Ruderboote, die Einheimische zum Angeln benutzen. Sie laufen vom Ortszentrum gegen den Uhrzeigersinn um den See bis zur Segel- und Surfschule. Dort ist gerade eine Gruppe blutiger Surfanfänger dabei, ständig ins um diese Jahreszeit noch recht kühle Wasser zu fallen. Trotz der schönen Abendsonne fröstelt es Julia bei dem Anblick. Deshalb machen sich die beiden auf den Rückweg. Während der ganzen Zeit sprechen sie über dies und das. Es geht immer um ihren Job, manchmal um den Tratsch aus der Szene, sonst eher um die Fahrzeuge, die sie beide jagen. Aber nur um die Fälle, die sie auch schon verkauft haben, die also jeder Autointeressierte schon in diversen Zeitschriften abgedruckt sehen konnte. Das Gespräch läuft auf der gleichen Ebene wie der Smalltalk, den Franz mit jedem anderen Kollegen hätte haben können. Daran ändert sich auch während des gemeinsamen Abendessens in der Pizzeria »Zum Cäsar« nichts, und weil sie keinen Absacker mehr trinken, können auch dabei keine anderen Themen mehr Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 69 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 angeschnitten werden. Sie fahren also gegen 22 Uhr zurück nach Fusch und verabreden sich für den nächsten Morgen um 8 Uhr zum Frühstück, um dann über die weiteren Jagdpläne zu beratschlagen. Julia ist ja immer noch der Meinung, es gehe bei diesem Ausflug um die Erlkönigjagd. Pünktlich um 7:58 Uhr betritt Franz den Frühstücksraum und stellt fest, dass sich Julia wohl gerade noch frisch macht. Aber um 8:02 ist auch sie da. Draußen scheint schon die Sonne. Es verspricht wieder ein wunderschöner Tag zu werden. Um möglichst flexibel zu sein, entscheiden sie sich, eine 30-Tage-Karte, die nicht viel mehr als eine Tageskarte kostet, zu kaufen und zusammen mit einem Auto auf den Pass zu fahren. Gemeinsam auf der Lauer zu liegen reduziert natürlich die Chancen zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein beträchtlich, aber es macht auch beträchtlich mehr Spaß. Sie vereinbaren außerdem, für diesen Trip gemeinsame Sache zu machen. Um Streit zu vermeiden, wollen sie beide die eventuelle Ausbeute vermarkten und sich den Erlös brüderlich teilen. Franz fände in diesem Zusammenhang »Streit vermeiden« sehr gut; »brüderlich« dagegen eher schlecht. Nachdem diese Details geklärt sind, entbrennt eine kleine Diskussion über das in puncto Tarnung bessere Fahrzeug. Was fällt zur Urlaubszeit auf einem österreichischen Alpenpass weniger auf – ein alter Volvo oder ein schicker grüner Roadster? Nach einigem Hin und Her finden die beiden einen Kompromiss, bei dem Franz das Gesicht wahren kann. Auch der Volvo wäre ein geeignetes Auto, wenn er denn bis zur Dachkante beladen und mit mindestens zwei Kindersitzen ausgestattet wäre. Weil Franz' Volvo diese Zusatztarnung aber nicht aufbieten kann, fällt die Entscheidung zu Gunsten von Julias MX5 aus. Einen gravierenden Nachteil, den beide während ihrer Diskussion außer Acht gelassen Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 70 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 haben, hat der Mazda. Er hat viel weniger Platz. Das fällt erst auf, als neben den zwei Fahrzeuginsassen auch noch zwei Fototaschen neben dem Auto auf dem Parkplatz stehen. Die würden natürlich ohne Probleme in den Kofferraum passen, aber so richtig griffbereit ist die Ausrüstung dort freilich nicht. Weil Julia fährt, verschwindet ihre Fototasche im Kofferraum und Franz nimmt seine auf dem Beifahrersitz zwischen die Beine, nicht ohne deutlich vernehmbar vor sich hin zu grummeln. Aber eigentlich sind beide gut gelaunt, als sie losfahren. Sie wollen zuerst zum Hochtor, dem Scheitelpunkt des Passes. Bis da hin haben sie immerhin fast 25 Kilometer und ungefähr 1700 Meter Höhenunterschied zurückzulegen. Dort oben gibt es einen Parkplatz, auf dem sie sich auf die Lauer legen wollen. Sie genießen die Fahrt mit offenem Verdeck und die Unterhaltung geht endlich mal nicht nur um Autos, sondern auch über die beeindruckende Natur, durch die sich diese Straße windet. Entlang des Fuschertals stehen einige der höchsten Berge Österreichs, alle deutlich über 3000 Meter hoch. Im Frühjahr sind die Hänge noch bis relativ weit ins Tal zugeschneit und nach wenigen Kilometern haben auch Julia und Franz die Schneegrenze erreicht. Die Straße ist frei, nur hier und da läuft etwas Schmelzwasser über die Fahrbahn. Aber mit zunehmender Höhe verläuft die Straße bald zwischen zwei immer höher werdenden Schneewänden. Die Passstraße muss hier mit Schneefräsen freigelegt werden. Das würde einerseits spektakuläre Bilder geben, andererseits ist es umso schwerer, einen Prototypen sauber vor die Linse zu bekommen, wenn die Sicht derart eingeschränkt ist. Auf dem Rastplatz beim Hochtor angekommen, steigen beide erstmal aus und sehen sich um. Das Wetter ist toll, die Aussicht umwerfend, aber der Parkplatz leer. Es ist allerdings auch erst 10 Uhr und der Tag ist noch Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 71 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 jung. Zurück im Auto packt Franz seine Kamera aus und montiert eine 85 Milimeter Festbrennweite. Für die Entfernungen auf dem Parkplatz erscheint ihm das gerade recht und wenn ein Objekt doch mal etwas weiter entfernt sein sollte, hat die Kamera immer noch ausreichend Auflösungsreserven, um später Ausschnitte entsprechend vergrößern zu können. Auf sein zweites Kameragehäuse montiert er ein 28-200 Milimeter Zoom, um seine Flexibilität noch etwas zu erhöhen. So und dann sitzen sie da und warten – zunächst schweigend. Gegen 11 Uhr beginnt Julia über einen weiteren Nachteil der MX5-Variante zu sprechen, den sie bei ihren Erörterungen am Frühstückstisch ebenfalls außer Acht gelassen hatten – das dünne Roadsterverdeck isoliert nicht besonders gut – eigentlich fast gar nicht. In der warmen Gaststube, einige hundert Höhenmeter tiefer im Tal hatten sie einfach verdrängt, dass es hier oben doch noch recht frostig sein würde, und jetzt bekommen sie langsam kühlere Köpfe, als ihnen lieb ist. Die Tatsache, dass überhaupt kein Verkehr auf der Straße ist, die sie immer gut im Blick haben, trägt auch nicht gerade zur Erwärmung bei. Nach einigem Lamentieren und gegenseitigem Bemitleiden wird die Mittagspause herbeigeredet. Julia lässt den Motor an und steuert das Auto Richtung Kaiser-Franz-JosefsHöhe. Das ist das touristische Highlight des Passes. Direkt oberhalb des Pasterzengletschers und gegenüber dem Grossglockner gibt es verschiedene Restaurants, ein Besucherzentrum mit Museum und natürlich auch diverse Geschäfte, die Nippes an die Touristen verkaufen. Eigentlich also der ideale Ort, um in unberührter Natur einen romantischen Spaziergang mit einer Frau zu machen, die noch eine gute Bekannte ist, der Mann aber eine andere Rolle zugedacht hat. Angesichts der widrigen Temperaturen und der wüstengleichen Leere in ihren Mägen treten derlei Überlegungen in den Hintergrund. Immerhin machen sie Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 72 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 noch die paar Schritte vom Panorama-Restaurant, wo die meisten der Busgruppen stranden, hinauf zum Kaiser-Franz-Josef-Haus. Franz ist mit der Lage sehr zufrieden. Es ist warm, eine heiße Fritattensuppe und ein Schnitzel sind bestellt, und die Aussicht ist sehr viel besser als bei McDonalds in Ludwigsburg – touristischer Großbetrieb hin oder her. Der Mittag verläuft ruhig und harmonisch. Langsam werden sich Franz und Julia wärmer miteinander. Immer öfter ist Persönliches Gegenstand der Gespräche und seltener der übliche Smalltalk unter Kollegen. Nach einem Espresso brechen die beiden wieder auf, um noch den kurzen Weg zum sogenannten Kaiserstein zu gehen, der zum Gedenken an den Besuch des österreichischen Kaisers Franz-Josef mit seiner Sissi an dieser Stelle aufgestellt wurde. Jetzt hat der geneigte Leser auch eine Ahnung, warum dieser Ort Kaiser-Franz-Josefs-Höhe heißen könnte. Erst als sie sich wieder dem Parkplatz nähern, kommt plötzlich Hektik auf. Direkt neben ihrem Auto steht tatsächlich ein gut getarnter Erlkönig. Julia hat ihn zuerst gesehen und rennt nach einem kurzen Ruf auch gleich los, denn das Objekt der Begierde rollt gerade rückwärts aus der Parkbucht. Franz gibt sich alle Mühe mitzuhalten. Er will ja nicht gleich Punktabzug wegen körperlicher Unfitness bekommen. Ein weiteres Handicap, wenn wir Franz' körperliche Defizite mal doch aus objektiver Sicht als Handicap werten, ist die Tatsache, dass die Fotoausrüstung im Kofferraum liegt. Aber wer würde schon sein Arbeitsgerät im Wert von mehreren tausend Euro auf dem Beifahrersitz liegen lassen? Bis Franz also mit seinen Kameras bewaffnet neben Julia im Auto sitzt, vergehen weitere wertvolle Sekunden. Aber Julia schafft es durch eine unauffällige, aber zügige Fahrweise Boden gut zu machen. Bis sie nach ein paar Kilometern die Abzweigung von der eigentlichen Grossglocknerstrasse erreicht haben, Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 73 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 ist er in Sichtweite, und zu ihrem Glück biegt das Auto nach rechts Richtung Heiligenblut ab. Das bedeutet, dass es sehr wahrscheinlich auch wieder zurückkommen wird. Sie konnten deutlich deutsche Kennzeichen erkennen, und die deutschen Autotester übernachten fast immer nördlich des Passes in der Gegend von Zell am See, weil das einfach für An- und Abfahrt näher ist. Julia biegt also nach links ab und fährt zum Hochtor. Direkt vor dem Tunnel gibt es einen Parkplatz, auf dem sie das Auto so postiert, dass sie die Straße gut einsehen und auch schnell wieder losfahren können. Franz hatte gerade noch ein paar eher wackelige Bilder von dem Versuchsauto gemacht. Jetzt ist etwas Zeit, diese ersten Schnappschüsse zu untersuchen. Vielleicht lässt sich ja darauf schon etwas erkennen, das auf den Hersteller und vielleicht den Typ des Fahrzeugs schließen lässt. Trotz der Tarnung, die auch die Silhouette verschleiern soll, ist zu sehen, dass es sich wohl um einen Porsche handelt. Details wie Felgen oder die Form der Außenspiegel deuten darauf hin. Der Radstand ist allerdings recht lang – vielleicht eine verlängerte Version des Panamera? Sie diskutieren und debattieren. Die Wartezeit verkürzt sich damit, und das Gesprächsthema ist jetzt wenigstens erstmal gesichert. Beide sind sich einig, dass sich dieses Motiv lohnen könnte. Es ist zwar kein grundlegend neues Modell, aber sie haben von dieser Variante auch noch nie gehört und Bilder sind sicher noch keine veröffentlicht worden. Wenn sie jetzt noch etwas Glück haben, sind die paar Tage in Österreich schon locker finanziert. Nach ungefähr einer halben Stunde, in der das Adrenalin der Kälte keine Chance gelassen hat, kommt der Porsche tatsächlich zurück. Franz hat seine Kamera schussbereit und schafft drei Bilder von vorne, während Julia das Auto anlässt und die Verfolgung aufnimmt. Auf der Strecke gibt Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 74 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 es ein paar Kehren, in denen noch Bilder von der Seite möglich sind. Aber wichtiger wäre es, nicht als Fotografen entdeckt zu werden und dranzubleiben. Denn gegen drei in Ruhe geschossene Bilder, wenn das Auto steht, sind in den meisten Fällen auch 50 wackelige Schnappschüsse aus einem fahrenden Auto nichts. Sie fahren den ganzen Weg ins Tal bis Bruck, vor dem Hotel Lukashansl hält der Wagen an. Es dauert noch ein paar Minuten, in denen die Ingenieure wahrscheinlich noch Messdaten speichern. Dann steigen die beiden Insassen aus und betreten den Gasthof. Franz wartet noch etwas, aber alles bleibt ruhig. Es ist ja erst Nachmittag, einen Blitz braucht er nicht und es sollte nicht ungewöhnlich sein, dass mal ein Tourist mit einem Fotoapparat vorbeiläuft. Zuerst schießt er ein paar Fotos im Vorbeigehen von der Straße aus, ohne genaues Zielen, einfach aus der Hand. Wenig präzise, aber sehr unauffällig. Erst dann sucht er sich die beste Perspektive und Ausrichtung zur Sonne, um ein paar gezielte, qualitativ hochwertigere Bilder zu machen. Erst ganz zum Schluss geht er direkt zu dem Auto und fotografiert direkt den Innenraum. Jetzt ist auch klar, dass es sich tatsächlich um eine Variante des Panamera handelt. Das Cockpit ist nicht getarnt und entsprechend leicht wiederzuerkennen. Im Fond ist tatsächlich deutlich mehr Platz als in der Standardversion und es scheinen ein paar zusätzliche Extras einer Businessversion in diesem Fahrzeug eingebaut zu sein. Ohne weiter aufzufallen kehrt Franz zu Julia zurück, die in ihrem Auto gewartet hat. Er ist bester Laune. Bei ihrer Rückkehr in den Gasthof in Fusch, verabreden sich Franz und Julia zum Abendessen. Nach einem üppigen Festmahl, das mit einem leckeren Dessert aus Topfenpalatschinken endet, wollen sie ihren Fang Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 75 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 näher begutachten. Franz holt seine Kameras aus dem Zimmer, dann treffen sie sich in Julias Zimmer. Sie wollen ihre Beute nicht in der Öffentlichkeit des Restaurants oder einer Gaststube zerlegen, auch wenn diese Prozedur in ihrem Fall unblutig vonstatten geht. Julia hat schon ihren Laptop aufgebaut. Schnell wird klar, dass die ersten Schnappschüsse, die noch aus dem fahrenden Auto aufgenommen wurden, nicht zum Verkauf an Agenturen oder Magazine taugen. Die Bildausschnitte sind schlecht, was sich korrigieren ließe, aber sie sind auch unscharf. Von den Bildern, die Franz im Vorbeigehen vor dem Hotel der Autotester aufgenommen hat, ist eines sogar ganz gut geworden. Es zeigt das Fahrzeug recht deutlich, aber auch noch etwas Umgebung. Damit könnte man eine Story, die nicht nur das Auto, sondern zusätzlich die geheimen Erprobungen der Erlkönige zum Inhalt hat, gut ausschmücken. Wenn es darum geht, das Auto zu zeigen, sind die anderen Bilder, die am Schluss gezielt aufgenommen wurden, sehr gut. Die Fotos vom Innenraum sind dann noch das i-Tüpfelchen. Die beiden Profifotografen sind sich schnell einig, aus welchen Dateien sie ein Paket schnüren wollen, das sie potentiellen Kunden anbieten können. Sie packen diese Bilder in geringer Auflösung als Kostprobe in eine Mail, die sie mit der Bitte um Angebote für exklusive oder nicht-exklusive Veröffentlichung an die üblichen Adressaten verschicken. So, geschafft. Franz sieht Julia an. Er will gerade zu einer weiteren Runde belangloser Konversation ansetzen, kann sich aber gerade noch beherrschen. Stattdessen küsst er Julia einfach auf den Mund. Und siehe da, es kommt keine Abwehrreaktion. Jetzt wird Franz etwas sicherer und kippt Julia einfach rückwärts auf das Bett. Die ganze Zeit hatten sie nebeneinander auf der Bettkante vor dem kleinen Tischchen mit dem Laptop gesessen. Das Vorspiel dauert lange und ist sehr vorsichtig und Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 76 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 zaghaft. Beide sind unsicher, wie es jeweils weitergehen soll. Aber als die letzten Zweifel über die gemeinsamen Absichten überwunden sind, geht der Rest dann eher schnell und ist – bis auf etwas Akrobatik – nicht übermäßig spektakulär. Nach einer Weile gemeinsamen Schweigens fragt Julia, wie Franz denn auf diese ungewöhnliche Stellung gekommen sei. Er beginnt daraufhin vom Beginn seiner Fotografenausbildung zu erzählen. Er habe schon als Jugendlicher gerne fotografiert, durch Zufall sei er in Kontakt mit einem Fotografen gekommen, der ihn immer wieder zu Shootings mitgenommen habe. Und dieser Fotograf sei durch Zufall von der Aktfotografie zu Porno-Shootings gekommen. Was wiederum dazu führte, dass der schüchterne und eher zurückhaltende junge Franz seinem Lehrmeister regelmäßig bei derartigen Aufnahmen assistierte, wobei er nicht nur für die Fotografie wichtige Grundkenntnisse erwarb, sondern sich auch sonst den einen oder anderen Trick abschaute. Bei der Schilderung seiner Lehrjahre mussten beide viel lachen. Dann wurde es ruhiger und sie schliefen aneinandergekuschelt ein. Am Morgen wacht Franz bestens gelaunt, aber auch etwas verwirrt auf. Wie wird das jetzt weitergehen? War das nur was für eine Nacht? Beim Frühstück weichen beide diesen Fragen konsequent aus. Oder auch nicht. Sie stecken die Randbedingungen ab. Julia meint, sie müsse spätestens in drei Tagen zurück in München sein und dann nochmal für ein paar Tage weg. Franz erzählt auch, was er so vorhat. Er könne sich weiter um den Verkauf der Bilder von dem Panamera kümmern und dann wolle er auch nochmal zurück nach Ludwigsburg. Er sei da an einer sehr interessanten Sache dran. Entgegen allen Regeln – aber sie sind ja auch gerade erst dabei die Regeln ihrer Beziehung neu zu definieren – berichtet er dann von dem S10-Projekt, an dem er dran ist. Dass er den Namen eines der Entwickler von der International Automotive AG Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 77 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 herausbekommen habe, und dass er den suchen wolle, um mehr über das Projekt herauszubekommen. Irgendwie scheint Julia diese Regeländerung zu irritieren. Sie wird plötzlich recht einsilbig, beendet hastig das Frühstück und verabschiedet sich auf ihr Zimmer zum Zähneputzen. Franz bleibt etwas ratlos am Frühstückstisch zurück. Sorgen macht er sich allerdings erst, als Julia nach einer Viertelstunde mit ihrem Gepäck zurückkommt, ihm erklärt, dass sie sofort nach Hause müsse, und sagt, er solle sich keine Sorgen machen, es sei alles in Ordnung. Der kurze Abschiedskuss kann diese Sorgen dann auch nicht wirklich zerstreuen. *** Fred lässt sich weiter nichts anmerken, das heißt, er versucht sich nichts anmerken zu lassen, obwohl ihm die seltsame Nachricht am Kletterseil freilich die ganze Zeit nicht aus dem Kopf geht. Sandra bekommt natürlich mit, dass irgendwas nicht stimmt, und erkundigt sich danach. Mit Freds Beteuerungen, dass es ihm gut gehe und dass alles in bester Ordnung sei, will sie sich aber nicht einfach abspeisen lassen. Sie fragt weiter nach. Fred antwortet im Inhalt immer gleich, aber immer genervter. Die Situation wird zusehends unentspannter. Zum Abendessen fährt die ganze Clique mit den Fahrrädern ins Zentrum von Arco zu ihrer Lieblingspizzeria. Aber auch hier kann sich Fred nicht entspannen. Er überlegt die ganze Zeit, was denn wohl zu tun sei. Einfach die angegebene Nummer anrufen? Einen seiner Kollegen anrufen und um Rat fragen? Seinen Gruppenleiter anrufen und den fragen, was er von der Sache hält? Alles hat irgendwie Nachteile. Einfach eigenmächtig in einer geschäftlichen Sache – es wurde ja auf ein Projekt Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 78 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Bezug genommen – handeln? Die Kollegen mit in die Sache reinziehen? Irgendwie neugierig ist er natürlich auch, um was es denn da gehen könnte. Nur die Sache mit dem Kletterseil hat auch etwas Bedrohliches. Vielleicht ist das Ganze auch kein Spaß, sondern eher das Gegenteil. Er grübelt hin und her. Nur eines weiß er langsam immer sicherer: Er muss irgendwas tun. Sonst wird er noch verrückt. Gerade als er mit dem Rand seiner Pizza fertig ist – Fred isst Pizza immer in Kreisen, erst den Rand und dann weiter im Kreis bis zur Mitte –, hat er einen Entschluss gefasst. Ohne Kommentar steht er auf und verlässt das Restaurant. Die ungläubigen Blicke seiner Freunde bemerkt er dabei nicht. Vor der Tür kramt er sein Handy und den Zettel mit der Telefonnummer aus seiner Hosentasche. Er muss nicht besonders tief in sich hineinhorchen, um festzustellen, dass er sehr nervös ist, als er die Nummer des unbekannten Nachrichtenschreibers wählt. Es knackt ein paar Mal, dann klingelt es. Nach einer Weile, die Fred wie eine Ewigkeit vorkommt, wechselt der Ton zum Besetztzeichen. Fred starrt sein Telefon an. Es geht keiner dran? Da machen die so einen Aufstand und dann geht keiner dran? Jetzt hat er ein noch komischeres Gefühl als vorher. Einerseits hat er nach wie vor keine Ahnung, wer da was von ihm will. Andererseits ist er der Aufforderung ja zunächst nachgekommen. Mit dieser letzten Überlegung beruhigt er sich erstmal etwas und kehrt zu seinen Freunden zurück. Die müssen sich mit der knappen Auskunft zufrieden geben, dass er mal telefoniert habe. Dafür bekommen sie einen wesentlich besser gelaunten Fred zurück, der nach dem ersten Kreis der Hölle nun den zweiten Kreis seiner ultrascharfen Pizza Inferno in Angriff nimmt. Er entspannt sich langsam und findet zu alter Form zurück. Nach dem Essen schieben sie die Räder durch die kleine Fußgängerzone. An einer der Eisdielen gibt es noch den obligatorischen Nachtisch in der Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 79 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Waffel. Dann radeln sie die dunkle, kleine Straße entlang, die sich zwischen den Boulderfelsen hindurch Richtung Campingplatz schlängelt. Plötzlich ist es mit Freds Entspannung vorbei. Sein Handy klingelt. Er stoppt abrupt sein Mountainbike und kramt in der Tasche nach dem Telefon. Die anderen fahren weiter. Fred war der Letzte. Sie haben nicht bemerkt, dass er angehalten hat. Endlich hat er das Gerät gefunden. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals, als er sich meldet. Eine ihm sehr vertraute Stimme fragt ohne große Umschweife, ob er denn Kartoffeln brauche. Der Bauer würde morgen kommen und da könne man doch gleich mehr kaufen, damit er auch etwas Vorräte daheim habe. Fred kann nicht anders. Er schreit seine Mutter an, was sie denn jetzt um 22 Uhr abends wegen diesem Schmarrn bei ihm anrufe. Seine Mutter erkundigt sich etwas beleidigt, ob es ihm denn sonst gut gehe, und hängt dann recht schnell auf. Das heißt, sie hängt natürlich nichts mehr auf. Auch sie hat ein modernes Telefon, bei dem man einen Knopf drückt, um ein Gespräch zu beenden. Als Fred weiterfährt, fühlt er sich wie ein alter Mann mit Herzbeschwerden – kein Wunder nach diesem Stress. »Nochmal telefoniert«, teilt er seinen Freunden mit, als er ermattet vom Rad steigt. Die haben Fred für diesen Abend eh schon abgeschrieben und reagieren nicht mehr auf seine seltsamen Anflüge. Sandra erzählt er immerhin noch, dass ihn seine Mutter wegen Kartoffeln genervt habe. Bis zum nächsten Morgen bleibt alles ruhig. Fred kann sogar einigermaßen schlafen, aber so richtig Spaß macht ihm dieser Urlaub nicht mehr. Jetzt geht die Grübelei wieder los. Er fühlt sich ständig beobachtet. Diese Typen, die da was von ihm wollen, waren ja schon sehr nah an ihm dran. Da ist es doch wahrscheinlich, dass sie immer noch in der Nähe sind. Oder sollte das alles ein doofer Scherz seiner Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 80 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Kumpels sein? Fred wird versuchen, die Nummer nochmal anzurufen. Er verabschiedet sich zur Morgentoilette – sonst gar nicht sein Stil – Richtung Waschräume. Hinter dem Sanitärgebäude sucht er sich einen ruhigen Platz und telefoniert. Eigentlich rechnet er fast damit, dass wieder niemand abhebt, als sich plötzlich eine Stimme meldet: »Ja?« Fred sagt nur seinen Vornamen. Da erklärt ihm der Typ am Telefon, dass er ihn in drei Tagen treffen möchte, zu Hause in Freds Wohnung um 10 Uhr, allein – wirklich allein. Auf Freds Frage, um was es denn gehe und warum er der Aufforderung nachkommen solle, wird ihm erklärt, dass er keine Optionen habe und einfach mitspielen müsse. Das sei alles kein Spaß. Das ist natürlich nicht die Art Erklärung, mit der Fred etwas anfangen kann. Zuletzt sagt ihm sein Gesprächspartner noch, dass er jetzt aber doch erstmal seine Zähne putzen solle, und wenn er sich richtig waschen wolle, brauche er noch ein Handtuch. Das habe er noch vergessen. Diesen letzten, guten Rat fasst Fred ganz klar und sehr richtig als weitere Drohung auf. Er wird offensichtlich beobachtet, und der Beobachter kann nicht weit entfernt sein. Er sieht sich unwillkürlich um, aber natürlich ist da niemand zu sehen, der ihn observiert. Fred ist klar, dass er die Forderungen dieser Typen nicht einfach ignorieren kann. Seltsam ist nur, dass er die Stimme irgendwie sympathisch findet, nicht bedrohlich. Jetzt hat er gleich mehrere Probleme. Eigentlich wollten sie erst in fünf Tagen nach Hause fahren, wie soll er denn bitte eine vorzeitige Abreise einfädeln? Dann gibt es da weiter die Fragen, ob er seinen Chef oder Kollegen einbeziehen soll, um mehr Klarheit zu bekommen, wie er sich verhalten solle. Oder soll er seine Freunde einweihen, aber die haben ja keine wirkliche Ahnung von dem Projekt, an dem er arbeitet. Und was wirklich eklig ist, ist der Treffpunkt in seiner Wohnung. Das setzt dem bisher schon unangenehmen Gefühl, das diese Sache in Freds Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 81 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Magengrube hinterlässt, noch einen drauf. Irgendein neutraler Treffpunkt, zum Beispiel in Stuttgart beim Starbucks im Königsbau, wäre ihm sehr viel lieber gewesen. Aber wahrscheinlich haben das seine neuen Telefonfreunde genau so kalkuliert. Richtig ätzende Scheiße, diese ganze Sache. Er könnte ja nochmal die Nummer anrufen und fragen, ob man sich denn nicht hier in Italien treffen und unterhalten könne. Aber erstens glaubt Fred nicht, dass man darauf eingehen würde, weil es ja wahrscheinlich gerade Teil des Plans ist, ihn in seiner Wohnung zu treffen, und dann hätte er noch ein weiteres Problem, sich unauffällig von der ganzen Clique abzuseilen. Also verwirft er den Gedanken gleich wieder. Er beschließt erstmal den Tag ganz normal laufen zu lassen und zu überlegen, wie es denn weitergehen solle. In den folgenden Stunden würde er also wieder sein ganzes schauspielerisches Talent einsetzen, um Normalität vorzugaukeln; sein eher bescheidenes schauspielerisches Talent. Beim Frühstück sind sich die Freunde schnell einig, dass es heute eine Mountainbiketour sein soll. Sie wollen auf den Tremalzopass radeln. Da können sie direkt vom Campingplatz losziehen und müssen nicht erst die Fahrräder verladen und mit dem Auto irgendwohin fahren. Allerdings ist es dann gleich eine eher lange und nicht unanstrengende Tour. Aber das ist Fred heute gerade recht. Also werden die Räder flott gemacht, Trinkflaschen gefüllt, Wind- und Regenklamotten in die Rucksäcke gestopft, Werkzeug und Luftpumpen überprüft und sämtliche Lücken in den Rucksäcken und Taschen mit Proviant – vorzugsweise Müsliriegeln – vollgestopft. Dann noch die windschlüpfigen und vor allem gut gepolsterten Radlerhosen angezogen und es kann losgehen. Sie rollen zuerst noch ganz locker die altbekannte Straße nach Arco entlang, dann Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 82 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 auf der Landstraße nach Riva, von da noch ein paar wenige Kilometer am Westufer des Gardasees entlang bis zur Abzweigung zum Ledrosee. Dort beginnt der Anstieg. Zuerst geht es noch auf einer geteerten Straße bergauf. Das findet Fred ganz angenehm. Wenn man erstmal seinen Rhythmus gefunden hat, kann man einfach ruhig treten und versuchen immer nur bis zur nächsten Kurve zu denken, und ehe man sichs versieht, hat man schon wieder ein paar hundert Höhenmeter geschafft und kann sich an einer immer spektakuläreren Aussicht erfreuen. Beim Ledrosee kann man nochmal ein bisschen durchschnaufen, aber Fred und seine Freunde kennen die Tour schon und wissen, dass noch zwei Drittel vor ihnen liegen. Also gibt es hier keine Pause. Viele Mountainbiker fahren die Runde auch in entgegengesetzter Richtung, aber vor allem die Mädchen wollen lieber die etwas weniger steile Teerstraße hoch und die Schotterstraße runter fahren. Ein paar Kilometer nach dem Ledrosee zweigt links die eigentliche Passstraße ab. Jetzt geht es in unzähligen engen Serpentinen bergauf. Die Vegetation wird immer spärlicher und ganz oben erschweren noch Schneereste die letzten Meter bis zum Tunnel, der sich am höchsten Punkt des Passes befindet. Alle posieren für die obligatorischen Fotos und machen sich dann aber auch recht schnell an die Abfahrt. Hier oben ist es eigentlich allen zu frostig, um eine dem absolvierten Anstieg angemessene Pause einzulegen. Dann geht es auf einer recht schmalen Schotterstraße bergab. Stefan lässt es richtig laufen und zirkelt gekonnt durch die engen Kehren. Fred würde gerne mithalten, aber die Vorstellung versagender Bremsen – so ein Bremsseil kann ja schon mal reißen – kombiniert mit den gigantischen Tiefblicken direkt neben der Fahrbahn bei völliger Abwesenheit von Geländern oder Leitplanken vereiteln alle Bemühungen, auch nur annähernd an Stefan Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 83 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 dranzubleiben. Freundlicherweise macht der aber ab und zu mal eine Pause, was Fred und wahrscheinlich auch den anderen aus der Gruppe die Gelegenheit gibt, ihre leicht um die Bremshebel gekrampften Finger wieder zu strecken. Die nächste Etappe endet nicht in einer freiwilligen Pause. Als Fred und Sandra um eine weitere Kehre eiern, sitzt Bert schon neben Stefan. Dessen Knie blutet und sein Vorderrad ist platt. Er ist wohl irgendwie blöd gegen einen Stein gefahren und hat dann einen weniger eleganten Abgang über den Lenker gemacht. Also gibt es jetzt für alle eine Unterbrechung. Neben Werkzeug und Verbandszeug werden diverse Fressalien ausgepackt und nach einer halben Stunde ist alles wieder fahrbereit. Die ziemlich erschöpften Kalorienspeicher sind wieder etwas gefüllt, das Knie verbunden, der Reifen geflickt und, was fast die Hauptsache ist, der Achter aus Stefans Vorderrad notdürftig wieder rausgezogen. Der hätte echt Schwierigkeiten machen können. Mit einem gröberen Achter, der ständig an der Bremse hängenbleibt, wäre ein Weiterfahren vielleicht nicht möglich gewesen und zu Fuß mit einem Mountainbike auf der Schulter wäre es dann doch noch ganz schön weit gewesen bis zu einer Stelle, an der die anderen Stefan mit dem Auto hätten abholen können. Aber es ist ja alles klar, und die Fahrt kann mit insgesamt etwas reduziertem Tempo fortgesetzt werden. Bald haben sie den Ort Limone erreicht und rollen die Uferstraße zurück nach Riva. Die engen Tunnel fordern dabei nochmal gute Konzentration. Das letzte Stück nach Arco geht dann fast automatisch. Alle sind diese Strecke schon x-mal gefahren und jeder hat schon ziemlich schwere Beine. Auf dem Campingplatz angekommen werden gleich Isomatten ausgebreitet, Kekse ausgepackt, und die ganze Gruppe lässt sich erstmal nieder. Es dauert eine ganze Weile, bis Cindy sich als Erste aufrafft und sich auf den Weg zu den Duschen macht. Weil keiner ihrem Beispiel folgen will, dauert Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 84 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 es nochmal eine Weile, bis sich auch der Rest der Horde aufmacht, um Schweiß und Dreck loszuwerden. Nach diesem Tag hat keiner mehr Lust irgendwohin zum Essen zu gehen. Es gibt einen Nostalgieabend. Wie bei ihren allerersten Urlauben am Gardasee, als Geld noch sehr knapp und Restaurants unerschwinglich waren, wird heute selber gekocht. Fred packt seinen Gaskocher, einen Topf und drei Dosen »Texas Feuerzauber« von Aldi aus. Diese Leckerei wird durch Hinzufügen von Cabanossi aus der gleichen Quelle zu einem kulinarischen Highlight. Im kleinen Campingplatz-Shop sind schnell noch zwei Flaschen Rotwein erstanden und schon ist das Abendessen fertig. Jeder kriegt einen Löffel in die Hand. Der Topf steht in der Mitte. Alles wie in alten Zeiten. Fast, denn Fred hat ja immer noch sein Problem. Aber an diesem Abend ist er zu müde, um irgendwas zu unternehmen oder sinnvolle Pläne zu machen. Am nächsten Morgen, als alle gerade beim Frühstück sind, klingelt plötzlich sein Handy. Fred steht auf und geht ein paar Schritte weg, bevor er abhebt. Zu seiner Erleichterung ist es wieder mal seine Mutter, die wissen will, ob Sandra und er am Sonntag nach dem Urlaub zum Mittagessen kommen. Als ob er im Moment keine anderen Probleme hätte. Aber die Gelegenheit ist günstig. Er geht noch ein paar Schritte, so dass die Freunde ihn nicht hören können, und tut so, als spräche er noch weiter, obwohl das Telefonat mit seiner Mutter eigentlich schon beendet ist. Als er zum Frühstückstisch zurückkehrt, erzählt er, dass sein Chef angerufen habe. Es gäbe da ein schwerwiegendes Problem mit einem seiner Projekte. Kurz vor dem Serienstart habe der Kunde, ein großer bayerischer Autohersteller, – Fred drückt sich in diesen Dingen gerne Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 85 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 etwas nebulös aus – bei einem der letzten Tests einen Fehler in der Software gefunden. Der müsse jetzt behoben und die neue Software dann nochmal getestet werden. Langer Rede kurzer Sinn: Er müsse quasi sofort nach Hause fahren. Für ihn sei der Urlaub leider vorbei. Fred ist selbst unsicher, ob er den Ärger über den abgebrochenen Urlaub glaubhaft gespielt hat. Sandra sieht ihn eher verständnislos an. Aber als Fred beginnt, missmutig seine Sachen zu packen, stopft auch sie die ersten Klamotten in ihre Reisetasche, obwohl sie wirklich sauer ist. Es sollte in dieser Riesenfirma auch jemand anderes in der Lage sein, diese dämliche Software zu testen. Vielleicht der, der den Fehler gemacht hat. Aber Fred reagiert auf all diese Einwände eher unwirsch. Er habe ja auch keine große Lust, aber es helfe nichts, er müsse heim – Punkt. Als sie sich nach zwei Stunden von ihren Freunden verabschiedet haben und im Auto sitzen, atmet Fred innerlich durch. Dieser Teil ging zwar etwas mit dem Kopf durch die Wand, aber jetzt sind sie auf dem Heimweg. Der schwierigere Teil steht ihm allerdings noch bevor. Er muss ja irgendwie Sandra dazu bewegen, morgen Vormittag nicht zu Hause zu sein. Schon als sie auf der Autobahn an Bozen vorbeifahren, startet er einen ersten Versuch und fragt sie, ob sie denn die restlichen Urlaubstage nicht nutzen wolle, um vielleicht ihre beste Freundin in München zu besuchen. Waren Sandras Blicke am Morgen noch verständnislos, so sind sie jetzt eher misstrauisch. Fred hatte sich bisher nie Gedanken darüber gemacht, was sie mit ihrer Zeit anfangen könnte. Manchmal hatte sie das Gefühl, er mache sich nicht mal im Voraus Gedanken, was er mit seiner eigenen Zeit anfangen könnte. Sie erwidert nur, dass das ja wohl jetzt etwas kurzfristig sei. Sie kämen ja selbst erst abends daheim an und dann solle sie morgens gleich wieder los und außerdem könne sie doch auch nicht ohne Not von heute auf morgen bei Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 86 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Henriette aufkreuzen. Fred kapiert, dass das keine besonders tolle Idee war, und auch das Misstrauen ist ihm nicht entgangen; umso verzweifelter ist er. Noch ein weiterer ähnlich misslungener Versuch und er könnte in arge Erklärungsnöte kommen, was das ganze Schauspiel zu bedeuten habe. Er würde das ja auch gerne erklären, aber er weiß selbst nicht, um was es eigentlich geht. Er hat nur das ganz starke Gefühl, dass es besser ist, niemanden, auch nicht Sandra, mit in diese Sache hineinzuziehen. Sie fahren weiter, vorbei an Klausen und Brixen, und sind gegen Mittag auf dem Brennerpass. Es gibt wieder die Urlaubsabschlussmortadellasemmel. Aber so richtig schmecken will sie Fred diesmal nicht. Die Atmosphäre ist eher eisig und übellaunig, und das geht so weiter, bis sie am späten Nachmittag den Bus vor dem Haus in der Karlsbaderstraße in Kornwestheim abstellen, in dem sie wohnen. *** Als Franz in Fusch abfährt, ist er recht gefrustet. Gestern war er noch auf Wolke sieben oder neun oder so. Und jetzt? So hatte er sich das alles nicht vorgestellt. Er kann Julias plötzlichen Aufbruch überhaupt nicht einsortieren. Was hat er nur falsch gemacht? War er zu forsch? War er für Julia nur ein »Ausrutscher«? Er ist sich ja durchaus darüber im Klaren, dass er nicht im eigentlichen Sinn attraktiv ist. Wünscht sich Julia einen formvollendeten Kavalier? Den kann er ihr nicht bieten, das ist ihm auch bewusst. Kann er im Vergleich mit ihrem Ex nicht bestehen? Aber in welchen Punkten liegt er denn so daneben? Was hat er nur falsch gemacht? Diese Frage hatte er ja schon. Aber so geht es die ganze Fahrt. Immer wieder kaut er dieselben Fragen durch, ohne auch nur ansatzweise zu Antworten zu kommen. Erst, als er schon kurz vor Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 87 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Stuttgart ist, kommt er endlich aus dieser Endlosschleife heraus. Ungefähr bei der Ausfahrt Kirchheim unter Teck überholt ihn ein Werkswagen von Daimler. Franz erkennt sofort die neue Auflage der EKlasse, die nur noch ganz leicht mit ein paar Klebestreifen an den Scheinwerfern getarnt ist. Dieses Auto interessiert ihn nicht wirklich. Davon gibt es schon jede Menge offizielle Pressefotos. Wahrscheinlich hat man nur vergessen, die Tarnung an diesem Versuchsauto zu entfernen. Aber der Anblick erinnert ihn an das S10-Projekt. Endlich kann er die Gedanken an Julia etwas beiseiteschieben, was auch nur gut ist, denn den wahren Grund für ihren plötzlichen Aufbruch hätte er mit seinen Überlegungen nie ergründet. Er beginnt zu überlegen, wie er beim S10 weiterkommen könnte. Er möchte gerne den Wert der Bilder mit ein paar Hintergrundinformationen zu dem neuen Fahrzeug steigern, oder vielleicht sogar noch ein paar weitere Bilder machen. Die verbleibenden Autobahnkilometer bis Ludwigsburg reichen nicht aus, um seinen Plan zu vervollständigen. Aber er weiß jetzt zumindest, dass er irgendwie Kontakt zu diesem Autotester aufnehmen muss. Den Namen kennt er ja schon mal. Dann sollte man doch auch die Adresse im Großraum Stuttgart ausfindig machen können. Plötzlich kommt ihm noch eine beunruhigende Frage; würde sich Julia an die Abmachung halten, die Bilder gemeinsam zu vermarkten? Vielleicht war das ja der Grund. Sie wollte den Gewinn aus dem Trip zum Grossglockner selber einfahren und hatte sich deshalb so schnell aus dem Staub gemacht. Nachdem er in Ludwigsburg endlich einen Parkplatz für den Volvo gefunden und das Gepäck in seine Wohnung verfrachtet hat, fährt er sofort den Computer hoch, um seine Mails zu checken. Ein Motormagazin und eine Agentur, die die Bilder kaufen wollen, haben sich Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 88 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 erst heute gemeldet. Julia scheint also die gemeinsame Reise doch nicht um jeden Preis zu Geld machen zu wollen. Sonst hätte sie die Interessenten wahrscheinlich schon abgefangen. Einerseits beruhigt das Franz, weil er sehr enttäuscht von Julia gewesen wäre, wenn sie ihn einfach über's Ohr gehauen hätte, andererseits war das eine halbwegs plausible Erklärung für ihre urplötzliche Abreise aus Österreich, die nichts mit Franz' Unzulänglichkeiten, die er sich immer wieder selbst einredet, zu tun gehabt hätte. Jetzt geht das Raten und Unzulänglichkeitenwälzen von neuem los. Aber bevor sich Franz wieder in unerfreulichem Gegrübel verliert, wendet er sich der anderen Frage zu, für die er seinen Computer braucht: Wer ist dieser Entwickler von der International Automotive AG? Und wo wohnt er? Nach zwei Minuten hat Franz herausgefunden, dass Fred Buck bei der DLRG in Kornwestheim aktiv ist. Die Suchmaschine liefert unter seinem Namen auch einen Link auf die Seite der DLRG und Franz erkennt den Jugendleiter als den Entwickler aus Schweden. Als Nächstes sucht er nach diesem Namen in Kornwestheim in der Telefonauskunft und schon kennt er auch die Adresse – Karlsbaderstraße 16. Das ging ja unerwartet schnell und die Adresse ist auch sehr nah an Franz' Wohnung in Ludwigsburg. Bevor er richtig nachgedacht hat, sitzt Franz wieder in seinem Auto und ist auf dem Weg nach Kornwestheim. Der Ort liegt zwischen Stuttgart und Ludwigsburg und ist eigentlich nicht besonders aufregend. Wenn, dann kennt mancher noch die Schuhfirma Salamander, die hier ansässig ist. Die Karlsbaderstraße liegt im Osten des Ortes in einem Wohngebiet, das anscheinend zum größten Teil in den 1950er und 60er Jahren entstanden ist. Zwischen vielen Einfamilienhäusern stehen auch einige Mehrfamilienhäuser. Die Vorgärten sind überwiegend sehr gepflegt und in Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 89 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 einigen Fällen von Gartenzwergen bevölkert. Manche Bewohner dieser Gegend haben sicher auch Ähnlichkeit mit Gartenzwergen, die ständig mit Schubkarre und Spaten durch ihren Garten ziehen – denkt sich Franz, als er durch die Straßen fährt. Wer schon im liberalen Ludwigsburger Westen mit der Kehrwocheninquisition in Konflikt gerät, sollte sich hier eigentlich nicht bei Tageslicht blicken lassen. Hausnummer 16 ist ein Mehrfamilienhaus, so viel kann Franz bei langsamem Vorbeifahren erkennen; und dass sich nicht viel tut. An diesem eher regnerischen Sonntagnachmittag ist kein Mensch weit und breit zu sehen. Als auch bei der zweiten Vorbeifahrt alles ruhig ist, hält Franz den Wagen an und steigt aus. Aus der Anordnung der Klingeln schließt er, dass dieser Fred Buck wohl im 2. Stock unter dem Dach wohnen muss. Außerdem scheint er nicht daheim zu sein – der Briefkasten quillt über. Er wurde wohl seit ein paar Tagen nicht geleert. Im Moment lässt sich hier also nicht mehr viel in Erfahrung bringen. War zwar ein Schnellschuss, aber für einen ersten Eindruck war der kleine Ausflug gut. Franz beschließt, wieder nach Hause zu fahren und morgen zurückzukommen. Irgendwann geht ja jeder Urlaub mal zu Ende. Direkt neben dem Haus, in dem Franz wohnt, ist eine Tankstelle mit einem großen Shop. Der hat ihn schon öfter vor dem Hungertod bewahrt. Auch heute parkt er sein Auto in einer der Seitenstraßen und geht dann direkt zur Tankstelle. Er kennt das Tiefkühlpizza-Sortiment auswendig und hat sich bereits für eine Thunfischpizza entschieden, als er den Shop betritt. Den Weg zur Kühltruhe, von dort zur Kasse und dann zum Ausgang würde er im Schlaf finden, so oft hat er ihn schon zurückgelegt. Doch heute ist es nicht wie sonst. Heute muss er noch am Weinregal vorbei und eine Flasche Chianti mitnehmen. Während die Pizza im Ofen bäckt, geht Franz noch einmal in Ruhe durch, Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 90 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 wie es mit dem S10 weitergehen soll – bloß nicht an Julia denken. Was weiß er schon über das Projekt? Und was will er durch diesen Fred Buck in Erfahrung bringen? Franz hat den größten Teil seines Wissens über dieses Fahrzeug von den Bildern, die er auf der Schwedenreise gemacht hat. Jemand, der an dem Entwicklungsprojekt beteiligt ist, könnte schon noch einiges an spannenden Informationen liefern. Wenn schon irgendwo Bilder eines in der Entwicklung befindlichen Autos abgedruckt werden, wollen die Leute auch wissen, wann dieses Auto auf den Markt kommt. Der Start of Production oder kurz SOP ist ein Datum, das jeder Entwicklungsingenieur für seine Projekte kennt. Die Leser interessieren sich aber sicher auch für geplante Motorvarianten – sechs oder acht Zylinder, Leistung, Drehmoment und so weiter. Auch sehr gut wäre natürlich der Verkaufspreis, aber den wird ein Entwickler eines Zulieferers nicht kennen. Da müsste man schon an jemanden aus dem Marketing des Fahrzeugherstellers herankommen. Dagegen könnte es schon eher eine Chance geben, etwas über besondere Funktionen des Infotainmentsystems zu erfahren. In den Versuchsautos sind zwar auch hier wahrscheinlich noch nicht alle Funktionen verfügbar, aber das eine oder andere lässt sich vielleicht doch schon erkennen. Als Franz seine Fragen auf einen Zettel notiert hat, fällt ihm seine Pizza wieder ein. Er nimmt das gute Stück aus dem Ofen. Er definiert die Farbe des Teiges als dunkelbraun, obwohl man sicher auch über hellschwarz hätte diskutieren können, und lässt sich sein Abendessen schmecken. Erst als er ein paar Stunden später im Bett liegt, kann er die schmerzlichen Gedanken an Julia nicht mehr verdrängen. Er fühlt sich elend und hilflos. Er überlegt, ob er sie nicht einfach anrufen soll. Bisher war ihm dieser Gedanke überhaupt nicht gekommen. Ihr Aufbruch am Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 91 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Morgen hatte etwas so Bestimmtes; da war für ihn klar, dass vorerst keine Anrufe oder anderweitige Kontaktaufnahme gewünscht ist. Aber vielleicht gilt das ja nur für diesen einen Tag. Morgen würde er es einfach wagen – vielleicht. Am nächsten Morgen steigt Franz aus dem Bett und quasi direkt in sein Auto. Die Fotoausrüstung nimmt er mit, aber für ein Frühstück oder einen Kaffee hat er keine Zeit, geschweige denn für eine Morgentoilette, die über schnelles Zähneputzen hinausgeht. Er fährt wieder nach Kornwestheim. In einer Querstraße zur Karlsbaderstraße hat er eine Bäckerei gesehen. Dort deckt er sich mit Frühstück ein – Kaffee aus dem Pappbecher, eine Nussschnecke und ein Käsefuß; dem konnte er einfach nicht widerstehen. Dann parkt er sein Auto so, dass er das Haus, in dem Fred Buck wohnt, gut im Blick hat, ohne direkt davorzustehen. Ein hässlich brauner VW Bus steht jetzt vor dem Haus und trotz der frühen Morgenstunde brennt in einer der Dachwohnungen Licht. Franz steigt aus und schlendert einmal zur nächsten Kreuzung und wieder zurück, um zu sehen, ob der Briefkasten inzwischen geleert wurde. Als er wieder in seinen Volvo steigt, ist er sich sicher, dass Herr Buck zurück ist. Er muss jetzt erstmal warten. *** Für Fred wird es jetzt langsam brenzlig. Er konnte die ganze Nacht kaum schlafen. Erstens ist er nervös, weil er Angst vor dem Treffen mit diesem seltsamen Typ hat. Bevor es aber soweit ist, muss er ja irgendwie Sandra aus dem Haus lotsen. Jetzt rächt sich seine billige Geschichte mit dem Projekt, für das er so plötzlich zurück nach Hause musste. Denn was Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 92 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 würde denn nun näherliegen, als heute so früh wie möglich zur Firma zu fahren, um diese wichtige Arbeit zu machen? Dass er den ganzen Vormittag daheim sitzen will, ist doch höchst unplausibel. Das kann eigentlich nur Ärger geben. In Erwartung all dieses Ärgers tigert er seit sechs Uhr durch das Wohnzimmer und versucht erfolglos seine Gedanken zu ordnen. Er deckt den Frühstückstisch besonders schön, um etwas Ablenkung zu haben und um damit auch Sandra etwas zu besänftigen, denn seit ihrer Abfahrt aus Arco ist irgendwie dicke Luft. Aber, als Sandra gegen halb neun aufwacht, kommt es, wie es kommen muss. Als Sandra sieht, dass ihr Freund beabsichtigt, ganz entspannt zu frühstücken, wird sie schon etwas misstrauisch, aber sie sagt erstmal nichts. Eigentlich ist es ja auch ganz süß, dass Fred mal für sie beide schön gedeckt hat. So häufig kommt das nicht vor. Sie lesen ein bisschen in der Zeitung und unterhalten sich über die Dinge, die so in der Welt geschehen sind. Dann geht Sandra ins Bad. Als sie gegen halb zehn wieder zurückkommt und Fred immer noch ganz entspannt in der Zeitung blättert, kommt ihr das Ganze doch spanisch vor. Sie fragt ihren Freund – vielleicht in einem leicht schnippischen Ton – was denn diese ganze Veranstaltung zu bedeuten habe; was er denn noch daheim tue, wenn die Arbeit so dringend sei, dass man deshalb seinen Urlaub abbrechen müsse. Wie gesagt, der Ton könnte etwas schnippisch gewesen sein, aber diese Reaktion hat er sicher nicht gerechtfertigt. Fred explodiert regelrecht. Das gehe sie doch nichts an, schreit er sie an. Und sie könne ja gehen, wenn es sie störe, dass er noch daheim sitze. Das war Freds letzter und ziemlich verzweifelter Versuch, Sandra für einige Zeit aus dem Haus zu bekommen. Aber dieses Ziel erreicht er nicht. Dafür erreicht er, Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 93 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 dass seine Freundin gekränkt und sauer zurückschreit, dass er ja wohl total egoistisch sei. Alle sollten nach seiner Pfeife tanzen, aber vernünftige Gründe für seine Zickereien gebe es keine. Der weitere Dialog wird hier nicht wiedergegeben. Er hat aber nichts mit achtungsvollem Umgang in einer Partnerschaft zu tun. Zuletzt rennt Sandra aufgelöst ins Schlafzimmer und schließt ganz leise die Tür. Das macht sie immer so, wenn sie richtig wütend und getroffen ist. Fred bleibt in ebenfalls desolatem Zustand zurück. Er war eh schon fertig, weil er einfach keine vernünftige Idee hatte, wie er es schaffen könnte, um zehn Uhr allein in der Wohnung zu sein. Die Mit-dem-Kopf-durch-dieWand-Methode hatte als letzte Möglichkeit nun ja auch noch versagt. Und zusätzlich hatte er auch noch richtigen Zoff mit Sandra, obwohl die doch eigentlich die Einzige gewesen wäre, der er seine Probleme hätte erklären können, aber das ging ihm erst jetzt – reichlich spät – auf. Es ist schon kurz vor der vereinbarten Zeit. Er sieht nur noch eine Möglichkeit: Selbst zum Angriff übergehen. Dann findet das Treffen eben nicht in seiner Wohnung, sondern auf dem Bürgersteig davor oder sonstwo statt. Er schnappt sich seine Jacke und die Tasche mit seinem Laptop. Als er die Wohnung verlässt, hört er Sandra im Schlafzimmer schluchzen. Aber dafür hat er im Moment keinen Sinn. Als er aus dem Haus tritt, sieht er erstmal überhaupt nichts Auffälliges. Erst auf den zweiten Blick bemerkt er doch etwas Ungewöhnliches und er ist sich sicher, dass er den Ursprung der seltsamen Kontaktaufnahme gefunden hat. An der Kreuzung parkt ein Volvo – so weit noch nicht so aufregend. Aber in dem Auto sitzt ein Typ und beobachtet ihn. Fred zögert kurz und entscheidet sich dann, seine Offensivstrategie weiterzuführen. Er geht zügig auf das Auto zu und versucht dabei so entschlossen auszusehen, wie es ihm nach der Vorgeschichte des Tages Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 94 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 möglich ist. Der Typ im Auto starrt ihn weiter an. Fred reißt die Beifahrertür auf. *** Franz hatte es sich erstmal mit seinem Frühstück im Auto bequem gemacht. Viel Zeit konnte er sich damit aber sicher nicht lassen. Denn es war Montag und da war es nur wahrscheinlich, dass der Entwickler früh zur Arbeit ging, zumal es ja auch der erste Tag nach dem Urlaub war. Da wollen viele Leute früh ins Büro, um noch ein bisschen Zeit für den vollen Maileingang zu haben, bevor die üblichen Meetings beginnen. Als er auch den Käsefuß – eine mit Käse überbackene Laugensemmel in Fußform – gegessen hat, steigt seine Nervosität langsam, denn es wird ihm bewusst, dass er eigentlich gar keinen Plan hat. Gut, er hat seine Frageliste, aber keine Ahnung, bei welcher Gelegenheit er diese Fragen stellen könnte. Was wird er denn tun, wenn dieser Buck das Haus verlässt? Wird er sich auf ihn stürzen, ihn würgen und ihm die Fragen ins Gesicht schleudern? Wohl eher nicht, dann könnte er sich ja gar keine Notizen machen. Eher wahrscheinlich, dass er ihm mit dem Auto folgen wird. Das würde ihm dann aller Voraussicht nach die Erkenntnis bringen, dass der IAA Mitarbeiter zur IAA fährt, um dort zu arbeiten. Während er also an seinem Schlachtplan feilt, fällt ihm auf, dass ihm nichts auffällt. Es tut sich nichts. Es ist jetzt schon halb neun. In der Wohnung brennt seit mindestens eineinhalb Stunden Licht und er sitzt hier und wartet, aber es tut sich einfach nichts. Immer wieder laufen Menschen an seinem Auto vorbei. Manche wundern sich offensichtlich, weil da einer im Auto sitzt und wartet. Das fällt doch manchen Passanten auf. Nach ein paar Minuten tut sich dann doch etwas; die Haustür von Nummer 16 geht auf. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 95 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Als eine ältere Dame erscheint, die sich augenscheinlich auf den Weg zum Einkaufen macht, sinkt sein Blutdruck schlagartig wieder ab. Franz überlegt ernsthaft, ob er seinen Plan ändern muss. Vielleicht muss Fred Buck heute ja doch nicht arbeiten. Vielleicht wird er ja das Haus zu einem Spaziergang verlassen, bei dem sich dann tatsächlich eine Gelegenheit zu einem Gespräch ergeben könnte. Die Haustür öffnet sich wieder und diesmal erscheint tatsächlich Buck. Er tritt nur einen Schritt heraus und blickt sich suchend um. So, und jetzt hat er Franz entdeckt, na super. Was jetzt? Buck fixiert Franz, dessen Blutdruck jetzt wieder zu einem Höhenflug ansetzt. Als er dann auch noch auf ihn zukommt, schießen Franz zig Gedanken gleichzeitig durch den Kopf: Flucht mit dem Auto; cool bleiben und einfach nichts anmerken lassen; aussteigen und zum Zigarettenautomaten rüberlaufen; aussteigen und wegrennen. Bevor Franz einen Entschluss fassen kann, reißt dieser verrückte Typ die Beifahrertür seines Autos auf und steigt ein. Franz kann gerade noch den leeren Pappbecher und die Bäckertüte in den Fußraum schieben. Kurz bevor der Klos in Franz' Hals ihn von innen erwürgen kann, hört er diesen Buck fragen, was er denn wissen wolle. Wie bitte? So einfach hatte er sich das nicht vorgestellt. Bei all den Varianten, die er im Geiste durchgespielt hatte, war die Möglichkeit, dass der Typ ihn ansprechen würde, nicht vorgesehen. Diesen Plan gab es nicht. Franz versucht, nicht allzu verständnislos zu glotzen, sondern eine wichtige Miene aufzusetzen. Vorerst bringt er nur heraus: »Nicht hier!« Aber das scheint er überzeugend zu bringen. Fred Buck verstummt und sieht jetzt seinerseits verunsichert aus. Franz startet das Auto und fährt los. Er fährt zunächst einfach geradeaus und biegt dann rechts ab. Er hat sich an den alten Wasserturm erinnert. Im Sommer war dort immer ein ganz netter, etwas alternativer Biergarten, aber um diese Zeit, morgens, Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 96 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 sollte dort nichts los sein. Zumal er etwas außerhalb der Ortschaft liegt. Sie fahren die paar Minuten schweigend. Erst als Franz den Motor wieder abstellt, kommt er auf die Frage zurück, was er wissen wolle. Er kann es eigentlich kaum glauben, aber als er die erste Frage nach dem geplanten Produktionsstart des S10-Projekts stellt, antwortet sein Beifahrer tatsächlich ohne zu zögern. Er scheint geradezu erleichtert, dass die Fragen so einfach sind. Franz kramt seinen Notizblock aus der Jackentasche und schreibt mit. Nach einer Viertelstunde ist er mit allen Fragen, die er sich überlegt hatte, durch. Fred hat alles beantwortet. Bei der Frage nach den Motorvarianten war er sich nicht ganz sicher, ob er tatsächlich alle kenne. Komischerweise hat er nie eine Gegenfrage gestellt, zum Beispiel, warum er eigentlich all diese Antworten geben solle. Aber auch Franz hat nicht danach gefragt, warum Fred eigentlich so freigiebig Betriebsgeheimnisse ohne jede Gegenleistung ausplaudere. Nachdem also alles gefragt ist, fährt Franz Fred wieder nach Hause. Als dieser aussteigt, scheint er sehr erleichtert. Sie reichen sich die Hand ohne weitere Worte zu wechseln. Franz hält nur kurz an und fährt dann zurück nach Ludwigsburg. So einfach hatte Franz sich das nicht vorgestellt. Er fühlt sich fast überrumpelt, obwohl er ja bekommen hat, was er wollte. Aber irgendwie ist ihm doch klar, dass es bei dieser Sache nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann. Das war ja fast so, als ob ein Testfahrer mit einem supergeheimen Erlkönig bei ihm vor die Tür gefahren käme und ihn fragen würde, ob er denn nicht ein paar schöne Fotos von dem Auto machen wolle. Zu Hause wertet Franz seine Notizen aus und macht daraus ein schönes Infopaket. Dieses möchte er natürlich zuerst dem Redakteur der Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 97 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Zeitschrift Motorhobby anbieten, der schon die ersten Bilder des S10 gekauft hat. Aber, wenn der nicht anbeißen würde, würde die Mail mit dem Angebot auch an seine übrigen Kunden gehen. Er formuliert gerade einen Absatz seiner Mail, in dem er die Quelle der geheimen Informationen beschreibt – es macht ja was her, wenn man behaupten kann, dass die Info von Mitarbeitern des Entwicklungsprojekts kommt –, als er nochmal über die Umstände nachdenkt, unter denen er an die Infos gekommen ist. Er macht sich langsam wirklich Sorgen, was diesen Fred dazu getrieben haben könnte, ihm diese Geheimnisse einfach so auf dem Silbertablett zu servieren. Noch bevor er seine Mail an die Motorhobby abschickt, ist er sich sicher, dass er der Sache noch weiter nachgehen muss. *** Als Fred wieder vor seinem Haus steht, ist ihm mulmig. Einerseits hat er gerade einige Infos herausgegeben, die man sicher als geheim bezeichnen könnte. Andererseits arbeiten hunderte oder gar tausende Leute an dem S10-Projekt, die alle diese Infos haben. Jeder hätte die weitergeben können. Das Dumme ist nur, dass der Typ ja seinen Namen kennt und ihn möglicherweise verrät, auch wenn Fred erstmal keinen Anlass hat, das zu glauben. Ansonsten ist er aber auch irgendwie erleichtert, weil er sich sonst was alles vorgestellt hatte, und dann war es ja doch nicht so wild. Der Typ stellt ein paar einfache Fragen und das war es dann. Eigentlich ist Fred ganz gut drauf, als er die Treppen zu seiner Wohnung hochläuft. Erst als er vor der Wohnungstür nach seinem Schlüssel kramt, fällt ihm der Zoff mit Sandra wieder ein, aber den wird er hoffentlich auch wieder geradebiegen können, wenn er ihr einfach Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 98 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 erzählt, warum er sich in den letzten Tagen so komisch verhalten hat. Doch als er die Wohnung betritt, ist alles ruhig. Er ruft nach Sandra, bekommt aber keine Antwort. Er geht ins Schlafzimmer, aber da ist sie nicht mehr. Im Wohnzimmer kann er sie auch nicht finden. Die Küche ist leer. Auch im Arbeitszimmer und im Bad ist sie nicht. Sollte es also doch nicht so leicht werden, den Streit wieder beizulegen? Wo könnte sie hin sein? Zu ihrer besten Freundin Frieda oder doch zu Henriette nach München? Ihre Eltern kämen natürlich auch in Frage. Aber so richtig übel war die Auseinandersetzung doch gar nicht. Sollte sie da wirklich ohne weitere Worte gegangen sein? Nichtmal einen Zettel hat sie auf den Küchentisch gelegt. Einfach mal bei ihr anrufen und die Sache wird sich aufklären? Fred wird stutzig, als er zum Telefon greift. Auf dem Bord neben der Basisstation des Telefons liegen Sandras Schlüssel, ihre Geldbörse und auch ihr Handy. Das passt nicht zu Sandra. Ohne diese Dinge verlässt sie nie, wirklich nie, das Haus. Was hat das zu bedeuten? Fred läuft nochmal durch die Wohnung, diesmal mit einem noch mulmigeren Gefühl. Sandra ist natürlich immer noch nicht da, oder spielt sie wieder ihr Versteckspiel? Im Wohnzimmer ist alles unverändert und in der Küche stehen noch die Reste ihres Frühstücks auf dem Tisch. Im Arbeitszimmer ist alles in Ordnung. Ihr gemeinsamer Laptop steht nicht mehr auf dem Schreibtisch. Sonst scheint nichts zu fehlen. Was sollte Sandra damit tun? Das ergibt doch alles überhaupt keinen Sinn! Noch weniger versteht Fred, als er im Flur bei den Schuhen sein T-Shirt von gestern liegen sieht. Das geht doch gar nicht. Sandra hasst es, wenn er seine Klamotten einfach irgendwo liegen lässt. Deshalb gab es schon xmal Streit – früher, bis er es gelernt hatte. Klamotten, die dreckig sind, kommen in den Wäschekorb; saubere, noch tragbare Klamotten kommen in den Schrank oder werden angezogen. Klamotten liegen nicht auf Sofas Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 99 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 oder Stühlen oder Betten rum. Ein T-Shirt im Flur bei den Schuhen wäre für Sandra wirklich ein Grund Hals über Kopf wegzurennnen. Er hat dieses Teil sicher nicht da hingeworfen, und zufällig passiert so was doch eigentlich auch nicht. Die Waschmaschine steht im Bad und sie wurde nach dem Urlaub auch noch nicht eingeschaltet. Fred läuft zunehmend kopflos durch die Wohnung. Plötzlich klingelt das Telefon – Telefone klingeln doch eigentlich immer plötzlich, oder? Es meldet sich ein Franz. Fred braucht ein paar Augenblicke, bis er kapiert, dass das wieder der Typ von vorhin ist. Als der etwas von weiteren Fragen faselt, die er vorhin vergessen habe, platzt Fred der Kragen. Er schreit in den Hörer, was denn der ganze Blödsinn solle. Jetzt stellt er all die Fragen, die ihn schon seit Tagen quälen. Er kann nicht anders. Warum er ihm nachspioniere und ihn bedrohe, oder wie sollte sonst der Zettel am Kletterseil zu verstehen gewesen sein? Und das alles wegen so ein paar blöder Infos, die man in drei Wochen doch eh in jeder Zeitung lesen könne? Am anderen Ende der Leitung ist erstmal Sendepause. Fred kann nicht sagen, ob es betretenes, verärgertes oder vielleicht sogar verängstigtes Schweigen ist. Dann sagt dieser Franz nur noch, dass er nicht wisse, von was Fred da eigentlich rede, und hängt auf. Dieses Telefonat hat also in verschiedener Hinsicht etwas Gutes. Fred kann mal ein bisschen Dampf ablassen, auch wenn sein Gesprächspartner anscheinend nicht der richtige Adressat ist; sagt er zumindest. Außerdem hat Fred jetzt die Handynummer von diesem Franz. Die wurde nämlich auf dem Display seines Telefons angezeigt, und ihm ist sofort aufgefallen, dass es nicht die Nummer seiner selbsternannten Freunde war. Fred kann sich Zahlen ziemlich gut merken. Irgendwann ist ihm Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 100 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 aufgefallen, dass er Zahlen oder Ziffern mit Farben verbindet. Jede Ziffer hat für ihn eine Farbe und Zahlen sind damit eine Art Muster. Das hat er sich nicht bewusst so ausgedacht, das ist bei ihm einfach so. Komisch ist nur, dass diese Farben verschwimmen, sobald er versucht, sich auf die Farbe einer bestimmten Ziffer zu konzentrieren. Trotzdem geht auch das. Die Nachrichten seiner seltsamen Freunde hatten ihn aufgefordert, eine Nummer anzurufen, die mit 6783 begann. Das wäre dann schwarz– hellgelb–dunkelrot–blau. Die Nummer, die er jetzt auf der Anrufliste des Telefons hat, beginnt mit 5430 – grün-gelborange-blau-schwarz. Über die Farben macht sich Fred in diesem Moment keine Gedanken. Aber die Nummern sind nicht gleich. Vielleicht hat dieser Franz tatsächlich nichts mit den Nachrichten zu tun. Das glaubt er aber noch nicht; er will es nicht glauben. Denn das würde bedeuten, dass er diesem Franz ohne Not alles Mögliche über das S10-Projekt erzählt hätte. Zweitens würde es bedeuten, dass er das Date mit diesen seltsamen Leuten heute Vormittag verpasst hätte. Die wären also bei ihm aufgekreuzt, während er schon bei Franz im Auto saß. Sandra wäre daheim gewesen. Diese Gedanken gefallen Fred nicht. Das ist der Hauptgrund, warum er noch nicht glauben will, dass Franz nichts mit der Sache zu tun haben soll. Warum sollte dieser Typ denn dann vor seiner Haustür im Auto sitzen? Und warum sollte er ihn mit Fragen zu genau dem S10-Projekt löchern, von dem auch in der Mail die Rede war? Das wäre ja schon ein großer Zufall. Fred wird in seinen Gedanken unterbrochen, weil sein Handy klingelt. Das Display zeigt: »Unbekannte Rufnummer«. *** Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 101 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Franz ist mal wieder ratlos. Sein Versuch, nochmal mit Fred Kontakt aufzunehmen, um herauszubekommen, warum der ihm so einfach sämtliche Fragen beantwortet hat, war ja ein voller Erfolg. Jetzt weiß Franz, dass es irgendwelche Nachrichten an Fred gab, und dass der sich verfolgt fühlt. Also, entweder ist er da an einen ganz großen Spinner geraten, oder ...? Tja, oder was? Franz ist, wie gesagt, ratlos, was hinter dieser Sache stecken könnte. Jetzt hat er also schon zwei Gründe ratlos zu sein; der erste ist Julia. Er setzt sich wieder an seinen Computer. Das Internet weiß ja schließlich fast alles und ist nie ratlos. Vielleicht kann es ihm auch hier helfen. Natürlich nicht bei der juliaschen Ratlosigkeit, aber vielleicht findet sich ja irgendein Anhaltspunkt, wenn man nach dem S10-Projekt recherchiert. In den diversen Autofanatiker-Foren kursiert ja doch so manches an Gerüchten und harten Fakten, die oft nur schwer zu unterscheiden sind. Aber bevor er das Internet auf seine Ratlosigkeit loslässt, schaut er nochmal in seine Mails, um zu sehen, ob sich die Erkenntnisse aus seinem Gespräch mit Fred schon zu Geld machen lassen. So ist das Geschäft. Womit er in diesem Moment nicht rechnet, ist, eine Nachricht von Julia zu bekommen. Sie schreibt, dass sie ihn unbedingt sehen wolle, und ob er nicht heute noch zu ihr nach München kommen könne. Also setzt sich Franz sofort ins Auto und düst los. So hätte sie das wohl gerne. Hallo? Geht’s noch? Erst ohne jede Erklärung einfach abhauen. Ihn mit all seinen Fragen alleine lassen. Ihn womöglich auch noch mit den Erlkönigbildern des Porsche über den Tisch ziehen. Und dann darf er auf Kommando wieder angetrabt kommen. Das wäre ja noch schöner. So geht es ja nun wirklich nicht. Und auch jetzt wieder ohne jede Erklärung, erst recht ohne Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 102 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Entschuldigung. Nicht mal für den berühmten Zweizeiler hat es gereicht. Die Mail hat auf seinem Monitor gerade mal eineinhalb Zeilen. Andererseits beschäftigt es ihn ja schon, warum es mit Julia nicht geklappt hat. Vielleicht ist ja auch alles nur ein Missverständnis? Vielleicht hatte Julia ja einen ganz anderen wichtigen Grund, plötzlich zurück nach München zu fahren. Es könnte ja auch ein Anruf vom Nachbarn gewesen sein, dass ein Wasserrohrbruch ihre Wohnung geflutet hat. Aber hätte sie das dann nicht sagen können? Diese wenig ergiebigen Gedanken besetzen jetzt wieder seine Denkmaschine und dulden nichts anderes neben sich. Franz ahnt, dass er auf längere Zeit einen beträchtlichen Teil seiner Gehirnkapazität für das Thema »Julia und ihr plötzliches Verschwinden« reservieren muss, wenn er nicht doch nochmal mit Julia redet. Also sitzt Franz, zwar nicht sofort, aber doch nach nicht allzu langer Zeit in seinem Auto und fährt Richtung München. Die gleiche Strecke, die er erst kürzlich auf dem Heimweg vom Großglockner in anderer Richtung gefahren war. Die eher unerquickliche Strecke zwischen Stuttgart und München. Der erste Teil geht ja noch, am Flughafen vorbei, dann zur und schließlich auf die Schwäbische Alb hinauf. Aber sobald man den Albaufstieg erstmal erklommen hat, wird es eher langweilig. Er hat also wieder genug Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Von unterwegs ruft er Julia auf ihrem Handy an. Jetzt wird das ja wohl erlaubt sein. Ihr Eineinhalbzeiler hat ja keinerlei Angaben zu möglichen Treffpunkten enthalten und Julias Adresse kennt Franz auch nicht. Er weiß nur, dass sie in München wohnt. Es klingelt nur zweimal, als Julia schon abhebt. Franz vermeidet bewusst jede Frage nach dem Warum und Wieso. Er sagt ihr nur, dass er schon im Auto sitze und auf dem Weg nach München sei, und will wissen, wo man sich denn treffen wolle. Sie Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 103 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 schlägt das Max Emanuel als Treffpunkt vor. Sie werde in zwei Stunden dorthin gehen und er könne sie dort treffen. Daheim halte sie es im Moment eh nicht aus, und wenn das Wetter so schön bliebe, wie es im Moment sei, könnten sie ja auch im Biergarten sitzen – Adresse: Adalbertstraße 33 in Schwabing. Franz hält auf dem nächsten Autobahnparkplatz an und packt sein analoges Navi aus – ein zerknitterter Stadtplan von München aus dem Jahr 1970, dem Geburtsjahr von Fred Buck. Einige Kilometer weiter verlässt Franz die A8 und fährt auf dem Autobahnring um die Stadt herum bis zum nördlichen Kreuz und dann auf der Ingolstädter Straße Richtung Zentrum. Die Adalbertstraße liegt in der Maxvorstadt, dem Münchner Stadtteil, den viele gerne noch dem wesentlich bekannteren Schwabing zuschlagen. Mit diesem gemeinsam hat die Maxvorstadt die akute Parkplatznot. Franz dreht also einige Runden, bis er in der Türkenstraße endlich einen Platz gefunden hat. Er ist etwas unsicher, was ihn erwartet, als er die Wirtschaft betritt. Er entdeckt Julia sofort. Sie sitzt an der Theke und nippt an einem Glas Mineralwasser. Auch sie sieht Franz gleich, als er in den Raum kommt. Sie hat ja auf ihn gewartet. Die Begrüßung fällt anders aus, als er es erwartet hätte. Auch hier haben seine stundenlangen Autofahrtgrübeleien, in denen er alle möglichen Szenarien durchgespielt hatte, die Realität nicht einfangen können. Julia steht auf, geht zwei Schritte auf Franz zu und küsst ihn auf den Mund. Dann fällt sie fast in sich zusammen. Franz hilft ihr wieder auf ihren Stuhl. Julia sieht total fertig aus, als ob sie gerade noch mit letzter Kraft bis jetzt durchgehalten hätte – bis jetzt, wo Franz endlich da ist. Dennoch brauchen sie erst wieder etwas Zeit zum Warmwerden, obwohl sie ja erst vor Kurzem noch zusammen gefrühstückt hatten. Aber seitdem ist sehr viel passiert und Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 104 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 beide können nicht direkt herausplatzen, um auf ihren jeweiligen Punkt zu kommen. Denn es sind nicht die gleichen Gründe, die sie hier an diesem Tisch zusammengeführt haben, wie sie bald feststellen werden. *** Fred wird mal wieder nervös, als sein Handy klingelt – unbekannte Rufnummer. Er nimmt das Gespräch an und hört die Stimme des Mannes, mit dem er schon am Gardasee telefoniert hatte. Jetzt kehrt sich plötzlich die Richtung um. Bisher war er immer aufgefordert worden, sich zu melden. Jetzt rufen sie ihn an. Er braucht nicht zu ahnen, dass das kein gutes Zeichen ist. Er weiß es. Aber als er Sandras Stimme hört, verschlägt es ihm den Atem. Sie ist völlig aufgelöst, sagt Dinge, die Fred zunächst überhaupt nicht einsortieren kann. Die hätten sie mitgenommen. Sie führen irgendwohin, auf der Autobahn. Es gehe ihr gut, aber sie wisse nicht, was das solle. Die hätten gesagt, er, Fred, solle sich ab jetzt an die Abmachungen halten. Das alles sei kein Spaß. Sie habe Angst. Die würden sich wieder bei ihm melden. Dann ist das Gespräch unterbrochen. Langsam macht sich Panik breit. Fred hatte die Situation ja vorher schon nicht unter Kontrolle, aber jetzt ist ihm das auch selber zum ersten Mal ganz klar. Das macht alles nicht besser. Was soll er jetzt tun? Die Polizei anrufen? Die würden ihn ja wohl erstens für einen Spinner halten, und außerdem hat man ja schon in diversen Krimis gesehen, dass das Einschalten der Polizei in solchen Fällen meist nur negative Auswirkungen hat. Also einfach abwarten? Das verstärkt das Gefühl der Hilflosigkeit nur, weil man dann ja tatsächlich keine Initiative ergreifen kann. Fred läuft eine Weile orientierungslos durch die Wohnung, soweit Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 105 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 man in seiner eigenen Wohnung orientierungslos sein kann. Dann kommt er endlich zu der Einsicht, dass er irgendwie wieder runterkommen muss. Er muss versuchen zusammenzutragen, was die Fakten sind. Vielleicht kommt dabei ja etwas zu Tage, das er bisher nicht bedacht hat. Also, alles fing vor knapp einer Woche mit dieser komischen Mail an, kurz bevor er in den Urlaub gehen wollte. Dann gab es diesen Zettel in Italien am Seil. Er hat die angegebene Nummer angerufen und es hat sich ein Mann gemeldet, dessen Stimme Fred eigentlich ganz sympathisch und nicht bedrohlich fand. Dieser Typ wollte sich mit Fred heute Morgen in seiner Wohnung treffen. Ungefähr zu der vereinbarten Zeit hat Fred diesen Franz in dessen Auto aufgestöbert und mit ihm gesprochen. Während sie weg waren, hat anscheinend jemand Sandra entführt. Fred läuft es bei dem Gedanken an das Wort »Entführung« kalt den Rücken hinunter, aber letztlich ist es genau das, eine Entführung. Die Nachrichten waren immer mit irgendwas von »Freunden« unterzeichnet. Es scheinen also mehrere zu sein, wenn man hier das Wort »Freunde« inklusive seines Plural auf die Goldwaage legen darf. Jedenfalls war dieser Franz nicht der Typ vom Telefon. Das geht ihm allerdings erst jetzt auf. Die Stimme war ganz anders und der Mann, mit dem er telefoniert hatte, hatte einen ausländischen Akzent. Aber was sollte denn der Grund für all das sein? Was bitte sollte an seiner Arbeit so spannend sein, dass man deshalb Menschen entführt? Oder sollte es gar nicht um seine Arbeit gehen – Sandra ist in der Pharmaindustrie beschäftigt. Oder vielleicht nicht um das S10-Projekt? Aber die anderen Projekte, an denen er beteiligt ist, sind seiner Meinung nach auch nicht grundsätzlich anders. Nochmal zurück zu den Fakten! Fred hat sich das Nummernschild des Volvo von diesem Franz gemerkt: LB – FS weiss-schwarz-blau oder 103. Das ist doch immerhin ein erster Anhaltspunkt. Er googelt nach dem Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 106 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Kennzeichen, aber das liefert keinen verwertbaren Treffer. Er sucht nach »Autokennzeichen LB-FS 103«, aber auch das bringt nichts. Es scheint keine Internetseite zu geben, auf der man die Fahrzeughalter zu einem bestimmten Nummernschild ermitteln kann. Immerhin findet er heraus, dass das Kennzeichen vergeben ist. Man kann es nicht mehr als Wunschkennzeichen reservieren. Außerdem sucht er im Internet nach den beiden Telefonnummern, aber nach einer Stunde hat er auch hier nichts gefunden, das ihn wirklich weiterbringen würde. Fred macht sich Sorgen. Wo hat er Sandra da nur reingezogen? Irgendwann meldet sich sein Magen. Er hat seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und jetzt ist es schon fast sechs Uhr. Weil nichts anderes mehr da ist, macht sich Fred an die eiserne Ration, eine Packung Knäckebrot und einen Block Gouda von einem großen Discounter – beides praktisch unbegrenzt haltbar und deshalb fast immer bei Fred und Sandra vorrätig. Widerwillig isst er Bissen für Bissen zwei Scheiben Brot und etwas Käse. Er bringt kaum etwas hinunter. Wie auch. Er sitzt mitten in der Scheiße und kann sich nicht selbst herausziehen. Er muss einfach warten. *** Zuerst sitzen beide da und wissen nicht so recht, wie sie anfangen sollen. Ihnen gehen die Gedanken wirr durch den Kopf. Sie hatten beide nicht die Zeit, sich zu ordnen und sich auf dieses Wiedersehen nach nur ein paar Stunden vorzubereiten. Franz beginnt endlich einen Satz mit »Warum ...« zu formulieren, aber nach diesem ersten Wort beißt er sich bereits auf die Zunge. Ist das nicht schon zu anklagend? Julia beginnt mit »Ich wollte dich nicht ...« aber auch sie kommt nicht weiter. Sie hat einen Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 107 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Knoten in der Zunge. Franz macht sich Gedanken über das, was ihre Beziehung werden könnte. Das beschäftigt Julia natürlich auch, aber da gibt es noch etwas, das ihr große Sorgen macht. Als sie Franz mailte und ihn bat nach München zu kommen, war sie sicher, dass sie mit ihm über dieses Thema reden müsse. Jetzt kommen ihr wieder Zweifel. Sie ist sich jetzt nicht mehr sicher, ob es fair wäre, ihn da mit reinzuziehen. Andererseits hängt er eh schon mit drin, ohne es zu wissen. Es wäre also nur recht und billig, ihn nicht länger im Dunkeln zu lassen. Das wäre wahrscheinlich die einzige Chance, den Schaden, den sie angerichtet hat, wiedergutzumachen. Ihr ist jedenfalls klar, dass sie Schaden angerichtet hat. Schließlich beginnt sie zu reden – trotz Knoten in der Zunge. Sie möchte zuerst versuchen ihre Beziehung zu Franz zu klären, bevor sie mit ihrem Hauptproblem herausrückt. Julia erklärt Franz, dass es ihr schrecklich leid tue, dass sie ihn in Fusch nach dieser schönen Nacht einfach so habe sitzen lassen. Sie könne sich vorstellen, dass er sich sicher viele Sorgen und Gedanken gemacht habe. Sie habe auch versucht, sich in seine Lage zu versetzen und könne nachempfinden, dass er sauer auf sie sein müsse. Der Gedanke mache sie traurig, weil sie ja eigentlich glücklich gewesen sei, wie sich die Dinge in Österreich entwickelt hätten. Sie habe irgendwie schon länger gemerkt, dass sie sich zu Franz hingezogen fühle, und sei froh gewesen, dass es ihm anscheinend genauso ergangen sei. Franz ist mal wieder verwirrt. Einerseits spricht Julia ja genau an, was ihm seit Fusch immer wieder durch den Kopf kreist, wie eine Stubenfliege, die aufgeregt durch seine ansonsten gedankenleere Birne brummt – immer von einer Ecke zu anderen. So eine richtig große, fette Stubenfliege. Also, alle diese kreisenden Gedanken spricht sie an. Und er Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 108 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 erkennt, dass sie sich wirklich in ihn hineinversetzt. Aber sie löst das Kreisen nicht auf. Dabei wäre sie doch diejenige, die genau das könnte. Was sind denn nun die Antworten auf diese bohrenden Fragen? Warum ist sie so plötzlich abgereist? Hat sie auf einmal doch Zweifel bekommen, ob eine ernsthafte Beziehung zu Franz Sinn macht? Hat sie die gemeinsame Nacht als einen Fehler empfunden? Julia redet und redet, aber die Fliege brummt immer noch durch Franz' Kopf. Bis er endlich, endlich fragt: »Hast du es für einen Fehler gehalten?« Julia stutzt kurz. Sie versteht erst jetzt, dass sie ihn immer noch im Unklaren gelassen hat. »Nein!«, sagt sie und fällt ihm um den Hals. Was folgt, ist eine Szene wie aus einem Rosamunde-Pilcher-Film, allerdings ohne englische Klippen, dafür mit einer Münchner Gastwirtschaft als Kulisse. Franz ist jedenfalls glücklich. Alles scheint sich zum Guten zu wenden. Bis die »Warum?«-Frage wieder losbrummt: »Warum bist du dann so plötzlich weg? Ging dir alles zu schnell? Brauchtest du Zeit?« Damit waren sie bei Julias Hauptproblem angekommen. Jetzt musste sie auspacken. Sonst wäre der gerade eben mit ein paar innigen Liebesschwüren Andererseits gekittete würde das Beziehungsanfang Hauptproblem gleich wieder dahin. sofort eine heftige Bewährungsprobe für das junge Liebespflänzchen bedeuten; soviel war klar. Aber es hilft ja nichts. »Ich habe die Info verkauft«, bringt Julia endlich über die Lippen. »Ich musste so schnell wie möglich meine Kontaktperson treffen. Deshalb bin ich so Hals über Kopf los.« Also doch, was er vermutet hat! Sie hat die gemeinsam erarbeiteten Erkenntnisse über den Porsche zu Geld gemacht und ihn über den Tisch gezogen. Franz ist maßlos enttäuscht. »Wenn ich dir angeblich so viel bedeute, warum ist dir dann sogar dieser läppische Porsche-Deal wichtiger? Das Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 109 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 passt doch nicht zusammen!« Aber da hatte er Julia dann doch falsch verstanden. Es geht nicht um den Porsche. Bevor sie erzählt, um welche Infos es denn eigentlich gegangen ist, muss sie erst loswerden, dass sie nicht freiwillig Franz' Arbeit weiterverkauft hat. Sie hatte keine andere Wahl. Angefangen hatte alles damit, dass sie einfach eine Pechsträhne hatte. Ein paar notwendige aber teure Anschaffungen – ein neues Auto, weil der alte Polo nicht mehr zu TÜVen war, ein neues Kameragehäuse, weil mit den Bildern des alten Fotoapparats kein Staat mehr zu machen war – zu lichtschwach der Sensor bei zu geringer Auflösung. Gleichzeitig hatte sie Pech bei der Erlkönigjagd. Die Bilder vom Porsche, die sie zusammen mit Franz gemacht hat, waren seit Langem die ersten gelungenen Erlkönigbilder. Sie hatte also finanzielle Schwierigkeiten und nicht den Schufa-Leumund, der es einem erlaubt, ohne weiteres zu einer Bank zu gehen und einen Kredit zu beantragen. Das Ergebnis war ein Geschäft mit einem auf den ersten Blick unangenehmen Zeitgenossen. Als Julia dann die Raten nicht bedienen konnte, wurde der Typ auch noch ungemütlich. Eines Abends stand er mit einem zweiten Mann, der sich als Alexej vorstellte und keinen sympathischeren Eindruck machte als der namenlose Kredithai, vor Julias Wohnungstür. Sie erkannte die Situation sofort und geriet in Panik, aber was sollte sie tun, als einen Schweißausbruch zu bekommen und die beiden hereinzubitten. Es war zu spät, die Tür wieder zuzuknallen; da stand schon mindestens ein Fuß drin. Schreien hätte sicher auch nicht zur Deeskalation beigetragen. Also, keine anderen Optionen. Sehr zu Julias Erstaunen und zunächst auch zu ihrer Erleichterung ließen sich die beiden in ihrem Wohnzimmer nieder und baten um je ein Glas Wasser. Nachdem Julia mit den gewünschten Getränken zurück war, begannen sie eine lockere Plauderei über ihre Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 110 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Arbeit. Das Gespräch blieb eine Weile bei diesem Thema. Nur mit der Lockerheit war es dann doch recht schnell vorbei. *** Fred ist am Verzweifeln. Seit Stunden hat er nichts mehr von Sandra gehört. Sie geht nicht an ihr Handy – wie auch, es liegt ja auf dem Telefonkästchen – und hat sich auch nicht mehr bei ihm gemeldet. Er ist inzwischen immer wieder sämtliche Fakten durchgegangen, die er kennt. Aber das hat ihn keinen Deut weitergebracht. Er weiß nur, dass Sandra ziemlich sicher in Gefahr ist. Aber er hat keine Ahnung, wie er ihr helfen könnte. Er hat nicht einmal eine konkrete Vorstellung, warum sie überhaupt in diese Situation geraten sind. Was soll er jetzt tun? Wohin soll er gehen? Mit wem könnte er reden? Nichts. Er kann wohl nichts tun. Wenn er das Haus verlassen würde? Wahrscheinlich würde er beobachtet und Sandra würde womöglich in noch größere Gefahr gebracht. Mindestens aber würde er dann Gefahr laufen, einen Anruf auf seinem Festnetztelefon zu verpassen, falls das jemand anrufen wollte. Wenn er jemanden anrufen würde? Dann könnte er auch einen Anruf von Sandra oder ihren Entführern verpassen. Außerdem hat er keinen Telefonjoker, der ihm in dieser Sache helfen könnte. Also sind das schon mal keine Optionen. Einfach fernsehen oder schlafen? Unerträgliche Gedanken. Einfach in der Küche sitzen und nichts tun? Er könnte bei einem der anderen Hausbewohner klingeln, um wenigstens etwas Ansprache zu haben. Allerdings hat er zu diesen Leuten überhaupt keinen Draht. Die Unterschiede in der Wellenlänge sind so groß, dass er diese Möglichkeit auch verwirft. Er geht zum Fenster und starrt hinaus. Was er sieht, muntert ihn Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 111 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 überhaupt nicht auf. Er sieht die Leute in ihrer Idylle, wie sie ihren üblichen Alltagsbeschäftigungen nachgehen. Eine Frau schiebt einen Kinderwagen vorbei; auf dem Buggyboard steht noch ein älteres Geschwisterkind. Es zappelt rum und schreit. Das Gepäcknetz unter dem Kinderwagen ist voll bepackt, und die Mutter hat einen vollen Rucksack auf dem Rücken. Eigentlich sieht die Szene nach einer ziemlichen Plackerei aus. Fred denkt nur: »Die haben alle überhaupt keine Probleme.« Er sieht keine düsteren Gestalten, die seine Wohnung beobachten. Er sieht auch nicht den alten Volvo; nichts, das in irgendeinem Zusammenhang mit seinen Problemen stehen könnte. Wenn er da etwas entdecken könnte, dann wäre das vielleicht auch eine Möglichkeit, endlich wieder die Initiative zu ergreifen und aus der Passivität zu kommen. Aber er entdeckt nichts; nicht weil er schlecht sehen würde. Es gibt schlicht nichts zu entdecken. Er hat ausreichend Zeit, alles ganz genau zu beobachten. Zeit, die er nicht haben will und die viel zu langsam verstreicht, ohne dass irgendetwas passieren würde. *** Die beiden Männer, die anscheinend irgendwo aus dem Osten kommen, sind recht schnell bei dem Punkt angekommen, um den es ihnen eigentlich ging. Julia kenne sich doch mit den Neuentwicklungen der Autoindustrie gut aus. Es gebe da ein Auto-Projekt, das sich S10 nenne. Julia entgegnet, dass sie natürlich schon von dem Projekt gehört habe. Es sei aber noch in recht frühem Stadium und sehr geheim. Mehr als dass es ein Projekt S10 gebe, wisse sie auch nicht. Ja, genau das sei das Problem, erwidern ihre neuen Freunde. Sie bräuchten dringend jemanden, der an der Entwicklung dieses Autos beteiligt sei – im Bereich Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 112 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Elektronik. Sie könne sich ja mal umhören. Aber länger als eine Woche solle dieses Umhören nicht dauern. Und beim nächsten Besuch würde dann sicher nicht mehr so viel geplaudert wie diesmal. Sie wisse ja sicher, dass beim Geld der Spaß aufhöre, und so sei das eben auch hier. Aber sie habe ja eine faire Chance, bei eventuellen Zahlungsschwierigkeiten ihren Verpflichtungen auch auf andere Weise nachzukommen. Wenn sie etwas erfahren habe, solle sie sich in der Schwabinger TahitiBar einfinden. Dort werde sie immer ein offenes Ohr finden, man kenne sie dort. Den Zusatz, dass Julia mit niemandem über diesen Besuch und den Inhalt des Gesprächs reden dürfe, hätten sich die beiden sparen können. Das war Julia auch so schon klar. Die Frage, was genau denn an dem S10 so interessant sein solle, wurde einfach überhört. »Und bevor ich richtig verstanden hatte, was eigentlich passiert war, saß ich wieder allein in meiner Wohnung. Nur die zwei Wassergläser auf dem Tisch zeigten mir, dass ich tatsächlich nicht geträumt hatte.« Als Franz dann in Österreich so nebenbei von diesem Fred Buck erzählte, der genau an diesem S10 arbeite, war das Julias Rettung. Da war der unfreundliche Besuch schon neun Tage her und ihre Verzweiflung wuchs, weil ihr klar war, dass sie sich auch in Österreich nicht auf Dauer würde verstecken können. Also sei sie einfach abgehauen, um so schnell wie möglich in die Tahiti-Bar nach Schwabing zu kommen. Hatte sich Julia früher noch gefragt, woran man sie denn in der Tahiti-Bar erkennen könne, so war es jetzt schon etwas klarer. So viele Leute verirren sich dann ja doch nicht mittags in einen eher zwielichtigen Nachtclub. Und wenn es Männer gibt, die auch mittags noch nicht nach Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 113 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Hause gehen wollen, dann sind es doch weniger Frauen, die so ticken. Julia steigt die Treppe zum Eingang hinab. Von der Straße aus gesehen besteht die Tahiti-Bar nur aus einer Tür mit einem eher kleinen und unscheinbaren Schild darüber. Sicher, nachts leuchtet und blinkt die Schrift in sämtlichen Farben einer tahitianischen Blumenkette, aber um diese Zeit ist die Beleuchtung abgeschaltet. Hinter der Tür führt besagte Treppe in das Untergeschoss und erst dort kommt man in das eigentliche Lokal. Es ist schummrig. Das Tageslicht hat Julia oben gelassen. Ihre Augen müssen sich erst etwas adaptieren. Die Einrichtung besteht aus einer bunten Mischung verschiedener Absonderlichkeiten. An einem Tisch kann man auf Friseurstühlen Platz nehmen. In einer Ecke gibt es ein großes Sofa. Lavalampen stellen den Bezug zu der Siebziger-JahreMusik her, die auch jetzt noch den Raum erfüllt – sicher leiser als im vollen Betrieb. Als Julia die sogenannte Bar betritt, ist ihr die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher. Das Lokal ist bis auf einen Angestellten, der die Getränke der Bar auffüllt, leer. Der begrüßt Julia mit »Scheffe« und verschwindet hinter einem Vorhang, anscheinend, um den Chef zu holen. Nach wenigen Augenblicken erscheint einer der Brüder Karamasow. Jedenfalls hatte Julia sich die Karamasows immer so ähnlich vorgestellt. Damals, als sie das Buch in einem Anfall von Bildungsbeflissenheit gelesen hatte. Herr Karamasow begrüßt Julia mit ihrem Namen, was nicht dazu beiträgt, dass sie sich wohler fühlen würde. Er selbst stellt sich nicht vor – es bleibt also bei Karamasow. Auch sonst ist er eher wortkarg: »Und?« Julia ist ebenfalls nicht in Plauderlaune. Sie sagt nur »S10«. Ihr Gegenüber nickt. Dann sagt sie den Namen Fred Buck und Kornwestheim und International Automotive AG und »reicht das?« – »Wenn das stimmt, sind deine Schulden in ein paar Wochen bezahlt. Wir Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 114 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 werden uns diesen Buck vorknöpfen und dann schon aus ihm rausbekommen, was wir brauchen. Wenn er das nicht liefern kann, hat er eben Pech gehabt – und du auch.« Als sie die Treppe aus der Unterwelt wieder erklommen hat, hat sie Kopfschmerzen von der stickigen, abgestandenen Luft und von der schlechten Gesellschaft. Das Tageslicht blendet sie. Sie hat ein Gefühl, als würde sie beim Verhör mit einer Lampe angestrahlt, wie man es immer im Krimi sieht. Sie habe sofort gewusst, dass sie einen Fehler gemacht habe. Wieder zu Hause fühlte sie sich nur noch schlecht, trotzdem sei sie erstmal wie tot auf ihr Sofa gefallen. Dann folgte noch etwas Ratlosigkeit, wie sie auch einige andere Protagonisten dieser Geschichte schon kennen. Und schließlich habe sie sich entschlossen, Franz um Hilfe zu bitten. So und jetzt sitzen sie hier. Julia hat jetzt vor Franz ihre Geschichte ausgebreitet und kann nur noch hoffen. Hoffen, dass er ihr die Geschichte glaubt, dass er ihr verzeiht und dass er ihr helfen will. Sicher, in jeder Beziehung gibt es Hoffnungen und Erwartungen – am Anfang vielleicht ein paar mehr als nach vielen Jahren, wenn manches schon etwas eingespielt ist, manches ausgesprochen und manche Enttäuschung einsortiert wurde. Aber Julias Hoffnungen sind dann doch etwas viel und auch etwas ungewöhnlich für den Anfang einer glücklichen, gemeinsamen Zukunft. Franz sitzt da und schweigt. In seinem Kopf brummt jetzt ein ganzer Fliegenschwarm. Er versucht trotzdem seine Gedanken zu ordnen, aber Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 115 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 das dauert etwas. Julia versucht in seinem Gesicht zu lesen, aber sie kann sich keinen Reim machen. Als Franz endlich sagt: »Wir müssen schnell los«, ist sie nicht schlauer. Immerhin sagt er »wir« und nicht »ich«. Sie schöpft Hoffnung, ihr eigentliches Ziel tatsächlich zu erreichen. *** Fred ist immer noch in seiner Kaninchenstarre gefangen. Er kann nicht schlafen, nicht essen, nicht denken. Er sitzt daheim vor dem Fernseher und bekommt überhaupt nichts mit. Diese Warterei macht ihn richtig fertig, und die Sorgen um Sandra fressen ihn auf. Fred fallen gerade die Augen zu, als das Telefon klingelt. Sandra weint. Sie sagt, man behandle sie gut, aber sie habe Angst. Fred solle ihr helfen. Sie wisse, dass die Herren, die sie mitgenommen hätten, keine Späße machen würden. Fred kommt nicht dazu, irgendetwas zu sagen oder zu fragen. Dann wird Sandra das Handy anscheinend aus der Hand gerissen. Sie kann den gerade begonnenen Satz nicht zu Ende bringen. Dann ist der Typ dran, mit dem Fred schon von Italien aus telefoniert hatte. Auch damals war Fred schon nervös, jetzt ist er psychisch in absolut desolatem Zustand. Der Russe – Fred hat ihn unter dem Namen verbucht – sagt ein paar Sätze, die mit »Wenn du deine Frau wiedersehen willst, ...« beginnen und mit »Keine Polizei« enden. Dann rückt er damit heraus, was er und seine Kumpane wollen. Sie wollen alle Informationen über die Steuergeräteverschlüsselung des S10. Fred soll ihnen den Sourcecode der Verschlüsselung und alle Passwörter besorgen, und zwar bis übermorgen um zwölf Uhr mittags. Er hat also noch 40 Stunden Zeit. Man würde ihm noch weitere Instruktionen geben. Er solle sein Handy bei sich haben. Fred hat tausend Fragen. Vor allem ist ihm klar, dass er die Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 116 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Forderung nicht wird erfüllen können. Aber er kommt nicht dazu, dies dem Russen zu sagen. Gerade, als er den Mund aufmachen will, legt der einfach auf. Fred redet gegen das monotone »Tüüüt« der leeren Leitung an. Die Stimme klang plötzlich überhaupt nicht mehr sympathisch. Vor dem Gespräch war er schon in schlechtem Zustand, jetzt ist er am Boden zerstört. Einerseits sind 40 Stunden eine Ewigkeit. So lange besteht keine Chance, Sandra aus der Hand ihrer Entführer zu befreien. Andererseits hat er nur 40 Stunden, um eine unlösbare Aufgabe zu lösen. Der Sourcecode ist das Programm zur Verschlüsselung. Im Klartext: Wer den hat, kennt den genauen Mechanismus. Wenn man dann auch noch die erforderlichen Passwörter hat, stehen Tür und Tor offen, um das elektronische System des Autos zu manipulieren. In Anbetracht der Tatsache, dass in naher Zukunft alle Fahrzeuge des bayrischen Mutterkonzerns von Hispano-Suiza diese Technik nutzen sollen, lässt sich aus diesen Informationen ein Millionengeschäft mit gestohlenen oder getunten Steuergeräten oder auch mit manipulierten Kilometerständen machen. Es ist also logisch, dass diese Daten im Büro nicht am schwarzen Brett ausgehängt werden. Fred hat keinen Zugang zu diesen Informationen. Die Passwörter sind sicher einem Kollegen im Projekt bekannt. Bei dem Programmcode ist er sich da nicht sicher. In vielen Fällen liefern die Fahrzeughersteller so einen sensiblen Teil der Software selbst. Der Lieferant eines elektronischen Systems baut dieses Programm dann als Blackbox in seine Software ein, ohne den Inhalt genau zu kennen. Der Lieferant bekommt in diesem Fall eben keinen Sourcecode, sondern die fertige Software, aus der sich der Sourcecode nicht mehr erkennen lässt. Das wäre der worst case. Dann hätte Fred wirklich gar keine Chance, die Forderung zu erfüllen. Oder die Chance wäre ungefähr so groß, wie wenn er bei der Deutschen Bank zehn Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 117 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Millionen Euro klauen sollte. Außerdem ist das, was da verlangt wird, ja auch kein Kavaliersdelikt. Fred darf natürlich auf keinen Fall so geheime Daten aus der Firma schaffen und diese dann an irgendjemand weitergeben. Damit würde er auf jeden Fall seinen Arbeitsvertrag verletzen; vielleicht würde er sich auch strafbar machen. So genau weiß er das nicht. Noch mehr wiegt für ihn ein Gefühl der Loyalität zu seinem Arbeitgeber, das ihm verbietet, der Firma Schaden zuzufügen. Bei den Sachen, die er Franz erzählt hat, lagen die Dinge anders – aus Freds Sicht. Andererseits, was bedeutet »auf keinen Fall«, wenn es um seine Freundin geht, der er sich durch mehr als Loyalität verbunden fühlt? Also, er muss versuchen die Daten zu beschaffen und die Forderungen zu erfüllen. Es ist kurz nach acht Uhr abends. In der Firma ist um diese Zeit natürlich niemand mehr. Jedenfalls keiner, der Fred im Moment helfen könnte. Zudem hat er ja überhaupt keinen Plan, an wen er sich wenden könnte und wie er diesen jemand dazu bringen könnte, ihm zu helfen. Er schaltet seinen Laptop ein. Zum Glück hat er es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Abend seinen Laptop aus der Firma mitzunehmen. Wenn irgendetwas passiert, er zum Beispiel krank wird, kann er von zu Hause wenigstens die wichtigsten Dinge noch erledigen. Er verbindet den Firmenlaptop mit seinem WLAN daheim und stellt über ein Virtual Private Network, kurz VPN, eine Verbindung zum Netzwerk der IAA her. Jetzt hat er ungefähr denselben Zugriff, wie wenn er im Büro an seinem Rechner sitzen würde. Er klickt die Projektablage auf dem Firmenserver an und hangelt sich durch die verschiedenen Projektmanagementordner. Da gibt es immer irgendwo eine Datei, in der alle Projektmitarbeiter aufgelistet sind. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 118 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Fred ist Applikateur. Er hat mit der Erstellung der Software eigentlich nichts zu tun. Das ist Joshis Job. Joshi ist der Softwareentwickler, mit dem Fred zu tun hat, wenn er Änderungen für das S10-Projekt braucht. Die Frage ist, ob noch andere Softwerker im Hintergrund an dem Projekt beteiligt sind. Die Antwort kennt er eigentlich schon. In diesem relativ kleinen Projekt gibt es außer Joshi keine anderen Software-Schreiber. Vielleicht vergibt Joshi ab und zu Arbeitspakete an Kollegen von IAA in Indien. Aber wenn er das macht, dann wahrscheinlich nicht für so sensible Teile wie die Verschlüsselung. Das wäre dann schon mal ganz gut. Joshi ist ein sehr hilfsbereiter Typ, mit dem sich Fred gut versteht. Im normalen Leben hätten sich Fred und Joshi eher nicht kennengelernt. Joshi ist eine recht seltsame Mischung. Einerseits etwas zu viel Solarium, etwas zu viel Fitnessstudio, ein paar Ohrringe zu viel – keine Tattoos, so weit man das sehen kann. Andererseits ist Joshi auch für Freds Empfinden ein Nerd. Man muss sich das so vorstellen: Für seine Schwiegermutter in spe ist Fred sicher ein echter Technikfreak. Er kann schließlich ein Handy bedienen. Aber wenn Joshi über die Software redet, an der ja auch Fred mitarbeitet, dann kommt Fred in neun von zehn Fällen nicht mehr mit. Also Joshi, der Heimsonnen-Nerd wäre Freds Mann für die unlösbare Aufgabe. Der Publikumsjoker, wenn er schon keinen Telefonjoker hat. Vielleicht kann er ja noch ein paar Informationen über die Verschlüsselung selber finden. Er kramt weiter auf der Netzwerkablage. Irgendwo müssen doch die Unterlagen von der Angebotsanfrage sein. Da müsste auch eine erste Version des Lastenhefts sein, in dem der Kunde beschreibt, was IAA im Lauf des Projektes eigentlich tun soll. Sonst stellen sich Fred beim Gedanken an diesen ganzen elektronischen Papierkram – Lastenhefte, Angebote, Projekthandbücher und so weiter – Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 119 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 immer die Nackenhaare auf. Wenn ein Projektleiter ankommt und ihn bittet eine Spezifikation aus der Sicht der Applikation zu prüfen, bekommt er gedankliche Stresspickel. Jetzt interessieren ihn diese Dinge plötzlich brennend und er ärgert sich, dass die Projektablage nicht genau so strukturiert ist, wie das die Prozessbeschreibung für das Konfigurationsmanagement eigentlich vorsähe. Immerhin findet er ein Lastenheft, aus dem hervorgeht, dass IAA den Verschlüsselungsmechanismus nach Spezifikation des Kunden zu entwickeln habe. Anscheinend wird dieses Softwaremodul nicht als Blackbox vom OEM geliefert. OEM oder Original Equipment Manufacturer werden die Fahrzeughersteller in der Branche genannt. Freds Chancen haben sich also wieder etwas erhöht. Die genaue Spezifikation ist in diesem Dokument allerdings nicht enthalten. Es ist nur vermerkt, dass diese Spec in einem gesonderten, als streng geheim eingestuften Dokument geliefert wird, das maximal zwei Personen bei IAA bekannt gemacht werden dürfe. Diese Personen seien dem Auftraggeber namentlich bekannt zu geben. Einer dieser zwei ist jetzt wohl Joshi. Fred kommen Zweifel, ob er hier auf dem richtigen Weg ist. Was tut er da eigentlich? Im Moment bewegt er sich noch in einer Grauzone. Die Unterlagen, in denen er gerade wühlt, gehen ihn nur begrenzt etwas an. Wenn er die Dokumente an irgendjemanden außerhalb des Projektes weitergäbe, würde er seinen Arbeitsvertrag verletzen. Das ist angesichts der Lage, in die er Sandra gebracht hat, natürlich nichts. Und er hat seinen Vertrag ja eh schon verletzt, als er diesem Typen im Auto über das S10-Projekt erzählt hat. Aber er kommt alleine bisher nicht richtig weiter. Wie es aussieht, müsste er mindestens Joshi noch in die Sache mitreinziehen. Vielleicht würde der damit auch noch in Gefahr gebracht? Und wäre es nicht doch besser, die Polizei zu Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 120 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 verständigen? Was, wenn die Russen sich nicht an irgendwelche Abmachungen halten und einfach alle Zeugen ihrer Aktion beseitigen wollen? *** Franz dämmert, dass die überraschende Gesprächigkeit, die dieser Fred Buck kürzlich gezeigt hat, ein Missverständnis gewesen sein könnte. Buck dachte möglicherweise, dass er – Franz – einer dieser Verbrecher sei. Das setzt seinen Schuldgefühlen noch das i-Tüpfelchen auf. Außerdem zeigt dieser Vorfall doch, dass die Russen Buck schon in die Mangel genommen haben. Er war ja schon so weit weichgekocht, dass er eine Menge Betriebsgeheimnisse ausgeplaudert hat. Er steckt da mit drin, und Julia auch. Sie bezahlen und ein paar Minuten später sitzen sie gemeinsam in Franz' altem Volvo und fahren auf der Ingolstädter Straße Richtung Autobahn. Sie haben noch keinen Plan, was sie tun könnten, aber es ist klar, dass sie nach Ludwigsburg oder Kornwestheim müssen, um in Freds Nähe zu kommen. Bis dahin sind sie sich schnell einig. Für alles Weitere gibt es dann doch sehr verschiedene Optionen, die sie während der Fahrt ausgiebig debattieren. Sollen sie direkt Kontakt zu Fred aufnehmen und ihm erzählen, was sie wissen? Oder sollen sie versuchen erstmal herauszubekommen, was bisher los ist? Vielleicht ist ja alles nicht so dramatisch und sie brauchen nicht aus der Deckung zu kommen. Oder sollten sie besser die Polizei einschalten? Aber was sollten sie denen erzählen? Wahrscheinlich würde man da ein Protokoll aufnehmen und das dann in einem sehr geduldigen Ordner abheften. Noch wahrscheinlicher wäre es, dass die Freunde und Helfer Franz und Julia Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 121 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 auf die Hörner nähmen. Immer wieder hat Franz das Handy schon in der Hand, um Freds Nummer zu wählen, und legt es dann doch wieder zur Seite. Als sie in Ludwigsburg bei Franz' Wohnung ankommen, ist es schon dunkel. Sie sind sich dann aber doch einig, dass sie zumindest noch bei Fred vorbeifahren sollten. Vielleicht würde sich ja etwas ergeben. Franz stellt den Wagen wieder an der Stelle ab, wo er auch stand, als er Fred getroffen hat. Sie warten eine Weile, aber es tut sich nichts. In Freds Wohnung brennt Licht – in allen Zimmern. Aber man sieht niemanden am Fenster. Ansonsten ist es auch in den Nachbarhäusern ruhig. Die Leute sind schon lange von der Arbeit zurück. Nach weiteren zehn Minuten Ausharren steigt Franz aus und geht zur Haustür. *** Herr Hafele hat den Tag richtig genossen. Er sitzt jetzt mit seiner Frau auf der Terrasse ihrer Wohnung. Von hier hat man einen schönen Blick über Stuttgart. Die Hafeles wohnen in einer Wohnanlage aus den achtziger Jahren, in einer der begehrten Halbhöhenlagen. Sie trinken ein Glas Wein – pro Person – und freuen sich, dass die Temperaturen endlich auch am Abend wieder so angenehm sind, dass man gerne noch draußen sitzt. Am Vormittag haben sie die Pflanzen auf der besagten Terrasse gepflegt, gekehrt und alles auf Vordermann gebracht. Nach dem Mittagessen gab es das obligatorische Schläfchen und schon während des Kaffees haben die beiden begonnen ihren nächsten großen Urlaub im Herbst zu planen. Es soll eine Autorundreise durch den Oman werden. Das Ehepaar will auf eigene Faust reisen und erhofft sich, in diesem Land noch etwas vom ursprünglichen Arabien zu finden. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 122 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Herr Hafele ist Mitte sechzig, etwas untersetzt, aber an sich sehr fit für sein Alter. Gut, das Haar ist grau bis weiß, aber mit dem Sommer bekommt seine Haut wieder eine gesunde Bräune. Er ist seit Beginn des Jahres im Ruhestand und immer noch entschlossen, die Zeit zu nutzen. Er möchte nicht eines Tages feststellen, dass er Jahre in einem Sessel vor dem Fernseher zugebracht hat. Und bisher läuft er da auch keine Gefahr. Er macht wieder etwas mehr Sport, als das früher zeitlich drin war. Ausserdem hat er erst maximal ein Prozent der Bücher gelesen, die ihn eigentlich schon lange interessieren, und dann wollen sie natürlich viele Reisen machen. Die Liste ihrer Traumziele ist lang; nach dem Oman stehen noch viele andere spannende Länder auf dem Programm. Herr Hafele ist auch in seinem Beruf viel auf Reisen gewesen, aber bei diesen Geschäftsreisen konnte er nie viel von Land und Leuten sehen. Man ist immer nur für ein, zwei oder drei Tage irgendwohin gereist, hatte ein paar Termine und schon ging es wieder zurück. Wenn es eine sehr weite Reise zum Beispiel nach Japan war, dann ist man am Sonntag abgereist und hat am Freitag den Flieger zurück genommen – keine Zeit für Sightseeing. Außerdem gingen die Businesstrips nur in die Länder, in denen sein Arbeitgeber Standorte unterhielt. Der Oman beispielsweise war deshalb kein Ziel für Dienstreisen. Aber die vielen Touren haben Herrn Hafele gewandt gemacht. Er und seine Frau haben keine Angst vor unbekannten Kulturen. Sie finden sich ohne größere Probleme überall zurecht und freuen sich deshalb auf entspannte Entdeckungstouren. Das Wissen, das sich Herr Hafele in seinem Beruf angeeignet hat, gibt ihnen ein zusätzliches Gefühl der Sicherheit. Herr Hafele hat nie viel über seinen Beruf gesprochen. Er hatte immer mit streng vertraulichen Vorgängen zu tun und er war in dieser Sache, wie er es auch in allen anderen Dingen ist, immer sehr pflichtbewusst. Da war Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 123 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 es am besten, überhaupt nicht über den Beruf zu reden, dann musste man die geheimen Themen auch nicht umständlich umschiffen. Die meisten Leute in seiner Umgebung – Nachbarn, Bekannte, die weitere Familie – wussten nicht, was Hafele bei der IAA bis zu seiner Pensionierung tat. Und jetzt brauchen sie es auch nicht mehr zu erfahren. Jetzt hat ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Da muss man nicht dauernd zurückzublicken. Seine alte Profession würde Herrn Hafele ohnehin früher wieder einholen, als dieser sich das je vorstellen könnte. *** Franz hat mit Julia vereinbart, dass sie im Auto warten solle, bis er ihr ein Zeichen gibt. Für was diese Sicherheitsmaßnahme gut sein soll, wissen sie beide nicht wirklich. Also, Franz klingelt bei Buck und wartet dann für seinen Geschmack viel zu lange. Tatsächlich dauert es aber nicht lange, bis der Schnapper surrt. Franz öffnet die Tür und tritt in das Treppenhaus. Eine Sprechanlage gibt es nicht; um mit Fred Buck zu sprechen, muss er also in die Höhle des Löwen – der Ausdruck passt hier ja nicht so gut, aber Franz ist in etwa so nervös, als würde er sich in die Höhle des Löwen wagen. Der Plan mit dem Zeichen an Julia ist damit schon fast ad absurdum geführt, aber was soll's. Eine Treppe hoch, auf dem ersten Absatz befindet sich links und rechts je eine Wohnungstür. Noch ein Stockwerk hinauf; es bietet sich das gleiche Bild. Dann geht es noch ein Stockwerk höher. Franz ist im Dachgeschoss angekommen. Die linke Tür ist einen Spalt weit geöffnet und Buck lugt hinaus. Das Erstaunen, als er Franz erkennt, ist nicht zu übersehen. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 124 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 »Sie?« – die Begrüßung fällt denkbar knapp aus. Auch Franz ist anfangs etwas kurz angebunden, weil er nicht so recht weiß, wie anfangen. In den letzten Tagen gab es recht viele Gespräche, die erstmal mühsam in Gang gebracht werden mussten. Wenn Franz gerade Zeit hätte, über so etwas nachzudenken, würde er sich sicher wünschen einfach mal wieder mit einem guten Freund bei einem Bier zu sitzen und zu quatschen – ohne Startschwierigkeiten. Im Moment hat er keine Zeit über ein Bierchen in vertrauter Gesellschaft nachzudenken. Er beginnt: »Hallo! Ich hätte auch nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen. Ich kann mir vorstellen, dass sie in Schwierigkeiten sind. Ich würde ihnen gerne helfen. Aber das sollten wir nicht hier an der Tür besprechen.« Fred starrt ihn an. Er ist unentschlossen. Redet dieser Typ überhaupt von den gleichen Problemen? Was sollte der damit zu tun haben? Franz bemerkt das Zögern und legt nach: »Wurden Sie wegen des S10 Projektes von einem Osteuropäer kontaktiert?« Fred öffnet wortlos die Tür und geht voran, den kurzen Flur entlang und dann hinten rechts in das Wohnzimmer. Der Raum ist gar nicht so winzig, aber durch die Dachschrägen wirkt er doch relativ gedrungen. Als Erstes fallen die beiden Sessel auf – sie sind mit orangefarbenem Cord bezogen. Franz nimmt auf einem dieser edlen Stücke Platz. Als Couchtisch fungiert ein Tisch, der anscheinend aus Freds Kinderzimmer stammt. Jedenfalls ist er mit Aufklebern einer Playmobil Safari Expedition beklebt, die man schon lange nirgends mehr kaufen kann, und mit einer original Pril-Blume – wirklich original. Insgesamt ist Freds Wohnung deutlich näher an einer Studentenbude als an der stylischen Bleibe eines aufstrebenden JungIngenieurs. Franz steht nochmal auf und geht zu dem kleinen Fenster. Von dort aus kann er sein Auto sehen. Er winkt hinunter und Julia winkt zurück. Sie steigt aus und geht ebenfalls zum Haus. »Ich habe noch Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 125 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 jemanden dabei«, sagt Franz. »Wir sollten erst anfangen, wenn sie auch da ist.« Bald sitzen sie zu dritt in dem kleinen Wohnzimmer. Es ist klar, dass die beiden Besucher aus der Reserve kommen und die Karten auf den Tisch legen müssen, um wenigstens etwas Vertrauen zu gewinnen. Sie haben ja wesentlich dazu beigetragen, dass Fred jetzt in der Tinte sitzt. Sie stellen sich kurz vor, erzählen von ihrem Beruf. Fred versteht noch nicht, was das direkt mit ihm zu tun hat. Erst als Franz erzählt, dass er in letzter Zeit speziell am S10 dran war, sieht er einen ersten Zusammenhang. Als Julia dann über ihre Verstrickungen mit den Russen berichtet, und dass sie diesen Leuten Freds Namen geliefert habe, um sich quasi selbst freizukaufen, wird Fred klar, dass diese Leute wohl wirklich in Verbindung zu seinem Problem stehen. Sie – vor allem der Typ – machen einen so niedergeschlagenen Eindruck, dass Fred ihnen ihr schlechtes Gewissen als Motiv für die Hilfsbereitschaft abnimmt und etwas mehr Vertrauen fasst. Die Konstellation, in der sie jetzt zusammensitzen, zeigt ja auch schon, dass Franz' Eingangsfrage zu bejahen gewesen wäre. Fred wurde wegen des S10-Projektes kontaktiert – und nicht nur von Franz. Jetzt erzählt er, was er erlebt hat – von den ersten Kontaktversuchen per Mail in der Firma und wie dann recht schnell der Druck gestiegen ist, bis zu Sandras Entführung. Als sie davon hören, sind Franz und Julia schockiert. Sie hatten nicht erwartet, dass die Situation schon derart eskaliert sein könnte, und dass die Russen – so nennen sie die Bande inzwischen – so skrupellos sein könnten. Gut, Julia hatte so was nach ihren Kontakten mit diesen Leuten geahnt. Und inzwischen ist ja auch klar, dass es hier um eine Bande geht, die ein sehr deutliches wirtschaftliches Interesse an den Daten hat. Anders gesagt: Es gibt bekanntlich viele Leute, die für Geld Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 126 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 vor nichts zurückschrecken. Fred ist einerseits sehr froh, endlich nicht mehr allein in dieser schwierigen Lage zu stecken, andererseits hat er eine ordentliche Wut insbesondere auf Julia, die ihm den ganzen Mist erst eingebrockt hat. Am Ende seiner Erzählung wird er kurz mal deutlich und spricht eben das aus, dass er nichts getan habe und nur wegen Julias Unfähigkeit, mit Geld umzugehen, und wegen ihrer ebenso großen Skrupellosigkeit in dieser aussichtslosen Situation sei. Viel schlimmer, Sandra, die noch viel weniger mit dem S10 zu tun hat, ist in einer äußerst gefährlichen Lage. Eine kleine, beschwichtigende Geste von Franz reicht aber aus, um allen am Tisch wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass sie gemeinsam sicher viel besser dran sind, als allein. Schuldzuweisungen helfen im Moment nicht. Julia ist es recht so. Es ist also zu überlegen, wie sie ihre Kräfte am besten einsetzen könnten und was sie am besten anstellen könnten, um Sandra unbeschadet zu befreien. Sie sind sich schnell einig, dass die Polizei in ihrer Lage eher weniger hilfreich sein würde – eine Entscheidung, die sie noch bitter bereuen werden. Ansonsten ist ihnen klar, dass Informationen über Sandras Aufenthaltsort und Befinden oberste Priorität haben. Sie überlegen, wie sie aus einem hoffentlich bald erfolgenden Anruf der Entführer möglichst viel an Informationen ziehen könnten. Außerdem ist auch klar, dass sie versuchen müssen, Zeit zu gewinnen. Selbst wenn sie alle Forderungen eins zu eins erfüllen wollen, ist das in der gesetzten Frist nicht zu schaffen. Das müssen sie – am Telefon darf natürlich nur Fred sprechen – den Russen klarmachen. Sie bekommen, was sie wollen, aber es geht nicht so schnell, weil Fred eigentlich keinen Zugang zu den Infos hat und Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 127 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 sich diese erst beschaffen muss, ohne dass jemand misstrauisch wird. Bald stehen ein paar Stichpunkte auf einem Zettel: • Zeit gewinnen – Ich liefere die Info, aber es geht nicht so schnell • Wie geht es Sandra? – Ich will mit ihr selber sprechen • Wo soll die Übergabe von Infos und Sandra erfolgen? • Wo sind die Typen mit Sandra hin? Diese Liste soll Fred jetzt immer bei sich tragen, um sie griffbereit zu haben, wenn der erwartete Anruf kommt. Franz und Julia wollen versuchen zu recherchieren, wer hinter der ganzen Sache stecken könnte. Das ist natürlich sehr vage; ihre Hauptrolle kommt sicher erst dann, wenn es erste Hinweise auf einen Aufenthaltsort gibt. Im Anschleichen und Ausspähen sind sie gut. Das ist ja ihr Job. Fred soll weiter versuchen, die geforderten Informationen zu beschaffen, wenn möglich, ohne irgendwelche anderen Leute einzuweihen. Wenn er das in dieser Nacht nicht mehr schaffen sollte, würde er morgen versuchen über Joshi an die Daten zu kommen. Auch dann soll er erstmal eine Geschichte erfinden, warum er die Daten braucht. Erst, wenn auch dieser Versuch scheitert, muss er Joshi einweihen. Das wäre nur der letzte Ausweg, aber Fred ist nicht gut im Geschichtenerfinden. Auch Julia gibt Fred ihre Handynummer. Franz und Fred brauchen sie ja nicht mehr auszutauschen. Sie vereinbaren, sich zumindest vorerst nur per SMS zu kontaktieren, damit Freds Handy immer erreichbar bleibt. Der Hinweis, auf ausreichende Akkuladung zu achten, ist gut, denn Freds Ladeanzeige ist schon fast bei Null. Anschließend verabschieden sich Franz und Julia. Sie müssen noch kurz Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 128 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 zu Franz' Wohnung, um etwas Ausrüstung aufzutreiben. Fred macht sich wieder auf die Suche nach Unterlagen auf dem Server der IAA. Sein Laptop ist immer noch mit dem Firmenrechner verbunden. *** Sandra wusste zuerst gar nicht, wie ihr geschah. Es klingelte. Sie drückte auf den Türöffner, und als sie die Wohnungstür öffnete, standen dort schon diese zwei Männer. Sie fragten nach Fred. Als sie sagte, dass er nicht da sei, drängten sie sich in die Wohnung und schauten nach, ob das auch stimme. Dann folgte ein kurzes Gespräch in einer Sprache, die sie nicht verstand. Für Sandra hörte sich diese Sprache hart und unmelodisch an. Im nächsten Augenblick wurde ihr der Mund zugehalten und die Männer zerrten sie die Treppe nach unten, aus dem Haus und in das Auto, das direkt vor der Tür geparkt war. Sandra stand unter Schock. Sie konnte keinen Widerstand leisten, was wahrscheinlich auch gut war. Sie hätte gegen die beiden kräftigen Kerle keine Chance gehabt. Der eine steigt mit ihr hinten ein und hält sie immer noch fest, während der andere losfährt. Die Türen werden verriegelt, die Fenster sind sehr dunkel getönt. Fluchtversuche erscheinen Sandra zwecklos, und da hat sie auch Recht. Die beiden Männer reden ununterbrochen aufeinander ein. Sie scheinen mindestens zu diskutieren, wenn nicht sogar zu streiten. Der Wagen verlässt Kornwestheim Richtung Süden und fährt dann auf die B27. Sandra wird jetzt nicht mehr ganz so fest gehalten. Jetzt weicht der Schock schierer Panik. Was wollen diese Typen von ihr? Fahren sie jetzt irgendwo in einen abgelegenen Wald und fallen dann über sie her? Das sind die ersten Fragen. Sie fahren nicht nach Ludwigsburg. Mit der Firma, Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 129 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 bei der Sandra arbeitet, scheint die Sache also nichts zu tun zu haben. Sie fahren inzwischen auf der B10 Richtung Pforzheim. Die Typen streiten immer noch. In einem Kreisverkehr wendet das Auto und fährt wieder zurück. Dann geht es auf die Autobahn – die A81 nach Stuttgart. Bei der nächsten Ausfahrt fahren sie wieder ab, um dann in der Gegenrichtung wieder auf die Autobahn zurückzufahren. Jetzt fahren sie also Richtung Heilbronn. Sandra versucht, sich etwas zu beruhigen oder sich wenigstens so zu konzentrieren, dass sie möglichst viele Details mitbekommt. Sie kennt sich hier aus und kennt bisher ihre Fahrtstrecke. Sie sitzt hinten rechts und kann an dem Emblem auf dem Lenkrad ablesen, dass sie in einem Porsche fahren, in einem von diesen Geländewagen. Das Auto ist schwarz. Gerade als sie sich wieder einigermaßen im Griff hat, kramt der Kerl neben ihr einen Schal aus seiner Jackentasche und verbindet ihr damit die Augen. Er braucht ihr nicht zu sagen, dass es nicht erlaubt ist, die Binde abzunehmen. Die Panik kehrt zurück. Ihre Entführer haben kein Wort mehr mit ihr gesprochen, seit sie ihnen gesagt hat, dass Fred nicht zu Hause sei. Langsam beruhigt sich die Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern. Trotz all der Aufregung hat Sandra mitbekommen, dass das alles irgendwie nicht der Plan war. Die Typen wissen nicht so recht, was jetzt kommen soll und wohin sie eigentlich fahren sollen. Sie weiß allerdings nicht, ob das gut ist oder schlecht. Plötzlich wird ihr ein Handy ans Ohr gehalten. »Sag deinem Typen, dass du bei uns bist, und dass er sich ab jetzt an unsere Befehle halten soll. Wir melden uns wieder«, herrscht ihr Nachbar sie an. »Und keine Wort mehr!« Sandra sagt Fred, dass irgendwelche Kerle – sie hat ja immer Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 130 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 noch keine Ahnung, mit wem sie es hier zu tun hat – sie mitgenommen haben. Nachdem sie Fred wie verlangt instruiert hat, bekommt sie sofort einen Stoß in die Rippen. Das raubt ihr den letzten Mut, irgendwelche weiteren Hinweise zu geben. Fred ist fast völlig sprachlos. Sie hört gerade noch »Mach Dir keine Sorgen« – was in ihrer Lage wirklich ein sinnvoller Spruch ist –, dann wird ihr das Telefon wieder aus der Hand gerissen. Kurz danach wird das Auto langsamer und fährt dann durch eine längere Rechtskurve. Anscheinend haben sie die Autobahn verlassen. Es folgt eine Abfolge von Kurven, bremsen, beschleunigen, die sich Sandra nicht merken kann. Das könnte sich auch unter normalen Bedingungen kaum jemand merken und in Sandras Gemütsverfassung ist überhaupt nicht daran zu denken. Zuletzt holpert es etwas, und sie fahren nur noch recht langsam – vielleicht auf einer Art Feld- oder Waldweg. Dann hält das Auto an. Der Fahrer steigt aus, kommt zurück und sie fahren nochmal ein paar Meter. Dann wird der Motor abgestellt. Sandra hat kein Zeitgefühl mehr. Sie weiß nicht, wie lange sie schon in der Hand dieser Leute ist. Sie schätzt, dass sie ungefähr zwei Stunden gefahren sind. Tatsächlich waren es nur 45 Minuten. Einer der Männer zerrt sie aus dem Auto und führt sie ein paar Meter. Sandras Augen sind immer noch verbunden. Sie betreten ein Gebäude. Die Tür wird geschlossen und dann nimmt man ihr die Augenbinde ab. Sandra braucht einige Sekunden, um sich zu orientieren. Sie ist in einer Art Hütte. Das Gebäude besteht wohl nur aus einem rechteckigen Raum. Es gibt nur die Tür, durch die sie hereingekommen sind, und zwei kleine Fenster. In einer Ecke steht ein Stockbett, in einer ein Tisch mit einer Eckbank und zwei Stühlen. Ansonsten gibt es noch ein leeres Regal und eine Art improvisierte Küche mit ein paar Plastikschüsseln und einem Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 131 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Gaskocher. Es riecht modrig, stickig. Sandra soll sich auf die Bank setzen. Sie versucht, einen kurzen Blick durch die Fenster zu werfen. Aber da gibt es nicht viel zu sehen. Ein bisschen Wiese, ein paar Büsche, ein Maschendrahtzaun, hinter dem noch eine hügelige Landschaft mit einzelnen Bäumen und Wiesen zu sehen ist, am linken Rand des Bildes noch ein kleines Waldstück. Dann hört die Welt auf. Die beiden Typen setzen sich auf das Stockbett und beginnen wieder in ihrer harten Sprache zu streiten. Sie beachten Sandra nicht. Trotzdem traut sie sich nicht, sich zu bewegen. Ihr ist kalt. *** Schon auf der Fahrt zu Franz´ Wohnung überlegen Julia und Franz, was sie mitnehmen sollen. Bald türmt sich im Wohnungsflur ein mittelgroßer Haufen auf. Nach seiner Fotoausrüstung muss Franz nicht lange kramen. Auch ein Fernglas hat er schnell gefunden und in die Kameratasche gesteckt. Dann tragen der alte Atlas aus dem Auto und zwei Wolldecken zu dem Haufen bei. Im normalen Junggesellenhaushalt finden sich vielleicht nicht unbedingt zwei Wolldecken. Aber wenn Franz stundenlang auf der Lauer nach Erlkönigen im Auto sitzt, nimmt er gerne mal eine Decke mit, sonst wird es im Winter sehr schnell ungemütlich. Für was die Wolldecken in diesem Fall gut sein sollen, wissen die beiden selbst nicht so genau. Etwas zu essen muss auch mit, das ist klar. Im Kühlschrank herrscht allerdings gähnende Leere und auch sonst findet sich praktisch nichts – doch, eine Prinzenrolle. Die wird gleich geöffnet. Franz setzt einen Kaffee auf und setzt sich dann zu Julia an den kleinen Küchentisch. Sie knabbern ein paar Kekse, dann steht Julia auf und setzt sich auf Franz’ Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 132 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Schoß, schlingt die Arme um seinen Hals und küsst ihn. Trotz aller Widrigkeiten sind sie ja frisch verliebt. Sie bleiben noch eine Weile umschlungen sitzen. Beide haben schon einen langen und ereignisreichen Tag hinter sich und es steht ihnen auch noch einiges bevor. Eine kurze Verschnaufpause muss also drin sein. Nachdem der Kaffee ausgetrunken ist – sie haben sich nicht viel Zeit dafür gelassen – verlädt Franz den Haufen aus dem Flur in sein Auto. Er checkt kurz sein Handy, aber Fred hat noch keine Nachricht geschickt. Dann fahren sie die paar Meter zur Tankstelle, bei der Franz ja quasi Stammgast ist. Während Franz das Auto volltankt, kümmert sich Julia schon mal um den Proviant. Es ist klar, dass die Versorgung aus dem Tankstellenshop Ernährungsberater, Franz’ Hausarzt oder auch stillende Mütter an den Rand eines Nervenzusammenbruchs bringen würde, aber mitten in der Nacht gibt es keine Alternativen. Julia versucht, das Beste aus der Situation zu machen, und wählt vegetarische Tiefkühlpizza, fettarme Kartoffelchips und Nachos mit sicher sehr vitaminreichem Tomaten-Paprika-Dip sowie – als Nervennahrung – mehrere Tafeln Schokolade Typ »Honig-Müsli« aus. Zu trinken gibt es ein paar Flaschen Mineralwasser. Derart ausgestattet machen sie sich wieder auf den Weg zu Fred. Kurz bevor sie ankommen, schicken sie ihm eine SMS, damit er nicht erschrickt, wenn an der Tür geklingelt wird. *** Fred ist inzwischen auch ein kleines Stück vorangekommen. Er hat weiter die Projektablage auf dem Server der IAA durchgewühlt, aber dort nichts gefunden, das ihn vorangebracht hätte. Dann ist ihm aber DOORS eingefallen. In dieser Datenbank sind alle Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 133 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Anforderungen an das Projekt erfasst. Dort ist also die genaue Spezifikation aller Funktionen des Systems enthalten. Jede Änderung ist dort genau dokumentiert und verfolgbar. Außerdem werden auch die Tests festgehalten, mit denen nachgewiesen wird, dass die Anforderungen in der Software korrekt umgesetzt wurden. Wenn also die Verschlüsselung auch in ihrem Projekt berücksichtigt ist, wovon Fred ausgeht, dann sollten sich eigentlich dazu die entsprechenden Anforderungen finden lassen. Und tatsächlich gibt es ein entsprechendes Kapitel in der Datenbank. Es hat nicht sehr viele Einträge und schon auf den ersten Blick ist erkennbar, dass alle Anforderungen auch schon umgesetzt sind. Anscheinend hat Joshi sehr gewissenhaft wirklich alle Anforderungen in DOORS eingestellt, auch die, die er eigentlich hätte geheim halten müssen – DOORS ist für alle Projektmitarbeiter freigeschaltet. Aber das ist halt ein Dilemma. Einerseits hat man dieses System, das mit viel Aufwand gefüttert wird, um sicherzustellen, dass an alles gedacht und nichts vergessen wird, andererseits sollen dann wesentliche Teile dort nicht aufgenommen werden. Für Fred ist Joshis Entscheidung – vielleicht war es auch keine wirklich bewusste Entscheidung – alles in die Datenbank zu schreiben ein Glücksfall. Denn jetzt hat er schon mal die Spezifikation der Verschlüsselungsfunktion, was schon sehr wertvoll ist, weil diese Spec recht konkrete Rückschlüsse auf die Funktionsweise zulässt. Noch toller ist aber, dass Joshi auch die zu verwendenden Passwörter in die Anforderungsdatenbank aufgenommen hat: »NEBELSTREIFS10« und als Backup-Passwort »BOLOGNE746« – Volltreffer. Damit ist er schon mal ein Stück weiter. Das Handy summt kurz; eine SMS kündigt Franz und Julia an. Wenig später klingelt es an der Tür. Als sie wieder in Freds StudentenbudenWohnzimmer sitzen, ist es vier Uhr nachts. Alle drei sind begeistert Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 134 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 wegen der Erfolge, die Fred schon erzielt hat. Aber sie gönnen sich keine große Pause. Während die Gefrierpizzas im Ofen backen – für ein leckeres Vollwert-Frühstück –, versucht Fred noch weitere Informationen zu finden. Franz und Julia überlegen, welche Strategie für das weitere Vorgehen am meisten versprechen könnte. Die Hauptfragen für das Telefonat mit den Entführern bleiben auch jetzt unverändert. Sie haben jedoch eine bessere Ausgangslage, Zeit zu gewinnen, und können vielleicht auch besser eigene Forderungen stellen, wenn sie zeigen können, dass sie in der Lage sind, an die gefragten Informationen zu kommen. Wirklich viel tut sich aber nicht mehr. Das zermürbt nun nicht mehr Fred allein, sondern Franz und Julia mit ihm. Das wiederum tut Freds Verfassung gut, was eigentlich schon die wichtigste Hilfe ist, die Franz und Julia leisten können. Gegen sechs Uhr klingelt Freds Handy. Alle setzen sich um Freds Kinderzimmertisch, um dann ganz ruhig zu sein und keine verdächtigen Geräusche zu machen. Franz und Julia sind gerüstet, Notizen zu machen. Sie haben ausprobiert, dass es für den Gesprächspartner nicht zu bemerken ist, wenn der Lautsprecher des Handys eingeschaltet wird – solange sie nicht reden, sollte Franz' und Julias Anwesenheit nicht bemerkt werden können. Also alle sind vorbereitet, Fred nimmt das Gespräch an und schaltet auf Lautsprecher. Einer der Russen meldet sich: »Hallo Buck!« Sie geben ein paar Anweisungen. Fred solle entweder daheim bleiben oder zur Firma gehen, andere Wege solle er sich sparen. Er solle die geforderten Informationen auf eine CD brennen. Das Ganze mit ein bisschen Entführer-Small Talk durchzogen – Drohungen und so weiter. Nicht, dass Fred so cool wäre, das Gespräch so zu sehen, aber am Ende kommt der Inhalt darauf raus. Nach der gefühlten Ewigkeit von 45 Sekunden gelingt es Franz mit Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 135 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 wildem Gefuchtel Fred an ihre Fragenliste zu erinnern. Dieser unterbricht den Russen relativ unvermittelt und sagt, dass er mit seiner Freundin sprechen wolle. »Warum sollten wir das erlauben?« – »Weil ich schon einen Teil der Infos habe!« – »Was hast du?« – »Eines der beiden Passwörter.« – »Ich warne dich. Wir können das überprüfen. Also?« – »NEBELSTREIFS10« – »OK.« Sandra sagt mit relativ fester Stimme, dass es ihr so weit gut gehe. Fred fragt, ob die Entführer mithören. Als sie dies verneint, sagt er ihr, sie solle seine Fragen nur mit »Ja« oder »Nein« beantworten. Leider beantwortet sie auch die folgenden Fragen nur mit »Nein«. Ob sie wisse, wo sie sei. Ob sie die Entführer kenne. Ob sie in einer Ortschaft sei. Erst bei der Frage, ob sie sonst Hinweise habe, die helfen könnten, sie zu finden, wird sie gesprächig: »Ja, das, was mir im Moment hilft, ist die Erinnerung an die Hochzeit von Cindy und Bert, wie sie im Traktor gefahren sind. Und die Vorfreude auf unseren nächsten Urlaub, wenn wir endlich mal wieder in die Einsamkeit des Nordens fahren.« Dann ist sie auch schon wieder weg. Der Russe hat ihr das Handy wieder aus der Hand genommen und sagt nur noch: »Übergabe morgen um 12 Uhr in der Nähe von Ludwigsburg. Details folgen.« Dann legt er auf. Die drei sitzen da und brauchen erst einmal ein paar Minuten, um sich wieder zu sammeln. Franz und Julia haben versucht, alles wörtlich mitzuschreiben. Sandra scheint es relativ gut zu gehen – den Umständen entsprechend, wie es in den Arztserien immer so viel sagend heißt. Aber sonst sind ja anscheinend nicht viele verwertbare Informationen rübergekommen – gerade das Gespräch mit Sandra war ja doch eher wirr. Geht es ihr also doch nicht so richtig gut? Wieso ausgerechnet die Hochzeit von Freunden? Sollte das ein Wink mit dem Zaunpfahl in Freds Richtung sein? In dieser Situation? Fred sieht das anders. Er kann mit Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 136 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 dieser kryptischen Aussage auch nicht gleich etwas anfangen. Aber er glaubt nicht, dass die Hochzeit ihrer guten Freunde tatsächlich so eine große Bedeutung für Sandra hat. Er meint, dass sie vielleicht eine Botschaft verpackt hat. Sie hat diesen Satz ja auch gesagt, als Fred nach Hinweisen gefragt hat. »Und«, sagt er, »Cindy und Bert sind bei ihrer Hochzeit überhaupt nicht in einem Traktor gefahren. Ich könnte euch keine Details über die Trauung erzählen, aber einen Traktor hätte ich mir gemerkt, genauso wie das Hochzeitsauto einen schwarzen Porsche Cayenne, ein richtiger Schickeria-Traktor. Sandra sagt das immer. Für sie würde so ein Auto nie als Hochzeitsauto in Frage kommen.« Als er das Grinsen in Franz' Gesicht sieht, stockt er. Jetzt ist ihm auch klar, dass er gerade die Lösung dieses Rätsels geliefert hat. Also tatsächlich eine Botschaft, die besagt, dass die Typen, die Sandra festhalten, einen möglicherweise schwarzen Cayenne fahren. Dann hat doch der zweite Satz mit dem Urlaub im Norden auch was zu bedeuten. Jedenfalls haben die beiden keinen Urlaub im Norden geplant. Sandra liebt warm und assoziiert mit Norden immer kalt. Einsamkeit des Nordens? Darauf kann sich erstmal keiner einen Reim machen, auch Fred nicht. Sie gehen nochmal die übrigen Notizen durch. Was haben denn die Entführer gesagt? Fred soll in der Nähe bleiben. Die Daten sollen auf eine CD gebrannt werden. Übergabe in der Nähe von Ludwigsburg. Warum auf CD? Das ist doch altmodisch. Für die Russen wäre es doch viel einfacher, sich die Infos per Mail schicken zu lassen. Dann könnten sie alles in Ruhe prüfen und Sandra dann gefesselt und mit verbundenen Augen im Wald aussetzen. So jedenfalls würde Franz das machen. Fred und Julia schauen ihn entgeistert an. Vielleicht sollte Franz doch über eine kriminelle Karriere nachdenken. Er lässt sich aber nicht so leicht aus dem Konzept bringen. Ihm geht es darum zu zeigen, dass die ganze Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 137 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Sache wohl nicht so richtig durchdacht zu sein scheint. Das hat aber mit dem hohen Norden nichts zu tun. »Halt!«, unterbricht Julia. »Hoher Norden hat sie nicht gesagt. Vielleicht war das Absicht und sie meint nur nördlich, aber nicht weit im Norden.« Auch die Ansage, dass die Übergabe in Ludwigsburg laufen soll, würde ja dafür sprechen, dass Sandra nicht sehr weit weg gebracht wurde. Das wäre dann also ein Hinweis, dass sie irgendwo an einem einsamen – von »Einsamkeit« war sicher auch nicht zufällig die Rede – Ort nördlich von hier festgehalten wird. Das ist natürlich leider nicht sehr präzise, aber wahrscheinlich weiß Sandra einfach auch nicht mehr über ihren Aufenthaltsort. Fred gibt in Google Maps »Ludwigsburg« ein und sieht sich die Gegend nördlich der Stadt auf der Karte an. Es gibt da schon ein paar Ecken, die nicht ganz so dicht besiedelt sind. »Einsamkeit« ist in dieser Gegend allerdings schon schwer zu finden. Das ist nun mal ein relativer Begriff. Aber es gibt da den Naturpark Schwäbisch-Fränkischer Wald mit Orten wie Löwenstein, Sulzbach oder Wüstenrot; da sieht es etwas einsamer aus – aus Freds Google Perspektive. Ebenso der Naturpark StrombergHeuchelberg oder etwas weiter nördlich der Naturpark NeckartalOdenwald. Alles gut und schön, aber damit kommen sie im Moment nicht groß voran. Selbst wenn sie mit diesen Vermutungen richtig lägen, hätten sie einige hundert Quadratkilometer abzusuchen. Sie sind ein Stück weiter, aber so richtig viel haben sie nicht. Was sie wissen ist nicht konkret genug, um sich auf die Suche nach Sandra zu machen. Das wäre ja auch noch schöner gewesen. Es mag schon stimmen, dass die Russen da vielleicht etwas unvorbereitet in diese Sache hineingerutscht sind. Apropos, das könnte sich für Fred als gut erweisen, falls sie wegen schlechter Vorbereitung Fehler machen, die Fred und seinen neuen Freunden helfen. Aber es könnte auch sehr Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 138 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 gefährlich sein, wenn bei den Entführern plötzlich Panik ausbricht, die dann zu entsprechend unvorhersehbaren Reaktionen führt. Andererseits hat Franz nicht den Eindruck, dass sie es hier mit rechtschaffenen Leuten zu tun haben, die aus einer persönlichen Notlage heraus nun zum ersten Mal kriminell werden. Die scheinen schon öfter krumme Dinger gedreht und eine entsprechend niedrige Hemmschwelle zu haben. Insgesamt ist die Lage sehr schwer einzuschätzen. Aber größte Vorsicht ist mit Sicherheit angebracht. All diese Dinge erörtern sie, als sie in Freds Küche frühstücken. Es gibt die Tiefkühlpizza, die inzwischen gebacken wurde, sich dann fast zu einem Brikett entwickelt hätte, wenn Julia nicht noch rechtzeitig den Ofen abgeschaltet hätte, und die inzwischen schon lange wieder kalt geworden ist. Also, es gibt kalte Pizza und Kaffee zum Frühstück. *** Herr Hafele und seine Frau sind um sechs Uhr aufgestanden. Solange Herr Hafele berufstätig war, hasste er es, so früh aufzustehen. Jetzt möchte er jede Minute nutzen. Da verbietet sich langes Schlafen. Er fühlt sich auch um sechs Uhr fit. Er deckt den Frühstückstisch auf der Terrasse, wo die Luft zwar um diese Zeit noch etwas kühl ist, aber mit einer Jacke lassen sich die ersten Strahlen der Morgensonne doch schon so richtig genießen. Frau Hafele bringt neben Brot, Butter und Marmelade auch einen Teller mit mundgerecht geschnittenem Obst. Dazu gibt es frisch gepressten Orangensaft. Frau Hafele würde durch ein Frühstück aus wieder erkalteter Tiefkühlpizza und Kaffee in einen komaähnlichen Zustand überführt werden; verbunden mit einem grünen Gesichtsekzem. Sie achtet sehr auf eine gesunde Ernährung, wofür ihr ihr Mann auch Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 139 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 sehr dankbar ist. Die Hafeles planen heute einen Ausflug. Sie wollen mit dem Auto nach Ludwigsburg fahren, dort bis zur Neckarbrücke und dann dem Neckartal Richtung Norden folgen. Das Ziel sind die Weingärten in der Nähe von Hessigheim. Dort soll der Weg zuerst durch ebendiese Weingärten führen, und dann könnte man vielleicht auch noch ein wenig Wein bei einem der vielen Weingüter einkaufen. Nach dem Frühstück packt Herr Hafele ein wenig Proviant in seinen Rucksack, dazu die Regenjacken – man weiß ja nie – und schon macht sich das Ehepaar auf den Weg. Beim Verlassen der Wohnung kontrolliert der Hausherr nochmal, ob alle elektrischen Geräte ausgeschaltet sind und auch, ob er alles dabei hat: Hausschlüssel, Autoschlüssel, Geld, Handy – das fehlt, also noch einstecken. Er zieht die Wohnungstür zu und steigt mit seiner Frau die vielen Treppen zur Tiefgarage hinunter. Direkt nach der Ausfahrt der Tiefgarage halten sie kurz an, um das Verdeck des SLK zu öffnen. Das Cabrio ist auch ein Luxus, den sie sich erst vor Kurzem geleistet haben; die Kinder sind aus dem Haus und versorgen sich selber. Jetzt, aber erst jetzt, darf man sich auch mal was gönnen. Damit stehen Hafeles in Schwaben eher allein da. Die meisten, die ihr Leben lang gearbeitet und jede Mark – später Euro – gespart haben, um ein Haus zu finanzieren und eben die Kinder zu versorgen, kommen aus diesem Fahrwasser auch dann nicht mehr raus, wenn sie sich eigentlich mal was leisten sollten. Dann wird weiter gespart, vielleicht – im besten Fall – für die Enkelkinder. Also, Hafeles wollen und können genießen und sind inzwischen am Stuttgarter Hauptbahnhof, wo sie auf die B27 Richtung Norden einbiegen. Die milde Morgensonne scheint ihnen auf die Schirmmützen und der CD-Player spielt ihre Lieblingsmusik von Morcheeba. Die passt eigentlich nicht zu ihrer Generation, aber auch Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 140 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 hier ist das Ehepaar eben nicht ganz durchschnittlich und hat sich von den eigenen Kindern, die jetzt bereits aus dem Haus sind, inspirieren lassen. Sie fahren über die Schnellstraße, auf der man überhaupt nicht wirklich schnell fahren darf, weil das Tempo überall auf maximal 80 Stundenkilometer begrenzt ist, nach Ludwigsburg. Dort geht es über die Schlangenkreuzung, die ihren Namen einer Skulptur auf einer Verkehrsinsel verdankt, und dann vorbei am blühenden Barock, dem Schloss des Königs Eberhard Ludwig, mit dem großen Schlossgarten. Noch ein paar hundert Meter und sie erreichen den Neckar. Sie überqueren die Brücke und folgen dem Fluss stromabwärts. Immer wieder wechseln sich Ortschaften mit Fachwerkhäusern, Felder und auch steile Weingärten ab. Nach ungefähr 20 Kilometern erreichen sie den kleinen Ort Hessigheim. Dort verlassen sie das Flussufer und fahren über kleine Straßen zu einem Wander-Parkplatz, der oberhalb der auch hier angelegten Weingärten liegt. Sie stellen das Auto ab und machen sich zu Fuß auf. Zunächst führt der Weg über Felder. Nach wenigen hundert Metern erreichen sie eine Hütte der Bergwacht. Von dort aus wird ein kleines Areal mit Kalkfelsen betreut, die sogenannten Hessigheimer Felsengärten. Hier toben sich die Kletterfreaks aus, aber die Felstürme oberhalb des tief eingeschnittenen Flusstals geben insgesamt der Landschaft einen besonderen Pep. Darüber hinweg hat man eine herrliche Aussicht über die sanften Hügel der weiteren Umgebung. Von hier aus starten die Hafeles ihre letzte gemeinsame Wanderung durch die Weinberge. *** Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 141 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Fred macht sich auf den Weg zur Firma. Es ist ungefähr die gleiche Zeit, zu der er auch sonst zur Arbeit fährt. Aber es fühlt sich doch alles anders an. An normalen Tagen verspürt er manchmal keine große Lust, zur IAA zu fahren, zum Beispiel, wenn Projektreviews anstehen. Da besteht immer eine gewisse Gefahr, in unangenehme Situationen zu geraten. Denn manchmal veranstaltet das Management regelrechte Kreuzverhöre; wahrscheinlich, um sich selbst zu beweisen, wie eingehend man sich über den Status der Projekte informiert. An solchen Tagen hat Fred wenig Motivation. Aber im Vergleich zu dem Gefühl, das ihn heute zu seiner Arbeitsstelle begleitet, ist das alles gülden. Heute hat er eine üble Verbrecherbande im Nacken, die auch noch seine Freundin gefangen hält, und er muss so ziemlich die geheimsten Informationen über sein Projekt aus der Firma entwenden. Wie er das so genau anstellen soll, weiß er allerdings noch nicht, was auch nicht direkt zu seiner Aufheiterung beiträgt. Fred stellt sein Auto auf dem Mitarbeiterparkplatz ab. Kurz vor acht hat er noch Glück und bekommt einen Platz in der Nähe eines der Tore. Er hält seinen Firmenausweis an den Kartenleser und geht dann durch das Drehtor. Jetzt dürfte der Rechner beim Werkschutz geloggt haben, dass er auf dem Gelände ist. Er betritt das Gebäude und hält seinen Ausweis wieder an einen Kartenleser. Dieser gehört zum Zeiterfassungssystem – quasi die Stempeluhr. Dann geht er die Treppen zum zweiten Stock hinauf und dort zu seinem Arbeitsplatz im Großraumbüro. Die meisten seiner Kollegen sind schon da. Fred versucht, sich nichts anmerken zu lassen und genauso locker wie immer zu sein. Wahrscheinlich gelingt es ihm nicht besonders gut, alles nach normal aussehen zu lassen. Aber seine Kollegen sind, wie er, alle Ingenieure. Keiner von denen ist so sensibel, dass er schon nach den ersten zwei Floskeln des Tages Freds Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 142 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 getrübte Stimmung bemerken würde. In dieser Hinsicht muss er sich keine Sorgen machen. Fred fährt den Rechner hoch, loggt sich ein und startet das Mailprogramm. Er interessiert sich heute natürlich noch weniger für die Nachrichten seines Chefs als sonst, aber vielleicht gibt es eine Nachricht der Russen. Die haben ihn ja schon mal per Mail kontaktiert. Oder, auch das wäre noch spannend, vielleicht gibt es irgendwelche Mails von den Softwerkern. Er braucht einen Anknüpfungspunkt, um bei Joshi aufzukreuzen. Einfach zu dessen Schreibtisch im dritten Stock zu schlappen und über das Wetter zu quatschen, wäre zu auffällig. Das macht Fred sonst nie. Da wäre irgendein Ereignis im Projekt, das ihm als Vorwand dienen könnte, sehr praktisch. Aber Fred findet nichts Passendes in seinem Postkasten. Er öffnet den Kalender und ist zumindest etwas erleichtert. Um acht Uhr beginnt das Projektteammeeting, bei dem sich die wesentlichen Projektmitarbeiter um den Projektleiter scharen – Klaus, der Projektleiter des S10-Projektes, würde dieses Verb »scharen« wahrscheinlich gut finden; er versteht sich als Oberhirte seiner Projektschafe. Dieses Meeting findet alle zwei Wochen statt, und wie alle Meetings und Sitzungen gehört es nicht zu Freds Lieblingsveranstaltungen. Heute freut er sich über den Termin, denn am PTM – bei der IAA wird alles abgekürzt – nimmt auch Joshi teil und es werden alle anstehenden Aufgaben und aktuelle Probleme besprochen. Da sollte sich dann hoffentlich auch der gesuchte Anknüpfungspunkt finden. Drittens fällt es Fred leicht, bei diesen Besprechungen in eine Art Trance-Zustand wegzudämmern, der es ihm vielleicht ermöglicht, Ideen zu entwickeln, wie er den verdammten Sourcecode für die Verschlüsselung aus Joshi rausleiern könnte. Fred sitzt schon seit zwei Minuten im Besprechungszimmer, sein Notizbuch und einen Kugelschreiber fein säuberlich vor sich auf dem Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 143 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Tisch, als Klaus der Projektleiter den Raum betritt. Aber auch diese Besonderheit fällt nicht auf. Normalerweise kommt Fred zuverlässig zwei Minuten zu spät. Das Meeting verläuft an sich wie immer. Klaus geht die sogenannte OPL, die Offene-Punkte-Liste, des Projekts durch und fragt alle, deren Aufgaben fällig sind, nach dem Status. Dieser Teil der Veranstaltung bringt für Fred nichts Neues. Er muss nur einmal die weiße Flagge hissen und zu Protokoll geben, dass er eine Aufgabe noch nicht bearbeitet hat, wegen seines Urlaubs. Das ist aber auch nichts Neues. Im zweiten Teil der Besprechung geht es dann um aktuelle Themen, die noch nicht in der OPL enthalten sind. Klaus berichtet von einem Meeting mit dem Projektleiter des Kunden. Die Entwickler aus dem Mutterkonzern von Hispano-Suiza haben eine Erprobung in Spanien gemacht, ohne Beteiligung von IAA, und dabei noch verschiedene Probleme festgestellt, die jetzt bearbeitet werden müssen. Sie haben mit der Messtechnik in ihren Versuchsfahrzeugen Dateien aufgezeichnet und diese schon per Mail an Klaus geschickt. Die Kollegen des OEM haben sich die Messungen auch schon angesehen und Vermutungen aufgestellt, was jeweils die Ursache sein könnte. Die Standardfunktion des Abstandsregeltempomaten scheint so weit in Ordnung zu sein. Die Erprobungsfahrt sollte dazu dienen, einige komplexe Features zu testen. Und tatsächlich wurden unter anderem Probleme mit der Dejustageerkennung entdeckt. Diese Funktion kann erkennen, wenn der Radarsensor des Systems, zum Beispiel nach einem Parkrempler, etwas verdreht wurde und nicht mehr exakt auf die Fahrzeugachse ausgerichtet ist. Ein weiteres Problem betrifft die Linsenheizung. Der Radarsensor hat vorne eine Kunststofflinse, die beheizbar ist. Der Sinn dieser Heizung besteht darin zu verhindern, dass sich zum Beispiel Schneematsch auf Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 144 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 der Linse festsetzt, denn das würde die Radarsignale zu stark dämpfen; der Sensor könnte nichts mehr detektieren. Und so geht es weiter – Fehlerbericht reiht sich an Fehlerbericht. Erst als bei der Beschreibung der letzten Messung das Stichwort »Verschlüsselung« fällt, ist Fred plötzlich hellwach. Die Ingenieure hatten versucht, das ACC-System in einem neuen Fahrzeug in Betrieb zu nehmen. Der Sensor mit dem Steuergerät war schon eingebaut und sie hatten nur noch die Software auf das Steuergerät geflasht. Bei diesem Vorgang wird das Programm in den Speicher der Hardware geladen. Der Diagnosestecker des Fahrzeugs wird dabei über ein spezielles Adapterkabel mit einem Laptop verbunden. Wenn auf dem Rechner die erforderliche Flash-Software installiert ist, kann der Download gestartet werden. Anschließend müssen noch einige Konfigurationseinstellungen an dem System vorgenommen werden. Dies erledigt eine weiteres Programm auf dem Laptop automatisch. Dann sollte das System nach einem Reset einsteigen. Im Klartext wird die Zündung ausgeschaltet, eine Weile gewartet, bis alle Steuergeräte abgeschaltet sind, und dann die Zündung und der Motor gestartet. Das ACC sollte sich jetzt einschalten lassen. In diesem Fall hat das allerdings nicht funktioniert. Schon der Diagnoseservice zum Konfigurieren des Systems nach dem eigentlichen Flashen brach mit einer Fehlermeldung ab. Die Vermutung der Kollegen bei Hispano-Suiza war, dass es ein Problem mit der Verschlüsselung der Steuergeräte gab. Die Vielzahl an Ausstattungsvarianten einer Luxuslimousine macht es praktisch unmöglich, alle denkbaren Kombinationen zu testen. Anscheinend hatte das Testfahrzeug eine Steuergerätekombination, die so bisher noch nicht getestet worden war und die einen Fehler in der Verschlüsselungssoftware zu Tage gefördert hat. Fred schreit sofort – vielleicht etwas zu schnell – hier, als es um die Frage geht, wer sich der Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 145 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Analyse dieses Themas annehmen könne. Der Einwurf von Joshi, dass das ohne ihn ja wohl kaum möglich sei, ist Fred nur willkommen. Besser konnte es doch kaum laufen. Jetzt bleibt nur noch die Frage, wie er diese Steilvorlage am besten nutzen kann. *** Franz und Julia fahren wieder nach Ludwigsburg. Was hätten sie in Freds Wohnung tun können? Bei Franz haben sie mehr Möglichkeiten. Während der kurzen Fahrt spricht keiner der beiden ein Wort. Jeder überlegt für sich, wie sie am besten weitermachen könnten, und jeder hat am Ende der Fahrt einen wirklich guten Gedanken im Kopf. Julia hatte ihn schon länger im Kopf als Franz. Kaum daheim startet Franz seinen Laptop. Als Profifotograf legt er viel Wert auf eine ordentliche Ablage seiner Bilder. Dass das Aufnahmedatum nachvollziehbar ist, ist klar und auch kein Problem. Er versieht seine Fotos aber auch mit Tags, also mit zusätzlichen Informationen, wie Aufnahmeort, abgebildete Fahrzeuge und so weiter. Mit den Bildern seiner letzten Touren ist er leider nicht so sorgfältig umgegangen. Es war einfach wenig Zeit in letzter Zeit. Sein geregelter Ablauf, der durch die wenigen zwischenmenschlichen Beziehungen kaum beeinflusst wurde, ist einem chaotischen Durcheinander gewichen. Franz empfindet es so und ein unbeteiligter Außenstehender würde ihm zumindest nicht vehement widersprechen. Er hatte also keine Zeit, seine Bilder sortiert und getagt abzulegen. Deshalb muss er jetzt suchen. Franz erinnert sich, dass er irgendwo in Schweden einen schwarzen Cayenne gesehen hat. Er ist ihm aufgefallen, weil er in eher geschmackloser Manier aufgemotzt war. Über diese Art Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 146 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 des Tunings amüsiert man sich in Mitteleuropa in mittellustigen 70eroder 80er-Jahre-Filmen, die zum Beispiel ein recht populäres Sportcoupé der Marke Opel auf die Hörner nehmen. Franz assoziiert solche optischen Exzesse heute immer mit Osteuropa. Das ist der springende Punkt. Deshalb will er dieses Auto nochmal sehen. Er meint, dass er es abgelichtet haben müsste. Ordner um Ordner wird durchsucht, ohne Erfolg. Zuletzt bleibt nur noch das Verzeichnis, in dem er die Schnappschüsse ablegt, die er unterwegs mit seiner Handykamera aufgenommen hat. Diese Bilder taugen natürlich nicht zum Verkaufen; sie dienen ihm eher als Gedächtnisstütze, wenn er seine Fotoausrüstung ausnahmsweise mal nicht dabei hat. Und siehe da, in diesem Ordner findet sich ein Foto, auf dem ganz am Rand der aufgemotzte Cayenne zu erkennen ist. Er hat das Bild damals vor dem Hotel Silverhatten aufgenommen. Ein paar Minuten später hatte er Julia an der Bar getroffen – aber diesen Zusammenhang stellt er im Moment gar nicht her. Das Foto zeigt das Auto von vorne, mit dem Kennzeichen. Franz muss nicht besonders tief in die Trickkiste der Bildbearbeitung greifen, um die Buchstaben und Ziffern lesen zu können. Die Handykamera hat immerhin auch schon fünf Megapixel. Eine entsprechende Vergrößerung des Ausschnitts ist also möglich; etwas mehr Kontrast und Helligkeit, und schon reicht es zum Entziffern. Es handelt sich tatsächlich um ein russisches Kennzeichen. Das ist leicht zu erkennen, weil darauf »RUS« steht und auch die russische Flagge abgebildet ist. Glücklicherweise werden auf diesen Kennzeichen nur solche Buchstaben verwendet, die im kyrillischen und im lateinischen Alphabet vorkommen. Das Kennzeichen ist also auch für Franz lesbar: A 701 AP / 177. Wenn die Entführer tatsächlich Russen sind, und wenn sie tatsächlich etwas mit den Leuten dort in Arjeplog zu tun haben, und wenn sie dieses Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 147 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Auto jetzt auch in Deutschland benutzen, dann hätte Franz jetzt das Kennzeichen des Wagens, mit dem Sandra entführt wurde, inklusive eines etwas undeutlichen Fotos des Fahrzeugs. Wenn! Das ist natürlich alles sehr vage, aber wenn die Wenns alle zutreffen, dann wäre es schon ein Teilerfolg, denn ein derart verschönerter Cayenne mit russischem Kennzeichen fällt im Schwabenland schon eher auf als ein roter Golf III mit Böblinger Kennzeichen. Auch Julia verfolgt gleich ihren Gedanken, als sie in Franz' Wohnung sind. Sie wühlt in ihrer Handtasche nach dem Handy und beginnt, im Telefonbuch nach einer Telefonnummer zu suchen. Das Dumme ist, dass sie sich nicht an den Namen des Besitzers dieser Nummer erinnern kann. Sie hofft einfach, dass sie sich erinnert, wenn sie den richtigen Namen liest. Aber auch nachdem sie das Telefonbuch einmal vorwärts und einmal rückwärts durchgegangen ist, hat es noch nicht klick gemacht. Jetzt bleibt als letzte Chance noch ihr Organizer. Julia hat aber keinen Personal Digital Assistant oder kurz PDA. Sie kauft jedes Jahr für einen völlig übertriebenen Preis einige Seiten Papier, die mit nichts als dem fortlaufenden Datum und einigen Linien bedruckt sind. Neben diesen Kalenderseiten enthält das kleine, in Leder gebundene Ringbuch noch Julias Gehirn, besser: die Informationen, für die in ihrem Gehirn in den letzten fünfzehn Jahren kein Platz mehr war. Das ist eine Menge – Geheimzahlen für Kredit- und EC-Karten, Passwörter für diverse Internetdienste, ihre Blutgruppe, um nur eine nicht repräsentative Auswahl zu nennen. Außerdem ist ihr Adressbuch darin abgeheftet. Aber auch hier findet Julia keinen Namen, der ihr in dem gesuchten Zusammenhang bekannt vorkommt. Dabei ist sie sich sicher, dass sie irgendwo den Namen und zumindest die Telefonnummer aufgehoben hat. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 148 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Sie war stolz darauf, sie zu haben. Jetzt hilft nur noch die aufwendige Suche in den letzten Tiefen des besagten Organizers, die Tiefen, die kein PDA hat. Die tiefen Einsteckfächer, in denen der Kassenzettel für das neue Küchenradio oder der Einlieferungsschein für ein Paket oder zum Beispiel Visitenkarten verschwinden. Unter normalen Umständen führen diese Zettelchen dort ein wesentlich ruhigeres und beschaulicheres Leben als zum Beispiel die Zettelchen, die sich in einer doch deutlich betriebsameren Geldbörse sammeln. Die Umstände sind im Moment aber nicht normal; nach jetzt nur noch kurzer Suche hält Julia Franz eine Visitenkarte unter die Nase: International Automotive AG Dipl.-Ing. Herbert Hafele Leiter Sicherheit Hindenburgstraße 45 71638 Ludwigsburg 07141 / 89 77 66 – 543 [email protected] *** Sandras Lage hat sich inzwischen nur insofern verändert, als ihr inzwischen zusätzlich zur Kälte auch Hunger, Durst und eine volle Blase zu schaffen machen. Das geht schon eine ganze Weile so. Natürlich hat sie es erstmal nicht gewagt, nach der Toilette zu fragen. Aber jetzt hält sie es langsam nicht mehr aus. Ihre Entführer sitzen immer noch auf dem Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 149 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Stockbett und unterhalten sich. Es sieht allerdings nicht so aus, als würden sie den neuesten Klatsch aus der Heimat austauschen. Vielleicht machen sie Pläne, wie es jetzt weitergehen soll. Plötzlich steht einer der beiden Typen auf und verlässt die Hütte. Jetzt ist Sandra also mit einem der Männer allein. Während sie noch überlegt, ob sich ihre Lage damit verbessert oder eher verschlechtert hat, sagt er unvermittelt: »Essen« und deutet schüchtern auf die Tür. Das soll wohl eine Erklärung für das Verschwinden des anderen sein. Die etwas ruhigere Tonart lässt Sandra etwas Hoffnung schöpfen. Deshalb traut sie sich dann doch endlich zu fragen, ob sie mal auf die Toilette dürfe. Ihr Aufpasser schaut etwas verdutzt, überlegt kurz, steht auf und geht zu der kleinen Kommode, die in der Ecke neben dem Tisch steht. Sandra hat keine Ahnung, was er dort sucht, und die Tatsache, dass er seit ihrer Frage kein Wort gesprochen hat, verunsichert sie erneut. Nach kurzem Kramen zieht der Mann eine Rolle Klopapier aus dem Kasten, reicht sie Sandra, deutet auf die Tür und sagt: »Außen!« Jetzt ist Sandra verdutzt. Als sie durch die Tür ins Freie tritt, versucht sie sich möglichst schnell einen Überblick zu verschaffen. Die Hütte scheint auf einem nicht besonders großen Grundstück zu stehen, das von einem Zaun umgeben ist. Der ist nicht sehr hoch, vielleicht 1,20 Meter. Es gibt etwas Gebüsch und einen Obstbaum und in einer Ecke des Grundstücks, gegenüber der Hüttentür, steht ein kleines Klohäuschen – so richtig klassisch aus Holz mit einem Herz in der Tür. Sandra geht ein paar Schritte in diese Richtung. Hinter dem Zaun kommt, soweit sie das sehen kann, ringsum erstmal Wiese. Bis zu einem Gebüsch, das sie hinter dem Klohäuschen sieht, sind es vom Zaun nochmal 200 oder 300 Meter. In ihrem Hirn schießen die Gedanken hin und her. Sie muss jetzt eine Entscheidung treffen – hopp oder topp. Ein kurzer Blick zurück zur Tür Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 150 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 und schon finden diese Gedanken ein Ende. Der Typ steht da und hat sich demonstrativ eine Pistole vorne in den Hosenbund gesteckt. Ganz so freundlich ist er dann wohl doch wieder nicht. Sandra versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Sie geht zum Klohäuschen und verschwindet darin. Als sie nach zwei Minuten wenigstens etwas erleichtert wieder herauskommt, fällt ihr auf dem Hügel hinter der Hütte ein hoher Sendemast mit vielen Antennen auf. Ihr Bewacher steht immer noch in der Türe. Als Sandra auf ihn zugeht, tritt er zur Seite und lässt sie an sich vorbei wieder in den schummrigen Raum gehen. Nun sitzt sie also wieder an ihrem Platz am Tisch. Die frische Luft und die paar Schritte Bewegung haben ihr gut getan. Aber jetzt verschafft sich die Angst erneut Raum in ihrem Kopf. Der Mann, der auch wieder auf seinem angestammten Platz auf dem Bett sitzt, spricht kein Wort. Sandra wagt nicht, ihn anzusehen. Kein direkter Blickkontakt. Ihn bloß nicht auf dumme Gedanken bringen. Ob er sie ansieht, weiß sie nicht. Sie starrt nur auf die Tischplatte vor sich. Ihre Gedanken kreisen immer wieder um dasselbe Thema: Wie könnte sie hier abhauen? Wie soll sie an diesem bewaffneten Typ vorbeikommen? Oder wäre das Risiko viel zu hoch? Würden die sie doch laufenlassen, wenn sie bekommen hatten was sie wollten? Und so weiter und so fort. Am Ende dieser Kette ist dann für eine halbe Minute Ruhe, bevor die Gedanken in ungefähr der gleichen Reihenfolge wiederkehren. Nach einer gefühlten Ewigkeit geht plötzlich die Tür auf und der Zweite, der wahrscheinlich der Anführer ist, kommt zurück. Er hat drei Pizzakartons und drei Flaschen Cola dabei. In ihrer bescheidenen Lage denkt Sandra nicht an den Zuckergehalt der Cola und die Nutrition Facts der Pizza, aber wenn Fred ihr ein derartiges Mahl kredenzt hätte, hätte er sich einen längeren Vortrag über diese Dinge anhören dürfen. Im Moment Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 151 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 ist Sandra froh, dass sie etwas zu essen und trinken bekommt. Auch wenn der Anführer zur Eile mahnt – »schnell!« Nach knapp zehn Minuten stopft er sich als Erster das letzte Stück Pizza in den Mund und springt fast im gleichen Augenblick auf. Sein träger Kumpan verschafft Sandra noch zwei weitere Minuten, um fast aufzuessen. Dann wird ihr bedeutet, dass es jetzt wieder weitergeht. Sie wird am Arm aus der Hütte geführt, wieder auf den Rücksitz des Autos verfrachtet, und schon fahren sie wieder. Die Kurvenfolge kann sie sich auch diesmal nicht merken und sehen kann sie natürlich auch nichts, weil die beiden Russen nicht vergessen haben, ihr die Augen wieder zu verbinden. *** Der Weg geht durch die Weinberge. Es ist sonnig, aber nicht unangenehm warm. Sie haben kein bestimmtes Ziel. Die Idee war einfach, von den Felsengärten Richtung Süden dem Neckar zu folgen. Immer auf der Höhe zwischen den Weingärten, aber ohne Zwang. Zwängen wollen sich die Hafeles nicht mehr aussetzen. Sie unterhalten sich über das kommende Wochenende. Ihr Sohn hat sich mit seiner Familie zu einem Besuch angekündigt. Beide freuen sich schon sehr darauf, ihren ersten Enkel wiederzusehen. Er ist jetzt bald ein Jahr alt. Auch wenn sie den Kleinen nur wenige Tage nicht gesehen haben, hat er in der Zwischenzeit doch sicher schon wieder Fortschritte gemacht. Vielleicht kann er inzwischen wieder neue Laute von sich geben? Oder noch schneller krabbeln? Natürlich ist so ein Wochenende auch mit einem gewissen Stress verbunden, aber die Freude überwiegt bei Weitem. Die beiden besprechen während ihrer Wanderung, was es zu essen geben soll und wann sie am besten einen Ausflug zum Höhenpark Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 152 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Killesberg einplanen können. Dort gibt es eine kleine Eisenbahn, mit der Besucher durch den Park gefahren werden. Am Wochenende wird der Zug manchmal von einer richtigen Dampflok gezogen. Das wäre doch bestimmt eine tolle Attraktion für den kleinen Lukas. Sie sind gerade erst eine gute halbe Stunde gelaufen, als sie beschließen, eine kleine Rast einzulegen. Da ist diese schöne Bank in der Sonne und mit einer wunderbaren Aussicht auf den Neckar. Herr Hafele kramt gerade in seinem Rucksack nach der Thermoskanne und den Bechern, als sein Handy klingelt. Eigentlich klingelt sein Handy nie. Früher hat sein Handy ständig zu den ungünstigsten Zeitpunkten geklingelt. Da war er ja auch noch wichtig. Jetzt klingelt es eigentlich nie mehr. Wer ihn erreichen will, ruft daheim an und hinterlässt bestenfalls eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Noch spannender wird die Sache, als er auf dem Display die Telefonnummer abliest. Herr Hafele schaut immer nach, wer ihn anruft. Er möchte vorher wissen, wer ihn am anderen Ende der Leitung erwartet, wenn er abhebt. Diesmal erwartet er sich selbst, das heißt natürlich nicht direkt er selbst. Auf dem Display ist seine alte Nummer in der Firma zu lesen. Er hebt ab und hört die sehr vertraute Stimme von Frau Mund, seiner ehemaligen Sekretärin. Sie erkundigt sich kurz, wie es ihm denn gehe, aber Herr Hafele erkennt schon an der Art, wie sie die Frage stellt, dass keine Zeit für eine ausführliche Antwort auf diese eher rhetorische Frage ist. Außerdem würde sie ihn nicht auf dem Handy anrufen, wenn es ihr nur um einen kleinen Plausch ginge. Herr Hafele antwortet also kurz, aber durchaus wahrheitsgemäß, dass es ihm recht gut gehe und dass er gerade einen kleinen Ausflug mit seiner Frau mache. Dann erkundigt er sich, was denn der Grund des Anrufs sei. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 153 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Dagmar Mund sagt, dass eine Dame, Frau Morgenfrüh, in der Firma angerufen habe. Sie habe Herrn Hafele sprechen wollen und habe gesagt, dass sie ihn von früher kenne. Frau Mund habe ihr erläutert, dass Herr Hafele nicht mehr für die IAA arbeite, aber damit habe sich die Anruferin nicht zufrieden gegeben. Sie habe sehr hartnäckig gebohrt, ob Frau Mund denn keine Privatnummer oder wenigstens Privatadresse habe, unter der sie Herrn Hafele erreichen könne. Es sei sehr dringend. Herr Hafele hört sich die Geschichte an, ohne sie zu unterbrechen oder Zwischenfragen zu stellen. Das zeigt Frau Mund, dass er wenig begeistert von dem Vorgang ist. Sie ist also froh, ihm sagen zu können, dass sie der fremden Anruferin keine Informationen gegeben habe. Sie habe nur versprochen, ihn anzurufen, von dem Kontaktversuch zu erzählen und wiederum die Nummer von Frau Morgenfrüh weiterzugeben. Herr Hafele könne dann selber entscheiden, ob er zurückrufen wolle. Damit habe sie sich zufrieden gegeben, allerdings habe die Dame nochmal auf die große Dringlichkeit hingewiesen. So, deshalb belästige sie ihn jetzt also mit einem Anruf auf dem Mobiltelefon. Schon während der letzten Sätze hat Herr Hafele seiner Frau bedeutet, dass er einen Zettel und einen Stift brauche. Er notiert sich die Nummer von Frau Morgenfrüh und beendet dann freundlich aber kurz das Gespräch mit seiner früheren Mitarbeiterin. Sie erfährt nicht, ob ihr ehemaliger Chef die Dame beruflich oder privat kennt, ob er sich überhaupt an den Namen erinnert hat. Aber das war früher auch schon so, als Herr Hafele noch Sicherheitschef der Firma war. Alles war immer sehr vertraulich und Herr Hafele immer freundlich, aber kurz. Seine Frau sieht ihn fragend an. Sie hat mitbekommen, dass er mit Frau Mund gesprochen hat. Er erzählt kurz, um was es gegangen ist. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 154 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Allerdings kann er nichts mit dem Namen anfangen. Er ist sich ziemlich sicher, dass es keine Kollegin von der IAA ist, die da angerufen hat. Andererseits hatte er in seiner Funktion natürlich auch mit vielen Leuten außerhalb der Firma zu tun, mit Sicherheitsexperten anderer Firmen, zum Beispiel von Kunden oder Lieferanten, mit Behörden in allen möglichen Ländern. Immer wieder gab es Vorfälle, bei denen die Polizei eingeschaltet wurde. Aber so lange er auch in seinem Hirn kramt, er kann den Namen keinem Gesicht und auch keiner Begebenheit zuordnen. Dass es nicht um eine Privatangelegenheit geht, ist allein schon wegen der Art der Kontaktaufnahme klar. Herr Hafele ist wieder im Sicherheitschef-Modus, den er seit seiner Pensionierung nicht mehr aktiviert hatte. Seiner Frau ist das natürlich nicht entgangen und sie kennt ihn gut genug, um zu wissen, dass es jetzt auch nur einen Weg gibt, ihn wieder in den Ruheständler-Opa-Modus zu bekommen. Er muss das Rätsel lösen, wenn es denn tatsächlich ein Rätsel gibt. Also rät sie ihm zu, die Nummer anzurufen, die auf dem Zettel in seinen Händen steht. *** Franz und Julia sind an einem Punkt angekommen, an dem sie erstmal nicht mehr weiterkommen. Sie kennen jetzt wahrscheinlich oder auch nur vielleicht das Kennzeichen des Autos, das die Entführer benutzen, und Julia hat einen Versuch gestartet, einen Kontakt zum ehemaligen Sicherheitschef der IAA herzustellen, in der Hoffnung, dass der mehr Erfahrung mit solchen Fällen hat als zwei Fotojournalisten, wie sie sich gerne selber nennen. Es ist also gerade kurz Pause. Beide sitzen in Franz' Wohnzimmer auf dem Sofa und schauen sich etwas ratlos an. Franz rückt etwas näher zu Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 155 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Julia. Er gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und dann noch einen auf den Mund. Sie erwidert seine Zärtlichkeiten. Er öffnet ihre Bluse und macht sich an ihrem BH zu schaffen. Spätestens in diesem Moment tritt der Entführungsfall für einige Momente in den Hintergrund. Franz hat jetzt ein anderes Problem, das seine ganze Aufmerksamkeit erfordert: Er kämpft gegen einen hakeligen BH-Verschluss. Aber diese Nuss hat er nach ein paar Minuten – in Julias Wahrnehmung sind es jedenfalls Minuten – auch geknackt. Über das Folgende sei hier der Mantel des Schweigens gebreitet. Julia liegt noch unter der Wolldecke auf Franz' Sofa. Er ist im Bad und restauriert sich, als Julias Handy klingelt. Es ist Herr Hafele. Er möchte wissen, woher sie, Frau Morgenfrüh, ihn denn eigentlich kenne. Julia erinnert ihn an die Wintererprobungssaison vor fünf Jahren. Da war sie als Erlkönigjägerin in Arjeplog und Herr Hafele hat gerade die Sicherheitsvorkehrungen am Testzentrum der IAA inspiziert. Das war damals relativ neu, deshalb hatte der Security-Chef persönlich nachgesehen, ob auch alles Mögliche getan wurde, um die Sicherheit von Eigentum und Wissen der Firma und ihrer Kunden zu gewährleisten. Gerade während seines Rundganges hat er dann Julia quasi in flagranti erwischt, als sie durch den Zaun auf dem Gelände vorbeifahrende Autos fotografiert hat. Er hat sich gleich persönlich an die Verfolgung gemacht. Aber gegen Julia hatte er keine Chance. Sie ist ihm entwischt. Am selben Abend hatten sie sich dann zufällig an der Bar des Hotel Silverhatten getroffen und sofort wiedererkannt. Nach einem kurzen Disput hatten sie sich geeinigt, dass Herr Hafele keinerlei irgendwie verwertbare Beweise hatte, dass Julia eh nichts Aufregendes vor die Linse bekommen hatte, und dass Julia »vorerst« die IAA aus ihren Aktivitäten aussparen würde. Nach dieser Klärung haben sie sich dann Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 156 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 bei zwei Bier den Rest des Abends ganz gut unterhalten und Herr Hafele hatte ihr beim Abschied seine Visitenkarte in die Hand gedrückt. Julia hatte die Geschichte nur in Stichworten erzählt und schon bei der Verfolgungsjagd gemerkt, dass sich ihr Gegenüber wieder erinnerte, wer sie war. Er möchte nun natürlich wissen, warum sie ihn gerade jetzt und so dringend sprechen wolle. Julia berichtet, dass sie einem Mitarbeiter der IAA helfen wolle, der von Russen erpresst werde, den Software-Code zu einer geheimen Funktion zu verraten. Er entgegnet, dass für so was inzwischen seine Nachfolger zuständig seien. Herr Hafele ist nicht unhöflich, denn er fand die Fotografin damals an der Bar auch schon sympathisch – aber auch nicht mehr. Er sieht jedoch nicht, was er mit so einem Thema zu tun haben sollte. Erst als Julia langsam herausrückt, dass es nicht nur um eine Erpressung, sondern um eine veritable Entführung geht, kann sie sein Interesse doch wieder wecken. Sie muss ihm eigentlich nicht mehr erklären – tut es aber trotzdem –, dass die mit Sanktionen gedroht haben, falls die Polizei eingeschaltet würde. Und dass man in dieser Situation Bedenken hat, offiziell den Sicherheitsdienst der IAA einzuschalten, der dann wiederum nach Vorschrift nicht umhin könne, die Polizei einzuschalten, das erscheint Herrn Hafele plausibel. Während sie seine Frage beantwortet, was sie denn eigentlich mit der ganzen Sache zu tun habe, denkt er bereits darüber nach, was er zur Lösung der Situation beitragen könnte. Er hat etwas Zeit zum Nachdenken, denn die Geschichte ist ja bekanntermaßen kompliziert. Während der Beantwortung seiner nächsten Fragen, was sie denn über die Entführer wüssten, und was sie bisher unternommen hätten, denkt er weiter nach, und als Julia mit ihrer Litanei zu Ende ist, hat er die Geschichte gekauft und er ist sich sicher, was er jetzt nicht tun wird: weiter durch die Weinberge wandern. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 157 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 *** Fred hat nur ungefähr fünfzehn Minuten. Das Meeting ist gerade beendet worden. Joshi braucht nur noch eine Zigarette und einen Kaffee und will dann gleich mit der Fehlersuche beginnen. Fred konnte ihn überreden, sich an Freds Arbeitsplatz zu treffen. Sie werden also an seinem Rechner den Softwarecode für die Steuergeräteverschlüsselung bearbeiten, auf den er allein keinen Zugriff hat. Jetzt ist nur die Frage, wie er den Code am besten auch auf seinem Rechner behalten kann. Er zermartert sich das Hirn und gerät immer mehr in Panik, weil die Zeit verrinnt. Wenn Joshi erstmal an seinem Rechner sitzt, kann er da nichts mehr manipulieren. Dann kann er den Code nur noch auswendig lernen und später aufschreiben – haha. So fotografisch ist sein Gedächtnis nicht. Er kann mit Mühe fünf Dinge im Kopf behalten, die ihm Sandra einzukaufen aufgetragen hat, und das nur bis er im Supermarkt um die Ecke ist. Seitenlanger Code ist ausgeschlossen. In Gedanken macht er an seinem Rechner als Erstes das Mailprogramm auf, um nach neuen Nachrichten zu sehen. Die erste Mail ist eine Aufforderung an einem web-based Training, kurz WBT, teilzunehmen – wie langweilig. Ein WBT ist eine Art interaktiver Film zu einem bestimmten Thema. Hin und wieder muss man irgendwo klicken, um weiterzukommen oder man muss einfache Fragen zur Lernkontrolle beantworten. Während er die Mail in den virtuellen Mülleimer tritt, klickt es in seinem doch eher mechanischen Hirn. Das ist die Lösung: ein Film. Er braucht so ein Tool, mit dem man quasi seinen Monitor abfilmen kann. Genau so was wird oft zur Erstellung solcher WBTs verwendet. Fred googelt, findet, installiert und braucht auch nicht lange, um eine Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 158 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Aufzeichnung zu starten. Gerade noch rechtzeitig schafft er es, die Fenster der Aufnahmesoftware zu verkleinern, dann steht auch schon Joshi neben ihm. Fred kramt in seinem Mailpostfach die Nachricht mit den fraglichen Messungen der Kollegen von Hispano-Suiza heraus. Er kann nur Allgemeinplätze zur Analyse beitragen. Den eigentlichen Vorgang der Softwareinbetriebnahme kann er auf der Messung nicht interpretieren. Er kann nur nachvollziehen, wann das Steuergerät überhaupt aktiv war, oder wann die Zündung des Fahrzeugs abgeschaltet wurde. Joshi ist aber so vertieft, dass ihm die fehlende Kompetenz seines Kollegen auf diesem Gebiet zum Glück nicht auffällt. Nach ein paar Minuten hat er einen Verdacht, an welchem Teil der Software das Problem hängen könnte. »Darf ich mal?« Die Frage ist klar rhetorisch zu verstehen. Schon hat Joshi Tastatur und Maus an sich gerissen und startet das Konfigurationsmanagement- oder kurz KM-System. In dieser Datenbank wird die Software während der Entwicklung verwaltet. Jedes einzelne Modul wird in Versionen verfolgt. Es wird sichergestellt, dass immer nur ein Entwickler ein Modul bearbeiten kann, und so weiter. Eine Software mit vielen hundert oder sogar tausend Modulen ist sehr komplex und umso leichter könnten Fehler passieren, wenn nicht sehr penibel auf die Versionierung und den Freigabestatus geachtet würde. Weiterhin soll das KM-System auch verhindern, dass Unbefugte Zugriff auf besonders kritische Teile der Software bekommen, wie zum Beispiel die Steuergeräteverschlüsselung. Deshalb hat sich Joshi auch mit seinem Login am System angemeldet, um den Code bearbeiten zu können, in dem er den Fehler vermutet. Schon erscheinen die ersten Zeilen der Verschlüsselungssoftware auf dem Monitor, und Joshi beginnt schön langsam durch den ganzen Code Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 159 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 nach unten zu scrollen. Fred ist sehr zufrieden, so müsste wirklich alles auf seinem Film sein. Wenn Joshi nicht doch noch die kleine, blinkende Aufnahmeanzeige unten in der Statusleiste neben der Uhr entdeckt. Sobald Joshi kurz innehält, zuckt auch Fred zusammen. Er wird immer nervöser. Joshi ist am Ende des Dokuments angekommen und beginnt wieder aufwärts zu scrollen. Da unterbricht ihn Fred: »Au Mann, ich hab' ja ganz vergessen, dass ich jetzt noch ein Meeting habe. Wir machen später weiter.« Joshi schaut ihn erstaunt an, aber jetzt hat Fred Tastatur und Maus wieder unter seine Kontrolle gebracht und beginnt die Programme zu schließen. Joshi trabt davon und murmelt noch etwas von » ... anrufen, wenn seine Exzellenz wieder Zeit für eine Audienz hat.« Gerade als Joshi außer Sichtweite ist, stoppt Fred die Aufnahme. Als er das Programm schließt, sieht er eine Warnmeldung, die bisher hinter anderen Fenstern auf seinem Monitor versteckt war: Ein unzulässiger Software Download aus dem Internet wurde registriert. ITS ist verständigt. ITS ist Fred ein Begriff – die Abteilung für IT Sicherheit. Aber was dieser Hinweis so genau bedeuten soll, ist ihm nicht klar. Deshalb gerät er diesmal auch nicht in Panik, obwohl jetzt etwas Hektik angesagt wäre. Er startet kurz das eben aufgenommene Video und sieht, dass zum Glück alles funktioniert hat. Die ganze Session ist drauf und wenn man den Film anhält, kann man auch den Code lesen. Dann kopiert er die Filmdatei auf den USB-Stick, den er immer am Schlüsselbund hängen hat, für Musik und andere private Dinge. Es wird eine Dauer von zwei Minuten angezeigt. Noch bevor der Vorgang beendet ist, erscheint eine weitere Meldung auf seinem Monitor. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 160 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Daten werden auf einen nicht autorisierten, externen Datenträger kopiert. ITS ist verständigt. Seit er bei IAA ist, hat die Abteilung ITS noch nie so viel von ihm gehört wie in der letzten halben Stunde. Aber jetzt ist er ja eh fertig hier und er hat auch andere Sorgen als die ITS aus der Zentrale – denkt er. Er fährt den Rechner runter, steckt den USB-Stick wieder ein und macht sich auf den Weg. Ohne groß darüber nachzudenken, geht er am Terminal des Zeiterfassungssystems vorbei, ohne auszustempeln. Für die Firma bleibt er also anwesend. Das ist jetzt ausnahmsweise mal sein Glück. Es beginnt eine wahre Glückssträhne für ihn. Er läuft, einer Eingebung folgend, auf dem Weg zum Aufzug an der Fahrzeugtheke vorbei. Ein unscheinbarer Schrank mit einer großen Tafel darüber. Auf der Tafel sind alle Fahrzeuge verzeichnet. Dort tragen die Entwickler ein, wann welches Auto benötigt wird. Er findet ohne langes Suchen einen Bentley, der die nächsten drei Tage anscheinend nicht gebraucht wird. Der Schlüssel und das Fahrtenbuch liegen in einem Fach in dem besagten Schrank. Fred nimmt beides mit und macht keine Eintragung im Belegungsplan. Das kann zwar Ärger geben, ist allerdings im Vergleich zum Rest seines Problems eher von untergeordneter Bedeutung. Er verlässt das Büro und geht zum Aufzug. Dass von der anderen Seite gerade zwei Mitarbeiter des Werkschutzes das Großraumbüro betreten, registriert er nicht mehr. Mit dem Aufzug fährt er drei Stockwerke nach unten in die Tiefgarage für die Versuchsträger. Die hat fast 300 Stellplätze und ist in Sektoren eingeteilt, die mit Buchstaben bezeichnet sind. Am Autoschlüssel ist ein länglicher Anhänger, auf dem man mit einem Gummiring den Buchstaben Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 161 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 markieren kann, bei dem das Auto geparkt ist. So erspart man sich langes Suchen. Fred ist es schon mehr als ein Mal passiert, dass er in Besprechungen mit dem Schlüsselanhänger gespielt hat und am Schluss nicht mehr wusste, wo sein Auto geparkt war. Heute ist alles in Ordnung. Er findet die Luxuskarosse und schon geht die Fahrt los. Auch am Werkstor gibt es kein Problem. Er fährt mit dem Auto zur Schranke, zeigt dem Pförtner das Fahrtenbuch und seinen Ausweis und schon öffnet sich der Schlagbaum. Auf die Entfernung von 3 m hätte er wahrscheinlich auch seine Sparkassen-EC-Karte herzeigen können, ohne dass das aufgefallen wäre. Wie gesagt, eine Glückssträhne. Wäre Fred zu Fuß unterwegs gewesen, hätte er mit seinem Ausweis ein Drehtor freigeben müssen, was ihm nicht mehr gelungen wäre. Denn der Werkschutz hatte seinen Ausweis nach dem Anruf von ITS bereits gesperrt. Aber es ist ja alles gut gegangen. Der Wagen beschleunigt. Er wird nicht unmittelbar verfolgt. Es wird noch etwas dauern, bis sein Verschwinden auffällt, und auch dann wäre eine Verfolgungsjagd nicht das Metier des IAA Werkschutzes. Das sind keine ramboartigen Hilfspolizisten. Unendlich viel Zeit hat er dennoch nicht – aber die hätte er auch ohne Werkschutz nicht. Fred beeilt sich also, Land zu gewinnen. Immer wieder schaut er in den Rückspiegel, aber er kann keine verdächtigen Fahrzeuge hinter sich ausmachen. Nach kurzer Fahrt parkt er das Auto, geht zum Haus und klingelt. *** Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 162 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Fred hält Franz den USB-Stick unter die Nase und grinst. Franz und Julia atmen erleichtert auf, als sie sehen, dass Fred den geforderten Code tatsächlich beschafft hat. Keiner von ihnen hat im Moment richtig Zeit, die Konsequenzen ihres Handelns zu hinterfragen oder auch nur über Alternativen nachzudenken. Sie sind auf einem Pfad zur Lösung – hoffen sie – und diesem Pfad folgen sie. *** Herr Hafele sitzt mit seiner Frau immer noch in den Weinbergen bei Hessigheim, aber vom geruhsamen Rentnerausflug – nicht dass die Hafeles diese Vokabel jemals auf eine ihrer Unternehmungen anzuwenden gedacht hätten – ist nichts mehr übrig. Hafele hat jetzt eine Mission. Nachdem er das Gespräch mit Julia beendet hat, erklärt er seiner Frau in kurzen Sätzen, was passiert ist. Beide sind etwas verwirrt, wie es nun weitergehen könnte, was hauptsächlich daran liegen dürfte, dass die Geschichte eben verwirrend ist. Herr Hafele überredet seine Frau, den Ausflug zu beenden und nach Hause zurückzukehren. Sie leistet keinen Widerstand, weil sie aus der Erfahrung einer langen Ehe mit ihrem Mann weiß, dass in solchen Fällen Widerstand zwecklos wäre. Dass Widerstand in diesem Fall angebracht wäre, tut im Moment nichts zur Sache, und die Hafeles können es auch nicht wissen. Die beiden machen sich also auf den Rückweg zum Auto, das sie auf dem kürzesten Weg nach einer guten Viertelstunde erreichen. Schon während des Rückweges und auch während der Autofahrt beraten sie, was man in diesem Fall am besten unternehmen könne. Herrn Hafele ist klar, dass man zweigleisig fahren müsste: einerseits den Anweisungen der Entführer Folge leisten und gleichzeitig einen eigenen Plan verfolgen, Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 163 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 um den Typen das Heft aus der Hand zu nehmen und ihnen zuvorzukommen. An diesem zweiten Teil des Zuvorkommens überlegen sie herum. Das ist insofern ungewöhnlich, als Herr Hafele seine Frau sonst nie in die Lösung eines Falles miteinbezogen hatte. Aber heute zahlt sich seine Offenheit aus. Sie gehen gerade nochmal die ihnen bekannten Fakten durch: das Kennzeichen und den Autotyp, das ungefähre Gebiet, in dem sich die Bande zumindest zeitweise aufgehalten hat. Was fehlt, wären eben genauere Informationen zum Aufenthaltsort. Es gibt anscheinend keine Möglichkeit, die Entführer zu kontaktieren, nur die rufen ab und zu an, um Anweisungen oder Forderungen zu übermitteln, und so weiter. Plötzlich sagt Frau Hafele: »Paul!« Ihr Mann sieht sie fragend an. »Paul Himmelweit. Der arbeitet doch bei Toll Collect, der Firma, die in Deutschland die LKW-Maut mit diesen automatischen Erfassungssystemen eintreibt und kontrolliert. Ich glaube, seine Arbeitsstelle ist in Pforzheim und der ist in der Firma auch nicht irgendwer. Die können doch sicher mit ihren Erfassungsbrücken nach bestimmten Autos suchen.« Noch während der Fahrt rufen sie bei ihrem alten Freund an. Der ist einigermaßen perplex, als er erfährt, was der Grund für den unerwarteten Anruf ist. Herbert Hafele stellt mal wieder Verbrechern nach und er möchte von ihm den Aufenthaltsort oder die Fahrtstrecke eines schwarzen Porsche wissen. Seine Freunde lassen sich nicht bremsen. Sie wollen direkt bei ihm vorbeikommen. Nach einer knappen Stunde parkt der SLK der Hafeles vor einem unscheinbaren Bürogebäude in einem Gewerbegebiet am Stadtrand von Pforzheim. Paul Himmelweit führt sie in sein Büro. Auf dem schwarzen Holzschreibtisch stehen drei Monitore, ansonsten ist er sehr ordentlich aufgeräumt. Wobei ja drei Monitore auch nicht unordentlich sind. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 164 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Weiterhin gibt es in dem Raum noch einen Besprechungstisch, an dem sich die kleine Gruppe niederlässt. Herbert Hafele hatte ja am Telefon schon kurz erklärt, worum es geht. Eine junge Frau sei entführt worden; höchstwahrscheinlich in einem schwarzen Porsche Cayenne mit einem russischen Kennzeichen, das sogar ebenfalls bekannt ist. Ohne dieses Kennzeichen würde auch gar nichts gehen. Toll Collect hat ungefähr 300 sogenannte Mautbrücken an den deutschen Autobahnen installiert. Die erfassen unter anderem die Kennzeichen aller Autos, die unter den Brücken durchfahren. Sie können auch erkennen, ob ein großer LKW oder ein PKW vorbeigekommen ist. Einen bestimmten Fahrzeugtyp können sie aber nicht finden. Außerdem werden die Daten von PKW sofort wieder gelöscht, weil die ja mit der LKW-Maut nichts zu tun haben. Es ist also schon prinzipiell nicht möglich, jetzt zu ermitteln, wann der Wagen mit dem russischen Kennzeichen bei welcher Brücke vorbeigefahren ist. Und es sei natürlich auch nicht erlaubt, ein bestimmtes Kennzeichen zu überwachen, führt Paul weiter aus. Aber genau Zuhören hat Herbert Hafele in der Kürze seiner Rente noch nicht verlernt. Der Unterschied zwischen »prinzipiell nicht möglich« und »nicht erlaubt« ist ihm natürlich nicht entgangen. Hier setzt er an. Er muss nur etwas sanften Druck ausüben, was er auch in den vielen Jahren Ermittlungstätigkeit gelernt hat, und schon rückt Paul heraus, dass es da Funktionen in der Erfassungssoftware gebe, die aber nur wenigen Führungskräften bei Toll Collect zugänglich sei. Ohne viel weiterzudiskutieren, steht er auf und geht an seinen Schreibtisch. Die Hafeles folgen ihm. Einer der Monitore zeigt ein normales Mailprogramm. Auf dem zweiten laufen ständig Informationen über Fahrzeuge durch, die anscheinend nicht eindeutig von dem automatischen System erkannt werden konnten. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 165 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Diese müssen von den Mitarbeitern der Firma manuell ausgewertet werden. Auf dem dritten Monitor wechseln immer wieder aktuelle Kamerabilder von verschiedenen Mautbrücken. Das sei eher eine Spielerei. Normalerweise könne er damit nicht viel anfangen. Nur abends, bevor er das Büro verlasse, schaue er nach, ob auf seinem Heimweg Stau sei. Dann öffnet er auf dem zweiten Bildschirm ein Terminalfenster und gibt einen Befehl ein. Auch die Passwortabfrage passiert er ohne Probleme. Paul scheint zu dem erlauchten Kreis zu gehören, der Zugriff auf die Spezialfunktionen hat. Bei der nächsten Eingabe lässt er sich von Herbert das Kennzeichen diktieren. Dann dreht er sich zu seinen Freunden um. »Jetzt müssen wir einfach warten. Ich bekomme automatisch eine SMS, wenn das Fahrzeug von einer unserer Überwachungsbrücken erfasst wurde. Die leite ich dann an euch weiter. Dann habt ihr die Position der Brücke, die Uhrzeit und die Fahrtrichtung. Das merkt ihr euch bitte und löscht dann die SMS. Bitte! Sonst könnt ihr mich die nächsten Jahre im Knast besuchen und anschließend verbringe ich meinen Lebensabend unter einer Brücke. Aber nicht unter einer Toll Collect Brücke.« Herbert verspricht seinem Freund, entsprechend vorsichtig mit der Info, die hoffentlich bald komme, umzugehen. Die Verabschiedung ist herzlich aber kurz, zu kurz, wie sich später noch zeigen soll. Dann hat es Herr Hafele eilig, wieder zurückzukommen. Nach allem, was sie an Informationen haben, ist Pforzheim außerhalb des Gebietes, in dem sich die Entführer wahrscheinlich aufhalten. *** Nun sitzen sie also alle vier in Franz' Wohnung – Fred, Franz und Julia und Herr Hafele. Der hat seine Frau an der S-Bahn in Ludwigsburg Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 166 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 abgesetzt, bevor er zu Franz' Wohnung gefahren ist. Er war der Meinung, dass ihr zu viel Aufregung nicht gut tue. Er dagegen sei derartige Situationen ja eher gewöhnt. Es ist schon kurz vor 22 Uhr und Franz macht sich keine Gedanken, dass seine Wohnung nicht besonders gut zum Repräsentieren geeignet ist. Sie sitzen im Wohnzimmer, Herr Hafele auf einem ursprünglich in der Küche beheimateten Stuhl, Franz und Julia auf dem Sofa und Fred auf dem Boden, was ihm aber anscheinend nicht weiter negativ auffällt. Herr Hafele macht sich über die eher kargen Räumlichkeiten noch weniger Gedanken. Er brennt darauf zu verkünden, dass er guter Dinge sei, schon bald den Aufenthaltsort der Banditen wenigstens grob einschätzen zu können. Sie rekapitulieren kurz ihre Situation. Die Entführer haben sich schon recht lange nicht mehr gemeldet, andererseits sind es ja noch über 14 Stunden bis zum Übergabezeitpunkt. Je mehr Zeit verstreicht, desto näher muss dann wohl auch der Übergabeort liegen, um ihn noch rechtzeitig erreichen zu können. Das hat vielleicht den kleinen Vorteil, dass sich das Viererteam in der Gegend noch halbwegs auskennt. Andererseits können sie nur hoffen, dass Sandra wohlauf ist und gut behandelt wird. Fred hat es immerhin geschafft, den Software-Code zu besorgen. Sie können also die Forderungen der Entführer erfüllen. Der Code muss noch auf eine CD kopiert werden, aber das ist kein wirkliches Problem. Also, auf eine CD passt der aufgenommene Film nicht drauf, aber auf eine DVD kann man ihn kopieren. Alle sind sich einig, dass die Russen das genauso akzeptieren werden. Man hat sich ohnehin über die altmodische Form der Datenübergabe gewundert. Aber es ist ja nur gut, denn ein Versand per Mail oder Hochladen auf eine Internetseite hätte bei der Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 167 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Dateigröße nicht funktioniert. Fred macht sich daran, die Daten zuerst auf seinen Laptop zu kopieren und dann von dort auf eine DVD zu brennen. Ansonsten wissen sie immerhin, nach welchem Auto sie suchen müssen. Herr Hafele wirft selbst ein, dass die Entführer natürlich jederzeit das Auto wechseln könnten, um eben mögliche Verfolger abzuschütteln. Das würde allerdings eine gewisse Planung voraussetzen. Schließlich dürfte es deutlich zu riskant sein, eine Geisel in Schach zu halten und gleichzeitig ein neues Fluchtauto zu knacken. Sie hätten also ein zweites Auto an einer abgelegenen Stelle verstecken müssen, die einen Fahrzeugwechsel mit der Geisel erlaubt. Planung dürfte aber wohl eher nicht die Stärke dieser Typen sein. Auf Julias Einwand, dass es in dieser Lage doch eher unangebracht sei, überheblich zu werden, reagieren die anderen mit betretenem Schweigen. Sie hat Recht. *** Der schwarze Porsche biegt auf einen ungeteerten Weg ein. Man kann auch mit verbundenen Augen erstaunlich viele Informationen sammeln. Auf einem Schotterweg wird meist langsamer gefahren, als auf geteerten Straßen und vor allem ist das Abrollgeräusch der Reifen deutlich anders. Sandra kann nicht unterscheiden, ob es ein Feld- oder eher ein Waldweg ist. Aber die stundenlange ziellose Fahrt hat wohl demnächst ein Ende. Die Banditen haben die ganze Zeit nicht viele Worte gewechselt und wenn, dann nur in ihrer Sprache; mit Sandra haben sie kein Wort gesprochen. Sie hat also kaum Anhaltspunkte, wie sich die Sache entwickelt. Es gibt kaum Hoffnungsschimmer, an die sie sich halten könnte. Zu Anfang dieser Fahrt kamen ihr die Männer eher hektisch und aufgeregt vor. Mit der Zeit wurden sie etwas ruhiger. Vielleicht haben sie Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 168 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 einen Plan gefasst. Der Wagen hält an und die Männer steigen aus. Dann wird Sandras Tür geöffnet und sie darf ebenfalls aussteigen. Der Anführer nimmt ihr auch die Augenbinde ab. Für eine Sekunde sehen sie sich direkt in die Augen, und Sandra sieht eine Kälte, die sie frösteln lässt. Sie kann nicht erkennen, wo sie sich befinden. Der Porsche steht am Ende eines Waldweges. Anscheinend wurde der irgendwann aufgegeben. Jedenfalls hört der Weg nicht abrupt auf, sondern er wird von Gebüsch immer weiter verengt und verliert sich anscheinend im Gehölz. Woher der die Forststrasse kommt, kann sie auch nicht erkennen. Sie sind mitten in einem Wald. Mehr kann sie nicht sehen. Alle drei stehen für ein paar Momente etwas unschlüssig herum. Der zweite Mann – Sandra nennt ihn für sich den Hilfsbanditen – kramt im Auto nach seiner Pistole und steckt sie sich demonstrativ in den Hosenbund; so, wie man es in schlechten Gangsterfilmen sieht. Dann schubsen sie Sandra in den Wald hinein. Sie soll vorneweg gehen, die beiden anderen folgen ihr dicht auf den Fersen. Wo soll das hinführen? Was haben die vor? Vor Sandras Augen tauchen verschiedene Szenarien auf, die alle nicht dazu geeignet sind, sie zu beruhigen. Im besten Fall wird sie in irgendeine kleine Hütte hier mitten im Wald gesperrt und dort weiter festgehalten. Vielleicht fällt einer der beiden aber auch gleich über sie her und reißt ihr die Kleider vom Leib – Sandra wird schlecht. Oder wollen die sie vielleicht laufen lassen? Hat Fred ihre Forderungen schon erfüllt? Gerade bemerkt sie, dass die Schritte hinter ihr verstummt sind. Haben die Entführer sich schon aus dem Staub gemacht und sie hier einfach stehen lassen? Aber sie hat sie doch beide gesehen. Sie könnte sie identifizieren. Haben sie davor keine Angst? Sandra will glauben, dass sie frei ist. Ohne sich umzudrehen, rennt sie los. Aber sofort ruft der Anführer »STOP!«. Die Stimme ist nicht weit Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 169 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 hinter ihr. Sie dreht sich um und sieht in den Lauf der Pistole, die der Zweite auf sie gerichtet hat. *** Die vier in Franz' Wohnzimmer diskutieren, was sie machen könnten. Fred ist fix und fertig. Er hält es nicht aus, untätig herumzusitzen und darauf zu warten, dass sich die Entführer wieder melden. Er will irgendwas machen. Andererseits haben sie ja kaum Möglichkeiten. Alles, was sie wissen, ist sehr vage. Sie können nicht irgendwo hinfahren und Sandra befreien, so wie Fred es sich am liebsten ausmalen würde. Solange sich weder die Entführer noch Herrn Hafeles Toll Collect Kontakt melden, können sie nichts Sinnvolles tun. Und auch wenn der Cayenne von einer der Autobahnbrücken entdeckt wird, hilft ihnen das nur sehr begrenzt weiter. Ab dem Zeitpunkt dauert es je nach Messpunkt eine ungefähr bekannte Zeit – meist nur wenige Minuten – bis das Fahrzeug die nächste Ausfahrt erreicht. Ab dann vergrößert sich das Gebiet, in dem sich das Auto befinden könnte, mit jeder Minute rasend schnell. Die Vorstellungen dieser zufällig zusammengewürfelten Gemeinschaft gehen durchaus in verschiedene Richtungen. Fred hält es einerseits kaum mehr aus zu warten. Er macht sich Vorwürfe, dass er Sandra in diese Lage gebracht hat. Hätte er doch nur früher auf die Kontaktversuche reagiert und zumindest mit ihr darüber gesprochen, dann wäre sie gewarnt gewesen. Am besten hätte er gleich die Polizei eingeschaltet, aber mit welcher Begründung hätte er das tun sollen? Nun ist Sandra also verschwunden. Er weiß nicht, wo sie ist, aber er ist sich sicher, dass sie froh wäre, wenn er ihr helfen würde. Andererseits oder gerade wegen seiner Sorge um Sandra ist er dafür, die Forderungen der Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 170 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Entführer auf alle Fälle zu erfüllen. Alles, was das Risiko für seine Freundin erhöhen könnte, kommt für ihn nicht in Frage. Immerhin hatte er sich von den anderen überreden lassen, die Nummer noch einmal anzurufen, unter der er die Banditen ganz am Anfang kontaktieren sollte. Er war sehr nervös gewesen, weil er auch gar nicht genau wusste, was er sagen sollte, wenn sich da jemand meldete. Als die Ansage ertönte, dass die gewählte Rufnummer derzeit nicht vergeben sei, war die ganze Aufregung dahin. Die Entführer waren nicht so dumm, ein Handy mit einer bekannten Nummer zu benutzen, das sicher leicht zu orten gewesen wäre. Diese Erfahrung hatte Fred nur in der Einschätzung bestärkt, dass mit diesen Typen nicht zu spaßen sei und dass man deshalb am besten strikt alle Forderungen erfüllen solle. Franz ist von Natur aus nicht der Abenteurertyp. Nein, das stimmt eigentlich nicht. Sein Beruf verlangt natürlich eine gewisse Abenteuerlust und die bringt er auch mit. Er ist nicht besonders risikofreudig. Da geht es ihm wie Fred. Für ihn ist klar, dass alle Aktionen, die über die Anordnungen der Russen hinausgehen, eher als riskant einzustufen sind. Den Wissensvorsprung der Verbrecher etwas reduzieren, herausfinden, wo sie sich mit Sandra aufhalten, ok. Aber auf quasi eigene Faust losziehen, das kommt für Franz nicht in Frage. Zu der Risikoaversion kommt bei Franz dann noch etwas Lethargie, die sich eigentlich nicht mit der Abenteuerlust verträgt, die aber hilfreich ist, wenn er auf der Erlkönigjagd stundenlang im Auto sitzt und wartet. Bei Herrn Hafele sieht die Sache dagegen ganz anders aus. Er hat nicht mit der Angst um Angehörige zu kämpfen wie Fred. Er sieht die Dinge aus seiner professionellen Sicht. In seinem Beruf musste er viele Fälle Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 171 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 lösen, ohne die Polizei zu Hilfe nehmen zu können. Viele Firmen versuchen zunächst mal die Polizei, und damit bis zu einem gewissen Grad auch die Öffentlichkeit aus ihren inneren Angelegenheiten rauszuhalten. Zu groß ist sonst die Gefahr, dass Firmengeheimnisse an die Medien gelangen oder die Firma mit Negativschlagzeilen von der Presse durch den Fleischwolf gedreht wird. Er ist also dafür, möglichst schnell auf eigene Faust weiterzuermitteln und am besten gleich noch Sandra zu befreien. Es könnte sein, dass er auch eine gewisse Not hat, zu beweisen, was er draufhat. Als er noch berufstätig war, hat er oft genug seine Bestätigungsration bekommen. Jetzt fehlt ihm dieses regelmäßige, positive Feedback, ohne dass ihm das freilich bewusst wäre. Julia fällt aus dem Rahmen. Während die anderen ihre unterschiedlichen Standpunkte diskutieren – hauptsächlich Fred und Franz gegen Herrn Hafele – hält sie sich zurück. Als ob sie keine eigene Meinung hätte, wie denn am besten weiter zu verfahren sei, oder wenigstens, ob man warten solle oder aktiv werden. Sie folgt der Diskussion aufmerksam, ohne sich selbst zu äußern. Insgesamt wirkt sie damit auf die Gruppe eher bremsend. Den anderen fällt dies allerdings nicht auf, weil sie mit sich selbst beschäftigt sind. *** Sandra ist für einen Moment total versteinert. Bis ihr der Entführer bedeutet, sich umzudrehen. Dann spürt sie den kalten Lauf der Pistole am Hinterkopf. Ihr wird klar, dass die beiden mit der Situation überfordert sind und sie sie jetzt einfach nur noch loswerden wollen. Und das Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 172 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 bedeutet, dass sie sie jetzt erschießen werden. Sie wartet darauf, dass der Film zu laufen beginnt. Es heißt doch immer, dass man in den letzten Sekunden vor dem Tod noch das Leben im Zeitraffer an sich vorbeiziehen sieht. Sie wundert sich über die komische Filmmusik. Die hat sie schon mal gehört, als sich Fred einen seiner geliebten Star Trek Filme angesehen hat. Warum zum Teufel soll ihr Lebensfilm mit dem Star Trek Soundtrack unterlegt sein? Erst als sie sich dieser Frage bewusst wird, bemerkt sie, dass der Typ die Pistole wieder weggenommen hat und stattdessen jetzt nach seinem Handy kramt, das die Melodie aus dem Star Trek Film düdelt. Wenn ihr nicht so zum Heulen zu Mute wäre, müsste sie jetzt lachen. Endlich hat der Anführer sein Handy gefunden. Die Musik verstummt und er spricht kurz in das Telefon, um dann umso länger zu hören, was ihm das Gegenüber zu sagen hat. Es hat den Anschein, als hätte das Gegenüber dem Entführer in verschiedener Hinsicht viel zu sagen. Erstens kommt er für längere Zeit kaum zu Wort und zweitens entnimmt Sandra seinen Gesten und seinem Gesichtsausdruck eine gewisse aufmerksame Unterwürfigkeit. Entweder spricht am anderen Ende der Leitung seine Frau oder sein Boss. Letzteres hält Sandra für wahrscheinlicher, denn sonst wäre die Unterwürfigkeit vielleicht nicht so aufmerksam. Vielleicht hat jemand im Hintergrund für die beiden Ausführenden gedacht und teilt ihnen jetzt den Plan für das weitere Vorgehen mit. Das hofft Sandra, denn dass die beiden nicht in der Lage sind, selber einen Plan zu machen, und dass dies für sie gefährlich werden könnte, hat sie ja gerade eindrucksvoll erlebt. Es ist klar, dass Sandra das oben Geschriebene zwar alles weiß, dass Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 173 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 sie die Gedanken aber nicht in diesen Worten denkt. Sie ist gerade knapp mit dem Leben davongekommen. Sie ist fertig. Sie denkt im Moment eigentlich eher überhaupt nicht mehr. Am Ende des Telefonats schafft es der Anführer der beiden Entführer gerade noch, ein paar Worte zu sagen, die wohl signalisieren sollen, dass er verstanden habe, wie es jetzt weitergehen solle. Noch während er spricht, nimmt er das Handy vom Ohr und sieht es verdutzt an. Anscheinend wurde am anderen Ende der Leitung einfach aufgelegt. Tatsächlich bricht direkt nach dem Gespräch geschäftige Betriebsamkeit bei den beiden aus. Ein paar kurze Kommandos, dann wird Sandra am Arm gepackt und wieder zurück Richtung Auto geführt. Während des kurzen Weges erklärt der Anführer seinem Kompagnon den Plan. Er braucht dafür nicht halb so lange wie vorhin am Telefon. Welche Informationen er dabei seinem Partner bewusst und welche unbewusst vorenthalten hat, bleibt sein Geheimnis. Sandra wird wieder in den Geländewagen verfrachtet und wieder geht die Fahrt los. Auch diesmal sind ihre Augen verbunden, aber sie macht sich nicht mehr die Mühe, sich irgendwie zu orientieren oder den Weg zu verfolgen. Eine gewisse Resignation hat sich bei ihr bereits eingestellt. Nach dem Erlebten ist das aber ja auch kein Wunder. Sandra würde sich das jedoch selber nicht eingestehen. Wenn sie die Resignation bemerken würde, würde sie dagegen ankämpfen. Sie war bisher grundsätzlich immer der Meinung, dass man nie aufgeben dürfe. Trotz allem fällt Sandra auf, dass die Fahrt diesmal anders ist. Der Stil ist irgendwie entschlossener. Es fährt schon der gleiche Typ, der bisher immer am Steuer saß, aber er fährt diesmal anders. Es ist nicht mehr Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 174 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 dieses ziellose Gekurve, immer wieder zögernd – soll man abbiegen oder nicht. Diesmal kennt der Fahrer den Weg und absolviert die Strecke zügig. Außerdem unterhalten sich die beiden Gangster angeregt in ihrer Muttersprache. Die erhaltenen Instruktionen müssen wohl erst gemeinsam analysiert werden. Wahrscheinlich waren die Anweisungen recht grob und die beiden müssen jetzt die Details planen. Nach ein paar Minuten wird angehalten. Einer steigt aus, der andere Mann weist Sandra scharf an, sich ruhig zu verhalten. Nach kurzer Zeit wird der Kofferraum geöffnet, es hört sich so an, als würden Tüten eingeladen. Dann geht es auch schon wieder weiter. Sandra ist durch das anscheinend jetzt planmäßigere Vorgehen ihrer Entführer etwas beruhigter. Sie hat ja gerade erlebt, dass die völlige Orientierungslosigkeit der Gangster für sie buchstäblich lebensgefährlich war. Als ihr die Augenbinde abgenommen wird und sie die Hütte wiedererkennt, in der sie schon mal war, ist sie fast erleichtert. Schließlich ist sie hier schon mal heil herausgekommen. Hier gab es was zu essen und man hat ihr nichts zuleide getan. Sie hofft sehr, dass das diesmal auch so sein wird. Die Gangster tragen die Tüten in die Hütte, dann soll auch Sandra aussteigen und hineingehen. Alles ist genauso, wie sie es verlassen hatten. Sie soll sich auf einen Stuhl am Tisch setzten, so dass sie dem Raum den Rücken zukehrt. Der Anführer legt eine Tüte Semmeln und eine Leberwurst vor sie auf den Tisch und gibt ihr ein Plastikmesser – »Iss und schau aus dem Fenster. Nicht umdrehen.« Sie planen wirklich besser. An ein ungefährliches Plastikmesser hätten sie vor ein paar Stunden noch nicht gedacht. Die beiden stopfen sich je eine Semmel, mehr oder weniger in einem Stück, in den Mund. Beinah müssen sie lachen, weil sie kaum mehr Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 175 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 kauen können. Aber so entspannt ist die Lage dann doch wieder nicht. Sie machen sich an die Arbeit. Sandra kann in den Spiegelungen an der Fensterscheibe sehen, dass die beiden anscheinend verschiedene Dinge in eine schwarze Sporttasche packen. Was sie genau hineinstopfen, kann sie nicht sehen. Sie isst und trinkt aus einer Flasche Mineralwasser – die Marke gibt es nur bei Aldi. Dann wird es doch kurzfristig wieder ungemütlich. Das metallische Klacken von Waffen, bei denen Magazine herausgenommen und wieder eingesteckt werden, verdeutlicht noch einmal den Ernst der Lage. Kurz darauf sitzen die beiden auch am Tisch und besprechen anscheinend das weitere Vorgehen. Eine letzte kurze Ruhepause. Dann greift der Chef zum Handy. *** Es klingelt an der Haustür. »Wahrscheinlich wieder diese frechen Nachbarskinder!«, denkt Jana Ziegler. Doch sie täuscht sich. Als sie die Tür öffnet, steht der Postbote vor ihr. Ein kurzer Gruß, schnell eine Unterschrift für ein Päckchen und schon ist er wieder weg. Jana Ziegler hätte heute auch keine Zeit für ein Schwätzchen gehabt. Sie muss in einer Stunde bei der Logopädin sein und vorher noch einkaufen. Mit zwei kleinen Kindern keine Kleinigkeit. Sie steckt zuerst die kleine Ano in ihren Anorak. Ano ist ein Jahr alt und heißt eigentlich Anuschka, aber ihr großer Bruder, Moritz, konnte das nicht aussprechen und hat sie von Anfang an Ano genannt. Also, die Kinder werden in ihre Klamotten gepackt. Vorher wird noch Proviant in Form von Apfelschnitzen und Wasserflaschen im Wickelrucksack verstaut. Dann werden Apfelschnitze und Kinder ins Auto geladen und angegurtet – die Kinder. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 176 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 *** Das Handy klingelt. Herr Hafele hebt ab, bevor es ein zweites Mal läutet. Der Klingelton passt eigentlich nicht zu dem insgesamt seriösen Eindruck, den er hinterlässt. Das E-Gittarrenriff von Smoke on the Water macht bei ihm einen eher infantilen Eindruck. Aber darum kümmert sich im Moment natürlich mal wieder niemand. Alle starren ihn an, während er knapp seinen Freund Paul begrüßt. Dem war es wohl doch zu riskant, seine Indiskretion mit einer SMS zu dokumentieren. Das Gespräch dauert keine 30 Sekunden. Dann verkündet Herr Hafele, dass der schwarze Cayenne mit dem russischen Kennzeichen von einer Toll Collect-Brücke an der A81 in der Nähe der Ausfahrt Ilsfeld registriert wurde. Fahrtrichtung Süden. Noch während er das sagt, steht er auf und will das Zimmer verlassen. Franz stoppt ihn und fragt, wo er denn hin wolle. Na, auf die Autobahn natürlich. Jetzt habe man ja eine grobe Richtung. Er werde losfahren. Die Diskussion, ob das angebracht sei, ob man nicht noch warten müsse, bis man mehr wisse, diese Diskussion findet quasi nicht statt. Herr Hafele will jetzt endlich was tun. Er sagt immerhin noch, dass er auf die A81 fahren werde. Wenn er Glück habe, werde er ja den Porsche sehen; ansonsten biege er auf einen Rastplatz oder Parkplatz kurz hinter Ludwigsburg ab und postiere sich dort. Und schon ist er weg. Man vereinbart noch, sich über neue Entwicklungen per Handy auf dem Laufenden zu halten. Fred, Franz und Julia sehen sich etwas ratlos an. Sie wüssten natürlich zu gerne, wer in dem Porsche saß – eine, zwei, drei Personen? Aber es ist ihnen klar, dass ihnen diese Frage nicht beantwortet werden wird. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 177 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Warum ist Herr Hafele gleich weg? Warum wollte er unbedingt alleine gehen? Er hat jedenfalls nicht gefragt, ob ihn jemand begleiten wolle. Im Gegenteil, sein Verhalten hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er alleine loswollte. Es wird nicht lange über das Thema diskutiert. Man hat andere Sorgen, als sich über die Egotrips eines Mitglieds dieser Zufallstruppe – Schicksalsgemeinschaft würde Fred noch als zu geschwollen empfinden – ernsthafte Gedanken zu machen. Die DVD mit den geforderten Daten liegt bereit. Franz hat eine Landkarte von Baden-Württemberg auf dem Esstisch ausgebreitet. Mehr ist im Moment wieder nicht zu tun. Sie müssen warten. Franz versucht zu googeln, ob es was zu Entführungen oder Erpressung in Zusammenhang mit einem schwarzen Cayenne gibt. Aber da ist nichts zu finden. Fred legt seinen Kopf auf die Arme, die er auf dem Tisch verschränkt hat, und versucht etwas zu dösen. Er ist eigentlich völlig übermüdet, aber zur Ruhe kann er natürlich doch nicht kommen. Julia verschwindet wortlos aus der Wohnung. Fred schreckt wieder auf, weil ihm eingefallen ist, dass der Akku seines Handys schon lange nicht mehr geladen wurde. Er kramt nach dem Netzteil und schließt es an. Dann nimmt er wieder seine Dösposition am Tisch ein. Julia kommt wieder herein. Sie hatte die Tür nur angelehnt gelassen. So vergeht die Zeit – tröpfchenweise. Als sein Handy klingelt, schreckt Fred hoch. Er war wohl doch kurz eingeschlafen. Franz und Julia kommen aus der Küche. Als er abhebt, meldet sich der Mann mit dem harten Akzent und sagt, Fred solle gut zuhören. Dann ist plötzlich Sandra dran. »Bitte tu, was sie sagen!«, dann ist sie auch schon wieder weg. Freds Puls beschleunigt sich immer weiter. Trotzdem schafft er es jetzt endlich, den Lautsprecher des Handys Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 178 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 einzuschalten. Die anderen können jetzt wieder mithören. Der Russe verliert nicht viele Worte: »Du hast, was wir wollen? Wir haben Frau. 12 Uhr Aral Tankstelle neben A81, Ausfahrt Untergruppenbach. Allein!« Dann wird aufgelegt. Franz und Julia sehen Fred an. Er sagt, dass Sandra mit ihm gesprochen habe. Die beiden sind erleichtert. Die Autobahnausfahrt ist auf der Karte schnell gefunden. Die Aral-Tankstelle ist nur etwas mehr als 500 Meter davon entfernt. Es ist 11:30 Uhr. Sie haben nicht mehr viel Zeit. *** Jana Ziegler hat die Einkäufe bereits hinter sich. Die Kinder haben ordentlich Rabatz gemacht. Begonnen hat es schon auf dem Supermarktparkplatz. Moritz ist brav in den Einkaufswagen geklettert. Die kleine Ano sollte den Logenplatz im ausklappbaren Kindersitz desselben bekommen. Doch den wollte sie nicht. Mit lautem Geschrei hat sie ihre Ablehnung kundgetan. Außerdem hat sie sich mit unglaublicher Körperspannung steif wie ein Brett gemacht, was alle Versuche, sie in den Sitz zu setzen, scheitern ließ. Diese Art der kleinkindlichen Körperbeherrschung ist wirklich phänomenal. Im einen Moment sind sie wie kleine Steinmännchen, völlig unbeweglich und ungefähr genauso schwer. Im nächsten Augenblick werden sie zu mehlsackähnlichen Weichtieren, anscheinend völlig ohne Knochen und immer noch schwer. Je nach Bedarf. In dem Einkaufstempel haben die lieben Kleinen Mama dann abwechselnd den Einkauf mit Geschrei, Sachen aus dem Regal Fischen, Sachen aus dem Einkaufswagen Werfen und ähnlichem Schabernack Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 179 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 versüßt. Jetzt ist Jana froh, die beiden in ihren Sitzen im Auto festgezurrt zu haben. Der Bewegungsspielraum der lieben Kleinen beschränkt sich damit im Wesentlichen auf Gefuchtel mit den Armen. Das macht schon nach kurzer Zeit keinen Spaß mehr. Die Hoffnung ist also begründet, dass die kurze Fahrt zum Logopäden in Untergruppenbach zu einer Abkühlung der kleinen Gemüter führen wird. Und tatsächlich, als sie die Kleinen kurz darauf aus dem Auto lädt, sind sie lammfromm. Es scheint, als würde die 30-minütige Sitzung gut laufen. *** Es geht los. Jeder schnappt sich die Tasche oder den Rucksack, der schon eine Weile bereitliegt. Alle drei laufen zusammen aus der Wohnung. Die Tür wird schnell ins Schloss gezogen und der Treppenabsatz zur Haustür ist in einem Satz genommen. Die Autos haben sie direkt vor dem Haus hintereinander geparkt, um ohne Rangieren möglichst schnell losfahren zu können. Franz und Julia nehmen den alten Volvo. Fred startet den Bentley, lässt den Wählhebel der Automatik in D einrasten und gibt sofort Gas. Der ganze Ablauf ist so geübt, dass Franz gerade noch die Tür zuzieht, als Fred schon anfährt. Die Lage von Franz' Wohnung ist heute sehr günstig. Sie haben nur einen knappen Kilometer bis zur B27, die sie direkt und schnell zur Autobahn bringt. In der Stadt müssen sie vorsichtig fahren. Ein Unfall würde in jedem Fall bedeuten, dass sie es bis 12 Uhr nicht schaffen würden. Rote Ampeln werden beachtet; so haben sie es immer wieder besprochen. Sie wollen keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, insbesondere nicht die der Polizei. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 180 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Nach wenigen hundert Metern stehen sie an der ersten Kreuzung. Fred nutzt die Gelegenheit, die Videomesstechnik zu starten. Wenn der Rechner erstmal hochgefahren ist, stört er ja nicht; im Gegenteil. Fred hat sich überlegt, dass die Aufzeichnungsfunktion sehr hilfreich sein kann. Ein Tastendruck und die Bilder der kleinen Kamera, die sehr unauffällig hinter dem Rückspiegel eingebaut ist, werden aufgezeichnet, bis die Festplatte voll ist. Die Zeit an der ersten Ampel reicht gerade, um nach dem Netzschalter zu fingern und den Rechner zu starten. An der dritten Krezuung gibt Fred das Passwort ein und auf der Autobahnauffahrt, als er hinter einem LKW feststeckt, klickt er mit dem kleinen Trackball an der Tastatur das Messprogramm an. Julia hat die Pausen an den Ampeln und ihre Beifahrerrolle genutzt, um Herrn Hafele anzurufen. Er ist froh, dass Fred sogar mit Sandra sprechen konnte. Das sei ein sehr gutes Zeichen. Herr Hafele hat wirklich eine etwas bessere Position. Er steht mit seinem Auto auf dem Park and Ride Parkplatz an der Ausfahrt Pleidelsheim. Er hat also gut zehn Minuten Vorsprung. Die Ansage, die dann kommt, wird Julia Tage später in Gedanken immer wieder durch den Kopf gehen. Herr Hafele sagt, sie sollten nicht auf ihn warten oder nach ihm Ausschau halten. Er werde aber da sein. Julia weiß nicht, dass das die letzten Worte sind, die sie von ihm hören wird. Auf der Autobahn geben sowohl Franz als auch Fred richtig Gas, auch wenn das einen ganz unterschiedlichen Effekt hat. Während Franz' Uraltvolvo eine Beschleunigung wie ein Flusskreuzfahrtschiff zu Stande bringt, brüllt der Bentley-12-Zylinder los, wie man es dem Antrieb eines so gediegenen Fahrzeuges gar nicht zutrauen würde. Die dann einsetzende Beschleunigung kommt vielleicht eher an die einer Wally Power heran – eine Yacht, die von einer Jet-Turbine angetrieben wird. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 181 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Der Verbrennungsmotor wird in diesem Hybridmodell von Elektromotoren unterstützt, die für zusätzliches Drehmoment sorgen. Jedenfalls ist Fred sehr schnell sehr schnell. Trotzdem kommt er kaum zügiger voran, als Franz. Gleich nach der Ausfahrt Untergruppenbach muss er an einer Ampel warten und Franz steht nur vier Autos hinter ihm, als sie auf grün schaltet. Noch einmal kurz Gas gegeben und sie sind an der Tankstelle angekommen. Der schwarze Cayenne ist nicht zu sehen. Es ist fünf vor zwölf – buchstäblich. *** Fred stellt seinen Wagen an der Versorgungsstation ab, dort, wo es Luft und Wasser für das Auto gibt. Er parkt rückwärts ein, so dass die Kamera hinter der Windschutzscheibe praktisch den gesamten Vorplatz der Tankstelle sehen kann. Dann steigt er aus dem Auto und geht zum Reifenfüller – so heißen tatsächlich die Geräte, die auf der Druckluftleitung hängen und dort meist seltsam vor sich hin fiepsen. Er nimmt das Gerät von der Leitung und macht sich am rechten Hinterrad des Autos zu schaffen. Er schraubt die Ventilkappe ab, dann steht er auf und klappt den Tankdeckel auf. Aber wo bei vielen Fahrzeugen eine Tabelle mit dem vorgeschriebenen Luftdruck für Vorder- und Hinterachse klebt, da ist bei diesem Prototyp nichts zu finden. Auch in der Fahrertür ist kein Aufkleber vorhanden. Wahrscheinlich sind sich die Kollegen bei Bentley noch nicht einig, welche Werte da draufstehen sollen. Insgesamt macht das aber nichts, denn Fred hat eigentlich ganz andere Probleme als den Luftdruck. Er hat sich überlegt, dass er mit dieser Tätigkeit unauffällig einige Minuten verbringen kann. Wenn er an die Zapfsäule gefahren wäre, müsste er auch tanken, um nicht aufzufallen. Dann aber Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 182 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 würde sein Auto buchstäblich an der selbigen festhängen. Er könnte im Fall der Fälle nicht einfach schnell losfahren. Und das Auto irgendwo abstellen geht sowieso nicht. Entweder müsste er dann sitzen bleiben, und das wäre auch wieder irgendwie auffällig, oder er müsste in den Tankstellenshop gehen, wo er jedoch viel schlechter mitbekommen würde, was draußen vor sich geht. Also prüft Fred äußerlich in aller Ruhe den Luftdruck; innerlich sind seine Nerven zum Zerreißen gespannt. Plötzlich fällt ihm ein, dass die Kamera zwar läuft, aber nicht aufzeichnet. Er öffnet die Fahrertür, beugt sich zur Tastatur der Messtechnik und drückt »R« für Record. So, jetzt läuft die Aufzeichnung für mindestens eine Stunde. Das wird reichen – hofft er. Franz und Julia haben sich eine andere Strategie überlegt. Sie haben ihren Volvo einfach neben dem Tankstellengebäude abgestellt und sind in den Laden gegangen. Ihre Tarnung besteht darin, anscheinend ein paar kleine Besorgungen auf der Durchreise zu machen. Zuerst postieren sie sich vor dem Weinregal und tun so, als ob sie eine gute Flasche als Geschenk für einen Freund suchen. Um das realistisch zu spielen, müssen sie sich aber halt die meiste Zeit dem Regal zuwenden, was bedeutet, dass sie kaum mitbekommen, was an der Tankstelle passiert. Deshalb entscheiden sie sich relativ bald für eine Flasche Stettener Heuchelberg Kerner, Kabinett. Den hat Franz schon oft gekauft und er schmeckt ihm recht gut. Auch wenn das im Moment, wie so oft, keine Rolle spielt. Sie schlendern scheinbar seelenruhig zum Zeitschriftenregal. Franz beginnt, die Weinflasche unter dem Arm, in einer »Auto Motor und Sport« zu blättern, während sich Julia eine »Freundin« schnappt. Diese neue Position ist wesentlich besser. Die Zeitschriften und Magazine stehen in einem nur halbhohen Regal, direkt an der Glasfront des Gebäudes, die den Zapfsäulen zugewandt ist. So können sie gut Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 183 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 übersehen, was sich draußen tut, ohne sofort aufzufallen. Aber, wie auch bei Fred, funktioniert diese Tarnung nicht unbegrenzt lange, ohne dass es komisch wirkt. Eine Viertelstunde kann man vielleicht in einem Tankstellenshop oder am Reifenfüller verbringen. Wenn also in den nächsten Minuten nichts geschieht, müssen sich die drei etwas Neues einfallen lassen. Es ist 11:59 Uhr, als Julias Handy klingelt. Franz schaut sie erschrocken an, obwohl ein Telefonat die Haltbarkeit ihrer Zeitschriften-BlätterTarnung natürlich erhöht. Aber wer ruft denn ausgerechnet jetzt an? Franz ist nervös und bildet sich ein, dass sie zusammenzuckt. Dann dreht sie sich weg und nimmt den Anruf an. Sie geht wieder zurück zum Weinregal auf der anderen Seite des Ladens, um dort zu sprechen. Ihr Gesicht ist angespannt, ärgerlich oder freudig. Franz weiß es nicht genau. Er ist hin- und hergerissen; einerseits will er Julia im Auge behalten, weil er das Gefühl hat, dass das kein normaler Anruf ist – was auch immer normal bedeuten würde –, andererseits muss er beobachten, was vor dem Fenster passiert. Er kann Fred nicht im Stich lassen. Julias Gesten signalisieren seiner Meinung nach Abwehr. Sie spricht nichts, hört dem Anrufer nur zu. Erst nach ungefähr einer Minute sagt sie kurz etwas – könnte »ja« oder »ok« gewesen sein. Dann ist das Gespräch beendet. Julia stellt sich neben Franz und sieht schweigend aus dem Fenster. Franz traut sich nicht nach dem Grund des Anrufs zu fragen. Es beschleicht ihn ein ganz ungutes Gefühl. *** Herr Hafele hat alles beobachtet. Mit Fred ist er recht zufrieden. Er hat eine gute Position am Rand des Geländes und er scheint wirklich mit dem Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 184 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Wagen beschäftigt zu sein. Franz und Julia stören aus Herrn Hafeles Sicht eher. Sie selbst stehen mitten im Geschehen. Egal, woher die Entführer kommen, sie werden Franz und Julia quasi zwangsläufig über den Weg laufen. Das ist ungünstig. Mit dieser Einschätzung soll er bald sehr recht behalten. Außerdem stört ihn die Stelle, an der der Volvo steht, aber dafür können Franz und Julia nichts. Sie haben Herrn Hafele noch nicht gesehen, seit sie an der Tankstelle angekommen sind. Natürlich haben sie sich so unauffällig wie möglich nach dem silbernen SLK umgesehen, aber sie konnten ihn nicht entdecken. Trotzdem haben sie es geschafft, den Volvo so abzustellen, dass Herr Hafele quasi eingeparkt ist. Jetzt wäre es gut, eine Funkverbindung zu haben, aber das wollte vor allem Fred nicht. Er hatte Angst, dass die Entführer dies bemerken könnten und dann glauben würden, die Polizei wäre im Spiel. Also muss sich Herr Hafele mit der Situation abfinden. Er beobachtet weiter das Geschehen, ohne selbst gesehen zu werden. Er überlegt, ob er noch kurz seine Frau anrufen sollte, aber das würde ihn nur ablenken; sie würde es aufregen. Es muss sich ja auch gleich etwas tun. Er muss sich konzentrieren. *** Jana Ziegler hat sich im gleichen Maß beruhigt, wie sich ihre lieben Kleinen nach der kleinen Einkaufs-Horror-Show wieder beruhigt haben. Schon fünf Minuten Fahrt zum Logopäden haben Wunder gewirkt. Moritz hat die ganze Sitzung gut mitgemacht und die kleine Ano hat brav mit Mama ein Bilderbuch angeschaut. Das hat zwar erstmal nur circa drei Minuten gehalten, aber es gab ja noch ein zweites und ein drittes Buch. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 185 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Dieses dritte war dann das Entenbuch, das Anos Aufmerksamkeit bis zum Ende von Moritz' Therapiestunde fesseln konnte. Moritz macht langsam Fortschritte. Seine Aussprache wird besser und er kann die Übungen zu deren Verbesserung inzwischen ganz gut. Nach jeder Stunde bekommt er – und damit natürlich auch seine Mutter – neue Aufgaben und Übungen, in denen es oft um Siebe, Säcke, Segelschiffe und Ähnliches geht. Auch diesmal gibt es wieder neue Aufgaben, dennoch ist die Stimmung gut und entspannt, als Jana die Kinder ins Auto setzt. Moritz klettert schon selbst in seinen Kindersitz; Ano möchte das auch und beanstandet lautstark, wenn sie dabei zu viel und zu offensichtliche Unterstützung bekommt. Nur wenige Minuten, nachdem beide in ihren Sitzen angeschnallt sind, biegt Jana auf den Autobahnzubringer ein. Jetzt muss sie nur noch kurz tanken und dann geht es nach Hause – Mittagessen und die Kleine zum Mittagsschlaf hinlegen. Diese halbe Stunde, in der Ano schläft und Moritz meistens ruhig für sich spielt, ist die einzige ernst zu nehmende Pause in ihrem Tagesablauf. Wobei ruhig manchmal auch relativ ist. Das Geräusch, das beim Graben in einer Kiste voller Legosteine entsteht, dürfte den meisten Eltern vertraut sein. Es durchdringt durchaus Wände und Türen, aber mit dem Geschrei streitender Geschwister ist es nicht zu vergleichen. Jana fährt nur ein paar hundert Meter auf der Landstraße bis zur Tankstelle. Eigentlich interessiert sie sich nicht für Autos, aber die Karre, die sie jetzt vor sich hat, ist dann doch auffällig – so ein Pseudostadtgeländewagen und dann auch noch mit Spoilern von der übelsten Sorte. Und der biegt jetzt auch noch bei der gleichen Tankstelle ein. Es ist eine größere Anlage mit sechs Zapfsäulen in zwei Reihen. Bisher tankt noch keiner. Sie werden sich also nicht in die Quere kommen. Wartezeiten könnte Jana jetzt nicht brauchen, sonst schläft Ano Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 186 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 am Ende noch ein – vor dem Mittagessen. Dann gerät der Rest des Tages ganz aus den Fugen. Sie hält neben Säule drei und sagt ihren Kindern, dass sie nur kurz tanken werde. Sie sollten so lange weiter die Pumuckl-CD hören und brav sein. Dann steigt sie aus. *** Wer den schwarzen Porsche zuerst gesehen hat, lässt sich nicht mehr sagen und es spielt auch keine Rolle mehr. Das Auto hat gerade neben Zapfsäule sechs gehalten. Man kann zwei Männer auf den vorderen Plätzen erkennen. Sie sitzen scheinbar noch ganz ruhig da, sprechen miteinander. Herr Hafele in seinem Versteck ist buchstäblich durch und durch gespannt. Er kennt dieses Gefühl von vielen Einsätzen aus seinem Berufsleben. Wenn sie kurz vor dem Zugriff waren, hatte er es schon oft. Er fühlt sich wie eine Raubkatze vor dem finalen Sprung auf die Beute. Franz starrt aus dem Fenster des Shops, er fühlt sich wie im falschen Film – wie ein Zuschauer im falschen Film. Denn eine richtige Rolle scheint er im Moment nicht zu haben, oder zumindest hat er seinen Text und den Einsatz vergessen. Neben ihm steht Julia. Sie macht dagegen einen freudig erregten Eindruck. Sie strahlt fast und ihre Rolle scheint sie genau zu kennen. Fred steht auf und versucht, nicht zu auffällig zu dem Porsche zu glotzen. Er weiß schließlich nicht, ob die Entführer wissen, dass er weiß, welches Auto sie fahren. Er dreht sich so, dass er den Porsche seitlich hat, und sieht nur hin und wieder zu dem Auto hinüber. Die Scheiben sind so abgedunkelt, dass er nicht erkennen kann, ob jemand auf dem Rücksitz ist. Die Hand in seiner Hosentasche hat überhaupt nichts mit Lässigkeit Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 187 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 zu tun, auch wenn es so aussehen mag. Er umklammert sein Handy. Der Ton ist ausgeschaltet, aber er würde einen Anruf der Entführer über den Vibrationsalarm bemerken. Bei seiner ganzen bemühten Unauffälligkeit bedenkt er nicht, dass ihn die Entführer höchstwahrscheinlich eh erkennen. Und wenn sie kein gutes Personengedächtnis haben, dann identifiziert ihn sein Auto eindeutig als den Typ, der irgendwas mit Entwicklungsfahrzeugen zu tun hat. An dieser Tankstelle steht nur ein noch leicht als Prototyp getarnter Bentley. Für eine Minute passiert nichts. Es ist fast, als wäre die Zeit eingefroren. Es ist, als wäre die Hand des Kochs kurz vor der Wange des Küchenjungen in der Luft eingefroren – bereit zuzuschlagen, sobald der Zeit erlaubt wird, weiterzulaufen. *** Dann steigt der Anführer aus dem Auto. Er war der Beifahrer. Er nickt Fred kurz zu, so unmerklich, dass nicht mal Herr Hafele es bemerkt. Fred ist klar, dass er gemeint ist. Der Anführer schraubt die Ventilkappe des rechten Vorderrades ab. Dann geht er langsam zu Fred hinüber. Er spricht ihn an: »Luft.« Fred glaubt, er habe sich verhört, dann denkt er, sie hätten sich getäuscht. Die ganze Suche nach dem schwarzen Porsche sei ein Irrtum gewesen, und es sei reiner Zufall, dass so ein Porsche mit Spoilern und russischem Kennzeichen jetzt hier an dieser Tankstelle stehe. Aber dann geht die Ansprache weiter: »Hast du CD?« Fred nickt und zeigt zu seinem Auto, dessen Türen geschlossen sind. Jetzt fragt er zurück: »Wo ist Sandra?« Der Russe dreht sich um und schaut kurz in Richtung des Porsche. Fred glaubt, Sandras Gesicht zwischen den Vordersitzen zu erkennen. Der Russe wird plötzlich doch Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 188 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 noch recht gesprächig: »Ruhig bleiben. CD auf Zapfsäule eins, unauffällig, dann kommt Frau. Dann hau ab.« Fred ist plötzlich ganz ruhig. Er hat das im Moment noch völlig unberechtigte Gefühl, dass jetzt alles gut werden wird. Er geht um das Auto herum zur Beifahrertür. Der Russe läuft inzwischen mit dem Reifenfüllgerät zurück zum Porsche. Er stellt den Apparat neben die Zapfsäule und tut so, als müsse er sich erst mit der Bedienung vertraut machen. Fred holt die CD, die auf dem Beifahrersitz des Bentley lag, und geht, wie es der Russe wollte, zur Zapfsäule. Er holt eines der Papiertücher aus dem Spender, der an der Säule direkt neben der Zapfanlage angebracht ist, und legt nebenbei die CD ab. Er ist fast stolz auf seine Coolness. Jetzt ist er nur ungefähr fünf Meter vom Auto der Gangster entfernt. Als er umkehrt, um zu seinem alten Platz zurückzukehren, kann er kurz Sandras Gesicht durch die Frontscheibe hindurch erkennen. Seine fast gelöste Stimmung ist sofort wieder verflogen, weil Sandra überhaupt keinen gelösten Eindruck macht. Während er die wenigen Meter geht, dreht sich Fred nicht mehr um. Erst als er den Wagen erreicht hat, schaut er sich um. Nichts ist passiert. Der eine Russe nestelt am Scheibenwischer des Porsche herum, der andere sitzt immer noch im Auto. Auch Sandra ist weiterhin im Auto. Die CD liegt anscheinend unangetastet auf der Zapfsäule. Von Freds Verbündeten ist nichts zu sehen. Erst jetzt kommen Fred einige Fragen in den Sinn, die ihm gar keinen Spaß machen. Was wäre, wenn jetzt noch irgendwelche anderen Leute an der Tankstelle auftauchen würden? Das könnte alles in Gefahr bringen. Sie könnten einfach nur im Weg stehen, die Sicht nehmen oder noch schlimmer, sie könnten von den Gangstern für Polizisten gehalten werden und damit Sandras Freilassung gefährden. Ein öffentlicher Ort Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 189 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 wie eine Tankstelle ist schon ein ziemlich seltsamer Schauplatz für das Ende einer Entführung. Oder sollte das kein Ende werden? Wieso sollten diese Typen sich an ihren Teil halten? Das muss doch aus ihrer Sicht das Risiko deutlich erhöhen. Einfach die Daten abgreifen und abhauen wäre viel sicherer – aus Sicht skrupelloser Verbrecher. Dann wäre es allerdings gleich richtig sicher gewesen, die Daten per Internet irgendwohin transferieren zu lassen und das Entführungsopfer einfach umzubringen. Oder sie könnten die Daten erst prüfen wollen, bevor sie Sandra laufen lassen. *** Die Zapfsäule rappelt, die Pumpe läuft, Jana Ziegler hat ein paar Sekunden Zeit. Die Kinder im Auto hören immer noch Pumuckl oder sie streiten sich wegen irgendwas. Jana ist es im Moment egal. Sie ist in Gedanken versunken und schaut zu dem unglaublich hässlichen Auto hinüber. Ein Mann steht an der Windschutzscheibe und repariert den Scheibenwischer. Er schaut kurz hoch und blickt zu Jana herüber. Jetzt geht die Beifahrertür auf und ein zweiter Mann steigt aus. Sie bemerkt nicht, dass es hier ein Abstimmungsproblem gab, das den Verlauf der weiteren Ereignisse dramatisch beeinflusst. Er öffnet die hintere rechte Tür des Wagens und holt eine junge Frau aus dem Fond. Er zerrt sie fast vom Sitz. Jana wundert sich über die Grobheit des Mannes. Das Mädchen sieht nicht gut aus, das heißt eigentlich sieht sie wahrscheinlich schon gut aus, aber sie scheint total fertig zu sein. Wie nach einer wegen Kummer schlaflosen Nacht. Die Frisur ist praktisch nicht mehr vorhanden, Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 190 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 dafür sind die Augenringe wie aufgemalt. Der Typ gibt ihr einen merklichen Schubs und sofort läuft sie los. Plötzlich laufen alle los. Das Mädchen trabt, mehr geht nicht mehr, in Richtung des jungen Mannes, der neben diesem matt-schwarzen Riesenauto stand. Der wiederum stürzt ihr geradezu entgegen. Dann zerrt er sie zu seinem Auto. Diese Frau wird heute viel rumgeschubst; aber Jana meint ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu entdecken, als sie auf den Beifahrersitz des Luxusschlittens fällt. Gleichzeitig mit dem Mädchen hat sich der Scheibenwischerreparierer in Bewegung gesetzt – betont langsam und gelassen. Als Jana wieder zu ihm blickt, ist er nicht mehr weit von der letzten Zapfsäule in der Reihe entfernt. Ihr ist klar, dass hier irgendeine komische Geschichte vor sich geht, aber sie hat keine Chance, keine Zeit und eigentlich überhaupt kein Interesse daran, auch nur annähernd zusammenzupuzzeln, wer zu wem gehört. Um was es geht, wissen auch die meisten der Beteiligten nur zum Teil. Jetzt bemerkt sie einen weiteren Mann, den sie bisher nicht gesehen hat. Er rennt direkt auf die besagte Zapfsäule zu. Die Schnelligkeit seiner Bewegung steht in direktem Kontrast zu seinem weißen Haar, das ihn als einen Herren fortgeschrittenen Alters ausweist; und sie steht in direktem Kontrast zur fast schon übertriebenen Langsamkeit des anderen Manns. Der hat den Weißhaarigen noch nicht bemerkt und greift nach irgendetwas, das anscheinend auf dem Gehäuse der Zapfsäule liegt. Doch der Ältere kommt ihm zuvor und schnappt sich im Vorbeilaufen ein kleines rechteckiges Kästchen. Jetzt beschleunigen sich die Dinge nochmals. Der jüngere Mann reagiert sofort. Er greift kurz unter seine Jacke, dann kommt ein lauter Knall und der Weißhaarige fällt nach vorne Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 191 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 auf den Boden. Der junge Mann läuft zu ihm hin, aber nur um das Kästchen – es sieht aus wie eine CD-Hülle – an sich zu nehmen. Erst jetzt realisiert Jana Ziegler, dass da gerade geschossen wurde. Aber sie steht einfach da, unfähig zu handeln, wie versteinert. Der Mann rennt zu dem Porsche zurück. Sein Kompagnon sitzt schon wieder auf dem Beifahrersitz. Jetzt kommt noch eine weitere Person auf die Bühne dieses verwirrenden Dramas. Eine Frau mittleren Alters tritt aus dem Tankstellenshop und läuft direkt auf den Porsche zu. Der Fahrer ist schon an der Tür, er schaut kurz zu ihr auf, die Waffe immer noch in der Hand, aber diesmal schießt er nicht. Während er den Wagen anlässt, springt die Frau auch hinein. Dann verlässt der Geländewagen mit quietschenden Reifen die Szene. *** Wieder herrscht für vielleicht fünf Sekunden Stille, in der nur der Pumuckl weiterzetert. Die Kinder auf dem Rücksitz haben von den Vorgängen draußen nicht viel mitbekommen. Sie sitzen angeschnallt mit dem Rücken zu den übrigen Protagonisten. Diese starren alle den am Boden liegenden Mann an. Dann löst sich die plötzliche Starre auf. Es sind vielleicht 30 Sekunden vergangen, seit der Russe Herrn Hafele in den Rücken geschossen hat. Fred läuft zu ihm hin. Auch Franz kommt aus dem Shop und rennt zu ihm hinüber. Jana Ziegler öffnet den Kofferraum und holt einen orangefarbenen Koffer heraus. Sie ist Ärztin und hat immer dieses erweiterte Erste-Hilfe-Set dabei, um mehr Möglichkeiten zu haben. Herr Hafele liegt auf dem Bauch. Ein großer Blutfleck ist auf seinem Hemd zu sehen. Jana übernimmt das Kommando, obwohl sie es natürlich Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 192 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 noch nie mit einem angeschossenen Patienten zu tun hatte. Der Verletzte wird umgedreht. Sie versucht seinen Puls zu fühlen, spürt aber nichts. Sie beginnt sofort mit der Herzmassage und weist Fred an, den Ambu-Beutel aus dem Koffer zu holen. Fred beginnt mit der Beatmung. Franz kniet daneben und hält Herrn Hafeles Hand. Jana bittet ihn, sie abzulösen. Während Franz nun die Herzmassage weiterführt, zieht sie eine Spritze auf und verabreicht diese dem Patienten. Als sie die Schutzhülle wieder über die Kanüle steckt, biegt der Notarztwagen auf das Gelände der Tankstelle. Der Tankwart hat von der Kasse aus kurz nach dem Schuss den Notruf ausgelöst. Der Notarzt übernimmt. Jana teilt ihm die wenigen Informationen mit, die sie hat. Fred und Franz sitzen außer Atem daneben. Die Retter tun sicher, was sie können. Aber sie können nicht viel tun. Nach ein paar Minuten werden die Wiederbelebungsmaßnahmen eingestellt. Herr Hafele ist tot. Wie geht es in so einem Augenblick weiter? Inzwischen ist auch die Polizei eingetroffen, die der Tankwart ebenfalls verständigt hat. Die Beamten haben natürlich mitbekommen, dass es einen Toten gibt. Der Tankwart hat ihnen bereits geschildert, was er gesehen hat. Alle anderen werden gebeten, sich vorerst nicht zu entfernen. Fred holt Sandra wieder aus dem Bentley. Von ihm erfährt sie, dass der Mann tot ist und dass er Fred in den letzten Tagen und Stunden geholfen hat. Dann nimmt er sie schweigend in den Arm. Es gäbe jetzt viel mehr zu sagen. Jana Ziegler setzt sich zu ihren Kindern ins Auto. Als Notarzt und Krankenwagen ankamen, wurden sie natürlich auch aufmerksam. Vor allem Moritz will unbedingt aus dem Auto und sehen, was passiert ist. Dass er das nicht darf, solange die Leiche offen auf dem Platz liegt, ist Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 193 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 klar; dass das zu Geschrei führt, ist auch klar. Das sind die Momente, in denen die Diskrepanz zwischen der Welt der Kinder und der manchmal unbarmherzigen Welt der Erwachsenen für Jana nur schwer erträglich ist, weil sie der Puffer zwischen diesen Welten sein muss. Sie versucht, die auch für sie völlig unverständlichen Ereignisse in Kindersprache zu übersetzen. Was ihr nicht sehr gut gelingt. Eine schier unendliche Kette von »Warum?«-Fragen entspinnt sich. Franz steht etwas abseits. Er fühlt sich allein und leer. Ein Mensch ist tot. Sandra ist wieder wohlbehalten zurück. Aber Julia, mit der er die Hoffnung verband, seine Rolle als einsamer Wolf abstreifen zu können, sie ist weg. Offensichtlich freiwillig mit den Entführern davongefahren. Das ist nicht zu verstehen. Die Polizisten beginnen die Personalien aufzunehmen und Fragen zu stellen. *** Sandra und Fred sitzen am Frühstückstisch. Fred ist froh, dass er eine anstrengende Woche in der Firma hinter sich hat. Nach dem Ende der Entführung hatte er damals sofort mit seinem Gruppenleiter bei der IAA telefoniert und ihm alles erzählt. Der hatte seinen Chef informiert und so weiter. Die Werksfahndung der IAA und die Revision wurden eingeschaltet. Zu den Vernehmungen bei der Polizei kamen für Fred also noch mehrere Interviews mit den Fahndern seines Arbeitgebers. Als Ergebnis wurde festgehalten, dass Fred ohne eigenes Verschulden in die Sache hineingezogen wurde. Er war als Vertreter der Firma Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 194 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 anscheinend zufällig ins Visier der Verbrecher geraten. Natürlich hatte er Fehler gemacht, indem er nicht schon viel früher, bei den ersten Kontakten der Russen, seine Vorgesetzen informiert hatte. Allerdings hatte er auch kaum konkrete Anhaltspunkte, was überhaupt los war, bevor sich alles richtig übel zugespitzt hatte. Weiterhin hatte er sich verbotenerweise Zugriff auf den Code der Verschlüsselungssoftware verschafft und diesen aus der Firma entfernt und er hatte einen Versuchsträger quasi geklaut. Der Bentley hatte bei der ganzen Aktion allerdings auch keinen Schaden genommen. Es ließ sich jedoch nicht vermeiden, dass er in den Polizeiprotokollen auftauchte, da aus der Messtechnikkamera ja sehr wertvolle Beweise stammten. Das ganze Drama an der Tankstelle war auf der Festplatte festgehalten und lieferte neben einem genauen Tathergang auch gute Fotos für die Fahndung nach den flüchtigen Russen und nach Julia. Am Ende der Untersuchung überließ man es Freds Vorgesetzten, über etwaige Disziplinarmaßnahmen zu entscheiden, und sie entschieden sich dagegen. Fred behielt also seinen Job, und der war weiterhin oft anstrengend und hektisch, aber immer wieder auch spannend und begeisternd. Nach dem Frühstück packen sie etwas Proviant in ihre Rucksäcke und machen sich auf den Weg zu Franz nach Ludwigsburg. Nachdem sie an der Tür geklingelt haben, müssen sie erstmal drei Minuten warten. Sandra möchte fast schon ohne Franz abfahren, als sich schließlich die Tür doch noch öffnet. Franz sieht etwas derangiert aus; so, als ob er gerade aus dem Bett gefallen wäre. Gefallen ist er nicht, aber er hat tatsächlich verschlafen und ist erst durch das Läuten an der Tür geweckt worden. Er beginnt, sich schnell fertig zu machen. Während er Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 195 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 im Bad hantiert, stehen Fred und Sandra im Flur und unterhalten sich durch die geschlossene Tür mit ihm. Anscheinend hat die Polizei immer noch nichts weiter herausgefunden, auch die Ermittlungen, die die IAA selbst angestellt hat, scheinen bisher keine Ergebnisse gebracht zu haben. Jedenfalls hat Fred schon lange nichts mehr über den Fall gehört. Auch sonst gibt es nicht viel Neues zu erzählen. Franz hat lange gebraucht, um die Geschichte einigermaßen zu verdauen, oder um sie wenigstens so weit zu verdrängen, dass er wieder zu einem normalen Tagesablauf fähig war. Neben Herrn Hafeles Tod hat ihn der Verlust von Julia am meisten mitgenommen. Er hat lange gebraucht, um zu begreifen, dass wohl alles kein Missverständnis war, dass sie nicht versehentlich in den Porsche gestiegen ist, und dass sie ziemlich sicher auch nicht jeden Moment vor seiner Tür stehen würde. Genau das hatte er sich lange eingeredet, nur um immer wieder enttäuscht zu werden. Erst seit ein paar Wochen hat er das Gefühl, wenigstens mit seinem verstandesmäßigen Ich über den Berg zu sein. Damit war er immerhin wieder in der Lage, halbwegs seinem Beruf nachzugehen. Er hatte ab und zu ein paar interessante Fahrzeuge vor dem Entwicklungszentrum eines Autozulieferers vor die Linse bekommen und damit ein paar Euro verdient. Und jetzt war er gerade dabei, die nächste größere Erlkönigjagd zu planen. Das ist schon ein beachtlicher Fortschritt verglichen mit der selbstbezogenen Trübsal der vergangenen Wochen. Und alles nur wegen dieser Frau. Er dachte halt, er hätte endlich eine gefunden, die ihn und sein Leben akzeptieren und verstehen kann. Nachdem sich Franz endlich halbwegs restauriert hat, braucht er dringend noch einen Kaffee. Er ist der Meinung, dass er ohne einen Koffeinschub gleich wieder bewusstlos in sich zusammensacken würde. Also noch schnell die Moka auf den Herd gestellt, so kommt auch Fred Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 196 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 noch zu einem kleinen Espresso. Dann geht es endlich los. Sie verlassen das Haus. Draußen steht wieder ein Bentley. Der gleiche Typ, mit dem Fred damals zur Tankstelle gerast war. Aber inzwischen ist das Projekt weiter fortgeschritten und die zusammengebastelten Prototypen wurden durch Vorserienfahrzeuge ersetzt, die nahezu die Qualität der späteren Serienautos haben. Das Auto ist sehr schick zweifarbig lackiert und unzählige Chromapplikationen glänzen in der Sonne. Tarnung ist jetzt keine mehr angebracht, denn inzwischen hat der Hersteller das neue Modell schon der Öffentlichkeit präsentiert. Damit kann auch Franz das Auto ganz entspannt genießen, denn Bilder kann jeder von der Homepage der Firma downloaden. Sandra lässt sich in die weichen Lederpolster im Fond fallen. Franz nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Der Duft nach edlem Leder und feinem Holz hüllt sie alle ein. Nachdem auch Fred die Tür geschlossen hat, dringt der Lärm der Straße nur noch sehr gedämpft zu ihnen durch. Als der Wagen langsam, aber dann doch mit Nachdruck anrollt, ist kaum ein Geräusch zu hören. Mit dem Hybridantrieb kann auch der schwere Bentley die ersten Kilometer nur elektrisch fahren. Nach zwanzig Minuten Fahrt parkt Fred das Auto vor einer großen Villa im Stuttgarter Herdweg. Von hier aus gehen sie noch ein paar Meter, dann stehen sie vor der Wohnungstür der Hafeles. Frau Hafele hat sie zum Mittagessen eingeladen. Sie öffnet die Tür und bittet alle in die Wohnung. Sandra, Fred und Franz waren schon öfter hier. Zuerst hatten sie das Gefühl, sie müssten sich um Frau Hafele kümmern. Aber mit der Zeit haben sie erkannt, dass es fast umgekehrt war. Natürlich war sie in großer Trauer über den Tod ihres Mannes gewesen, Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 197 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 mit dem sie noch viele Pläne verwirklichen wollte. Aber sie war auch eine starke Persönlichkeit, die mit ihrem bisherigen Leben im Reinen war, und sie hatte einige gute Freunde, die ihr bewusst gemacht haben, dass sicher auch ihr Mann ein erfülltes Leben hatte. Er hatte einen Beruf, der ihn ausgefüllt hatte, aber er hatte auch im Privaten nichts auf später verschoben. Er hatte seine Kinder aufwachsen sehen und hatte nicht das Gefühl, er müsse hier mit den Enkelkindern etwas nachholen, das er bei den eigenen verpasst hatte. Er hatte geschäftlich und mit seiner Frau viele Reisen unternommen und die Welt gesehen. Somit hatte er nicht das Gefühl, erst in der Rente rauszukommen und die Welt entdecken zu müssen. Und er hatte viele kleine Pläne und Vorhaben in seiner Freizeit umsetzen können, weil er sich immer wieder auch Freizeit genommen hatte. Das alles wusste Frau Hafele, aber ihre engen Freunde hatten ihr dieses unbewusste Wissen deutlich gemacht. So konnte sie bald ihren Frieden mit dem Schicksal ihres Mannes machen und den Blick nach vorne richten. Fred und Franz ging es da ganz anders. Sie machten sich lange Vorwürfe, dass sie Herrn Hafele überhaupt in die Sache hineingezogen hatten. Sie stellten sich immer wieder dieselben Fragen: Warum hatten sie nicht die Polizei oder wenigstens die Sicherheitsabteilung der IAA eingeschaltet? Wäre dann nicht alles anders ausgegangen? Hätte damit diese schreckliche Eskalation verhindert werden können? Die Tatsache, dass Julia den Kontakt zu Herrn Hafele hergestellt hatte, spielte dabei keine wesentliche Rolle. Diese Fragen ließen sie über Monate nicht richtig zur Ruhe kommen, unabhängig voneinander. Sie brachten es auch nicht fertig, miteinander zu reden, und Fred brachte es nicht fertig, mit Sandra darüber zu sprechen. Denn auch sie hatte mit den Bildern zu kämpfen, die seit der Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 198 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Entführung ihre Träume eher unerfreulich machten. Frau Hafele war es, die bei den ersten Treffen die Sprache auf die Geschehnisse brachte und die ihnen klar machte, dass sie ihnen keine Vorwürfe machte. Sie gab ihnen allen etwas von ihrer so schnell zurückgewonnen Zuversicht und Zukunftsorientierung ab. Die Begrüßung ist also sehr herzlich, man ist sich eng verbunden. Der Tisch ist schön gedeckt. Dass Frau Hafele eine tolle Köchin ist, wissen die anderen schon länger. Die Gespräche drehen sich um Zukunftspläne. Sie möchte eine Schiffsreise in Südamerika machen. Franz bereitet seine nächste Erlkönigjagd in Schweden vor, die Saison beginnt ja bald wieder, und Sandra und Fred eröffnen ihre Hochzeitspläne. Nach einem sehr guten Essen und einem weiteren Espresso bricht die kleine Gesellschaft dann zu einem kleinen Ausflug in die Weinberge rund um die Hessigheimer Felsengärten auf. *** Julia war freiwillig in den Cayenne der Entführer und frisch gebackenen Mörder gestiegen. Als sie Richtung Autobahn davonpreschten, wussten sie nicht, wie es um Herrn Hafele stand. Aber, dass es nicht gut um ihn stand, das konnten sie sich denken. Sie fuhren auf der Autobahn 81 Richtung Norden. Aber nur bis zur nächsten Ausfahrt. Direkt an der Ausfahrt gibt es einen Park and Ride Parkplatz. Dort war ein weiteres Fahrzeug deponiert. Ein silberner Audi A4, äußerlich unscheinbar und unauffällig, aber schnell. Sie wussten ja, dass der Porsche sehr auffällig war, aber sie wussten auch, dass bis zur Übergabe keine Polizei eingeschaltet worden war. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 199 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Deshalb gab es bisher keine Notwendigkeit, das Zweitauto zu benutzen. Allein für diese Information hatte es sich gelohnt, dass Julia in der Gruppe um Fred so lange mitgespielt hatte. Nachdem die ganze Geschichte durch die Entführung aus dem Ruder gelaufen war, hatte sie versucht, die zufällige Verbindung zu Franz zu nutzen. Und es lief ja auch ganz gut. Sie hatte ihn nach München gebeten und ihm eine Geschichte von ihrer unfreiwilligen Verstrickung mit den Russen aufgetischt. Das Risiko, dass Julia enttarnt würde, war praktisch null, und sie konnte genau mitbekommen, was bei Fred und Franz los war. Gut, sie hatte einen großen Fehler gemacht, indem sie Herrn Hafele ins Spiel gebracht hatte. Ihre Einschätzung, dass der eher keine Polizei einschalten würde, war richtig. Aber dass er ihnen doch so weit auf die Pelle rücken würde, das hatte sie nicht erwartet. Sie hatte seinen Ehrgeiz, sich noch einmal zu beweisen, weit unterschätzt. Diesen Ehrgeiz hatte sie sofort nach der ersten Kontaktaufnahme verspürt, aber da war es schon zu spät. Und jetzt war er tot. Warum konnte er auch nicht einfach weiter durch die Weinberge wandern? Franz tat ihr in dem Moment, als sie den Vorschlag machte, Herrn Hafele zu Rate zu ziehen, fast leid. Er machte sich anscheinend irgendwelche Vorwürfe – vielleicht. Jedenfalls waren alle ziemlich ratlos. Sie hatte das Gefühl, auch einen sichtbaren Beitrag leisten zu müssen, um sich nicht durch völlige Taten- und Ideenlosigkeit verdächtig zu machen. Da kam sie auf den Gedanken mit Herrn Hafele. Nach diesem Fehler hielt sie sich zurück und sie war sich durchaus bewusst, dass sie so nicht mehr sehr lange hätte weitermachen können. Ihr schauspielerisches Talent hatte doch eher engere Grenzen. Ansonsten war die Zeit mit Franz ja auch nicht so fürchterlich. Sie Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 200 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 verstanden sich eigentlich ganz gut. Er war anfangs sehr deutlich aus der Übung, aber mit der Zeit machte ihr sogar der Sex mit ihm Spaß. Nur seine Naivität ging ihr wirklich auf die Nerven, andererseits half sie ihr auch. Er nahm ihr wirklich alles ab und hinterfragte nichts. Er wollte dauernd reden, über seinen Job und darüber, dass ihm der ja bisher immer bei all seinen Beziehungen am Ende einen Strich durch die Liebe gemacht hatte – eigentlich süß. Aber eben nicht ihre Welt. Aber gut, so wie sich alles entwickelt hatte, war es eben ihr Part geworden, die Erpressung von der anderen Seite zu beobachten und Informationen zu liefern, und genau das tat sie. Hätte sie nicht gerade rechtzeitig Alexej informiert, dass Fred den Code tatsächlich besorgt hatte und dass es ziemlich sicher auch der richtige Code war – dieser Fred war noch um Klassen naiver als Franz –, dann hätte Juri die Kleine wahrscheinlich abgeknallt vor lauter Panik. Bei diesem Gedanken hatte sie sich wie eine Retterin gefühlt, ohne Einsicht, dass es ohne sie und ihre Kollegen überhaupt keinen Anlass zu irgendeiner Rettung gegeben hätte. Nun saßen sie also in diesem Audi – Julia am Steuer. Sie hatte ja inzwischen erfahren, wie leicht es war, ein Fahrzeug auf der Autobahn zu orten. Aber mit einem anderen Typ und einem neuen Kennzeichen waren sie das Problem erstmal los. Bevor sie abfuhren, war Juri noch fest verschnürt worden. Sie hatten ihn an Händen und Füßen mit Kabelbindern gefesselt und ihn mit Klebeband geknebelt; alles Utensilien, die sie eh in ihrem Auto hatten. Juri war etwas verdutzt, als Alexej ihm die Arme auf den Rücken drehte. Dabei hätte er sich eigentlich denken können, dass es für die beiden anderen jetzt keinen Grund mehr gab, ihn mitzuschleppen. Bevor er begriffen hatte, Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 201 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 was geschah, war er bewegungsunfähig auf der Rücksitzbank des Porsche gelandet. Dann hatte Julia noch den Zeitzünder an dem Benzinkanister im Kofferraum des Cayenne auf 30 Sekunden eingestellt. Als sie wieder auf die Autobahn auffuhren, sahen sie bereits dunklen Rauch aufsteigen. Das Auto war in kurzer Zeit zu einem verkohlten Wrack geworden. Julia fuhr zügig, aber doch darauf bedacht, nicht aufzufallen. Die Strecke Richtung Nürnberg war gut befahren, wie fast immer, so dass sie es nicht richtig laufen lassen konnte. Aber sie kamen gut voran und Juri war schon bald vergessen. Am späten Nachmittag waren sie in Prag. Von hier aus führte sie ihre Flucht nach Wroclaw, das früher einmal Breslau hieß. Wobei sie die ganze Zeit nicht wirklich das Gefühl hatte, auf der Flucht zu sein. Sie fuhren einfach im Auto dahin und unterhielten sich über die Ereignisse der vergangenen Tage. Wenn man das Ende aussparte und erfolgreich verdrängte, hatten diese Ereignisse auch nichts Dedrohliches an sich. Die Angst und der Schrecken entstanden ja nur durch die Perspektive des Opfers, das nicht wusste, wie es weitergeht, was der Plan war, und das auch keine Kontrolle hatte. Sie hatten die Kontrolle – oder glaubten sie zu haben – und so war die ganze Aktion für sie eher ein Abenteuer –, wenn man das Ende verdrängte. Am nächsten Tag kamen sie in Kiew an. Hier fühlten sie sich sicher. In ihrer Wohnung angekommen stellte sich Julia erstmal unter die Dusche und dann ging sie mit Alexej ins Bett. Er hatte wesentlich mehr Übung als Franz und so fiel ihr das Verdrängen noch leichter, obwohl sie damit keine wirklichen Probleme hatte. Dann aßen sie gemeinsam. Alexej hatte gekocht. Dann gingen sie wieder ins Bett. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 202 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Julia hatte Alexej schon vor drei Jahren kennengelernt. Es spielte sich in etwa so ab, wie sie Franz die Begegnung mit den Russen geschildert hatte, nur eben viel früher. Es begann mit unangemeldetem, Angst einflößenden Besuch, und auch der Teil mit der Tahiti-Bar in Schwabing war nicht erfunden. Dort traf sie Alexej, der schon nach kurzer Zeit vom fiesen Gangster-Modus in den galanten Gentleman-Modus wechselte. So war es dann gekommen, dass sich Julia auf und an Alexejs Seite schlug. Vor ein paar Wochen in Schweden, als sie Franz nach langer Zeit wiedertraf, hatte es kurz zuvor einen heftigen Streit mit Alexej gegeben. Aber das war im Nachhinein nichts Ernstes. Am nächsten Morgen fühlte sich Julia richtig erholt und als sie sich an den Rechner setzte und Freds DVD einlegte, war sie völlig mit sich im Reinen. Sie hatte es geschafft, ohne große Anstrengung, alle Ereignisse der letzten Tage und Wochen in eine andere Welt zu verschieben, mit der sie nichts zu tun hatte. Es waren sehr viele Verzeichnisse auf dem Datenträger, die verschiedene Dateien enthielten. Julia öffnete eine davon mit einem Texteditor. Was sie sah, sagte ihr praktisch nichts. Sie konnte ein paar Befehle irgendeiner Programmiersprache entziffern. Ansonsten war das in ihren Augen nur ein großes Durcheinander. Julia hatte von all diesen Dingen keine Ahnung, aber es sah gut aus. Sie waren nur Lieferanten. Das eigentliche Geschäft machten andere, die das nötige Wissen hatten, die Daten zu nutzen. Alexej sah ihr über die Schulter und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. Sie nahm die DVD aus dem Laufwerk und gab sie Alexej. Den Augenblick nutzte sie, um ihn erneut zu küssen, sehr intensiv, als ob es ein Abschiedskuss sein sollte. Alexej zog den Mantel Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 203 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 an und verschwand. Doch schon ein paar Stunden später, die Julia vor dem Fernseher verbrachte, hörte sie den Schlüssel in der Tür. Alexej kam genauso wortlos, wie er gegangen war, wieder herein, zog seinen Mantel aus und hängte ihn auf. Dann erst fing er an über das ganze Gesicht zu grinsen, holte aus der Manteltasche ein kleines Paket und legte es vor Julia auf den niedrigen Couchtisch. Sie riss das Papier ab und zählte nach. Es waren zweihunderttausend Euro. Mit dieser Summe ließ es sich in der Ukraine eine ganze Weile ganz gut leben, auch wenn man den Verlust des natürlich gestohlenen Cayenne in die Rechnung einbezog. Sie hatten Grund zum Feiern. Es war aus ihrer Sicht also alles gut gegangen, so wie sie sich das vorgestellt hatten. Die nächsten zwei Tage lebten sie einfach in die Tage hinein. Sie genossen das Leben. Am dritten Tag wachte Julia vom Klappern in der Küche auf. Alexej war anscheinend dabei, das Frühstück zu machen. Es roch nach Kaffee, Toast und gebratenem Speck. Julia krabbelte noch etwas derangiert von der letzten Nacht aus dem Bett und wollte gerade in die Küche, als es an der Tür klingelte. Sie zog sich einen leichten Morgenmantel an und öffnete. Draußen stand ein freundlich aussehender älterer Herr mit zwei eher halbseidenen Begleitern. Der Herr fragte höflich nach Alexej und betrat gleichzeitig die Wohnung. Er fragte nicht wirklich, ob er eintreten dürfe. Ebenso ging er ohne weitere Worte mit seinen Helfern in die Küche, in der Alexej immer noch an seinem Frühstückswerk baute. Abrupt hörte das Geschirrgeklapper auf und es wurden ein paar Worte gewechselt. Julia verstand die Sprache noch nicht gut. Ein paar Brocken konnte sie aufschnappen: »falsch« und »verarschen«, das sagte Alexej zu ihr immer im Spaß. Diesmal war es kein Spaß, das konnte sie leicht dem Klang von Alexejs Stimme Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 204 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 entnehmen. Und als die Schüsse fielen, war es ihr endgültig klar. Bevor sie aus der Wohnung fliehen konnte, hatte einer der beiden Gorillas sie am Arm gepackt. Er machte sich gerade daran, ihr die spärlichen Klamotten vom Leib zu reißen, als ihm ein Wort des Gentleman-Mörders Einhalt gebot: »Später.« Dann wurde sie aus dem Haus, auf die Straße und in einen dort geparkten Schickeria-Traktor gezerrt – kein Porsche, aber auch süddeutscher Provenienz. Die andere Welt war kein sicheres Endlager, das Erlebte brach sich Bahn und machte damit die Situation nicht leichter. Sie haderte mit ihrem Schicksal und in gleichem Maße, wie sie sich selbst leid tat, taten ihr plötzlich auch die Menschen leid, denen sie Schlimmes zugefügt hatte. Sie fuhren aus der Stadt. Im Auto sprach niemand. Diese drei hatten sich nicht die Mühe gemacht, Julia die Augen zu verbinden. Natürlich wusste sie nicht, was sie erwartete, aber hatte keine Zweifel, dass dies kein gutes Zeichen war. Nach ungefähr einer halben Stunde hielt der Geländewagen in einem kleinen Dorf vor einem kleinen, schäbigen Haus. Die Männer führten sie in ein Zimmer, das nur mit einem Bett eingerichtet war. Alles war dreckig, nur das Laken auf dem Bett war nahezu frisch. Die Tür wurde abgeschlossen. Der Fensterladen vor dem einzigen Fenster war von außen verschlossen. Sie war gefangen. Nach einer Weile ging die Tür auf und einer der Männer kam herein. Er schloss die Tür und tat, was er vorher hatte auf später verschieben müssen. Die Männer wechselten sich ab. Immer wieder kam einer, dann kam ein anderer. Manchmal gab es etwas längere Pausen. Sie bekam nichts zu essen oder zu trinken. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 205 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Für Julia war das alles egal. Sie war bald nur noch damit beschäftigt, über ihr Leben nachzudenken und über die Menschen, die ihr begegnet waren. Sie entschuldigte sich bei allen persönlich, denen sie Leid zugefügt hatte. Und als sie nach zwei Tagen fertig war, starb sie; dankbar, dass ihre Peiniger sie nicht einfach abgeknallt hatten. Die DVD enthielt den relativ wertlosen Code irgendeines C++Programms. Herr Hafele hatte die Zeit, in der er sich allein auf den Weg gemacht hatte, genutzt, um eine unverfängliche DVD zu besorgen. Er hatte seinen Sohn angerufen und ihn gebeten, den Code irgendeiner Software auf eine CD oder DVD zu brennen. Der hatte natürlich gefragt, um was es denn gehe. Aber sein Vater hatte ihm bedeutet, dass für lange Erklärungen keine Zeit sei. Er wolle die Disk in 15 Minuten abholen. Also fuhr Herbert Hafele bei seinem Sohn vorbei, holte den Datenträger und fuhr erst dann Richtung Autobahn. In den letzten Sekunden vor dem tödlichen Schuss schaffte es Hafele, die richtige DVD in seine Jacke zu stecken. Die wertlose Kopie hatte er schon in der Hand, als er zur Zapfsäule lief, und diese wertlose Kopie schnappte sich Alexej, nachdem er geschossen hatte. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 206 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 Dank Ich bin sehr froh über Irinas vielfältige Unterstützung bei diesem Projekt. Außerdem danke ich Wiltrud, Frank und Ulf für die wertvollen Hinweise zu den ersten Versionen dieses Manuskripts. Viele Fans und Supporter haben dankenswerterweise meine Crowdfunding-Kampagne zur Veröffentlichung dieses Buches unterstützt. Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu 207 Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012 www.wintertest.eu Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook? www.wintertest.eu