Wintertest gratis Wintertest von Markus Weinberger

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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
Wintertest
von
Markus Weinberger
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Fred wollte nie der weltbeste Autofahrer sein. Er hat sich eigentlich nie
Gedanken darüber gemacht, ob er der weltbeste Autofahrer sein wollte.
Tatsächlich ist er auch nicht der allerbeste Fahrer, aber es geht.
Fred sitzt in einer großen Limousine und schaut über deren lange
Motorhaube in die Landschaft. Alles ist verschneit, tief verschneit. In der
Ferne beginnt ein Wald, der aber nicht so dicht ist, wie der in Freds
Heimat im Süden Deutschlands. Es gibt hier nur Nadelbäume, die aber
dafür so aussehen wie die Plastikbäumchen in den kitschigen
Schneekugeln, die die japanischen Touristen gerne als Souvenir nach
Hause bringen. In Freds Schneekugellandschaft schneit es aber nicht –
die Sonne scheint und der Schnee auf den sanften, bewaldeten Hügeln in
der Ferne glitzert. Die große Ebene bis zum Waldrand wirkt mit all dem
konturlosen, funkelnden Weiß geradezu unweltlich abgehoben.
Fred ist froh, dass er seine Sonnenbrille dabei hat auf diesem
zugefrorenen See. Er startet den Achtzylinder, legt die Fahrstufe der
Automatik ein und tritt das Gas fast ganz durch. Sofort beginnt die
Traktionskontrolle zu regeln. Im Kombiinstrument blinkt eine gelbe
Kontrollleuchte. An der Hinterachse kommt bei Weitem nicht die Leistung
an, wie dies auf Asphalt der Fall gewesen wäre. Dennoch schiebt der
schwere Wagen kraftvoll an und schießt über die Eisfläche. Trotz
beherztem Drehen am Lenkrad bei ungefähr 60 Kilometer pro Stunde
bleibt das Auto relativ gut kontrollierbar. Genau das wollte Fred sehen.
Langsam rollt er zurück zum Ausgangspunkt und schaltet dort das
elektronische Stabilitätsprogramm aus. Jetzt muss er vorsichtiger
beschleunigen, um ein haltloses Durchdrehen der Räder zu verhindern.
Dennoch erreicht er schnell 50 Stundenkilometer, dreht kurz am Lenkrad
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und schon ist jegliche Kontrolle dahin. Die Limousine kreiselt über die
Schleuderfläche;
an
ein
Abfangen
bräuchte
auch
ein
Michael
Schumacher jetzt keinen Gedanken mehr zu verschwenden.
Als sowohl das Auto als auch Freds Kopf das Kreiseln beendet haben,
beschließt er den restlichen Sonntagnachmittag noch etwas zu spielen.
Er steuert jetzt die kreisrunde Schleuderplatte an, um etwas zu driften. Da
das ESP immer noch abgeschaltet ist, bricht das Fahrzeug sofort aus, als
Fred auf die Kreisbahn einbiegt und etwas mehr Gas gibt. Doch diesmal
ist die Provokation der Physik so wohldosiert, dass es Fred gelingt
gegenzusteuern – obwohl er nicht der weltbeste Autofahrer ist, wie wir
wissen.
Jetzt
folgt
ein
Ritt
auf
einer
sehr
kleinen,
instabilen
Kanonenkugel. Dosiert Gas geben, gegenlenken und so das Auto im Drift
um den Kreis jagen. Das ist Freds Ziel. Fast wie beim Computerspiel, nur
besser. Wenn er einen Fehler macht, fliegt er von der Strecke und
bekommt ein neues Spielleben. Neben der Strecke liegt der Schnee
deutlich höher, aber für Fred besteht keine Gefahr. Wenn es blöd läuft,
bekommt das Auto ein paar Kratzer an Front- oder Heckschürze oder es
bleibt im tieferen Schnee stecken. Für den letzteren Fall hat Fred aber
eine Schaufel im Kofferraum. Wenn es ganz schlimm ist, muss er per
Handy Hilfe holen. Dann kommen die Jungs von der Werkstatt und
ziehen ihn mit ihrem Mercedes G-Modell wieder raus. Das kostet ihn
dann üblicherweise einen Kasten Bier und etwas Häme von mitfühlenden
Kollegen.
Heute braucht Fred keine Schaufel und auch kein Handy zum
Autofahren. Er dreht locker ein paar Runden um den Kreis. Anfangs ist er
etwas zu zögerlich. Der Drift bricht immer wieder ab. Aber Fred hat eben
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keine Lust zu schaufeln. Mit der Zeit tastet er sich näher an die Grenze
heran und schafft am Schluss zwei volle Runden ohne Unterbrechung.
Als er die Schleuderplatte verlässt, wird es schon langsam dunkel. Hier in
Nordschweden wird es im Februar eben früher dunkel. Er fährt zurück
über die rechteckige Schleuderfläche, biegt an deren Ende rechts ab und
folgt der Zufahrt zur Teststrecke in umgekehrter Richtung. Links und
rechts liegt der Schnee ungefähr einen halben Meter hoch, aber die
Fahrbahn ist freigeräumt.
Die Icemaker haben gute Arbeit geleistet. Mehrere Firmen sind in der
Gegend darauf spezialisiert, auf den zugefrorenen Seen Teststrecken
genau nach Spezifikation zu präparieren. Fahrbahnverläufe, die Form der
Schleuderplatten, Handlingskurse, die jeweiligen Reibwerte auf dem Eis,
bis zur Beschilderung, alles wird gemäß Vorgabe umgesetzt. Außerdem
kontrollieren die Icemaker jeden Tag die Tragfähigkeit des Eises und
geben dann den See frei.
Als Fred plötzlich leicht bergauf fährt und auch wieder kleine Büsche
neben der Fahrbahn stehen, ist klar: Er hat das Ufer erreicht.
Fred befindet sich jetzt auf dem Gelände der International Automotive
AG, für die er arbeitet. Er stellt den Wagen neben dem Hauptgebäude ab,
betritt eine Werkstatthalle und geht von dort in sein Büro, um am Laptop
noch schnell E-Mails zu checken. Ist aber nichts Tolles dabei.
Als Fred wieder im Auto sitzt, ist es schon dunkel. Er rollt langsam auf die
Pforte zu. Der Wachmann kommt ans Auto, um den Ausweis zu
kontrollieren.
Auf
dem
gesamten
Testgelände
der
International
Automotive AG sind die Sicherheitsvorkehrungen relativ streng. Hier
werden die elektronischen Systeme für neue Automodelle erprobt, die die
Firma an die Autohersteller verkauft. Es wird oft an Prototypen gearbeitet,
für die strenge Geheimhaltungsvorschriften gelten.
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Nach dem Tor fährt Fred zwei Kilometer über eine kleine Straße, die
durch den lockeren Wald führt, der sich überall über das Ufer des Sees
erstreckt. Dann biegt er nach links auf die Landstraße Richtung Arjeplog
ein. Bald hat er die Ortschaft erreicht. Fred denkt über die Einkaufsliste
nach. Er will mit seinen Kollegen als kulinarisches Highlight des Sonntags
schwäbische
Kässpätzle
machen.
Dafür
haben
sie
extra
einen
Spätzlehobel quer durch Europa gekarrt.
Fred biegt zum Supermarkt ab. Vor dem flachen Gebäude gibt es einen
kleinen Parkplatz, auf dem nur wenige Autos stehen. Am Sonntagabend
kann man in Arjeplog zwar einkaufen, aber ansonsten ist nicht viel los. An
sich ist in dem 3000 Einwohnerort eigentlich nie wirklich viel los. Umso
größer ist der Zufall, dass mit Fred noch ein weiterer Wagen auf den
Parkplatz fährt, doch das bemerkt Fred nicht. Er geht in den Laden und
sucht die Zutaten für das Abendessen, was leichter wäre, wenn Fred
wenigstens
etwas
Schwedisch
könnte.
Eier
lassen
sich
leicht
identifizieren. Die Unterscheidung zwischen Mehl- und Zuckerpackungen
ist schon schwieriger. Salz haben sie noch in ihrer Küche. Milch für das
Frühstücksmüsli lässt sich auch finden. Die Bestandteile eines Salates
lassen sich auch auftreiben. Alles in allem ist die Aufgabe auch ohne
Schwedisch lösbar. Dennoch ist es eine Schande, dass Fred nicht mehr
als Bitte und Danke sagen kann. Schließlich verbringt er jedes Jahr
mehrere Wochen hier. Er sagt also »takk« zur Kassiererin und verlässt
das Geschäft. Er bemerkt etwas Auffälliges auf dem Parkplatz.
***
Franz spricht recht gut Schwedisch. Er ist darauf angewiesen, sich mit
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den Leuten unterhalten zu können. Ohne die Informationen, die man an
der Tankstelle, einer Hotelbar oder auch im Supermarkt nebenbei
aufschnappen kann, wäre sein Job deutlich schwerer zu machen. Franz
ist Anfang 50, etwas untersetzt, aber er fühlt sich fit wie ein Turnschuh,
und er hat Adleraugen, die er noch dringender braucht als seine
Sprachkenntnisse. Er hat einen sehr visuellen Job.
An diesem Sonntagnachmittag wollte er ursprünglich ein wenig
schwimmen und den Tag dann vor dem Fernseher in seinem
Hotelzimmer ausklingen lassen. Doch im Hallenbad haben sich diese
beiden Typen unterhalten – auf Deutsch. Ganz automatisch hat er
mitgehört. Er kann diesen Reflex schon lange nicht mehr unterdrücken.
Er muss einfach zuhören, wenn sich irgendwo Leute unterhalten. Und
diesmal hat es sich gelohnt. Das wusste er, als er »S10« hörte. Die
beiden Kerle hingen am Beckenrand und sprachen darüber, dass ein
gewisser Fred mit dem S10 auf den See gefahren sei, um dort etwas zu
spielen. In dem Moment wusste er, dass er keinen ruhigen Abend vor
dem Fernseher verbringen würde.
Der S10 ist ein neuer Hispano-Suiza. Ein deutscher Automobilkonzern
hat die Rechte an dieser traditionsreichen, katalanisch-französischen
Luxusautomarke gekauft und plant, sie wieder zu beleben. In der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Hispano-Suiza-Modelle teilweise
teurer als Rolls Royce verkauft. Der interne Entwicklungscode des ersten
Modells der neuen Generation lautet eben S10. Diese Informationen sind
alle weitgehend bekannt, keine Geheimnisse und auch Prototypen des
S10 sind schon gesehen und fotografiert worden – allerdings immer aus
der Ferne und nur von außen. Das Interieur hat noch keiner vor das
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Objektiv bekommen.
An dieser Stelle kommt Franz ins Spiel. Er möchte der Erste sein, der
solche Bilder macht. Damit könnte er seine laufenden Kosten für ein paar
Monate bestreiten. Das ist sein Geschäft. Er verkauft Bilder von
geheimen
Autoprototypen,
sogenannten
Erlkönigen,
an
Zeitschriftenverlage oder Agenturen.
Der S10 ist ja nun nicht mehr in der höchsten Geheimhaltungsstufe.
Wenn das noch der Fall wäre, würde das Auto kaum auf öffentlichen
Straßen zu sehen sein, auch nicht in Nordschweden oder erst recht nicht
dort. Die wenigen Autos, die die gesicherten Werksgelände verließen,
wären noch sehr stark getarnt. Die Karosserie wäre durch zusätzliche
Anbauteile so stark verändert, dass man kaum eine Linie des neuen
Autos richtig erkennen könnte. Auch die Form der Scheinwerfer, die
Fensterflächen, alles wäre getarnt. Nur die wichtigsten Abmessungen,
wie Länge und Breite der Karosserie, Radstand oder Spurbreite wären
erkennbar. Die Anbauteile zur Tarnung wären bei dem Mutterkonzern,
der die Entwicklung des S10 betreibt, aus Kunststoff und sie wären sehr
sauber auf die eigentliche Karosserie aufgeklebt, an manchen Stellen
würden
vielleicht
Nieten
zur
Fixierung
eingesetzt.
Was
die
Entwicklungsmethodik angeht, wird der S10 behandelt wie die übrigen
Fahrzeugprojekte des Konzerns auch. Andere Fahrzeughersteller sind da
nicht so sorgfältig, da kommen dann gerne Styropor-Klötze und jede
Menge Klebeband zum Einsatz.
Wie gesagt: wäre. Der S10 ist äußerlich nur noch leicht getarnt. Ein paar
Blenden verschleiern noch die endgültige Form der Scheinwerfer,
Seitenscheiben und Rückleuchten und der mattschwarze Lack ist auch
noch von der bisherigen Camouflage geblieben. Er soll das Auto auf den
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Bildern von Leuten wie Franz als konturlosen Klumpen erscheinen
lassen.
Weit weniger als über das Äußere der neuen Luxuslimousine ist, wie
gesagt, über deren Inneres bekannt. An den Armaturenbrettern aller
Erprobungsfahrzeuge
sind
immer
noch
große
Kunstlederlappen
angebracht, die neugierige Blicke auf das Kombiinstrument, die
Mittelkonsole und das Infotainmentsystem, also Navi- und Musikanlage,
verhindern. Alle Fahrer der Prototypen sind angewiesen, diese Lappen
nur beim Fahren hochzuschlagen. Bisher hat das geklappt. Es gibt noch
keine Bilder des Innenraumes auf dem Markt.
Die Chance, jetzt so ein Foto zu schießen, will sich Franz nicht entgehen
lassen. Dafür opfert er gerne einen Abend vor dem Fernseher. Sein
Problem ist nur, dass er immer noch nicht weiß, wo das Auto sein soll. Ja,
»auf dem See« hat er gehört. Aber d e n See gibt es in Arjeplog nicht.
Der ganze Ort ist von unzähligen großen und kleinen Seen umgeben. In
den 70er Jahren haben einige Entwickler herausgefunden, dass diese
Seen in gefrorenem Zustand ideale Teststrecken für alle möglichen
Fahrversuche abgeben. Seit dieser Zeit hat sich der Ort zu einem der
Zentren des europäischen Autotestzirkuses entwickelt. Alle großen
Autohersteller
unterhalten
mehr
oder
weniger
ausgedehnte
Testeinrichtungen an Land und eben auch auf den Seen. Zusätzlich sind
auch viele Zulieferer vor Ort, die hier ebenfalls testen. Der ganze Trubel
findet nur im Winter statt. Im Sommer gibt es ein paar Urlaubsgäste.
So, damit hat Franz jetzt ungefähr zehn Seen, die er absuchen könnte.
Es sind nicht wirklich so viele unterschiedliche Seen, auf denen Autos
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getestet werden. Vielmehr werden abgelegene Buchten des gleichen
Gewässers von verschiedenen Firmen genutzt. Dennoch immer darauf
bedacht, möglichst uneinsehbare Areale zu haben. Absuchen wäre also
auch nicht so richtig einfach.
Aber es gibt noch eine Chance. Franz muss nur unauffällig den beiden
jungen Männern im Hallenbad hinterherschwimmen. Wie gut, dass er sich
fit fühlt wie ein Turnschuh. In einem 25-Meter-Becken ist das Risiko, die
beiden zu verlieren, ja eigentlich nicht so groß, aber die ganze Zeit am
Beckenrand zu sitzen und dann zufällig im gleichen Moment das
Schwimmbad zu verlassen wie seine unfreiwilligen Informanten, das wäre
dann doch zu wenig zufällig. Also dreht er weiter Runden und hofft, dass
die Kollegen bald genug haben. Nach ungefähr 42 Minuten ist es soweit.
Sie verlassen die Schwimmhalle Richtung Umkleide. Franz beeilt sich. Er
lässt die Dusche aus und trocknet sich nur hastig ab. Dafür sitzt er schon
relativ unauffällig in der Eingangshalle, als die zwei an ihm vorbei zum
Ausgang gehen, und schon hat er die gewünschte Info. Manchmal
braucht man eben Glück. Einer der beiden trägt einen dieser blauen
Goretex-Anoraks mit der Aufschrift »International Automotive AG«.
Franz steigt in sein Auto, einen 15 Jahre alten Volvo 740, der in
Schweden ungefähr genauso auffällt wie in Stuttgart ein alter Baby-Benz.
Er fährt zügig, aber ohne Hast los in Richtung des Testgeländes der IAA.
Im Gegensatz zu den meisten Versuchsfahrzeugen, die normale
Winterreifen haben, hat Franz' Auto »Piggdäck« – Spikereifen. Damit
kann dann auch der alte Volvo mit viel stärker motorisierten Autos
mithalten.
Nach wenigen Minuten Fahrt erreicht Franz die Abzweigung der
Nebenstraße, die zum IAA-Gelände führt. Er biegt nicht ab, sondern fährt
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einfach weiter. Er will sich hinter der nächsten Kurve an den Straßenrand
stellen. Es ist schon fast dunkel und damit steht Franz hier genau richtig.
In dem relativ lockeren Wald sind die Scheinwerfer eines anderen
Fahrzeuges gut zu sehen. Er braucht also nur zu warten und kann sich
dann an das Objekt seiner Begierde dranhängen. Inzwischen kann er die
Fotoausrüstung, die immer griffbereit liegt, checken. Er legt sich schon
mal die Kamera mit der kurzen Brennweite zurecht und überprüft die
Akkus des Blitzes. Die Bedingungen für tolle Bilder sind natürlich bei
Nacht nicht so ideal. Dafür hilft die Dunkelheit dabei, überhaupt in die
Nähe eines geheimen Autos zu kommen.
Da kommt auch schon ein Scheinwerferpaar aus der Richtung von IAA
und biegt auf die Straße Richtung Stadt ein. Es ist der S10. Er folgt ihm in
einiger Entfernung. Das ist kein Problem, weil es hier keinen dichten
Verkehr gibt, in dem man ein anderes Auto verlieren könnte. Auf dem
Supermarktparkplatz steigt der Fahrer aus und Franz parkt so, dass er
den Prototyp und den Eingang des Geschäftes gut sehen kann. Nach
kurzer Wartezeit steigt er ebenfalls aus und wagt einen kurzen Blick ins
Innere des neuen Autos. Aber es erwartet ihn keine Überraschung. Der
Armaturenträger ist sauber abgedeckt. Kein Profi wäre so doof, auf einem
öffentlichen Parkplatz die Tarnung zu vernachlässigen. Aber das hatte
Franz auch nicht erwartet. Er wird dranbleiben und seine Chance
bekommen.
***
Als Fred aus dem Supermarkt tritt, sieht er eine Gestalt zu einem Kombi
laufen. Eigentlich nichts Besonderes, aber er hat den Eindruck, dass der
Typ – dass es ein Mann ist, erkennt er an der Statur. Die Alternative,
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dass es sich um eine schwangere Freistilringerin handeln könnte, schließt
er dabei wegen Unwahrscheinlichkeit einfach aus. Also, er hat den
Eindruck, dass der Typ an seinem Auto, dem S10 war. Die Richtung, in
die er lief, hat gepasst und sonst ist da nichts. Auf dem Parkplatz stehen
nur noch zwei andere Fahrzeuge, aber in der anderen Ecke.
Er denkt kurz und eher nebenher an die Vorträge, die sie in der Firma von
ihrer Sicherheitsabteilung über den Schutz der Prototypen gehört haben.
Aber was soll er tun? Hingehen und den Typ fragen, was er an seinem
Auto wollte? Und dann? Und wer legt sich schon gerne mit jemandem an,
der die Statur einer schwangeren Ringerin hat? Fred nicht! Er geht zu
seinem Auto, legt die Tüten mit den Einkäufen auf den Rücksitz und
steigt ein.
Er fährt zu dem Haus, das er mit seinen Kollegen während des
dreiwöchigen Aufenthalts in Arjeplog bewohnt. Es ist ein ganz normales
Wohnhaus, in dem sonst die Familie Andersson wohnt. Während der Zeit,
in der sich Arjeplog in die Zentrale der Autotester verwandelt, ziehen sie
zu Herrn Anderssons Eltern, die ein recht großes Haus im einige
Kilometer entfernten Arvidsjaur haben. Die Großeltern freuen sich immer,
wenn sie die Enkelkinder bei sich haben, und so können die Anderssons
ihr Haus in Arjeplog zu einem sehr guten Preis an die Autotester
vermieten, was das Familieneinkommen erheblich verbessert. Die
Ingenieure sind wiederum froh, weil es in Arjeplog nur ein paar
annehmbare Hotels gibt, die bei Weitem nicht genügend Betten für alle
haben. Die Ferienhäuser oder teilweise eher Hütten, die auch noch als
Unterkünfte angeboten werden, sind A-tens recht klein und B-tens
teilweise im skandinavischen Winter auch ziemlich kühl. Außerdem sind
die Privathäuser oft recht gemütlich. Man wohnt mit zwei oder drei
Kollegen in einem Haus und versorgt sich selber; so kommt fast
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Ferienlagerstimmung auf. Die Eigentümer des Hauses bekommt man
normalerweise nicht zu sehen. Aber man kann mit ihnen kommunizieren.
In fast allen Häusern liegen irgendwo Zettel mit Instruktionen, zum
Beispiel: »Diesen Wasserhahn bitte nie benützen, weil er sonst einfriert.«
Diese Hinweise sind meist schon da, wenn man einzieht. Manchmal gibt
es aber auch neue Anweisungen oder Instruktionen, an denen man dann
erkennen kann, dass die eigentlichen Hausbewohner tagsüber, wenn die
Mieter arbeiten, mal nach dem Rechten gesehen oder vielleicht die
Handtücher ausgetauscht haben oder so. Diese Art von Briefen eignet
sich dann für Antworten. Man kann sich beispielsweise für die neuen
Handtücher bedanken oder darauf hinweisen, dass ein Wasserhahn
anscheinend eingefroren ist. Nicht immer, aber ab und zu entwickelt sich
dann ein netter Briefwechsel – manchmal ist er dann auch nicht so nett,
wenn es schon Instruktionen gab, um das Einfrieren von Wasserhähnen
zu vermeiden.
Wie dem auch sei. Fred biegt in die Einfahrt des Hauses am Granvägen
ein, öffnet das Garagentor und stellt fest, dass dort schon der BMW F01 –
also ein 7er – steht, den das Team als Versuchsfahrzeug auch noch zur
Verfügung hat. Also muss sein Auto vor der Garage stehen bleiben. Das
hat hauptsächlich den Nachteil, dass das Auto am nächsten Morgen
ziemlich sehr kalt und eventuell auch ziemlich sehr zugefroren sein
könnte. Die geheizte Garage – haben hier fast alle Häuser – ist da schon
nicht schlecht.
Drinnen warten Freds Kollegen schon. Er bewohnt das Haus zusammen
mit Uli und Stephan. Uli ist Anfang dreißig und eher der Genießer. Er
weiß immer, wo es ein gutes Restaurant gibt, und wenn nicht, dann setzt
er viel daran, eines zu finden. Trotzdem und obwohl er sich nicht viel aus
Sport macht, ist er nicht dick, nicht einmal mollig. Mit Designerbrille und
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angesagten Klamotten, auf die er auch Wert legt, kommt er recht
dynamisch rüber. »Rüberkommen«, das passt zu ihm.
Stephan ist erst Ende zwanzig und legt auf »rüberkommen« eher weniger
Wert. Er ist der Sportler im Team, macht Triathlon – sehr athletisch.
Damit gibt es natürlich immer mal wieder kleinere Reibereien. Denn bei
zu langem Sitzen wird er einfach zappelig, andererseits gehören zum Job
eben lange Autofahrten und endlose Besprechungen. Und das Fahrrad
kann er auf die Erprobungsfahrten auch nicht mitnehmen. Heute sollte es
aber nicht so schlimm kommen. Stephan war mit Uli am Nachmittag im
Schwimmbad. Er hatte also genügend Auslauf.
Fred liegt in vielen Aspekten zwischen seinen beiden Kollegen. Er ist gut
in Form, aber eher so der Genusssportler. Er würde sich nie zu einer
Trainingseinheit zwingen. Ab und zu läuft er, wenn er nach der Arbeit
noch schnell den Kopf frei bekommen möchte. Er ist immer noch ein ganz
passabler Schwimmer, weil er als Kind im Schwimmverein die richtige
Technik gelernt hat. Richtigen Spaß macht ihm aber das Klettern – davon
wird später noch die Rede sein. Er isst gerne gut, würde aber nicht
meilenweit dafür laufen. Er sieht sich eher als unkompliziert. Mancher
möchte vielleicht sagen, er sei etwas langweilig, ohne Leute wie Fred
würde aber vielen Teams der Kitt fehlen, der die Truppe zusammenhält.
Neben den dreien sind noch Andreas und Karl zum Essen gekommen.
Sie arbeiten in der gleichen Abteilung bei IAA, aber an anderen
Projekten, und sie wohnen hier in Arjeplog ein paar Häuser weiter in der
gleichen Straße.
Uli inspiziert sofort die Einkäufe, die Fred mitgebracht hat. Fred war nur
Erfüllungsgehilfe für das Einkaufen. Die Liste stammte von Uli; er hat das
Kommando für die Zubereitung des Essens. Und davon macht er jetzt
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auch Gebrauch. Er delegiert das Waschen und Schnippeln der
Salatzutaten an Karl und Andreas. Stephan und Fred sollen den
Spätzleteig machen und den Käse reiben.
Gut, er hätte sicher mehr Elan und Engagement freisetzen können, wenn
er die Aufgaben etwas besser an die jeweiligen Vorlieben angepasst
hätte. Karl und Andreas jedenfalls machen sich nicht wirklich viel aus
Salat und zeigen entsprechend wenig Motivation. Sie würden jederzeit
eine Zigarette und eine Tasse Kaffee einer Salatplatte zum Mittagessen
vorziehen. Einzig der Gruppenzwang gebietet ihnen, ihren Job zu
erledigen. Stephan und Fred sind motivierter. Allerdings ist es echt
anstrengend, den Spätzleteig klümpchenfrei zu bekommen. Stephan
sieht diesen Teil der Aufgabe zwar als weitere Trainingseinheit, er kann
aber nicht verhehlen, dass ihm schon drei Kilometer im Schwimmbad in
den Oberarmen stecken.
Also, alle jammern und zetern, aber Uli führt ein hartes Regiment und
bald sitzen sie gemütlich um den Esstisch von Familie Andersson und
lassen sich die schwäbische Spezialität schmecken. Es wird ein lustiger
Abend. Da werden Witze gerissen, die alle schon kennen und über die
sie sich trotzdem kaputtlachen, und es wird natürlich auch über Kollegen
gelästert. Sie sind vielleicht keine richtige Clique, weil sie nicht freiwillig in
dieser Besetzung unterwegs sind. Aber sie sind alle schon seit mehr als
drei Jahren in der gleichen Abteilung. Fred, Uli und Stephan arbeiten seit
fast zwei Jahren an dem S10-Projekt. Kurz, sie waren schon oft
zusammen auf Erprobungsfahrten, mal nur ein paar Tage, mal mehrere
Wochen am Stück, von morgens bis abends zusammen, vom Frühstück
bis zum Bierchen am Abend. Sie kennen sich etwas besser, als sich
Kollegen auf dem Amt normalerweise kennen. So ist die Atmosphäre an
diesem Abend. Als Andreas und Karl aufbrechen, um zu ihrem Haus zu
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gehen, ist es schon kurz vor Mitternacht.
Fred bringt die beiden noch zur Tür und als er sie öffnet, meint er in der
Einfahrt des gegenüberliegenden Hauses eine Gestalt zu sehen, die es
gerade nicht mehr geschafft hat, sich rechtzeitig hinter einen Busch zu
ducken. Er kann sich aber auch getäuscht haben, schließlich ist es
drinnen hell und draußen ist stockfinstere Nacht und ein paar Bier hat er
auch schon getrunken – und selbst wenn.
***
Das ist der Teil, den Franz an seinem Job hasst. Er hat den S10 vom
Supermarkt bis zu diesem Haus verfolgt und sich bereits am Ziel
gewähnt. Doch diese doofen Autotester wollen ihm sein bescheidenes
Auskommen anscheinend nicht gönnen. Jedenfalls hat er sein Auto um
die nächste Ecke abgestellt und sich dann wieder zum Haus geschlichen,
was praktisch nicht ganz so einfach ist. Einerseits möchte er von den
Leuten im Haus nicht gesehen werden, andererseits soll es für Leute, die
vielleicht zufällig auf der Straße vorbeikommen, oder die aus einem der
Nachbarhäuser schauen, nicht so aussehen, als schleiche da jemand
rum. Franz hat da so seine Technik entwickelt. Am besten soll ihn
niemand sehen, denn jetzt hat er ja seine Kamera dabei. Die ist zwar
nicht ganz so riesig, wie sonst manchmal, weil er heute nur das Gehäuse
mit dem Weitwinkelobjektiv mitgenommen hat. Aber so richtig verbergen
lässt sie sich auch nicht so leicht. Und bei Leuten mit großen Kameras
reagieren hier inzwischen alle allergisch. Die Autotester wollen ihre
Testautos nicht fotografieren lassen, und die Schweden wollen die
Autotester nicht vergraulen, weil sie viel Geld bringen.
Er stapft also los. In den Vorgärten liegt Schnee und auch die Straße ist
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mit Schnee bedeckt, der fest verdichtet und relativ glatt ist. Franz kann
trotzdem ganz gut laufen. Er hat nicht nur die Reifen des Autos mit
Spikes ausgerüstet, sondern auch seine Schuhe. In jedem schwedischen
Supermarkt gibt es die zu kaufen. Sieht aus wie eine übergroße
Gummisandale, die man über die Schuhe zieht, unten sind dann kleine
Eisennoppen dran. Meist werden die Dinger hier von älteren Leuten
gekauft, aber für Franz' Zwecke sind sie auch sehr praktisch. Sie haben
ihm schon manches Mal den entscheidenden Vorteil verschafft. Man
muss sich halt nur zu helfen wissen, denkt er sich, dann kann man auch
mit diesen sportversessenen Jungspunden mithalten.
So gerüstet nähert sich der Fotograf nun dem Haus mit dem S10 vor der
Tür. Er hat schon beim Vorbeifahren vorhin gesehen, dass das Auto nicht
in der Garage abgestellt wurde. Das Glück scheint ihm also hold zu sein.
Er schaut sich nochmal um: Alles ist ruhig.
Nicht dass er bisher etwas ernsthaft Bösartiges getan hätte. Viele
drücken sich die Nasen an den Scheiben der Prototypen platt, sobald die
irgendwo auf einem Parkplatz stehen. Wenn sich aber einer mitten in der
Nacht die Nase an einem Auto in einer Einfahrt in Arjeplog platt drückt
und dann auch noch eine Profikamera in der Hand hält, dann ist schon
halbwegs klar, dass diesen jemand nicht nur die reine, naive Neugier
treibt. Dann ist es eher schon wahrscheinlich, dass dieser jemand
versucht, mit ein paar netten Bildern vom neuen Auto Geld zu machen.
Das wiederum gefällt den Ingenieuren, die an den Autos arbeiten, nicht,
weil man denen eingebläut hat zu verhindern, dass zu früh Fotos der
Prototypen
auftauchen.
häppchenweise
Die
Veröffentlichung
Marketingstrategen
von Details
des
wollen
neuen
die
Modells
möglichst selbst gestalten und sich nicht durch Paparazzi-Fotos die Show
verderben lassen. Noch schlimmer wird das mit dem Fotos-VerhindernSie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook?
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Wollen, wenn die Leute nicht beim Autohersteller selber arbeiten. Wenn
klar ist, dass die die Bilder nicht verhindert haben, erheben manche
Autohersteller gleich Vorwürfe, der Zulieferer habe seine Verträge nicht
eingehalten. Die Motivation, Fotos von den Autos zu verhindern, ist also
hoch, sei es durch Flucht, durch Tarnung oder auch, indem der Fotograf
gestellt wird. An dieser Stelle wird es dann unangenehm für Franz. Dann
braucht er die Spikes am meisten – die an den Schuhen und am Auto.
Das alles geht ihm nicht durch den Kopf, als er die Hand ans
Seitenfenster des S10 hält, um hineinzusehen. Er denkt nur eins:
»Scheiße!«
Diese
kleinen,
fiesen
Streber
haben
wieder
ganz
vorschriftsmäßig ihre Tarnabdeckungen über den Armaturenträger und
die Mittelkonsole geklappt. Nichts ist zu sehen, nicht das kleinste
Eckchen. Erkenntnisse über das Innenleben: Null. Und dafür schleicht er
hier am Sonntagabend in der Kälte rum.
Aber so schnell will er nicht aufgeben. Der S10 ist ein sehr wertvolles
Projekt, in vielerlei Hinsicht. Es geht ja schließlich um eine sehr exklusive
Luxuskarosse. Da ist jede Menge an Entwicklungsarbeit zu leisten.
Gleichzeitig sind die Versuchsautos extrem teuer. Soll das fertige Produkt
schon zu Stückpreisen von etwas über einer viertel Million Euro verkauft
werden, kostet ein Prototyp leicht das Fünf- bis Zehnfache. Diese Autos
werden ja quasi von Hand gebaut. An eine Serienfertigung ist in diesem
Entwicklungsstadium
Autohersteller
noch
bemüht,
nicht
zu
so wenige
denken.
dieser
Deshalb
sogenannten
sind
die
Erlkönige
aufzubauen, wie möglich. Das ist ein sehr wichtiger Hebel, um die Kosten
für die Entwicklung des neuen Autos zu drücken. Und das wiederum
bedeutet, dass Franz echt Schwein hatte, diesen S10 zu finden. Er wird
also jetzt nicht so einfach aufgeben.
So platziert er sich im Vorgarten des gegenüberliegenden Hauses. Es
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brennt kein Licht, also nimmt er an, dass niemand daheim ist, dass er den
Rücken frei hat. Und nun beginnt wieder einer der Teile seiner Arbeit, die
Franz hasst. Er hockt hinter einem Busch und wartet, bei Temperaturen,
bei denen das Warten nicht sehr lange Freude macht. Er überlegt schon
mal, welche Rechnungen er von dem Honorar des erhofften S10-Fotos
bezahlen könnte und wie viel dann noch übrig bleibt. Er sollte sich doch
eine Belohnung für diese elende Warterei in dieser Sch...kälte gönnen
dürfen. Doch so lang ist seine Wunschliste gar nicht. Er hält sich
eigentlich für einen genügsamen Menschen. Aber es gibt immer
Rechnungen zu bezahlen. Das Geld reicht nie wirklich. Ein richtiger Coup
wäre schon mal nicht schlecht. So kreisen die Gedanken. Aber die Kälte
tut das ihre, das Kreisen zu stoppen. Nach einiger Zeit, er hat das Gefühl
für die Zeit längst verloren, steht Franz auf. Er kann nicht anders, wie
ferngesteuert läuft er ein paar Schritte, er läuft weiter und bis er richtig
realisiert, dass er gerade sein Versteck verlassen hat, ist er schon wieder
auf dem Rückweg von dem Prototyp. Er hat wohl wieder nichts
Spannendes gesehen, wie auch, es hat sich ja nichts geändert. Er läuft
hundert oder auch zweihundert Meter die Straße entlang, um seine
Zehen wenigstens etwas aufzuwärmen und seine Glieder zu lockern. Viel
hilft das alles nicht. Was aber langsam wirklich blöd wird, ist die
Tatsache, dass er eigentlich gar nicht so genau weiß, warum er eigentlich
vor diesem Haus sitzt. Gut, er hat gesehen, dass dieser Typ im
Supermarkt für eine Art Party eingekauft hat, für mehr Leute als
üblicherweise in so einem Haus wohnen. Aber vielleicht waren das auch
einfach die Wocheneinkäufe. Anyway, jetzt hat er schon so lange auf die
Chance gesetzt, dass da doch eine Party läuft, die irgendwann zu Ende
geht, und dass sich dann noch irgendwas tut. Jetzt bleibt er auch weiter
da. Aber irgendwie ist das doch wie beim Roulette oder einem anderen
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
Glücksspiel. Wenn man schon jede Menge verloren hat – oder die Zehen
schon fast erfroren sind – spielt man dennoch weiter. Irgendwann muss
man ja gewinnen. Alles andere wäre doch ungerecht. Und dann verliert
man endgültig alles – oder wird am nächsten Tag als Eisklumpen
gefroren in einem schwedischen Vorgarten gefunden. Doch noch
während er seine Gewinnchancen abwägt, tut sich tatsächlich etwas.
Die Tür geht auf und er hört Stimmen. So schnell das mit
Eisklumpenfüßen geht, sucht er Deckung hinter einem Busch in seinem
angestammten Vorgarten. Schon kommen drei Männer aus dem Haus.
Der eine ist der vom Supermarkt. Die anderen kennt Franz noch nicht.
Trotzdem hellt sich seine Stimmung auf. Jetzt muss doch noch was
Spannendes passieren. Doch diese Hoffnung bekommt gleich wieder
einen Dämpfer. Der, der anscheinend einer der Gastgeber war,
verabschiedet seine beiden Kumpels nur und verschwindet wieder im
Haus. Das Auto bleibt unverändert stehen und die beiden anderen
machen sich anscheinend zu Fuß auf den Heimweg. Tja, wat nu sprach
Winnetou? Die letzte Chance besteht wohl in der Verfolgung der
Besucher. Und jetzt bekommt Franz doch noch seinen Treffer.
Nach wenigen hundert Metern erreichen die beiden ihre Unterkunft, vor
der auch ein Auto geparkt ist. So weit so spannend. Die beiden
verschwinden im Haus, drinnen geht Licht an. Wer aus einem hell
erleuchteten Raum hinaus ins Dunkle sieht, kann eh nichts erkennen.
Franz geht langsam näher, so langsam es seine Ungeduld zulässt. Als
ihm klar wird, dass er wieder einen S10 vor sich hat, wird er immer
schneller. Er kramt im Laufen die Kamera aus seinem Rucksack. Wenn
er sie die ganze Zeit in der Hand gehabt hätte, wären ihm schon lange
die Finger abgefroren. Er steht am Auto. Yes! Diese beiden Pappnasen
waren nicht so sorgfältig wie der Typ aus dem Supermarkt. Sie haben
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
zwar die Kunstlederlappen runtergeklappt, aber sie sind nicht ganz
sauber gefallen. Ein kleines Eck der Mittelkonsole ist sichtbar geblieben.
Er setzt die Kamera an, drückt ab, schaltet den Blitz ein, drückt wieder
ab. Die Kamera löst viermal aus. Vier Blitze. Er rennt und ist dank seiner
überlegenen Spikeschuhe schon fast um die Ecke, als die Haustür
auffliegt und jemand hinausschaut. Die Blitze haben sie drinnen wohl
doch bemerkt.
***
Franz ist endlich wieder in seinem Zimmer im Hotell Lyktan. Es ist nicht
gerade das tollste Hotel in Arjeplog, aber für seine Zwecke ganz OK. Als
Erstes lässt er etwas laukühles Wasser in die Badewanne, um seine
Füße wieder aufzutauen. Das tut erstmal gemein weh, aber dann ist es
umso angenehmer, wenn der Schmerz nachlässt.
Anschließend macht er sich daran, seine Beute zu sichern und zu
sichten. Er nimmt die Compact Flash Karte aus der Kamera und steckt
sie in den Kartenleser seines Laptops. Zunächst kopiert er die Bilder auf
die Festplatte des Rechners, dann noch eine Kopie auf einen USB-Stick,
den er als Backup für die wichtigsten Dateien benutzt. Das hier sind die
Früchte wirklich harter Arbeit, die sind wichtig. Erst jetzt öffnet er die
Files. Die ersten beiden Bilder, die ohne Blitz, sind nicht so dolle. Er hat
zwar ein lichtstarkes Festbrennweitenobjektiv verwendet und der
Bildsensor seiner Canon hat auch eine hohe Empfindlichkeit, aber
letztlich war es dann halt doch schon etwas sehr dunkel. Dennoch macht
Franz oft diese Art von Bildern. Der Blitz ist recht verräterisch. Lieber
zwei, drei nicht so gute Bilder im Kasten, bevor man einerseits die Bilder
optimiert, jedoch andererseits auch das Risiko, entdeckt zu werden,
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
erhöht.
Die geblitzten Bilder sind schärfer, haben aber dafür Reflexionen, die der
Blitz auf der Scheibe hinterlassen hat. Diese Bilder werden es wohl nicht
direkt in eines der Automagazine schaffen. Das ist schade. Dennoch sind
sie ein Knaller, weil man darauf einige sehr interessante Details erkennen
kann.
Der S10 scheint eine recht breite Mittelkonsole zu bekommen, die fast
vollständig mit Wurzelholz verkleidet ist – so weit man das eben unter der
Abdeckung sehen kann. Auf der Rücksitzbank liegt eine Tastatur, die mit
dem Hispano-Suiza Logo – einem fliegenden Storch – versehen ist. Sie
scheint also irgendwie zum Auto zu gehören. Es ist eine vollwertige
Laptoptastatur, sogar mit einem kleinen Touchpad, aber vom Format her
ist sie relativ klein – also eher eine Netbooktastatur. Jetzt fällt Franz die
Sonnenblende am Beifahrerplatz auf. Sie ist nur teilweise auf dem Bild zu
sehen, und das auch nur, weil sie heruntergeklappt ist. Es sieht so aus,
als könnte man die kleine Tastatur in der Sonnenblende verstauen. Das
wäre ja mal eine coole Lösung. Ständig reden alle vom Internet im Auto.
Aber die Bedienung ist in vielen Belangen noch eher umständlich. Eine
ordentliche Tastatur ist für das Verfassen von Mails oder Ähnlichem doch
noch
immer
die
beste
Lösung.
Zumindest
solange
Spracherkennungssysteme noch nicht in der Lage sind, ohne weiteres
Zutun Texte vollständig aufzunehmen.
Der absolute Clou an diesem Foto ist aber der verchromte Schriftzug, der
auf der Mittelkonsole bündig in das Holz eingelassen ist. Naja, ein
verchromter geschwungener Schriftzug in einem Auto ist so besonders
auch wieder nicht, aber was hier steht, kann nur der Name des neuen
Autos sein. Und das ist der Hammer, denn den kannte bisher noch
keiner.
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
Franz ist ganz aus dem Häuschen und muss sich erstmal ein Bierchen
aus der Minibar genehmigen – ein unerhörter Luxus, um wieder
einigermaßen runterzukommen. Als er an diesem Abend einschläft,
murmelt er immer noch ständig diesen Namen vor sich hin – HispanoSuiza »San Remo«.
Am nächsten Morgen sammelt Franz nochmal die Fakten, die er jetzt
anhand der Bilder über das neue Auto herausgefunden hat. Er stellt das
ganze Paket zusammen und freut sich. Dieser Knaller, den Namen des
geheimen Projektes zu kennen, ist fast genauso viel wert wie Bilder vom
kompletten Armaturenträger. Es geht einfach darum, den Leuten etwas
zum Träumen zu geben, gerade wenn es um Luxus-Autos geht. Sie
wollen sich vorstellen, wie es wäre, in so einem Auto zu fahren. Alles,
was die Phantasie in dieser Richtung anregt, wollen die Leute wissen.
Wie sieht das Auto aus? Aber auch, wie sieht es von innen aus? Wie
wäre es wohl, selbst darin zu sitzen und auf die Instrumente zu sehen?
Und wenn man das Ganze auch noch mit einem klangvollen Namen
benennen kann, macht das die Vorstellung noch konkreter.
Etwas zu bieten, das die Leute interessiert, ist logischerweise das
Wichtigste für den Erfolg aller Medien. Das ist bei Autozeitschriften ja
nicht anders. Entsprechend positiv ist Franz gestimmt, als er beginnt, die
Redaktionen anzurufen, mit denen er sonst meist zusammenarbeitet. Er
beschreibt kurz, was er hat, natürlich ohne die Informationen schon zu
verraten, und nennt seinen Preis. Die Redakteure, mit denen er
gesprochen hat, können nicht ohne Rücksprache mit ihren Vorgesetzten
entscheiden. Aber nach fünf Minuten rufen die Leute von Motorhobby
zurück. Sie sagen zu, die geforderten 4000 Euro zu bezahlen. Also
schickt er eine Mail mit dem wertvollen Inhalt los.
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Dieses war der erste Streich, doch natürlich möchte Franz jetzt auch den
Rest noch. Er muss also versuchen, an dem S10 dranzubleiben. Ist nur
die Frage wie. Er hat keine richtige Ahnung, so fährt er einfach nochmal
zum Gelände der IAA, und siehe da: Er hat diesmal kein Glück. Es tut
sich nichts. Er fährt ein paar Mal die Straße auf und ab. Aber er sieht nur
einen blauen Golf, der zum Testgelände abbiegt. Er kann sich auch nicht
überwinden, sich schon wieder auf die fast arktische Lauer zu legen. Also
kehrt er zum Hotel zurück. Das Glück wird schon bald wieder auf seiner
Seite sein.
***
Zur Feier seines tollen Erfolges will Franz ausgehen. Ausgehen, das
heißt für ihn in Arjeplog, ins Hotel Silverhatten, das fast schon legendär
ist, zu gehen. Das Hotel besteht aus mehreren Gebäuden, die mit ihren
dunkelroten Fassaden gut zur schwedischen Architektur passen. Es liegt
am Rand des Ortes auf einem leichten Hügel. An diesem Ort trifft man
sich. Tagsüber machen alle ein Riesengeheimnis um ihre Prototypen und
die neuesten Entwicklungen. Es regiert harter Wettbewerb in der
Automobilbranche.
Abends stehen dann die Prototypen vieler internationaler Autohersteller
einträchtig vor der Tür dieses Hotels. Drinnen fachsimpeln die, die
tagsüber Konkurrenten, Kunden oder Lieferanten sind, beim Bier an der
Bar. Jetzt treten die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund. Alle sind
Technik- und insbesondere Autofreaks; alle sind über Wochen hier im
dunklen Norden, getrennt von ihren Familien. Viele kennen sich seit
Jahren, auch wenn sie nicht für die gleiche Firma arbeiten. So wird viel
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
geredet an dieser Bar, auf Deutsch, Englisch, Französich, Italienisch,
natürlich Schwedisch. Das sind sicher nur die häufigsten Sprachen. Dass
sich unter die Leute auch Journalisten mischen, stört hier niemanden
wirklich. Die meisten sind so professionell, dass sie auch nach drei Bier
noch ganz genau wissen, was wirklich ein Geheimnis ist, das an keiner
Bar der Welt etwas zu suchen hat – die meisten.
Das macht es für Franz schwer, an diesem Ort abzuschalten. Er ist
einfach immer auf Empfang. Deshalb hat er auch fast schon automatisch
ein paar Bilder der Autos auf dem Parkplatz mit seiner Handykamera
gemacht, bevor er gut gelaunt das Hotel betritt und ohne weitere
Umwege die Bar ansteuert. Die ist für ein Hotel dieser Größe recht
ansehnlich, der Tresen steht prominent im Raum, so dass man rund um
die eigentliche Bar sowohl am Tresen als auch an Tischen sitzen kann.
Es herrschen helle, warme Töne vor. Die Atmosphäre ist sehr angenehm.
Er bestellt sich ein Bier, schaut suchend in die Runde und sieht auch
gleich ein bekanntes Gesicht. Es ist Julia Morgenfrüh, eine Kollegin, was
eigentlich schon Bände spricht. Es gibt nicht viele Frauen hier, nicht viele
unter den Autotestern und erst recht nicht viele unter den Erlkönigjägern.
Julia ist eine der wenigen Ausnahmen und in der Szene bekannt wie ein
bunter Hund. Franz kennt sie schon lange. Er geht zu ihr und reicht ihr
zur Begrüßung die Hand. Sie ist wie immer freundlich und Franz platzt
gleich mit seinem tollen Fang vom Vortag heraus. Natürlich nicht richtig.
Ein ungeschriebenes Gesetz, das wahrscheinlich die Grundlage für ihre
gute Beziehung ist, besagt, dass sie sich gegenseitig nichts verraten;
keine Tipps, keine zugeschobenen Geschichten, nichts. So gibt es keine
Missverständnisse oder Erwartungen, die dann zu Ärger führen würden.
Also erzählt er nur, dass er den richtigen Namen eines tollen
Entwicklungsprojektes herausbekommen hat. Vor lauter Begeisterung
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über seinen Erfolg bemerkt er zunächst Julias gedämpfte Stimmung
überhaupt nicht. Erst als er seinen ersten Redeschwall losgeworden ist,
fällt ihm auf, dass sie nur ab und zu genickt hat, aber nicht wirklich auf
seine Geschichte eingegangen ist. Auf seine Frage, was denn los sei –
die ja eigentlich nicht so richtig sensibel ist – beginnt Julia ihr Leid zu
klagen. Sensibilität erwartet in dieser Umgebung kaum jemand. Sie hat
Streit mit ihrem Lebensgefährten. Franz wusste, dass sie liiert war, aber
nicht mit wem und wie lange.
Sie hätten sich zufällig in einem Fotogeschäft kennengelernt. Zunächst
sei alles ganz toll gelaufen und Julia machte insgeheim schon
weitergehende Pläne, doch ihr Leben als Fotografin geheimer Autos
konnte und wollte sie zumindest zunächst nicht aufgeben. Und das sei
das Problem. Er komme nicht damit zurecht, dass sie dauernd unterwegs
sei, völlig unplanbar von einem Tag auf den anderen verreise, immer
rastlos irgendwelchen vagen Hinweisen oder Tipps folgend, die sie aus
irgendwelchen Quellen – natürlich nicht von Franz – hat. Auch er sei
ständig unterwegs und er wolle eigentlich eine Freundin, die daheim auf
ihn warte. Sie hätten sich schon öfter deshalb gestritten, und die Sache
werde auch dadurch nicht einfacher, dass Julias gesamtes Arbeitsumfeld
männlich sei. Jetzt sei der Streit mal wieder eskaliert. Julia glaube nicht,
dass die Beziehung noch lange halte.
Franz kann Julias Situation gut nachvollziehen. Ihm ist es schon ähnlich
ergangen.
Der
Job,
den
sie
beide
lieben,
ist
nicht
sehr
beziehungsfördernd. Insofern ist Julia froh einen verständigen Zuhörer zu
haben.
Sie unterhalten sich also angeregt an diesem Abend. Als Julia mal kurz
verschwindet, ertappt sich Franz schnell bei Abwägungen, was er an ihr
toll oder nicht so toll findet. Sie ist nicht im ersten Sinne eine Schönheit,
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aber attraktiv ist sie auf jeden Fall. Und sie ist natürlich eine der sehr
wenigen Frauen, die Verständnis für den etwas unsteten Lebenswandel,
den der Job so mit sich bringt, haben sollten. Aber er ist eh nicht der Typ,
der gleich voll im Angriff ist. Für ihn müssen sich solche Dinge entwickeln.
Aber wenn sie nun quasi wieder frei wäre? Dann wäre er sicher froh,
wenn ihr Kontakt zukünftig etwas weniger zufällig wäre.
»Am Dienstag geht es endlich wieder auf die Heimfahrt, dann sollten wir
am Freitag morgens mit der Stena in Kiel und abends daheim
ankommen«, hört er neben sich einen Gesprächsfetzen. Als er sich etwas
in die entsprechende Richtung dreht, sieht er einerseits Julia wieder auf
ihn zukommen, andererseits die Quelle des Gesprächsfetzens. Und das
ist einer der Typen aus der Schwimmhalle. Die Leute vom S10-Projekt
wollen also morgen abfahren. Jetzt ist es wieder soweit: Franz kann nicht
abschalten und sich auch nicht mehr richtig auf die Unterhaltung mit Julia
konzentrieren, obwohl sich die gerade in Richtung erfreulicherer Themen
entwickelt – nach dem Schema: »Warst du dieses Jahr schon im Urlaub?
Wo warst du denn?« Seine Gedanken kreisen um die Frage, wie er seine
Chance nutzen kann, den S10 doch noch vor die Linse zu bekommen.
Heute sind zwar wohl keine weiteren Infos mehr zu bekommen, weil sich
die IAA-Leute, die immer noch neben ihm an der Bar stehen, jetzt
darüber unterhalten, welchen Kollegen daheim sie wie viel Lachs
mitbringen müssen. Der Lachs, den man hier kaufen kann, ist sehr gut
und vergleichsweise günstig, also werden immer wieder Bestellungen der
daheimgebliebenen
Kollegen
angenommen
–
am
meisten
vor
Weihnachten, aber auch jetzt haben sich noch nicht alle satt gegessen.
Also die quatschen über Lachs, er grübelt über die beste Jagdstrategie
nach und folgt mit Mühe der Unterhaltung mit Julia, was jetzt auf sie
weniger einen trampeligen als eher einen recht desinteressierten
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
Eindruck machen dürfte. Umso erstaunlicher ist es, dass sie sich
trotzdem seine Handynummer notiert. Sie notiert sich seine, nicht er ihre;
so toll war der Eindruck, den er bei ihr gemacht hat, dann doch nicht.
Franz ist froh, als er irgendwann wieder draußen vor dem Hotel steht. Es
sind schon deutlich weniger Autos, die jetzt noch hier parken. Julia hatte
sich schon kurz vorher verabschiedet, also ist er jetzt allein und
beschließt noch ein paar Schritte zu laufen, bevor er wieder in sein Hotel
zurückkehrt. Bisher waren seine Gedanken nur gekreist, sie konnten sich
nicht für eine bestimmte Richtung entscheiden. Das heißt, die Gedanken
hatten sich schon wieder für die Arbeit entschieden. Julia war im Moment
erstmal wieder ausgeblendet.
Welche Optionen gibt es denn? Er könnte natürlich morgen versuchen,
die Abfahrt der Ingenieure abzupassen, und direkt die Verfolgung
aufnehmen. Der Nachteil daran wäre, dass diese ganze Aktion entweder
sehr auffällig wäre oder mit einem hohen Risiko verbunden, den Konvoi
zu verlieren.
Normalerweise fahren in so einem Entwicklungsteam ein paar Autos
zusammen. Vielleicht sind auch noch Kollegen dabei, die an einem
anderen Projekt arbeiten. So können sie sich gegenseitig helfen, wenn es
Probleme an einem Auto oder der Technik gibt. Die Prototypen sind meist
nicht so zuverlässig wie die fertigen Serienautos, Pannen sind da nicht
auszuschließen.
Das heißt aber, dass viele Augen dabei sind, denen ein fremdes Auto,
das ständig dem Konvoi folgt, auffallen kann – fast muss. Auf den
Straßen hier oben ist nicht so viel Verkehr, da fällt jedes andere Auto auf,
und die Entwickler machen immer wieder Stopps, um Messungen zu
machen oder die Technik zu prüfen, was sollte er da jedes Mal tun? Alle
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
fünfzehn Minuten eine Pinkelpause markieren, zufällig immer an den
gleichen Stellen, an denen die Versuchsautos stehen? Das scheint nicht
die beste Idee zu sein. Verlockend wäre sie nur, weil unterwegs
wahrscheinlich
zwei
Hotelübernachtungen
anstehen
würden,
die
Gelegenheit bieten könnten, unauffällig und ungesehen an die Autos
ranzukommen. Aber wirklich raten, wo diese Stopps eingelegt werden,
kann er auch nicht.
Aber er hat ja noch eine Info. Die Entwickler wollen eine Fähre der Stena
Line nach Kiel nehmen. Das ist ein gewisser Fixpunkt. Die Stena fährt
von Göteborg nach Kiel. Wenn er es schaffen würde zu erraten, welches
Schiff sie genau nehmen wollen, dann könnte er auf der gleichen Fähre
mitfahren und hätte dort eventuell Gelegenheit, an die Autos zu kommen.
Das scheint erstmal praktikabler.
Als Franz wieder am Hotel Silverhatten zurück ist, kommt gerade ein Pulk
Leute raus. Wieder wird in verschiedenen Fremdsprachen gesprochen.
Nur nebenbei registriert er, dass diesmal auch ein paar der Männer
Russisch sprechen, was insofern ungewöhnlich ist, als die russische
Autoindustrie bisher noch nicht in Schweden vertreten ist. Außerdem
steigen die Leute in einen schwarzen Porsche Cayenne. Auch der weist
sie deutlich als Osteuropäer aus, denn er ist für den westlichen
Geschmack etwas zu offensiv aufgemotzt. Da fehlt nur noch der
Fuchsschwanz an der Antenne, denkt Franz. Sein dezenter Volvo ist ihm
da schon lieber. Aber damit ist die Episode auch schon abgehakt. Er
muss in sein Hotel zurück und packen.
***
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
Fred hat seine Klamotten schon gepackt. Das ist der kleinste Teil der
Vorbereitungen für die Abfahrt. Er und seine Kollegen haben am letzten
Tag vor der Abreise Richtung Heimat noch ein paar Versuche auf dem
See gefahren, ein paar Parameter neu eingestellt – sie nennen das
appliziert – und sogar noch einen Fehler in der Software gefunden. Aus
diesen Resultaten haben die Kollegen in ihrem schwäbischen Zuhause
einen neuen Softwarestand für das ACC gebaut.
Das ACC ist das Steuergerät, an dem Fred und seine Kollegen arbeiten.
ACC ist die Abkürzung für Adaptive Cruise Control, was landläufig eher
unter Abstandregeltempomat bekannt ist. Bei Autos, die ACC haben, ist
die Funktion des normalen Tempomats erweitert. Er kann nicht nur eine
bestimmte Geschwindigkeit fest einhalten, sondern auch auf andere
Fahrzeuge reagieren. Nähert man sich einem langsameren Auto,
verzögert das ACC-Auto und hält dann einen bestimmten Abstand zu
diesem langsameren Auto. Die vorausfahrenden Fahrzeuge werden mit
Hilfe eines Radarsensors, der in der Frontschürze eingebaut ist, erkannt.
Zum Bremsen und Beschleunigen ist eine hoch komplexe Vernetzung mit
vielen anderen Steuergeräten notwendig. Die Motorsteuerung muss
Befehle
zum
Gasgeben
Verzögerungsbefehle
annehmen.
verarbeiten
Das
und
Bremssystem
Informationen
muss
über
Geschwindigkeit und Beschleunigungszustand liefern. Und wie immer
steckt der Teufel im Detail. Wenn man sich einem langsamen
Vordermann nähert, soll man dann in den Sicherheitsabstand eintauchen
und sich dann wieder zurückfallen lassen – eher komfortabel? Oder soll
man das auf jeden Fall vermeiden und lieber stärker bremsen – nicht
ganz so komfortabel? Wenn auf einer mehrspurigen Straße zum Beispiel
drei Autos nebeneinander fahren, das ACC-Auto auf der mittleren Spur
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
dahinter, welches der drei Autos muss dann vom ACC berücksichtigt
werden – wenn man in einer leichten Linkskurve ist?
Die Arbeit der Applikationsingenieure besteht nun nicht darin, so ein ACC
neu zu erfinden. Sie müssen ein bestehendes ACC an ein neues
Fahrzeugmodell, wie den S10, anpassen. Die gerade beschriebene
Kommunikation mit den anderen Steuergeräten läuft bei jedem
Fahrzeugtyp ein bisschen anders und jeder Fahrzeughersteller hat etwas
andere Vorstellungen, was das Verhalten des Systems angeht –
eintauchen oder nicht. Die Applikateure koordinieren, dass alle
fahrzeugspezifischen Änderungen in die Software des ACC einfließen,
denn zum größten Teil findet die Anpassung in der Software statt, und sie
stimmen das System nach den Wünschen des Kunden ab. Der Kunde ist
der Autohersteller, für Freds Projekt also offiziell Hispano-Suiza; IAA ist
der Lieferant des ACC.
Sie haben also am Abend vor der Abreise von den Kollegen noch einen
neuen Softwarestand bekommen. Damit beginnt der größere Teil der
Vorbereitungen für die Heimfahrt. Die paar Sachen, die sie in ihrem Büro
auf dem Testgelände von IAA hatten, sind auch schnell verpackt, aber
jetzt muss die Software in Betrieb genommen werden. Vorher macht es
keinen Sinn abzufahren.
Fred geht vom Büro nach nebenan in die Fahrzeughalle. Dort stehen die
beiden S10. Er öffnet den Kofferraum des ersten, entnimmt diesem ein
Netzwerkkabel und öffnet die Beifahrertür. Dort verbindet er die
Messtechnik, die im Auto eingebaut ist, mit einer der Netzwerkdosen in
der Fahrzeughalle. So kann er bequem die neue Software direkt
herunterladen.
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Die Messtechnik macht sich in dem Versuchsauto dort breit, wo
normalerweise eine nette Beifahrerin sitzen sollte. Deren Sitz ist
ausgebaut und macht einem würfelförmigen Rack aus Aluprofilen Platz,
das mit den Sitzschienen verschraubt ist. Darin sind zwei PCs eingebaut.
Oben auf dem Rack befindet sich ein Flachbildschirm und es gibt
natürlich auch eine Tastatur mit Trackball, über die man beide Rechner
steuern kann.
Die gesamte Mess- und Applikationstechnik ist also digital. Der eine
Rechner zeichnet die Daten des Fahrzeuges auf, während der andere mit
dem ACC-Steuergerät verbunden ist. Er speichert Messgrößen direkt aus
dem Steuergerät, und mit diesem Computer kann man auch Variablen in
der ACC-Software verändern – online während der Fahrt. Das geht
natürlich nur mit einem speziellen Entwicklungssteuergerät, das mit
einem entsprechenden Anschluss ausgestattet ist.
Diese ganze Konfiguration ist das Ergebnis langer, leidvoller Erfahrungen
und Experimente mit Laptops, die die Entwicklungsabteilung machen
musste. Die Festplatten in den PC sind besonders robuste Typen und sie
sind gegen Stöße gedämpft aufgehängt, um Schäden und Störungen bei
Fahrten über schlechte Straßen zu verhindern. Der Einbau in dem Rack
anstelle des Beifahrersitzes ist sehr sicher. Alle Teile sind fest
verschraubt, nichts kann im Falle eines Falles durchs Auto fliegen, und
nichts ruckelt bei Fahrbahnunebenheiten rum. Das kommt auch der
Funktion der unzähligen Stecker zugute, die das Kabelgewirr in diesem
Versuchsauto zusammenhalten. Außerdem lässt sich so alles recht
bequem bedienen. Die Ingenieure sind eigentlich immer zu zweit im Auto.
Einer der Ingenieure fährt und ein Kollege sitzt auf der Rücksitzbank und
bedient die Messtechnik. Mit der kleinen Tastatur auf den Knien kann
man dabei bequem sitzen und arbeiten. Nur wenn die Strecke recht
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kurvig ist, kann es einem schon mal schlecht werden, so wie es vielen
Menschen beim Lesen im Auto ergeht.
Fred hat also mit schlafwandlerischer Sicherheit den richtigen Anschluss
für das Netzwerkkabel gefunden. Er hat diese Handgriffe schon unzählige
Male und unter viel widrigeren Bedingungen als in einer warmen Halle
gemacht. Er setzt sich auf die Rücksitzbank, um die Software zu flashen,
das heißt die Software auf das Steuergerät zu laden. Mit einem Druck auf
eine rote Taste an dem Rack schaltet er einen der beiden Computer ein.
Noch während der bootet ertönt ein schriller Warnton. Fred hat mit
schlafwandlerischer Sicherheit vergessen den Strom anzuschließen.
Noch eine Besonderheit an diesem Auto. Die ganze Technik braucht
natürlich ordentlich Strom. Deshalb ist zum einen eine Extrabatterie im
Kofferraum eingebaut und zum anderen eine ausgeklügelte Elektronik,
die den Ladezustand der Batterien überwacht. Es macht halt nur wenig
Spaß, wenn man zwar lange an der Messtechnik arbeiten kann, dann
aber keinen Strom mehr zum Starten des Motors hat. Deshalb der
Warnton. Fred könnte jetzt den Motor anlassen und fahren, um mehr
Strom zu haben, oder das ebenfalls eingebaute Ladegerät an die
Steckdose hängen. Also geht er wieder zum Kofferraum und zieht das
Stromkabel von der eingebauten Kabeltrommel Richtung Steckdose. Das
erinnert ihn immer an den Staubsauger daheim.
Inzwischen ist der Rechner hochgefahren. Er kopiert das Softwarefile auf
die Festplatte und startet das Flash-Programm. Noch ein Passwort
eingeben und schon läuft der Prozess. So weit so problemlos. Die
Software ist drauf. Jetzt muss aber noch eine kurze Testfahrt gemacht
werden, um sicher zu gehen, dass sie auch grundsätzlich funktioniert.
Fred schaltet die Zündung des Hispano-Suiza wieder aus. Die war an, um
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das ACC mit Strom zu versorgen. Jetzt muss ein Reset gemacht werden,
ganz wie beim PC daheim; nach der Installation neuer Software muss der
Computer neu gestartet werden.
Er öffnet das Tor der Halle und rollt langsam mit der schweren Limousine
hinaus. Ein Druck auf eine der Tasten am Lenkrad. Ein grünes Lämpchen
im Kombiinstrument leuchtet auf. Das Steuergerät ist eingeschaltet. Das
ist schon mal die erste wesentliche Hürde. Er gibt Uli ein Zeichen, dass
dieser auch den zweiten S10 flashen kann. Schon auf dem Weg zum Tor
des IAA-Geländes kann er die ersten Punkte der Checkliste, die er jetzt
abarbeiten muss, erfolgreich testen. Auf dem Weg zur Hauptstraße die
nächsten. Beschleunigung auf 30 Stundenkilometer, aktivieren des ACC,
beschleunigen auf 50 Kilometer pro Stunde. Alles tut. Auch die weiteren
Tests verlaufen zufriedenstellend. Das ist eigentlich schon beängstigend.
Für jede Änderung an der Software müssen die Kollegen von der
Softwareentwicklung einen komplizierten Prozess durchlaufen, auch
wenn es sich nur um eine vermeintliche Kleinigkeit handelt. Dabei kann
leicht mal ein Fehler passieren, der auch bei den Tests, die die Software
noch in Deutschland durchlaufen muss, nicht gefunden wird. Diesmal
scheint alles zu passen. Als Fred nach fünfzehn Minuten wieder zurück
ist, ist auch das zweite Auto schon fast fertig. Auch bei diesem muss aber
noch die Probefahrt gemacht werden.
Schnell laden er und Stephan die letzten Dinge in den Kofferraum und
schon sind sie abfahrbereit – schon um zehn Uhr. Das lässt auf einen
guten Verlauf der Heimreise hoffen. Mehr als Hoffnung ist es allerdings
nicht. Denn auf der viertägigen Fahrt kann doch noch einiges passieren.
Sie fahren mit drei Autos, den beiden S10 und dem 7er BMW, den sie
auch als Versuchsfahrzeug für die Entwicklung verwenden, bei dem es
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sich aber um ein normales Serienmodell handelt. Vor ihnen liegen mehr
als 2500 Kilometer, wobei die Fähre zwischen Göteborg und Kiel noch
nicht mitgerechnet ist. Heute wollen sie bis Umeå, dort haben sie ein
Hotel reserviert. Das sind gut 300 Kilometer über kleine nordschwedische
Landstraßen, die sicher zum größten Teil nicht schnee- und eisfrei sein
werden. Außerdem müssen während der Fahrt Messungen und Versuche
gemacht werden. Möglicherweise treten Fehler auf, die dann zu
analysieren und beheben sind. Eine zeitige Abfahrt ist also angeraten,
lässt sich aber nicht immer verwirklichen – heute schon.
Sie verlassen das Werksgelände und biegen nach kurzer Zeit auf die
Hauptstraße Richtung Arjeplog ein. Es fällt ihnen nichts Besonders auf.
Sie haben vor einer Stunde zuletzt ihre E-Mail gecheckt. Es waren noch
keine Warnmeldungen vor Erlkönigjägern da. Die Entwickler der IAA
warnen sich gegenseitig per Mail vor den neugierigen Fotografen.
Dennoch wissen sie, dass in der Gegend von Arjeplog immer damit
gerechnet werden muss, dass plötzlich ein verdächtiges Auto auftaucht.
Meist versuchen sie dann abzuhauen oder mit einem ungefährdeten
Fahrzeug, wie zum Beispiel ihrem 7er, die Sicht zu behindern.
Die kleine Kolonne durchquert die Stadt und fährt weiter Richtung Süden.
Bis Umeå werden sie durch keine größere Ortschaft mehr kommen.
Die
meisten
anderen
Entwicklungsteams,
die
zum
Beispiel
am
elektronischen Stabilitätsprogramm, dem ESP, arbeiten, fahren die
Strecke
von
und
nach
Deutschland
nicht.
Sie
verladen
ihre
Entwicklungsautos ein paar Tage früher auf LKW und fliegen dann nach
Schweden. Beim ACC kann aber ein Großteil der Arbeit nicht auf
Teststrecken gemacht werden. Für diese Funktion braucht man realen
Verkehr und verschiedene Straßenformen – Land- und Schnellstraßen,
Autobahnen. Deshalb sind die vielen Tausend Kilometer An- und Abfahrt
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wertvoller Bestandteil dieser Wintererprobungen.
Die ACCler werden bei Umeå die Küste erreichen. Dieser werden sie
dann fast bis Stockholm folgen. Von dort geht es quer durchs Land nach
Göteborg, wo immer abends eine Fähre nach Kiel abfährt, die am
nächsten Morgen dort ankommt. Dann folgt der letzte Tag auf
Autobahnen quer durch Deutschland bis nach Ludwigsburg, wo IAA einen
Entwicklungsstandort unterhält, an dem Fred und seine Kollegen
arbeiten. Dort wollen sie am Freitag nach vier Tagen Fahrt ankommen.
Aber so weit sind sie noch lange nicht.
***
Franz hat im Prinzip die gleiche Strecke vor sich. Allerdings muss er
keine Versuche und Tests machen. Er muss nur fahren und am richtigen
Tag vor den Entwicklern an der Fähre sein. Das sollte eigentlich nicht
schwer sein. Immerhin gibt es täglich nur eine Fähre. Es stellt sich
höchstens die Frage, ob sie die am Mittwoch- oder am Donnerstagabend
nehmen wollen. Aber mit dieser Unsicherheit lässt sich umgehen.
Ansonsten muss er nur noch sein Auto umrüsten. Er ist im Januar mit
seinem alten Volvo nach Schweden gefahren, um nicht auf Mietautos
angewiesen zu sein. Außerdem gibt es keine bessere Tarnung als einen
alten Volvo-Kombi. Franz' Volvo ist dunkelblau, aber selbst in
leuchtendrot wäre der in Arjeplog so gut getarnt wie ein Leopard im
Steppengras, auch wenn dieser Vergleich jetzt seltsam anmuten mag.
Jeder hier fährt einen Volvo.
Er möchte mit seinem Camouflage-Mobil am Dienstag gleich bis
Stockholm durchfahren. Dort hat er sich bei seinem Freund Harald
angekündigt, in dessen Garage auch die Allwetterreifen für den Volvo
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liegen. Mit den Spikes, die im Norden so hilfreich sind, darf er in
Deutschland nicht fahren.
Wenn alles gut läuft, und davon geht Franz mal aus, ist er abends bei
Harald. Dann könnten sie ins Engelen gehen. Dieses Restaurant ist
wegen seiner Steaks bekannt, nicht nur bei Franz und Harald, sondern
auch bei manchen Autotestern. Bei denen gehört es anscheinend zum
Einarbeitungsprogramm für Neueinsteiger. Franz möchte aber versuchen,
mal nicht ständig andere Gespräche zu belauschen. Er möchte einfach
mal wieder mit seinem Freund schnacken.
Am Mittwoch könnte er in Ruhe nach Göteborg weiterfahren. Abends
würde er dann sehen, ob die S10 schon auf die Fähre kommen oder aber
nochmal übernachten und dann wahrscheinlich die Passage am
Donnerstag nehmen. In diesem Fall könnte er auch noch ein bisschen im
Internet recherchieren, was zum S10 schon an Infos zu bekommen ist.
Dazu hatte er bisher noch keine Zeit.
So weit sein Plan. Der geht auch fast so auf. Er ist am Mittwochabend am
Anleger der Stena Line Fähren und wartet darauf, dass die S10
auftauchen und sich in die Schlange der wartenden Autos einreihen. Das
einzig Kribbelige ist, dass er noch kein Ticket hat. Bis 30 Minuten vor
Abfahrt kann er noch einchecken. Das sollte eigentlich dicke reichen,
aber was, wenn die Leute von der IAA auf den allerletzten Drücker
ankommen? Vielleicht haben sie Probleme und kommen deshalb spät,
oder sie warten absichtlich, um eventuelle Verfolger abzuschütteln. Das
mit dem Abschütteln wäre dann bei Franz erfolgreich, was für ihn eher
bescheiden wäre. Seine Chancen, nochmal an die Autos ranzukommen,
würden damit deutlich sinken. So viel ist ihm klar: Die Applikateure haben
meist vorher schon ihre Fährtickets gebucht.
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Franz wartet am Mittwochabend zunächst ganz entspannt an der Fähre,
dann als es auf 18:30 Uhr zugeht, wird er etwas nervöser, weil das dann
ja die Zeitspanne ist, in der er fast im wahrsten Sinne des Wortes
ausgebootet werden könnte. Aber dann geht um 19:00 Uhr die große
Ladeluke zu und er entspannt sich wieder. Die Objekte der Begierde sind
nicht erschienen und er gewinnt einen weiteren Tag des Wartens. Am
Donnerstag wird er die Fähre aber in jedem Fall nehmen. Er kauft also
gleich die nötigen Tickets für sich und sein Auto.
Den nächsten Tag verschläft er fast zur Hälfte. Danach gibt es ein
ausgiebiges Frühstück. Dann sucht er sich einen WLAN-Hotspot. Viele
Hotels bieten ihren Gästen einen solchen Internetzugang als Service und
in einem größeren Hotel fällt es nicht auf, wenn jemand, der wie ein Gast
aussieht, in der Lobby seinen Laptop auspackt. Franz hat schon beim
zweiten Versuch Erfolg. Er kann seinen Rechner gebührenfrei mit dem
Internet verbinden. Um seinen Aufenthalt in der Hotelhalle halbwegs zu
legitimieren, bestellt er sich ein kleines Mineralwasser.
Als Erstes überprüft er seine E-Mail. Die Redaktion der Motorhobby
möchte wissen, ob er schon weitere Infos über den S10 bieten kann.
Anscheinend ist das Interesse groß und das Angebot klein. Da sollte es
sich doch lohnen, an dem Projekt dranzubleiben. Er scrollt weiter und
fischt zu seiner Freude zwischen all den Spammails auch eine Nachricht
von Julia raus. Sie schreibt, dass sie sich über das Gespräch im
Silverhatten gefreut habe und dass sie vorhabe, noch mindestens zwei
Wochen in Arjeplog zu bleiben. Sie habe gehört, es würden noch ein paar
interessante Fahrzeuge kommen, die auf den letzten Drücker noch auf
Eis und Schnee getestet werden sollten, bevor Ende März die
Wintertestsaison zu Ende gehe. Franz drückt gleich auf den Antwortknopf
und sitzt dann erstmal zwanzig Minuten vor dem leeren E-Mailformular,
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ehe er mit seiner Antwort beginnt. Er bedankt sich auch für das nette
Gespräch – nein, nochmal löschen. Er schreibt, dass er sich auch über
ihr zufälliges Treffen gefreut habe, dass er aber jetzt schon auf dem Weg
nach Deutschland sei. Er sei an ein paar Leuten von IAA dran, die am
S10-Projekt arbeiten. Ja, das entspricht nicht der ungeschriebenen
Vereinbarung, sich gegenseitig keine Tipps zu geben – von Gesetz will er
in diesem Zusammenhang dann doch nicht mehr sprechen – aber Julia
hat ihm ja auch verraten, dass es sich lohnen könne, noch in Schweden
zu bleiben.
Seine Internetrecherche zum S10 bringt keine besonders aufregenden
Erkenntnisse. Er durchforstet insbesondere verschiedene Foren, in denen
mehr oder weniger professionelle Autofreaks diskutieren. Der neue
Hispano-Suiza ist dort ein Thema, aber über das Interieur wird nur
spekuliert – keine konkreten Infos. Der wirkliche Name des Autos scheint
noch nirgends bekannt zu sein. Das ist doch schon mal toll. Zur Technik
gibt
es
noch
nicht
viel.
Hauptsächlich
wird
über
ein
neues
Sicherheitssystem diskutiert, dass es beim S10 unmöglich machen soll,
Steuergeräte zu manipulieren oder auszutauschen. Tuning wird damit
ziemlich schwierig. Der S10 soll hier Vorreiter für alle zukünftigen Modelle
des Konzerns sein. Das ist zwar plausibel, weil man die komplizierte
Technik so an einem Modell einführen kann, das nicht gleich zu
hunderttausenden auf die Straße kommt, Franz findet es trotzdem
langweilig. Für solche Themen interessieren sich nur Nerds; weder er
noch die meisten normalen Leser von Automagazinen finden so etwas
aufregend.
Am Abend läuft dann alles nach Plan. Er fährt als einer der Ersten auf die
Fähre und sucht sich dann einen guten Aussichtspunkt, von dem er die
Laderampe im Auge behalten kann. Relativ knapp vor der Abfahrt
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kommen
die
S10.
Die
getarnten
Versuchsautos
erregen
viel
Aufmerksamkeit. Väter und Söhne recken gemeinsam die Hälse und
rätseln, um welche Automarke es sich wohl handeln mag.
***
Fred ist froh, endlich auf der Fähre zu sein. Die letzten drei Tage Fahrt
waren recht anstrengend. Jeden Tag waren sie mindestens zwölf
Stunden unterwegs. Immer wieder mussten Messungen gemacht werden
und viele Versuche mussten sie zigmal wiederholen, bis endlich alles
geklappt hat. So kommt man natürlich nicht wahnsinnig schnell voran,
wenn man bei jeder Haltebucht und an jedem Rastplatz stehen bleibt, um
wieder Daten zu speichern, Parameter zu verändern und öfter mal einen
Reset zu machen – Motor und Zündung aus, warten, Zündung wieder an,
Motor wieder starten. Aber immerhin haben sie die Strecke von
Stockholm nach Göteborg ohne den ganz großen Stress geschafft. Mit
dem harten Anschlag – Abfahrt der Fähre – ist es auf vielen
Wintererprobungen schon recht knapp geworden, wenn schon am
Vormittag viel Zeit vertrödelt wurde.
Sie laden ihre Taschen aus und achten darauf, die Innenraumtarnung
ordentlich anzuwenden. Die Autos stehen ja auf einem der ganz
normalen Fahrzeugdecks. Da kann man nicht verhindern, dass alle
möglichen Leute an die Autos kommen. Abhauen geht hier auch nicht so
gut. Also wird alles dicht gemacht und dann laden sie ihren Kram in den
Kabinen ab. Diesen Luxus gewährt ihnen die IAA glücklicherweise. Sie
müssen ja auch den ganzen nächsten Tag wieder im Auto sitzen und
arbeiten. Zuerst gehen Fred und die Kollegen aber ins Bordrestaurant.
Das
Abendessen
dort
ist
der
traditionelle
Abschluss
jeder
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Wintererprobungsfahrt. Der Erprobungsleiter gibt ebenfalls traditionell
eine Runde Pils aus. Der Erprobungsleiter ist Uli, aber davon merkt man
eigentlich nicht viel. Er ist natürlich dafür verantwortlich, die Fäden
beisammenzuhalten, aber mit einem so erfahrenen Team wie mit
Stephan, Fred und den anderen hat er da nicht sehr viel zu tun. Nicht zu
vergessen
ist
natürlich
noch
die
sehr
beliebte
Aufgabe
des
Erprobungsleiters, den Bericht zu schreiben. Da hat ein so erfahrenes
Team dann den Nachteil, dass sich diese Aufgabe traditionell an
niemanden einfach so delegieren lässt.
Sie lassen in gemütlicher Runde die Erlebnisse der letzten Wochen
Revue passieren. Zum Beispiel als Stephan eines Abends den Rollladen
in seinem Zimmer schließen wollte – in ihrem Schwedenhaus – und
plötzlich von einem Paar großer Augen vor dem Fenster angestarrt
wurde. Nach dem ersten Schreck erkannte er, dass der Besitzer des
Augenpaars ein riesiger Elch war, der ungefähr genauso verdutzt in
Stephans Gesicht glotzte.
Wenn es im Winter sehr kalt wird, kommen immer wieder Elche in die
Nähe der Siedlungen. Trotzdem ist es was Besonderes, wenn man mal
einen zu sehen bekommt. Dass man dann plötzlich einem dieser
Riesentiere mit einem Meter Abstand in die Augen schaut, ist schon
etwas unerwartet.
Die langen Erprobungsfahrten haben immer einen Touch von Abenteuer,
das ist es ja, was Fred an diesem Job so liebt. Bei den Abschlussrunden
auf der Fähre gibt es immer neue Geschichten zu erzählen. Und sie sind
mit vielen Traditionen verknüpft, die die Gemeinde der Autotester wie Kitt
verbinden.
Als gegen zehn alle zu ihren Kabinen aufbrechen, geht Fred nochmal
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zum Auto. Er möchte noch kurz etwas nachlesen, um für die Tests, die
am
nächsten
Tag
anstehen,
gut
vorbereitet
zu
sein.
Die
Funktionsbeschreibung hat er aber in einem Schnellhefter im Auto liegen
lassen. Die Funktionsbeschreibung ist ein Dokument, in dem die
Algorithmen der ACC-Software mit allen Variablen und Konstanten im
Detail beschrieben sind.
Was er sieht, als er das Fahrzeugdeck der Fähre betritt, gefällt ihm nicht.
Ein Mann, groß, eher hager, fotografiert über die Motorhaube des einen
S10 in den Innenraum. Als er Fred kommen sieht, macht er sich aus dem
Staub. Er duckt sich nach wenigen Metern zwischen die abgestellten
Autos. Da ist jede Verfolgung sinnlos. Was sollte Fred auch tun? Er kann
ja niemandem verbieten, auf der Fähre Fotos zu machen, auch, wenn es
ihm nicht passt. Was er an der Entdeckung hauptsächlich ungemütlich
findet, ist die Tatsache, dass der Typ nicht einfach das Auto von außen
fotografiert hat. Das machen normalerweise die Leute, die sich freuen,
dass sie zufällig mal einen Erlkönig sehen. Das Verhalten des
Unbekannten lässt eher auf einen Profi schließen, allerdings machen
Fotos durch die Windschutzscheibe ja auch wieder weniger Sinn. Für
einen Erlkönigjäger sind doch das Interessanteste am Inneren eines
neuen Autos der Instrumententräger und die Mittelkonsole. Aus der
Perspektive, die er bei seinen letzten Fotos hatte, konnte er davon aber
nicht viel sehen, erst recht nicht mit der Tarnung. Nur sein Schnellhefter
lag oben auf dem Armaturenbrett. »So what?« schließt er den
Gedankengang ab, schnappt sich den Hefter und geht auch auf seine
Kabine, natürlich nicht ohne vorher nochmal zu checken, dass alles
bestens gesichert und abgeschlossen ist. Er kann sich ja nicht gut die
ganze Nacht neben die Autos setzen und darauf warten, dass der
seltsame Fotofritze dann doch nicht wiederkommt.
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
***
Franz ist enttäuscht und frustriert. Gleich nachdem das Schiff abgelegt
hatte, ist er wieder zu den Autodecks gegangen und hat die riesigen
Hallen nach den S10 abgesucht. Eine halbe Stunde hat er sich zwischen
den eng geparkten Autos durchgezwängt und sich dabei die Jacke total
versaut. Dann hat er endlich diese blöden Karren gefunden, um
festzustellen, dass da kaum was zu holen war. Jetzt, wo er wirklich
ausgiebig Zeit gehabt hätte ein paar nette Bilder zu machen, war alles
perfekt abgedeckt – zum Mäuse melken. Das einzige Ergebnis der
Unternehmung ist die Firmenadresse dieses Fred Buck. In einem Auto
lag ein Schnellhefter, auf dem eine Visitenkarte von diesem Buck klebte.
Also ist er mit nur sehr kleiner Beute wieder abgezogen und hat sich zu
seinem Ruhesessel begeben. Eine Kabine wollte er sich nicht leisten,
was er aber jetzt bereut. Der Ruhesessel hat seinem Namen überhaupt
keine Ehre gemacht. Ruhe sollte ja das Gegenteil von Lärm sein, ein
Versprechen, das seine Ruhestätte auf diesem Schiff nicht einlösen
konnte. Mit dem Wort Sessel assoziiert man gemeinhin ein gewisses Maß
an Bequemlichkeit, eine Eigenschaft, mit der dieser Ruhesessel ebenfalls
nicht glänzen konnte. Kurz, Franz hat während der Nacht kaum ein Auge
zugetan und fühlt sich am Morgen der Ankunft in Kiel entsprechend unfit.
Und wenn ein Tag schon mal bescheiden anfängt, dann geht er bei Franz
auch so weiter. Er schafft es zwar direkt nach der Fähre an den
Erprobungsautos dranzubleiben, obwohl die nicht langsam fahren. Aber
zu seinen Fotos von deren Innerem kommt er den ganzen Tag nicht. Man
merkt, dass die Ingenieure jetzt langsam auch die Nase voll haben und
endlich nach Hause wollen. Sie gehen nicht mehr jedem Fehler bis ins
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
letzte Detail nach, was häufige Stopps erfordern würde, um Messdaten
auszuwerten. Gerade auf solche Stopps hätte Franz aber gehofft.
Vielleicht ein Foto mit dem Teleobjektiv, wenn irgendwo auf einem
Rastplatz angehalten wird und mal eine Tür offen steht, oder noch
besser, eine Gelegenheit, wenn die Besatzung eines Autos mal um die
Ecke muss und für die kurze Abwesenheit nicht die komplette Tarnung
sauber über den ganzen Innenraum drapiert. Aber nein, die IAAler halten
während der ganzen Fahrt kaum mal an und bei der längsten Rast um die
Mittagszeit ist die Tarnung der Autos wieder perfekt.
Richtig übel ist aber etwas anderes. Gerade bei diesem Mittagsstopp wird
er erwischt. Die Tester sind gerade in der Raststätte verschwunden,
wahrscheinlich, um sich zum letzten Mal den Bauch mit Currywurst und
Pommes vollzuschlagen, bevor ihnen ihre Frauen und Freundinnen
daheim wieder gesunde Kost angedeihen lassen werden. Franz macht
sich also sofort auf, um zu sehen, ob er diesmal gute Fotos bekommt,
und dann kommt da der eine, den er schon in Schweden beobachtet hat,
dieser Fred, nochmal raus. Hat wohl irgendwas vergessen – der Depp.
Und Franz steht da im kurzen Hemd, eine Kamera in der Hand, die ihn
klar als Profi ausweist. Sie zögern kurz, sehen sich an, Fred beschleunigt
seinen Schritt wieder und Franz beschleunigt auch so gut er kann in die
andere Richtung. Er rennt zu seinem Auto und schaut erst zurück, als er
den Knopf für die Verriegelung der Fahrertür runterdrückt. Er ist froh zu
sehen, dass ihm der Typ nicht hinterhergelaufen ist. Trotzdem hat er
vermutlich das Kennzeichen seines Wagens gesehen. Das wird jetzt
wahrscheinlich in der ganzen Firma bekannt gemacht. An eine weitere
Verfolgung ist so nicht zu denken und überhaupt wird er jetzt nicht mehr
so leicht in die Nähe der S10-Versuchsautos kommen. Er muss sich
irgendwas einfallen lassen.
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***
Fred ist erstmal froh, wieder nach Hause zu kommen. Es ist Freitagabend
und sie sind den ganzen Tag gefahren. Jetzt nur noch die Autos abstellen
und dann nichts wie heim. Sie grüßen am Werkstor von IAA den Pförtner
und der öffnet ihnen die Schranke. Nach wenigen Metern fahren sie
rechts durch das große Rolltor in die sogenannte Einbauhalle, eine
Mischung aus Autowerkstatt und Elektroniklabor. Es gibt mehrere
Hebebühnen, die die Arbeit an den Versuchsfahrzeugen erleichtern, aber
vom Boden könnte man essen, so sauber ist alles. Hier werden keine
Ölwechsel gemacht oder Zylinderkopfdichtungen getauscht. Hier werden
Sensoren und Messtechnik ein- und ausgebaut und Messdaten
ausgelesen.
Danach steht Fred und seinen Kollegen jetzt aber nicht mehr der Sinn.
Beim Einfahren ins Werksgelände sind ihnen schon einige Kollegen
winkend entgegengekommen, die auf dem Weg ins Wochenende waren,
und genau dahin wollen sie jetzt auch. Die Ausrüstung, die Messdaten
von der Heimfahrt und der Erprobungsbericht können gut bis nächste
Woche warten. Fred nimmt nur die Tasche mit seinen Klamotten aus dem
Auto und geht in die Tiefgarage, wo sein eigenes Auto steht – ein Audi
A3.
Er verlässt das Werksgelände, biegt einmal links ab, und da ist es wieder.
Er greift automatisch zur Handbremse, um sich zu vergewissern, dass sie
nicht angezogen ist. Sein Audi ist nicht untermotorisiert mit 130 PS, aber
immer wenn er länger mit über 400 PS unterwegs war, hat er das Gefühl,
er würde mit angezogener Handbremse fahren. Man gewöhnt sich eben
an alles, auch an die tollsten Luxuslimousinen. Nach ein paar Monaten
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Einarbeitungszeit waren die für Fred zum Gegenstand seiner alltäglichen
Arbeit geworden – meistens jedenfalls. Hin und wieder war sie aber doch
noch groß, die Faszination.
All diese Gedanken schießen ihm nicht durch den Kopf, als er auf dem
Weg zu seiner Wohnung ist. Er freut sich darauf, Sandra wiederzusehen,
seine Freundin. Mit ihr wohnt er seit zwei Jahren in einer kleinen
Wohnung in Kornwestheim in der Nähe von Ludwigsburg.
Fred kann es kaum erwarten. Er rennt die letzten Stufen hinauf zur
Wohnung und schließt auf. Doch seltsam, alles ist dunkel. Es scheint
niemand daheim zu sein, nur der Geruch nach Essen passt nicht zu der
Szenerie. Fred versucht gerade einen klaren Gedanken zu fassen, da
fährt er vor Schreck zusammen. Sandra springt mit einem lauten Schrei
aus dem Badezimmer. Fred sitzt kreidebleich am Boden und bemüht
sich, seinen Puls wieder unter 200 zu drücken. Sandra krümmt sich
neben ihm am Boden – vor Lachen. Das ist ihr spezielles Spiel, sich
gegenseitig erschrecken, aber so fies, zur Begrüßung nach dreiwöchiger
Abwesenheit. Das ist schon der Hammer. Fred weiß immer noch nicht, ob
er lachen oder weinen soll.
Es dauert ein paar Minuten, bis er sich von dem Schrecken erholt hat.
Aber schließlich gibt es doch sehr viel zu erzählen. Während der
Erprobung hatten sie nur alle paar Tage telefoniert. Noch bevor Fred
beginnen kann, von seinen Abenteuern in der Ferne zu erzählen, platzt
es aus Sandra heraus. Sie hat schon mit Freunden über den nächsten
Urlaub gesprochen und schwärmt Fred von einer Woche am Gardasee
vor. Es soll schon in zwei Wochen losgehen. Da müsste es dort schon
schön warm sein und sie könnten den beginnenden Sommer so richtig
genießen. Dass Fred bei all den verheißungsvollen Schilderungen eher
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
still wird, bekommt sie zunächst gar nicht mit. Sie redet und redet über
die geplante Reise, wo Fred doch gerade von einer längeren Reise nach
Hause gekommen ist. Als er sie bittet, doch erstmal ankommen zu
dürfen, bevor er gleich wieder die nächste Reise planen solle, reagiert sie
eher verständnislos. Er solle sich doch freuen, dass sie alles organisiere
und so weiter und so fort. Beinah wären sie gleich in einem Streit
gelandet, aber sie schaffen es gerade noch, die Kurve zu kriegen und das
Thema zu vertagen. Das ist zwar nur eine Schmalspurlösung, aber aus
der Ferne betrachtet haben sie ja auch nur ein Schmalspurproblem.
Es wird dann doch noch ein schöner Wiedersehensabend. Sandra hat
schon Toast und Sahnemeerettich vorbereitet, und Fred hat ja auch was
von dem leckeren schwedischen Lachs mitgebracht. Nach ein paar
Bissen haben sie sich wieder lieb – Bissen ins Brot, Fred und Sandra
beißen sich nicht gegenseitig – und mit der Zeit wird Fred auch noch ein
paar Geschichten aus dem Norden los. Und dann geht es an diesem
Abend früher als sonst in die Kiste. Am nächsten Morgen wacht Fred
schon um sieben auf. Er döst noch etwas vor sich hin, betrachtet seine
Freundin neben sich und freut sich auf den gemeinsamen Urlaub am
Gardasee.
Sandra und Fred passen gut zusammen. Sie ist absolut unabhängig, hat
Germanistik studiert und sich danach einen guten Job in der
Personalabteilung eines großen Pharmakonzerns erarbeitet. Fred und
Sandra haben sich schon vor vielen Jahren bei einer Kletterausfahrt des
Alpenvereins kennengelernt und seitdem den Kontakt nicht mehr
verloren. Eine Beziehung wurde aus diesem Kontakt aber erst vor
ungefähr vier Jahren, als sie beide schon im Studium waren. Meist ist sie
die aktivere. Dann stellt sie Fred den gepackten Kletterrucksack oder den
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
Tourenrucksack vor die Füße, mit der Ansage, dass er eine halbe Stunde
oder auch eine Stunde Zeit habe, ebenfalls seinen Kram zu packen. Auf
diese Weise hat sie Fred schon an manchem Wochenende davor
bewahrt, vor dem Fernseher oder Computer zu vergammeln.
***
Franz ist nach dem Vorkommnis auf dem Rastplatz den Rest des
Heimwegs ganz gemütlich gefahren, obwohl ihm überhaupt nicht nach
Gemütlichkeit zu Mute war. Er war frustriert wegen des Misserfolges und
bemerkte, wie er sich immer mehr verkrampfte. Er hatte ja mehrere Tage
in die Verfolgung der S10 investiert, um noch ein paar gute Bilder oder
sonst noch geldwerte Informationen zu bekommen, und jetzt wollte er
einfach nicht loslassen. Er wollte nicht akzeptieren, dass es das gewesen
sein sollte mit diesem Projekt. Er wollte mehr wissen, aus professioneller
und privater Neugier und aus einem noch privateren Ehrgeiz heraus.
Genau dieser Ehrgeiz wirkte sich immer wieder negativ auf seine
Coolness aus. Also zergrübelte er sich auf seiner gemütlichen Heimfahrt
sein Hirn, wie er denn am besten an diesem Fred und seinen Kollegen
dranbleiben
könnte.
Langsam
wurde
ihm
dieser
Typ
immer
unsympathischer, obwohl der doch nichts anderes getan hatte als Franz
ein paar Tage Arbeit zunichte zu machen. Er spielte auf der langen Fahrt
jede Menge mehr oder weniger abstruse Szenarien durch, wie er noch
weitere Infos bekommen könnte. Während er so auf der mittleren Spur
durch die Kassler Berge zuckelte, wäre er beinah von einem besonders
»rücksichtsvollen« Verkehrsteilnehmer von der Straße gekegelt worden.
Er hörte nur noch ein dumpfes Röhren, da war die Kiste auch schon fast
vorbei. Dass es der peinlich aufgemotzte Cayenne war, den er schon in
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
Arjeplog gesehen hatte, entging Fred dennoch nicht. Das war aber auch
schon der größte Aufreger dieses Tages.
Als er endlich die Tür seiner Wohnung in Kornwestheim öffnet, schlägt
ihm der Geruch einer Wohnung entgegen, in der seit drei Wochen
niemand mehr war. Vermischt mit einer leicht beißenden Note. Er geht in
sein Wohn-Schlafzimmer und öffnet das Fenster. Er geht in die Küche.
Jetzt wird die beißende Note stärker und dominiert den abgestandenen
Geruch einer normalen Wohnung, in der seit drei Wochen niemand mehr
war. Franz' Wohnung ist anders. Er hat vergessen vor seiner Abreise den
Müll wegzubringen. Also entsorgt er dieses inzwischen eigentlich schon
schützenswerte Biotop jetzt und reißt alle Fenster auf. Bald ist seine
kleine Dachwohnung von frischer Luft durchströmt. Er kann sich also
gleich wieder an die Arbeit machen. Er hat eines der nur mittelmäßig
abstrusen Szenarien von der Heimfahrt zur Realisierung auserkoren.
Doch als er seinen Briefkasten öffnet und flüchtig seine Post durchsieht,
weiß er, dass er zuerst noch mit jeder Menge Ärger und Arbeit fertig
werden muss. Auf einer einfachen weißen Karte steht fein säuberlich mit
Schreibmaschine – wo bitte kann man überhaupt noch Farbband für
Schreibmaschinen kaufen? – getippt:
Sehr geehrter Herr Franz Schimmelbeck,
wir müssen Sie leider erneut darauf aufmerksam machen, dass Sie letzte
Woche Ihre Kehrwoche nicht gemacht haben. Bei Wiederholung drohen
wir Ihnen Konsequenzen an.
Hochachtungsvoll
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
Die Hausgemeinschaft
Das hat Franz gerade noch gefehlt, wegen Missachtung der Institution
»Kehrwoche« von der Hausgemeinschaftsinquisition verfolgt zu werden.
Dann lieber doch das Versäumte nachholen und das Treppenhaus eben
jetzt putzen. Das Schild, das jedem klar ersichtlich macht, wer mit der
Reinigung der allgemein zugänglichen Bereiche des Hauses an der
Reihe ist, hat man an dem kleinen Nagel neben seiner Wohnungstür
hängen lassen.
Diese Mühsal bringt er hinter sich. Immer in der Gewissheit, dass ihn je
ein aufmerksames Auge hinter den Wohnungstürspionen im ersten Stock
links und im dritten Stock rechts beobachtet. Sollte er sich eine kleine
Abkürzung vom vorgeschriebenen Kehrwochenweg erlauben, würden
sich die dort beheimateten Damen sicher sofort bemühen, ihn wieder auf
den rechten Weg zurückzuleiten.
Nach diesem Nachmittag fühlt sich Franz endgültig urlaubsreif. Ein paar
Tage im Süden und dann kann die Jagd nach dem S10 weitergehen. Er
hat auch schon eine vage Idee, wie er das am besten anstellen könnte.
***
Für Fred sind es zwei stressige Wochen. Nach der WE, so kürzen sie die
Wintererprobung ab, gibt es immer viel zu tun und schon übernächste
Woche soll sein Urlaub beginnen.
Zuerst müssen die Autos ausgeladen werden. Neben den schon
erwähnten Schneeschaufeln liegt noch einiger anderer Kram in den
Kofferräumen verstreut. Roman, der Herr der Einbauhalle, führt ein
strenges Regiment und duldet keine Unordnung. Er ist schon seit fast
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
dreißig Jahren bei der International Automotive AG und war einer der
Ersten, die begannen ABS-Systeme im Winter in Schweden zu testen. In
seinen ersten Monaten bei IAA hatte Fred beinahe Angst vor Roman und
seiner brummigen Art, aber mit der Zeit lernte er seine absolute
Zuverlässigkeit schätzen und es blieb ihm nicht verborgen, dass sich
hinter der etwas groben Fassade ein gutmütiger Mensch versteckte. Fred
hätte das so allerdings nie gesagt. Er hätte gesagt, Roman sei in
Ordnung oder ganz ok. Dennoch oder gerade deshalb will er nicht mit
dessen Ordnungsliebe in Konflikt geraten und gibt sich die größte Mühe,
Verlängerungskabel, Starthilfegeräte, Adapterstecker, Klebeband und so
weiter in ihre jeweils angestammten Schrankfächer zurückzulegen.
Als Nächstes müssen die Daten, die sie während der letzten Wochen
gesammelt haben, gesichert und ausgewertet werden. Ähnlich wie in der
Einbauhalle in Schweden kann er auch hier die Messtechnik der
Versuchsfahrzeuge direkt mit dem Computernetzwerk
verbinden
und
so
recht
komfortabel
die
der Firma
Messdateien
auf
Netzwerkverzeichnisse kopieren. Dort sind sie sicher, weil sich die ITAbteilung um regelmäßige Backups kümmert. Früher mussten alle
Messungen mühsam per Diskette oder später USB-Stick kopiert werden.
Mühsam – wegen der großen Datenmengen – und heute verboten.
Disketten und USB-Sticks sind bei IAA nicht mehr erlaubt. Zu leicht ließen
sich damit unbemerkt vertrauliche Informationen aus der Firma schaffen.
Das Verbot wird sowohl mit Taschenkontrollen am Werkstor als auch mit
Software überwacht, die die Benutzung von Wechseldatenträgern erkennt
und automatisch der IT meldet.
Nach ein paar Minuten sind die wertvollen Daten also auf das Laufwerk
kopiert und die eigentliche Arbeit beginnt. Die Messungen müssen
ausgewertet werden. Da muss das ganze Team zusammenarbeiten, das
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heißt, dass nicht nur Fred, sondern auch Stephan und Uli die nächsten
Tage hauptsächlich am Schreibtisch verbringen werden. Jede einzelne
Messdatei muss mit der entsprechenden Software geöffnet werden.
Anhand des Kommentars, den der Ingenieur eingetragen hat, als die
Messung aufgezeichnet wurde, kann man erkennen, auf was man bei der
Auswertung zu achten hat. Tritt zum Beispiel während der Fahrt ein
Fehler auf, wird eine Messung ausgelöst und im Kommentar zumindest
eingetragen, dass ein Fehler der Grund für die Messung war. Wenn
bewusst ein bestimmter Test gefahren und dokumentiert werden soll, wird
ebenfalls gemessen. Im Kommentar steht dann z. B. die Nummer des
Tests, unter der dieser im sogenannten Fahrmanöverkatalog zu finden
ist. So weit die Theorie zum Thema Kommentare in Messdateien. In der
Praxis sind die Kollegen oder auch man selbst ab und zu einfach zu
bequem für vernünftige, aussagekräftige Kommentare, was dann zu
Unmut bei der Auswertung führt. Je nach Art der Messung muss man
dann ein Messsignal nach dem anderen als Graph auf den Monitor holen
und analysieren – die Fahrzeuggeschwindigkeit, den Status des
Steuergeräts, einen eventuellen Fehlercode und so weiter. Eine recht
mühselige Angelegenheit – vor allem, wenn man nicht so recht weiß,
wonach man sucht. Besser ist es, wenn die Daten aus der
Videomesstechnik kommen. Dann kann man zu reinen Messdaten auch
noch einen kleinen Videofilm sehen, der von einer Kamera hinter dem
Rückspiegel des Versuchsautos stammt. In dem Videobild sind die
Objekte markiert, die der Radarsensor des ACC-Systems erkennt, und
daneben werden die wichtigsten Systemdaten angezeigt. Sobald diese
Messtechnik läuft, werden ständig die entsprechenden Daten in einem
sogenannten Ringspeicher abgelegt, so dass man beim Auslösen der
Messung auch noch Daten abspeichert, die schon eine Minute alt sind.
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Den Rest der Woche sitzt das Team also im Großraumbüro und brütet
über den Messdaten und dem Erprobungsbericht, der alle Ergebnisse so
zusammenfassen soll, dass man sie möglichst auch in zwanzig Jahren
noch versteht.
Das Nette an diesen Zeiten im Büro ist, dass man da auch die Kollegen
mal wieder trifft, die mit am gleichen Projekt arbeiten. Das sind
hauptsächlich die Software- oder Funktionsentwickler, die – kurz gesagt –
die Ergebnisse der Applikationsingenieure in neue Softwarestände für
das Projekt fließen lassen.
Das Projekt hat also die Aufgabe, das ACC an die Gegebenheiten beim
neuen
Hispano-Suiza
San
Remo
anzupassen.
Dabei
sind
die
Schnittstellen zu den anderen Steuergeräten im Auto, zum Beispiel der
Motorsteuerung oder dem ESP, eine der Hauptbaustellen. In den Autos
von heute sind diese Steuergeräte über das Controller Area Network
miteinander vernetzt – auch CAN-Bus genannt. Über dieses Netzwerk
tauschen die Steuergeräte Informationen aus. Zum Beispiel sind an das
ESP Raddrehzahlsensoren angeschlossen, aus deren Informationen das
ESP-Steuergerät die Geschwindigkeit des Fahrzeugs berechnet. Diese
Information versendet das ESP dann auf dem CAN, so dass sie
beispielsweise vom Kombiinstrument dem Fahrer angezeigt werden
kann. Auch das ACC muss natürlich die aktuelle Geschwindigkeit des
Autos kennen, um die Tempomatfunktion zu gewährleisten. In der
sogenannten CAN-Matrix ist festgelegt, welches Steuergerät welche
Informationen in welchem Format sendet. Und diese CAN-Matrix ist eben
nicht genormt, sondern bei praktisch jedem Auto unterschiedlich. Deshalb
muss hier Anpassungsarbeit gemacht werden. Neben dem CAN gibt es in
vielen Autos noch mindestens ein weiteres Netzwerk, über das die
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Diagnose läuft, dahinter verbergen sich auch die Funktionen, die in der
Werkstatt gebraucht werden, um Fehler an den immer komplexeren
Automobilen moderner Machart zu finden. Beim S10 gibt es dabei noch
eine Besonderheit. Wenn ein Exemplar des S10 in der Fabrik fertig
zusammengebaut ist, wird noch am Fließband mit einem geheimen
Diagnosebefehl eine Prozedur gestartet, in deren Verlauf sich alle
verbauten Steuergeräte mit einem Passwort bei einem zentralen
Steuergerät anmelden. Das Passwort wird nach einem ebenfalls
geheimen Verfahren berechnet. Der ganze Aufwand soll zweierlei
bewirken: Man kann ein Steuergerät, zum Beispiel eine Motorsteuerung,
nicht ohne weiteres aus einem S10 aus- und in ein anderes Exemplar
einbauen, weil dann die Passwörter nicht mehr stimmen. Damit soll ein
durchaus
beliebter
Geschäftszweig
der
organisierten
Kriminalität
abgeschnitten werden. Teilweise werden keine ganzen Autos mehr
geklaut, sondern nur noch begehrte und teure Ersatzteile, oder geklaute
Autos werden nicht im Ganzen weiterverschachert, sondern eben auch in
Teilen, wobei die Elektronik am meisten bringt. Der zweite Effekt betrifft
die Tuning- und Kilometerstandjustagebranche. Durch die eindeutige und
gesicherte Identifizierung der Systeme in einem Auto kann man, wie
schon besprochen, Steuergeräte nicht einfach austauschen, wenn man
die Verschlüsselungsmechanismen nicht kennt. Das bedeutet auch, dass
man das sogenannte Chiptuning nicht durchführen kann, weil dabei im
Wesentlichen die Originalmotorsteuerung durch eine veränderte Version
ersetzt wird. Eine getunte Software aufzuspielen geht ebenfalls nicht, weil
dadurch das Passwort für das Zentralsteuergerät ungültig würde. Diese
Auswirkungen der Verschlüsselung stellen auch einen weitgehenden
Schutz vor Manipulationen des Kilometerstands dar. Jeder, der schon
mal ein gebrauchtes Auto gekauft oder verkauft hat, weiß, dass ein
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niedriger Kilometerstand bares Geld wert ist, auch wenn das Auto in der
Realität schon viel mehr gefahren wurde.
Der S10 soll in dieser Hinsicht Vorreiter bei dem bayrischen
Fahrzeughersteller werden, unter dessen Konzerndach die Marke
Hispano-Suiza läuft. Wenn die Einführung des komplizierten Systems bei
dem Luxusfahrzeug, das nur in sehr kleinen Stückzahlen gebaut wird,
geklappt
hat,
wird
der
gleiche
Mechanismus
auch
in
den
Großserienmodellen des gleichen Herstellers angewendet.
Am Donnerstag der zweiten Woche nach der WE kommt bei Fred
jedenfalls langsam Urlaubsstimmung auf. Es sieht so aus, als würde er
mit seinem Teil der Erprobungsnachbereitung halbwegs fertig.
Dann muss er nur noch am Freitag die Gruppensitzung überstehen, ohne
dabei vor Langeweile in ein dreiwöchiges Koma zu fallen. Bei diesen
äußerst beliebten Veranstaltungen, die jede Woche immer freitags
stattfinden, berichtet Freds Gruppenleiter, also sein direkter Chef, aus der
grauen und neblig dumpfen Welt des Managements. Dabei geht es zu
90% um Themen, die einen stark narkotisierenden Effekt auf Fred und
die meisten seiner Kollegen haben, zum Beispiel um die neueste
Prozessverbesserungsinitiative. Jeder Mitarbeiter »darf« fünf Vorschläge
machen,
wie
ihre
Applikations-
und
Projektmanagementprozesse
effektiver gemacht werden könnten, na wunderbar. In diesem Stil geht es
in der Sitzung gerade weiter. Alle Teams sollen von den kürzlich
absolvierten Erprobungen berichten. Auch dieser Punkt ist immer sehr
beliebt. Was lief gut, was lief schlecht? Die letzteren Themen nehmen
naturgemäß meist mehr Raum ein als die gut gelaufenen. Dann kommt
der einzige spannende Punkt der Tagesordnung an die Reihe – der
Bericht zum Stand der Projektakquise. Das ist natürlich schon
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
interessanter. Hier geht es darum, welche Projekte für die Gruppe in
nächster Zeit anstehen könnten, wenn die Verkaufsverhandlungen
erfolgreich abgeschlossen werden können. Es macht für die Truppe
natürlich einen gewaltigen Unterschied, ob ein neuer Rolls Royce oder
die Neuauflage des Fiat Panda das wahrscheinlichere Nachfolgeprojekt
ist,
auch
wenn
man
als
Applikateur
Luxusautos
natürlich
rein
professionell und ganz cool sieht. Der letzte Tagesordnungspunkt des
Meetings hat Fred also gerade rechtzeitig wieder aus der Narkose
erwachen lassen. Wäre ja auch peinlich gewesen, wenn er als Einziger
schnarchend im Besprechungsraum zurückgeblieben wäre.
Jetzt möchte er nur noch kurz die letzten Mails checken und dann geht es
ab in den Urlaub.
In puncto Maileingang gibt es ja unterschiedliche Charaktere. Da sind
zum einen die Cherry Picker, die tausende Mails ungelesen in ihrem
Posteingang haben und immer nur die wichtigsten bearbeiten, in
ständigem Kampf um Überblick. Fred dagegen gehört zu der Fraktion,
der ein Posteingang mit mehr als zehn ungelesenen fast schon
körperliche Schmerzen bereitet. Wahrscheinlich ist diese genetische
Ausstattung in Zeiten zunehmender Nutzung Sozialer Medien mit
unzähligen News-, Activity- oder Microblogstreams ein evolutionärer
Nachteil. Das alles überlegt sich Fred in diesem Moment nicht. Er hasst
es, einen vollen Posteingang zu haben, und vor dem Urlaub möchte er
ihn am liebsten ganz leer haben. Vor der Gruppensitzung war er schon
bei null ungelesenen Mails. Jetzt sind schon wieder drei neue da. In einer
kündigt Roman an, dass am Montag Benzin für die Tankstelle der
Einbauhalle geliefert wird. Er bittet darum, die Versuchsautos nicht in
diesem Bereich abzustellen, damit der Tankwagen rangieren kann. Die
zweite kommt von einem Kollegen, der einen Versuchsbericht verschickt,
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der interessiert Fred jetzt nicht mehr so sehr und er betrifft ja sein Projekt
auch nicht direkt. Die dritte Mail ist etwas seltsam:
Von: [email protected]
An: [email protected]
Gesendet: Freitag, 13. April 2007, 14:38 Uhr
Hallo Herr Buck,
wir brauchen dringend Informationen zu Ihren Projekten, dem S10 und
anderen. Rufen Sie uns sofort an: 0169 / 6783921012!
Viele Grüße
Freunde
In der Tat zumindest etwas seltsam. Fred hat schon den Mauszeiger auf
den Löschen-Button gestellt. Aber der reine Spam kann es auch nicht
sein. Immerhin wissen seine neuen »Freunde«, dass er an dem S10Projekt arbeitet. Aber er ärgert sich über den Befehlston. Also wird die
Mail wieder – und das hasst Fred wirklich – auf »ungelesen« gesetzt. Er
wird dann irgendwann nach seinem Urlaub nochmal über einen Anruf
nachdenken. All die anderen Fragen, die sich ihm bei dieser
ungewöhnlichen Ansprache aufdrängen könnten, sind anscheinend auch
schon im Wochenende. Jedenfalls wird sich Fred erst in ein paar Tagen
mit ihnen beschäftigen müssen.
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***
Es ist Samstagvormittag und die Urlaubsreise beginnt. Fred sitzt am
Steuer und fühlt sich wie Captain Kirk auf der Brücke der Enterprise.
Neben ihm sitzt Sandra alias Lieutenant Ohura.
Vor ein paar Monaten hat sich Fred einen Traum erfüllt. Er hat einen alten
VW Bus gekauft, einen T3, Baujahr 1986, also den eher eckigen, mit 2,1l
Hubraum, dem wassergekühlten Boxermotor und Automatikgetriebe.
Trotz seiner Farbe, die man als Bundeswehrbraunmetallic beschreiben
könnte, ist dieses Fahrzeug der perfekte Urlaubsgleiter. Der Motor
blubbert fast so wie der Boxer eines älteren Porsche, obwohl er natürlich
nicht sechs, sondern nur vier Zylinder hat, und er hat ausreichend
Leistung. Die Multivan-Ausstattung umfasst neben einer Rücksitzbank,
die sich in eine Liegefläche umbauen lässt, auch Fahrer- und
Beifahrersitze mit je zwei Armlehnen. Wer darauf Platz nimmt, hat sofort
dieses Enterprise-Feeling.
Sie cruisen gemütlich über die A7 nach Süden und dann über den
Fernpass nach Österreich. Von Innsbruck nehmen sie die alte Brenner
Bundesstraße. Das hat Tradition. Diese Strecke fährt Fred seit er mit 16
zum ersten Mal mit Freunden an den Gardasee gefahren ist. Damals war
Geldsparen die oberste Priorität nach möglichst viel Spaß haben, und
deshalb kam die teurere Mautstrecke über die Autobahn mit der
Europabrücke überhaupt nicht in Frage.
Am frühen Nachmittag sind sie auf dem Brennerpass. Dort treffen sie die
Freunde, mit denen sie den Urlaub verbringen wollen. Cindy und Bert
sind aus Ingolstadt gekommen. Die beiden heißen eigentlich Hubert und
Katrin. Aber Hubert sieht aus wie Bert aus der Sesamstraße, bis auf die
Gesichtsfarbe, die ist bei Hubert natürlich nicht gelb. Weil aber Katrin
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nichts mit Ernie gemein hat, musste sie eben in Cindy umbenannt
werden. Stefan und Alexandra sind in München abgefahren. Sie heißen
im richtigen Leben Stefan und Alexandra. Die vier sitzen schon vor ihrer
Stammmetzgerei, wenn es so etwas geben kann, und essen die sehr
traditionelle Urlaubsanfangs-Mortadella-Semmel. Nach der Stärkung geht
die Fahrt weiter nach Bozen, Trento und von da nach Arco, das etwas
nördlich des Gardasees liegt. Aus dem Sarcatal kommend überquert man
am Ortseingang den gleichnamigen Fluss. Danach biegt man gleich
rechts ab und folgt der kleinen gewundenen Straße, die parallel zur Sarca
verläuft. Den ersten Campingplatz »Camping Arco« lassen die Freunde
mit einem leichten Naserümpfen links – eigentlich rechts – liegen, so will
es auch hier wieder die Tradition. Man geht immer auf den Camping Zoo.
Der hat seinen Namen von ein paar erbärmlichen Käfigen, in denen
einige bemitleidenswerte Tiere ein Dasein fristen, das nicht nur
eingefleischten Tierschützern die Tränen in die Augen treibt. Doch die
Tradition ist stärker als das Mitleid. Also biegt die kleine Karawane in die
Einfahrt von Camping Zoo ein. Der Platz ist schön gelegen. Auf der einen
Seite ist er durch das Flussbett begrenzt, auf der anderen erhebt sich
imposant der Monte Colodri mit seinen knapp 300 Meter hohen Felsen.
99 Prozent der Leute auf dem Camping Zoo sind zum Klettern und oder
zum Mountainbiken da. Die Surfer, die die dritte große Fraktion am
Nordende des Gardasees stellen, bleiben meist in Torbole, wo es
Campingplätze direkt am See gibt. Die schon oft erwähnte Tradition mag
recht borniert erscheinen, für Fred bedeutet sie einen unbeschwerten
Urlaub. Er hat hier nicht den Anspruch Neues zu entdecken. Er möchte in
quasi gewohnter Umgebung Spaß mit seinen Freunden haben und Sport
treiben. Die einzige Evolution der Tradition ist der Bus. In den ersten
Jahren hausten sie in den damals noch sehr modernen Kuppelzelten.
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Dann wurden die Zelte größer und jetzt haben sie ein festes Dach über
dem Kopf. Auch die beiden anderen Paare müssen nicht mehr mit der
Isomatte auf dem Boden schlafen. Das ist ihr Fortschritt in Sachen LagoUrlaub.
Die Tage beginnen immer mit einer sehr entscheidenden Frage: Klettern
oder Mountainbiken? Bert und Stefan sind die Biker. Fred ist eher der
Kletterer. Trotzdem verbringen fast immer alle den ganzen Tag
zusammen;
auch,
wenn
sich
die
Frauen
manchmal
über
das
Zusammenglucken beschweren.
Fred findet die Klettersteige rund um Arco toll. Die bieten ihm mit ihren
Drahtseilen ein subjektives Maß an Sicherheit, und dennoch kann man
sich auf extrem schweren Routen austoben. Der Klettersteig in Sarche
gefällt ihm zum Beispiel sehr gut. Er geht durch eine ungefähr 300 Meter
hohe, fast senkrechte Wand. Das Drahtseil ist an einigen Stellen mitten
über glatte Felsplatten gespannt. Jeder Kletterer trägt natürlich einen
Gurt, einen Helm und ein sogenanntes Klettersteigset, das aus zwei
Karabinern besteht, die mit einem Seil verbunden sind. Dieses wiederum
läuft durch eine Bremse. Ein Karabiner ist immer in das Drahtseil des
Steigs eingehängt. Im Fall eines Sturzes rutscht der Karabiner daran bis
zur nächsten Befestigung. Dann wird das Seil bis zum zweiten Karabiner
durch die Bremse gezogen, was die Wucht des Sturzes stark dämpft und
so die Belastung für den Körper und auch das Material reduziert. Fred hat
das noch nie erlebt, was auch besser ist, denn trotz der guten Sicherung
ist ein Sturz am Klettersteig nicht das, was man sich so im Allgemeinen
wünscht. Der Sarche-Steig, der eigentlich einen anderen Namen hat, den
sich Fred aber noch nie merken konnte, erfordert viel Kraft, weil er so
wenig Tritte und Griffe bietet. In einigen Passagen bleibt dem
Durchschnittskletterer nichts als das Eisenseil. Außerdem ist er saumäßig
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ausgesetzt, was auf Hochdeutsch bedeutet, dass er extreme Tiefblicke
bietet. Das ist der Aspekt, der Fred fast am meisten reizt. Er ist nämlich
nicht annähernd so schwindelfrei, wie Lieschen Müller das von einem
Kletterer erwarten würde, der nach einer harten Tour verschwitzt, aber
unheimlich cool mit klimpernder Ausrüstung am Gurt in einem Biergarten
aufkreuzt. Und weil er eben nicht so abgebrüht ist, freut sich Fred, wenn
er seine Angst besiegen kann. Bei den Klettersteigen, die mit fixen
Drahtseilen gesichert sind, kriegt er das eigentlich immer hin. Bei
Wänden, die mit dem eigenen Seil abzusichern sind, gelingt ihm das
meist nicht. Deshalb hat er insgeheim auch vor der Colodri-Ostwand
Angst, die direkt an den Campingplatz grenzt.
Da trifft es sich gut, dass er der Kletterer der Gruppe ist. So kann er die
Klettervorschläge steuern. Und an diesem Tag setzt sich sein Vorschlag
durch, an die Platten am See zu fahren. Fred weiß auch nicht, wie dieser
Klettergarten wirklich heißt – Corno di Bò. Aber alle sagen »die Platten
am See«.
Die Freunde fahren alle zusammen in Freds Bus los. Die Strecke von
Arco nach Riva sind sie schon gefühlte tausendmal gefahren, oft auch mit
dem Fahrrad. In Riva halten sie sich links Richtung Torbole, das sie
anschließend durchqueren, um am östlichen Seeufer entlangzufahren.
Die Straße ist relativ eng und verläuft am steilen Seeufer. Nach dem
Ortsausgang von Torbole fährt man noch durch einen Tunnel und folgt
weiter der Uferstraße. Beim zweiten Tunnel ist man schon angekommen.
Direkt über den Tunneleingang zieht sich eine riesige, relativ stark
geneigte Felsplatte. Fred fährt auch noch durch diesen Tunnel, denn
Parkplätze gibt es nur wenige und die liegen eben dahinter. Dann
machen sie sich zu Fuß auf den Weg zurück durch den Tunnel. Das ist
wahrscheinlich der gefährlichste Teil des Klettertags, denn die Röhren an
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
der Uferstraße sind eng und unbeleuchtet.
Es ist der erste Tag des Urlaubs und alle wollen es erstmal ruhig
angehen lassen. Deshalb steigen sie am Tunnelausgang angekommen
gleich ein paar Meter ab, bis sie den kleinen Kiesstrand des Sees
erreichen. Jetzt ist Zeit für eine kleine Stärkung und ein bisschen
ausspannen. Sie liegen in der Sonne oder im Schatten der Zypressen
und lassen es sich gut gehen, dösen etwas, essen, ratschen. Die Sonne
scheint angenehm warm, aber nicht heiß. Das finden alle, nicht nur Fred,
der den Winter am Polarkreis noch in den Knochen hat. Eine leichte Brise
wiegt sanft die Bäume.
Erst zwei Stunden später findet Freds zunehmendes Quengeln Gehör,
und Stefan erklärt sich zu einer ersten Klettertour bereit. Die
Kalksteinplatte ist ungefähr 30 Meter breit und 120 Meter hoch. Darüber
sind ein paar Risse und Haken verteilt. Für sehr gute Kletterer gähnend
langweilig. Fred ist kein sehr guter Kletterer. Ihm macht es Spaß, hier zu
klettern, und er liebt die Szenerie direkt am Ufer des Gardasees.
Mit etwas Klettern, viel Quatsch, Spaß und sehr relaxed vergeht der
Nachmittag. Am frühen Abend kann Fred Sandra motivieren, ihn bei einer
Tour durch die ganze Wand zu begleiten. Bis dahin waren alle Touren
des Tages nach 30 oder 40 Metern zu Ende. Aber man kann auch weiter
klettern, bis man ganz oben einen Gittermast erreicht. Von dort kann man
auf einem kleinen Pfad wieder zum Fuß der Wand laufen. Aber so weit
sind die drei noch nicht. Fred hat sich in das Doppelseil eingebunden und
macht sich fertig für den Vorstieg. Ein Doppelseil besteht aus zwei Seilen,
die aber parallel benutzt werden. Eigentlich ist die Wand relativ flach
geneigt und eigentlich ist der Kalkstein auch recht griffig, was nicht
bedeutet, dass es große Griffe gäbe. Im Gegenteil, an manchen Stellen
gibt es eigentlich gar keine Griffe. Man tritt mit den Kletterschuhen in
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
kleine Dellen des Steins, stützt sich mit den Händen an der glatten Wand
ab und verlässt sich auf ausreichende Reibung zwischen Gummisohle
und Stein. Im untersten Teil ist dieser Stein allerdings durch die vielen
Kletterer, die hier ihrem Sport nachgehen, schon recht glatt poliert. Hier
hilft ein senkrechter Riss, der Griffe und Tritte bietet. Diesem Riss folgt
Fred. Nach ein paar Metern erreicht er die erste Zwischensicherung – ein
Haken, der in den Stein einbetoniert ist, sehr solide. Er hängt den einen
Karabiner einer Expressschlinge in den Haken. In den zweiten klinkt er
beide Stränge des Doppelseils ein, das er hinter sich herzieht. Erst jetzt
ist er richtig gesichert. Sandra hat das Seil mit einem Halbmastwurf durch
einen Karabiner an ihrem Gurt geschlungen und gibt immer gerade so
viel Seil nach, dass Fred ungehindert weitersteigen kann. Im Fall eines
Sturzes würde Fred unterhalb der Zwischensicherung vom Seil
aufgefangen. Sandra könnte diesen Sturz wegen der Klemmwirkung des
speziellen Knotens an ihrem Karabiner ohne Probleme abfangen. Das ist
der Vorstieg. Fred klettert weiter und hängt alle paar Meter Sicherungen
in die vorhandenen Haken ein. Nach fast 40 Metern erreicht er ein
schmales Band. Hier macht er Stand. Er verbindet seinen Klettergurt
direkt mit dem massiven Haken, der hier am Fels angebracht ist. Dann
ruft er Sandra zu, dass er fixiert sei. Sie gibt das Seil aus dem
Sicherungskarabiner frei. Nach wenigen Minuten hat Fred an seinem
Standplatz eine gleichartige Sicherung für Sandra eingerichtet. Sie
beginnt mit dem Nachstieg. Ihr Sicherungsseil kommt jetzt von oben.
Sollte sie stürzen, würde sie sofort den Zug des Seiles an ihrem
Klettergurt spüren und könnte dann die Tour an der gleichen Stelle
fortsetzen.
Auf
ihrem
Weg
zu
Fred
sammelt
sie
an
den
Zwischensicherungen dessen Expressschlingen wieder ein.
Während Sandra klettert, sitzt Fred bequem auf seinem Felsband und hat
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
etwas Muse, den Augenblick zu genießen. Die Sonne steht jetzt schon
etwas tiefer und sorgt für eine angenehme Wärme auf seiner Haut. Sie
taucht die Umgebung in einen goldenen Farbton. Der Gardasee glitzert;
auf ihm ziehen unzählige Surfer ihre Bahnen, die die Ora nutzen.
Praktisch jeden Nachmittag macht sie das Nordende des Sees zum
Surferparadies. Ein kräftiger Wind aus Süden, der durch das sich
verengende Tal beschleunigt wird. Fred hat Richtung Norden über einige
Zypressen hinweg einen wunderbaren Blick auf Riva und Torbole, die
durch den Monte Brione getrennt sind. Aber noch mehr als den Anblick
liebt er den typischen Klettergeruch, den er jetzt wieder wahrnimmt. Der
wird bestimmt durch den Geruch des Kalksteins und des Staubs, der sich
in allen Spalten und Löchern des Felses sammelt, vermischt mit dem
Geruch des Schweißes, der eben zum Sport gehört. Dieses Aroma ist
hier in Italien sehr ähnlich wie im Altmühltal, wo Fred als Jugendlicher das
Klettern gelernt hat. Für ihn ist er untrennbar mit Begriffen wie
Freundschaft, Freiheit und sportlicher Spannung verknüpft.
Fred betrachtet seine Freundin, die gleichmäßig und bedacht ihre Füße in
die winzigen Trittmulden setzt und so sicher näherkommt. Nur noch
wenige Züge, dann kann er sie mit einem Kuss begrüßen. Danach
werden wieder Karabiner eingeklinkt und gesichert, Bandschlingen
gewähren etwas Bewegungsfreiheit. Bevor Fred den Vorstieg der zweiten
Seillänge beginnt, greift er in seinen Chalkbag und verteilt die Magnesia
an seinen Händen. Das ist bei dieser Tour zwar einigermaßen sinnlos,
weil es eh keine Griffe gibt, aber Fred ist so an diese Handgriffe gewöhnt,
dass er nicht darüber nachdenkt. Außerdem sieht es immer irgendwie
wichtig aus, in die kleine Stofftasche an seinem Gurt zu greifen.
Der Standplatz nach der zweiten Seillänge ist deutlich weniger bequem.
Hier gibt es kein Band zum Sitzen, man kauert sich einfach an die Platte
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oder steht gegen den Zug einer Bandschlinge gestemmt darauf. Nach der
dritten Seillänge ist das Ende der Tour beim Gittermast erreicht. Sandra
und Fred beschließen, nicht den Abstieg zu Fuß zu nehmen, sondern
über die Platten abzuseilen, aus reinem Genuss. Sie lösen das Seil von
ihren Gurten. Hier oben gibt es ausreichend Platz, sich ohne Gefahr zu
bewegen. Fred legt die beiden Stränge des Doppelseils um einen Fuß
des Masts und verbindet sie mit einem Achterknoten. Die beiden losen
Enden des Seils werden ebenfalls mit einem Achter verknotet. Dann
nimmt er das ganze Seil in weiten Schlingen auf, bevor er es über die
Platten nach unten wirft. Mit Hilfe ihrer Abseilachter können die beiden
jetzt an dem Doppelstrang nach unten rutschen, das heißt sie laufen
quasi rückwärts die Platten hinunter und werden dabei durch das Seil
gehalten. Nacheinander gelangen sie so wieder zu ihrem zweiten
Standplatz. Sie sichern sich an dem dort vorhandenen Haken. Dann
beginnt Fred das Seil abzuziehen. Er löst den unteren Knoten und zieht
an einem der Enden. Das ist immer etwas spannend, denn wenn sich das
Seil unterwegs irgendwo verklemmt hat und sich nicht abziehen lässt,
wird es kompliziert. Diesmal klappt es aber ohne Probleme. Bald kommt
der obere Knoten in Sicht und Fred wundert sich, weil da irgendwas
dranzuhängen scheint. Als er den Knoten direkt vor sich hat, sieht er,
dass daran ein Zettel mit Klebeband befestigt ist. Sandra bemerkt den
besorgten Blick ihres Freundes nicht, als dieser das Papier entfaltet und
liest. Jetzt ist sie mit dem grandiosen Ausblick beschäftigt. In einer
wahrscheinlich absichtlich krakeligen Handschrift steht auf dem Papier:
Hallo Fred,
ruf endlich an: 0169 / 6783921012!
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
Das ist jetzt schon die zweite Aufforderung. Wir haben nicht so viel
Geduld!
Viele Grüße
Freunde
Als Fred die Telefonnummer sieht, stellen sich ihm die Nackenhaare auf.
Er erkennt die Nummer aus der Mail, die er am Tag vor dem Urlaub in der
Firma erhalten hat. Er hatte diese Mail als eine geschäftliche Anfrage
verstanden. Jetzt wird ihm plötzlich klar, dass es hier anscheinend nicht
nur um das Geschäft geht, sondern, dass ihn da jemand persönlich
anspricht, in einer leicht bedrohlichen Art und Weise. Denn wer einen
Zettel an ein Kletterseil hängen kann, der kann auch ganz andere Dinge
mit diesem Seil anstellen.
***
Franz sitzt in seinem Volvo und freut sich. Er hat sich zwei Wünsche auf
einmal erfüllt. Er fährt in den Urlaub und er wird Julia wieder treffen. Das
einzige kleine Problem besteht darin, dass Julia noch nicht weiß, dass sie
mit Franz in den Urlaub fährt. Aber vielleicht muss sie das ja auch gar
nicht erfahren.
Franz sitzt jedenfalls in seinem Volvo und fährt gefühlt Richtung Süden,
auch wenn es geografisch erstmal eher nach Osten geht. Er tuckert die
A8 von Stuttgart Richtung München entlang. Den Flaschenhals rund um
den Albaufstieg, an dem es oft Staus gibt, hat er schon hinter sich. Jetzt
ist die Autobahn eher weniger stark befahren, und Franz beginnt sich zu
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
entspannen. Er freut sich auf die Fahrt an München vorbei, weiter
Richtung Rosenheim und dann nach Österreich, Saalfelden, Zell am See.
Wo andere ihr Urlaubsziel erreicht haben, hält es Franz nicht. Er fährt von
Zell noch das kurze Stück nach Fusch. Das Wichtigste an Fusch ist für
Franz der Zusatz »an der Großglocknerstrasse«. Für normale Leute ist
Fusch
nicht
unbedingt
ein
Urlaubsort
erster
Wahl.
Für
einen
Erlkönigjäger, der sowieso nie richtig Urlaub machen will, ist es erste
Wahl – wegen der Großglocknerstrasse. Dabei handelt es sich um eine
der längsten, wenn nicht um die längste, ununterbrochene Gefällestrecke
in den Alpen. Das zieht die Testfahrer verschiedener Autohersteller an,
die hier Bremsen und damit verbundene Systeme ihrer Fahrzeuge testen.
Franz hat alles auf eine Karte gesetzt und Julia einfach eingeladen, ein
paar Tage mit ihm in Fusch zu verbringen, um Autos zu jagen. Vielleicht
täte sich ja etwas Interessantes auf. Dafür ist der Großglockner eigentlich
immer ganz gut gewesen – etwas Interessantes auftun. Wer nicht wirklich
exzellente Beziehungen hat, kann kaum abschätzen, wann welche
Prototypen dort sein werden. Aber mit etwas Glück und Geduld, wie man
sie am besten im Urlaub aufbringt, fährt einem dann doch manchmal ein
lohnendes Objekt vor die Linse. Außerdem ist es gerade Anfang Mai und
Franz hat im Internet nachgelesen, dass die Passstraße seit zwei Tagen
geöffnet ist. Alle Entwickler, die eine Erprobung am Großglockner auf
ihrem Programm stehen haben, mussten also bis jetzt warten. Die
Chancen, wirklich ein paar lohnende Fahrzeuge zu sehen, könnten jetzt
also höher als zu anderen Jahreszeiten sein.
Als Franz am späten Nachmittag beim Gasthaus »Lampenhäusl« in
Fusch ankommt, ist Julia schon da. Sie lädt gerade ihr Gepäck, das nur
aus einer kleinen Reisetasche besteht, aus ihrem Auto aus. Sie fährt
keinen alten Volvo. Sie scheint es irgendwie geschafft zu haben,
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
tatsächlich Geld mit diesem Job zu verdienen. Anders wäre der schicke
MX5 nicht zu erklären. Franz ist ganz hin und her gerissen zwischen Julia
und ihrem Auto. Nein, ganz so doof ist Franz dann doch nicht. Er kann
seine Augen schon deutlich leichter von dem Mazda losreißen als von
Julia. Die sieht einfach gut aus, leger gekleidet in Jeans und
Turnschuhen, die Haare zu einem kleinen Pferdeschwanz gebunden, der
bei jeder Bewegung etwas wippt. Franz ist richtig beschwingt, als er aus
seinem Auto steigt.
Weil um diese Tageszeit keine großen Jagderfolge mehr zu erwarten
sind, beschließen sie, den Tag abzuhaken und ihn nett ausklingen zu
lassen. Sie bringen das Gepäck auf ihre Zimmer und machen sich frisch.
Julia scheint ein anderes Verständnis von »sich frisch machen« zu haben
als Franz. Er ist nach fünf Minuten fertig und wartet vor der Pension.
Nach weiteren fünf Minuten entscheidet er sich dann, noch eine kurze
Runde zu gehen; eine gute Wahl, weil er sich anderenfalls eine halbe
Stunde wartend um die Ohren hätte schlagen müssen. So kann er schon
mal kurz die Lage checken. Zu seiner Zufriedenheit sieht er im ganzen
Ort keine Versuchsautos oder Leute, die nach Testfahrern aussehen.
Eigentlich wäre dieser Befund natürlich gar nicht zu seiner Zufriedenheit,
aber wie schon erwähnt sieht Franz diesen Aufenthalt in Österreich eher
als Urlaub denn als professionellen Jagdausflug.
Wieder zurück beim Gasthaus muss er nur noch weitere fünf Minuten auf
Julia warten. Als sie aus der Tür tritt, sieht sie für Franz genauso aus, wie
bei ihrer Ankunft. Dabei übersieht er, dass Julia im Gegensatz zu ihm
frisch geduscht ist und die Haare gewaschen hat. Er übersieht, dass sie
noch vier andere Outfits anhatte, bevor sie dann doch wieder bei den
gleichen Jeans und Turnschuhen geblieben ist, die sie auch schon zur
Fahrt trug. Er übersieht, dass sie ihr neues Parfum aufgelegt hat und
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dass sie die neue Halskette trägt. Das alles übersieht Franz, der sich kurz
etwas Wasser ins Gesicht geworfen und den Deoroller benutzt hat, um
sich »frisch zu machen«. Macht aber ja auch nichts, denn er fand Julia ja
auch vorher schon attraktiv.
Franz ergreift die Initiative und schlägt vor, nach Zell am See zum
Abendessen zu fahren. Um die Abendsonne zu nutzen, nehmen sie
Julias Auto. Nach ein paar Sekunden ist das Verdeck in seinem Kasten
verschwunden und die Sonne wärmt ihnen angenehm den Nacken, als
sie losfahren. Das Glück, das so eine Cabriofahrt bedeutet, bleibt ihnen
weiter hold – ohne langes Suchen finden sie einen Parkplatz beim Grand
Hotel, ganz in der Nähe des Sees. Sie sind sich schnell einig, noch ein
paar Schritte auf der Uferpromenade zu machen, weil es zum Essen
noch etwas früh wäre. Am Seeufer gibt es Tretboote, die an die Touristen
verliehen werden, oder Ruderboote, die Einheimische zum Angeln
benutzen. Sie laufen vom Ortszentrum gegen den Uhrzeigersinn um den
See bis zur Segel- und Surfschule. Dort ist gerade eine Gruppe blutiger
Surfanfänger dabei, ständig ins um diese Jahreszeit noch recht kühle
Wasser zu fallen. Trotz der schönen Abendsonne fröstelt es Julia bei dem
Anblick. Deshalb machen sich die beiden auf den Rückweg. Während der
ganzen Zeit sprechen sie über dies und das. Es geht immer um ihren
Job, manchmal um den Tratsch aus der Szene, sonst eher um die
Fahrzeuge, die sie beide jagen. Aber nur um die Fälle, die sie auch schon
verkauft haben, die also jeder Autointeressierte schon in diversen
Zeitschriften abgedruckt sehen konnte. Das Gespräch läuft auf der
gleichen Ebene wie der Smalltalk, den Franz mit jedem anderen Kollegen
hätte haben können. Daran ändert sich auch während des gemeinsamen
Abendessens in der Pizzeria »Zum Cäsar« nichts, und weil sie keinen
Absacker mehr trinken, können auch dabei keine anderen Themen mehr
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angeschnitten werden. Sie fahren also gegen 22 Uhr zurück nach Fusch
und verabreden sich für den nächsten Morgen um 8 Uhr zum Frühstück,
um dann über die weiteren Jagdpläne zu beratschlagen. Julia ist ja immer
noch der Meinung, es gehe bei diesem Ausflug um die Erlkönigjagd.
Pünktlich um 7:58 Uhr betritt Franz den Frühstücksraum und stellt fest,
dass sich Julia wohl gerade noch frisch macht. Aber um 8:02 ist auch sie
da. Draußen scheint schon die Sonne. Es verspricht wieder ein
wunderschöner Tag zu werden. Um möglichst flexibel zu sein,
entscheiden sie sich, eine 30-Tage-Karte, die nicht viel mehr als eine
Tageskarte kostet, zu kaufen und zusammen mit einem Auto auf den
Pass zu fahren. Gemeinsam auf der Lauer zu liegen reduziert natürlich
die Chancen zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein beträchtlich, aber
es macht auch beträchtlich mehr Spaß. Sie vereinbaren außerdem, für
diesen Trip gemeinsame Sache zu machen. Um Streit zu vermeiden,
wollen sie beide die eventuelle Ausbeute vermarkten und sich den Erlös
brüderlich teilen. Franz fände in diesem Zusammenhang »Streit
vermeiden« sehr gut; »brüderlich« dagegen eher schlecht. Nachdem
diese Details geklärt sind, entbrennt eine kleine Diskussion über das in
puncto Tarnung bessere Fahrzeug. Was fällt zur Urlaubszeit auf einem
österreichischen Alpenpass weniger auf – ein alter Volvo oder ein
schicker grüner Roadster? Nach einigem Hin und Her finden die beiden
einen Kompromiss, bei dem Franz das Gesicht wahren kann. Auch der
Volvo wäre ein geeignetes Auto, wenn er denn bis zur Dachkante
beladen und mit mindestens zwei Kindersitzen ausgestattet wäre. Weil
Franz' Volvo diese Zusatztarnung aber nicht aufbieten kann, fällt die
Entscheidung zu Gunsten von Julias MX5 aus. Einen gravierenden
Nachteil, den beide während ihrer Diskussion außer Acht gelassen
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haben, hat der Mazda. Er hat viel weniger Platz.
Das fällt erst auf, als neben den zwei Fahrzeuginsassen auch noch zwei
Fototaschen neben dem Auto auf dem Parkplatz stehen. Die würden
natürlich ohne Probleme in den Kofferraum passen, aber so richtig
griffbereit ist die Ausrüstung dort freilich nicht. Weil Julia fährt,
verschwindet ihre Fototasche im Kofferraum und Franz nimmt seine auf
dem Beifahrersitz zwischen die Beine, nicht ohne deutlich vernehmbar
vor sich hin zu grummeln.
Aber eigentlich sind beide gut gelaunt, als sie losfahren. Sie wollen zuerst
zum Hochtor, dem Scheitelpunkt des Passes. Bis da hin haben sie
immerhin fast 25 Kilometer und ungefähr 1700 Meter Höhenunterschied
zurückzulegen. Dort oben gibt es einen Parkplatz, auf dem sie sich auf
die Lauer legen wollen. Sie genießen die Fahrt mit offenem Verdeck und
die Unterhaltung geht endlich mal nicht nur um Autos, sondern auch über
die beeindruckende Natur, durch die sich diese Straße windet. Entlang
des Fuschertals stehen einige der höchsten Berge Österreichs, alle
deutlich über 3000 Meter hoch. Im Frühjahr sind die Hänge noch bis
relativ weit ins Tal zugeschneit und nach wenigen Kilometern haben auch
Julia und Franz die Schneegrenze erreicht. Die Straße ist frei, nur hier
und da läuft etwas Schmelzwasser über die Fahrbahn. Aber mit
zunehmender Höhe verläuft die Straße bald zwischen zwei immer höher
werdenden Schneewänden. Die Passstraße muss hier mit Schneefräsen
freigelegt werden. Das würde einerseits spektakuläre Bilder geben,
andererseits ist es umso schwerer, einen Prototypen sauber vor die Linse
zu bekommen, wenn die Sicht derart eingeschränkt ist. Auf dem
Rastplatz beim Hochtor angekommen, steigen beide erstmal aus und
sehen sich um. Das Wetter ist toll, die Aussicht umwerfend, aber der
Parkplatz leer. Es ist allerdings auch erst 10 Uhr und der Tag ist noch
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jung. Zurück im Auto packt Franz seine Kamera aus und montiert eine 85
Milimeter Festbrennweite. Für die Entfernungen auf dem Parkplatz
erscheint ihm das gerade recht und wenn ein Objekt doch mal etwas
weiter entfernt sein sollte, hat die Kamera immer noch ausreichend
Auflösungsreserven, um später Ausschnitte entsprechend vergrößern zu
können. Auf sein zweites Kameragehäuse montiert er ein 28-200
Milimeter Zoom, um seine Flexibilität noch etwas zu erhöhen. So und
dann sitzen sie da und warten – zunächst schweigend. Gegen 11 Uhr
beginnt Julia über einen weiteren Nachteil der MX5-Variante zu sprechen,
den sie bei ihren Erörterungen am Frühstückstisch ebenfalls außer Acht
gelassen hatten – das dünne Roadsterverdeck isoliert nicht besonders
gut – eigentlich fast gar nicht. In der warmen Gaststube, einige hundert
Höhenmeter tiefer im Tal hatten sie einfach verdrängt, dass es hier oben
doch noch recht frostig sein würde, und jetzt bekommen sie langsam
kühlere Köpfe, als ihnen lieb ist. Die Tatsache, dass überhaupt kein
Verkehr auf der Straße ist, die sie immer gut im Blick haben, trägt auch
nicht gerade zur Erwärmung bei. Nach einigem Lamentieren und
gegenseitigem Bemitleiden wird die Mittagspause herbeigeredet. Julia
lässt den Motor an und steuert das Auto Richtung Kaiser-Franz-JosefsHöhe. Das ist das touristische Highlight des Passes. Direkt oberhalb des
Pasterzengletschers
und
gegenüber
dem
Grossglockner
gibt
es
verschiedene Restaurants, ein Besucherzentrum mit Museum und
natürlich auch diverse Geschäfte, die Nippes an die Touristen verkaufen.
Eigentlich also der ideale Ort, um in unberührter Natur einen
romantischen Spaziergang mit einer Frau zu machen, die noch eine gute
Bekannte ist, der Mann aber eine andere Rolle zugedacht hat. Angesichts
der widrigen Temperaturen und der wüstengleichen Leere in ihren Mägen
treten derlei Überlegungen in den Hintergrund. Immerhin machen sie
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noch die paar Schritte vom Panorama-Restaurant, wo die meisten der
Busgruppen stranden, hinauf zum Kaiser-Franz-Josef-Haus.
Franz ist mit der Lage sehr zufrieden. Es ist warm, eine heiße
Fritattensuppe und ein Schnitzel sind bestellt, und die Aussicht ist sehr
viel besser als bei McDonalds in Ludwigsburg – touristischer Großbetrieb
hin oder her. Der Mittag verläuft ruhig und harmonisch. Langsam werden
sich Franz und Julia wärmer miteinander. Immer öfter ist Persönliches
Gegenstand der Gespräche und seltener der übliche Smalltalk unter
Kollegen. Nach einem Espresso brechen die beiden wieder auf, um noch
den kurzen Weg zum sogenannten Kaiserstein zu gehen, der zum
Gedenken an den Besuch des österreichischen Kaisers Franz-Josef mit
seiner Sissi an dieser Stelle aufgestellt wurde. Jetzt hat der geneigte
Leser auch eine Ahnung, warum dieser Ort Kaiser-Franz-Josefs-Höhe
heißen könnte.
Erst als sie sich wieder dem Parkplatz nähern, kommt plötzlich Hektik auf.
Direkt neben ihrem Auto steht tatsächlich ein gut getarnter Erlkönig. Julia
hat ihn zuerst gesehen und rennt nach einem kurzen Ruf auch gleich los,
denn das Objekt der Begierde rollt gerade rückwärts aus der Parkbucht.
Franz gibt sich alle Mühe mitzuhalten. Er will ja nicht gleich Punktabzug
wegen körperlicher Unfitness bekommen. Ein weiteres Handicap, wenn
wir Franz' körperliche Defizite mal doch aus objektiver Sicht als Handicap
werten, ist die Tatsache, dass die Fotoausrüstung im Kofferraum liegt.
Aber wer würde schon sein Arbeitsgerät im Wert von mehreren tausend
Euro auf dem Beifahrersitz liegen lassen? Bis Franz also mit seinen
Kameras bewaffnet neben Julia im Auto sitzt, vergehen weitere wertvolle
Sekunden. Aber Julia schafft es durch eine unauffällige, aber zügige
Fahrweise Boden gut zu machen. Bis sie nach ein paar Kilometern die
Abzweigung von der eigentlichen Grossglocknerstrasse erreicht haben,
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ist er in Sichtweite, und zu ihrem Glück biegt das Auto nach rechts
Richtung Heiligenblut ab. Das bedeutet, dass es sehr wahrscheinlich
auch wieder zurückkommen wird. Sie konnten deutlich deutsche
Kennzeichen erkennen, und die deutschen Autotester übernachten fast
immer nördlich des Passes in der Gegend von Zell am See, weil das
einfach für An- und Abfahrt näher ist. Julia biegt also nach links ab und
fährt zum Hochtor. Direkt vor dem Tunnel gibt es einen Parkplatz, auf
dem sie das Auto so postiert, dass sie die Straße gut einsehen und auch
schnell wieder losfahren können.
Franz hatte gerade noch ein paar eher wackelige Bilder von dem
Versuchsauto
gemacht.
Jetzt
ist
etwas
Zeit,
diese
ersten
Schnappschüsse zu untersuchen. Vielleicht lässt sich ja darauf schon
etwas erkennen, das auf den Hersteller und vielleicht den Typ des
Fahrzeugs schließen lässt. Trotz der Tarnung, die auch die Silhouette
verschleiern soll, ist zu sehen, dass es sich wohl um einen Porsche
handelt. Details wie Felgen oder die Form der Außenspiegel deuten
darauf hin. Der Radstand ist allerdings recht lang – vielleicht eine
verlängerte Version des Panamera? Sie diskutieren und debattieren. Die
Wartezeit verkürzt sich damit, und das Gesprächsthema ist jetzt
wenigstens erstmal gesichert. Beide sind sich einig, dass sich dieses
Motiv lohnen könnte. Es ist zwar kein grundlegend neues Modell, aber sie
haben von dieser Variante auch noch nie gehört und Bilder sind sicher
noch keine veröffentlicht worden. Wenn sie jetzt noch etwas Glück haben,
sind die paar Tage in Österreich schon locker finanziert.
Nach ungefähr einer halben Stunde, in der das Adrenalin der Kälte keine
Chance gelassen hat, kommt der Porsche tatsächlich zurück. Franz hat
seine Kamera schussbereit und schafft drei Bilder von vorne, während
Julia das Auto anlässt und die Verfolgung aufnimmt. Auf der Strecke gibt
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es ein paar Kehren, in denen noch Bilder von der Seite möglich sind.
Aber wichtiger wäre es, nicht als Fotografen entdeckt zu werden und
dranzubleiben. Denn gegen drei in Ruhe geschossene Bilder, wenn das
Auto
steht,
sind
in
den
meisten
Fällen
auch
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wackelige
Schnappschüsse aus einem fahrenden Auto nichts. Sie fahren den
ganzen Weg ins Tal bis Bruck, vor dem Hotel Lukashansl hält der Wagen
an. Es dauert noch ein paar Minuten, in denen die Ingenieure
wahrscheinlich noch Messdaten speichern. Dann steigen die beiden
Insassen aus und betreten den Gasthof. Franz wartet noch etwas, aber
alles bleibt ruhig. Es ist ja erst Nachmittag, einen Blitz braucht er nicht
und es sollte nicht ungewöhnlich sein, dass mal ein Tourist mit einem
Fotoapparat vorbeiläuft. Zuerst schießt er ein paar Fotos im Vorbeigehen
von der Straße aus, ohne genaues Zielen, einfach aus der Hand. Wenig
präzise, aber sehr unauffällig. Erst dann sucht er sich die beste
Perspektive und Ausrichtung zur Sonne, um ein paar gezielte, qualitativ
hochwertigere Bilder zu machen. Erst ganz zum Schluss geht er direkt zu
dem Auto und fotografiert direkt den Innenraum. Jetzt ist auch klar, dass
es sich tatsächlich um eine Variante des Panamera handelt. Das Cockpit
ist nicht getarnt und entsprechend leicht wiederzuerkennen. Im Fond ist
tatsächlich deutlich mehr Platz als in der Standardversion und es
scheinen ein paar zusätzliche Extras einer Businessversion in diesem
Fahrzeug eingebaut zu sein.
Ohne weiter aufzufallen kehrt Franz zu Julia zurück, die in ihrem Auto
gewartet hat. Er ist bester Laune.
Bei ihrer Rückkehr in den Gasthof in Fusch, verabreden sich Franz und
Julia zum Abendessen. Nach einem üppigen Festmahl, das mit einem
leckeren Dessert aus Topfenpalatschinken endet, wollen sie ihren Fang
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näher begutachten. Franz holt seine Kameras aus dem Zimmer, dann
treffen sie sich in Julias Zimmer. Sie wollen ihre Beute nicht in der
Öffentlichkeit des Restaurants oder einer Gaststube zerlegen, auch wenn
diese Prozedur in ihrem Fall unblutig vonstatten geht. Julia hat schon
ihren
Laptop
aufgebaut.
Schnell
wird
klar,
dass
die
ersten
Schnappschüsse, die noch aus dem fahrenden Auto aufgenommen
wurden, nicht zum Verkauf an Agenturen oder Magazine taugen. Die
Bildausschnitte sind schlecht, was sich korrigieren ließe, aber sie sind
auch unscharf. Von den Bildern, die Franz im Vorbeigehen vor dem Hotel
der Autotester aufgenommen hat, ist eines sogar ganz gut geworden. Es
zeigt das Fahrzeug recht deutlich, aber auch noch etwas Umgebung.
Damit könnte man eine Story, die nicht nur das Auto, sondern zusätzlich
die
geheimen
Erprobungen
der
Erlkönige
zum
Inhalt
hat,
gut
ausschmücken. Wenn es darum geht, das Auto zu zeigen, sind die
anderen Bilder, die am Schluss gezielt aufgenommen wurden, sehr gut.
Die Fotos vom Innenraum sind dann noch das i-Tüpfelchen. Die beiden
Profifotografen sind sich schnell einig, aus welchen Dateien sie ein Paket
schnüren wollen, das sie potentiellen Kunden anbieten können. Sie
packen diese Bilder in geringer Auflösung als Kostprobe in eine Mail, die
sie mit der Bitte um Angebote für exklusive oder nicht-exklusive
Veröffentlichung an die üblichen Adressaten verschicken.
So, geschafft. Franz sieht Julia an. Er will gerade zu einer weiteren
Runde belangloser Konversation ansetzen, kann sich aber gerade noch
beherrschen. Stattdessen küsst er Julia einfach auf den Mund. Und siehe
da, es kommt keine Abwehrreaktion. Jetzt wird Franz etwas sicherer und
kippt Julia einfach rückwärts auf das Bett. Die ganze Zeit hatten sie
nebeneinander auf der Bettkante vor dem kleinen Tischchen mit dem
Laptop gesessen. Das Vorspiel dauert lange und ist sehr vorsichtig und
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zaghaft. Beide sind unsicher, wie es jeweils weitergehen soll. Aber als die
letzten Zweifel über die gemeinsamen Absichten überwunden sind, geht
der Rest dann eher schnell und ist – bis auf etwas Akrobatik – nicht
übermäßig spektakulär. Nach einer Weile gemeinsamen Schweigens
fragt Julia, wie Franz denn auf diese ungewöhnliche Stellung gekommen
sei. Er beginnt daraufhin vom Beginn seiner Fotografenausbildung zu
erzählen. Er habe schon als Jugendlicher gerne fotografiert, durch Zufall
sei er in Kontakt mit einem Fotografen gekommen, der ihn immer wieder
zu Shootings mitgenommen habe. Und dieser Fotograf sei durch Zufall
von der Aktfotografie zu Porno-Shootings gekommen. Was wiederum
dazu führte, dass der schüchterne und eher zurückhaltende junge Franz
seinem Lehrmeister regelmäßig bei derartigen Aufnahmen assistierte,
wobei er nicht nur für die Fotografie wichtige Grundkenntnisse erwarb,
sondern sich auch sonst den einen oder anderen Trick abschaute. Bei
der Schilderung seiner Lehrjahre mussten beide viel lachen. Dann wurde
es ruhiger und sie schliefen aneinandergekuschelt ein.
Am Morgen wacht Franz bestens gelaunt, aber auch etwas verwirrt auf.
Wie wird das jetzt weitergehen? War das nur was für eine Nacht? Beim
Frühstück weichen beide diesen Fragen konsequent aus. Oder auch
nicht. Sie stecken die Randbedingungen ab. Julia meint, sie müsse
spätestens in drei Tagen zurück in München sein und dann nochmal für
ein paar Tage weg. Franz erzählt auch, was er so vorhat. Er könne sich
weiter um den Verkauf der Bilder von dem Panamera kümmern und dann
wolle er auch nochmal zurück nach Ludwigsburg. Er sei da an einer sehr
interessanten Sache dran. Entgegen allen Regeln – aber sie sind ja auch
gerade erst dabei die Regeln ihrer Beziehung neu zu definieren –
berichtet er dann von dem S10-Projekt, an dem er dran ist. Dass er den
Namen eines der Entwickler von der International Automotive AG
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herausbekommen habe, und dass er den suchen wolle, um mehr über
das
Projekt
herauszubekommen.
Irgendwie
scheint
Julia
diese
Regeländerung zu irritieren. Sie wird plötzlich recht einsilbig, beendet
hastig das Frühstück und verabschiedet sich auf ihr Zimmer zum
Zähneputzen. Franz bleibt etwas ratlos am Frühstückstisch zurück.
Sorgen macht er sich allerdings erst, als Julia nach einer Viertelstunde
mit ihrem Gepäck zurückkommt, ihm erklärt, dass sie sofort nach Hause
müsse, und sagt, er solle sich keine Sorgen machen, es sei alles in
Ordnung. Der kurze Abschiedskuss kann diese Sorgen dann auch nicht
wirklich zerstreuen.
***
Fred lässt sich weiter nichts anmerken, das heißt, er versucht sich nichts
anmerken zu lassen, obwohl ihm die seltsame Nachricht am Kletterseil
freilich die ganze Zeit nicht aus dem Kopf geht. Sandra bekommt
natürlich mit, dass irgendwas nicht stimmt, und erkundigt sich danach. Mit
Freds Beteuerungen, dass es ihm gut gehe und dass alles in bester
Ordnung sei, will sie sich aber nicht einfach abspeisen lassen. Sie fragt
weiter nach. Fred antwortet im Inhalt immer gleich, aber immer genervter.
Die Situation wird zusehends unentspannter.
Zum Abendessen fährt die ganze Clique mit den Fahrrädern ins Zentrum
von Arco zu ihrer Lieblingspizzeria. Aber auch hier kann sich Fred nicht
entspannen. Er überlegt die ganze Zeit, was denn wohl zu tun sei.
Einfach die angegebene Nummer anrufen? Einen seiner Kollegen
anrufen und um Rat fragen? Seinen Gruppenleiter anrufen und den
fragen, was er von der Sache hält? Alles hat irgendwie Nachteile. Einfach
eigenmächtig in einer geschäftlichen Sache – es wurde ja auf ein Projekt
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Bezug genommen – handeln? Die Kollegen mit in die Sache reinziehen?
Irgendwie neugierig ist er natürlich auch, um was es denn da gehen
könnte. Nur die Sache mit dem Kletterseil hat auch etwas Bedrohliches.
Vielleicht ist das Ganze auch kein Spaß, sondern eher das Gegenteil. Er
grübelt hin und her. Nur eines weiß er langsam immer sicherer: Er muss
irgendwas tun. Sonst wird er noch verrückt. Gerade als er mit dem Rand
seiner Pizza fertig ist – Fred isst Pizza immer in Kreisen, erst den Rand
und dann weiter im Kreis bis zur Mitte –, hat er einen Entschluss gefasst.
Ohne Kommentar steht er auf und verlässt das Restaurant. Die
ungläubigen Blicke seiner Freunde bemerkt er dabei nicht. Vor der Tür
kramt er sein Handy und den Zettel mit der Telefonnummer aus seiner
Hosentasche. Er muss nicht besonders tief in sich hineinhorchen, um
festzustellen, dass er sehr nervös ist, als er die Nummer des
unbekannten Nachrichtenschreibers wählt. Es knackt ein paar Mal, dann
klingelt es. Nach einer Weile, die Fred wie eine Ewigkeit vorkommt,
wechselt der Ton zum Besetztzeichen. Fred starrt sein Telefon an. Es
geht keiner dran? Da machen die so einen Aufstand und dann geht
keiner dran? Jetzt hat er ein noch komischeres Gefühl als vorher.
Einerseits hat er nach wie vor keine Ahnung, wer da was von ihm will.
Andererseits ist er der Aufforderung ja zunächst nachgekommen. Mit
dieser letzten Überlegung beruhigt er sich erstmal etwas und kehrt zu
seinen Freunden zurück. Die müssen sich mit der knappen Auskunft
zufrieden geben, dass er mal telefoniert habe. Dafür bekommen sie einen
wesentlich besser gelaunten Fred zurück, der nach dem ersten Kreis der
Hölle nun den zweiten Kreis seiner ultrascharfen Pizza Inferno in Angriff
nimmt. Er entspannt sich langsam und findet zu alter Form zurück. Nach
dem Essen schieben sie die Räder durch die kleine Fußgängerzone. An
einer der Eisdielen gibt es noch den obligatorischen Nachtisch in der
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Waffel. Dann radeln sie die dunkle, kleine Straße entlang, die sich
zwischen den Boulderfelsen hindurch Richtung Campingplatz schlängelt.
Plötzlich ist es mit Freds Entspannung vorbei. Sein Handy klingelt. Er
stoppt abrupt sein Mountainbike und kramt in der Tasche nach dem
Telefon. Die anderen fahren weiter. Fred war der Letzte. Sie haben nicht
bemerkt, dass er angehalten hat. Endlich hat er das Gerät gefunden. Das
Herz schlägt ihm bis zum Hals, als er sich meldet. Eine ihm sehr vertraute
Stimme fragt ohne große Umschweife, ob er denn Kartoffeln brauche.
Der Bauer würde morgen kommen und da könne man doch gleich mehr
kaufen, damit er auch etwas Vorräte daheim habe. Fred kann nicht
anders. Er schreit seine Mutter an, was sie denn jetzt um 22 Uhr abends
wegen diesem Schmarrn bei ihm anrufe. Seine Mutter erkundigt sich
etwas beleidigt, ob es ihm denn sonst gut gehe, und hängt dann recht
schnell auf. Das heißt, sie hängt natürlich nichts mehr auf. Auch sie hat
ein modernes Telefon, bei dem man einen Knopf drückt, um ein
Gespräch zu beenden.
Als Fred weiterfährt, fühlt er sich wie ein alter Mann mit Herzbeschwerden
– kein Wunder nach diesem Stress. »Nochmal telefoniert«, teilt er seinen
Freunden mit, als er ermattet vom Rad steigt. Die haben Fred für diesen
Abend eh schon abgeschrieben und reagieren nicht mehr auf seine
seltsamen Anflüge. Sandra erzählt er immerhin noch, dass ihn seine
Mutter wegen Kartoffeln genervt habe.
Bis zum nächsten Morgen bleibt alles ruhig. Fred kann sogar
einigermaßen schlafen, aber so richtig Spaß macht ihm dieser Urlaub
nicht mehr. Jetzt geht die Grübelei wieder los. Er fühlt sich ständig
beobachtet. Diese Typen, die da was von ihm wollen, waren ja schon
sehr nah an ihm dran. Da ist es doch wahrscheinlich, dass sie immer
noch in der Nähe sind. Oder sollte das alles ein doofer Scherz seiner
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Kumpels sein? Fred wird versuchen, die Nummer nochmal anzurufen. Er
verabschiedet sich zur Morgentoilette – sonst gar nicht sein Stil –
Richtung Waschräume. Hinter dem Sanitärgebäude sucht er sich einen
ruhigen Platz und telefoniert. Eigentlich rechnet er fast damit, dass wieder
niemand abhebt, als sich plötzlich eine Stimme meldet: »Ja?« Fred sagt
nur seinen Vornamen. Da erklärt ihm der Typ am Telefon, dass er ihn in
drei Tagen treffen möchte, zu Hause in Freds Wohnung um 10 Uhr, allein
– wirklich allein. Auf Freds Frage, um was es denn gehe und warum er
der Aufforderung nachkommen solle, wird ihm erklärt, dass er keine
Optionen habe und einfach mitspielen müsse. Das sei alles kein Spaß.
Das ist natürlich nicht die Art Erklärung, mit der Fred etwas anfangen
kann. Zuletzt sagt ihm sein Gesprächspartner noch, dass er jetzt aber
doch erstmal seine Zähne putzen solle, und wenn er sich richtig waschen
wolle, brauche er noch ein Handtuch. Das habe er noch vergessen.
Diesen letzten, guten Rat fasst Fred ganz klar und sehr richtig als weitere
Drohung auf. Er wird offensichtlich beobachtet, und der Beobachter kann
nicht weit entfernt sein. Er sieht sich unwillkürlich um, aber natürlich ist da
niemand zu sehen, der ihn observiert. Fred ist klar, dass er die
Forderungen dieser Typen nicht einfach ignorieren kann. Seltsam ist nur,
dass er die Stimme irgendwie sympathisch findet, nicht bedrohlich.
Jetzt hat er gleich mehrere Probleme. Eigentlich wollten sie erst in fünf
Tagen nach Hause fahren, wie soll er denn bitte eine vorzeitige Abreise
einfädeln? Dann gibt es da weiter die Fragen, ob er seinen Chef oder
Kollegen einbeziehen soll, um mehr Klarheit zu bekommen, wie er sich
verhalten solle. Oder soll er seine Freunde einweihen, aber die haben ja
keine wirkliche Ahnung von dem Projekt, an dem er arbeitet. Und was
wirklich eklig ist, ist der Treffpunkt in seiner Wohnung. Das setzt dem
bisher schon unangenehmen Gefühl, das diese Sache in Freds
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Magengrube hinterlässt, noch einen drauf. Irgendein neutraler Treffpunkt,
zum Beispiel in Stuttgart beim Starbucks im Königsbau, wäre ihm sehr
viel lieber gewesen. Aber wahrscheinlich haben das seine neuen
Telefonfreunde genau so kalkuliert. Richtig ätzende Scheiße, diese ganze
Sache. Er könnte ja nochmal die Nummer anrufen und fragen, ob man
sich denn nicht hier in Italien treffen und unterhalten könne. Aber erstens
glaubt Fred nicht, dass man darauf eingehen würde, weil es ja
wahrscheinlich gerade Teil des Plans ist, ihn in seiner Wohnung zu
treffen, und dann hätte er noch ein weiteres Problem, sich unauffällig von
der ganzen Clique abzuseilen. Also verwirft er den Gedanken gleich
wieder.
Er beschließt erstmal den Tag ganz normal laufen zu lassen und zu
überlegen, wie es denn weitergehen solle. In den folgenden Stunden
würde er also wieder sein ganzes schauspielerisches Talent einsetzen,
um Normalität vorzugaukeln; sein eher bescheidenes schauspielerisches
Talent.
Beim Frühstück sind sich die Freunde schnell einig, dass es heute eine
Mountainbiketour sein soll. Sie wollen auf den Tremalzopass radeln. Da
können sie direkt vom Campingplatz losziehen und müssen nicht erst die
Fahrräder verladen und mit dem Auto irgendwohin fahren. Allerdings ist
es dann gleich eine eher lange und nicht unanstrengende Tour. Aber das
ist Fred heute gerade recht. Also werden die Räder flott gemacht,
Trinkflaschen gefüllt, Wind- und Regenklamotten in die Rucksäcke
gestopft, Werkzeug und Luftpumpen überprüft und sämtliche Lücken in
den Rucksäcken und Taschen mit Proviant – vorzugsweise Müsliriegeln –
vollgestopft. Dann noch die windschlüpfigen und vor allem gut
gepolsterten Radlerhosen angezogen und es kann losgehen. Sie rollen
zuerst noch ganz locker die altbekannte Straße nach Arco entlang, dann
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
auf der Landstraße nach Riva, von da noch ein paar wenige Kilometer am
Westufer des Gardasees entlang bis zur Abzweigung zum Ledrosee. Dort
beginnt der Anstieg. Zuerst geht es noch auf einer geteerten Straße
bergauf. Das findet Fred ganz angenehm. Wenn man erstmal seinen
Rhythmus gefunden hat, kann man einfach ruhig treten und versuchen
immer nur bis zur nächsten Kurve zu denken, und ehe man sichs
versieht, hat man schon wieder ein paar hundert Höhenmeter geschafft
und kann sich an einer immer spektakuläreren Aussicht erfreuen. Beim
Ledrosee kann man nochmal ein bisschen durchschnaufen, aber Fred
und seine Freunde kennen die Tour schon und wissen, dass noch zwei
Drittel vor ihnen liegen. Also gibt es hier keine Pause. Viele
Mountainbiker fahren die Runde auch in entgegengesetzter Richtung,
aber vor allem die Mädchen wollen lieber die etwas weniger steile
Teerstraße hoch und die Schotterstraße runter fahren.
Ein paar Kilometer nach dem Ledrosee zweigt links die eigentliche
Passstraße ab. Jetzt geht es in unzähligen engen Serpentinen bergauf.
Die Vegetation wird immer spärlicher und ganz oben erschweren noch
Schneereste die letzten Meter bis zum Tunnel, der sich am höchsten
Punkt des Passes befindet. Alle posieren für die obligatorischen Fotos
und machen sich dann aber auch recht schnell an die Abfahrt. Hier oben
ist es eigentlich allen zu frostig, um eine dem absolvierten Anstieg
angemessene Pause einzulegen. Dann geht es auf einer recht schmalen
Schotterstraße bergab. Stefan lässt es richtig laufen und zirkelt gekonnt
durch die engen Kehren. Fred würde gerne mithalten, aber die
Vorstellung versagender Bremsen – so ein Bremsseil kann ja schon mal
reißen – kombiniert mit den gigantischen Tiefblicken direkt neben der
Fahrbahn bei völliger Abwesenheit von Geländern oder Leitplanken
vereiteln
alle
Bemühungen,
auch
nur
annähernd
an
Stefan
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
dranzubleiben. Freundlicherweise macht der aber ab und zu mal eine
Pause, was Fred und wahrscheinlich auch den anderen aus der Gruppe
die Gelegenheit gibt, ihre leicht um die Bremshebel gekrampften Finger
wieder zu strecken. Die nächste Etappe endet nicht in einer freiwilligen
Pause. Als Fred und Sandra um eine weitere Kehre eiern, sitzt Bert
schon neben Stefan. Dessen Knie blutet und sein Vorderrad ist platt. Er
ist wohl irgendwie blöd gegen einen Stein gefahren und hat dann einen
weniger eleganten Abgang über den Lenker gemacht. Also gibt es jetzt
für alle eine Unterbrechung. Neben Werkzeug und Verbandszeug werden
diverse Fressalien ausgepackt und nach einer halben Stunde ist alles
wieder fahrbereit. Die ziemlich erschöpften Kalorienspeicher sind wieder
etwas gefüllt, das Knie verbunden, der Reifen geflickt und, was fast die
Hauptsache ist, der Achter aus Stefans Vorderrad notdürftig wieder
rausgezogen. Der hätte echt Schwierigkeiten machen können. Mit einem
gröberen Achter, der ständig an der Bremse hängenbleibt, wäre ein
Weiterfahren vielleicht nicht möglich gewesen und zu Fuß mit einem
Mountainbike auf der Schulter wäre es dann doch noch ganz schön weit
gewesen bis zu einer Stelle, an der die anderen Stefan mit dem Auto
hätten abholen können. Aber es ist ja alles klar, und die Fahrt kann mit
insgesamt etwas reduziertem Tempo fortgesetzt werden. Bald haben sie
den Ort Limone erreicht und rollen die Uferstraße zurück nach Riva. Die
engen Tunnel fordern dabei nochmal gute Konzentration. Das letzte
Stück nach Arco geht dann fast automatisch. Alle sind diese Strecke
schon x-mal gefahren und jeder hat schon ziemlich schwere Beine. Auf
dem Campingplatz angekommen werden gleich Isomatten ausgebreitet,
Kekse ausgepackt, und die ganze Gruppe lässt sich erstmal nieder. Es
dauert eine ganze Weile, bis Cindy sich als Erste aufrafft und sich auf den
Weg zu den Duschen macht. Weil keiner ihrem Beispiel folgen will, dauert
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es nochmal eine Weile, bis sich auch der Rest der Horde aufmacht, um
Schweiß und Dreck loszuwerden. Nach diesem Tag hat keiner mehr Lust
irgendwohin zum Essen zu gehen. Es gibt einen Nostalgieabend. Wie bei
ihren allerersten Urlauben am Gardasee, als Geld noch sehr knapp und
Restaurants unerschwinglich waren, wird heute selber gekocht. Fred
packt
seinen
Gaskocher,
einen
Topf
und
drei
Dosen
»Texas
Feuerzauber« von Aldi aus. Diese Leckerei wird durch Hinzufügen von
Cabanossi aus der gleichen Quelle zu einem kulinarischen Highlight. Im
kleinen Campingplatz-Shop sind schnell noch zwei Flaschen Rotwein
erstanden und schon ist das Abendessen fertig. Jeder kriegt einen Löffel
in die Hand. Der Topf steht in der Mitte. Alles wie in alten Zeiten.
Fast, denn Fred hat ja immer noch sein Problem. Aber an diesem Abend
ist er zu müde, um irgendwas zu unternehmen oder sinnvolle Pläne zu
machen.
Am nächsten Morgen, als alle gerade beim Frühstück sind, klingelt
plötzlich sein Handy. Fred steht auf und geht ein paar Schritte weg, bevor
er abhebt. Zu seiner Erleichterung ist es wieder mal seine Mutter, die
wissen will, ob Sandra und er am Sonntag nach dem Urlaub zum
Mittagessen kommen. Als ob er im Moment keine anderen Probleme
hätte. Aber die Gelegenheit ist günstig. Er geht noch ein paar Schritte, so
dass die Freunde ihn nicht hören können, und tut so, als spräche er noch
weiter, obwohl das Telefonat mit seiner Mutter eigentlich schon beendet
ist.
Als er zum Frühstückstisch zurückkehrt, erzählt er, dass sein Chef
angerufen habe. Es gäbe da ein schwerwiegendes Problem mit einem
seiner Projekte. Kurz vor dem Serienstart habe der Kunde, ein großer
bayerischer Autohersteller, – Fred drückt sich in diesen Dingen gerne
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etwas nebulös aus – bei einem der letzten Tests einen Fehler in der
Software gefunden. Der müsse jetzt behoben und die neue Software
dann nochmal getestet werden. Langer Rede kurzer Sinn: Er müsse
quasi sofort nach Hause fahren. Für ihn sei der Urlaub leider vorbei. Fred
ist selbst unsicher, ob er den Ärger über den abgebrochenen Urlaub
glaubhaft gespielt hat. Sandra sieht ihn eher verständnislos an. Aber als
Fred beginnt, missmutig seine Sachen zu packen, stopft auch sie die
ersten Klamotten in ihre Reisetasche, obwohl sie wirklich sauer ist. Es
sollte in dieser Riesenfirma auch jemand anderes in der Lage sein, diese
dämliche Software zu testen. Vielleicht der, der den Fehler gemacht hat.
Aber Fred reagiert auf all diese Einwände eher unwirsch. Er habe ja auch
keine große Lust, aber es helfe nichts, er müsse heim – Punkt.
Als sie sich nach zwei Stunden von ihren Freunden verabschiedet haben
und im Auto sitzen, atmet Fred innerlich durch. Dieser Teil ging zwar
etwas mit dem Kopf durch die Wand, aber jetzt sind sie auf dem
Heimweg. Der schwierigere Teil steht ihm allerdings noch bevor. Er muss
ja irgendwie Sandra dazu bewegen, morgen Vormittag nicht zu Hause zu
sein. Schon als sie auf der Autobahn an Bozen vorbeifahren, startet er
einen ersten Versuch und fragt sie, ob sie denn die restlichen
Urlaubstage nicht nutzen wolle, um vielleicht ihre beste Freundin in
München zu besuchen. Waren Sandras Blicke am Morgen noch
verständnislos, so sind sie jetzt eher misstrauisch. Fred hatte sich bisher
nie Gedanken darüber gemacht, was sie mit ihrer Zeit anfangen könnte.
Manchmal hatte sie das Gefühl, er mache sich nicht mal im Voraus
Gedanken, was er mit seiner eigenen Zeit anfangen könnte. Sie erwidert
nur, dass das ja wohl jetzt etwas kurzfristig sei. Sie kämen ja selbst erst
abends daheim an und dann solle sie morgens gleich wieder los und
außerdem könne sie doch auch nicht ohne Not von heute auf morgen bei
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Henriette aufkreuzen. Fred kapiert, dass das keine besonders tolle Idee
war, und auch das Misstrauen ist ihm nicht entgangen; umso
verzweifelter ist er. Noch ein weiterer ähnlich misslungener Versuch und
er könnte in arge Erklärungsnöte kommen, was das ganze Schauspiel zu
bedeuten habe. Er würde das ja auch gerne erklären, aber er weiß selbst
nicht, um was es eigentlich geht. Er hat nur das ganz starke Gefühl, dass
es besser ist, niemanden, auch nicht Sandra, mit in diese Sache
hineinzuziehen. Sie fahren weiter, vorbei an Klausen und Brixen, und sind
gegen
Mittag
auf
dem
Brennerpass.
Es
gibt
wieder
die
Urlaubsabschlussmortadellasemmel. Aber so richtig schmecken will sie
Fred diesmal nicht. Die Atmosphäre ist eher eisig und übellaunig, und das
geht so weiter, bis sie am späten Nachmittag den Bus vor dem Haus in
der Karlsbaderstraße in Kornwestheim abstellen, in dem sie wohnen.
***
Als Franz in Fusch abfährt, ist er recht gefrustet. Gestern war er noch auf
Wolke sieben oder neun oder so. Und jetzt? So hatte er sich das alles
nicht vorgestellt. Er kann Julias plötzlichen Aufbruch überhaupt nicht
einsortieren. Was hat er nur falsch gemacht? War er zu forsch? War er
für Julia nur ein »Ausrutscher«? Er ist sich ja durchaus darüber im Klaren,
dass er nicht im eigentlichen Sinn attraktiv ist. Wünscht sich Julia einen
formvollendeten Kavalier? Den kann er ihr nicht bieten, das ist ihm auch
bewusst. Kann er im Vergleich mit ihrem Ex nicht bestehen? Aber in
welchen Punkten liegt er denn so daneben? Was hat er nur falsch
gemacht? Diese Frage hatte er ja schon. Aber so geht es die ganze
Fahrt. Immer wieder kaut er dieselben Fragen durch, ohne auch nur
ansatzweise zu Antworten zu kommen. Erst, als er schon kurz vor
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Stuttgart ist, kommt er endlich aus dieser Endlosschleife heraus.
Ungefähr bei der Ausfahrt Kirchheim unter Teck überholt ihn ein
Werkswagen von Daimler. Franz erkennt sofort die neue Auflage der EKlasse, die nur noch ganz leicht mit ein paar Klebestreifen an den
Scheinwerfern getarnt ist. Dieses Auto interessiert ihn nicht wirklich.
Davon gibt es schon jede Menge offizielle Pressefotos. Wahrscheinlich
hat man nur vergessen, die Tarnung an diesem Versuchsauto zu
entfernen. Aber der Anblick erinnert ihn an das S10-Projekt. Endlich kann
er die Gedanken an Julia etwas beiseiteschieben, was auch nur gut ist,
denn den wahren Grund für ihren plötzlichen Aufbruch hätte er mit seinen
Überlegungen nie ergründet. Er beginnt zu überlegen, wie er beim S10
weiterkommen könnte. Er möchte gerne den Wert der Bilder mit ein paar
Hintergrundinformationen zu dem neuen Fahrzeug steigern, oder
vielleicht sogar noch ein paar weitere Bilder machen. Die verbleibenden
Autobahnkilometer bis Ludwigsburg reichen nicht aus, um seinen Plan zu
vervollständigen. Aber er weiß jetzt zumindest, dass er irgendwie Kontakt
zu diesem Autotester aufnehmen muss. Den Namen kennt er ja schon
mal. Dann sollte man doch auch die Adresse im Großraum Stuttgart
ausfindig machen können. Plötzlich kommt ihm noch eine beunruhigende
Frage; würde sich Julia an die Abmachung halten, die Bilder gemeinsam
zu vermarkten? Vielleicht war das ja der Grund. Sie wollte den Gewinn
aus dem Trip zum Grossglockner selber einfahren und hatte sich deshalb
so schnell aus dem Staub gemacht.
Nachdem er in Ludwigsburg endlich einen Parkplatz für den Volvo
gefunden und das Gepäck in seine Wohnung verfrachtet hat, fährt er
sofort
den
Computer
hoch,
um
seine
Mails
zu
checken.
Ein
Motormagazin und eine Agentur, die die Bilder kaufen wollen, haben sich
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erst heute gemeldet. Julia scheint also die gemeinsame Reise doch nicht
um jeden Preis zu Geld machen zu wollen. Sonst hätte sie die
Interessenten wahrscheinlich schon abgefangen. Einerseits beruhigt das
Franz, weil er sehr enttäuscht von Julia gewesen wäre, wenn sie ihn
einfach über's Ohr gehauen hätte, andererseits war das eine halbwegs
plausible Erklärung für ihre urplötzliche Abreise aus Österreich, die nichts
mit Franz' Unzulänglichkeiten, die er sich immer wieder selbst einredet,
zu tun gehabt hätte. Jetzt geht das Raten und Unzulänglichkeitenwälzen
von neuem los.
Aber bevor sich Franz wieder in unerfreulichem Gegrübel verliert, wendet
er sich der anderen Frage zu, für die er seinen Computer braucht: Wer ist
dieser Entwickler von der International Automotive AG? Und wo wohnt
er? Nach zwei Minuten hat Franz herausgefunden, dass Fred Buck bei
der DLRG in Kornwestheim aktiv ist. Die Suchmaschine liefert unter
seinem Namen auch einen Link auf die Seite der DLRG und Franz
erkennt den Jugendleiter als den Entwickler aus Schweden. Als Nächstes
sucht er nach diesem Namen in Kornwestheim in der Telefonauskunft
und schon kennt er auch die Adresse – Karlsbaderstraße 16. Das ging ja
unerwartet schnell und die Adresse ist auch sehr nah an Franz' Wohnung
in Ludwigsburg.
Bevor er richtig nachgedacht hat, sitzt Franz wieder in seinem Auto und
ist auf dem Weg nach Kornwestheim. Der Ort liegt zwischen Stuttgart und
Ludwigsburg und ist eigentlich nicht besonders aufregend. Wenn, dann
kennt mancher noch die Schuhfirma Salamander, die hier ansässig ist.
Die Karlsbaderstraße liegt im Osten des Ortes in einem Wohngebiet, das
anscheinend zum größten Teil in den 1950er und 60er Jahren entstanden
ist.
Zwischen
vielen
Einfamilienhäusern
stehen
auch
einige
Mehrfamilienhäuser. Die Vorgärten sind überwiegend sehr gepflegt und in
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einigen Fällen von Gartenzwergen bevölkert. Manche Bewohner dieser
Gegend haben sicher auch Ähnlichkeit mit Gartenzwergen, die ständig
mit Schubkarre und Spaten durch ihren Garten ziehen – denkt sich Franz,
als er durch die Straßen fährt. Wer schon im liberalen Ludwigsburger
Westen mit der Kehrwocheninquisition in Konflikt gerät, sollte sich hier
eigentlich nicht bei Tageslicht blicken lassen. Hausnummer 16 ist ein
Mehrfamilienhaus, so viel kann Franz bei langsamem Vorbeifahren
erkennen; und dass sich nicht viel tut. An diesem eher regnerischen
Sonntagnachmittag ist kein Mensch weit und breit zu sehen. Als auch bei
der zweiten Vorbeifahrt alles ruhig ist, hält Franz den Wagen an und
steigt aus. Aus der Anordnung der Klingeln schließt er, dass dieser Fred
Buck wohl im 2. Stock unter dem Dach wohnen muss. Außerdem scheint
er nicht daheim zu sein – der Briefkasten quillt über. Er wurde wohl seit
ein paar Tagen nicht geleert.
Im Moment lässt sich hier also nicht mehr viel in Erfahrung bringen. War
zwar ein Schnellschuss, aber für einen ersten Eindruck war der kleine
Ausflug gut. Franz beschließt, wieder nach Hause zu fahren und morgen
zurückzukommen. Irgendwann geht ja jeder Urlaub mal zu Ende.
Direkt neben dem Haus, in dem Franz wohnt, ist eine Tankstelle mit
einem großen Shop. Der hat ihn schon öfter vor dem Hungertod bewahrt.
Auch heute parkt er sein Auto in einer der Seitenstraßen und geht dann
direkt zur Tankstelle. Er kennt das Tiefkühlpizza-Sortiment auswendig
und hat sich bereits für eine Thunfischpizza entschieden, als er den Shop
betritt. Den Weg zur Kühltruhe, von dort zur Kasse und dann zum
Ausgang würde er im Schlaf finden, so oft hat er ihn schon zurückgelegt.
Doch heute ist es nicht wie sonst. Heute muss er noch am Weinregal
vorbei und eine Flasche Chianti mitnehmen.
Während die Pizza im Ofen bäckt, geht Franz noch einmal in Ruhe durch,
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wie es mit dem S10 weitergehen soll – bloß nicht an Julia denken. Was
weiß er schon über das Projekt? Und was will er durch diesen Fred Buck
in Erfahrung bringen?
Franz hat den größten Teil seines Wissens über dieses Fahrzeug von
den Bildern, die er auf der Schwedenreise gemacht hat. Jemand, der an
dem Entwicklungsprojekt beteiligt ist, könnte schon noch einiges an
spannenden Informationen liefern. Wenn schon irgendwo Bilder eines in
der Entwicklung befindlichen Autos abgedruckt werden, wollen die Leute
auch wissen, wann dieses Auto auf den Markt kommt. Der Start of
Production oder kurz SOP ist ein Datum, das jeder Entwicklungsingenieur
für seine Projekte kennt. Die Leser interessieren sich aber sicher auch für
geplante
Motorvarianten
–
sechs
oder
acht
Zylinder,
Leistung,
Drehmoment und so weiter. Auch sehr gut wäre natürlich der
Verkaufspreis, aber den wird ein Entwickler eines Zulieferers nicht
kennen. Da müsste man schon an jemanden aus dem Marketing des
Fahrzeugherstellers herankommen. Dagegen könnte es schon eher eine
Chance
geben,
etwas
über
besondere
Funktionen
des
Infotainmentsystems zu erfahren. In den Versuchsautos sind zwar auch
hier wahrscheinlich noch nicht alle Funktionen verfügbar, aber das eine
oder andere lässt sich vielleicht doch schon erkennen. Als Franz seine
Fragen auf einen Zettel notiert hat, fällt ihm seine Pizza wieder ein. Er
nimmt das gute Stück aus dem Ofen. Er definiert die Farbe des Teiges
als dunkelbraun, obwohl man sicher auch über hellschwarz hätte
diskutieren können, und lässt sich sein Abendessen schmecken.
Erst als er ein paar Stunden später im Bett liegt, kann er die
schmerzlichen Gedanken an Julia nicht mehr verdrängen. Er fühlt sich
elend und hilflos. Er überlegt, ob er sie nicht einfach anrufen soll. Bisher
war ihm dieser Gedanke überhaupt nicht gekommen. Ihr Aufbruch am
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Morgen hatte etwas so Bestimmtes; da war für ihn klar, dass vorerst
keine Anrufe oder anderweitige Kontaktaufnahme gewünscht ist. Aber
vielleicht gilt das ja nur für diesen einen Tag. Morgen würde er es einfach
wagen – vielleicht.
Am nächsten Morgen steigt Franz aus dem Bett und quasi direkt in sein
Auto. Die Fotoausrüstung nimmt er mit, aber für ein Frühstück oder einen
Kaffee hat er keine Zeit, geschweige denn für eine Morgentoilette, die
über
schnelles
Zähneputzen
hinausgeht.
Er
fährt
wieder
nach
Kornwestheim. In einer Querstraße zur Karlsbaderstraße hat er eine
Bäckerei gesehen. Dort deckt er sich mit Frühstück ein – Kaffee aus dem
Pappbecher, eine Nussschnecke und ein Käsefuß; dem konnte er einfach
nicht widerstehen. Dann parkt er sein Auto so, dass er das Haus, in dem
Fred Buck wohnt, gut im Blick hat, ohne direkt davorzustehen. Ein
hässlich brauner VW Bus steht jetzt vor dem Haus und trotz der frühen
Morgenstunde brennt in einer der Dachwohnungen Licht. Franz steigt aus
und schlendert einmal zur nächsten Kreuzung und wieder zurück, um zu
sehen, ob der Briefkasten inzwischen geleert wurde. Als er wieder in
seinen Volvo steigt, ist er sich sicher, dass Herr Buck zurück ist. Er muss
jetzt erstmal warten.
***
Für Fred wird es jetzt langsam brenzlig. Er konnte die ganze Nacht kaum
schlafen. Erstens ist er nervös, weil er Angst vor dem Treffen mit diesem
seltsamen Typ hat. Bevor es aber soweit ist, muss er ja irgendwie Sandra
aus dem Haus lotsen. Jetzt rächt sich seine billige Geschichte mit dem
Projekt, für das er so plötzlich zurück nach Hause musste. Denn was
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würde denn nun näherliegen, als heute so früh wie möglich zur Firma zu
fahren, um diese wichtige Arbeit zu machen? Dass er den ganzen
Vormittag daheim sitzen will, ist doch höchst unplausibel. Das kann
eigentlich nur Ärger geben.
In Erwartung all dieses Ärgers tigert er seit sechs Uhr durch das
Wohnzimmer und versucht erfolglos seine Gedanken zu ordnen. Er deckt
den Frühstückstisch besonders schön, um etwas Ablenkung zu haben
und um damit auch Sandra etwas zu besänftigen, denn seit ihrer Abfahrt
aus Arco ist irgendwie dicke Luft. Aber, als Sandra gegen halb neun
aufwacht, kommt es, wie es kommen muss.
Als Sandra sieht, dass ihr Freund beabsichtigt, ganz entspannt zu
frühstücken, wird sie schon etwas misstrauisch, aber sie sagt erstmal
nichts. Eigentlich ist es ja auch ganz süß, dass Fred mal für sie beide
schön gedeckt hat. So häufig kommt das nicht vor. Sie lesen ein bisschen
in der Zeitung und unterhalten sich über die Dinge, die so in der Welt
geschehen sind. Dann geht Sandra ins Bad. Als sie gegen halb zehn
wieder zurückkommt und Fred immer noch ganz entspannt in der Zeitung
blättert, kommt ihr das Ganze doch spanisch vor. Sie fragt ihren Freund –
vielleicht in einem leicht schnippischen Ton – was denn diese ganze
Veranstaltung zu bedeuten habe; was er denn noch daheim tue, wenn die
Arbeit so dringend sei, dass man deshalb seinen Urlaub abbrechen
müsse. Wie gesagt, der Ton könnte etwas schnippisch gewesen sein,
aber diese Reaktion hat er sicher nicht gerechtfertigt. Fred explodiert
regelrecht. Das gehe sie doch nichts an, schreit er sie an. Und sie könne
ja gehen, wenn es sie störe, dass er noch daheim sitze. Das war Freds
letzter und ziemlich verzweifelter Versuch, Sandra für einige Zeit aus dem
Haus zu bekommen. Aber dieses Ziel erreicht er nicht. Dafür erreicht er,
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dass seine Freundin gekränkt und sauer zurückschreit, dass er ja wohl
total egoistisch sei. Alle sollten nach seiner Pfeife tanzen, aber
vernünftige Gründe für seine Zickereien gebe es keine. Der weitere
Dialog wird hier nicht wiedergegeben. Er hat aber nichts mit
achtungsvollem Umgang in einer Partnerschaft zu tun. Zuletzt rennt
Sandra aufgelöst ins Schlafzimmer und schließt ganz leise die Tür. Das
macht sie immer so, wenn sie richtig wütend und getroffen ist.
Fred bleibt in ebenfalls desolatem Zustand zurück. Er war eh schon fertig,
weil er einfach keine vernünftige Idee hatte, wie er es schaffen könnte,
um zehn Uhr allein in der Wohnung zu sein. Die Mit-dem-Kopf-durch-dieWand-Methode hatte als letzte Möglichkeit nun ja auch noch versagt. Und
zusätzlich hatte er auch noch richtigen Zoff mit Sandra, obwohl die doch
eigentlich die Einzige gewesen wäre, der er seine Probleme hätte
erklären können, aber das ging ihm erst jetzt – reichlich spät – auf. Es ist
schon kurz vor der vereinbarten Zeit. Er sieht nur noch eine Möglichkeit:
Selbst zum Angriff übergehen. Dann findet das Treffen eben nicht in
seiner Wohnung, sondern auf dem Bürgersteig davor oder sonstwo statt.
Er schnappt sich seine Jacke und die Tasche mit seinem Laptop. Als er
die Wohnung verlässt, hört er Sandra im Schlafzimmer schluchzen. Aber
dafür hat er im Moment keinen Sinn.
Als er aus dem Haus tritt, sieht er erstmal überhaupt nichts Auffälliges.
Erst auf den zweiten Blick bemerkt er doch etwas Ungewöhnliches und er
ist sich sicher, dass er den Ursprung der seltsamen Kontaktaufnahme
gefunden hat. An der Kreuzung parkt ein Volvo – so weit noch nicht so
aufregend. Aber in dem Auto sitzt ein Typ und beobachtet ihn. Fred
zögert
kurz
und
entscheidet
sich
dann,
seine
Offensivstrategie
weiterzuführen. Er geht zügig auf das Auto zu und versucht dabei so
entschlossen auszusehen, wie es ihm nach der Vorgeschichte des Tages
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möglich ist. Der Typ im Auto starrt ihn weiter an. Fred reißt die
Beifahrertür auf.
***
Franz hatte es sich erstmal mit seinem Frühstück im Auto bequem
gemacht. Viel Zeit konnte er sich damit aber sicher nicht lassen. Denn es
war Montag und da war es nur wahrscheinlich, dass der Entwickler früh
zur Arbeit ging, zumal es ja auch der erste Tag nach dem Urlaub war. Da
wollen viele Leute früh ins Büro, um noch ein bisschen Zeit für den vollen
Maileingang zu haben, bevor die üblichen Meetings beginnen. Als er
auch den Käsefuß – eine mit Käse überbackene Laugensemmel in
Fußform – gegessen hat, steigt seine Nervosität langsam, denn es wird
ihm bewusst, dass er eigentlich gar keinen Plan hat. Gut, er hat seine
Frageliste, aber keine Ahnung, bei welcher Gelegenheit er diese Fragen
stellen könnte. Was wird er denn tun, wenn dieser Buck das Haus
verlässt? Wird er sich auf ihn stürzen, ihn würgen und ihm die Fragen ins
Gesicht schleudern? Wohl eher nicht, dann könnte er sich ja gar keine
Notizen machen. Eher wahrscheinlich, dass er ihm mit dem Auto folgen
wird. Das würde ihm dann aller Voraussicht nach die Erkenntnis bringen,
dass der IAA Mitarbeiter zur IAA fährt, um dort zu arbeiten. Während er
also an seinem Schlachtplan feilt, fällt ihm auf, dass ihm nichts auffällt. Es
tut sich nichts. Es ist jetzt schon halb neun. In der Wohnung brennt seit
mindestens eineinhalb Stunden Licht und er sitzt hier und wartet, aber es
tut sich einfach nichts. Immer wieder laufen Menschen an seinem Auto
vorbei. Manche wundern sich offensichtlich, weil da einer im Auto sitzt
und wartet. Das fällt doch manchen Passanten auf. Nach ein paar
Minuten tut sich dann doch etwas; die Haustür von Nummer 16 geht auf.
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Als eine ältere Dame erscheint, die sich augenscheinlich auf den Weg
zum Einkaufen macht, sinkt sein Blutdruck schlagartig wieder ab. Franz
überlegt ernsthaft, ob er seinen Plan ändern muss. Vielleicht muss Fred
Buck heute ja doch nicht arbeiten. Vielleicht wird er ja das Haus zu einem
Spaziergang verlassen, bei dem sich dann tatsächlich eine Gelegenheit
zu einem Gespräch ergeben könnte.
Die Haustür öffnet sich wieder und diesmal erscheint tatsächlich Buck. Er
tritt nur einen Schritt heraus und blickt sich suchend um. So, und jetzt hat
er Franz entdeckt, na super. Was jetzt? Buck fixiert Franz, dessen
Blutdruck jetzt wieder zu einem Höhenflug ansetzt. Als er dann auch noch
auf ihn zukommt, schießen Franz zig Gedanken gleichzeitig durch den
Kopf: Flucht mit dem Auto; cool bleiben und einfach nichts anmerken
lassen; aussteigen und zum Zigarettenautomaten rüberlaufen; aussteigen
und wegrennen. Bevor Franz einen Entschluss fassen kann, reißt dieser
verrückte Typ die Beifahrertür seines Autos auf und steigt ein. Franz kann
gerade noch den leeren Pappbecher und die Bäckertüte in den Fußraum
schieben. Kurz bevor der Klos in Franz' Hals ihn von innen erwürgen
kann, hört er diesen Buck fragen, was er denn wissen wolle.
Wie bitte? So einfach hatte er sich das nicht vorgestellt. Bei all den
Varianten, die er im Geiste durchgespielt hatte, war die Möglichkeit, dass
der Typ ihn ansprechen würde, nicht vorgesehen. Diesen Plan gab es
nicht. Franz versucht, nicht allzu verständnislos zu glotzen, sondern eine
wichtige Miene aufzusetzen. Vorerst bringt er nur heraus: »Nicht hier!«
Aber das scheint er überzeugend zu bringen. Fred Buck verstummt und
sieht jetzt seinerseits verunsichert aus. Franz startet das Auto und fährt
los. Er fährt zunächst einfach geradeaus und biegt dann rechts ab. Er hat
sich an den alten Wasserturm erinnert. Im Sommer war dort immer ein
ganz netter, etwas alternativer Biergarten, aber um diese Zeit, morgens,
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sollte dort nichts los sein. Zumal er etwas außerhalb der Ortschaft liegt.
Sie fahren die paar Minuten schweigend. Erst als Franz den Motor wieder
abstellt, kommt er auf die Frage zurück, was er wissen wolle.
Er kann es eigentlich kaum glauben, aber als er die erste Frage nach
dem geplanten Produktionsstart des S10-Projekts stellt, antwortet sein
Beifahrer tatsächlich ohne zu zögern. Er scheint geradezu erleichtert,
dass die Fragen so einfach sind. Franz kramt seinen Notizblock aus der
Jackentasche und schreibt mit. Nach einer Viertelstunde ist er mit allen
Fragen, die er sich überlegt hatte, durch. Fred hat alles beantwortet. Bei
der Frage nach den Motorvarianten war er sich nicht ganz sicher, ob er
tatsächlich alle kenne. Komischerweise hat er nie eine Gegenfrage
gestellt, zum Beispiel, warum er eigentlich all diese Antworten geben
solle. Aber auch Franz hat nicht danach gefragt, warum Fred eigentlich
so freigiebig Betriebsgeheimnisse ohne jede Gegenleistung ausplaudere.
Nachdem also alles gefragt ist, fährt Franz Fred wieder nach Hause. Als
dieser aussteigt, scheint er sehr erleichtert. Sie reichen sich die Hand
ohne weitere Worte zu wechseln. Franz hält nur kurz an und fährt dann
zurück nach Ludwigsburg.
So einfach hatte Franz sich das nicht vorgestellt. Er fühlt sich fast
überrumpelt, obwohl er ja bekommen hat, was er wollte. Aber irgendwie
ist ihm doch klar, dass es bei dieser Sache nicht mit rechten Dingen
zugegangen sein kann. Das war ja fast so, als ob ein Testfahrer mit
einem supergeheimen Erlkönig bei ihm vor die Tür gefahren käme und
ihn fragen würde, ob er denn nicht ein paar schöne Fotos von dem Auto
machen wolle.
Zu Hause wertet Franz seine Notizen aus und macht daraus ein schönes
Infopaket. Dieses möchte er natürlich zuerst dem Redakteur der
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Zeitschrift Motorhobby anbieten, der schon die ersten Bilder des S10
gekauft hat. Aber, wenn der nicht anbeißen würde, würde die Mail mit
dem Angebot auch an seine übrigen Kunden gehen. Er formuliert gerade
einen Absatz seiner Mail, in dem er die Quelle der geheimen
Informationen beschreibt – es macht ja was her, wenn man behaupten
kann, dass die Info von Mitarbeitern des Entwicklungsprojekts kommt –,
als er nochmal über die Umstände nachdenkt, unter denen er an die Infos
gekommen ist. Er macht sich langsam wirklich Sorgen, was diesen Fred
dazu getrieben haben könnte, ihm diese Geheimnisse einfach so auf dem
Silbertablett zu servieren. Noch bevor er seine Mail an die Motorhobby
abschickt, ist er sich sicher, dass er der Sache noch weiter nachgehen
muss.
***
Als Fred wieder vor seinem Haus steht, ist ihm mulmig. Einerseits hat er
gerade einige Infos herausgegeben, die man sicher als geheim
bezeichnen könnte. Andererseits arbeiten hunderte oder gar tausende
Leute an dem S10-Projekt, die alle diese Infos haben. Jeder hätte die
weitergeben können. Das Dumme ist nur, dass der Typ ja seinen Namen
kennt und ihn möglicherweise verrät, auch wenn Fred erstmal keinen
Anlass hat, das zu glauben. Ansonsten ist er aber auch irgendwie
erleichtert, weil er sich sonst was alles vorgestellt hatte, und dann war es
ja doch nicht so wild. Der Typ stellt ein paar einfache Fragen und das war
es dann. Eigentlich ist Fred ganz gut drauf, als er die Treppen zu seiner
Wohnung hochläuft. Erst als er vor der Wohnungstür nach seinem
Schlüssel kramt, fällt ihm der Zoff mit Sandra wieder ein, aber den wird er
hoffentlich auch wieder geradebiegen können, wenn er ihr einfach
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erzählt, warum er sich in den letzten Tagen so komisch verhalten hat.
Doch als er die Wohnung betritt, ist alles ruhig. Er ruft nach Sandra,
bekommt aber keine Antwort. Er geht ins Schlafzimmer, aber da ist sie
nicht mehr. Im Wohnzimmer kann er sie auch nicht finden. Die Küche ist
leer. Auch im Arbeitszimmer und im Bad ist sie nicht. Sollte es also doch
nicht so leicht werden, den Streit wieder beizulegen? Wo könnte sie hin
sein? Zu ihrer besten Freundin Frieda oder doch zu Henriette nach
München? Ihre Eltern kämen natürlich auch in Frage. Aber so richtig übel
war die Auseinandersetzung doch gar nicht. Sollte sie da wirklich ohne
weitere Worte gegangen sein? Nichtmal einen Zettel hat sie auf den
Küchentisch gelegt. Einfach mal bei ihr anrufen und die Sache wird sich
aufklären? Fred wird stutzig, als er zum Telefon greift. Auf dem Bord
neben der Basisstation des Telefons liegen Sandras Schlüssel, ihre
Geldbörse und auch ihr Handy. Das passt nicht zu Sandra. Ohne diese
Dinge verlässt sie nie, wirklich nie, das Haus. Was hat das zu bedeuten?
Fred läuft nochmal durch die Wohnung, diesmal mit einem noch
mulmigeren Gefühl. Sandra ist natürlich immer noch nicht da, oder spielt
sie wieder ihr Versteckspiel? Im Wohnzimmer ist alles unverändert und in
der Küche stehen noch die Reste ihres Frühstücks auf dem Tisch. Im
Arbeitszimmer ist alles in Ordnung. Ihr gemeinsamer Laptop steht nicht
mehr auf dem Schreibtisch. Sonst scheint nichts zu fehlen. Was sollte
Sandra damit tun? Das ergibt doch alles überhaupt keinen Sinn! Noch
weniger versteht Fred, als er im Flur bei den Schuhen sein T-Shirt von
gestern liegen sieht. Das geht doch gar nicht. Sandra hasst es, wenn er
seine Klamotten einfach irgendwo liegen lässt. Deshalb gab es schon xmal Streit – früher, bis er es gelernt hatte. Klamotten, die dreckig sind,
kommen in den Wäschekorb; saubere, noch tragbare Klamotten kommen
in den Schrank oder werden angezogen. Klamotten liegen nicht auf Sofas
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oder Stühlen oder Betten rum. Ein T-Shirt im Flur bei den Schuhen wäre
für Sandra wirklich ein Grund Hals über Kopf wegzurennnen. Er hat
dieses Teil sicher nicht da hingeworfen, und zufällig passiert so was doch
eigentlich auch nicht. Die Waschmaschine steht im Bad und sie wurde
nach dem Urlaub auch noch nicht eingeschaltet.
Fred läuft zunehmend kopflos durch die Wohnung. Plötzlich klingelt das
Telefon – Telefone klingeln doch eigentlich immer plötzlich, oder? Es
meldet sich ein Franz. Fred braucht ein paar Augenblicke, bis er kapiert,
dass das wieder der Typ von vorhin ist. Als der etwas von weiteren
Fragen faselt, die er vorhin vergessen habe, platzt Fred der Kragen. Er
schreit in den Hörer, was denn der ganze Blödsinn solle. Jetzt stellt er all
die Fragen, die ihn schon seit Tagen quälen. Er kann nicht anders.
Warum er ihm nachspioniere und ihn bedrohe, oder wie sollte sonst der
Zettel am Kletterseil zu verstehen gewesen sein? Und das alles wegen so
ein paar blöder Infos, die man in drei Wochen doch eh in jeder Zeitung
lesen könne? Am anderen Ende der Leitung ist erstmal Sendepause.
Fred kann nicht sagen, ob es betretenes, verärgertes oder vielleicht sogar
verängstigtes Schweigen ist. Dann sagt dieser Franz nur noch, dass er
nicht wisse, von was Fred da eigentlich rede, und hängt auf.
Dieses Telefonat hat also in verschiedener Hinsicht etwas Gutes. Fred
kann
mal
ein
bisschen
Dampf
ablassen,
auch
wenn
sein
Gesprächspartner anscheinend nicht der richtige Adressat ist; sagt er
zumindest. Außerdem hat Fred jetzt die Handynummer von diesem
Franz. Die wurde nämlich auf dem Display seines Telefons angezeigt,
und ihm ist sofort aufgefallen, dass es nicht die Nummer seiner
selbsternannten Freunde war.
Fred kann sich Zahlen ziemlich gut merken. Irgendwann ist ihm
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aufgefallen, dass er Zahlen oder Ziffern mit Farben verbindet. Jede Ziffer
hat für ihn eine Farbe und Zahlen sind damit eine Art Muster. Das hat er
sich nicht bewusst so ausgedacht, das ist bei ihm einfach so. Komisch ist
nur, dass diese Farben verschwimmen, sobald er versucht, sich auf die
Farbe einer bestimmten Ziffer zu konzentrieren. Trotzdem geht auch das.
Die Nachrichten seiner seltsamen Freunde hatten ihn aufgefordert, eine
Nummer anzurufen, die mit 6783 begann. Das wäre dann schwarz–
hellgelb–dunkelrot–blau. Die Nummer, die er jetzt auf der Anrufliste des
Telefons hat, beginnt mit 5430 – grün-gelborange-blau-schwarz.
Über die Farben macht sich Fred in diesem Moment keine Gedanken.
Aber die Nummern sind nicht gleich. Vielleicht hat dieser Franz
tatsächlich nichts mit den Nachrichten zu tun. Das glaubt er aber noch
nicht; er will es nicht glauben. Denn das würde bedeuten, dass er diesem
Franz ohne Not alles Mögliche über das S10-Projekt erzählt hätte.
Zweitens würde es bedeuten, dass er das Date mit diesen seltsamen
Leuten heute Vormittag verpasst hätte. Die wären also bei ihm
aufgekreuzt, während er schon bei Franz im Auto saß. Sandra wäre
daheim gewesen. Diese Gedanken gefallen Fred nicht. Das ist der
Hauptgrund, warum er noch nicht glauben will, dass Franz nichts mit der
Sache zu tun haben soll. Warum sollte dieser Typ denn dann vor seiner
Haustür im Auto sitzen? Und warum sollte er ihn mit Fragen zu genau
dem S10-Projekt löchern, von dem auch in der Mail die Rede war? Das
wäre ja schon ein großer Zufall.
Fred wird in seinen Gedanken unterbrochen, weil sein Handy klingelt.
Das Display zeigt: »Unbekannte Rufnummer«.
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Franz ist mal wieder ratlos. Sein Versuch, nochmal mit Fred Kontakt
aufzunehmen, um herauszubekommen, warum der ihm so einfach
sämtliche Fragen beantwortet hat, war ja ein voller Erfolg. Jetzt weiß
Franz, dass es irgendwelche Nachrichten an Fred gab, und dass der sich
verfolgt fühlt. Also, entweder ist er da an einen ganz großen Spinner
geraten, oder ...? Tja, oder was? Franz ist, wie gesagt, ratlos, was hinter
dieser Sache stecken könnte. Jetzt hat er also schon zwei Gründe ratlos
zu sein; der erste ist Julia.
Er setzt sich wieder an seinen Computer. Das Internet weiß ja schließlich
fast alles und ist nie ratlos. Vielleicht kann es ihm auch hier helfen.
Natürlich nicht bei der juliaschen Ratlosigkeit, aber vielleicht findet sich ja
irgendein Anhaltspunkt, wenn man nach dem S10-Projekt recherchiert. In
den diversen Autofanatiker-Foren kursiert ja doch so manches an
Gerüchten und harten Fakten, die oft nur schwer zu unterscheiden sind.
Aber bevor er das Internet auf seine Ratlosigkeit loslässt, schaut er
nochmal in seine Mails, um zu sehen, ob sich die Erkenntnisse aus
seinem Gespräch mit Fred schon zu Geld machen lassen. So ist das
Geschäft. Womit er in diesem Moment nicht rechnet, ist, eine Nachricht
von Julia zu bekommen.
Sie schreibt, dass sie ihn unbedingt sehen wolle, und ob er nicht heute
noch zu ihr nach München kommen könne. Also setzt sich Franz sofort
ins Auto und düst los. So hätte sie das wohl gerne. Hallo? Geht’s noch?
Erst ohne jede Erklärung einfach abhauen. Ihn mit all seinen Fragen
alleine lassen. Ihn womöglich auch noch mit den Erlkönigbildern des
Porsche über den Tisch ziehen. Und dann darf er auf Kommando wieder
angetrabt kommen. Das wäre ja noch schöner. So geht es ja nun wirklich
nicht. Und auch jetzt wieder ohne jede Erklärung, erst recht ohne
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Entschuldigung. Nicht mal für den berühmten Zweizeiler hat es gereicht.
Die Mail hat auf seinem Monitor gerade mal eineinhalb Zeilen.
Andererseits beschäftigt es ihn ja schon, warum es mit Julia nicht
geklappt hat. Vielleicht ist ja auch alles nur ein Missverständnis?
Vielleicht hatte Julia ja einen ganz anderen wichtigen Grund, plötzlich
zurück nach München zu fahren. Es könnte ja auch ein Anruf vom
Nachbarn gewesen sein, dass ein Wasserrohrbruch ihre Wohnung
geflutet hat. Aber hätte sie das dann nicht sagen können? Diese wenig
ergiebigen Gedanken besetzen jetzt wieder seine Denkmaschine und
dulden nichts anderes neben sich. Franz ahnt, dass er auf längere Zeit
einen beträchtlichen Teil seiner Gehirnkapazität für das Thema »Julia und
ihr plötzliches Verschwinden« reservieren muss, wenn er nicht doch
nochmal mit Julia redet.
Also sitzt Franz, zwar nicht sofort, aber doch nach nicht allzu langer Zeit
in seinem Auto und fährt Richtung München. Die gleiche Strecke, die er
erst kürzlich auf dem Heimweg vom Großglockner in anderer Richtung
gefahren war. Die eher unerquickliche Strecke zwischen Stuttgart und
München. Der erste Teil geht ja noch, am Flughafen vorbei, dann zur und
schließlich auf die Schwäbische Alb hinauf. Aber sobald man den
Albaufstieg erstmal erklommen hat, wird es eher langweilig. Er hat also
wieder genug Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen.
Von unterwegs ruft er Julia auf ihrem Handy an. Jetzt wird das ja wohl
erlaubt sein. Ihr Eineinhalbzeiler hat ja keinerlei Angaben zu möglichen
Treffpunkten enthalten und Julias Adresse kennt Franz auch nicht. Er
weiß nur, dass sie in München wohnt. Es klingelt nur zweimal, als Julia
schon abhebt. Franz vermeidet bewusst jede Frage nach dem Warum
und Wieso. Er sagt ihr nur, dass er schon im Auto sitze und auf dem Weg
nach München sei, und will wissen, wo man sich denn treffen wolle. Sie
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schlägt das Max Emanuel als Treffpunkt vor. Sie werde in zwei Stunden
dorthin gehen und er könne sie dort treffen. Daheim halte sie es im
Moment eh nicht aus, und wenn das Wetter so schön bliebe, wie es im
Moment sei, könnten sie ja auch im Biergarten sitzen – Adresse:
Adalbertstraße 33 in Schwabing.
Franz hält auf dem nächsten Autobahnparkplatz an und packt sein
analoges Navi aus – ein zerknitterter Stadtplan von München aus dem
Jahr 1970, dem Geburtsjahr von Fred Buck. Einige Kilometer weiter
verlässt Franz die A8 und fährt auf dem Autobahnring um die Stadt
herum bis zum nördlichen Kreuz und dann auf der Ingolstädter Straße
Richtung Zentrum. Die Adalbertstraße liegt in der Maxvorstadt, dem
Münchner Stadtteil, den viele gerne noch dem wesentlich bekannteren
Schwabing zuschlagen. Mit diesem gemeinsam hat die Maxvorstadt die
akute Parkplatznot. Franz dreht also einige Runden, bis er in der
Türkenstraße endlich einen Platz gefunden hat.
Er ist etwas unsicher, was ihn erwartet, als er die Wirtschaft betritt. Er
entdeckt Julia sofort. Sie sitzt an der Theke und nippt an einem Glas
Mineralwasser. Auch sie sieht Franz gleich, als er in den Raum kommt.
Sie hat ja auf ihn gewartet. Die Begrüßung fällt anders aus, als er es
erwartet
hätte.
Auch
hier
haben
seine
stundenlangen
Autofahrtgrübeleien, in denen er alle möglichen Szenarien durchgespielt
hatte, die Realität nicht einfangen können. Julia steht auf, geht zwei
Schritte auf Franz zu und küsst ihn auf den Mund. Dann fällt sie fast in
sich zusammen. Franz hilft ihr wieder auf ihren Stuhl. Julia sieht total
fertig aus, als ob sie gerade noch mit letzter Kraft bis jetzt durchgehalten
hätte – bis jetzt, wo Franz endlich da ist. Dennoch brauchen sie erst
wieder etwas Zeit zum Warmwerden, obwohl sie ja erst vor Kurzem noch
zusammen gefrühstückt hatten. Aber seitdem ist sehr viel passiert und
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beide können nicht direkt herausplatzen, um auf ihren jeweiligen Punkt zu
kommen. Denn es sind nicht die gleichen Gründe, die sie hier an diesem
Tisch zusammengeführt haben, wie sie bald feststellen werden.
***
Fred wird mal wieder nervös, als sein Handy klingelt – unbekannte
Rufnummer. Er nimmt das Gespräch an und hört die Stimme des
Mannes, mit dem er schon am Gardasee telefoniert hatte. Jetzt kehrt sich
plötzlich die Richtung um. Bisher war er immer aufgefordert worden, sich
zu melden. Jetzt rufen sie ihn an. Er braucht nicht zu ahnen, dass das
kein gutes Zeichen ist. Er weiß es. Aber als er Sandras Stimme hört,
verschlägt es ihm den Atem. Sie ist völlig aufgelöst, sagt Dinge, die Fred
zunächst überhaupt nicht einsortieren kann. Die hätten sie mitgenommen.
Sie führen irgendwohin, auf der Autobahn. Es gehe ihr gut, aber sie wisse
nicht, was das solle. Die hätten gesagt, er, Fred, solle sich ab jetzt an die
Abmachungen halten. Das alles sei kein Spaß. Sie habe Angst. Die
würden sich wieder bei ihm melden. Dann ist das Gespräch
unterbrochen.
Langsam macht sich Panik breit. Fred hatte die Situation ja vorher schon
nicht unter Kontrolle, aber jetzt ist ihm das auch selber zum ersten Mal
ganz klar. Das macht alles nicht besser. Was soll er jetzt tun? Die Polizei
anrufen? Die würden ihn ja wohl erstens für einen Spinner halten, und
außerdem hat man ja schon in diversen Krimis gesehen, dass das
Einschalten
der
Polizei
in
solchen
Fällen
meist
nur
negative
Auswirkungen hat. Also einfach abwarten? Das verstärkt das Gefühl der
Hilflosigkeit nur, weil man dann ja tatsächlich keine Initiative ergreifen
kann. Fred läuft eine Weile orientierungslos durch die Wohnung, soweit
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man in seiner eigenen Wohnung orientierungslos sein kann. Dann kommt
er endlich zu der Einsicht, dass er irgendwie wieder runterkommen muss.
Er muss versuchen zusammenzutragen, was die Fakten sind. Vielleicht
kommt dabei ja etwas zu Tage, das er bisher nicht bedacht hat.
Also, alles fing vor knapp einer Woche mit dieser komischen Mail an, kurz
bevor er in den Urlaub gehen wollte. Dann gab es diesen Zettel in Italien
am Seil. Er hat die angegebene Nummer angerufen und es hat sich ein
Mann gemeldet, dessen Stimme Fred eigentlich ganz sympathisch und
nicht bedrohlich fand. Dieser Typ wollte sich mit Fred heute Morgen in
seiner Wohnung treffen. Ungefähr zu der vereinbarten Zeit hat Fred
diesen Franz in dessen Auto aufgestöbert und mit ihm gesprochen.
Während sie weg waren, hat anscheinend jemand Sandra entführt. Fred
läuft es bei dem Gedanken an das Wort »Entführung« kalt den Rücken
hinunter, aber letztlich ist es genau das, eine Entführung. Die Nachrichten
waren immer mit irgendwas von »Freunden« unterzeichnet. Es scheinen
also mehrere zu sein, wenn man hier das Wort »Freunde« inklusive
seines Plural auf die Goldwaage legen darf. Jedenfalls war dieser Franz
nicht der Typ vom Telefon. Das geht ihm allerdings erst jetzt auf. Die
Stimme war ganz anders und der Mann, mit dem er telefoniert hatte,
hatte einen ausländischen Akzent. Aber was sollte denn der Grund für all
das sein? Was bitte sollte an seiner Arbeit so spannend sein, dass man
deshalb Menschen entführt? Oder sollte es gar nicht um seine Arbeit
gehen – Sandra ist in der Pharmaindustrie beschäftigt. Oder vielleicht
nicht um das S10-Projekt? Aber die anderen Projekte, an denen er
beteiligt ist, sind seiner Meinung nach auch nicht grundsätzlich anders.
Nochmal zurück zu den Fakten! Fred hat sich das Nummernschild des
Volvo von diesem Franz gemerkt: LB – FS weiss-schwarz-blau oder 103.
Das ist doch immerhin ein erster Anhaltspunkt. Er googelt nach dem
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Kennzeichen, aber das liefert keinen verwertbaren Treffer. Er sucht nach
»Autokennzeichen LB-FS 103«, aber auch das bringt nichts. Es scheint
keine Internetseite zu geben, auf der man die Fahrzeughalter zu einem
bestimmten Nummernschild ermitteln kann. Immerhin findet er heraus,
dass das Kennzeichen vergeben ist. Man kann es nicht mehr als
Wunschkennzeichen reservieren. Außerdem sucht er im Internet nach
den beiden Telefonnummern, aber nach einer Stunde hat er auch hier
nichts gefunden, das ihn wirklich weiterbringen würde.
Fred macht sich Sorgen. Wo hat er Sandra da nur reingezogen?
Irgendwann meldet sich sein Magen. Er hat seit dem Frühstück nichts
mehr gegessen und jetzt ist es schon fast sechs Uhr. Weil nichts anderes
mehr da ist, macht sich Fred an die eiserne Ration, eine Packung
Knäckebrot und einen Block Gouda von einem großen Discounter –
beides praktisch unbegrenzt haltbar und deshalb fast immer bei Fred und
Sandra vorrätig. Widerwillig isst er Bissen für Bissen zwei Scheiben Brot
und etwas Käse. Er bringt kaum etwas hinunter. Wie auch. Er sitzt mitten
in der Scheiße und kann sich nicht selbst herausziehen. Er muss einfach
warten.
***
Zuerst sitzen beide da und wissen nicht so recht, wie sie anfangen sollen.
Ihnen gehen die Gedanken wirr durch den Kopf. Sie hatten beide nicht
die Zeit, sich zu ordnen und sich auf dieses Wiedersehen nach nur ein
paar Stunden vorzubereiten. Franz beginnt endlich einen Satz mit
»Warum ...« zu formulieren, aber nach diesem ersten Wort beißt er sich
bereits auf die Zunge. Ist das nicht schon zu anklagend? Julia beginnt mit
»Ich wollte dich nicht ...« aber auch sie kommt nicht weiter. Sie hat einen
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Knoten in der Zunge. Franz macht sich Gedanken über das, was ihre
Beziehung werden könnte. Das beschäftigt Julia natürlich auch, aber da
gibt es noch etwas, das ihr große Sorgen macht. Als sie Franz mailte und
ihn bat nach München zu kommen, war sie sicher, dass sie mit ihm über
dieses Thema reden müsse. Jetzt kommen ihr wieder Zweifel. Sie ist sich
jetzt nicht mehr sicher, ob es fair wäre, ihn da mit reinzuziehen.
Andererseits hängt er eh schon mit drin, ohne es zu wissen. Es wäre also
nur recht und billig, ihn nicht länger im Dunkeln zu lassen. Das wäre
wahrscheinlich die einzige Chance, den Schaden, den sie angerichtet
hat, wiedergutzumachen. Ihr ist jedenfalls klar, dass sie Schaden
angerichtet hat.
Schließlich beginnt sie zu reden – trotz Knoten in der Zunge. Sie möchte
zuerst versuchen ihre Beziehung zu Franz zu klären, bevor sie mit ihrem
Hauptproblem herausrückt. Julia erklärt Franz, dass es ihr schrecklich
leid tue, dass sie ihn in Fusch nach dieser schönen Nacht einfach so
habe sitzen lassen. Sie könne sich vorstellen, dass er sich sicher viele
Sorgen und Gedanken gemacht habe. Sie habe auch versucht, sich in
seine Lage zu versetzen und könne nachempfinden, dass er sauer auf
sie sein müsse. Der Gedanke mache sie traurig, weil sie ja eigentlich
glücklich gewesen sei, wie sich die Dinge in Österreich entwickelt hätten.
Sie habe irgendwie schon länger gemerkt, dass sie sich zu Franz
hingezogen fühle, und sei froh gewesen, dass es ihm anscheinend
genauso ergangen sei.
Franz ist mal wieder verwirrt. Einerseits spricht Julia ja genau an, was
ihm seit Fusch immer wieder durch den Kopf kreist, wie eine
Stubenfliege, die aufgeregt durch seine ansonsten gedankenleere Birne
brummt – immer von einer Ecke zu anderen. So eine richtig große, fette
Stubenfliege. Also, alle diese kreisenden Gedanken spricht sie an. Und er
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erkennt, dass sie sich wirklich in ihn hineinversetzt. Aber sie löst das
Kreisen nicht auf. Dabei wäre sie doch diejenige, die genau das könnte.
Was sind denn nun die Antworten auf diese bohrenden Fragen? Warum
ist sie so plötzlich abgereist? Hat sie auf einmal doch Zweifel bekommen,
ob eine ernsthafte Beziehung zu Franz Sinn macht? Hat sie die
gemeinsame Nacht als einen Fehler empfunden?
Julia redet und redet, aber die Fliege brummt immer noch durch Franz'
Kopf. Bis er endlich, endlich fragt: »Hast du es für einen Fehler
gehalten?« Julia stutzt kurz. Sie versteht erst jetzt, dass sie ihn immer
noch im Unklaren gelassen hat. »Nein!«, sagt sie und fällt ihm um den
Hals. Was folgt, ist eine Szene wie aus einem Rosamunde-Pilcher-Film,
allerdings
ohne
englische
Klippen,
dafür
mit
einer
Münchner
Gastwirtschaft als Kulisse. Franz ist jedenfalls glücklich. Alles scheint sich
zum Guten zu wenden. Bis die »Warum?«-Frage wieder losbrummt:
»Warum bist du dann so plötzlich weg? Ging dir alles zu schnell?
Brauchtest du Zeit?«
Damit waren sie bei Julias Hauptproblem angekommen. Jetzt musste sie
auspacken. Sonst wäre der gerade eben mit ein paar innigen
Liebesschwüren
Andererseits
gekittete
würde
das
Beziehungsanfang
Hauptproblem
gleich
wieder
dahin.
sofort
eine
heftige
Bewährungsprobe für das junge Liebespflänzchen bedeuten; soviel war
klar. Aber es hilft ja nichts. »Ich habe die Info verkauft«, bringt Julia
endlich über die Lippen. »Ich musste so schnell wie möglich meine
Kontaktperson treffen. Deshalb bin ich so Hals über Kopf los.« Also doch,
was er vermutet hat! Sie hat die gemeinsam erarbeiteten Erkenntnisse
über den Porsche zu Geld gemacht und ihn über den Tisch gezogen.
Franz ist maßlos enttäuscht. »Wenn ich dir angeblich so viel bedeute,
warum ist dir dann sogar dieser läppische Porsche-Deal wichtiger? Das
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passt doch nicht zusammen!« Aber da hatte er Julia dann doch falsch
verstanden. Es geht nicht um den Porsche.
Bevor sie erzählt, um welche Infos es denn eigentlich gegangen ist, muss
sie erst loswerden, dass sie nicht freiwillig Franz' Arbeit weiterverkauft
hat. Sie hatte keine andere Wahl. Angefangen hatte alles damit, dass sie
einfach eine Pechsträhne hatte. Ein paar notwendige aber teure
Anschaffungen – ein neues Auto, weil der alte Polo nicht mehr zu TÜVen
war, ein neues Kameragehäuse, weil mit den Bildern des alten
Fotoapparats kein Staat mehr zu machen war – zu lichtschwach der
Sensor bei zu geringer Auflösung. Gleichzeitig hatte sie Pech bei der
Erlkönigjagd. Die Bilder vom Porsche, die sie zusammen mit Franz
gemacht hat, waren seit Langem die ersten gelungenen Erlkönigbilder.
Sie hatte also finanzielle Schwierigkeiten und nicht den Schufa-Leumund,
der es einem erlaubt, ohne weiteres zu einer Bank zu gehen und einen
Kredit zu beantragen. Das Ergebnis war ein Geschäft mit einem auf den
ersten Blick unangenehmen Zeitgenossen. Als Julia dann die Raten nicht
bedienen konnte, wurde der Typ auch noch ungemütlich. Eines Abends
stand er mit einem zweiten Mann, der sich als Alexej vorstellte und
keinen sympathischeren Eindruck machte als der namenlose Kredithai,
vor Julias Wohnungstür. Sie erkannte die Situation sofort und geriet in
Panik, aber was sollte sie tun, als einen Schweißausbruch zu bekommen
und die beiden hereinzubitten. Es war zu spät, die Tür wieder
zuzuknallen; da stand schon mindestens ein Fuß drin. Schreien hätte
sicher auch nicht zur Deeskalation beigetragen. Also, keine anderen
Optionen. Sehr zu Julias Erstaunen und zunächst auch zu ihrer
Erleichterung ließen sich die beiden in ihrem Wohnzimmer nieder und
baten um je ein Glas Wasser. Nachdem Julia mit den gewünschten
Getränken zurück war, begannen sie eine lockere Plauderei über ihre
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Arbeit. Das Gespräch blieb eine Weile bei diesem Thema. Nur mit der
Lockerheit war es dann doch recht schnell vorbei.
***
Fred ist am Verzweifeln. Seit Stunden hat er nichts mehr von Sandra
gehört. Sie geht nicht an ihr Handy – wie auch, es liegt ja auf dem
Telefonkästchen – und hat sich auch nicht mehr bei ihm gemeldet. Er ist
inzwischen immer wieder sämtliche Fakten durchgegangen, die er kennt.
Aber das hat ihn keinen Deut weitergebracht. Er weiß nur, dass Sandra
ziemlich sicher in Gefahr ist. Aber er hat keine Ahnung, wie er ihr helfen
könnte. Er hat nicht einmal eine konkrete Vorstellung, warum sie
überhaupt in diese Situation geraten sind.
Was soll er jetzt tun? Wohin soll er gehen? Mit wem könnte er reden?
Nichts. Er kann wohl nichts tun. Wenn er das Haus verlassen würde?
Wahrscheinlich würde er beobachtet und Sandra würde womöglich in
noch größere Gefahr gebracht. Mindestens aber würde er dann Gefahr
laufen, einen Anruf auf seinem Festnetztelefon zu verpassen, falls das
jemand anrufen wollte. Wenn er jemanden anrufen würde? Dann könnte
er auch einen Anruf von Sandra oder ihren Entführern verpassen.
Außerdem hat er keinen Telefonjoker, der ihm in dieser Sache helfen
könnte. Also sind das schon mal keine Optionen. Einfach fernsehen oder
schlafen? Unerträgliche Gedanken. Einfach in der Küche sitzen und
nichts tun? Er könnte bei einem der anderen Hausbewohner klingeln, um
wenigstens etwas Ansprache zu haben. Allerdings hat er zu diesen
Leuten überhaupt keinen Draht. Die Unterschiede in der Wellenlänge sind
so groß, dass er diese Möglichkeit auch verwirft.
Er geht zum Fenster und starrt hinaus. Was er sieht, muntert ihn
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überhaupt nicht auf. Er sieht die Leute in ihrer Idylle, wie sie ihren
üblichen Alltagsbeschäftigungen nachgehen. Eine Frau schiebt einen
Kinderwagen vorbei; auf dem Buggyboard steht noch ein älteres
Geschwisterkind. Es zappelt rum und schreit. Das Gepäcknetz unter dem
Kinderwagen ist voll bepackt, und die Mutter hat einen vollen Rucksack
auf dem Rücken. Eigentlich sieht die Szene nach einer ziemlichen
Plackerei aus. Fred denkt nur: »Die haben alle überhaupt keine
Probleme.« Er sieht keine düsteren Gestalten, die seine Wohnung
beobachten. Er sieht auch nicht den alten Volvo; nichts, das in
irgendeinem Zusammenhang mit seinen Problemen stehen könnte. Wenn
er da etwas entdecken könnte, dann wäre das vielleicht auch eine
Möglichkeit, endlich wieder die Initiative zu ergreifen und aus der
Passivität zu kommen. Aber er entdeckt nichts; nicht weil er schlecht
sehen würde. Es gibt schlicht nichts zu entdecken. Er hat ausreichend
Zeit, alles ganz genau zu beobachten. Zeit, die er nicht haben will und die
viel zu langsam verstreicht, ohne dass irgendetwas passieren würde.
***
Die beiden Männer, die anscheinend irgendwo aus dem Osten kommen,
sind recht schnell bei dem Punkt angekommen, um den es ihnen
eigentlich ging. Julia kenne sich doch mit den Neuentwicklungen der
Autoindustrie gut aus. Es gebe da ein Auto-Projekt, das sich S10 nenne.
Julia entgegnet, dass sie natürlich schon von dem Projekt gehört habe.
Es sei aber noch in recht frühem Stadium und sehr geheim. Mehr als
dass es ein Projekt S10 gebe, wisse sie auch nicht. Ja, genau das sei
das Problem, erwidern ihre neuen Freunde. Sie bräuchten dringend
jemanden, der an der Entwicklung dieses Autos beteiligt sei – im Bereich
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Elektronik. Sie könne sich ja mal umhören. Aber länger als eine Woche
solle dieses Umhören nicht dauern. Und beim nächsten Besuch würde
dann sicher nicht mehr so viel geplaudert wie diesmal. Sie wisse ja
sicher, dass beim Geld der Spaß aufhöre, und so sei das eben auch hier.
Aber
sie
habe
ja
eine
faire
Chance,
bei
eventuellen
Zahlungsschwierigkeiten ihren Verpflichtungen auch auf andere Weise
nachzukommen.
Wenn sie etwas erfahren habe, solle sie sich in der Schwabinger TahitiBar einfinden. Dort werde sie immer ein offenes Ohr finden, man kenne
sie dort. Den Zusatz, dass Julia mit niemandem über diesen Besuch und
den Inhalt des Gesprächs reden dürfe, hätten sich die beiden sparen
können. Das war Julia auch so schon klar. Die Frage, was genau denn an
dem S10 so interessant sein solle, wurde einfach überhört.
»Und bevor ich richtig verstanden hatte, was eigentlich passiert war, saß
ich wieder allein in meiner Wohnung. Nur die zwei Wassergläser auf dem
Tisch zeigten mir, dass ich tatsächlich nicht geträumt hatte.«
Als Franz dann in Österreich so nebenbei von diesem Fred Buck
erzählte, der genau an diesem S10 arbeite, war das Julias Rettung. Da
war der unfreundliche Besuch schon neun Tage her und ihre
Verzweiflung wuchs, weil ihr klar war, dass sie sich auch in Österreich
nicht auf Dauer würde verstecken können. Also sei sie einfach
abgehauen, um so schnell wie möglich in die Tahiti-Bar nach Schwabing
zu kommen.
Hatte sich Julia früher noch gefragt, woran man sie denn in der Tahiti-Bar
erkennen könne, so war es jetzt schon etwas klarer. So viele Leute
verirren sich dann ja doch nicht mittags in einen eher zwielichtigen
Nachtclub. Und wenn es Männer gibt, die auch mittags noch nicht nach
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Hause gehen wollen, dann sind es doch weniger Frauen, die so ticken.
Julia steigt die Treppe zum Eingang hinab. Von der Straße aus gesehen
besteht die Tahiti-Bar nur aus einer Tür mit einem eher kleinen und
unscheinbaren Schild darüber. Sicher, nachts leuchtet und blinkt die
Schrift in sämtlichen Farben einer tahitianischen Blumenkette, aber um
diese Zeit ist die Beleuchtung abgeschaltet. Hinter der Tür führt besagte
Treppe in das Untergeschoss und erst dort kommt man in das eigentliche
Lokal. Es ist schummrig. Das Tageslicht hat Julia oben gelassen. Ihre
Augen müssen sich erst etwas adaptieren. Die Einrichtung besteht aus
einer bunten Mischung verschiedener Absonderlichkeiten. An einem
Tisch kann man auf Friseurstühlen Platz nehmen. In einer Ecke gibt es
ein großes Sofa. Lavalampen stellen den Bezug zu der Siebziger-JahreMusik her, die auch jetzt noch den Raum erfüllt – sicher leiser als im
vollen Betrieb.
Als Julia die sogenannte Bar betritt, ist ihr die volle Aufmerksamkeit aller
Anwesenden sicher. Das Lokal ist bis auf einen Angestellten, der die
Getränke der Bar auffüllt, leer. Der begrüßt Julia mit »Scheffe« und
verschwindet hinter einem Vorhang, anscheinend, um den Chef zu holen.
Nach wenigen Augenblicken erscheint einer der Brüder Karamasow.
Jedenfalls hatte Julia sich die Karamasows immer so ähnlich vorgestellt.
Damals, als sie das Buch in einem Anfall von Bildungsbeflissenheit
gelesen hatte. Herr Karamasow begrüßt Julia mit ihrem Namen, was
nicht dazu beiträgt, dass sie sich wohler fühlen würde. Er selbst stellt sich
nicht vor – es bleibt also bei Karamasow. Auch sonst ist er eher wortkarg:
»Und?« Julia ist ebenfalls nicht in Plauderlaune. Sie sagt nur »S10«. Ihr
Gegenüber
nickt. Dann sagt sie den Namen
Fred Buck und
Kornwestheim und International Automotive AG und »reicht das?« –
»Wenn das stimmt, sind deine Schulden in ein paar Wochen bezahlt. Wir
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werden uns diesen Buck vorknöpfen und dann schon aus ihm
rausbekommen, was wir brauchen. Wenn er das nicht liefern kann, hat er
eben Pech gehabt – und du auch.«
Als sie die Treppe aus der Unterwelt wieder erklommen hat, hat sie
Kopfschmerzen von der stickigen, abgestandenen Luft und von der
schlechten Gesellschaft. Das Tageslicht blendet sie. Sie hat ein Gefühl,
als würde sie beim Verhör mit einer Lampe angestrahlt, wie man es
immer im Krimi sieht.
Sie habe sofort gewusst, dass sie einen Fehler gemacht habe.
Wieder zu Hause fühlte sie sich nur noch schlecht, trotzdem sei sie
erstmal wie tot auf ihr Sofa gefallen. Dann folgte noch etwas Ratlosigkeit,
wie sie auch einige andere Protagonisten dieser Geschichte schon
kennen. Und schließlich habe sie sich entschlossen, Franz um Hilfe zu
bitten.
So und jetzt sitzen sie hier. Julia hat jetzt vor Franz ihre Geschichte
ausgebreitet und kann nur noch hoffen. Hoffen, dass er ihr die
Geschichte glaubt, dass er ihr verzeiht und dass er ihr helfen will.
Sicher, in jeder Beziehung gibt es Hoffnungen und Erwartungen – am
Anfang vielleicht ein paar mehr als nach vielen Jahren, wenn manches
schon etwas eingespielt ist, manches ausgesprochen und manche
Enttäuschung einsortiert wurde. Aber Julias Hoffnungen sind dann doch
etwas viel und auch etwas ungewöhnlich für den Anfang einer
glücklichen, gemeinsamen Zukunft.
Franz sitzt da und schweigt. In seinem Kopf brummt jetzt ein ganzer
Fliegenschwarm. Er versucht trotzdem seine Gedanken zu ordnen, aber
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das dauert etwas. Julia versucht in seinem Gesicht zu lesen, aber sie
kann sich keinen Reim machen. Als Franz endlich sagt: »Wir müssen
schnell los«, ist sie nicht schlauer. Immerhin sagt er »wir« und nicht
»ich«. Sie schöpft Hoffnung, ihr eigentliches Ziel tatsächlich zu erreichen.
***
Fred ist immer noch in seiner Kaninchenstarre gefangen. Er kann nicht
schlafen, nicht essen, nicht denken. Er sitzt daheim vor dem Fernseher
und bekommt überhaupt nichts mit. Diese Warterei macht ihn richtig
fertig, und die Sorgen um Sandra fressen ihn auf. Fred fallen gerade die
Augen zu, als das Telefon klingelt. Sandra weint. Sie sagt, man behandle
sie gut, aber sie habe Angst. Fred solle ihr helfen. Sie wisse, dass die
Herren, die sie mitgenommen hätten, keine Späße machen würden. Fred
kommt nicht dazu, irgendetwas zu sagen oder zu fragen. Dann wird
Sandra das Handy anscheinend aus der Hand gerissen. Sie kann den
gerade begonnenen Satz nicht zu Ende bringen. Dann ist der Typ dran,
mit dem Fred schon von Italien aus telefoniert hatte. Auch damals war
Fred schon nervös, jetzt ist er psychisch in absolut desolatem Zustand.
Der Russe – Fred hat ihn unter dem Namen verbucht – sagt ein paar
Sätze, die mit »Wenn du deine Frau wiedersehen willst, ...« beginnen und
mit »Keine Polizei« enden. Dann rückt er damit heraus, was er und seine
Kumpane
wollen.
Sie
wollen
alle
Informationen
über
die
Steuergeräteverschlüsselung des S10. Fred soll ihnen den Sourcecode
der Verschlüsselung und alle Passwörter besorgen, und zwar bis
übermorgen um zwölf Uhr mittags. Er hat also noch 40 Stunden Zeit. Man
würde ihm noch weitere Instruktionen geben. Er solle sein Handy bei sich
haben. Fred hat tausend Fragen. Vor allem ist ihm klar, dass er die
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Forderung nicht wird erfüllen können. Aber er kommt nicht dazu, dies
dem Russen zu sagen. Gerade, als er den Mund aufmachen will, legt der
einfach auf. Fred redet gegen das monotone »Tüüüt« der leeren Leitung
an. Die Stimme klang plötzlich überhaupt nicht mehr sympathisch.
Vor dem Gespräch war er schon in schlechtem Zustand, jetzt ist er am
Boden zerstört. Einerseits sind 40 Stunden eine Ewigkeit. So lange
besteht keine Chance, Sandra aus der Hand ihrer Entführer zu befreien.
Andererseits hat er nur 40 Stunden, um eine unlösbare Aufgabe zu lösen.
Der Sourcecode ist das Programm zur Verschlüsselung. Im Klartext: Wer
den hat, kennt den genauen Mechanismus. Wenn man dann auch noch
die erforderlichen Passwörter hat, stehen Tür und Tor offen, um das
elektronische System des Autos zu manipulieren. In Anbetracht der
Tatsache, dass in naher Zukunft alle Fahrzeuge des bayrischen
Mutterkonzerns von Hispano-Suiza diese Technik nutzen sollen, lässt
sich aus diesen Informationen ein Millionengeschäft mit gestohlenen oder
getunten Steuergeräten oder auch mit manipulierten Kilometerständen
machen. Es ist also logisch, dass diese Daten im Büro nicht am
schwarzen Brett ausgehängt werden. Fred hat keinen Zugang zu diesen
Informationen. Die Passwörter sind sicher einem Kollegen im Projekt
bekannt. Bei dem Programmcode ist er sich da nicht sicher. In vielen
Fällen liefern die Fahrzeughersteller so einen sensiblen Teil der Software
selbst. Der Lieferant eines elektronischen Systems baut dieses
Programm dann als Blackbox in seine Software ein, ohne den Inhalt
genau zu kennen. Der Lieferant bekommt in diesem Fall eben keinen
Sourcecode, sondern die fertige Software, aus der sich der Sourcecode
nicht mehr erkennen lässt. Das wäre der worst case. Dann hätte Fred
wirklich gar keine Chance, die Forderung zu erfüllen. Oder die Chance
wäre ungefähr so groß, wie wenn er bei der Deutschen Bank zehn
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Millionen Euro klauen sollte.
Außerdem ist das, was da verlangt wird, ja auch kein Kavaliersdelikt.
Fred darf natürlich auf keinen Fall so geheime Daten aus der Firma
schaffen und diese dann an irgendjemand weitergeben. Damit würde er
auf jeden Fall seinen Arbeitsvertrag verletzen; vielleicht würde er sich
auch strafbar machen. So genau weiß er das nicht. Noch mehr wiegt für
ihn ein Gefühl der Loyalität zu seinem Arbeitgeber, das ihm verbietet, der
Firma Schaden zuzufügen. Bei den Sachen, die er Franz erzählt hat,
lagen die Dinge anders – aus Freds Sicht. Andererseits, was bedeutet
»auf keinen Fall«, wenn es um seine Freundin geht, der er sich durch
mehr als Loyalität verbunden fühlt? Also, er muss versuchen die Daten zu
beschaffen und die Forderungen zu erfüllen.
Es ist kurz nach acht Uhr abends. In der Firma ist um diese Zeit natürlich
niemand mehr. Jedenfalls keiner, der Fred im Moment helfen könnte.
Zudem hat er ja überhaupt keinen Plan, an wen er sich wenden könnte
und wie er diesen jemand dazu bringen könnte, ihm zu helfen. Er schaltet
seinen Laptop ein. Zum Glück hat er es sich zur Gewohnheit gemacht,
jeden Abend seinen Laptop aus der Firma mitzunehmen. Wenn
irgendetwas passiert, er zum Beispiel krank wird, kann er von zu Hause
wenigstens die wichtigsten Dinge noch erledigen. Er verbindet den
Firmenlaptop mit seinem WLAN daheim und stellt über ein Virtual Private
Network, kurz VPN, eine Verbindung zum Netzwerk der IAA her. Jetzt hat
er ungefähr denselben Zugriff, wie wenn er im Büro an seinem Rechner
sitzen würde. Er klickt die Projektablage auf dem Firmenserver an und
hangelt sich durch die verschiedenen Projektmanagementordner. Da gibt
es immer irgendwo eine Datei, in der alle Projektmitarbeiter aufgelistet
sind.
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Fred ist Applikateur. Er hat mit der Erstellung der Software eigentlich
nichts zu tun. Das ist Joshis Job. Joshi ist der Softwareentwickler, mit
dem Fred zu tun hat, wenn er Änderungen für das S10-Projekt braucht.
Die Frage ist, ob noch andere Softwerker im Hintergrund an dem Projekt
beteiligt sind. Die Antwort kennt er eigentlich schon. In diesem relativ
kleinen Projekt gibt es außer Joshi keine anderen Software-Schreiber.
Vielleicht vergibt Joshi ab und zu Arbeitspakete an Kollegen von IAA in
Indien. Aber wenn er das macht, dann wahrscheinlich nicht für so
sensible Teile wie die Verschlüsselung. Das wäre dann schon mal ganz
gut. Joshi ist ein sehr hilfsbereiter Typ, mit dem sich Fred gut versteht. Im
normalen Leben hätten sich Fred und Joshi eher nicht kennengelernt.
Joshi ist eine recht seltsame Mischung. Einerseits etwas zu viel Solarium,
etwas zu viel Fitnessstudio, ein paar Ohrringe zu viel – keine Tattoos, so
weit man das sehen kann. Andererseits ist Joshi auch für Freds
Empfinden ein Nerd. Man muss sich das so vorstellen: Für seine
Schwiegermutter in spe ist Fred sicher ein echter Technikfreak. Er kann
schließlich ein Handy bedienen. Aber wenn Joshi über die Software
redet, an der ja auch Fred mitarbeitet, dann kommt Fred in neun von
zehn Fällen nicht mehr mit. Also Joshi, der Heimsonnen-Nerd wäre Freds
Mann für die unlösbare Aufgabe. Der Publikumsjoker, wenn er schon
keinen Telefonjoker hat.
Vielleicht
kann
er
ja
noch
ein
paar
Informationen
über
die
Verschlüsselung selber finden. Er kramt weiter auf der Netzwerkablage.
Irgendwo müssen doch die Unterlagen von der Angebotsanfrage sein. Da
müsste auch eine erste Version des Lastenhefts sein, in dem der Kunde
beschreibt, was IAA im Lauf des Projektes eigentlich tun soll. Sonst
stellen sich Fred beim Gedanken an diesen ganzen elektronischen
Papierkram – Lastenhefte, Angebote, Projekthandbücher und so weiter –
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immer die Nackenhaare auf. Wenn ein Projektleiter ankommt und ihn
bittet eine Spezifikation aus der Sicht der Applikation zu prüfen, bekommt
er gedankliche Stresspickel. Jetzt interessieren ihn diese Dinge plötzlich
brennend und er ärgert sich, dass die Projektablage nicht genau so
strukturiert
ist,
wie
das
die
Prozessbeschreibung
für
das
Konfigurationsmanagement eigentlich vorsähe.
Immerhin findet er ein Lastenheft, aus dem hervorgeht, dass IAA den
Verschlüsselungsmechanismus nach Spezifikation des Kunden zu
entwickeln habe. Anscheinend wird dieses Softwaremodul nicht als
Blackbox vom OEM geliefert. OEM oder Original Equipment Manufacturer
werden die Fahrzeughersteller in der Branche genannt. Freds Chancen
haben sich also wieder etwas erhöht. Die genaue Spezifikation ist in
diesem Dokument allerdings nicht enthalten. Es ist nur vermerkt, dass
diese Spec in einem gesonderten, als streng geheim eingestuften
Dokument geliefert wird, das maximal zwei Personen bei IAA bekannt
gemacht werden dürfe. Diese Personen seien dem Auftraggeber
namentlich bekannt zu geben. Einer dieser zwei ist jetzt wohl Joshi.
Fred kommen Zweifel, ob er hier auf dem richtigen Weg ist. Was tut er da
eigentlich? Im Moment bewegt er sich noch in einer Grauzone. Die
Unterlagen, in denen er gerade wühlt, gehen ihn nur begrenzt etwas an.
Wenn er die Dokumente an irgendjemanden außerhalb des Projektes
weitergäbe, würde er seinen Arbeitsvertrag verletzen.
Das ist angesichts der Lage, in die er Sandra gebracht hat, natürlich
nichts. Und er hat seinen Vertrag ja eh schon verletzt, als er diesem
Typen im Auto über das S10-Projekt erzählt hat. Aber er kommt alleine
bisher nicht richtig weiter. Wie es aussieht, müsste er mindestens Joshi
noch in die Sache mitreinziehen. Vielleicht würde der damit auch noch in
Gefahr gebracht? Und wäre es nicht doch besser, die Polizei zu
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verständigen? Was, wenn die Russen sich nicht an irgendwelche
Abmachungen halten und einfach alle Zeugen ihrer Aktion beseitigen
wollen?
***
Franz dämmert, dass die überraschende Gesprächigkeit, die dieser Fred
Buck kürzlich gezeigt hat, ein Missverständnis gewesen sein könnte.
Buck dachte möglicherweise, dass er – Franz – einer dieser Verbrecher
sei. Das setzt seinen Schuldgefühlen noch das i-Tüpfelchen auf.
Außerdem zeigt dieser Vorfall doch, dass die Russen Buck schon in die
Mangel genommen haben. Er war ja schon so weit weichgekocht, dass er
eine Menge Betriebsgeheimnisse ausgeplaudert hat. Er steckt da mit
drin, und Julia auch.
Sie bezahlen und ein paar Minuten später sitzen sie gemeinsam in Franz'
altem Volvo und fahren auf der Ingolstädter Straße Richtung Autobahn.
Sie haben noch keinen Plan, was sie tun könnten, aber es ist klar, dass
sie nach Ludwigsburg oder Kornwestheim müssen, um in Freds Nähe zu
kommen. Bis dahin sind sie sich schnell einig. Für alles Weitere gibt es
dann doch sehr verschiedene Optionen, die sie während der Fahrt
ausgiebig debattieren. Sollen sie direkt Kontakt zu Fred aufnehmen und
ihm erzählen, was sie wissen? Oder sollen sie versuchen erstmal
herauszubekommen, was bisher los ist? Vielleicht ist ja alles nicht so
dramatisch und sie brauchen nicht aus der Deckung zu kommen. Oder
sollten sie besser die Polizei einschalten? Aber was sollten sie denen
erzählen? Wahrscheinlich würde man da ein Protokoll aufnehmen und
das
dann
in
einem
sehr
geduldigen
Ordner
abheften.
Noch
wahrscheinlicher wäre es, dass die Freunde und Helfer Franz und Julia
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auf die Hörner nähmen.
Immer wieder hat Franz das Handy schon in der Hand, um Freds
Nummer zu wählen, und legt es dann doch wieder zur Seite.
Als sie in Ludwigsburg bei Franz' Wohnung ankommen, ist es schon
dunkel. Sie sind sich dann aber doch einig, dass sie zumindest noch bei
Fred vorbeifahren sollten. Vielleicht würde sich ja etwas ergeben. Franz
stellt den Wagen wieder an der Stelle ab, wo er auch stand, als er Fred
getroffen hat. Sie warten eine Weile, aber es tut sich nichts. In Freds
Wohnung brennt Licht – in allen Zimmern. Aber man sieht niemanden am
Fenster. Ansonsten ist es auch in den Nachbarhäusern ruhig. Die Leute
sind schon lange von der Arbeit zurück. Nach weiteren zehn Minuten
Ausharren steigt Franz aus und geht zur Haustür.
***
Herr Hafele hat den Tag richtig genossen. Er sitzt jetzt mit seiner Frau auf
der Terrasse ihrer Wohnung. Von hier hat man einen schönen Blick über
Stuttgart. Die Hafeles wohnen in einer Wohnanlage aus den achtziger
Jahren, in einer der begehrten Halbhöhenlagen. Sie trinken ein Glas
Wein – pro Person – und freuen sich, dass die Temperaturen endlich
auch am Abend wieder so angenehm sind, dass man gerne noch
draußen sitzt. Am Vormittag haben sie die Pflanzen auf der besagten
Terrasse gepflegt, gekehrt und alles auf Vordermann gebracht. Nach dem
Mittagessen gab es das obligatorische Schläfchen und schon während
des Kaffees haben die beiden begonnen ihren nächsten großen Urlaub
im Herbst zu planen. Es soll eine Autorundreise durch den Oman werden.
Das Ehepaar will auf eigene Faust reisen und erhofft sich, in diesem Land
noch etwas vom ursprünglichen Arabien zu finden.
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Herr Hafele ist Mitte sechzig, etwas untersetzt, aber an sich sehr fit für
sein Alter. Gut, das Haar ist grau bis weiß, aber mit dem Sommer
bekommt seine Haut wieder eine gesunde Bräune. Er ist seit Beginn des
Jahres im Ruhestand und immer noch entschlossen, die Zeit zu nutzen.
Er möchte nicht eines Tages feststellen, dass er Jahre in einem Sessel
vor dem Fernseher zugebracht hat. Und bisher läuft er da auch keine
Gefahr. Er macht wieder etwas mehr Sport, als das früher zeitlich drin
war. Ausserdem hat er erst maximal ein Prozent der Bücher gelesen, die
ihn eigentlich schon lange interessieren, und dann wollen sie natürlich
viele Reisen machen. Die Liste ihrer Traumziele ist lang; nach dem Oman
stehen noch viele andere spannende Länder auf dem Programm.
Herr Hafele ist auch in seinem Beruf viel auf Reisen gewesen, aber bei
diesen Geschäftsreisen konnte er nie viel von Land und Leuten sehen.
Man ist immer nur für ein, zwei oder drei Tage irgendwohin gereist, hatte
ein paar Termine und schon ging es wieder zurück. Wenn es eine sehr
weite Reise zum Beispiel nach Japan war, dann ist man am Sonntag
abgereist und hat am Freitag den Flieger zurück genommen – keine Zeit
für Sightseeing. Außerdem gingen die Businesstrips nur in die Länder, in
denen sein Arbeitgeber Standorte unterhielt. Der Oman beispielsweise
war deshalb kein Ziel für Dienstreisen. Aber die vielen Touren haben
Herrn Hafele gewandt gemacht. Er und seine Frau haben keine Angst vor
unbekannten Kulturen. Sie finden sich ohne größere Probleme überall
zurecht und freuen sich deshalb auf entspannte Entdeckungstouren. Das
Wissen, das sich Herr Hafele in seinem Beruf angeeignet hat, gibt ihnen
ein zusätzliches Gefühl der Sicherheit.
Herr Hafele hat nie viel über seinen Beruf gesprochen. Er hatte immer mit
streng vertraulichen Vorgängen zu tun und er war in dieser Sache, wie er
es auch in allen anderen Dingen ist, immer sehr pflichtbewusst. Da war
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es am besten, überhaupt nicht über den Beruf zu reden, dann musste
man die geheimen Themen auch nicht umständlich umschiffen. Die
meisten Leute in seiner Umgebung – Nachbarn, Bekannte, die weitere
Familie – wussten nicht, was Hafele bei der IAA bis zu seiner
Pensionierung tat. Und jetzt brauchen sie es auch nicht mehr zu erfahren.
Jetzt hat ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Da muss man nicht
dauernd zurückzublicken.
Seine alte Profession würde Herrn Hafele ohnehin früher wieder einholen,
als dieser sich das je vorstellen könnte.
***
Franz hat mit Julia vereinbart, dass sie im Auto warten solle, bis er ihr ein
Zeichen gibt. Für was diese Sicherheitsmaßnahme gut sein soll, wissen
sie beide nicht wirklich.
Also, Franz klingelt bei Buck und wartet dann für seinen Geschmack viel
zu lange. Tatsächlich dauert es aber nicht lange, bis der Schnapper surrt.
Franz öffnet die Tür und tritt in das Treppenhaus. Eine Sprechanlage gibt
es nicht; um mit Fred Buck zu sprechen, muss er also in die Höhle des
Löwen – der Ausdruck passt hier ja nicht so gut, aber Franz ist in etwa so
nervös, als würde er sich in die Höhle des Löwen wagen. Der Plan mit
dem Zeichen an Julia ist damit schon fast ad absurdum geführt, aber was
soll's.
Eine Treppe hoch, auf dem ersten Absatz befindet sich links und rechts je
eine Wohnungstür. Noch ein Stockwerk hinauf; es bietet sich das gleiche
Bild. Dann geht es noch ein Stockwerk höher. Franz ist im Dachgeschoss
angekommen. Die linke Tür ist einen Spalt weit geöffnet und Buck lugt
hinaus. Das Erstaunen, als er Franz erkennt, ist nicht zu übersehen.
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»Sie?« – die Begrüßung fällt denkbar knapp aus.
Auch Franz ist anfangs etwas kurz angebunden, weil er nicht so recht
weiß, wie anfangen. In den letzten Tagen gab es recht viele Gespräche,
die erstmal mühsam in Gang gebracht werden mussten. Wenn Franz
gerade Zeit hätte, über so etwas nachzudenken, würde er sich sicher
wünschen einfach mal wieder mit einem guten Freund bei einem Bier zu
sitzen und zu quatschen – ohne Startschwierigkeiten. Im Moment hat er
keine Zeit über ein Bierchen in vertrauter Gesellschaft nachzudenken. Er
beginnt: »Hallo! Ich hätte auch nicht gedacht, dass wir uns so schnell
wiedersehen. Ich kann mir vorstellen, dass sie in Schwierigkeiten sind.
Ich würde ihnen gerne helfen. Aber das sollten wir nicht hier an der Tür
besprechen.« Fred starrt ihn an. Er ist unentschlossen. Redet dieser Typ
überhaupt von den gleichen Problemen? Was sollte der damit zu tun
haben? Franz bemerkt das Zögern und legt nach: »Wurden Sie wegen
des S10 Projektes von einem Osteuropäer kontaktiert?« Fred öffnet
wortlos die Tür und geht voran, den kurzen Flur entlang und dann hinten
rechts in das Wohnzimmer. Der Raum ist gar nicht so winzig, aber durch
die Dachschrägen wirkt er doch relativ gedrungen. Als Erstes fallen die
beiden Sessel auf – sie sind mit orangefarbenem Cord bezogen.
Franz nimmt auf einem dieser edlen Stücke Platz. Als Couchtisch fungiert
ein Tisch, der anscheinend aus Freds Kinderzimmer stammt. Jedenfalls
ist er mit Aufklebern einer Playmobil Safari Expedition beklebt, die man
schon lange nirgends mehr kaufen kann, und mit einer original Pril-Blume
– wirklich original. Insgesamt ist Freds Wohnung deutlich näher an einer
Studentenbude als an der stylischen Bleibe eines aufstrebenden JungIngenieurs. Franz steht nochmal auf und geht zu dem kleinen Fenster.
Von dort aus kann er sein Auto sehen. Er winkt hinunter und Julia winkt
zurück. Sie steigt aus und geht ebenfalls zum Haus. »Ich habe noch
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jemanden dabei«, sagt Franz. »Wir sollten erst anfangen, wenn sie auch
da ist.« Bald sitzen sie zu dritt in dem kleinen Wohnzimmer. Es ist klar,
dass die beiden Besucher aus der Reserve kommen und die Karten auf
den Tisch legen müssen, um wenigstens etwas Vertrauen zu gewinnen.
Sie haben ja wesentlich dazu beigetragen, dass Fred jetzt in der Tinte
sitzt.
Sie stellen sich kurz vor, erzählen von ihrem Beruf. Fred versteht noch
nicht, was das direkt mit ihm zu tun hat. Erst als Franz erzählt, dass er in
letzter Zeit speziell am S10 dran war, sieht er einen ersten
Zusammenhang. Als Julia dann über ihre Verstrickungen mit den Russen
berichtet, und dass sie diesen Leuten Freds Namen geliefert habe, um
sich quasi selbst freizukaufen, wird Fred klar, dass diese Leute wohl
wirklich in Verbindung zu seinem Problem stehen. Sie – vor allem der Typ
– machen einen so niedergeschlagenen Eindruck, dass Fred ihnen ihr
schlechtes Gewissen als Motiv für die Hilfsbereitschaft abnimmt und
etwas mehr Vertrauen fasst.
Die Konstellation, in der sie jetzt zusammensitzen, zeigt ja auch schon,
dass Franz' Eingangsfrage zu bejahen gewesen wäre. Fred wurde wegen
des S10-Projektes kontaktiert – und nicht nur von Franz. Jetzt erzählt er,
was er erlebt hat – von den ersten Kontaktversuchen per Mail in der
Firma und wie dann recht schnell der Druck gestiegen ist, bis zu Sandras
Entführung. Als sie davon hören, sind Franz und Julia schockiert. Sie
hatten nicht erwartet, dass die Situation schon derart eskaliert sein
könnte, und dass die Russen – so nennen sie die Bande inzwischen – so
skrupellos sein könnten. Gut, Julia hatte so was nach ihren Kontakten mit
diesen Leuten geahnt. Und inzwischen ist ja auch klar, dass es hier um
eine Bande geht, die ein sehr deutliches wirtschaftliches Interesse an den
Daten hat. Anders gesagt: Es gibt bekanntlich viele Leute, die für Geld
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vor nichts zurückschrecken.
Fred ist einerseits sehr froh, endlich nicht mehr allein in dieser
schwierigen Lage zu stecken, andererseits hat er eine ordentliche Wut
insbesondere auf Julia, die ihm den ganzen Mist erst eingebrockt hat.
Am Ende seiner Erzählung wird er kurz mal deutlich und spricht eben das
aus, dass er nichts getan habe und nur wegen Julias Unfähigkeit, mit
Geld umzugehen, und wegen ihrer ebenso großen Skrupellosigkeit in
dieser aussichtslosen Situation sei. Viel schlimmer, Sandra, die noch viel
weniger mit dem S10 zu tun hat, ist in einer äußerst gefährlichen Lage.
Eine kleine, beschwichtigende Geste von Franz reicht aber aus, um allen
am Tisch wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass sie gemeinsam sicher viel
besser dran sind, als allein. Schuldzuweisungen helfen im Moment nicht.
Julia ist es recht so.
Es ist also zu überlegen, wie sie ihre Kräfte am besten einsetzen könnten
und was sie am besten anstellen könnten, um Sandra unbeschadet zu
befreien. Sie sind sich schnell einig, dass die Polizei in ihrer Lage eher
weniger hilfreich sein würde – eine Entscheidung, die sie noch bitter
bereuen werden.
Ansonsten ist ihnen klar, dass Informationen über Sandras Aufenthaltsort
und Befinden oberste Priorität haben. Sie überlegen, wie sie aus einem
hoffentlich bald erfolgenden Anruf der Entführer möglichst viel an
Informationen ziehen könnten. Außerdem ist auch klar, dass sie
versuchen müssen, Zeit zu gewinnen. Selbst wenn sie alle Forderungen
eins zu eins erfüllen wollen, ist das in der gesetzten Frist nicht zu
schaffen. Das müssen sie – am Telefon darf natürlich nur Fred sprechen
– den Russen klarmachen. Sie bekommen, was sie wollen, aber es geht
nicht so schnell, weil Fred eigentlich keinen Zugang zu den Infos hat und
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sich diese erst beschaffen muss, ohne dass jemand misstrauisch wird.
Bald stehen ein paar Stichpunkte auf einem Zettel:
•
Zeit gewinnen – Ich liefere die Info, aber es geht nicht so schnell
•
Wie geht es Sandra? – Ich will mit ihr selber sprechen
•
Wo soll die Übergabe von Infos und Sandra erfolgen?
•
Wo sind die Typen mit Sandra hin?
Diese Liste soll Fred jetzt immer bei sich tragen, um sie griffbereit zu
haben, wenn der erwartete Anruf kommt.
Franz und Julia wollen versuchen zu recherchieren, wer hinter der
ganzen Sache stecken könnte. Das ist natürlich sehr vage; ihre
Hauptrolle kommt sicher erst dann, wenn es erste Hinweise auf einen
Aufenthaltsort gibt. Im Anschleichen und Ausspähen sind sie gut. Das ist
ja ihr Job.
Fred soll weiter versuchen, die geforderten Informationen zu beschaffen,
wenn möglich, ohne irgendwelche anderen Leute einzuweihen. Wenn er
das in dieser Nacht nicht mehr schaffen sollte, würde er morgen
versuchen über Joshi an die Daten zu kommen. Auch dann soll er
erstmal eine Geschichte erfinden, warum er die Daten braucht. Erst,
wenn auch dieser Versuch scheitert, muss er Joshi einweihen. Das wäre
nur der letzte Ausweg, aber Fred ist nicht gut im Geschichtenerfinden.
Auch Julia gibt Fred ihre Handynummer. Franz und Fred brauchen sie ja
nicht mehr auszutauschen. Sie vereinbaren, sich zumindest vorerst nur
per SMS zu kontaktieren, damit Freds Handy immer erreichbar bleibt. Der
Hinweis, auf ausreichende Akkuladung zu achten, ist gut, denn Freds
Ladeanzeige ist schon fast bei Null.
Anschließend verabschieden sich Franz und Julia. Sie müssen noch kurz
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zu Franz' Wohnung, um etwas Ausrüstung aufzutreiben.
Fred macht sich wieder auf die Suche nach Unterlagen auf dem Server
der IAA. Sein Laptop ist immer noch mit dem Firmenrechner verbunden.
***
Sandra wusste zuerst gar nicht, wie ihr geschah. Es klingelte. Sie drückte
auf den Türöffner, und als sie die Wohnungstür öffnete, standen dort
schon diese zwei Männer. Sie fragten nach Fred. Als sie sagte, dass er
nicht da sei, drängten sie sich in die Wohnung und schauten nach, ob das
auch stimme. Dann folgte ein kurzes Gespräch in einer Sprache, die sie
nicht verstand. Für Sandra hörte sich diese Sprache hart und
unmelodisch an. Im nächsten Augenblick wurde ihr der Mund zugehalten
und die Männer zerrten sie die Treppe nach unten, aus dem Haus und in
das Auto, das direkt vor der Tür geparkt war. Sandra stand unter Schock.
Sie konnte keinen Widerstand leisten, was wahrscheinlich auch gut war.
Sie hätte gegen die beiden kräftigen Kerle keine Chance gehabt.
Der eine steigt mit ihr hinten ein und hält sie immer noch fest, während
der andere losfährt. Die Türen werden verriegelt, die Fenster sind sehr
dunkel getönt. Fluchtversuche erscheinen Sandra zwecklos, und da hat
sie auch Recht. Die beiden Männer reden ununterbrochen aufeinander
ein. Sie scheinen mindestens zu diskutieren, wenn nicht sogar zu
streiten. Der Wagen verlässt Kornwestheim Richtung Süden und fährt
dann auf die B27.
Sandra wird jetzt nicht mehr ganz so fest gehalten. Jetzt weicht der
Schock schierer Panik. Was wollen diese Typen von ihr? Fahren sie jetzt
irgendwo in einen abgelegenen Wald und fallen dann über sie her? Das
sind die ersten Fragen. Sie fahren nicht nach Ludwigsburg. Mit der Firma,
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bei der Sandra arbeitet, scheint die Sache also nichts zu tun zu haben.
Sie fahren inzwischen auf der B10 Richtung Pforzheim. Die Typen
streiten immer noch. In einem Kreisverkehr wendet das Auto und fährt
wieder zurück. Dann geht es auf die Autobahn – die A81 nach Stuttgart.
Bei der nächsten Ausfahrt fahren sie wieder ab, um dann in der
Gegenrichtung wieder auf die Autobahn zurückzufahren. Jetzt fahren sie
also Richtung Heilbronn.
Sandra versucht, sich etwas zu beruhigen oder sich wenigstens so zu
konzentrieren, dass sie möglichst viele Details mitbekommt. Sie kennt
sich hier aus und kennt bisher ihre Fahrtstrecke. Sie sitzt hinten rechts
und kann an dem Emblem auf dem Lenkrad ablesen, dass sie in einem
Porsche fahren, in einem von diesen Geländewagen. Das Auto ist
schwarz.
Gerade als sie sich wieder einigermaßen im Griff hat, kramt der Kerl
neben ihr einen Schal aus seiner Jackentasche und verbindet ihr damit
die Augen. Er braucht ihr nicht zu sagen, dass es nicht erlaubt ist, die
Binde abzunehmen. Die Panik kehrt zurück. Ihre Entführer haben kein
Wort mehr mit ihr gesprochen, seit sie ihnen gesagt hat, dass Fred nicht
zu Hause sei.
Langsam beruhigt sich die Auseinandersetzung zwischen den beiden
Männern. Trotz all der Aufregung hat Sandra mitbekommen, dass das
alles irgendwie nicht der Plan war. Die Typen wissen nicht so recht, was
jetzt kommen soll und wohin sie eigentlich fahren sollen. Sie weiß
allerdings nicht, ob das gut ist oder schlecht.
Plötzlich wird ihr ein Handy ans Ohr gehalten. »Sag deinem Typen, dass
du bei uns bist, und dass er sich ab jetzt an unsere Befehle halten soll.
Wir melden uns wieder«, herrscht ihr Nachbar sie an. »Und keine Wort
mehr!« Sandra sagt Fred, dass irgendwelche Kerle – sie hat ja immer
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noch keine Ahnung, mit wem sie es hier zu tun hat – sie mitgenommen
haben. Nachdem sie Fred wie verlangt instruiert hat, bekommt sie sofort
einen Stoß in die Rippen. Das raubt ihr den letzten Mut, irgendwelche
weiteren Hinweise zu geben. Fred ist fast völlig sprachlos. Sie hört
gerade noch »Mach Dir keine Sorgen« – was in ihrer Lage wirklich ein
sinnvoller Spruch ist –, dann wird ihr das Telefon wieder aus der Hand
gerissen.
Kurz danach wird das Auto langsamer und fährt dann durch eine längere
Rechtskurve. Anscheinend haben sie die Autobahn verlassen. Es folgt
eine Abfolge von Kurven, bremsen, beschleunigen, die sich Sandra nicht
merken kann. Das könnte sich auch unter normalen Bedingungen kaum
jemand merken und in Sandras Gemütsverfassung ist überhaupt nicht
daran zu denken. Zuletzt holpert es etwas, und sie fahren nur noch recht
langsam – vielleicht auf einer Art Feld- oder Waldweg. Dann hält das
Auto an. Der Fahrer steigt aus, kommt zurück und sie fahren nochmal ein
paar Meter. Dann wird der Motor abgestellt. Sandra hat kein Zeitgefühl
mehr. Sie weiß nicht, wie lange sie schon in der Hand dieser Leute ist.
Sie schätzt, dass sie ungefähr zwei Stunden gefahren sind. Tatsächlich
waren es nur 45 Minuten. Einer der Männer zerrt sie aus dem Auto und
führt sie ein paar Meter. Sandras Augen sind immer noch verbunden. Sie
betreten ein Gebäude. Die Tür wird geschlossen und dann nimmt man ihr
die Augenbinde ab.
Sandra braucht einige Sekunden, um sich zu orientieren. Sie ist in einer
Art Hütte. Das Gebäude besteht wohl nur aus einem rechteckigen Raum.
Es gibt nur die Tür, durch die sie hereingekommen sind, und zwei kleine
Fenster. In einer Ecke steht ein Stockbett, in einer ein Tisch mit einer
Eckbank und zwei Stühlen. Ansonsten gibt es noch ein leeres Regal und
eine Art improvisierte Küche mit ein paar Plastikschüsseln und einem
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
Gaskocher. Es riecht modrig, stickig. Sandra soll sich auf die Bank
setzen. Sie versucht, einen kurzen Blick durch die Fenster zu werfen.
Aber da gibt es nicht viel zu sehen. Ein bisschen Wiese, ein paar Büsche,
ein Maschendrahtzaun, hinter dem noch eine hügelige Landschaft mit
einzelnen Bäumen und Wiesen zu sehen ist, am linken Rand des Bildes
noch ein kleines Waldstück. Dann hört die Welt auf.
Die beiden Typen setzen sich auf das Stockbett und beginnen wieder in
ihrer harten Sprache zu streiten. Sie beachten Sandra nicht. Trotzdem
traut sie sich nicht, sich zu bewegen. Ihr ist kalt.
***
Schon auf der Fahrt zu Franz´ Wohnung überlegen Julia und Franz, was
sie mitnehmen sollen. Bald türmt sich im Wohnungsflur ein mittelgroßer
Haufen auf. Nach seiner Fotoausrüstung muss Franz nicht lange kramen.
Auch ein Fernglas hat er schnell gefunden und in die Kameratasche
gesteckt. Dann tragen der alte Atlas aus dem Auto und zwei Wolldecken
zu dem Haufen bei. Im normalen Junggesellenhaushalt finden sich
vielleicht nicht unbedingt zwei Wolldecken. Aber wenn Franz stundenlang
auf der Lauer nach Erlkönigen im Auto sitzt, nimmt er gerne mal eine
Decke mit, sonst wird es im Winter sehr schnell ungemütlich. Für was die
Wolldecken in diesem Fall gut sein sollen, wissen die beiden selbst nicht
so genau.
Etwas zu essen muss auch mit, das ist klar. Im Kühlschrank herrscht
allerdings gähnende Leere und auch sonst findet sich praktisch nichts –
doch, eine Prinzenrolle. Die wird gleich geöffnet. Franz setzt einen Kaffee
auf und setzt sich dann zu Julia an den kleinen Küchentisch. Sie
knabbern ein paar Kekse, dann steht Julia auf und setzt sich auf Franz’
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Schoß, schlingt die Arme um seinen Hals und küsst ihn. Trotz aller
Widrigkeiten sind sie ja frisch verliebt. Sie bleiben noch eine Weile
umschlungen
sitzen.
Beide
haben
schon
einen
langen
und
ereignisreichen Tag hinter sich und es steht ihnen auch noch einiges
bevor. Eine kurze Verschnaufpause muss also drin sein.
Nachdem der Kaffee ausgetrunken ist – sie haben sich nicht viel Zeit
dafür gelassen – verlädt Franz den Haufen aus dem Flur in sein Auto. Er
checkt kurz sein Handy, aber Fred hat noch keine Nachricht geschickt.
Dann fahren sie die paar Meter zur Tankstelle, bei der Franz ja quasi
Stammgast ist. Während Franz das Auto volltankt, kümmert sich Julia
schon mal um den Proviant. Es ist klar, dass die Versorgung aus dem
Tankstellenshop Ernährungsberater, Franz’ Hausarzt oder auch stillende
Mütter an den Rand eines Nervenzusammenbruchs bringen würde, aber
mitten in der Nacht gibt es keine Alternativen. Julia versucht, das Beste
aus der Situation zu machen, und wählt vegetarische Tiefkühlpizza,
fettarme Kartoffelchips und Nachos mit sicher sehr vitaminreichem
Tomaten-Paprika-Dip sowie – als Nervennahrung – mehrere Tafeln
Schokolade Typ »Honig-Müsli« aus. Zu trinken gibt es ein paar Flaschen
Mineralwasser. Derart ausgestattet machen sie sich wieder auf den Weg
zu Fred. Kurz bevor sie ankommen, schicken sie ihm eine SMS, damit er
nicht erschrickt, wenn an der Tür geklingelt wird.
***
Fred ist inzwischen auch ein kleines Stück vorangekommen. Er hat weiter
die Projektablage auf dem Server der IAA durchgewühlt, aber dort nichts
gefunden, das ihn vorangebracht hätte.
Dann ist ihm aber DOORS eingefallen. In dieser Datenbank sind alle
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Anforderungen an das Projekt erfasst. Dort ist also die genaue
Spezifikation aller Funktionen des Systems enthalten. Jede Änderung ist
dort genau dokumentiert und verfolgbar. Außerdem werden auch die
Tests
festgehalten,
mit
denen
nachgewiesen
wird,
dass
die
Anforderungen in der Software korrekt umgesetzt wurden. Wenn also die
Verschlüsselung auch in ihrem Projekt berücksichtigt ist, wovon Fred
ausgeht,
dann
sollten
sich
eigentlich
dazu
die
entsprechenden
Anforderungen finden lassen. Und tatsächlich gibt es ein entsprechendes
Kapitel in der Datenbank. Es hat nicht sehr viele Einträge und schon auf
den ersten Blick ist erkennbar, dass alle Anforderungen auch schon
umgesetzt sind. Anscheinend hat Joshi sehr gewissenhaft wirklich alle
Anforderungen in DOORS eingestellt, auch die, die er eigentlich hätte
geheim halten müssen – DOORS ist für alle Projektmitarbeiter
freigeschaltet. Aber das ist halt ein Dilemma. Einerseits hat man dieses
System, das mit viel Aufwand gefüttert wird, um sicherzustellen, dass an
alles gedacht und nichts vergessen wird, andererseits sollen dann
wesentliche Teile dort nicht aufgenommen werden. Für Fred ist Joshis
Entscheidung – vielleicht war es auch keine wirklich bewusste
Entscheidung – alles in die Datenbank zu schreiben ein Glücksfall. Denn
jetzt hat er schon mal die Spezifikation der Verschlüsselungsfunktion,
was schon sehr wertvoll ist, weil diese Spec recht konkrete Rückschlüsse
auf die Funktionsweise zulässt. Noch toller ist aber, dass Joshi auch die
zu
verwendenden
Passwörter
in
die
Anforderungsdatenbank
aufgenommen hat: »NEBELSTREIFS10« und als Backup-Passwort
»BOLOGNE746« – Volltreffer. Damit ist er schon mal ein Stück weiter.
Das Handy summt kurz; eine SMS kündigt Franz und Julia an. Wenig
später klingelt es an der Tür. Als sie wieder in Freds StudentenbudenWohnzimmer sitzen, ist es vier Uhr nachts. Alle drei sind begeistert
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wegen der Erfolge, die Fred schon erzielt hat. Aber sie gönnen sich keine
große Pause. Während die Gefrierpizzas im Ofen backen – für ein
leckeres Vollwert-Frühstück –, versucht Fred noch weitere Informationen
zu finden. Franz und Julia überlegen, welche Strategie für das weitere
Vorgehen am meisten versprechen könnte. Die Hauptfragen für das
Telefonat mit den Entführern bleiben auch jetzt unverändert. Sie haben
jedoch eine bessere Ausgangslage, Zeit zu gewinnen, und können
vielleicht auch besser eigene Forderungen stellen, wenn sie zeigen
können, dass sie in der Lage sind, an die gefragten Informationen zu
kommen. Wirklich viel tut sich aber nicht mehr. Das zermürbt nun nicht
mehr Fred allein, sondern Franz und Julia mit ihm. Das wiederum tut
Freds Verfassung gut, was eigentlich schon die wichtigste Hilfe ist, die
Franz und Julia leisten können.
Gegen sechs Uhr klingelt Freds Handy. Alle setzen sich um Freds
Kinderzimmertisch, um dann ganz ruhig zu sein und keine verdächtigen
Geräusche zu machen. Franz und Julia sind gerüstet, Notizen zu
machen. Sie haben ausprobiert, dass es für den Gesprächspartner nicht
zu bemerken ist, wenn der Lautsprecher des Handys eingeschaltet wird –
solange sie nicht reden, sollte Franz' und Julias Anwesenheit nicht
bemerkt werden können. Also alle sind vorbereitet, Fred nimmt das
Gespräch an und schaltet auf Lautsprecher.
Einer der Russen meldet sich: »Hallo Buck!« Sie geben ein paar
Anweisungen. Fred solle entweder daheim bleiben oder zur Firma gehen,
andere Wege solle er sich sparen. Er solle die geforderten Informationen
auf eine CD brennen. Das Ganze mit ein bisschen Entführer-Small Talk
durchzogen – Drohungen und so weiter. Nicht, dass Fred so cool wäre,
das Gespräch so zu sehen, aber am Ende kommt der Inhalt darauf raus.
Nach der gefühlten Ewigkeit von 45 Sekunden gelingt es Franz mit
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wildem Gefuchtel Fred an ihre Fragenliste zu erinnern. Dieser unterbricht
den Russen relativ unvermittelt und sagt, dass er mit seiner Freundin
sprechen wolle. »Warum sollten wir das erlauben?« – »Weil ich schon
einen Teil der Infos habe!« – »Was hast du?« – »Eines der beiden
Passwörter.« – »Ich warne dich. Wir können das überprüfen. Also?« –
»NEBELSTREIFS10« – »OK.«
Sandra sagt mit relativ fester Stimme, dass es ihr so weit gut gehe. Fred
fragt, ob die Entführer mithören. Als sie dies verneint, sagt er ihr, sie solle
seine Fragen nur mit »Ja« oder »Nein« beantworten. Leider beantwortet
sie auch die folgenden Fragen nur mit »Nein«. Ob sie wisse, wo sie sei.
Ob sie die Entführer kenne. Ob sie in einer Ortschaft sei. Erst bei der
Frage, ob sie sonst Hinweise habe, die helfen könnten, sie zu finden, wird
sie gesprächig: »Ja, das, was mir im Moment hilft, ist die Erinnerung an
die Hochzeit von Cindy und Bert, wie sie im Traktor gefahren sind. Und
die Vorfreude auf unseren nächsten Urlaub, wenn wir endlich mal wieder
in die Einsamkeit des Nordens fahren.« Dann ist sie auch schon wieder
weg. Der Russe hat ihr das Handy wieder aus der Hand genommen und
sagt nur noch: »Übergabe morgen um 12 Uhr in der Nähe von
Ludwigsburg. Details folgen.« Dann legt er auf.
Die drei sitzen da und brauchen erst einmal ein paar Minuten, um sich
wieder zu sammeln. Franz und Julia haben versucht, alles wörtlich
mitzuschreiben. Sandra scheint es relativ gut zu gehen – den Umständen
entsprechend, wie es in den Arztserien immer so viel sagend heißt. Aber
sonst sind ja anscheinend nicht viele verwertbare Informationen
rübergekommen – gerade das Gespräch mit Sandra war ja doch eher
wirr. Geht es ihr also doch nicht so richtig gut? Wieso ausgerechnet die
Hochzeit von Freunden? Sollte das ein Wink mit dem Zaunpfahl in Freds
Richtung sein? In dieser Situation? Fred sieht das anders. Er kann mit
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dieser kryptischen Aussage auch nicht gleich etwas anfangen. Aber er
glaubt nicht, dass die Hochzeit ihrer guten Freunde tatsächlich so eine
große Bedeutung für Sandra hat. Er meint, dass sie vielleicht eine
Botschaft verpackt hat. Sie hat diesen Satz ja auch gesagt, als Fred nach
Hinweisen gefragt hat. »Und«, sagt er, »Cindy und Bert sind bei ihrer
Hochzeit überhaupt nicht in einem Traktor gefahren. Ich könnte euch
keine Details über die Trauung erzählen, aber einen Traktor hätte ich mir
gemerkt, genauso wie das Hochzeitsauto einen schwarzen Porsche
Cayenne, ein richtiger Schickeria-Traktor. Sandra sagt das immer. Für sie
würde so ein Auto nie als Hochzeitsauto in Frage kommen.« Als er das
Grinsen in Franz' Gesicht sieht, stockt er. Jetzt ist ihm auch klar, dass er
gerade die Lösung dieses Rätsels geliefert hat. Also tatsächlich eine
Botschaft, die besagt, dass die Typen, die Sandra festhalten, einen
möglicherweise schwarzen Cayenne fahren. Dann hat doch der zweite
Satz mit dem Urlaub im Norden auch was zu bedeuten. Jedenfalls haben
die beiden keinen Urlaub im Norden geplant. Sandra liebt warm und
assoziiert mit Norden immer kalt. Einsamkeit des Nordens? Darauf kann
sich erstmal keiner einen Reim machen, auch Fred nicht. Sie gehen
nochmal die übrigen Notizen durch. Was haben denn die Entführer
gesagt? Fred soll in der Nähe bleiben. Die Daten sollen auf eine CD
gebrannt werden. Übergabe in der Nähe von Ludwigsburg.
Warum auf CD? Das ist doch altmodisch. Für die Russen wäre es doch
viel einfacher, sich die Infos per Mail schicken zu lassen. Dann könnten
sie alles in Ruhe prüfen und Sandra dann gefesselt und mit verbundenen
Augen im Wald aussetzen. So jedenfalls würde Franz das machen. Fred
und Julia schauen ihn entgeistert an. Vielleicht sollte Franz doch über
eine kriminelle Karriere nachdenken. Er lässt sich aber nicht so leicht aus
dem Konzept bringen. Ihm geht es darum zu zeigen, dass die ganze
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Sache wohl nicht so richtig durchdacht zu sein scheint. Das hat aber mit
dem hohen Norden nichts zu tun. »Halt!«, unterbricht Julia. »Hoher
Norden hat sie nicht gesagt. Vielleicht war das Absicht und sie meint nur
nördlich, aber nicht weit im Norden.« Auch die Ansage, dass die
Übergabe in Ludwigsburg laufen soll, würde ja dafür sprechen, dass
Sandra nicht sehr weit weg gebracht wurde. Das wäre dann also ein
Hinweis, dass sie irgendwo an einem einsamen – von »Einsamkeit« war
sicher auch nicht zufällig die Rede – Ort nördlich von hier festgehalten
wird. Das ist natürlich leider nicht sehr präzise, aber wahrscheinlich weiß
Sandra einfach auch nicht mehr über ihren Aufenthaltsort. Fred gibt in
Google Maps »Ludwigsburg« ein und sieht sich die Gegend nördlich der
Stadt auf der Karte an. Es gibt da schon ein paar Ecken, die nicht ganz
so dicht besiedelt sind. »Einsamkeit« ist in dieser Gegend allerdings
schon schwer zu finden. Das ist nun mal ein relativer Begriff. Aber es gibt
da
den
Naturpark
Schwäbisch-Fränkischer
Wald mit
Orten
wie
Löwenstein, Sulzbach oder Wüstenrot; da sieht es etwas einsamer aus –
aus Freds Google Perspektive. Ebenso der Naturpark StrombergHeuchelberg oder etwas weiter nördlich der Naturpark NeckartalOdenwald. Alles gut und schön, aber damit kommen sie im Moment nicht
groß voran. Selbst wenn sie mit diesen Vermutungen richtig lägen, hätten
sie einige hundert Quadratkilometer abzusuchen.
Sie sind ein Stück weiter, aber so richtig viel haben sie nicht. Was sie
wissen ist nicht konkret genug, um sich auf die Suche nach Sandra zu
machen. Das wäre ja auch noch schöner gewesen. Es mag schon
stimmen, dass die Russen da vielleicht etwas unvorbereitet in diese
Sache hineingerutscht sind. Apropos, das könnte sich für Fred als gut
erweisen, falls sie wegen schlechter Vorbereitung Fehler machen, die
Fred und seinen neuen Freunden helfen. Aber es könnte auch sehr
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gefährlich sein, wenn bei den Entführern plötzlich Panik ausbricht, die
dann zu entsprechend unvorhersehbaren Reaktionen führt. Andererseits
hat Franz nicht den Eindruck, dass sie es hier mit rechtschaffenen Leuten
zu tun haben, die aus einer persönlichen Notlage heraus nun zum ersten
Mal kriminell werden. Die scheinen schon öfter krumme Dinger gedreht
und eine entsprechend niedrige Hemmschwelle zu haben. Insgesamt ist
die Lage sehr schwer einzuschätzen. Aber größte Vorsicht ist mit
Sicherheit angebracht. All diese Dinge erörtern sie, als sie in Freds Küche
frühstücken. Es gibt die Tiefkühlpizza, die inzwischen gebacken wurde,
sich dann fast zu einem Brikett entwickelt hätte, wenn Julia nicht noch
rechtzeitig den Ofen abgeschaltet hätte, und die inzwischen schon lange
wieder kalt geworden ist. Also, es gibt kalte Pizza und Kaffee zum
Frühstück.
***
Herr Hafele und seine Frau sind um sechs Uhr aufgestanden. Solange
Herr Hafele berufstätig war, hasste er es, so früh aufzustehen. Jetzt
möchte er jede Minute nutzen. Da verbietet sich langes Schlafen. Er fühlt
sich auch um sechs Uhr fit. Er deckt den Frühstückstisch auf der
Terrasse, wo die Luft zwar um diese Zeit noch etwas kühl ist, aber mit
einer Jacke lassen sich die ersten Strahlen der Morgensonne doch schon
so richtig genießen. Frau Hafele bringt neben Brot, Butter und Marmelade
auch einen Teller mit mundgerecht geschnittenem Obst. Dazu gibt es
frisch gepressten Orangensaft. Frau Hafele würde durch ein Frühstück
aus wieder erkalteter Tiefkühlpizza und Kaffee in einen komaähnlichen
Zustand überführt werden; verbunden mit einem grünen Gesichtsekzem.
Sie achtet sehr auf eine gesunde Ernährung, wofür ihr ihr Mann auch
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sehr dankbar ist.
Die Hafeles planen heute einen Ausflug. Sie wollen mit dem Auto nach
Ludwigsburg fahren, dort bis zur Neckarbrücke und dann dem Neckartal
Richtung Norden folgen. Das Ziel sind die Weingärten in der Nähe von
Hessigheim. Dort soll der Weg zuerst durch ebendiese Weingärten
führen, und dann könnte man vielleicht auch noch ein wenig Wein bei
einem der vielen Weingüter einkaufen.
Nach dem Frühstück packt Herr Hafele ein wenig Proviant in seinen
Rucksack, dazu die Regenjacken – man weiß ja nie – und schon macht
sich das Ehepaar auf den Weg. Beim Verlassen der Wohnung kontrolliert
der Hausherr nochmal, ob alle elektrischen Geräte ausgeschaltet sind
und auch, ob er alles dabei hat: Hausschlüssel, Autoschlüssel, Geld,
Handy – das fehlt, also noch einstecken. Er zieht die Wohnungstür zu
und steigt mit seiner Frau die vielen Treppen zur Tiefgarage hinunter.
Direkt nach der Ausfahrt der Tiefgarage halten sie kurz an, um das
Verdeck des SLK zu öffnen. Das Cabrio ist auch ein Luxus, den sie sich
erst vor Kurzem geleistet haben; die Kinder sind aus dem Haus und
versorgen sich selber. Jetzt, aber erst jetzt, darf man sich auch mal was
gönnen. Damit stehen Hafeles in Schwaben eher allein da. Die meisten,
die ihr Leben lang gearbeitet und jede Mark – später Euro – gespart
haben, um ein Haus zu finanzieren und eben die Kinder zu versorgen,
kommen aus diesem Fahrwasser auch dann nicht mehr raus, wenn sie
sich eigentlich mal was leisten sollten. Dann wird weiter gespart, vielleicht
– im besten Fall – für die Enkelkinder. Also, Hafeles wollen und können
genießen und sind inzwischen am Stuttgarter Hauptbahnhof, wo sie auf
die B27 Richtung Norden einbiegen. Die milde Morgensonne scheint
ihnen auf die Schirmmützen und der CD-Player spielt ihre Lieblingsmusik
von Morcheeba. Die passt eigentlich nicht zu ihrer Generation, aber auch
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hier ist das Ehepaar eben nicht ganz durchschnittlich und hat sich von
den eigenen Kindern, die jetzt bereits aus dem Haus sind, inspirieren
lassen.
Sie fahren über die Schnellstraße, auf der man überhaupt nicht wirklich
schnell
fahren
darf,
weil
das
Tempo
überall
auf
maximal
80
Stundenkilometer begrenzt ist, nach Ludwigsburg. Dort geht es über die
Schlangenkreuzung,
die
ihren
Namen
einer
Skulptur
auf
einer
Verkehrsinsel verdankt, und dann vorbei am blühenden Barock, dem
Schloss des Königs Eberhard Ludwig, mit dem großen Schlossgarten.
Noch ein paar hundert Meter und sie erreichen den Neckar. Sie
überqueren die Brücke und folgen dem Fluss stromabwärts. Immer
wieder wechseln sich Ortschaften mit Fachwerkhäusern, Felder und auch
steile Weingärten ab. Nach ungefähr 20 Kilometern erreichen sie den
kleinen Ort Hessigheim. Dort verlassen sie das Flussufer und fahren über
kleine Straßen zu einem Wander-Parkplatz, der oberhalb der auch hier
angelegten Weingärten liegt. Sie stellen das Auto ab und machen sich zu
Fuß auf. Zunächst führt der Weg über Felder. Nach wenigen hundert
Metern erreichen sie eine Hütte der Bergwacht. Von dort aus wird ein
kleines Areal mit Kalkfelsen betreut, die sogenannten Hessigheimer
Felsengärten. Hier toben sich die Kletterfreaks aus, aber die Felstürme
oberhalb des tief eingeschnittenen Flusstals geben insgesamt der
Landschaft einen besonderen Pep. Darüber hinweg hat man eine
herrliche Aussicht über die sanften Hügel der weiteren Umgebung. Von
hier aus starten die Hafeles ihre letzte gemeinsame Wanderung durch die
Weinberge.
***
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
Fred macht sich auf den Weg zur Firma. Es ist ungefähr die gleiche Zeit,
zu der er auch sonst zur Arbeit fährt. Aber es fühlt sich doch alles anders
an. An normalen Tagen verspürt er manchmal keine große Lust, zur IAA
zu fahren, zum Beispiel, wenn Projektreviews anstehen. Da besteht
immer eine gewisse Gefahr, in unangenehme Situationen zu geraten.
Denn manchmal veranstaltet das Management regelrechte Kreuzverhöre;
wahrscheinlich, um sich selbst zu beweisen, wie eingehend man sich
über den Status der Projekte informiert. An solchen Tagen hat Fred wenig
Motivation. Aber im Vergleich zu dem Gefühl, das ihn heute zu seiner
Arbeitsstelle begleitet, ist das alles gülden. Heute hat er eine üble
Verbrecherbande im Nacken, die auch noch seine Freundin gefangen
hält, und er muss so ziemlich die geheimsten Informationen über sein
Projekt aus der Firma entwenden. Wie er das so genau anstellen soll,
weiß er allerdings noch nicht, was auch nicht direkt zu seiner
Aufheiterung beiträgt.
Fred stellt sein Auto auf dem Mitarbeiterparkplatz ab. Kurz vor acht hat er
noch Glück und bekommt einen Platz in der Nähe eines der Tore. Er hält
seinen Firmenausweis an den Kartenleser und geht dann durch das
Drehtor. Jetzt dürfte der Rechner beim Werkschutz geloggt haben, dass
er auf dem Gelände ist. Er betritt das Gebäude und hält seinen Ausweis
wieder an einen Kartenleser. Dieser gehört zum Zeiterfassungssystem –
quasi die Stempeluhr. Dann geht er die Treppen zum zweiten Stock
hinauf und dort zu seinem Arbeitsplatz im Großraumbüro. Die meisten
seiner Kollegen sind schon da. Fred versucht, sich nichts anmerken zu
lassen und genauso locker wie immer zu sein. Wahrscheinlich gelingt es
ihm nicht besonders gut, alles nach normal aussehen zu lassen. Aber
seine Kollegen sind, wie er, alle Ingenieure. Keiner von denen ist so
sensibel, dass er schon nach den ersten zwei Floskeln des Tages Freds
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getrübte Stimmung bemerken würde. In dieser Hinsicht muss er sich
keine Sorgen machen. Fred fährt den Rechner hoch, loggt sich ein und
startet das Mailprogramm. Er interessiert sich heute natürlich noch
weniger für die Nachrichten seines Chefs als sonst, aber vielleicht gibt es
eine Nachricht der Russen. Die haben ihn ja schon mal per Mail
kontaktiert. Oder, auch das wäre noch spannend, vielleicht gibt es
irgendwelche
Mails
von
den
Softwerkern.
Er
braucht
einen
Anknüpfungspunkt, um bei Joshi aufzukreuzen. Einfach zu dessen
Schreibtisch im dritten Stock zu schlappen und über das Wetter zu
quatschen, wäre zu auffällig. Das macht Fred sonst nie. Da wäre
irgendein Ereignis im Projekt, das ihm als Vorwand dienen könnte, sehr
praktisch. Aber Fred findet nichts Passendes in seinem Postkasten. Er
öffnet den Kalender und ist zumindest etwas erleichtert. Um acht Uhr
beginnt das Projektteammeeting, bei dem sich die wesentlichen
Projektmitarbeiter um den Projektleiter scharen – Klaus, der Projektleiter
des S10-Projektes, würde dieses Verb »scharen« wahrscheinlich gut
finden; er versteht sich als Oberhirte seiner Projektschafe. Dieses
Meeting findet alle zwei Wochen statt, und wie alle Meetings und
Sitzungen gehört es nicht zu Freds Lieblingsveranstaltungen. Heute freut
er sich über den Termin, denn am PTM – bei der IAA wird alles abgekürzt
– nimmt auch Joshi teil und es werden alle anstehenden Aufgaben und
aktuelle Probleme besprochen. Da sollte sich dann hoffentlich auch der
gesuchte Anknüpfungspunkt finden. Drittens fällt es Fred leicht, bei
diesen Besprechungen in eine Art Trance-Zustand wegzudämmern, der
es ihm vielleicht ermöglicht, Ideen zu entwickeln, wie er den verdammten
Sourcecode für die Verschlüsselung aus Joshi rausleiern könnte.
Fred sitzt schon seit zwei Minuten im Besprechungszimmer, sein
Notizbuch und einen Kugelschreiber fein säuberlich vor sich auf dem
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Tisch, als Klaus der Projektleiter den Raum betritt. Aber auch diese
Besonderheit fällt nicht auf. Normalerweise kommt Fred zuverlässig zwei
Minuten zu spät.
Das Meeting verläuft an sich wie immer. Klaus geht die sogenannte OPL,
die Offene-Punkte-Liste, des Projekts durch und fragt alle, deren
Aufgaben fällig sind, nach dem Status. Dieser Teil der Veranstaltung
bringt für Fred nichts Neues. Er muss nur einmal die weiße Flagge hissen
und zu Protokoll geben, dass er eine Aufgabe noch nicht bearbeitet hat,
wegen seines Urlaubs. Das ist aber auch nichts Neues. Im zweiten Teil
der Besprechung geht es dann um aktuelle Themen, die noch nicht in der
OPL enthalten sind. Klaus berichtet von einem Meeting mit dem
Projektleiter des Kunden. Die Entwickler aus dem Mutterkonzern von
Hispano-Suiza haben eine Erprobung in Spanien gemacht, ohne
Beteiligung von IAA, und dabei noch verschiedene Probleme festgestellt,
die jetzt bearbeitet werden müssen. Sie haben mit der Messtechnik in
ihren Versuchsfahrzeugen Dateien aufgezeichnet und diese schon per
Mail an Klaus geschickt. Die Kollegen des OEM haben sich die
Messungen auch schon angesehen und Vermutungen aufgestellt, was
jeweils
die
Ursache
sein
könnte.
Die
Standardfunktion
des
Abstandsregeltempomaten scheint so weit in Ordnung zu sein. Die
Erprobungsfahrt sollte dazu dienen, einige komplexe Features zu testen.
Und
tatsächlich
wurden
unter
anderem
Probleme
mit
der
Dejustageerkennung entdeckt. Diese Funktion kann erkennen, wenn der
Radarsensor des Systems, zum Beispiel nach einem Parkrempler, etwas
verdreht wurde und nicht mehr exakt auf die Fahrzeugachse ausgerichtet
ist. Ein weiteres Problem betrifft die Linsenheizung. Der Radarsensor hat
vorne eine Kunststofflinse, die beheizbar ist. Der Sinn dieser Heizung
besteht darin zu verhindern, dass sich zum Beispiel Schneematsch auf
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der Linse festsetzt, denn das würde die Radarsignale zu stark dämpfen;
der Sensor könnte nichts mehr detektieren. Und so geht es weiter –
Fehlerbericht reiht sich an Fehlerbericht. Erst als bei der Beschreibung
der letzten Messung das Stichwort »Verschlüsselung« fällt, ist Fred
plötzlich hellwach. Die Ingenieure hatten versucht, das ACC-System in
einem neuen Fahrzeug in Betrieb zu nehmen. Der Sensor mit dem
Steuergerät war schon eingebaut und sie hatten nur noch die Software
auf das Steuergerät geflasht. Bei diesem Vorgang wird das Programm in
den Speicher der Hardware geladen. Der Diagnosestecker des
Fahrzeugs wird dabei über ein spezielles Adapterkabel mit einem Laptop
verbunden. Wenn auf dem Rechner die erforderliche Flash-Software
installiert ist, kann der Download gestartet werden. Anschließend müssen
noch einige Konfigurationseinstellungen an dem System vorgenommen
werden. Dies erledigt eine weiteres Programm auf dem Laptop
automatisch. Dann sollte das System nach einem Reset einsteigen. Im
Klartext wird die Zündung ausgeschaltet, eine Weile gewartet, bis alle
Steuergeräte abgeschaltet sind, und dann die Zündung und der Motor
gestartet. Das ACC sollte sich jetzt einschalten lassen. In diesem Fall hat
das allerdings nicht funktioniert. Schon der Diagnoseservice zum
Konfigurieren des Systems nach dem eigentlichen Flashen brach mit
einer Fehlermeldung ab. Die Vermutung der Kollegen bei Hispano-Suiza
war, dass es ein Problem mit der Verschlüsselung der Steuergeräte gab.
Die Vielzahl an Ausstattungsvarianten einer Luxuslimousine macht es
praktisch
unmöglich,
alle
denkbaren
Kombinationen
zu
testen.
Anscheinend hatte das Testfahrzeug eine Steuergerätekombination, die
so bisher noch nicht getestet worden war und die einen Fehler in der
Verschlüsselungssoftware zu Tage gefördert hat. Fred schreit sofort –
vielleicht etwas zu schnell – hier, als es um die Frage geht, wer sich der
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Analyse dieses Themas annehmen könne. Der Einwurf von Joshi, dass
das ohne ihn ja wohl kaum möglich sei, ist Fred nur willkommen. Besser
konnte es doch kaum laufen. Jetzt bleibt nur noch die Frage, wie er diese
Steilvorlage am besten nutzen kann.
***
Franz und Julia fahren wieder nach Ludwigsburg. Was hätten sie in Freds
Wohnung tun können? Bei Franz haben sie mehr Möglichkeiten.
Während der kurzen Fahrt spricht keiner der beiden ein Wort. Jeder
überlegt für sich, wie sie am besten weitermachen könnten, und jeder hat
am Ende der Fahrt einen wirklich guten Gedanken im Kopf. Julia hatte ihn
schon länger im Kopf als Franz.
Kaum daheim startet Franz seinen Laptop. Als Profifotograf legt er viel
Wert auf eine ordentliche Ablage seiner Bilder. Dass das Aufnahmedatum
nachvollziehbar ist, ist klar und auch kein Problem. Er versieht seine
Fotos aber auch mit Tags, also mit zusätzlichen Informationen, wie
Aufnahmeort, abgebildete Fahrzeuge und so weiter. Mit den Bildern
seiner letzten Touren ist er leider nicht so sorgfältig umgegangen. Es war
einfach wenig Zeit in letzter Zeit. Sein geregelter Ablauf, der durch die
wenigen zwischenmenschlichen Beziehungen kaum beeinflusst wurde, ist
einem chaotischen Durcheinander gewichen. Franz empfindet es so und
ein unbeteiligter Außenstehender würde ihm zumindest nicht vehement
widersprechen.
Er hatte also keine Zeit, seine Bilder sortiert und getagt abzulegen.
Deshalb muss er jetzt suchen. Franz erinnert sich, dass er irgendwo in
Schweden einen schwarzen Cayenne gesehen hat. Er ist ihm aufgefallen,
weil er in eher geschmackloser Manier aufgemotzt war. Über diese Art
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des Tunings amüsiert man sich in Mitteleuropa in mittellustigen 70eroder 80er-Jahre-Filmen, die zum Beispiel ein recht populäres Sportcoupé
der Marke Opel auf die Hörner nehmen. Franz assoziiert solche
optischen Exzesse heute immer mit Osteuropa. Das ist der springende
Punkt. Deshalb will er dieses Auto nochmal sehen. Er meint, dass er es
abgelichtet haben müsste. Ordner um Ordner wird durchsucht, ohne
Erfolg. Zuletzt bleibt nur noch das Verzeichnis, in dem er die
Schnappschüsse ablegt, die er unterwegs mit seiner Handykamera
aufgenommen hat. Diese Bilder taugen natürlich nicht zum Verkaufen; sie
dienen ihm eher als Gedächtnisstütze, wenn er seine Fotoausrüstung
ausnahmsweise mal nicht dabei hat. Und siehe da, in diesem Ordner
findet sich ein Foto, auf dem ganz am Rand der aufgemotzte Cayenne zu
erkennen ist. Er hat das Bild damals vor dem Hotel Silverhatten
aufgenommen. Ein paar Minuten später hatte er Julia an der Bar
getroffen – aber diesen Zusammenhang stellt er im Moment gar nicht her.
Das Foto zeigt das Auto von vorne, mit dem Kennzeichen. Franz muss
nicht besonders tief in die Trickkiste der Bildbearbeitung greifen, um die
Buchstaben und Ziffern lesen zu können. Die Handykamera hat immerhin
auch schon fünf Megapixel. Eine entsprechende Vergrößerung des
Ausschnitts ist also möglich; etwas mehr Kontrast und Helligkeit, und
schon reicht es zum Entziffern. Es handelt sich tatsächlich um ein
russisches Kennzeichen. Das ist leicht zu erkennen, weil darauf »RUS«
steht und auch die russische Flagge abgebildet ist. Glücklicherweise
werden auf diesen Kennzeichen nur solche Buchstaben verwendet, die
im
kyrillischen
und
im
lateinischen
Alphabet
vorkommen.
Das
Kennzeichen ist also auch für Franz lesbar: A 701 AP / 177.
Wenn die Entführer tatsächlich Russen sind, und wenn sie tatsächlich
etwas mit den Leuten dort in Arjeplog zu tun haben, und wenn sie dieses
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Auto jetzt auch in Deutschland benutzen, dann hätte Franz jetzt das
Kennzeichen des Wagens, mit dem Sandra entführt wurde, inklusive
eines etwas undeutlichen Fotos des Fahrzeugs. Wenn! Das ist natürlich
alles sehr vage, aber wenn die Wenns alle zutreffen, dann wäre es schon
ein Teilerfolg, denn ein derart verschönerter Cayenne mit russischem
Kennzeichen fällt im Schwabenland schon eher auf als ein roter Golf III
mit Böblinger Kennzeichen.
Auch Julia verfolgt gleich ihren Gedanken, als sie in Franz' Wohnung
sind. Sie wühlt in ihrer Handtasche nach dem Handy und beginnt, im
Telefonbuch nach einer Telefonnummer zu suchen. Das Dumme ist, dass
sie sich nicht an den Namen des Besitzers dieser Nummer erinnern kann.
Sie hofft einfach, dass sie sich erinnert, wenn sie den richtigen Namen
liest. Aber auch nachdem sie das Telefonbuch einmal vorwärts und
einmal rückwärts durchgegangen ist, hat es noch nicht klick gemacht.
Jetzt bleibt als letzte Chance noch ihr Organizer. Julia hat aber keinen
Personal Digital Assistant oder kurz PDA. Sie kauft jedes Jahr für einen
völlig übertriebenen Preis einige Seiten Papier, die mit nichts als dem
fortlaufenden Datum und einigen Linien bedruckt sind. Neben diesen
Kalenderseiten enthält das kleine, in Leder gebundene Ringbuch noch
Julias Gehirn, besser: die Informationen, für die in ihrem Gehirn in den
letzten fünfzehn Jahren kein Platz mehr war. Das ist eine Menge –
Geheimzahlen für Kredit- und EC-Karten, Passwörter für diverse
Internetdienste, ihre Blutgruppe, um nur eine nicht repräsentative
Auswahl zu nennen. Außerdem ist ihr Adressbuch darin abgeheftet. Aber
auch hier findet Julia keinen Namen, der ihr in dem gesuchten
Zusammenhang bekannt vorkommt. Dabei ist sie sich sicher, dass sie
irgendwo den Namen und zumindest die Telefonnummer aufgehoben hat.
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Sie war stolz darauf, sie zu haben. Jetzt hilft nur noch die aufwendige
Suche in den letzten Tiefen des besagten Organizers, die Tiefen, die kein
PDA hat. Die tiefen Einsteckfächer, in denen der Kassenzettel für das
neue Küchenradio oder der Einlieferungsschein für ein Paket oder zum
Beispiel Visitenkarten verschwinden. Unter normalen Umständen führen
diese Zettelchen dort ein wesentlich ruhigeres und beschaulicheres
Leben als zum Beispiel die Zettelchen, die sich in einer doch deutlich
betriebsameren Geldbörse sammeln. Die Umstände sind im Moment aber
nicht normal; nach jetzt nur noch kurzer Suche hält Julia Franz eine
Visitenkarte unter die Nase:
International Automotive AG
Dipl.-Ing. Herbert Hafele
Leiter Sicherheit
Hindenburgstraße 45
71638 Ludwigsburg
07141 / 89 77 66 – 543
[email protected]
***
Sandras Lage hat sich inzwischen nur insofern verändert, als ihr
inzwischen zusätzlich zur Kälte auch Hunger, Durst und eine volle Blase
zu schaffen machen. Das geht schon eine ganze Weile so. Natürlich hat
sie es erstmal nicht gewagt, nach der Toilette zu fragen. Aber jetzt hält
sie es langsam nicht mehr aus. Ihre Entführer sitzen immer noch auf dem
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Stockbett und unterhalten sich. Es sieht allerdings nicht so aus, als
würden sie den neuesten Klatsch aus der Heimat austauschen. Vielleicht
machen sie Pläne, wie es jetzt weitergehen soll. Plötzlich steht einer der
beiden Typen auf und verlässt die Hütte. Jetzt ist Sandra also mit einem
der Männer allein. Während sie noch überlegt, ob sich ihre Lage damit
verbessert oder eher verschlechtert hat, sagt er unvermittelt: »Essen«
und deutet schüchtern auf die Tür. Das soll wohl eine Erklärung für das
Verschwinden des anderen sein. Die etwas ruhigere Tonart lässt Sandra
etwas Hoffnung schöpfen. Deshalb traut sie sich dann doch endlich zu
fragen, ob sie mal auf die Toilette dürfe. Ihr Aufpasser schaut etwas
verdutzt, überlegt kurz, steht auf und geht zu der kleinen Kommode, die
in der Ecke neben dem Tisch steht. Sandra hat keine Ahnung, was er
dort sucht, und die Tatsache, dass er seit ihrer Frage kein Wort
gesprochen hat, verunsichert sie erneut. Nach kurzem Kramen zieht der
Mann eine Rolle Klopapier aus dem Kasten, reicht sie Sandra, deutet auf
die Tür und sagt: »Außen!«
Jetzt ist Sandra verdutzt. Als sie durch die Tür ins Freie tritt, versucht sie
sich möglichst schnell einen Überblick zu verschaffen. Die Hütte scheint
auf einem nicht besonders großen Grundstück zu stehen, das von einem
Zaun umgeben ist. Der ist nicht sehr hoch, vielleicht 1,20 Meter. Es gibt
etwas Gebüsch und einen Obstbaum und in einer Ecke des Grundstücks,
gegenüber der Hüttentür, steht ein kleines Klohäuschen – so richtig
klassisch aus Holz mit einem Herz in der Tür. Sandra geht ein paar
Schritte in diese Richtung. Hinter dem Zaun kommt, soweit sie das sehen
kann, ringsum erstmal Wiese. Bis zu einem Gebüsch, das sie hinter dem
Klohäuschen sieht, sind es vom Zaun nochmal 200 oder 300 Meter. In
ihrem Hirn schießen die Gedanken hin und her. Sie muss jetzt eine
Entscheidung treffen – hopp oder topp. Ein kurzer Blick zurück zur Tür
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und schon finden diese Gedanken ein Ende. Der Typ steht da und hat
sich demonstrativ eine Pistole vorne in den Hosenbund gesteckt. Ganz so
freundlich ist er dann wohl doch wieder nicht. Sandra versucht, sich
nichts anmerken zu lassen. Sie geht zum Klohäuschen und verschwindet
darin. Als sie nach zwei Minuten wenigstens etwas erleichtert wieder
herauskommt, fällt ihr auf dem Hügel hinter der Hütte ein hoher
Sendemast mit vielen Antennen auf. Ihr Bewacher steht immer noch in
der Türe. Als Sandra auf ihn zugeht, tritt er zur Seite und lässt sie an sich
vorbei wieder in den schummrigen Raum gehen.
Nun sitzt sie also wieder an ihrem Platz am Tisch. Die frische Luft und die
paar Schritte Bewegung haben ihr gut getan. Aber jetzt verschafft sich die
Angst erneut Raum in ihrem Kopf. Der Mann, der auch wieder auf seinem
angestammten Platz auf dem Bett sitzt, spricht kein Wort. Sandra wagt
nicht, ihn anzusehen. Kein direkter Blickkontakt. Ihn bloß nicht auf
dumme Gedanken bringen. Ob er sie ansieht, weiß sie nicht. Sie starrt
nur auf die Tischplatte vor sich. Ihre Gedanken kreisen immer wieder um
dasselbe Thema: Wie könnte sie hier abhauen? Wie soll sie an diesem
bewaffneten Typ vorbeikommen? Oder wäre das Risiko viel zu hoch?
Würden die sie doch laufenlassen, wenn sie bekommen hatten was sie
wollten? Und so weiter und so fort. Am Ende dieser Kette ist dann für
eine halbe Minute Ruhe, bevor die Gedanken in ungefähr der gleichen
Reihenfolge wiederkehren.
Nach einer gefühlten Ewigkeit geht plötzlich die Tür auf und der Zweite,
der wahrscheinlich der Anführer ist, kommt zurück. Er hat drei
Pizzakartons und drei Flaschen Cola dabei. In ihrer bescheidenen Lage
denkt Sandra nicht an den Zuckergehalt der Cola und die Nutrition Facts
der Pizza, aber wenn Fred ihr ein derartiges Mahl kredenzt hätte, hätte er
sich einen längeren Vortrag über diese Dinge anhören dürfen. Im Moment
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ist Sandra froh, dass sie etwas zu essen und trinken bekommt. Auch
wenn der Anführer zur Eile mahnt – »schnell!« Nach knapp zehn Minuten
stopft er sich als Erster das letzte Stück Pizza in den Mund und springt
fast im gleichen Augenblick auf. Sein träger Kumpan verschafft Sandra
noch zwei weitere Minuten, um fast aufzuessen. Dann wird ihr bedeutet,
dass es jetzt wieder weitergeht. Sie wird am Arm aus der Hütte geführt,
wieder auf den Rücksitz des Autos verfrachtet, und schon fahren sie
wieder. Die Kurvenfolge kann sie sich auch diesmal nicht merken und
sehen kann sie natürlich auch nichts, weil die beiden Russen nicht
vergessen haben, ihr die Augen wieder zu verbinden.
***
Der Weg geht durch die Weinberge. Es ist sonnig, aber nicht
unangenehm warm. Sie haben kein bestimmtes Ziel. Die Idee war
einfach, von den Felsengärten Richtung Süden dem Neckar zu folgen.
Immer auf der Höhe zwischen den Weingärten, aber ohne Zwang.
Zwängen wollen sich die Hafeles nicht mehr aussetzen.
Sie unterhalten sich über das kommende Wochenende. Ihr Sohn hat sich
mit seiner Familie zu einem Besuch angekündigt. Beide freuen sich
schon sehr darauf, ihren ersten Enkel wiederzusehen. Er ist jetzt bald ein
Jahr alt. Auch wenn sie den Kleinen nur wenige Tage nicht gesehen
haben, hat er in der Zwischenzeit doch sicher schon wieder Fortschritte
gemacht. Vielleicht kann er inzwischen wieder neue Laute von sich
geben? Oder noch schneller krabbeln? Natürlich ist so ein Wochenende
auch mit einem gewissen Stress verbunden, aber die Freude überwiegt
bei Weitem. Die beiden besprechen während ihrer Wanderung, was es zu
essen geben soll und wann sie am besten einen Ausflug zum Höhenpark
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Killesberg einplanen können. Dort gibt es eine kleine Eisenbahn, mit der
Besucher durch den Park gefahren werden. Am Wochenende wird der
Zug manchmal von einer richtigen Dampflok gezogen. Das wäre doch
bestimmt eine tolle Attraktion für den kleinen Lukas.
Sie sind gerade erst eine gute halbe Stunde gelaufen, als sie
beschließen, eine kleine Rast einzulegen. Da ist diese schöne Bank in
der Sonne und mit einer wunderbaren Aussicht auf den Neckar. Herr
Hafele kramt gerade in seinem Rucksack nach der Thermoskanne und
den Bechern, als sein Handy klingelt. Eigentlich klingelt sein Handy nie.
Früher hat sein Handy ständig zu den ungünstigsten Zeitpunkten
geklingelt. Da war er ja auch noch wichtig. Jetzt klingelt es eigentlich nie
mehr. Wer ihn erreichen will, ruft daheim an und hinterlässt bestenfalls
eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Noch spannender wird die
Sache, als er auf dem Display die Telefonnummer abliest. Herr Hafele
schaut immer nach, wer ihn anruft. Er möchte vorher wissen, wer ihn am
anderen Ende der Leitung erwartet, wenn er abhebt.
Diesmal erwartet er sich selbst, das heißt natürlich nicht direkt er selbst.
Auf dem Display ist seine alte Nummer in der Firma zu lesen. Er hebt ab
und hört die sehr vertraute Stimme von Frau Mund, seiner ehemaligen
Sekretärin. Sie erkundigt sich kurz, wie es ihm denn gehe, aber Herr
Hafele erkennt schon an der Art, wie sie die Frage stellt, dass keine Zeit
für eine ausführliche Antwort auf diese eher rhetorische Frage ist.
Außerdem würde sie ihn nicht auf dem Handy anrufen, wenn es ihr nur
um einen kleinen Plausch ginge. Herr Hafele antwortet also kurz, aber
durchaus wahrheitsgemäß, dass es ihm recht gut gehe und dass er
gerade einen kleinen Ausflug mit seiner Frau mache. Dann erkundigt er
sich, was denn der Grund des Anrufs sei.
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Dagmar Mund sagt, dass eine Dame, Frau Morgenfrüh, in der Firma
angerufen habe. Sie habe Herrn Hafele sprechen wollen und habe
gesagt, dass sie ihn von früher kenne. Frau Mund habe ihr erläutert, dass
Herr Hafele nicht mehr für die IAA arbeite, aber damit habe sich die
Anruferin nicht zufrieden gegeben. Sie habe sehr hartnäckig gebohrt, ob
Frau Mund denn keine Privatnummer oder wenigstens Privatadresse
habe, unter der sie Herrn Hafele erreichen könne. Es sei sehr dringend.
Herr Hafele hört sich die Geschichte an, ohne sie zu unterbrechen oder
Zwischenfragen zu stellen. Das zeigt Frau Mund, dass er wenig
begeistert von dem Vorgang ist. Sie ist also froh, ihm sagen zu können,
dass sie der fremden Anruferin keine Informationen gegeben habe. Sie
habe nur versprochen, ihn anzurufen, von dem Kontaktversuch zu
erzählen
und
wiederum
die
Nummer
von
Frau
Morgenfrüh
weiterzugeben. Herr Hafele könne dann selber entscheiden, ob er
zurückrufen wolle. Damit habe sie sich zufrieden gegeben, allerdings
habe die Dame nochmal auf die große Dringlichkeit hingewiesen. So,
deshalb belästige sie ihn jetzt also mit einem Anruf auf dem Mobiltelefon.
Schon während der letzten Sätze hat Herr Hafele seiner Frau bedeutet,
dass er einen Zettel und einen Stift brauche. Er notiert sich die Nummer
von Frau Morgenfrüh und beendet dann freundlich aber kurz das
Gespräch mit seiner früheren Mitarbeiterin. Sie erfährt nicht, ob ihr
ehemaliger Chef die Dame beruflich oder privat kennt, ob er sich
überhaupt an den Namen erinnert hat. Aber das war früher auch schon
so, als Herr Hafele noch Sicherheitschef der Firma war. Alles war immer
sehr vertraulich und Herr Hafele immer freundlich, aber kurz.
Seine Frau sieht ihn fragend an. Sie hat mitbekommen, dass er mit Frau
Mund gesprochen hat. Er erzählt kurz, um was es gegangen ist.
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Allerdings kann er nichts mit dem Namen anfangen. Er ist sich ziemlich
sicher, dass es keine Kollegin von der IAA ist, die da angerufen hat.
Andererseits hatte er in seiner Funktion natürlich auch mit vielen Leuten
außerhalb der Firma zu tun, mit Sicherheitsexperten anderer Firmen, zum
Beispiel von Kunden oder Lieferanten, mit Behörden in allen möglichen
Ländern. Immer wieder gab es Vorfälle, bei denen die Polizei
eingeschaltet wurde. Aber so lange er auch in seinem Hirn kramt, er kann
den Namen keinem Gesicht und auch keiner Begebenheit zuordnen.
Dass es nicht um eine Privatangelegenheit geht, ist allein schon wegen
der Art der Kontaktaufnahme
klar. Herr
Hafele ist wieder
im
Sicherheitschef-Modus, den er seit seiner Pensionierung nicht mehr
aktiviert hatte. Seiner Frau ist das natürlich nicht entgangen und sie kennt
ihn gut genug, um zu wissen, dass es jetzt auch nur einen Weg gibt, ihn
wieder in den Ruheständler-Opa-Modus zu bekommen. Er muss das
Rätsel lösen, wenn es denn tatsächlich ein Rätsel gibt. Also rät sie ihm
zu, die Nummer anzurufen, die auf dem Zettel in seinen Händen steht.
***
Franz und Julia sind an einem Punkt angekommen, an dem sie erstmal
nicht mehr weiterkommen. Sie kennen jetzt wahrscheinlich oder auch nur
vielleicht das Kennzeichen des Autos, das die Entführer benutzen, und
Julia hat einen Versuch gestartet, einen Kontakt zum ehemaligen
Sicherheitschef der IAA herzustellen, in der Hoffnung, dass der mehr
Erfahrung mit solchen Fällen hat als zwei Fotojournalisten, wie sie sich
gerne selber nennen.
Es ist also gerade kurz Pause. Beide sitzen in Franz' Wohnzimmer auf
dem Sofa und schauen sich etwas ratlos an. Franz rückt etwas näher zu
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Julia. Er gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und dann noch einen auf den
Mund. Sie erwidert seine Zärtlichkeiten. Er öffnet ihre Bluse und macht
sich an ihrem BH zu schaffen. Spätestens in diesem Moment tritt der
Entführungsfall für einige Momente in den Hintergrund. Franz hat jetzt ein
anderes Problem, das seine ganze Aufmerksamkeit erfordert: Er kämpft
gegen einen hakeligen BH-Verschluss. Aber diese Nuss hat er nach ein
paar Minuten – in Julias Wahrnehmung sind es jedenfalls Minuten – auch
geknackt. Über das Folgende sei hier der Mantel des Schweigens
gebreitet.
Julia liegt noch unter der Wolldecke auf Franz' Sofa. Er ist im Bad und
restauriert sich, als Julias Handy klingelt.
Es ist Herr Hafele. Er möchte wissen, woher sie, Frau Morgenfrüh, ihn
denn eigentlich kenne. Julia erinnert ihn an die Wintererprobungssaison
vor fünf Jahren. Da war sie als Erlkönigjägerin in Arjeplog und Herr
Hafele hat gerade die Sicherheitsvorkehrungen am Testzentrum der IAA
inspiziert. Das war damals relativ neu, deshalb hatte der Security-Chef
persönlich nachgesehen, ob auch alles Mögliche getan wurde, um die
Sicherheit von Eigentum und Wissen der Firma und ihrer Kunden zu
gewährleisten. Gerade während seines Rundganges hat er dann Julia
quasi in flagranti erwischt, als sie durch den Zaun auf dem Gelände
vorbeifahrende Autos fotografiert hat. Er hat sich gleich persönlich an die
Verfolgung gemacht. Aber gegen Julia hatte er keine Chance. Sie ist ihm
entwischt. Am selben Abend hatten sie sich dann zufällig an der Bar des
Hotel Silverhatten getroffen und sofort wiedererkannt. Nach einem kurzen
Disput hatten sie sich geeinigt, dass Herr Hafele keinerlei irgendwie
verwertbare Beweise hatte, dass Julia eh nichts Aufregendes vor die
Linse bekommen hatte, und dass Julia »vorerst« die IAA aus ihren
Aktivitäten aussparen würde. Nach dieser Klärung haben sie sich dann
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bei zwei Bier den Rest des Abends ganz gut unterhalten und Herr Hafele
hatte ihr beim Abschied seine Visitenkarte in die Hand gedrückt.
Julia hatte die Geschichte nur in Stichworten erzählt und schon bei der
Verfolgungsjagd gemerkt, dass sich ihr Gegenüber wieder erinnerte, wer
sie war. Er möchte nun natürlich wissen, warum sie ihn gerade jetzt und
so dringend sprechen wolle. Julia berichtet, dass sie einem Mitarbeiter
der IAA helfen wolle, der von Russen erpresst werde, den Software-Code
zu einer geheimen Funktion zu verraten. Er entgegnet, dass für so was
inzwischen seine Nachfolger zuständig seien. Herr Hafele ist nicht
unhöflich, denn er fand die Fotografin damals an der Bar auch schon
sympathisch – aber auch nicht mehr. Er sieht jedoch nicht, was er mit so
einem Thema zu tun haben sollte. Erst als Julia langsam herausrückt,
dass es nicht nur um eine Erpressung, sondern um eine veritable
Entführung geht, kann sie sein Interesse doch wieder wecken. Sie muss
ihm eigentlich nicht mehr erklären – tut es aber trotzdem –, dass die mit
Sanktionen gedroht haben, falls die Polizei eingeschaltet würde. Und
dass man in dieser Situation Bedenken hat, offiziell den Sicherheitsdienst
der IAA einzuschalten, der dann wiederum nach Vorschrift nicht umhin
könne, die Polizei einzuschalten, das erscheint Herrn Hafele plausibel.
Während sie seine Frage beantwortet, was sie denn eigentlich mit der
ganzen Sache zu tun habe, denkt er bereits darüber nach, was er zur
Lösung der Situation beitragen könnte. Er hat etwas Zeit zum
Nachdenken, denn die Geschichte ist ja bekanntermaßen kompliziert.
Während der Beantwortung seiner nächsten Fragen, was sie denn über
die Entführer wüssten, und was sie bisher unternommen hätten, denkt er
weiter nach, und als Julia mit ihrer Litanei zu Ende ist, hat er die
Geschichte gekauft und er ist sich sicher, was er jetzt nicht tun wird:
weiter durch die Weinberge wandern.
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***
Fred hat nur ungefähr fünfzehn Minuten. Das Meeting ist gerade beendet
worden. Joshi braucht nur noch eine Zigarette und einen Kaffee und will
dann gleich mit der Fehlersuche beginnen. Fred konnte ihn überreden,
sich an Freds Arbeitsplatz zu treffen. Sie werden also an seinem Rechner
den Softwarecode für die Steuergeräteverschlüsselung bearbeiten, auf
den er allein keinen Zugriff hat. Jetzt ist nur die Frage, wie er den Code
am besten auch auf seinem Rechner behalten kann. Er zermartert sich
das Hirn und gerät immer mehr in Panik, weil die Zeit verrinnt. Wenn
Joshi erstmal an seinem Rechner sitzt, kann er da nichts mehr
manipulieren. Dann kann er den Code nur noch auswendig lernen und
später aufschreiben – haha. So fotografisch ist sein Gedächtnis nicht. Er
kann mit Mühe fünf Dinge im Kopf behalten, die ihm Sandra einzukaufen
aufgetragen hat, und das nur bis er im Supermarkt um die Ecke ist.
Seitenlanger Code ist ausgeschlossen.
In Gedanken macht er an seinem Rechner als Erstes das Mailprogramm
auf, um nach neuen Nachrichten zu sehen. Die erste Mail ist eine
Aufforderung an einem web-based Training, kurz WBT, teilzunehmen –
wie langweilig. Ein WBT ist eine Art interaktiver Film zu einem
bestimmten Thema. Hin und wieder muss man irgendwo klicken, um
weiterzukommen oder man muss einfache Fragen zur Lernkontrolle
beantworten. Während er die Mail in den virtuellen Mülleimer tritt, klickt es
in seinem doch eher mechanischen Hirn. Das ist die Lösung: ein Film. Er
braucht so ein Tool, mit dem man quasi seinen Monitor abfilmen kann.
Genau so was wird oft zur Erstellung solcher WBTs verwendet. Fred
googelt, findet, installiert und braucht auch nicht lange, um eine
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Aufzeichnung zu starten. Gerade noch rechtzeitig schafft er es, die
Fenster der Aufnahmesoftware zu verkleinern, dann steht auch schon
Joshi neben ihm.
Fred kramt in seinem Mailpostfach die Nachricht mit den fraglichen
Messungen der Kollegen von Hispano-Suiza heraus. Er kann nur
Allgemeinplätze zur Analyse beitragen. Den eigentlichen Vorgang der
Softwareinbetriebnahme kann er auf der Messung nicht interpretieren. Er
kann nur nachvollziehen, wann das Steuergerät überhaupt aktiv war, oder
wann die Zündung des Fahrzeugs abgeschaltet wurde. Joshi ist aber so
vertieft, dass ihm die fehlende Kompetenz seines Kollegen auf diesem
Gebiet zum Glück nicht auffällt. Nach ein paar Minuten hat er einen
Verdacht, an welchem Teil der Software das Problem hängen könnte.
»Darf ich mal?« Die Frage ist klar rhetorisch zu verstehen. Schon hat
Joshi
Tastatur
und
Maus
an
sich
gerissen
und
startet
das
Konfigurationsmanagement- oder kurz KM-System. In dieser Datenbank
wird die Software während der Entwicklung verwaltet. Jedes einzelne
Modul wird in Versionen verfolgt. Es wird sichergestellt, dass immer nur
ein Entwickler ein Modul bearbeiten kann, und so weiter. Eine Software
mit vielen hundert oder sogar tausend Modulen ist sehr komplex und
umso leichter könnten Fehler passieren, wenn nicht sehr penibel auf die
Versionierung und den Freigabestatus geachtet würde. Weiterhin soll das
KM-System auch verhindern, dass Unbefugte Zugriff auf besonders
kritische
Teile
der
Software
bekommen,
wie
zum
Beispiel
die
Steuergeräteverschlüsselung. Deshalb hat sich Joshi auch mit seinem
Login am System angemeldet, um den Code bearbeiten zu können, in
dem er den Fehler vermutet.
Schon erscheinen die ersten Zeilen der Verschlüsselungssoftware auf
dem Monitor, und Joshi beginnt schön langsam durch den ganzen Code
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nach unten zu scrollen. Fred ist sehr zufrieden, so müsste wirklich alles
auf seinem Film sein. Wenn Joshi nicht doch noch die kleine, blinkende
Aufnahmeanzeige unten in der Statusleiste neben der Uhr entdeckt.
Sobald Joshi kurz innehält, zuckt auch Fred zusammen. Er wird immer
nervöser. Joshi ist am Ende des Dokuments angekommen und beginnt
wieder aufwärts zu scrollen. Da unterbricht ihn Fred: »Au Mann, ich hab'
ja ganz vergessen, dass ich jetzt noch ein Meeting habe. Wir machen
später weiter.« Joshi schaut ihn erstaunt an, aber jetzt hat Fred Tastatur
und Maus wieder unter seine Kontrolle gebracht und beginnt die
Programme zu schließen. Joshi trabt davon und murmelt noch etwas von
» ... anrufen, wenn seine Exzellenz wieder Zeit für eine Audienz hat.«
Gerade als Joshi außer Sichtweite ist, stoppt Fred die Aufnahme. Als er
das Programm schließt, sieht er eine Warnmeldung, die bisher hinter
anderen Fenstern auf seinem Monitor versteckt war:
Ein unzulässiger Software Download aus dem Internet wurde registriert.
ITS ist verständigt.
ITS ist Fred ein Begriff – die Abteilung für IT Sicherheit. Aber was dieser
Hinweis so genau bedeuten soll, ist ihm nicht klar. Deshalb gerät er
diesmal auch nicht in Panik, obwohl jetzt etwas Hektik angesagt wäre. Er
startet kurz das eben aufgenommene Video und sieht, dass zum Glück
alles funktioniert hat. Die ganze Session ist drauf und wenn man den Film
anhält, kann man auch den Code lesen. Dann kopiert er die Filmdatei auf
den USB-Stick, den er immer am Schlüsselbund hängen hat, für Musik
und andere private Dinge. Es wird eine Dauer von zwei Minuten
angezeigt. Noch bevor der Vorgang beendet ist, erscheint eine weitere
Meldung auf seinem Monitor.
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Daten werden auf einen nicht autorisierten, externen Datenträger kopiert.
ITS ist verständigt.
Seit er bei IAA ist, hat die Abteilung ITS noch nie so viel von ihm gehört
wie in der letzten halben Stunde. Aber jetzt ist er ja eh fertig hier und er
hat auch andere Sorgen als die ITS aus der Zentrale – denkt er. Er fährt
den Rechner runter, steckt den USB-Stick wieder ein und macht sich auf
den Weg. Ohne groß darüber nachzudenken, geht er am Terminal des
Zeiterfassungssystems vorbei, ohne auszustempeln. Für die Firma bleibt
er also anwesend. Das ist jetzt ausnahmsweise mal sein Glück. Es
beginnt eine wahre Glückssträhne für ihn.
Er läuft, einer Eingebung folgend, auf dem Weg zum Aufzug an der
Fahrzeugtheke vorbei. Ein unscheinbarer Schrank mit einer großen Tafel
darüber. Auf der Tafel sind alle Fahrzeuge verzeichnet. Dort tragen die
Entwickler ein, wann welches Auto benötigt wird. Er findet ohne langes
Suchen einen Bentley, der die nächsten drei Tage anscheinend nicht
gebraucht wird. Der Schlüssel und das Fahrtenbuch liegen in einem Fach
in dem besagten Schrank. Fred nimmt beides mit und macht keine
Eintragung im Belegungsplan. Das kann zwar Ärger geben, ist allerdings
im Vergleich zum Rest seines Problems eher von untergeordneter
Bedeutung. Er verlässt das Büro und geht zum Aufzug. Dass von der
anderen
Seite
gerade
zwei
Mitarbeiter
des
Werkschutzes
das
Großraumbüro betreten, registriert er nicht mehr.
Mit dem Aufzug fährt er drei Stockwerke nach unten in die Tiefgarage für
die Versuchsträger. Die hat fast 300 Stellplätze und ist in Sektoren
eingeteilt, die mit Buchstaben bezeichnet sind. Am Autoschlüssel ist ein
länglicher Anhänger, auf dem man mit einem Gummiring den Buchstaben
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markieren kann, bei dem das Auto geparkt ist. So erspart man sich
langes Suchen.
Fred ist es schon mehr als ein Mal passiert, dass er in Besprechungen
mit dem Schlüsselanhänger gespielt hat und am Schluss nicht mehr
wusste, wo sein Auto geparkt war.
Heute ist alles in Ordnung. Er findet die Luxuskarosse und schon geht die
Fahrt los.
Auch am Werkstor gibt es kein Problem. Er fährt mit dem Auto zur
Schranke, zeigt dem Pförtner das Fahrtenbuch und seinen Ausweis und
schon öffnet sich der Schlagbaum. Auf die Entfernung von 3 m hätte er
wahrscheinlich auch seine Sparkassen-EC-Karte herzeigen können, ohne
dass das aufgefallen wäre. Wie gesagt, eine Glückssträhne. Wäre Fred
zu Fuß unterwegs gewesen, hätte er mit seinem Ausweis ein Drehtor
freigeben müssen, was ihm nicht mehr gelungen wäre. Denn der
Werkschutz hatte seinen Ausweis nach dem Anruf von ITS bereits
gesperrt.
Aber es ist ja alles gut gegangen. Der Wagen beschleunigt. Er wird nicht
unmittelbar verfolgt. Es wird noch etwas dauern, bis sein Verschwinden
auffällt, und auch dann wäre eine Verfolgungsjagd nicht das Metier des
IAA
Werkschutzes.
Das
sind
keine
ramboartigen
Hilfspolizisten.
Unendlich viel Zeit hat er dennoch nicht – aber die hätte er auch ohne
Werkschutz nicht. Fred beeilt sich also, Land zu gewinnen. Immer wieder
schaut er in den Rückspiegel, aber er kann keine verdächtigen
Fahrzeuge hinter sich ausmachen. Nach kurzer Fahrt parkt er das Auto,
geht zum Haus und klingelt.
***
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Fred hält Franz den USB-Stick unter die Nase und grinst. Franz und Julia
atmen erleichtert auf, als sie sehen, dass Fred den geforderten Code
tatsächlich beschafft hat. Keiner von ihnen hat im Moment richtig Zeit, die
Konsequenzen ihres Handelns zu hinterfragen oder auch nur über
Alternativen nachzudenken. Sie sind auf einem Pfad zur Lösung – hoffen
sie – und diesem Pfad folgen sie.
***
Herr Hafele sitzt mit seiner Frau immer noch in den Weinbergen bei
Hessigheim, aber vom geruhsamen Rentnerausflug – nicht dass die
Hafeles
diese
Vokabel
jemals
auf
eine
ihrer
Unternehmungen
anzuwenden gedacht hätten – ist nichts mehr übrig. Hafele hat jetzt eine
Mission. Nachdem er das Gespräch mit Julia beendet hat, erklärt er
seiner Frau in kurzen Sätzen, was passiert ist. Beide sind etwas verwirrt,
wie es nun weitergehen könnte, was hauptsächlich daran liegen dürfte,
dass die Geschichte eben verwirrend ist. Herr Hafele überredet seine
Frau, den Ausflug zu beenden und nach Hause zurückzukehren. Sie
leistet keinen Widerstand, weil sie aus der Erfahrung einer langen Ehe
mit ihrem Mann weiß, dass in solchen Fällen Widerstand zwecklos wäre.
Dass Widerstand in diesem Fall angebracht wäre, tut im Moment nichts
zur Sache, und die Hafeles können es auch nicht wissen.
Die beiden machen sich also auf den Rückweg zum Auto, das sie auf
dem kürzesten Weg nach einer guten Viertelstunde erreichen. Schon
während des Rückweges und auch während der Autofahrt beraten sie,
was man in diesem Fall am besten unternehmen könne. Herrn Hafele ist
klar, dass man zweigleisig fahren müsste: einerseits den Anweisungen
der Entführer Folge leisten und gleichzeitig einen eigenen Plan verfolgen,
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um den Typen das Heft aus der Hand zu nehmen und ihnen
zuvorzukommen. An diesem zweiten Teil des Zuvorkommens überlegen
sie herum. Das ist insofern ungewöhnlich, als Herr Hafele seine Frau
sonst nie in die Lösung eines Falles miteinbezogen hatte. Aber heute
zahlt sich seine Offenheit aus. Sie gehen gerade nochmal die ihnen
bekannten Fakten durch: das Kennzeichen und den Autotyp, das
ungefähre Gebiet, in dem sich die Bande zumindest zeitweise
aufgehalten hat. Was fehlt, wären eben genauere Informationen zum
Aufenthaltsort. Es gibt anscheinend keine Möglichkeit, die Entführer zu
kontaktieren, nur die rufen ab und zu an, um Anweisungen oder
Forderungen zu übermitteln, und so weiter. Plötzlich sagt Frau Hafele:
»Paul!« Ihr Mann sieht sie fragend an. »Paul Himmelweit. Der arbeitet
doch bei Toll Collect, der Firma, die in Deutschland die LKW-Maut mit
diesen automatischen Erfassungssystemen eintreibt und kontrolliert. Ich
glaube, seine Arbeitsstelle ist in Pforzheim und der ist in der Firma auch
nicht irgendwer. Die können doch sicher mit ihren Erfassungsbrücken
nach bestimmten Autos suchen.« Noch während der Fahrt rufen sie bei
ihrem alten Freund an.
Der ist einigermaßen perplex, als er erfährt, was der Grund für den
unerwarteten Anruf ist. Herbert Hafele stellt mal wieder Verbrechern nach
und er möchte von ihm den Aufenthaltsort oder die Fahrtstrecke eines
schwarzen Porsche wissen. Seine Freunde lassen sich nicht bremsen.
Sie wollen direkt bei ihm vorbeikommen.
Nach einer knappen Stunde parkt der SLK der Hafeles vor einem
unscheinbaren Bürogebäude in einem Gewerbegebiet am Stadtrand von
Pforzheim. Paul Himmelweit führt sie in sein Büro. Auf dem schwarzen
Holzschreibtisch stehen drei Monitore, ansonsten ist er sehr ordentlich
aufgeräumt. Wobei ja drei Monitore auch nicht unordentlich sind.
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Weiterhin gibt es in dem Raum noch einen Besprechungstisch, an dem
sich die kleine Gruppe niederlässt. Herbert Hafele hatte ja am Telefon
schon kurz erklärt, worum es geht. Eine junge Frau sei entführt worden;
höchstwahrscheinlich in einem schwarzen Porsche Cayenne mit einem
russischen Kennzeichen, das sogar ebenfalls bekannt ist. Ohne dieses
Kennzeichen würde auch gar nichts gehen.
Toll Collect hat ungefähr 300 sogenannte Mautbrücken an den deutschen
Autobahnen installiert. Die erfassen unter anderem die Kennzeichen aller
Autos, die unter den Brücken durchfahren. Sie können auch erkennen, ob
ein großer LKW oder ein PKW vorbeigekommen ist. Einen bestimmten
Fahrzeugtyp können sie aber nicht finden. Außerdem werden die Daten
von PKW sofort wieder gelöscht, weil die ja mit der LKW-Maut nichts zu
tun haben. Es ist also schon prinzipiell nicht möglich, jetzt zu ermitteln,
wann der Wagen mit dem russischen Kennzeichen bei welcher Brücke
vorbeigefahren ist. Und es sei natürlich auch nicht erlaubt, ein
bestimmtes Kennzeichen zu überwachen, führt Paul weiter aus.
Aber genau Zuhören hat Herbert Hafele in der Kürze seiner Rente noch
nicht verlernt. Der Unterschied zwischen »prinzipiell nicht möglich« und
»nicht erlaubt« ist ihm natürlich nicht entgangen. Hier setzt er an. Er
muss nur etwas sanften Druck ausüben, was er auch in den vielen
Jahren Ermittlungstätigkeit gelernt hat, und schon rückt Paul heraus, dass
es da Funktionen in der Erfassungssoftware gebe, die aber nur wenigen
Führungskräften
bei
Toll
Collect
zugänglich
sei.
Ohne
viel
weiterzudiskutieren, steht er auf und geht an seinen Schreibtisch. Die
Hafeles folgen ihm.
Einer der Monitore zeigt ein normales Mailprogramm. Auf dem zweiten
laufen ständig Informationen über Fahrzeuge durch, die anscheinend
nicht eindeutig von dem automatischen System erkannt werden konnten.
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Diese müssen von den Mitarbeitern der Firma manuell ausgewertet
werden. Auf dem dritten Monitor wechseln immer wieder aktuelle
Kamerabilder von verschiedenen Mautbrücken. Das sei eher eine
Spielerei. Normalerweise könne er damit nicht viel anfangen. Nur abends,
bevor er das Büro verlasse, schaue er nach, ob auf seinem Heimweg
Stau sei. Dann öffnet er auf dem zweiten Bildschirm ein Terminalfenster
und gibt einen Befehl ein. Auch die Passwortabfrage passiert er ohne
Probleme. Paul scheint zu dem erlauchten Kreis zu gehören, der Zugriff
auf die Spezialfunktionen hat. Bei der nächsten Eingabe lässt er sich von
Herbert das Kennzeichen diktieren. Dann dreht er sich zu seinen
Freunden um. »Jetzt müssen wir einfach warten. Ich bekomme
automatisch eine SMS, wenn das Fahrzeug von einer unserer
Überwachungsbrücken erfasst wurde. Die leite ich dann an euch weiter.
Dann habt ihr die Position der Brücke, die Uhrzeit und die Fahrtrichtung.
Das merkt ihr euch bitte und löscht dann die SMS. Bitte! Sonst könnt ihr
mich die nächsten Jahre im Knast besuchen und anschließend verbringe
ich meinen Lebensabend unter einer Brücke. Aber nicht unter einer Toll
Collect Brücke.« Herbert verspricht seinem Freund, entsprechend
vorsichtig mit der Info, die hoffentlich bald komme, umzugehen. Die
Verabschiedung ist herzlich aber kurz, zu kurz, wie sich später noch
zeigen soll. Dann hat es Herr Hafele eilig, wieder zurückzukommen. Nach
allem, was sie an Informationen haben, ist Pforzheim außerhalb des
Gebietes, in dem sich die Entführer wahrscheinlich aufhalten.
***
Nun sitzen sie also alle vier in Franz' Wohnung – Fred, Franz und Julia
und Herr Hafele. Der hat seine Frau an der S-Bahn in Ludwigsburg
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abgesetzt, bevor er zu Franz' Wohnung gefahren ist. Er war der Meinung,
dass ihr zu viel Aufregung nicht gut tue. Er dagegen sei derartige
Situationen ja eher gewöhnt.
Es ist schon kurz vor 22 Uhr und Franz macht sich keine Gedanken, dass
seine Wohnung nicht besonders gut zum Repräsentieren geeignet ist. Sie
sitzen im Wohnzimmer, Herr Hafele auf einem ursprünglich in der Küche
beheimateten Stuhl, Franz und Julia auf dem Sofa und Fred auf dem
Boden, was ihm aber anscheinend nicht weiter negativ auffällt.
Herr Hafele macht sich über die eher kargen Räumlichkeiten noch
weniger Gedanken. Er brennt darauf zu verkünden, dass er guter Dinge
sei, schon bald den Aufenthaltsort der Banditen wenigstens grob
einschätzen zu können.
Sie rekapitulieren kurz ihre Situation. Die Entführer haben sich schon
recht lange nicht mehr gemeldet, andererseits sind es ja noch über 14
Stunden bis zum Übergabezeitpunkt. Je mehr Zeit verstreicht, desto
näher muss dann wohl auch der Übergabeort liegen, um ihn noch
rechtzeitig erreichen zu können. Das hat vielleicht den kleinen Vorteil,
dass sich das Viererteam in der Gegend noch halbwegs auskennt.
Andererseits können sie nur hoffen, dass Sandra wohlauf ist und gut
behandelt wird.
Fred hat es immerhin geschafft, den Software-Code zu besorgen. Sie
können also die Forderungen der Entführer erfüllen. Der Code muss noch
auf eine CD kopiert werden, aber das ist kein wirkliches Problem. Also,
auf eine CD passt der aufgenommene Film nicht drauf, aber auf eine
DVD kann man ihn kopieren. Alle sind sich einig, dass die Russen das
genauso akzeptieren werden. Man hat sich ohnehin über die altmodische
Form der Datenübergabe gewundert. Aber es ist ja nur gut, denn ein
Versand per Mail oder Hochladen auf eine Internetseite hätte bei der
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Dateigröße nicht funktioniert. Fred macht sich daran, die Daten zuerst auf
seinen Laptop zu kopieren und dann von dort auf eine DVD zu brennen.
Ansonsten wissen sie immerhin, nach welchem Auto sie suchen müssen.
Herr Hafele wirft selbst ein, dass die Entführer natürlich jederzeit das
Auto wechseln könnten, um eben mögliche Verfolger abzuschütteln. Das
würde allerdings eine gewisse Planung voraussetzen. Schließlich dürfte
es deutlich zu riskant sein, eine Geisel in Schach zu halten und
gleichzeitig ein neues Fluchtauto zu knacken. Sie hätten also ein zweites
Auto an einer abgelegenen Stelle verstecken müssen, die einen
Fahrzeugwechsel mit der Geisel erlaubt. Planung dürfte aber wohl eher
nicht die Stärke dieser Typen sein. Auf Julias Einwand, dass es in dieser
Lage doch eher unangebracht sei, überheblich zu werden, reagieren die
anderen mit betretenem Schweigen. Sie hat Recht.
***
Der schwarze Porsche biegt auf einen ungeteerten Weg ein. Man kann
auch mit verbundenen Augen erstaunlich viele Informationen sammeln.
Auf einem Schotterweg wird meist langsamer gefahren, als auf geteerten
Straßen und vor allem ist das Abrollgeräusch der Reifen deutlich anders.
Sandra kann nicht unterscheiden, ob es ein Feld- oder eher ein Waldweg
ist. Aber die stundenlange ziellose Fahrt hat wohl demnächst ein Ende.
Die Banditen haben die ganze Zeit nicht viele Worte gewechselt und
wenn, dann nur in ihrer Sprache; mit Sandra haben sie kein Wort
gesprochen. Sie hat also kaum Anhaltspunkte, wie sich die Sache
entwickelt. Es gibt kaum Hoffnungsschimmer, an die sie sich halten
könnte. Zu Anfang dieser Fahrt kamen ihr die Männer eher hektisch und
aufgeregt vor. Mit der Zeit wurden sie etwas ruhiger. Vielleicht haben sie
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einen Plan gefasst. Der Wagen hält an und die Männer steigen aus. Dann
wird Sandras Tür geöffnet und sie darf ebenfalls aussteigen. Der Anführer
nimmt ihr auch die Augenbinde ab. Für eine Sekunde sehen sie sich
direkt in die Augen, und Sandra sieht eine Kälte, die sie frösteln lässt.
Sie kann nicht erkennen, wo sie sich befinden. Der Porsche steht am
Ende
eines
Waldweges.
Anscheinend
wurde
der
irgendwann
aufgegeben. Jedenfalls hört der Weg nicht abrupt auf, sondern er wird
von Gebüsch immer weiter verengt und verliert sich anscheinend im
Gehölz. Woher der die Forststrasse kommt, kann sie auch nicht
erkennen. Sie sind mitten in einem Wald. Mehr kann sie nicht sehen.
Alle drei stehen für ein paar Momente etwas unschlüssig herum. Der
zweite Mann – Sandra nennt ihn für sich den Hilfsbanditen – kramt im
Auto nach seiner Pistole und steckt sie sich demonstrativ in den
Hosenbund; so, wie man es in schlechten Gangsterfilmen sieht. Dann
schubsen sie Sandra in den Wald hinein. Sie soll vorneweg gehen, die
beiden anderen folgen ihr dicht auf den Fersen. Wo soll das hinführen?
Was haben die vor? Vor Sandras Augen tauchen verschiedene
Szenarien auf, die alle nicht dazu geeignet sind, sie zu beruhigen. Im
besten Fall wird sie in irgendeine kleine Hütte hier mitten im Wald
gesperrt und dort weiter festgehalten. Vielleicht fällt einer der beiden aber
auch gleich über sie her und reißt ihr die Kleider vom Leib – Sandra wird
schlecht. Oder wollen die sie vielleicht laufen lassen? Hat Fred ihre
Forderungen schon erfüllt? Gerade bemerkt sie, dass die Schritte hinter
ihr verstummt sind. Haben die Entführer sich schon aus dem Staub
gemacht und sie hier einfach stehen lassen? Aber sie hat sie doch beide
gesehen. Sie könnte sie identifizieren. Haben sie davor keine Angst?
Sandra will glauben, dass sie frei ist. Ohne sich umzudrehen, rennt sie
los. Aber sofort ruft der Anführer »STOP!«. Die Stimme ist nicht weit
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hinter ihr. Sie dreht sich um und sieht in den Lauf der Pistole, die der
Zweite auf sie gerichtet hat.
***
Die vier in Franz' Wohnzimmer diskutieren, was sie machen könnten.
Fred ist fix und fertig. Er hält es nicht aus, untätig herumzusitzen und
darauf zu warten, dass sich die Entführer wieder melden. Er will
irgendwas machen. Andererseits haben sie ja kaum Möglichkeiten. Alles,
was sie wissen, ist sehr vage. Sie können nicht irgendwo hinfahren und
Sandra befreien, so wie Fred es sich am liebsten ausmalen würde.
Solange sich weder die Entführer noch Herrn Hafeles Toll Collect Kontakt
melden, können sie nichts Sinnvolles tun. Und auch wenn der Cayenne
von einer der Autobahnbrücken entdeckt wird, hilft ihnen das nur sehr
begrenzt weiter. Ab dem Zeitpunkt dauert es je nach Messpunkt eine
ungefähr bekannte Zeit – meist nur wenige Minuten – bis das Fahrzeug
die nächste Ausfahrt erreicht. Ab dann vergrößert sich das Gebiet, in dem
sich das Auto befinden könnte, mit jeder Minute rasend schnell.
Die Vorstellungen dieser zufällig zusammengewürfelten Gemeinschaft
gehen durchaus in verschiedene Richtungen. Fred hält es einerseits
kaum mehr aus zu warten. Er macht sich Vorwürfe, dass er Sandra in
diese
Lage
gebracht
hat.
Hätte
er
doch
nur
früher
auf
die
Kontaktversuche reagiert und zumindest mit ihr darüber gesprochen,
dann wäre sie gewarnt gewesen. Am besten hätte er gleich die Polizei
eingeschaltet, aber mit welcher Begründung hätte er das tun sollen? Nun
ist Sandra also verschwunden. Er weiß nicht, wo sie ist, aber er ist sich
sicher, dass sie froh wäre, wenn er ihr helfen würde. Andererseits oder
gerade wegen seiner Sorge um Sandra ist er dafür, die Forderungen der
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Entführer auf alle Fälle zu erfüllen. Alles, was das Risiko für seine
Freundin erhöhen könnte, kommt für ihn nicht in Frage. Immerhin hatte er
sich von den anderen überreden lassen, die Nummer noch einmal
anzurufen, unter der er die Banditen ganz am Anfang kontaktieren sollte.
Er war sehr nervös gewesen, weil er auch gar nicht genau wusste, was er
sagen sollte, wenn sich da jemand meldete. Als die Ansage ertönte, dass
die gewählte Rufnummer derzeit nicht vergeben sei, war die ganze
Aufregung dahin. Die Entführer waren nicht so dumm, ein Handy mit
einer bekannten Nummer zu benutzen, das sicher leicht zu orten
gewesen wäre. Diese Erfahrung hatte Fred nur in der Einschätzung
bestärkt, dass mit diesen Typen nicht zu spaßen sei und dass man
deshalb am besten strikt alle Forderungen erfüllen solle.
Franz ist von Natur aus nicht der Abenteurertyp. Nein, das stimmt
eigentlich nicht. Sein Beruf verlangt natürlich eine gewisse Abenteuerlust
und die bringt er auch mit. Er ist nicht besonders risikofreudig. Da geht es
ihm wie Fred. Für ihn ist klar, dass alle Aktionen, die über die
Anordnungen der Russen hinausgehen, eher als riskant einzustufen sind.
Den Wissensvorsprung der Verbrecher etwas reduzieren, herausfinden,
wo sie sich mit Sandra aufhalten, ok. Aber auf quasi eigene Faust
losziehen, das kommt für Franz nicht in Frage. Zu der Risikoaversion
kommt bei Franz dann noch etwas Lethargie, die sich eigentlich nicht mit
der Abenteuerlust verträgt, die aber hilfreich ist, wenn er auf der
Erlkönigjagd stundenlang im Auto sitzt und wartet.
Bei Herrn Hafele sieht die Sache dagegen ganz anders aus. Er hat nicht
mit der Angst um Angehörige zu kämpfen wie Fred. Er sieht die Dinge
aus seiner professionellen Sicht. In seinem Beruf musste er viele Fälle
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lösen, ohne die Polizei zu Hilfe nehmen zu können. Viele Firmen
versuchen zunächst mal die Polizei, und damit bis zu einem gewissen
Grad auch die Öffentlichkeit aus ihren inneren Angelegenheiten
rauszuhalten. Zu groß ist sonst die Gefahr, dass Firmengeheimnisse an
die Medien gelangen oder die Firma mit Negativschlagzeilen von der
Presse durch den Fleischwolf gedreht wird. Er ist also dafür, möglichst
schnell auf eigene Faust weiterzuermitteln und am besten gleich noch
Sandra zu befreien. Es könnte sein, dass er auch eine gewisse Not hat,
zu beweisen, was er draufhat. Als er noch berufstätig war, hat er oft
genug seine Bestätigungsration bekommen. Jetzt fehlt ihm dieses
regelmäßige, positive Feedback, ohne dass ihm das freilich bewusst
wäre.
Julia fällt aus dem Rahmen. Während die anderen ihre unterschiedlichen
Standpunkte diskutieren – hauptsächlich Fred und Franz gegen Herrn
Hafele – hält sie sich zurück. Als ob sie keine eigene Meinung hätte, wie
denn am besten weiter zu verfahren sei, oder wenigstens, ob man warten
solle oder aktiv werden. Sie folgt der Diskussion aufmerksam, ohne sich
selbst zu äußern. Insgesamt wirkt sie damit auf die Gruppe eher
bremsend. Den anderen fällt dies allerdings nicht auf, weil sie mit sich
selbst beschäftigt sind.
***
Sandra ist für einen Moment total versteinert. Bis ihr der Entführer
bedeutet, sich umzudrehen. Dann spürt sie den kalten Lauf der Pistole
am Hinterkopf. Ihr wird klar, dass die beiden mit der Situation überfordert
sind und sie sie jetzt einfach nur noch loswerden wollen. Und das
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bedeutet, dass sie sie jetzt erschießen werden. Sie wartet darauf, dass
der Film zu laufen beginnt. Es heißt doch immer, dass man in den letzten
Sekunden vor dem Tod noch das Leben im Zeitraffer an sich
vorbeiziehen sieht. Sie wundert sich über die komische Filmmusik. Die
hat sie schon mal gehört, als sich Fred einen seiner geliebten Star Trek
Filme angesehen hat. Warum zum Teufel soll ihr Lebensfilm mit dem Star
Trek Soundtrack unterlegt sein?
Erst als sie sich dieser Frage bewusst wird, bemerkt sie, dass der Typ die
Pistole wieder weggenommen hat und stattdessen jetzt nach seinem
Handy kramt, das die Melodie aus dem Star Trek Film düdelt. Wenn ihr
nicht so zum Heulen zu Mute wäre, müsste sie jetzt lachen.
Endlich hat der Anführer sein Handy gefunden. Die Musik verstummt und
er spricht kurz in das Telefon, um dann umso länger zu hören, was ihm
das Gegenüber zu sagen hat. Es hat den Anschein, als hätte das
Gegenüber dem Entführer in verschiedener Hinsicht viel zu sagen.
Erstens kommt er für längere Zeit kaum zu Wort und zweitens entnimmt
Sandra seinen Gesten und seinem Gesichtsausdruck eine gewisse
aufmerksame Unterwürfigkeit. Entweder spricht am anderen Ende der
Leitung seine Frau oder sein Boss. Letzteres hält Sandra für
wahrscheinlicher, denn sonst wäre die Unterwürfigkeit vielleicht nicht so
aufmerksam. Vielleicht hat jemand im Hintergrund für die beiden
Ausführenden gedacht und teilt ihnen jetzt den Plan für das weitere
Vorgehen mit. Das hofft Sandra, denn dass die beiden nicht in der Lage
sind, selber einen Plan zu machen, und dass dies für sie gefährlich
werden könnte, hat sie ja gerade eindrucksvoll erlebt.
Es ist klar, dass Sandra das oben Geschriebene zwar alles weiß, dass
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sie die Gedanken aber nicht in diesen Worten denkt. Sie ist gerade knapp
mit dem Leben davongekommen. Sie ist fertig. Sie denkt im Moment
eigentlich eher überhaupt nicht mehr.
Am Ende des Telefonats schafft es der Anführer der beiden Entführer
gerade noch, ein paar Worte zu sagen, die wohl signalisieren sollen, dass
er verstanden habe, wie es jetzt weitergehen solle. Noch während er
spricht, nimmt er das Handy vom Ohr und sieht es verdutzt an.
Anscheinend wurde am anderen Ende der Leitung einfach aufgelegt.
Tatsächlich bricht direkt nach dem Gespräch geschäftige Betriebsamkeit
bei den beiden aus. Ein paar kurze Kommandos, dann wird Sandra am
Arm gepackt und wieder zurück Richtung Auto geführt. Während des
kurzen Weges erklärt der Anführer seinem Kompagnon den Plan. Er
braucht dafür nicht halb so lange wie vorhin am Telefon. Welche
Informationen er dabei seinem Partner bewusst und welche unbewusst
vorenthalten hat, bleibt sein Geheimnis.
Sandra wird wieder in den Geländewagen verfrachtet und wieder geht die
Fahrt los. Auch diesmal sind ihre Augen verbunden, aber sie macht sich
nicht mehr die Mühe, sich irgendwie zu orientieren oder den Weg zu
verfolgen. Eine gewisse Resignation hat sich bei ihr bereits eingestellt.
Nach dem Erlebten ist das aber ja auch kein Wunder. Sandra würde sich
das jedoch selber nicht eingestehen. Wenn sie die Resignation bemerken
würde, würde sie dagegen ankämpfen. Sie war bisher grundsätzlich
immer der Meinung, dass man nie aufgeben dürfe.
Trotz allem fällt Sandra auf, dass die Fahrt diesmal anders ist. Der Stil ist
irgendwie entschlossener. Es fährt schon der gleiche Typ, der bisher
immer am Steuer saß, aber er fährt diesmal anders. Es ist nicht mehr
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dieses ziellose Gekurve, immer wieder zögernd – soll man abbiegen oder
nicht. Diesmal kennt der Fahrer den Weg und absolviert die Strecke
zügig. Außerdem unterhalten sich die beiden Gangster angeregt in ihrer
Muttersprache.
Die
erhaltenen
Instruktionen
müssen
wohl
erst
gemeinsam analysiert werden. Wahrscheinlich waren die Anweisungen
recht grob und die beiden müssen jetzt die Details planen.
Nach ein paar Minuten wird angehalten. Einer steigt aus, der andere
Mann weist Sandra scharf an, sich ruhig zu verhalten. Nach kurzer Zeit
wird der Kofferraum geöffnet, es hört sich so an, als würden Tüten
eingeladen. Dann geht es auch schon wieder weiter.
Sandra ist durch das anscheinend jetzt planmäßigere Vorgehen ihrer
Entführer etwas beruhigter. Sie hat ja gerade erlebt, dass die völlige
Orientierungslosigkeit der Gangster für sie buchstäblich lebensgefährlich
war. Als ihr die Augenbinde abgenommen wird und sie die Hütte
wiedererkennt, in der sie schon mal war, ist sie fast erleichtert. Schließlich
ist sie hier schon mal heil herausgekommen. Hier gab es was zu essen
und man hat ihr nichts zuleide getan. Sie hofft sehr, dass das diesmal
auch so sein wird.
Die Gangster tragen die Tüten in die Hütte, dann soll auch Sandra
aussteigen und hineingehen. Alles ist genauso, wie sie es verlassen
hatten. Sie soll sich auf einen Stuhl am Tisch setzten, so dass sie dem
Raum den Rücken zukehrt. Der Anführer legt eine Tüte Semmeln und
eine Leberwurst vor sie auf den Tisch und gibt ihr ein Plastikmesser –
»Iss und schau aus dem Fenster. Nicht umdrehen.« Sie planen wirklich
besser. An ein ungefährliches Plastikmesser hätten sie vor ein paar
Stunden noch nicht gedacht.
Die beiden stopfen sich je eine Semmel, mehr oder weniger in einem
Stück, in den Mund. Beinah müssen sie lachen, weil sie kaum mehr
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kauen können. Aber so entspannt ist die Lage dann doch wieder nicht.
Sie machen sich an die Arbeit. Sandra kann in den Spiegelungen an der
Fensterscheibe sehen, dass die beiden anscheinend verschiedene Dinge
in eine schwarze Sporttasche packen. Was sie genau hineinstopfen, kann
sie nicht sehen. Sie isst und trinkt aus einer Flasche Mineralwasser – die
Marke gibt es nur bei Aldi.
Dann wird es doch kurzfristig wieder ungemütlich. Das metallische
Klacken von Waffen, bei denen Magazine herausgenommen und wieder
eingesteckt werden, verdeutlicht noch einmal den Ernst der Lage.
Kurz darauf sitzen die beiden auch am Tisch und besprechen
anscheinend das weitere Vorgehen. Eine letzte kurze Ruhepause. Dann
greift der Chef zum Handy.
***
Es klingelt an der Haustür. »Wahrscheinlich wieder diese frechen
Nachbarskinder!«, denkt Jana Ziegler. Doch sie täuscht sich. Als sie die
Tür öffnet, steht der Postbote vor ihr. Ein kurzer Gruß, schnell eine
Unterschrift für ein Päckchen und schon ist er wieder weg. Jana Ziegler
hätte heute auch keine Zeit für ein Schwätzchen gehabt. Sie muss in
einer Stunde bei der Logopädin sein und vorher noch einkaufen. Mit zwei
kleinen Kindern keine Kleinigkeit. Sie steckt zuerst die kleine Ano in ihren
Anorak. Ano ist ein Jahr alt und heißt eigentlich Anuschka, aber ihr
großer Bruder, Moritz, konnte das nicht aussprechen und hat sie von
Anfang an Ano genannt. Also, die Kinder werden in ihre Klamotten
gepackt. Vorher wird noch Proviant in Form von Apfelschnitzen und
Wasserflaschen im Wickelrucksack verstaut. Dann werden Apfelschnitze
und Kinder ins Auto geladen und angegurtet – die Kinder.
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***
Das Handy klingelt. Herr Hafele hebt ab, bevor es ein zweites Mal läutet.
Der Klingelton passt eigentlich nicht zu dem insgesamt seriösen
Eindruck, den er hinterlässt. Das E-Gittarrenriff von Smoke on the Water
macht bei ihm einen eher infantilen Eindruck.
Aber darum kümmert sich im Moment natürlich mal wieder niemand. Alle
starren ihn an, während er knapp seinen Freund Paul begrüßt. Dem war
es wohl doch zu riskant, seine Indiskretion mit einer SMS zu
dokumentieren. Das Gespräch dauert keine 30 Sekunden. Dann
verkündet Herr Hafele, dass der schwarze Cayenne mit dem russischen
Kennzeichen von einer Toll Collect-Brücke an der A81 in der Nähe der
Ausfahrt Ilsfeld registriert wurde. Fahrtrichtung Süden. Noch während er
das sagt, steht er auf und will das Zimmer verlassen. Franz stoppt ihn
und fragt, wo er denn hin wolle. Na, auf die Autobahn natürlich. Jetzt
habe man ja eine grobe Richtung. Er werde losfahren.
Die Diskussion, ob das angebracht sei, ob man nicht noch warten müsse,
bis man mehr wisse, diese Diskussion findet quasi nicht statt. Herr Hafele
will jetzt endlich was tun. Er sagt immerhin noch, dass er auf die A81
fahren werde. Wenn er Glück habe, werde er ja den Porsche sehen;
ansonsten biege er auf einen Rastplatz oder Parkplatz kurz hinter
Ludwigsburg ab und postiere sich dort. Und schon ist er weg. Man
vereinbart noch, sich über neue Entwicklungen per Handy auf dem
Laufenden zu halten.
Fred, Franz und Julia sehen sich etwas ratlos an. Sie wüssten natürlich
zu gerne, wer in dem Porsche saß – eine, zwei, drei Personen? Aber es
ist ihnen klar, dass ihnen diese Frage nicht beantwortet werden wird.
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Kostenlose Version – Wintertest – © Markus Weinberger, 2012
Warum ist Herr Hafele gleich weg? Warum wollte er unbedingt alleine
gehen? Er hat jedenfalls nicht gefragt, ob ihn jemand begleiten wolle. Im
Gegenteil, sein Verhalten hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er
alleine loswollte.
Es wird nicht lange über das Thema diskutiert. Man hat andere Sorgen,
als sich über die Egotrips eines Mitglieds dieser Zufallstruppe –
Schicksalsgemeinschaft würde Fred noch als zu geschwollen empfinden
– ernsthafte Gedanken zu machen.
Die DVD mit den geforderten Daten liegt bereit. Franz hat eine Landkarte
von Baden-Württemberg auf dem Esstisch ausgebreitet. Mehr ist im
Moment wieder nicht zu tun. Sie müssen warten. Franz versucht zu
googeln, ob es was zu Entführungen oder Erpressung in Zusammenhang
mit einem schwarzen Cayenne gibt. Aber da ist nichts zu finden. Fred legt
seinen Kopf auf die Arme, die er auf dem Tisch verschränkt hat, und
versucht etwas zu dösen. Er ist eigentlich völlig übermüdet, aber zur
Ruhe kann er natürlich doch nicht kommen. Julia verschwindet wortlos
aus der Wohnung. Fred schreckt wieder auf, weil ihm eingefallen ist, dass
der Akku seines Handys schon lange nicht mehr geladen wurde. Er kramt
nach dem Netzteil und schließt es an. Dann nimmt er wieder seine
Dösposition am Tisch ein. Julia kommt wieder herein. Sie hatte die Tür
nur angelehnt gelassen. So vergeht die Zeit – tröpfchenweise.
Als sein Handy klingelt, schreckt Fred hoch. Er war wohl doch kurz
eingeschlafen. Franz und Julia kommen aus der Küche. Als er abhebt,
meldet sich der Mann mit dem harten Akzent und sagt, Fred solle gut
zuhören. Dann ist plötzlich Sandra dran. »Bitte tu, was sie sagen!«, dann
ist sie auch schon wieder weg. Freds Puls beschleunigt sich immer
weiter. Trotzdem schafft er es jetzt endlich, den Lautsprecher des Handys
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einzuschalten. Die anderen können jetzt wieder mithören.
Der Russe verliert nicht viele Worte: »Du hast, was wir wollen? Wir haben
Frau. 12 Uhr Aral Tankstelle neben A81, Ausfahrt Untergruppenbach.
Allein!« Dann wird aufgelegt.
Franz und Julia sehen Fred an. Er sagt, dass Sandra mit ihm gesprochen
habe. Die beiden sind erleichtert. Die Autobahnausfahrt ist auf der Karte
schnell gefunden. Die Aral-Tankstelle ist nur etwas mehr als 500 Meter
davon entfernt. Es ist 11:30 Uhr. Sie haben nicht mehr viel Zeit.
***
Jana Ziegler hat die Einkäufe bereits hinter sich. Die Kinder haben
ordentlich
Rabatz
gemacht.
Begonnen
hat
es
schon
auf
dem
Supermarktparkplatz. Moritz ist brav in den Einkaufswagen geklettert. Die
kleine Ano sollte den Logenplatz im ausklappbaren Kindersitz desselben
bekommen. Doch den wollte sie nicht. Mit lautem Geschrei hat sie ihre
Ablehnung kundgetan. Außerdem hat sie sich mit unglaublicher
Körperspannung steif wie ein Brett gemacht, was alle Versuche, sie in
den Sitz zu setzen, scheitern ließ.
Diese
Art
der
kleinkindlichen
Körperbeherrschung
ist
wirklich
phänomenal. Im einen Moment sind sie wie kleine Steinmännchen, völlig
unbeweglich und ungefähr genauso schwer. Im nächsten Augenblick
werden sie zu mehlsackähnlichen Weichtieren, anscheinend völlig ohne
Knochen und immer noch schwer. Je nach Bedarf.
In dem Einkaufstempel haben die lieben Kleinen Mama dann
abwechselnd den Einkauf mit Geschrei, Sachen aus dem Regal Fischen,
Sachen aus dem Einkaufswagen Werfen und ähnlichem Schabernack
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versüßt.
Jetzt ist Jana froh, die beiden in ihren Sitzen im Auto festgezurrt zu
haben. Der Bewegungsspielraum der lieben Kleinen beschränkt sich
damit im Wesentlichen auf Gefuchtel mit den Armen. Das macht schon
nach kurzer Zeit keinen Spaß mehr. Die Hoffnung ist also begründet,
dass die kurze Fahrt zum Logopäden in Untergruppenbach zu einer
Abkühlung der kleinen Gemüter führen wird. Und tatsächlich, als sie die
Kleinen kurz darauf aus dem Auto lädt, sind sie lammfromm. Es scheint,
als würde die 30-minütige Sitzung gut laufen.
***
Es geht los. Jeder schnappt sich die Tasche oder den Rucksack, der
schon eine Weile bereitliegt. Alle drei laufen zusammen aus der
Wohnung. Die Tür wird schnell ins Schloss gezogen und der
Treppenabsatz zur Haustür ist in einem Satz genommen.
Die Autos haben sie direkt vor dem Haus hintereinander geparkt, um
ohne Rangieren möglichst schnell losfahren zu können. Franz und Julia
nehmen den alten Volvo. Fred startet den Bentley, lässt den Wählhebel
der Automatik in D einrasten und gibt sofort Gas. Der ganze Ablauf ist so
geübt, dass Franz gerade noch die Tür zuzieht, als Fred schon anfährt.
Die Lage von Franz' Wohnung ist heute sehr günstig. Sie haben nur
einen knappen Kilometer bis zur B27, die sie direkt und schnell zur
Autobahn bringt. In der Stadt müssen sie vorsichtig fahren. Ein Unfall
würde in jedem Fall bedeuten, dass sie es bis 12 Uhr nicht schaffen
würden. Rote Ampeln werden beachtet; so haben sie es immer wieder
besprochen.
Sie wollen keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen,
insbesondere nicht die der Polizei.
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Nach wenigen hundert Metern stehen sie an der ersten Kreuzung. Fred
nutzt die Gelegenheit, die Videomesstechnik zu starten. Wenn der
Rechner erstmal hochgefahren ist, stört er ja nicht; im Gegenteil. Fred hat
sich überlegt, dass die Aufzeichnungsfunktion sehr hilfreich sein kann.
Ein Tastendruck und die Bilder der kleinen Kamera, die sehr unauffällig
hinter dem Rückspiegel eingebaut ist, werden aufgezeichnet, bis die
Festplatte voll ist. Die Zeit an der ersten Ampel reicht gerade, um nach
dem Netzschalter zu fingern und den Rechner zu starten. An der dritten
Krezuung gibt Fred das Passwort ein und auf der Autobahnauffahrt, als er
hinter einem LKW feststeckt, klickt er mit dem kleinen Trackball an der
Tastatur das Messprogramm an.
Julia hat die Pausen an den Ampeln und ihre Beifahrerrolle genutzt, um
Herrn Hafele anzurufen. Er ist froh, dass Fred sogar mit Sandra sprechen
konnte. Das sei ein sehr gutes Zeichen. Herr Hafele hat wirklich eine
etwas bessere Position. Er steht mit seinem Auto auf dem Park and Ride
Parkplatz an der Ausfahrt Pleidelsheim. Er hat also gut zehn Minuten
Vorsprung. Die Ansage, die dann kommt, wird Julia Tage später in
Gedanken immer wieder durch den Kopf gehen. Herr Hafele sagt, sie
sollten nicht auf ihn warten oder nach ihm Ausschau halten. Er werde
aber da sein. Julia weiß nicht, dass das die letzten Worte sind, die sie von
ihm hören wird.
Auf der Autobahn geben sowohl Franz als auch Fred richtig Gas, auch
wenn das einen ganz unterschiedlichen Effekt hat. Während Franz'
Uraltvolvo eine Beschleunigung wie ein Flusskreuzfahrtschiff zu Stande
bringt, brüllt der Bentley-12-Zylinder los, wie man es dem Antrieb eines
so gediegenen Fahrzeuges gar nicht zutrauen würde. Die dann
einsetzende Beschleunigung kommt vielleicht eher an die einer Wally
Power heran – eine Yacht, die von einer Jet-Turbine angetrieben wird.
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Der Verbrennungsmotor wird in diesem Hybridmodell von Elektromotoren
unterstützt, die für zusätzliches Drehmoment sorgen. Jedenfalls ist Fred
sehr schnell sehr schnell. Trotzdem kommt er kaum zügiger voran, als
Franz. Gleich nach der Ausfahrt Untergruppenbach muss er an einer
Ampel warten und Franz steht nur vier Autos hinter ihm, als sie auf grün
schaltet. Noch einmal kurz Gas gegeben und sie sind an der Tankstelle
angekommen. Der schwarze Cayenne ist nicht zu sehen. Es ist fünf vor
zwölf – buchstäblich.
***
Fred stellt seinen Wagen an der Versorgungsstation ab, dort, wo es Luft
und Wasser für das Auto gibt. Er parkt rückwärts ein, so dass die Kamera
hinter der Windschutzscheibe praktisch den gesamten Vorplatz der
Tankstelle sehen kann. Dann steigt er aus dem Auto und geht zum
Reifenfüller
–
so
heißen
tatsächlich
die
Geräte,
die
auf
der
Druckluftleitung hängen und dort meist seltsam vor sich hin fiepsen. Er
nimmt das Gerät von der Leitung und macht sich am rechten Hinterrad
des Autos zu schaffen. Er schraubt die Ventilkappe ab, dann steht er auf
und klappt den Tankdeckel auf. Aber wo bei vielen Fahrzeugen eine
Tabelle mit dem vorgeschriebenen Luftdruck für Vorder- und Hinterachse
klebt, da ist bei diesem Prototyp nichts zu finden. Auch in der Fahrertür ist
kein Aufkleber vorhanden. Wahrscheinlich sind sich die Kollegen bei
Bentley noch nicht einig, welche Werte da draufstehen sollen. Insgesamt
macht das aber nichts, denn Fred hat eigentlich ganz andere Probleme
als den Luftdruck. Er hat sich überlegt, dass er mit dieser Tätigkeit
unauffällig einige Minuten verbringen kann. Wenn er an die Zapfsäule
gefahren wäre, müsste er auch tanken, um nicht aufzufallen. Dann aber
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würde sein Auto buchstäblich an der selbigen festhängen. Er könnte im
Fall der Fälle nicht einfach schnell losfahren. Und das Auto irgendwo
abstellen geht sowieso nicht. Entweder müsste er dann sitzen bleiben,
und das wäre auch wieder irgendwie auffällig, oder er müsste in den
Tankstellenshop gehen, wo er jedoch viel schlechter mitbekommen
würde, was draußen vor sich geht. Also prüft Fred äußerlich in aller Ruhe
den Luftdruck; innerlich sind seine Nerven zum Zerreißen gespannt.
Plötzlich fällt ihm ein, dass die Kamera zwar läuft, aber nicht aufzeichnet.
Er öffnet die Fahrertür, beugt sich zur Tastatur der Messtechnik und
drückt »R« für Record. So, jetzt läuft die Aufzeichnung für mindestens
eine Stunde. Das wird reichen – hofft er.
Franz und Julia haben sich eine andere Strategie überlegt. Sie haben
ihren Volvo einfach neben dem Tankstellengebäude abgestellt und sind
in den Laden gegangen. Ihre Tarnung besteht darin, anscheinend ein
paar kleine Besorgungen auf der Durchreise zu machen. Zuerst postieren
sie sich vor dem Weinregal und tun so, als ob sie eine gute Flasche als
Geschenk für einen Freund suchen. Um das realistisch zu spielen,
müssen sie sich aber halt die meiste Zeit dem Regal zuwenden, was
bedeutet, dass sie kaum mitbekommen, was an der Tankstelle passiert.
Deshalb entscheiden sie sich relativ bald für eine Flasche Stettener
Heuchelberg Kerner, Kabinett. Den hat Franz schon oft gekauft und er
schmeckt ihm recht gut. Auch wenn das im Moment, wie so oft, keine
Rolle spielt. Sie schlendern scheinbar seelenruhig zum Zeitschriftenregal.
Franz beginnt, die Weinflasche unter dem Arm, in einer »Auto Motor und
Sport« zu blättern, während sich Julia eine »Freundin« schnappt. Diese
neue Position ist wesentlich besser. Die Zeitschriften und Magazine
stehen in einem nur halbhohen Regal, direkt an der Glasfront des
Gebäudes, die den Zapfsäulen zugewandt ist. So können sie gut
Sie wollen doch lieber ein Buch zum Anfassen, oder ein eBook?
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übersehen, was sich draußen tut, ohne sofort aufzufallen.
Aber, wie auch bei Fred, funktioniert diese Tarnung nicht unbegrenzt
lange, ohne dass es komisch wirkt. Eine Viertelstunde kann man vielleicht
in einem Tankstellenshop oder am Reifenfüller verbringen. Wenn also in
den nächsten Minuten nichts geschieht, müssen sich die drei etwas
Neues einfallen lassen.
Es ist 11:59 Uhr, als Julias Handy klingelt. Franz schaut sie erschrocken
an, obwohl ein Telefonat die Haltbarkeit ihrer Zeitschriften-BlätterTarnung natürlich erhöht. Aber wer ruft denn ausgerechnet jetzt an?
Franz ist nervös und bildet sich ein, dass sie zusammenzuckt. Dann dreht
sie sich weg und nimmt den Anruf an. Sie geht wieder zurück zum
Weinregal auf der anderen Seite des Ladens, um dort zu sprechen. Ihr
Gesicht ist angespannt, ärgerlich oder freudig. Franz weiß es nicht
genau. Er ist hin- und hergerissen; einerseits will er Julia im Auge
behalten, weil er das Gefühl hat, dass das kein normaler Anruf ist – was
auch immer normal bedeuten würde –, andererseits muss er beobachten,
was vor dem Fenster passiert. Er kann Fred nicht im Stich lassen. Julias
Gesten signalisieren seiner Meinung nach Abwehr. Sie spricht nichts, hört
dem Anrufer nur zu. Erst nach ungefähr einer Minute sagt sie kurz etwas
– könnte »ja« oder »ok« gewesen sein. Dann ist das Gespräch beendet.
Julia stellt sich neben Franz und sieht schweigend aus dem Fenster.
Franz traut sich nicht nach dem Grund des Anrufs zu fragen. Es
beschleicht ihn ein ganz ungutes Gefühl.
***
Herr Hafele hat alles beobachtet. Mit Fred ist er recht zufrieden. Er hat
eine gute Position am Rand des Geländes und er scheint wirklich mit dem
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Wagen beschäftigt zu sein. Franz und Julia stören aus Herrn Hafeles
Sicht eher. Sie selbst stehen mitten im Geschehen. Egal, woher die
Entführer kommen, sie werden Franz und Julia quasi zwangsläufig über
den Weg laufen. Das ist ungünstig. Mit dieser Einschätzung soll er bald
sehr recht behalten. Außerdem stört ihn die Stelle, an der der Volvo steht,
aber dafür können Franz und Julia nichts. Sie haben Herrn Hafele noch
nicht gesehen, seit sie an der Tankstelle angekommen sind. Natürlich
haben sie sich so unauffällig wie möglich nach dem silbernen SLK
umgesehen, aber sie konnten ihn nicht entdecken. Trotzdem haben sie
es geschafft, den Volvo so abzustellen, dass Herr Hafele quasi
eingeparkt ist.
Jetzt wäre es gut, eine Funkverbindung zu haben, aber das wollte vor
allem Fred nicht. Er hatte Angst, dass die Entführer dies bemerken
könnten und dann glauben würden, die Polizei wäre im Spiel. Also muss
sich Herr Hafele mit der Situation abfinden. Er beobachtet weiter das
Geschehen, ohne selbst gesehen zu werden.
Er überlegt, ob er noch kurz seine Frau anrufen sollte, aber das würde ihn
nur ablenken; sie würde es aufregen. Es muss sich ja auch gleich etwas
tun. Er muss sich konzentrieren.
***
Jana Ziegler hat sich im gleichen Maß beruhigt, wie sich ihre lieben
Kleinen nach der kleinen Einkaufs-Horror-Show wieder beruhigt haben.
Schon fünf Minuten Fahrt zum Logopäden haben Wunder gewirkt. Moritz
hat die ganze Sitzung gut mitgemacht und die kleine Ano hat brav mit
Mama ein Bilderbuch angeschaut. Das hat zwar erstmal nur circa drei
Minuten gehalten, aber es gab ja noch ein zweites und ein drittes Buch.
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Dieses dritte war dann das Entenbuch, das Anos Aufmerksamkeit bis
zum Ende von Moritz' Therapiestunde fesseln konnte. Moritz macht
langsam Fortschritte. Seine Aussprache wird besser und er kann die
Übungen zu deren Verbesserung inzwischen ganz gut. Nach jeder
Stunde bekommt er – und damit natürlich auch seine Mutter – neue
Aufgaben und Übungen, in denen es oft um Siebe, Säcke, Segelschiffe
und Ähnliches geht. Auch diesmal gibt es wieder neue Aufgaben,
dennoch ist die Stimmung gut und entspannt, als Jana die Kinder ins
Auto setzt. Moritz klettert schon selbst in seinen Kindersitz; Ano möchte
das auch und beanstandet lautstark, wenn sie dabei zu viel und zu
offensichtliche Unterstützung bekommt. Nur wenige Minuten, nachdem
beide
in
ihren
Sitzen
angeschnallt
sind,
biegt
Jana
auf
den
Autobahnzubringer ein. Jetzt muss sie nur noch kurz tanken und dann
geht es nach Hause – Mittagessen und die Kleine zum Mittagsschlaf
hinlegen. Diese halbe Stunde, in der Ano schläft und Moritz meistens
ruhig für sich spielt, ist die einzige ernst zu nehmende Pause in ihrem
Tagesablauf. Wobei ruhig manchmal auch relativ ist. Das Geräusch, das
beim Graben in einer Kiste voller Legosteine entsteht, dürfte den meisten
Eltern vertraut sein. Es durchdringt durchaus Wände und Türen, aber mit
dem Geschrei streitender Geschwister ist es nicht zu vergleichen.
Jana fährt nur ein paar hundert Meter auf der Landstraße bis zur
Tankstelle. Eigentlich interessiert sie sich nicht für Autos, aber die Karre,
die sie jetzt vor sich hat, ist dann doch auffällig – so ein
Pseudostadtgeländewagen und dann auch noch mit Spoilern von der
übelsten Sorte. Und der biegt jetzt auch noch bei der gleichen Tankstelle
ein. Es ist eine größere Anlage mit sechs Zapfsäulen in zwei Reihen.
Bisher tankt noch keiner. Sie werden sich also nicht in die Quere
kommen. Wartezeiten könnte Jana jetzt nicht brauchen, sonst schläft Ano
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am Ende noch ein – vor dem Mittagessen. Dann gerät der Rest des
Tages ganz aus den Fugen. Sie hält neben Säule drei und sagt ihren
Kindern, dass sie nur kurz tanken werde. Sie sollten so lange weiter die
Pumuckl-CD hören und brav sein. Dann steigt sie aus.
***
Wer den schwarzen Porsche zuerst gesehen hat, lässt sich nicht mehr
sagen und es spielt auch keine Rolle mehr. Das Auto hat gerade neben
Zapfsäule sechs gehalten. Man kann zwei Männer auf den vorderen
Plätzen erkennen. Sie sitzen scheinbar noch ganz ruhig da, sprechen
miteinander.
Herr Hafele in seinem Versteck ist buchstäblich durch und durch
gespannt. Er kennt dieses Gefühl von vielen Einsätzen aus seinem
Berufsleben. Wenn sie kurz vor dem Zugriff waren, hatte er es schon oft.
Er fühlt sich wie eine Raubkatze vor dem finalen Sprung auf die Beute.
Franz starrt aus dem Fenster des Shops, er fühlt sich wie im falschen
Film – wie ein Zuschauer im falschen Film. Denn eine richtige Rolle
scheint er im Moment nicht zu haben, oder zumindest hat er seinen Text
und den Einsatz vergessen. Neben ihm steht Julia. Sie macht dagegen
einen freudig erregten Eindruck. Sie strahlt fast und ihre Rolle scheint sie
genau zu kennen.
Fred steht auf und versucht, nicht zu auffällig zu dem Porsche zu glotzen.
Er weiß schließlich nicht, ob die Entführer wissen, dass er weiß, welches
Auto sie fahren. Er dreht sich so, dass er den Porsche seitlich hat, und
sieht nur hin und wieder zu dem Auto hinüber. Die Scheiben sind so
abgedunkelt, dass er nicht erkennen kann, ob jemand auf dem Rücksitz
ist. Die Hand in seiner Hosentasche hat überhaupt nichts mit Lässigkeit
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zu tun, auch wenn es so aussehen mag. Er umklammert sein Handy. Der
Ton ist ausgeschaltet, aber er würde einen Anruf der Entführer über den
Vibrationsalarm bemerken. Bei seiner ganzen bemühten Unauffälligkeit
bedenkt er nicht, dass ihn die Entführer höchstwahrscheinlich eh
erkennen. Und wenn sie kein gutes Personengedächtnis haben, dann
identifiziert ihn sein Auto eindeutig als den Typ, der irgendwas mit
Entwicklungsfahrzeugen zu tun hat. An dieser Tankstelle steht nur ein
noch leicht als Prototyp getarnter Bentley.
Für eine Minute passiert nichts. Es ist fast, als wäre die Zeit eingefroren.
Es ist, als wäre die Hand des Kochs kurz vor der Wange des
Küchenjungen in der Luft eingefroren – bereit zuzuschlagen, sobald der
Zeit erlaubt wird, weiterzulaufen.
***
Dann steigt der Anführer aus dem Auto. Er war der Beifahrer. Er nickt
Fred kurz zu, so unmerklich, dass nicht mal Herr Hafele es bemerkt. Fred
ist klar, dass er gemeint ist. Der Anführer schraubt die Ventilkappe des
rechten Vorderrades ab. Dann geht er langsam zu Fred hinüber. Er
spricht ihn an: »Luft.« Fred glaubt, er habe sich verhört, dann denkt er,
sie hätten sich getäuscht. Die ganze Suche nach dem schwarzen
Porsche sei ein Irrtum gewesen, und es sei reiner Zufall, dass so ein
Porsche mit Spoilern und russischem Kennzeichen jetzt hier an dieser
Tankstelle stehe. Aber dann geht die Ansprache weiter: »Hast du CD?«
Fred nickt und zeigt zu seinem Auto, dessen Türen geschlossen sind.
Jetzt fragt er zurück: »Wo ist Sandra?« Der Russe dreht sich um und
schaut kurz in Richtung des Porsche. Fred glaubt, Sandras Gesicht
zwischen den Vordersitzen zu erkennen. Der Russe wird plötzlich doch
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noch recht gesprächig: »Ruhig bleiben. CD auf Zapfsäule eins,
unauffällig, dann kommt Frau. Dann hau ab.« Fred ist plötzlich ganz
ruhig. Er hat das im Moment noch völlig unberechtigte Gefühl, dass jetzt
alles gut werden wird.
Er geht um das Auto herum zur Beifahrertür. Der Russe läuft inzwischen
mit dem Reifenfüllgerät zurück zum Porsche. Er stellt den Apparat neben
die Zapfsäule und tut so, als müsse er sich erst mit der Bedienung
vertraut machen. Fred holt die CD, die auf dem Beifahrersitz des Bentley
lag, und geht, wie es der Russe wollte, zur Zapfsäule. Er holt eines der
Papiertücher aus dem Spender, der an der Säule direkt neben der
Zapfanlage angebracht ist, und legt nebenbei die CD ab. Er ist fast stolz
auf seine Coolness. Jetzt ist er nur ungefähr fünf Meter vom Auto der
Gangster entfernt. Als er umkehrt, um zu seinem alten Platz
zurückzukehren, kann er kurz Sandras Gesicht durch die Frontscheibe
hindurch erkennen. Seine fast gelöste Stimmung ist sofort wieder
verflogen, weil Sandra überhaupt keinen gelösten Eindruck macht.
Während er die wenigen Meter geht, dreht sich Fred nicht mehr um. Erst
als er den Wagen erreicht hat, schaut er sich um. Nichts ist passiert. Der
eine Russe nestelt am Scheibenwischer des Porsche herum, der andere
sitzt immer noch im Auto. Auch Sandra ist weiterhin im Auto. Die CD liegt
anscheinend unangetastet auf der Zapfsäule. Von Freds Verbündeten ist
nichts zu sehen.
Erst jetzt kommen Fred einige Fragen in den Sinn, die ihm gar keinen
Spaß machen. Was wäre, wenn jetzt noch irgendwelche anderen Leute
an der Tankstelle auftauchen würden? Das könnte alles in Gefahr
bringen. Sie könnten einfach nur im Weg stehen, die Sicht nehmen oder
noch schlimmer, sie könnten von den Gangstern für Polizisten gehalten
werden und damit Sandras Freilassung gefährden. Ein öffentlicher Ort
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wie eine Tankstelle ist schon ein ziemlich seltsamer Schauplatz für das
Ende einer Entführung. Oder sollte das kein Ende werden? Wieso sollten
diese Typen sich an ihren Teil halten? Das muss doch aus ihrer Sicht das
Risiko deutlich erhöhen. Einfach die Daten abgreifen und abhauen wäre
viel sicherer – aus Sicht skrupelloser Verbrecher. Dann wäre es
allerdings gleich richtig sicher gewesen, die Daten per Internet
irgendwohin transferieren zu lassen und das Entführungsopfer einfach
umzubringen. Oder sie könnten die Daten erst prüfen wollen, bevor sie
Sandra laufen lassen.
***
Die Zapfsäule rappelt, die Pumpe läuft, Jana Ziegler hat ein paar
Sekunden Zeit. Die Kinder im Auto hören immer noch Pumuckl oder sie
streiten sich wegen irgendwas. Jana ist es im Moment egal. Sie ist in
Gedanken versunken und schaut zu dem unglaublich hässlichen Auto
hinüber.
Ein
Mann
steht
an
der
Windschutzscheibe
und
repariert
den
Scheibenwischer. Er schaut kurz hoch und blickt zu Jana herüber. Jetzt
geht die Beifahrertür auf und ein zweiter Mann steigt aus. Sie bemerkt
nicht, dass es hier ein Abstimmungsproblem gab, das den Verlauf der
weiteren Ereignisse dramatisch beeinflusst. Er öffnet die hintere rechte
Tür des Wagens und holt eine junge Frau aus dem Fond. Er zerrt sie fast
vom Sitz. Jana wundert sich über die Grobheit des Mannes. Das
Mädchen sieht nicht gut aus, das heißt eigentlich sieht sie wahrscheinlich
schon gut aus, aber sie scheint total fertig zu sein. Wie nach einer wegen
Kummer schlaflosen Nacht. Die Frisur ist praktisch nicht mehr vorhanden,
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dafür sind die Augenringe wie aufgemalt.
Der Typ gibt ihr einen merklichen Schubs und sofort läuft sie los. Plötzlich
laufen alle los. Das Mädchen trabt, mehr geht nicht mehr, in Richtung des
jungen Mannes, der neben diesem matt-schwarzen Riesenauto stand.
Der wiederum stürzt ihr geradezu entgegen. Dann zerrt er sie zu seinem
Auto. Diese Frau wird heute viel rumgeschubst; aber Jana meint ein
Lächeln auf ihrem Gesicht zu entdecken, als sie auf den Beifahrersitz des
Luxusschlittens fällt.
Gleichzeitig mit dem Mädchen hat sich der Scheibenwischerreparierer in
Bewegung gesetzt – betont langsam und gelassen. Als Jana wieder zu
ihm blickt, ist er nicht mehr weit von der letzten Zapfsäule in der Reihe
entfernt. Ihr ist klar, dass hier irgendeine komische Geschichte vor sich
geht, aber sie hat keine Chance, keine Zeit und eigentlich überhaupt kein
Interesse daran, auch nur annähernd zusammenzupuzzeln, wer zu wem
gehört. Um was es geht, wissen auch die meisten der Beteiligten nur zum
Teil.
Jetzt bemerkt sie einen weiteren Mann, den sie bisher nicht gesehen hat.
Er rennt direkt auf die besagte Zapfsäule zu. Die Schnelligkeit seiner
Bewegung steht in direktem Kontrast zu seinem weißen Haar, das ihn als
einen Herren fortgeschrittenen Alters ausweist; und sie steht in direktem
Kontrast zur fast schon übertriebenen Langsamkeit des anderen Manns.
Der hat den Weißhaarigen noch nicht bemerkt und greift nach
irgendetwas, das anscheinend auf dem Gehäuse der Zapfsäule liegt.
Doch der Ältere kommt ihm zuvor und schnappt sich im Vorbeilaufen ein
kleines rechteckiges Kästchen. Jetzt beschleunigen sich die Dinge
nochmals. Der jüngere Mann reagiert sofort. Er greift kurz unter seine
Jacke, dann kommt ein lauter Knall und der Weißhaarige fällt nach vorne
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auf den Boden. Der junge Mann läuft zu ihm hin, aber nur um das
Kästchen – es sieht aus wie eine CD-Hülle – an sich zu nehmen.
Erst jetzt realisiert Jana Ziegler, dass da gerade geschossen wurde. Aber
sie steht einfach da, unfähig zu handeln, wie versteinert. Der Mann rennt
zu dem Porsche zurück. Sein Kompagnon sitzt schon wieder auf dem
Beifahrersitz. Jetzt kommt noch eine weitere Person auf die Bühne dieses
verwirrenden Dramas. Eine Frau mittleren Alters tritt aus dem
Tankstellenshop und läuft direkt auf den Porsche zu. Der Fahrer ist schon
an der Tür, er schaut kurz zu ihr auf, die Waffe immer noch in der Hand,
aber diesmal schießt er nicht. Während er den Wagen anlässt, springt die
Frau auch hinein. Dann verlässt der Geländewagen mit quietschenden
Reifen die Szene.
***
Wieder herrscht für vielleicht fünf Sekunden Stille, in der nur der Pumuckl
weiterzetert. Die Kinder auf dem Rücksitz haben von den Vorgängen
draußen nicht viel mitbekommen. Sie sitzen angeschnallt mit dem
Rücken zu den übrigen Protagonisten. Diese starren alle den am Boden
liegenden Mann an.
Dann löst sich die plötzliche Starre auf. Es sind vielleicht 30 Sekunden
vergangen, seit der Russe Herrn Hafele in den Rücken geschossen hat.
Fred läuft zu ihm hin. Auch Franz kommt aus dem Shop und rennt zu ihm
hinüber.
Jana
Ziegler
öffnet
den
Kofferraum
und
holt
einen
orangefarbenen Koffer heraus. Sie ist Ärztin und hat immer dieses
erweiterte Erste-Hilfe-Set dabei, um mehr Möglichkeiten zu haben.
Herr Hafele liegt auf dem Bauch. Ein großer Blutfleck ist auf seinem
Hemd zu sehen. Jana übernimmt das Kommando, obwohl sie es natürlich
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noch nie mit einem angeschossenen Patienten zu tun hatte. Der Verletzte
wird umgedreht. Sie versucht seinen Puls zu fühlen, spürt aber nichts. Sie
beginnt sofort mit der Herzmassage und weist Fred an, den Ambu-Beutel
aus dem Koffer zu holen. Fred beginnt mit der Beatmung. Franz kniet
daneben und hält Herrn Hafeles Hand. Jana bittet ihn, sie abzulösen.
Während Franz nun die Herzmassage weiterführt, zieht sie eine Spritze
auf und verabreicht diese dem Patienten.
Als sie die Schutzhülle wieder über die Kanüle steckt, biegt der
Notarztwagen auf das Gelände der Tankstelle. Der Tankwart hat von der
Kasse aus kurz nach dem Schuss den Notruf ausgelöst. Der Notarzt
übernimmt. Jana teilt ihm die wenigen Informationen mit, die sie hat. Fred
und Franz sitzen außer Atem daneben. Die Retter tun sicher, was sie
können. Aber sie können nicht viel tun. Nach ein paar Minuten werden die
Wiederbelebungsmaßnahmen eingestellt. Herr Hafele ist tot.
Wie geht es in so einem Augenblick weiter? Inzwischen ist auch die
Polizei eingetroffen, die der Tankwart ebenfalls verständigt hat. Die
Beamten haben natürlich mitbekommen, dass es einen Toten gibt. Der
Tankwart hat ihnen bereits geschildert, was er gesehen hat. Alle anderen
werden gebeten, sich vorerst nicht zu entfernen.
Fred holt Sandra wieder aus dem Bentley. Von ihm erfährt sie, dass der
Mann tot ist und dass er Fred in den letzten Tagen und Stunden geholfen
hat. Dann nimmt er sie schweigend in den Arm. Es gäbe jetzt viel mehr
zu sagen.
Jana Ziegler setzt sich zu ihren Kindern ins Auto. Als Notarzt und
Krankenwagen ankamen, wurden sie natürlich auch aufmerksam. Vor
allem Moritz will unbedingt aus dem Auto und sehen, was passiert ist.
Dass er das nicht darf, solange die Leiche offen auf dem Platz liegt, ist
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klar; dass das zu Geschrei führt, ist auch klar. Das sind die Momente, in
denen die Diskrepanz zwischen der Welt der Kinder und der manchmal
unbarmherzigen Welt der Erwachsenen für Jana nur schwer erträglich ist,
weil sie der Puffer zwischen diesen Welten sein muss. Sie versucht, die
auch für sie völlig unverständlichen Ereignisse in Kindersprache zu
übersetzen. Was ihr nicht sehr gut gelingt. Eine schier unendliche Kette
von »Warum?«-Fragen entspinnt sich.
Franz steht etwas abseits. Er fühlt sich allein und leer. Ein Mensch ist tot.
Sandra ist wieder wohlbehalten zurück. Aber Julia, mit der er die
Hoffnung verband, seine Rolle als einsamer Wolf abstreifen zu können,
sie ist weg. Offensichtlich freiwillig mit den Entführern davongefahren.
Das ist nicht zu verstehen.
Die Polizisten beginnen die Personalien aufzunehmen und Fragen zu
stellen.
***
Sandra und Fred sitzen am Frühstückstisch. Fred ist froh, dass er eine
anstrengende Woche in der Firma hinter sich hat.
Nach dem Ende der Entführung hatte er damals sofort mit seinem
Gruppenleiter bei der IAA telefoniert und ihm alles erzählt. Der hatte
seinen Chef informiert und so weiter. Die Werksfahndung der IAA und die
Revision wurden eingeschaltet. Zu den Vernehmungen bei der Polizei
kamen für Fred also noch mehrere Interviews mit den Fahndern seines
Arbeitgebers.
Als Ergebnis wurde festgehalten, dass Fred ohne eigenes Verschulden in
die Sache hineingezogen wurde. Er war als Vertreter der Firma
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anscheinend zufällig ins Visier der Verbrecher geraten. Natürlich hatte er
Fehler gemacht, indem er nicht schon viel früher, bei den ersten
Kontakten der Russen, seine Vorgesetzen informiert hatte. Allerdings
hatte er auch kaum konkrete Anhaltspunkte, was überhaupt los war,
bevor sich alles richtig übel zugespitzt hatte. Weiterhin hatte er sich
verbotenerweise Zugriff auf den Code der Verschlüsselungssoftware
verschafft und diesen aus der Firma entfernt und er hatte einen
Versuchsträger quasi geklaut. Der Bentley hatte bei der ganzen Aktion
allerdings auch keinen Schaden genommen. Es ließ sich jedoch nicht
vermeiden, dass er in den Polizeiprotokollen auftauchte, da aus der
Messtechnikkamera ja sehr wertvolle Beweise stammten. Das ganze
Drama an der Tankstelle war auf der Festplatte festgehalten und lieferte
neben einem genauen Tathergang auch gute Fotos für die Fahndung
nach den flüchtigen Russen und nach Julia.
Am Ende der Untersuchung überließ man es Freds Vorgesetzten, über
etwaige Disziplinarmaßnahmen zu entscheiden, und sie entschieden sich
dagegen. Fred behielt also seinen Job, und der war weiterhin oft
anstrengend und hektisch, aber immer wieder auch spannend und
begeisternd.
Nach dem Frühstück packen sie etwas Proviant in ihre Rucksäcke und
machen sich auf den Weg zu Franz nach Ludwigsburg.
Nachdem sie an der Tür geklingelt haben, müssen sie erstmal drei
Minuten warten. Sandra möchte fast schon ohne Franz abfahren, als sich
schließlich die Tür doch noch öffnet. Franz sieht etwas derangiert aus; so,
als ob er gerade aus dem Bett gefallen wäre. Gefallen ist er nicht, aber er
hat tatsächlich verschlafen und ist erst durch das Läuten an der Tür
geweckt worden. Er beginnt, sich schnell fertig zu machen. Während er
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im Bad hantiert, stehen Fred und Sandra im Flur und unterhalten sich
durch die geschlossene Tür mit ihm. Anscheinend hat die Polizei immer
noch nichts weiter herausgefunden, auch die Ermittlungen, die die IAA
selbst angestellt hat, scheinen bisher keine Ergebnisse gebracht zu
haben. Jedenfalls hat Fred schon lange nichts mehr über den Fall gehört.
Auch sonst gibt es nicht viel Neues zu erzählen. Franz hat lange
gebraucht, um die Geschichte einigermaßen zu verdauen, oder um sie
wenigstens so weit zu verdrängen, dass er wieder zu einem normalen
Tagesablauf fähig war. Neben Herrn Hafeles Tod hat ihn der Verlust von
Julia am meisten mitgenommen. Er hat lange gebraucht, um zu
begreifen, dass wohl alles kein Missverständnis war, dass sie nicht
versehentlich in den Porsche gestiegen ist, und dass sie ziemlich sicher
auch nicht jeden Moment vor seiner Tür stehen würde. Genau das hatte
er sich lange eingeredet, nur um immer wieder enttäuscht zu werden.
Erst seit ein paar Wochen hat er das Gefühl, wenigstens mit seinem
verstandesmäßigen Ich über den Berg zu sein. Damit war er immerhin
wieder in der Lage, halbwegs seinem Beruf nachzugehen. Er hatte ab
und zu ein paar interessante Fahrzeuge vor dem Entwicklungszentrum
eines Autozulieferers vor die Linse bekommen und damit ein paar Euro
verdient. Und jetzt war er gerade dabei, die nächste größere Erlkönigjagd
zu planen. Das ist schon ein beachtlicher Fortschritt verglichen mit der
selbstbezogenen Trübsal der vergangenen Wochen. Und alles nur wegen
dieser Frau. Er dachte halt, er hätte endlich eine gefunden, die ihn und
sein Leben akzeptieren und verstehen kann.
Nachdem sich Franz endlich halbwegs restauriert hat, braucht er
dringend noch einen Kaffee. Er ist der Meinung, dass er ohne einen
Koffeinschub gleich wieder bewusstlos in sich zusammensacken würde.
Also noch schnell die Moka auf den Herd gestellt, so kommt auch Fred
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noch zu einem kleinen Espresso.
Dann geht es endlich los.
Sie verlassen das Haus. Draußen steht wieder ein Bentley. Der gleiche
Typ, mit dem Fred damals zur Tankstelle gerast war. Aber inzwischen ist
das Projekt weiter fortgeschritten und die zusammengebastelten
Prototypen wurden durch Vorserienfahrzeuge ersetzt, die nahezu die
Qualität der späteren Serienautos haben. Das Auto ist sehr schick
zweifarbig lackiert und unzählige Chromapplikationen glänzen in der
Sonne. Tarnung ist jetzt keine mehr angebracht, denn inzwischen hat der
Hersteller das neue Modell schon der Öffentlichkeit präsentiert. Damit
kann auch Franz das Auto ganz entspannt genießen, denn Bilder kann
jeder von der Homepage der Firma downloaden.
Sandra lässt sich in die weichen Lederpolster im Fond fallen. Franz
nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Der Duft nach edlem Leder und
feinem Holz hüllt sie alle ein. Nachdem auch Fred die Tür geschlossen
hat, dringt der Lärm der Straße nur noch sehr gedämpft zu ihnen durch.
Als der Wagen langsam, aber dann doch mit Nachdruck anrollt, ist kaum
ein Geräusch zu hören. Mit dem Hybridantrieb kann auch der schwere
Bentley die ersten Kilometer nur elektrisch fahren.
Nach zwanzig Minuten Fahrt parkt Fred das Auto vor einer großen Villa
im Stuttgarter Herdweg. Von hier aus gehen sie noch ein paar Meter,
dann stehen sie vor der Wohnungstür der Hafeles.
Frau Hafele hat sie zum Mittagessen eingeladen. Sie öffnet die Tür und
bittet alle in die Wohnung. Sandra, Fred und Franz waren schon öfter
hier.
Zuerst hatten sie das Gefühl, sie müssten sich um Frau Hafele kümmern.
Aber mit der Zeit haben sie erkannt, dass es fast umgekehrt war.
Natürlich war sie in großer Trauer über den Tod ihres Mannes gewesen,
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mit dem sie noch viele Pläne verwirklichen wollte. Aber sie war auch eine
starke Persönlichkeit, die mit ihrem bisherigen Leben im Reinen war, und
sie hatte einige gute Freunde, die ihr bewusst gemacht haben, dass
sicher auch ihr Mann ein erfülltes Leben hatte. Er hatte einen Beruf, der
ihn ausgefüllt hatte, aber er hatte auch im Privaten nichts auf später
verschoben. Er hatte seine Kinder aufwachsen sehen und hatte nicht das
Gefühl, er müsse hier mit den Enkelkindern etwas nachholen, das er bei
den eigenen verpasst hatte. Er hatte geschäftlich und mit seiner Frau
viele Reisen unternommen und die Welt gesehen. Somit hatte er nicht
das Gefühl, erst in der Rente rauszukommen und die Welt entdecken zu
müssen. Und er hatte viele kleine Pläne und Vorhaben in seiner Freizeit
umsetzen können, weil er sich immer wieder auch Freizeit genommen
hatte. Das alles wusste Frau Hafele, aber ihre engen Freunde hatten ihr
dieses unbewusste Wissen deutlich gemacht. So konnte sie bald ihren
Frieden mit dem Schicksal ihres Mannes machen und den Blick nach
vorne richten.
Fred und Franz ging es da ganz anders. Sie machten sich lange
Vorwürfe, dass sie Herrn Hafele überhaupt in die Sache hineingezogen
hatten. Sie stellten sich immer wieder dieselben Fragen: Warum hatten
sie nicht die Polizei oder wenigstens die Sicherheitsabteilung der IAA
eingeschaltet? Wäre dann nicht alles anders ausgegangen? Hätte damit
diese schreckliche Eskalation verhindert werden können? Die Tatsache,
dass Julia den Kontakt zu Herrn Hafele hergestellt hatte, spielte dabei
keine wesentliche Rolle.
Diese Fragen ließen sie über Monate nicht richtig zur Ruhe kommen,
unabhängig voneinander. Sie brachten es auch nicht fertig, miteinander
zu reden, und Fred brachte es nicht fertig, mit Sandra darüber zu
sprechen. Denn auch sie hatte mit den Bildern zu kämpfen, die seit der
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Entführung ihre Träume eher unerfreulich machten.
Frau Hafele war es, die bei den ersten Treffen die Sprache auf die
Geschehnisse brachte und die ihnen klar machte, dass sie ihnen keine
Vorwürfe machte. Sie gab ihnen allen etwas von ihrer so schnell
zurückgewonnen Zuversicht und Zukunftsorientierung ab.
Die Begrüßung ist also sehr herzlich, man ist sich eng verbunden. Der
Tisch ist schön gedeckt. Dass Frau Hafele eine tolle Köchin ist, wissen
die anderen schon länger. Die Gespräche drehen sich um Zukunftspläne.
Sie möchte eine Schiffsreise in Südamerika machen. Franz bereitet seine
nächste Erlkönigjagd in Schweden vor, die Saison beginnt ja bald wieder,
und Sandra und Fred eröffnen ihre Hochzeitspläne.
Nach einem sehr guten Essen und einem weiteren Espresso bricht die
kleine Gesellschaft dann zu einem kleinen Ausflug in die Weinberge rund
um die Hessigheimer Felsengärten auf.
***
Julia war freiwillig in den Cayenne der Entführer und frisch gebackenen
Mörder gestiegen. Als sie Richtung Autobahn davonpreschten, wussten
sie nicht, wie es um Herrn Hafele stand. Aber, dass es nicht gut um ihn
stand, das konnten sie sich denken.
Sie fuhren auf der Autobahn 81 Richtung Norden. Aber nur bis zur
nächsten Ausfahrt. Direkt an der Ausfahrt gibt es einen Park and Ride
Parkplatz. Dort war ein weiteres Fahrzeug deponiert. Ein silberner Audi
A4, äußerlich unscheinbar und unauffällig, aber schnell.
Sie wussten ja, dass der Porsche sehr auffällig war, aber sie wussten
auch, dass bis zur Übergabe keine Polizei eingeschaltet worden war.
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Deshalb gab es bisher keine Notwendigkeit, das Zweitauto zu benutzen.
Allein für diese Information hatte es sich gelohnt, dass Julia in der Gruppe
um Fred so lange mitgespielt hatte. Nachdem die ganze Geschichte
durch die Entführung aus dem Ruder gelaufen war, hatte sie versucht, die
zufällige Verbindung zu Franz zu nutzen. Und es lief ja auch ganz gut.
Sie hatte ihn nach München gebeten und ihm eine Geschichte von ihrer
unfreiwilligen Verstrickung mit den Russen aufgetischt. Das Risiko, dass
Julia enttarnt würde, war praktisch null, und sie konnte genau
mitbekommen, was bei Fred und Franz los war. Gut, sie hatte einen
großen Fehler gemacht, indem sie Herrn Hafele ins Spiel gebracht hatte.
Ihre Einschätzung, dass der eher keine Polizei einschalten würde, war
richtig. Aber dass er ihnen doch so weit auf die Pelle rücken würde, das
hatte sie nicht erwartet. Sie hatte seinen Ehrgeiz, sich noch einmal zu
beweisen, weit unterschätzt.
Diesen Ehrgeiz hatte sie sofort nach der ersten Kontaktaufnahme
verspürt, aber da war es schon zu spät. Und jetzt war er tot. Warum
konnte er auch nicht einfach weiter durch die Weinberge wandern?
Franz tat ihr in dem Moment, als sie den Vorschlag machte, Herrn Hafele
zu Rate zu ziehen, fast leid. Er machte sich anscheinend irgendwelche
Vorwürfe – vielleicht. Jedenfalls waren alle ziemlich ratlos. Sie hatte das
Gefühl, auch einen sichtbaren Beitrag leisten zu müssen, um sich nicht
durch völlige Taten- und Ideenlosigkeit verdächtig zu machen. Da kam
sie auf den Gedanken mit Herrn Hafele.
Nach diesem Fehler hielt sie sich zurück und sie war sich durchaus
bewusst, dass sie so nicht mehr sehr lange hätte weitermachen können.
Ihr schauspielerisches Talent hatte doch eher engere Grenzen.
Ansonsten war die Zeit mit Franz ja auch nicht so fürchterlich. Sie
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verstanden sich eigentlich ganz gut. Er war anfangs sehr deutlich aus der
Übung, aber mit der Zeit machte ihr sogar der Sex mit ihm Spaß. Nur
seine Naivität ging ihr wirklich auf die Nerven, andererseits half sie ihr
auch. Er nahm ihr wirklich alles ab und hinterfragte nichts. Er wollte
dauernd reden, über seinen Job und darüber, dass ihm der ja bisher
immer bei all seinen Beziehungen am Ende einen Strich durch die Liebe
gemacht hatte – eigentlich süß. Aber eben nicht ihre Welt.
Aber gut, so wie sich alles entwickelt hatte, war es eben ihr Part
geworden, die Erpressung von der anderen Seite zu beobachten und
Informationen zu liefern, und genau das tat sie.
Hätte sie nicht gerade rechtzeitig Alexej informiert, dass Fred den Code
tatsächlich besorgt hatte und dass es ziemlich sicher auch der richtige
Code war – dieser Fred war noch um Klassen naiver als Franz –, dann
hätte Juri die Kleine wahrscheinlich abgeknallt vor lauter Panik. Bei
diesem Gedanken hatte sie sich wie eine Retterin gefühlt, ohne Einsicht,
dass es ohne sie und ihre Kollegen überhaupt keinen Anlass zu
irgendeiner Rettung gegeben hätte.
Nun saßen sie also in diesem Audi – Julia am Steuer. Sie hatte ja
inzwischen erfahren, wie leicht es war, ein Fahrzeug auf der Autobahn zu
orten. Aber mit einem anderen Typ und einem neuen Kennzeichen waren
sie das Problem erstmal los.
Bevor sie abfuhren, war Juri noch fest verschnürt worden. Sie hatten ihn
an Händen und Füßen mit Kabelbindern gefesselt und ihn mit Klebeband
geknebelt; alles Utensilien, die sie eh in ihrem Auto hatten. Juri war etwas
verdutzt, als Alexej ihm die Arme auf den Rücken drehte. Dabei hätte er
sich eigentlich denken können, dass es für die beiden anderen jetzt
keinen Grund mehr gab, ihn mitzuschleppen. Bevor er begriffen hatte,
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was geschah, war er bewegungsunfähig auf der Rücksitzbank des
Porsche gelandet. Dann hatte Julia noch den Zeitzünder an dem
Benzinkanister im Kofferraum des Cayenne auf 30 Sekunden eingestellt.
Als sie wieder auf die Autobahn auffuhren, sahen sie bereits dunklen
Rauch aufsteigen. Das Auto war in kurzer Zeit zu einem verkohlten
Wrack geworden.
Julia fuhr zügig, aber doch darauf bedacht, nicht aufzufallen. Die Strecke
Richtung Nürnberg war gut befahren, wie fast immer, so dass sie es nicht
richtig laufen lassen konnte. Aber sie kamen gut voran und Juri war
schon bald vergessen. Am späten Nachmittag waren sie in Prag. Von hier
aus führte sie ihre Flucht nach Wroclaw, das früher einmal Breslau hieß.
Wobei sie die ganze Zeit nicht wirklich das Gefühl hatte, auf der Flucht zu
sein. Sie fuhren einfach im Auto dahin und unterhielten sich über die
Ereignisse der vergangenen Tage. Wenn man das Ende aussparte und
erfolgreich verdrängte, hatten diese Ereignisse auch nichts Dedrohliches
an sich. Die Angst und der Schrecken entstanden ja nur durch die
Perspektive des Opfers, das nicht wusste, wie es weitergeht, was der
Plan war, und das auch keine Kontrolle hatte. Sie hatten die Kontrolle –
oder glaubten sie zu haben – und so war die ganze Aktion für sie eher ein
Abenteuer –, wenn man das Ende verdrängte.
Am nächsten Tag kamen sie in Kiew an. Hier fühlten sie sich sicher.
In ihrer Wohnung angekommen stellte sich Julia erstmal unter die Dusche
und dann ging sie mit Alexej ins Bett. Er hatte wesentlich mehr Übung als
Franz und so fiel ihr das Verdrängen noch leichter, obwohl sie damit
keine wirklichen Probleme hatte. Dann aßen sie gemeinsam. Alexej hatte
gekocht. Dann gingen sie wieder ins Bett.
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Julia hatte Alexej schon vor drei Jahren kennengelernt. Es spielte sich in
etwa so ab, wie sie Franz die Begegnung mit den Russen geschildert
hatte, nur eben viel früher. Es begann mit unangemeldetem, Angst
einflößenden Besuch, und auch der Teil mit der Tahiti-Bar in Schwabing
war nicht erfunden. Dort traf sie Alexej, der schon nach kurzer Zeit vom
fiesen Gangster-Modus in den galanten Gentleman-Modus wechselte. So
war es dann gekommen, dass sich Julia auf und an Alexejs Seite schlug.
Vor ein paar Wochen in Schweden, als sie Franz nach langer Zeit
wiedertraf, hatte es kurz zuvor einen heftigen Streit mit Alexej gegeben.
Aber das war im Nachhinein nichts Ernstes.
Am nächsten Morgen fühlte sich Julia richtig erholt und als sie sich an
den Rechner setzte und Freds DVD einlegte, war sie völlig mit sich im
Reinen. Sie hatte es geschafft, ohne große Anstrengung, alle Ereignisse
der letzten Tage und Wochen in eine andere Welt zu verschieben, mit der
sie nichts zu tun hatte.
Es
waren
sehr
viele
Verzeichnisse
auf
dem
Datenträger,
die
verschiedene Dateien enthielten. Julia öffnete eine davon mit einem
Texteditor. Was sie sah, sagte ihr praktisch nichts. Sie konnte ein paar
Befehle irgendeiner Programmiersprache entziffern. Ansonsten war das
in ihren Augen nur ein großes Durcheinander. Julia hatte von all diesen
Dingen keine Ahnung, aber es sah gut aus. Sie waren nur Lieferanten.
Das eigentliche Geschäft machten andere, die das nötige Wissen hatten,
die Daten zu nutzen. Alexej sah ihr über die Schulter und gab ihr einen
Kuss auf den Kopf. Sie nahm die DVD aus dem Laufwerk und gab sie
Alexej. Den Augenblick nutzte sie, um ihn erneut zu küssen, sehr
intensiv, als ob es ein Abschiedskuss sein sollte. Alexej zog den Mantel
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an und verschwand. Doch schon ein paar Stunden später, die Julia vor
dem Fernseher verbrachte, hörte sie den Schlüssel in der Tür. Alexej kam
genauso wortlos, wie er gegangen war, wieder herein, zog seinen Mantel
aus und hängte ihn auf. Dann erst fing er an über das ganze Gesicht zu
grinsen, holte aus der Manteltasche ein kleines Paket und legte es vor
Julia auf den niedrigen Couchtisch. Sie riss das Papier ab und zählte
nach. Es waren zweihunderttausend Euro. Mit dieser Summe ließ es sich
in der Ukraine eine ganze Weile ganz gut leben, auch wenn man den
Verlust des natürlich gestohlenen Cayenne in die Rechnung einbezog.
Sie hatten Grund zum Feiern.
Es war aus ihrer Sicht also alles gut gegangen, so wie sie sich das
vorgestellt hatten. Die nächsten zwei Tage lebten sie einfach in die Tage
hinein. Sie genossen das Leben. Am dritten Tag wachte Julia vom
Klappern in der Küche auf. Alexej war anscheinend dabei, das Frühstück
zu machen. Es roch nach Kaffee, Toast und gebratenem Speck. Julia
krabbelte noch etwas derangiert von der letzten Nacht aus dem Bett und
wollte gerade in die Küche, als es an der Tür klingelte. Sie zog sich einen
leichten Morgenmantel an und öffnete. Draußen stand ein freundlich
aussehender älterer Herr mit zwei eher halbseidenen Begleitern. Der Herr
fragte höflich nach Alexej und betrat gleichzeitig die Wohnung. Er fragte
nicht wirklich, ob er eintreten dürfe. Ebenso ging er ohne weitere Worte
mit seinen Helfern in die Küche, in der Alexej immer noch an seinem
Frühstückswerk baute. Abrupt hörte das Geschirrgeklapper auf und es
wurden ein paar Worte gewechselt. Julia verstand die Sprache noch nicht
gut. Ein paar Brocken konnte sie aufschnappen: »falsch« und
»verarschen«, das sagte Alexej zu ihr immer im Spaß. Diesmal war es
kein Spaß, das konnte sie leicht dem Klang von Alexejs Stimme
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entnehmen. Und als die Schüsse fielen, war es ihr endgültig klar.
Bevor sie aus der Wohnung fliehen konnte, hatte einer der beiden
Gorillas sie am Arm gepackt. Er machte sich gerade daran, ihr die
spärlichen Klamotten vom Leib zu reißen, als ihm ein Wort des
Gentleman-Mörders Einhalt gebot: »Später.« Dann wurde sie aus dem
Haus, auf die Straße und in einen dort geparkten Schickeria-Traktor
gezerrt – kein Porsche, aber auch süddeutscher Provenienz.
Die andere Welt war kein sicheres Endlager, das Erlebte brach sich Bahn
und machte damit die Situation nicht leichter. Sie haderte mit ihrem
Schicksal und in gleichem Maße, wie sie sich selbst leid tat, taten ihr
plötzlich auch die Menschen leid, denen sie Schlimmes zugefügt hatte.
Sie fuhren aus der Stadt. Im Auto sprach niemand. Diese drei hatten sich
nicht die Mühe gemacht, Julia die Augen zu verbinden. Natürlich wusste
sie nicht, was sie erwartete, aber hatte keine Zweifel, dass dies kein
gutes Zeichen war.
Nach ungefähr einer halben Stunde hielt der Geländewagen in einem
kleinen Dorf vor einem kleinen, schäbigen Haus. Die Männer führten sie
in ein Zimmer, das nur mit einem Bett eingerichtet war. Alles war dreckig,
nur das Laken auf dem Bett war nahezu frisch. Die Tür wurde
abgeschlossen. Der Fensterladen vor dem einzigen Fenster war von
außen verschlossen. Sie war gefangen.
Nach einer Weile ging die Tür auf und einer der Männer kam herein. Er
schloss die Tür und tat, was er vorher hatte auf später verschieben
müssen. Die Männer wechselten sich ab. Immer wieder kam einer, dann
kam ein anderer. Manchmal gab es etwas längere Pausen. Sie bekam
nichts zu essen oder zu trinken.
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Für Julia war das alles egal. Sie war bald nur noch damit beschäftigt,
über ihr Leben nachzudenken und über die Menschen, die ihr begegnet
waren. Sie entschuldigte sich bei allen persönlich, denen sie Leid
zugefügt hatte. Und als sie nach zwei Tagen fertig war, starb sie;
dankbar, dass ihre Peiniger sie nicht einfach abgeknallt hatten.
Die DVD enthielt den relativ wertlosen Code irgendeines C++Programms.
Herr Hafele hatte die Zeit, in der er sich allein auf den Weg gemacht
hatte, genutzt, um eine unverfängliche DVD zu besorgen. Er hatte seinen
Sohn angerufen und ihn gebeten, den Code irgendeiner Software auf
eine CD oder DVD zu brennen. Der hatte natürlich gefragt, um was es
denn gehe. Aber sein Vater hatte ihm bedeutet, dass für lange
Erklärungen keine Zeit sei. Er wolle die Disk in 15 Minuten abholen. Also
fuhr Herbert Hafele bei seinem Sohn vorbei, holte den Datenträger und
fuhr erst dann Richtung Autobahn.
In den letzten Sekunden vor dem tödlichen Schuss schaffte es Hafele, die
richtige DVD in seine Jacke zu stecken. Die wertlose Kopie hatte er
schon in der Hand, als er zur Zapfsäule lief, und diese wertlose Kopie
schnappte sich Alexej, nachdem er geschossen hatte.
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Dank
Ich bin sehr froh über Irinas vielfältige Unterstützung bei diesem Projekt.
Außerdem danke ich Wiltrud, Frank und Ulf für die wertvollen Hinweise zu
den ersten Versionen dieses Manuskripts.
Viele
Fans
und
Supporter
haben
dankenswerterweise
meine
Crowdfunding-Kampagne zur Veröffentlichung dieses Buches unterstützt.
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