HOLLY-JANE RAHLENS

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HOLLY-JANE RAHLENS
HOLLY-JANE RAHLENS
Wie man richtig küsst
Aus dem Amerikanischen von Sabine Ludwig
Prolog
AN JENEM NACHMITTAG, als ich meine Mutter mit Sammy Rosetti im Bett erwischte,
wusste ich: Es kann nur noch schlimmer werden. Wie konnte sie es wagen? Woher
nahm sie das Recht? Da lag sie, ausgestreckt auf dem Hotelbett, die Bettdecke
zerwühlt, die Schuhe weggeschleudert, die Beine nackt, das Haar aufgelöst. Ich war
entsetzt!
Im ersten Moment kam ich gar nicht auf die Idee, dass sie da im Bett mit
Sammy war. Wieso auch? Sammy gehörte mir.
Ich machte noch ein, zwei Schritte. Jetzt würde meine Mutter mich sicher gleich
bemerken. Aber sie war wie in einer anderen Welt, atmete schwer und hielt das
Objekt der Begierde fest umklammert. Fassungslos beobachtete ich, wie die rechte
Hand meiner Mutter für einen Augenblick von Sammy abließ, dann gierig wieder
zugriff und ... umblätterte.
Ich weiß noch, wie ich dachte: Was liest die denn da? Was für ein Buch ist so
fesselnd, dass sie mich noch nicht mal reinkommen hört?, als mir die
aufgeschlagene Seite ins Auge stach. Leuchtblaue Markierungen und
neonpinkfarbene Wellenlinien am Rand. Markierungen, die ich nur zu gut kannte: Sie
stammten von mir. Meine Mutter las mein Buch. Wie man richtig küsst von Samantha
T. Rosetti. Sammy. Mein Sex-Ratgeber!
Ich wusste sogar, auf welcher Seite sie war: 53. Im Kapitel So wird ein Strip erst
richtig hip! Den markierten Absatz kannte ich praktisch auswendig. Wenn ihr beide
Lust habt, aber euch noch nicht so ganz entspannt fühlt, dann versucht es doch
einmal im Dunkeln. Den Zusatztipp dazu hatte ich eingekreist und mit einem
Ausrufezeichen versehen: Solltet ihr einen von diesen niedlichen Leuchtkulis haben,
könnt ihr ihn abwechselnd auf klitzekleinen Zonen des Partners aufleuchten lassen –
hier ein Bauchnabel, da ein großer Zeh, dort ein Ohrläppchen oder ein
Ellbogen. Macht ein Spiel daraus. Das bricht das Eis. Und ist außerdem sehr sexy.
Mein Magen krampfte sich zusammen. Mist! Jetzt wusste meine Mutter, warum
ich mir gestern genau so einen Leuchtkuli gekauft hatte.
Mir wurde heiß. Und dann kalt. Eine Sekunde lang war ich kurz davor, zu
explodieren, vor Wut zu platzen, in der nächsten hatte ich das Gefühl aus lauter
Scham zu einem Nichts zu schrumpfen.
Meine Mutter hob ihren frisch gespitzten Stift und drehte sich zum Licht.
Wahrscheinlich wollte sie etwas in ihr Notizbuch schreiben, das neben ihr lag. Und
da entdeckte sie mich, oder besser: mein verschwommenes Spiegelbild im Fenster.
»Oh!«, schnappte sie nach Luft. »Du meine Güte! Hast du mich erschreckt, Renée!
Ich hab dich gar nicht gehört!«
Als wären meine Beine sprachgesteuert, machte ich einen verzweifelten Satz
nach vorne und griff nach dem Buch. »Das ist meins!«
Meine Mutter setzte sich auf und zog ihren Rock über die Beine. »Schon wieder
zurück?«
»Was machst du mit meinem Buch?«
Meine Mutter hob die Hände und öffnete den Mund, als ob sie etwas sagen
wollte, aber nichts kam heraus. Nun ja, was hätte sie auch sagen können? Sie war
schuldig. Im Sinne der Anklage. Punkt.
»Du schnüffelst also jetzt in meinem Koffer rum?«, sagte ich und wedelte bei
jedem Wort dramatisch mit dem Buch.
Der lange, fließende Seidenschal meiner Mutter glitt zu Boden und landete dort
neben einem zerknüllten Müsliriegelpapier. Mit diesem Gesichtsausdruck, den ich
nur zu gut kannte, ihrem Nun-lass-uns-doch-bitte-vernünftig-sein-und-uns-so-wieerwachsene-Leute-benehmen-Gesichtsausdruck,-sah sie mich an. »Es war in
deinem Wäschesack«, sagte sie ruhig und hob ihren Schal und das Müsliriegelpapier
auf. »Du hast doch gesagt, dass deine Unterwäsche gewaschen werden soll.«
Oh nein! Wie war das nur passiert? Wie konnte ich vergessen, dass ich das
Buch in meinem Wäschesack versteckt hatte?
»Ich hatte keine Ahnung, dass es da drin war«, fuhr meine Mutter fort. Dabei
zog sie ihr Oberteil über die Hüften und strich es glatt. Es war weit geschnitten, wie
alles, was sie in letzter Zeit trug. »Das Zimmermädchen hat es mit deiner
Unterwäsche zum Waschen gegeben. Die Hausdame hat es zurückgebracht und ...«
»... dich freundlich darum gebeten, es zu lesen!«
Ich nahm meinen Rucksack ab und stopfte das Buch hinein. Nichts war vor
dieser Frau sicher!
Meine Mutter ging an den Schreibtisch, warf das Müsliriegelpapier in den
Papierkorb, schlang sich den Seidenschal um den Hals und griff nach einer
Haarspange, die neben dem Telefon lag. Dann zwirbelte sie ihren dicken Zopf am
Hinterkopf zusammen und steckte ihn fest.
Ehrlich gesagt, ich finde, sie sollte den Zopf abschneiden und sich einen
ordentlichen Haarschnitt verpassen lassen. Und wenn sie schon dabei ist, dann sollte
sie auch gleich ihr Blond auffrischen und das Grau abdecken. Und sich ein paar
anständige Klamotten kaufen. Ich meine, sie könnte doch wenigstens versuchen,
zumindest ein bisschen cool auszusehen, oder ist das zu viel verlangt? Es erwartet ja
keiner, dass sie cool ist.
»Schwitzt du nicht?«, sagte meine Mutter und starrte auf meine Beine.
Ich trug meine kniehohen, schwarzen Lederstiefel, die mit den Schnallen an der
Seite, schwarze Netzstrümpfe mit einem Loch am rechten Knie und einem auf dem
linken Oberschenkel, und meinen Schottenmini. Das Ablenkungsmanöver konnte sie
sich sparen, ich antwortete nicht.
»Es tut mir Leid, Liebes«, sprach sie weiter. »Bitte entschuldige. Du hast ja
Recht. Ich hätte das Buch nicht öffnen sollen.« Sie ging zum Sofa und grinste mich
an. Ich sah ein paar Müsliriegelkrümel zwischen ihren Vorderzähnen. »Aber ich finde
den Titel einfach genial. Wie man richtig küsst. Sex-Ratschläge für Anfänger jeden
Alters. Wie kann man da widerstehen? Es ist nie zu spät, etwas dazuzulernen.« Sie
zwinkerte mir zu, als ob wir Verschworene wären, zum gleichen Team gehörten.
Es ist nie zu spät, dazuzulernen. Kotz, würg.
»Ich brauche deine Absolution nicht«, sagte ich.
»Renée ...«, hob sie mit ruhiger Stimme an und ging am Sofa vorbei.
»Ich weiß, wie ich heiße!«, langsam wurde ich laut. »Begreifst du nicht? Es ist
mir egal, was du denkst. Schnurzegal! Scheißegal! Kackegal! Ich lese, was ich lesen
will, ob du es gut findest oder nicht!«
Meine Mutter seufzte tief, zog die Schultern hoch und ließ sie wieder sinken. Als
laste das Gewicht der ganzen Welt auf ihnen. Dann machte sie einen Schritt auf mich
zu, aber ich drehte mich weg. Im Spiegel sah ich, wie sie resigniert die Hände hob
und sich dem Thermostat zuwandte. Sie drehte am Schalter herum.
»Renée«, sagte sie schließlich, »du bist sauer. Das ist okay. Du darfst sauer
sein.«
Ich fuhr herum. »Oh, danke. Vielen herzlichen Dank, dass du mir
freundlicherweise gestattest, sauer zu sein.«
»Du klingst so wütend.«
»Ich klinge nicht wütend, Mama, ich bin wütend!«
Ich griff nach meinem Rucksack.
»Setz dich bitte.« Meine Mutter ließ sich auf dem Sofa nieder. Es war ein
hässliches Sofa, braun und fleckig. Sie klopfte auf das Kissen neben sich. »Komm.«
»Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mich zu dir setze und mir anhöre, dass
ich das Buch mit Absicht in meinem Wäschesack vergessen habe, damit du es
findest? Das ist es doch, was du sagen willst, stimmt’s?«
Statt einer Antwort fragte sie: »Hast du das Internetcafé gefunden?«
»Mama!«
»Ah, ich verstehe. Deswegen bist du so sauer.«
»Hörst du mir eigentlich zu? Ich hab gesagt, ich bin sauer, weil ich mich über
dich ärgere. Ich ertrage es nicht, wenn du in meinem Leben rumspionierst.«
»Es tut mir Leid, dass das passiert ist, Renée. Ehrlich. Aber ich hab nicht
rumspioniert. Ich habe nur ein rein berufliches Interesse an dem Werk einer
populären Sexualwissenschaftlerin gezeigt. Das muss ich doch bei meinem Job.«
»Damit entschuldigst du immer alles! ›Bei meinem Job.‹«
Ihr Job! Grrr!
Okay. Ich weiß, was ihr jetzt denkt. Ihr denkt: »Die Kleine da hat ein großes
Autoritätsproblem.« Und wisst ihr was? Ihr habt Recht. Ich hab tatsächlich eins. Und
glaubt mir, ihr hättet auch eins, wenn eure Mutter Dr. Edda Mommsen-Brody wäre,
dem Rest der Welt bekannt als Dr. Mom, unangefochtene Autorität in Sachen
Elternfragen. Nur weil sie sechs erfolgreiche Bücher über Erziehung geschrieben und
alle vierzehn Tage eine Eltern-Kolumne in der Veronika veröffentlicht, glaubt diese
Frau doch tatsächlich, seit der Erfindung der Wegwerfwindel wäre in Sachen
Kinderaufzucht nichts Großartigeres passiert als sie. Und was das Schlimmste ist:
Alle anderen denken genauso. Das reicht, um jede geistig normal entwickelte
Zehntklässlerin in den Wahnsinn zu treiben, zurück ins Bett – oder aus einem
Dreisternehotel. Ich wählte Letzteres.
»Ich wünschte, du würdest ein anderes Ventil für deine Wut finden«, sagte
meine Mutter.
»Werd ich auch!«, sagte ich drohend, warf meinen Rucksack über die Schulter
und ging zur Tür. »Ganz bestimmt! Wart’s nur ab!«
Und so hab ich alles aufgeschrieben, die wahre Geschichte, und zwar meine
Version, die von Renée Bella Brody, fünfzehn. Und dieses Buch, das verspreche ich
euch, wird nicht in einem Wäschesack landen!
Erstes Kapitel
In der Hölle der Hormone
MEINE GESCHICHTE BEGINNT ein paar Wochen vor dem Tag, an dem ich meine Mutter
in jenem schäbigen Mannheimer Hotelzimmer mit Sammy erwischte. Sie fing beim
Schwimmtraining an. Und zwar an dem Nachmittag, als Philipp mich im
Schwimmbecken packte, unter Wasser zog und küsste.
Philipp sieht verdammt gut aus. Stil hat er auch noch. Aber er ist nicht einfach
nur ein schöner Kleiderständer. Er ist einer der wenigen Jungs an der Schule, der
echtes Charisma hat. Das steckt in der Chemie, glaub ich. Wenn ich zufällig in einen
Raum geriete, in dem er mit hundert anderen Jungs stünde, würde ich auch mit
verbundenen Augen automatisch auf ihn zusteuern – sogar rückwärts. Und auf
Stöckelschuhen! So stark ist seine Ausstrahlung. Ein Supermagnet.
Obwohl ich Philipp schon ewig kenne – seit ich denken kann, ist er an der MarkTwain-Schule eine Klasse über mir –, hatte ich kaum etwas mit ihm zu tun. Bis
letzten Herbst, da wurde er Mitglied in der Schwimm-AG.
Nach einem üblen Skateboardunfall, der ihm eine tiefe Narbe auf dem linken
Arm und eine zweite quer durch die rechte Augenbraue bescherte, tauschte er das
Skateboard gegen das Sprungbrett ein. Ins Gespräch gekommen waren wir trotzdem
noch nicht – bis zu dem Tag vor ein paar Wochen, kurz vor Ende des Schuljahres.
Ich saß im Bus, auf dem Weg nach Hause, schaute aus dem Fenster und hing
meinen Gedanken nach. Plötzlich spürte ich etwas, das größer war als ich, eine
ungeheuere Anziehungskraft in der Luft, die mich zwang, meinen Kopf zu drehen.
Und da war er. Als hätte er sich aus dem Nichts materialisiert, saß er an meiner Seite
und lächelte. Mit diesen unglaublich blauen Augen. Ich holte tief Luft, als ob ich
gerade in eine riesige Welle eintauchen wollte und nicht wusste, wie lange ich unter
Wasser bleiben müsste. Es war aufregend. Und irgendwie auch ein bisschen
beängstigend.
»Du warst ja gar nicht bei den Churchill-Schwimmwettkämpfen«, sagte er.
»Ging nicht«, antwortete ich. Was gelogen war: Es wäre sehr wohl gegangen.
Ich hatte nicht gewollt. Ich hatte keine Lust auf Fritzi gehabt und die ist in der
Churchill-Mannschaft.
Fritzi und ich waren mal befreundet. Meine Mutter erzählt gern, wir seien schon
Freundinnen gewesen, als wir noch nicht mal auf der Welt waren, weil sie zusammen
mit Fritzis Mutter den Geburtsvorbereitungskurs gemacht hat. Auch danach waren
unsere Mütter wie ein Team. Zwangsläufig verbrachten Fritzi und ich ebenfalls viel
Zeit miteinander. Was wir ganz schön fanden. So richtig eng wurden wir jedoch erst
als Teenager, als aus unserer Liebe zu Märchenprinzen eine Leidenschaft für Könige
wurde, sprich: für die Kings of Prussia. Die größte Rockband aller Zeiten in
Deutschland, Europa, sämtlichen anderen Kontinenten und dem Rest des
Universums. Darüber waren wir uns einig. Strittig war nur, wer der bessere Musiker
war: Leadsänger und Songwriter Gregor Rogatzki, alias The Great Gatzki (meine
allererste Wahl), oder Komponist und Gitarrist Arno Noni Nissen (Fritzis Favorit).
Also, obwohl wir in verschiedene Schulen gingen – Fritzi in die Churchill, die
deutsch-britische Schule, und ich in die Twain, die deutsch-amerikanische –, wir
waren gute Freundinnen. Vielleicht wären wir sogar beste Freundinnen geworden.
Aber letzten Herbst war es dann plötzlich vorbei.
»Du wärst bestimmt Erste geworden«, sagte Philipp. »Du bist schneller als
jedes Churchill-Mädchen.«
Ja, das stimmt. Ich bin tatsächlich schnell. Ich wusste aber nicht, dass er das je
bemerkt hätte. Mein Magen schlug einen dreifachen Salto.
Ich betrachtete Philipp genauer. Trotz seiner Narbe quer durch die Augenbraue
– oder vielleicht gerade deswegen – war er das perfekte männliche Titelmodel.
Hinreißend, aber nicht makellos. Sein Körper war kräftig, aber nicht von
hochgetunten Muskeln verunstaltet, die sich bei der kleinsten Bewegung aufblähen.
Trotzdem sahen seine Arme stark aus. Nur sein Haar war einen Tick zu kurz. Unser
Schwimmtrainer, Herr Trockenbrodt, hatte Philipp zwei Wochen zuvor überredet, sich
die blonden Dreadlocks abzuschneiden. Er sagte, er hätte sie lange genug geduldet,
aber sie würden das Ergebnis der ganzen Mannschaft verschlechtern. Ich glaube,
Herr Trockenbrodt hat damit übertrieben, aber Philipp zeigte außerordentlichen
Teamgeist und ließ sich die Haare schon am nächsten Tag abschneiden.
Nach Philipps Bemerkung über das Churchill-Wettschwimmen quatschten wir
ein bisschen über unsere Ferienpläne. Ich erzählte von meiner geplanten New-YorkReise und er, dass er eine Sprachschule in Barcelona besuchen würde. An mehr
erinnere ich mich nicht. Die dreifachen Saltos lenkten mich wahrscheinlich zu sehr
ab. Oder ich war von Philipps Erscheinung so geblendet, dass ich mich nicht mehr an
jedes Detail erinnere. Er trug nämlich eine neonorangefarbene Weste – so eine, die
sonst Bauarbeiter haben, oder Bergleute, oder Männer, die Bahngleise reparieren –,
und diese Weste war so grell, dass vor meinen Augen Punkte tanzten.
Eine Woche später geschah es dann also, beim Schwimmtraining. Ich war
bereits seit mehr als fünfundvierzig Minuten im Wasser, hatte Bahn um Bahn
zurückgelegt, Runde für Runde, Zug um Zug.
Wenn ich schwimme, passiert etwas in mir. Nach ein paar Minuten bin ich
plötzlich ganz woanders. Schwer zu sagen, wo, aber es ist ein Ort, an dem ich mich
immer weiter vorwärts bewege, irgendwohin, wo alles von mir abfällt – Tageszeit,
Kopfschmerzen, Sorgen – und ich Teil des Wassers werde, des Lichts, des mich
umgebenden dumpfen Lärms.
Ich liebe das. Und brauche es inzwischen auch. Mehr als ich mir je vorstellen
konnte.
Aber es ist anstrengend. Körperlich. Und geistig. Nach dem Schwimmen
brauche ich immer ein paar Minuten, um wieder in der Erdatmosphäre anzukommen.
An jenem Montag setzte ich mich neben die Leiter auf den Beckenrand, ganz in der
Nähe des Springturms und ließ die Beine im Wasser baumeln. Das war die beste
Methode, um wieder zu mir zu kommen. Und die beste Methode so zu tun, als würde
ich meinen eigenen Gedanken nachhängen, während ich doch eigentlich Philipp bei
seinen Sprüngen vom Dreimeterbrett beobachtete. Ich sah zu, wie er zuerst einen
gestreckten Kopfsprung rückwärts machte, und dann einen Delfinsalto, beide Male
stand er auf dem Sprungbrett rücklings zu mir und dem Becken. Ob er überhaupt
wusste, dass ich ihn beobachtete? Beim dritten Sprung stand er mit dem Blick nach
vorn. Himmel, sah der gut aus in seinen schwarzen Stretchshorts! Geschmeidig und
selbstbewusst. Die meisten Jungs in der Schwimm-AG tragen knappe Badehosen,
die aussehen wie Bikini-Unterteile. Thanks, but no thanks.
Egal, nun stand Philipp also auf dem Sprungbrett, gerade wollte er springen –
da drehte er seinen Kopf nach links und warf mir einen Blick zu. Wusch! – breitete
sich eine Wärmewelle in meinem Körper aus, vom Bauch bis in die Brust. War ich
froh, dass ich meinen schwarzen Badeanzug trug, und nicht den roten. Der
Schwarze sitzt um den Busen einfach besser.
Mit einem gestreckten Auerbach schoss Philipp ins Wasser, kam wieder hoch,
kraulte zu der Leiter auf der anderen Beckenseite und stieg aus dem Wasser.
Als er zum vierten Mal oben stand, er lächelte mir vor dem Sprung zu. Jetzt
breitete sich die Wärme bis hinunter in meine Füße aus, die noch im Wasser
baumelten. Mittlerweile war mir so heiß, dass es mich nicht überrascht hätte, wenn
meine Zehen das Wasser wie ein Tauchsieder zum Kochen gebracht hätten. Als
Philipp dann mit einer halben Schraube sauber eintauchte, ging mir endlich auf, dass
er diese Kunststücke vielleicht nur für mich vorführte. Und als ich die Kontur seines
Körpers unter Wasser auf mich zugleiten sah, überlegte ich, ob er sich zu mir
genauso hingezogen fühlte wie ich mich zu ihm.
Einen knappen Meter vor mir tauchte er auf. »Du bist ja ganz trocken«, sagte
er.
»Na und?«, sagte ich, überrascht, dass ich trotz meiner Aufregung überhaupt
ein Wort rausbrachte.
Philipp spritzte mich nass.
»Hör auf, du Scheusal!«, kreischte ich.
Noch nie war ich so entzückt gewesen!
Er kitzelte meine rechte Fußsohle. Ich hielt mich an der Leiter fest und
versuchte ihn abzuwehren. Er kitzelte meinen linken Fuß, dann zog er daran. Ich gab
auf und ließ mich ins Wasser plumpsen. Er packte mich an den Hüften und zog mich
zu sich. Und ehe ich mich versah, hielt ich mich an seinen Schultern fest. Um das
Gleichgewicht nicht zu verlieren, griff er nach der Leiter. Dabei fiel mir seine Narbe
am Arm ins Auge. Noch nie war ich ihr – und ihm! – so nahe gekommen. Die Narbe
war ein fünfzehn Zentimeter langer Striemen und noch ganz rosa.
»Zweiunddreißig«, sagte er. »Es waren zweiunddreißig Kreuzstiche – falls du
gerade zählst.«
Ich machte große Augen. »Das hat bestimmt wehgetan.«
»Hab ich nicht mitgekriegt. Die haben mich gedopt. Du hättest die Wunde
sehen sollen, bevor sie genäht wurde. Mein Arm sah wie Hackfleisch aus. Kannst
gern mal anfassen, wenn du willst.«
Ich blickte ihn fragend an.
»Nein wirklich, ist in Ordnung«, sagte er.
Die Narbe unter meinen Fingerspitzen fühlte sich seltsam an. Das Gewebe
zwischen den Stichen war gleichzeitig weich und fest, die Stiche selbst kleine
erhabene Punkte. Wie Blindenschrift. Ich-habe-gelitten, konnte man auf der Haut
lesen. Sehr sexy.
»Tut’s noch weh?«, fragte ich, während meine Finger wie hypnotisiert über die
Narbe strichen, auf und ab, hin und her.
»Uh-uuh«, machte er leise. Es klang fast wie ein tiefer Seufzer. Er hatte die
Augen geschlossen.
Philipps rechte Hand ließ von meiner Hüfte ab und suchte meine Hand. Einen
Moment lang trieben wir so, losgelöst von der Zeit. Ein vor Nässe glänzender, braun
gebrannter Arm lag auf seiner Schulter. Unsere ineinander verschlungenen Beine
paddelten im Gleichtakt. Sein fester Körper presste sich gegen meinen, mein weicher
gegen seinen. Dann verhakten sich unsere Finger und er zog mich hinab.
Als wir untertauchten, ließen wir die zappelnden Körper der anderen weit über
uns. Luftblasen. Gedämpfte Stimmen. Unsere Köpfe bohrten sich durch das
dickflüssige türkisfarbene Wasser, tiefer, tiefer und immer tiefer bis auf den Grund
des Beckens.
Meine Ohren ploppten zu.
Unsere Münder trafen aufeinander.
Philipp legte die Hände auf meinen Busen. Hey – der ging aber ran! Aber es
gab keinen Anlass zur Klage: Es fühlte sich einfach zu gut an.
Und dann, bevor ich überhaupt diesen wahrhaft feuchten Kuss und das Gefühl
seiner Finger, die durch den Badeanzug meine Brust betasteten, genießen konnte,
schossen wir schon wieder an die Oberfläche.
Nach Luft schnappend tauchten wir auf. Überall Gelächter. Schreie. Eine
Schaumstoffwurfscheibe sauste an uns vorbei. Herr Trockenbrodt pfiff.
»Ups!«, machte Philipps Kumpel Philip Eins, als wir – plop! – ganz in seiner
Nähe auftauchten. Philip Eins (weil er nur ein P am Ende hat) und mein Philipp alias
Philipp Zwei (zwei P am Ende) waren dicke Freunde.
»Wo habt ihr denn gesteckt?«, fragte Philip Eins. »Eben wart ihr noch da und
dann wart ihr weg.«
Ha ha.
Philip Eins johlte und schlug Philipp Zwei auf den Rücken. Der revanchierte
sich, indem er den Kopf von Philip Eins untertauchte. Philip Eins wand sich aus der
Umklammerung und schwamm fort.
»Am Mittwoch gehen wir ins Kino. Um zu feiern«, sagte Philipp Zwei zu mir.
»Feiern?«
»Ferien.«
»Ach so.«
Da kann man sehen, was Philipp bei mir anrichtete. Wie konnte ich nur
vergessen, dass die Schule fast vorbei war? Früher bin ich ganz gern hingegangen,
aber dieses Jahr war knochenhart. Gut, dass bald Ferien waren.
»Kommste mit?«, fragte er.
Ob ich mitkomme? Was für eine Frage! Hunderteins Prozent hoch zehn!
»Vielleicht«, sagte ich.
Mein Herz hüpfte von einem Tausendmeterbrett.
Meine Ohren ploppten wieder auf.
Ich hing an der Angel.
Ein Date! Am Mittwoch! Mit Philipp! Meine Füße kamen gar nicht mehr auf dem
Erdboden an, so schwebte ich vor mich dahin. Ich musste es jemandem erzählen.
Aber wem? Vor acht Monaten hätte ich keine Sekunde zu Hause sein können, ohne
mein Handy zu schnappen und Fritzi ein SMS zu schicken: Must c u! Und sie hätte
mir sofort geantwortet: Give me 5! Dann wäre ich auf mein Skateboard gesprungen
und die Clausewitzstraße Richtung Norden zur Giesebrechtstraße gerast. Und sie
wäre vor ihrem Haus in der Niebuhrstraße auf ihr Skateboard gehüpft und Richtung
Westen geflitzt. Ich sehe ihr langes blondes Haar förmlich vor mir. Genau fünf
Minuten später hätten wir uns an dem Brunnen gegenüber vom Café Richter
getroffen.
Wenn wir noch Freundinnen wären, hätte es sich genauso abgespielt. Aber wir
waren’s nicht mehr. Also musste Alina herhalten, meine augenblicklich beste
Freundin.
Alina war nicht sehr beeindruckt. Für sie war ein Flirt unter Wasser Kinderkram.
Darüber war sie längst hinaus und schon beim Ernst – oder beim Spaß? – des
Lebens angelangt. Schließlich ist sie seit sechs Monaten keine Jungfrau mehr.
Bisher war Alina allerdings immer ziemlich geizig mit Auskünften in Sachen
Sex, auch wenn ich sie richtig auszuquetschen versuchte. Doch die Chancen, dass
ich selbst bald in die Geheimnisse des Frauseins eingeweiht würde, standen ja nicht
schlecht, und so hoffte ich, sie würde endlich mit ein paar Fakten rausrücken.
Alina stand vor dem Spiegel und übte eine Schrittkombination aus ihrem
Modern-Dance-Kurs. Sie will mal Schauspielerin werden und hat bereits bei zwei
Musicalcastings in Berlin und Hamburg mitgemacht. Genommen wurde sie zwar
nicht, aber sie gibt nicht auf. Und übt weiter.
»Beschreib es mal«, sagte ich, während sie ihre Hüften zweimal nach rechts
und zweimal nach links wippen ließ.
»Was beschreiben?«, fragte Alina.
»Es. Beschreib es.«
»Oh«, sagte sie. Das klang so begeistert, als sollte sie Matheaufgaben machen.
»Na ja ... es ist ... gut.«
Während sie sprach, heftete sie die Augen auf den Spiegel, mich sah sie kaum
an. Tatsächlich starrt sie ziemlich oft in den Spiegel, aber ich denke, wenn ich so
aussehen würde wie sie, würde ich mich auch dauernd bewundern. Nicht, dass ich
nicht gut aussehe. Ich glaube, ich bin ganz in Ordnung. Ziemlich groß, halblanges
widerspenstiges dunkles Haar, dunkle Augen und helle Haut. Das Einzige an mir,
das mir nicht gefällt, sind meine Lippen, die müssten voller sein. So wie die von
Alina. Alina hat auch einen richtig schönen Busen: groß und frech nach oben. Meiner
springt einem lange nicht so schnell ins Auge. Manchmal finde ich allerdings, dass
Alina ein bisschen zu sehr mit ihrem Busen angibt, auch wenn der zusammen mit
ihrem hennaroten Haar und den großen blauen Augen wirklich toll aussieht. Das
Coolste an Alina ist aber das Piercing in ihrer linken Augenbraue – ein zwölf Gramm
schwerer Silberring – und der Glitzerstecker in ihrem linken Nasenflügel.
Seit einiger Zeit spielte ich ja auch mit dem Gedanken, mir ein paar Piercings
machen zu lassen. Vielleicht sogar ein Tattoo. Ein kleines. Da, wo kaum einer es
sieht. Auf dem Po zum Beispiel. Einen Schmetterling. Oder eine kleine Sonne.
Vielleicht einen Halbmond. Ein englischer Cousin von Fritzi, der in einem Aquarium
arbeitet, hat sich einen Piranha in den Oberarm ätzen lassen. Er sagt, es habe
höllisch wehgetan, aber nicht so sehr wie echte Piranhabisse. Trotzdem wollte ich
doch lieber erst mal mit den Piercings anfangen. Ich dachte an Stecker und/oder
Ringe im Ohr. Ein Ring im Bauchnabel wäre auch nicht schlecht, nur bin ich absolut
sicher, dass Herr Trockenbrodt davon nicht sehr begeistert wäre. Meine Mutter erst
recht nicht. »Du hast genug Silber am Körper, um einen Tisch für sechs Leute zu
decken«, würde sie sicher sagen. Und dann eine Kolumne darüber schreiben: Von
der Silbergabel zum Silbernabel.
»Okay, es ist also gut«, sagte ich zu Alina. »Aber wie gut?«
»Na ja, es ist ... gut-gut.« Alina beugte ihre Knie zum Demi-Plié.
»Mehr«, sagte ich.
»Mehr was?« Sie erhob sich auf die Zehenspitzen.
Ihr müsst wissen: Alina war nicht immer die Hellste. Manchmal frage ich mich
wirklich, was ich an ihr finde.
»Mehr Beschreibung«, sagte ich.
Alina streckte ihre Beine. »Ach so. Na ja, es ist ... sehr gut-gut.«
»Äußerst präzise. Du solltest Schriftstellerin werden.«
»Haha.«
Sie drehte ihre Beine zum Grand-Plié, richtete sich mittendrin jedoch auf und
warf mir einen ängstlichen Blick zu. »Sag mal, du quetschst mich doch nicht für deine
Mutter aus, oder?«
»Nee – diesmal schreib ich selbst«, nahm ich sie auf den Arm. »Für die
Schülerzeitung. Sex in the City School. Aber natürlich ändere ich deinen Namen.«
»Mich würden trotzdem alle erkennen. Ich meine, wie viele Schlampen, die
auch noch gut aussehen, gibt’s schon an unserer Schule?«
Wir mussten so lachen, dass ich überlegte, die Geschichte wirklich zu
schreiben.
»Wie auch immer«, sagte sie. »Ich wünschte nur, du hättest endlich Sex, statt
immer nur drüber zu reden.«
Sie hatte natürlich Recht. Learning by doing ist einfach unschlagbar.
»Bingo«, sagte ich. »Aber vielleicht kauf ich mir trotzdem noch ein Buch – nur
für den Notfall.«
Alina dachte einen Moment nach, dann sagte sie: »Du meinst einen
Ratgeber?«
»Vielleicht.«
»Also ... wenn du Hilfe brauchst ...«
Ich lachte. »Danke, ich kann lesen.«
»Aber ich kann dir sagen, ob die Beschreibungen stimmen.«
»Klar«, sagte ich. »Du könntest sie für mich beurteilen. Gut. Gut-gut. Sehr gutgut.«
Sie drohte mir mit dem Finger. »Pass auf, Renée.«
»Nein, ehrlich«, sagte ich. »Ich brauche keine Hilfe. Ob er gut ist oder nicht, das
krieg ich schon selbst raus. Ich werde es fühlen, wenn ich drin lese.«
»Fühlen?«
»Ja. Da unten.«
Sie sah nach unten, dann wieder hoch. »Wo unten?«
»Also wirklich«, sagte ich. »Wenn du nicht weißt, was da unten ist, solltest du
dir vielleicht auch einen Ratgeber zulegen.«
Wir bekamen noch einen Lachanfall. Tatsächlich lachte Alina so sehr, dass sie
überlegte, ob nicht sie den Artikel für die Schülerzeitung schreiben sollte.
Die Wahrheit ist: Als ich mit Alina sprach, hatte ich bereits einen Sexratgeber.
Sammy. Ich wollte es ihr bloß nicht gleich sagen. Fragt mich nicht, warum. Vielleicht
weil ich damals dachte, sie muss ja nicht immer alles über mich wissen.
Sammy hatte ich mir für meine Reise nach New York gekauft, wo so ein
Ratgeber bestimmt nützlich sein würde. Hoffentlich! Ich zählte schon die Tage, die
Stunden, die Minuten und die Sekunden bis zur Abreise. Als Philipp mich tief unten
im Schwimmbecken küsste, trennten mich genau sechs Tage, vier Stunden und
zwölf Minuten von Manhattan und der Freiheit. In Anbetracht meiner gerade
aufblühenden Romanze hatte das natürlich auch was Tragisches. Nichtsdestotrotz
war ich fest davon überzeugt, dass das wilde Leben in New York meine Sehnsucht
nach Philipp bestimmt ein Weilchen ertragbar machen würde.
In New York wollte ich meine Exbabysitterin Nelly besuchen. Vor zwei Jahren
hatte sie ihren Abschluss an der Twain gemacht und ein Stipendium an der
Columbia-Universität bekommen. Dort studiert sie jetzt Physik. In diesem Jahr wollte
sie nicht wie sonst ihre Ferien in Berlin verbringen, sondern das Appartement ihres
Onkels auf Manhattans Upper West Side hüten. Und dabei würde ich ihr helfen.
Nelly war die große Schwester, die ich mir immer gewünscht hatte. Selbst als
ich keinen Babysitter mehr brauchte, waren wir in Kontakt geblieben. Ein bisschen ist
sie mein Vorbild – obwohl ich keinerlei Absicht habe, wie sie Kosmologin zu werden.
Ich bin wirklich nicht gerade auf den Kopf gefallen, aber wenn Nelly von Roten
Riesen und Blauer Spektralverschiebung redet, versuche ich das gar nicht erst zu
begreifen, sondern genieße einfach nur den Klang der Worte.
Was ich an Nelly so mag, ist, dass sie einen immer wieder zum Staunen bringt.
Das war schon so, als ich klein war. Eines Abends zum Beispiel erzählte sie mir beim
Zubettbringen, dass sie jetzt ihre Trigonometrie-Hausaufgaben machen würde. Ich
hatte keine Ahnung, was Trigonometrie war, aber es klang nicht sehr aufregend, also
ging ich freiwillig ins Bett.
Zwei Stunden später wurde ich wach und ging Nelly suchen. Ich fand sie mit
Max, einem Jungen aus der Highschool, der Länge nach auf unserem Sofa.
Mucksmäuschenstill sah ich eine Weile zu, wie die zwei Trigonometrie machten. Ich
glaube, damals habe ich zum ersten Mal begriffen, dass es Sachen im Leben gibt,
die einfach interessanter sind, als zu schlafen.
Nelly in New York zu besuchen war meine Idee gewesen. Ulf Krauss, der
Verleger meiner Mutter, wollte sie auf eine Lesereise schicken, aber sie hatte
abgelehnt – »wegen Renée«, wie sie sagte.
Also, die Sache stellte ich natürlich sofort klar!
»Um mich mach dir keine Sorgen«, sagte ich zu ihr. »Es wird dir gut tun, mal
rauszukommen.«
»Mir gut tun?«
»Ach Mama, bitte! Du weißt genau, was ich meine!«
Erstaunlicherweise gab meine Mutter nicht nur für die Lesereise grünes Licht,
sondern auch für meinen New-York-Besuch bei Nelly. (Vermutlich hatte sie Nelly nie
auf unserem Sofa beim Trigonometriemachen erwischt.)
Kaum hatte meine Mutter sich entschieden, nahmen ihre amerikanischen
Freundinnen, Becky Bernstein und Nellys Mutter, Lucy Bloom-Edelmeister, sie zu
einem Einkaufsbummel mit. Zur Lesereise wollten sie meine Mutter endlich von
ihrem Waldorflehrerin-Look befreien, den sie in den letzten Monaten angenommen
hatte. Lucy hat einen wahnsinnig guten Geschmack, und Becky, deren zweiter Name
»Schnäppchen« lautet, weiß immer, wo’s die besten Klamotten zu den günstigsten
Preisen gibt. Sie versuchten ihr Bestes, den Modesinn meiner Mutter wieder zu
erwecken, aber leider ohne großen Erfolg. Immerhin schafften sie es, sie mir eine
Zeit lang vom Hals zu halten – Luft!
New York! Vier ganze Wochen lang würde ich das ewige Tap-Tap-Tappeti-Tap
meiner Mutter auf den Computertasten nicht ertragen müssen. Ihre schlechte Laune,
ihre wallenden Capes, ihre blumengemusterten Hosen und vor allem ihren
zerschlissenen Frotteebademantel, den sie tagein, tagaus trug. Igitt. Vielleicht würde
sie ja sogar so vernünftig sein, ihn in meiner Abwesenheit wegzuwerfen.
»Was stört dich an meinem Bademantel?«, wollte meine Mutter wissen. »Beim
Arbeiten will ich es bequem haben.«
»Dann zieh einen Jogginganzug an oder so was«, sagte ich. »Ich meine, ich
komme aus der Schule und du läufst immer noch im Bademantel rum. Ich kann
niemanden mit nach Hause bringen. Die denken doch, du wärst gerade erst
aufgestanden.«
»Vielleicht bin ich das ja auch«, sagte sie. Ihre Augen forderten mich zum
Kampf heraus.
»Aber muss das jeder wissen? Die Nachbarn? Der Briefträger? Meine
Freunde? Das ist peinlich!«
»Sei nicht albern«, sagte sie und riss einen Mandelmüsliriegel auf. »Und
überhaupt, es ist mein Körper. Ich schlafe so lange wie nötig und ziehe an, was ich
will. End of story.«
Langsam wurde meine Mutter sauer. Gut, dachte ich mir, jetzt piesacke ich sie
noch ein bisschen. Aber dann entdeckte ich dieses gewisse Glitzern in ihren Augen,
diesen Das-könnte-eine-witzige-Glosse-abgeben-Blick. Ich sah schon, wie es in
ihrem Gehirn tickte und sie sich im Geist Notizen machte. Das Frottee-Verbot war
vielleicht schon der Titel für ihre nächste Kolumne. Jetzt reichte es mir. Bevor sie
noch mehr aus mir quetschen konnte, lief ich aus der Küche. Ich meine, wer will sich
schon die ganze Zeit Sorgen darüber machen, ob das, was man zufällig beim
Abendessen sagt, zum Frühstück in der Zeitung steht? Oder?
Okay, ich gebe es zu, es gab mal eine Zeit, da machte es mir nichts aus, dass
meine Mutter über mich schrieb. Sicher, ein paar der Geschichten waren peinlich,
aber ich war stolz darauf, im Mittelpunkt zu stehen. Doch wenn es jetzt etwas gab,
was ich auf gar keinen Fall wollte, dann, dass Dr. Mom über mein Sexleben schrieb.
Das würde mich umbringen! Tausendfach! Es ist schlimm genug, dass die ganze
Welt weiß, wann ich meinen ersten Zahn verloren, meine Tage das erste Mal
bekommen und meinen ersten Pickel ausgedrückt habe. Aber niemand wird je
erfahren, wann ich es das erste Mal mache. Hun-dert-pro-zen-tig nicht!
»Sei nicht albern, Renée«, sagte meine Mutter vor ein paar Wochen zu mir.
»Warum sollte ich darüber schreiben? Glaubst du etwa, ich kenne meine Grenzen
nicht? Das ist doch deine Privatangelegenheit.«
»Aha. Und meine Pickel? Und meine Tage? Sind die etwa nicht privat? Warum
muss jeder wissen, wann ich meinen Eisprung habe?«
»Ich wusste nicht, dass dich das so stört.«
»Tut es aber.«
»Na, dann werde ich vorsichtiger sein. Es tut mir Leid.« Doch dann konnte sie
kaum ein Lächeln unterdrücken und fügte hinzu: »Aber du musst zugeben: Die
Geschichten waren gut.«
»Kapierst du’s denn nicht?«, rief ich. »Das ist das Problem mit dir. Du denkst,
irgendwas könnte eine Wahnsinnsstory abgeben, und plötzlich gehört es dir. Habt ihr
Schriftsteller überhaupt keine Skrupel? Hab ich gar keine Rechte?«
Wenn man eine skrupellose Mutter hat, muss man höllisch aufpassen. Zum
Beispiel auf etwas wie Sammy. Ich konnte das Buch nicht einfach offen herumliegen
lassen. Wenn doch, würde ich in der nächsten Veronika unter Garantie eine Kolumne
mit dem Titel Rosetti berät Renée lesen. Um Sammy zu kaufen, ging ich sogar extra
in eine anonyme Riesenbuchhandlung. Dort besteht weniger Gefahr,
Aufmerksamkeit zu erregen, oder von einer der Buchhändlerinnen erkannt zu
werden. Ich sag’s nicht gern, aber vor ein paar Jahren habe ich mich zusammen mit
Dr. Mom fürs Cover von Die Mamaprotokolle fotografieren lassen. Und natürlich
wurde genau dies Buch zum Bestseller. 247.652 Exemplare sind allein von der
Hardcoverausgabe verkauft. Was bedeutet: ein Bild von mir auf dem Titel von
247.652 Büchern! Und dann gibt’s noch die Taschenbuchausgabe. Und
Übersetzungen in elf Sprachen – acht davon mit unserem Foto! Grrr!
»Damals warst du elf«, sagte meine Mutter, als wir neulich darüber sprachen,
»und jetzt bist du fünfzehn. Kein Mensch erkennt dich mehr.«
»Buchhändlerinnen schon – die haben alle Adleraugen!«
Kaum war ich von Alina-es-ist-sehr-gut-gut wieder zu Hause, nahm ich mir Wie man
richtig küsst vor. Ich schlug das Buch auf und landete im Kapitel In der Hölle der
Hormone.
Jeder weiß, las ich, dass heranwachsende Jungs nur eins im Sinn haben. Vom
Testosteron gebeutelt, denken, atmen und träumen sie nur von Sex. Und die
Mädchen? Von ihren Hormonen, die verrückt vor Verlangen auf der Suche nach den
Y-Chromosomen dieser Welt sind, hört man wenig. Was nicht bedeutet, dass
Mädchen kein Sexualleben haben. Und mit ein wenig Glück wirst auch du deins
entdecken – wenn du es nicht schon getan hast.
Ich hatte!
Natürlich wusste ich auch eine ganze Menge von den theoretischen Sachen,
über die Sammy schreibt, von Hormonen und Empfängnisverhütung und wo was im
Körper steckt. Nicht umsonst habe ich zwei intensive Sexualkundekurse über mich
ergehen lassen. Das erste Mal in der siebten Klasse, als wir in Bio so nützliche Dinge
lernten wie ein Kondom auszupacken und es über eine Banane zu ziehen. Frau
Grubmann, unsere Biologielehrerin, zeigte uns allerdings nie solche Bilder wie die,
die es in Sammy gibt.
Ich blätterte durch Wie man richtig küsst, bis ich zu den Abbildungen des
männlichen Glieds kam. Zweiundzwanzig Illustrationen gab es da – ich zählte durch.
Elf hängend, elf stehend. Aufmerksam studierte ich, wie einige in schlaffem Zustand
nach rechts oder links baumelten, wie verschrumpelt sie aussahen. Im erigierten
Zustand bogen sich einige nach oben, manche zeigten sogar nach unten, andere
schossen wie Riesenchampignons nach vorn oder standen kerzengerade wie dicker
Beelitzer Spargel.
Ich legte das Buch wieder hin und versuchte mich daran zu erinnern, wie
Timmy Haases Steifer ausgesehen hatte. Aber ich wusste es nicht mehr. Jedenfalls
nicht so genau.
Timmy war in meinem zweiten Sexualkundekurs. Dieser Kurs fand immer mal
wieder auf dem Fußboden von Alinas Wohnzimmer statt. Wenn ihre Mutter ausging,
durfte Alina Freunde (sprich: Jungs) einladen. Manchmal kam ich auch. Am Anfang
schauten wir immer Videos und eine Stunde später lag ich knutschend mit meinem
Typen auf dem Teppich, während Alina und ihr Typ – meistens Diego – sich in ihr
Zimmer zurückzogen.
Eines Abends machten Timmy und ich mal wieder so rum. Bevor ich wusste,
wie mir geschah, hatte er mir seinen Steifen in die Hand bugsiert. Es war der erste,
den ich jemals anfasste. Den von Mischa Hacker hab ich ein-, zweimal durch seine
Unterhose angefasst. Okay, dreimal. Aber das hier war etwas anderes. Der war
richtig in meiner Hand.
Interessiert hielt ich ihn fest.
Aber dann wusste ich nicht, was ich tun sollte. Allgemein natürlich schon, aber
nicht im Detail. Dazu hatte Frau Grubmann uns nichts beigebracht. Aus der Schule
wusste ich alles über Kondome und Bananen, aber über einen lebendigen,
pulsierenden Penis? In meiner Hand? Wie viel Druck sollte ich ausüben? Musste
man das ganze Ding reiben oder nur eine bestimmte Stelle? Ich hatte eine
Lieblingsstelle, vielleicht er auch?
Timmy merkte meine Unerfahrenheit jedoch nicht mal. Er kam fast sofort. Und
dann wurde er innerhalb von Sekunden – die Geschwindigkeit war verblüffend –
schlapp und weich. In meiner Hand! Klebrig vom Sperma erinnerte mich das an die
großen Glibberquallen, in denen Fritzi und ich immer rumstocherten, wenn sie in
Cornwall ans Ufer gespült wurden. Matschig und wabbelig.
Nach dem Erlebnis mit Timmy beschloss ich, mir einen Sex-Ratgeber
zuzulegen. Ich wollte, musste mich genauestens informieren.
Ich klappte Sammy zu und legte mich auf mein Bett. Wie wohl Philipps Steifer
aussah? Sich anfühlte? Vielleicht konnte er mich nach seinem Sprachkurs in
Barcelona noch ein paar Tage in New York besuchen. Ich würde in der
Internationalen Ankunftshalle des Kennedy Airport auf ihn warten, und ihn unter
Tausenden an seiner neonorangefarbenen Weste erkennen. Dann würden wir den
Flughafenbus in die Stadt nehmen. Den ganzen Weg nach Manhattan würden wir
uns in die Augen schauen – aber uns nicht küssen. Nicht in der Öffentlichkeit. Nicht
in einem Bus. Nicht in New York. Für so was sind die Amerikaner viel zu prüde.
Ich verlagerte mein Gewicht und Sammy fiel zu Boden. Aber das nahm ich nur
noch halb wahr. Ich legte den Kopf auf das Kissen und einen Finger auf meine
Lieblingsstelle ...
Sex in einem Tagtraum ist viel bequemer als das Rumgeknutsche bei Alina auf dem
Fußboden. Vor allem wegen des kratzigen Wohnzimmerteppichs. Davon abgesehen
macht mir Knutschen echt Spaß, auch wenn ich eins zugeben muss: In meiner
Fantasie hat die Liebe noch mehr Zartheit, Raffinesse. Und Erotik. Im wirklichen
Leben ist nicht immer alles so perfekt, wie man es gern hätte. Zum Beispiel habe ich
jedes Mal Angst, dass Alinas Mutter plötzlich auftaucht. Das wäre so peinlich – ich
würde sterben! Oder ich mach mir einen Kopf darum, meine Zunge beim Küssen zu
viel (oder zu wenig) zu bewegen. Oder der Typ drückt mich oder tut mir sonst weh,
wie bei dem einen Mal mit Timmy. Sein mit Nieten gespickter Gürtel lag auf dem
Boden. Als er es irgendwie schaffte, sich auf mich zu legen, kippte ich direkt darauf.
Das fühlte sich an, als würde meine Wirbelsäule an zwanzig Stellen gleichzeitig
durchbohrt. Oder wie damals bei der Geschichte mit Mischa Hacker und dem
Kapuzen-Sweatshirt. Mischa wollte mir das Sweatshirt über den Kopf ziehen und
meine Arme waren schon draußen. Aber dann schnürte er mir mit der Kapuzenkordel
fast die Luft ab. Wir versuchten den Knoten aufzukriegen, schafften es nicht und
machten einfach so weiter, aber das Sweatshirt hing wie ein Lappen um meinen Hals
und war ständig im Weg. Schließlich hörten wir auf: Irgendwie war uns die Lust
vergangen. Zu Hause musste ich die Kordel mit einer Schere aufschneiden. Mist,
dachte ich, warum war mir das vorhin nicht eingefallen? Aber wenn jemand an
deinem Busen angedockt ist und man schon ganz kribbelig zwischen den Beinen ist,
fällt das praktische Denken wohl flach.
Was ich sagen will, ist: In meiner Fantasie sind meine Partner immer perfekt.
Und ich auch. Ich bin irgendwie so selbstbewusst und ich bestimme die Spielregeln.
Wenn mir etwas gefällt – zum Beispiel Flirten –, tue ich es. Mag ich etwas nicht –
zum Beispiel in die Duftwolke einer muffeligen Achselhöhle zu geraten –, findet es
nicht statt. Regie, Schnitt, Kostüme und Ausstattung: Alles habe ich in der Hand. Ich
bin der Star und – natürlich – die Drehbuchautorin. In einer Situation, in der der Sex
absolut toll ist und eigentlich nicht besser werden kann, ich es aber trotzdem noch
toller haben will, führt Drehbuchautorin Renée einfach einen neuen Darsteller ein,
zum Beispiel DJ Joey McDee aus Brooklyn, New York. Er hat lange, rastlose Finger,
die buchstäblich über sein Mischpult tanzen. Er trägt ein schwarzes ärmelloses TShirt, fünf winzige Silberringe in jedem Ohr und hautenge schwarze Lederhosen.
Absolut cool gehe ich zu ihm hin, gebe ihm die nagelneue Kings-of-Prussia-CD und
bitte ihn, das Stück Hugs and Küsse aufzulegen. Wie bei fast allen Kings-of-PrussiaSongs ist der englische Text durch ein paar deutsche Wörter aufgepeppt. Joey
schaut erst die CD an, dann schaut er mich an. »Was bitte sind Küsse?«, fragt er.
Und ich zeige es ihm. Mehrmals. Mit Zunge. Und er nimmt mich fest in die Arme –
hugs kennt er natürlich schon.
Ich versinke in Joeys grünen Augen. Augen wie Laserstrahlen, die meine
Kleider wegbrennen, Schicht für Schicht. Zuerst meine Jacke, dann meine Bluse,
dann meinen BH. Augen, die mich entkleiden wie sanfte Fingerspitzen ...
Kein Wunder, dass ich so scharf auf New York war. Tausende von Männern
warteten sehnsüchtig auf meine Ankunft. Aber davor hatte ich noch ein echtes,
wirkliches Date mit Philipp. Zusammen mit Alina, Diego, Laura Rummler, Jakob
Kohlmeier und Philip Eins wollten wir ins Kino gehen.
Meiner Mutter erzählte ich natürlich nichts davon. Ich hatte mir angewöhnt,
Verabredungen vor ihr zu verheimlichen. Ich erzählte ihr, dass ich mit Alina
weggehen würde und dass es spät werden könnte. Wenn sie gewusst hätte! Was für
eine Kolumne hätte sie dann wieder geschrieben? Vielleicht: Liebe in den Zeiten von
Caffè Latte.
Nach dem Kino gingen wir ins Starbucks. Eingequetscht saß ich zwischen Philip Eins
und Philipp Zwei. Uns gegenüber unterhielten sich Alina und Laura aufgeregt über
das Konzert der Kings of Prussia Ende Juli. Das war wirklich der einzige
Wermutstropfen an meiner New-York-Reise: Ich würde The Great Gatzki in der
Waldbühne verpassen.
»Wie können die nur mitten im Sommer ein Konzert geben, wenn kein Schwein
in Berlin ist?«, sagte ich. »Das ist doch total beknackt.«
»Also, ich bin da«, sagte Alina und zuckte mit den Schultern.
»Zu blöd, dass sie die Concorde aus dem Verkehr gezogen haben«, sagte ich.
»Sonst würde ich übers Wochenende herjetten. Aber das ist ...« Meine Stimme
stockte. Unter dem Tisch rechts von mir presste Philipp Zwei seinen Schenkel gegen
meinen. Und Philip Eins, der links von mir saß, tat das Gleiche. Ich glaube nicht,
dass die anderen am Tisch etwas davon mitbekamen. Genauso wenig, wie Philip
Eins bemerkte, was Philipp Zwei tat. Und umgekehrt. Egal: Ihre Ahnungslosigkeit
machte die Sache für mich natürlich besonders prickelnd. Erst als ich merkte, wie ich
rot wurde und immer heftiger atmen musste, wurde es mir etwas unheimlich. Würde
nicht doch jemand merken, was da unter der Tischplatte abging? Vielleicht sollte ich
lieber vorsichtig sein und den Spaß beenden? Doch dann, plötzlich, merkte ich, wie
Philipp Zwei die Hand auf meinen Oberschenkel legte, unter meinem Rock. Warm
war sie, diese Hand, schön fühlte sie sich an. Als ob sie dort hingehörte. Jetzt konnte
und wollte ich das Vergnügen nicht beenden, rührte mich nicht, konnte mich nicht
mehr bewegen. Ich wollte genau so sitzen bleiben, für immer und ewig,
eingequetscht zwischen Philip Eins und Philipp Zwei, die warme Hand von Philipp
Zwei auf meinem Schenkel und einen Caffè Latte vor mir.
Aber dann spürte ich links die Hand von Philip Eins auf meinem anderen
Schenkel. Nur war seine Hand kalt und rau. Philip Eins ist Mitglied in einem
Ruderclub am Wannsee und seine Handflächen sind schwielig und voller Blasen.
Unnötig zu sagen, dass die Hand von Philip Eins den Zauber brach. Ich
verlagerte mein Gewicht. Mit einem Ruck setzten sich beide Philip(p)s wieder gerade
hin.
Ich stand auf, griff meine Tasche und räusperte mich. »Bin gleich wieder da«,
sagte ich.
Alina sah mich an, sie hatte nichts bemerkt. Ich schon. Auf dem Weg zum
Damenklo fühlte ich die Feuchtigkeit zwischen meinen Beinen. War ich froh, dass
sich bei Mädchen die Erregung nicht gleich so unübersehbar zeigt wie bei Jungs.
Stellt euch mal vor, eure Brüste würden plötzlich steif, wenn ihr erregt seid. Würden
verrückt spielen und zehn Zentimeter emporwachsen. Bei dem Gedanken musste ich
kichern.
Unterwäschedesigner müssten dann völlig neue, extrem dehnbare BHs
entwerfen. Gipfelstürmer wäre ein witziger Name dafür. Ich musste plötzlich an Fritzi
denken. Wenn sie mit mir im Café gewesen wäre, hätte sie bestimmt nicht nur
mitgekriegt, was unter dem Tisch vor sich ging, sie wäre auch mit mir aufs Klo
gegangen und hätte jedes Detail aus mir rausgequetscht. Und dann hätten wir
Namen für die elastischen BHs erfunden. Erekta-Bra, Höhenflieger, Busenständer
(Kurz: BS). Wir hätten uns halb totgelacht. Und wären sehr erleichtert gewesen, dass
niemand mitbekam, vor allem keine Jungs, was in der Hölle der Hormone mit uns
geschah.
Als ich zu unserem Tisch zurückkehrte, war bereits alles im Aufbruch. Philipp musste
gehen, weil er seine Großeltern auf dem Land besuchen wollte und deshalb früh
aufstehen musste. Das war hart: So bald schon verließ er Berlin?
»Wann kommst du wieder?«, fragte ich. Hoffentlich Freitag oder wenigstens
Samstag.
»Sonntagabend.«
Eine Welle der Enttäuschung breitete sich in mir aus. Sonntagabend? Dann
würde ich ihn erst nach New York wieder sehen – bis dahin war es eine Ewigkeit!
Philipp muss meine Enttäuschung gespürt haben. Vielleicht stand sie auch in
fetten Druckbuchstaben auf meiner Stirn. Auf jeden Fall sagte er: »Ich bring dich
noch zum Bus.«
Meine Laune besserte sich. Vielleicht würden wir uns ja zum Abschied küssen?
Aber als wir aus dem Café kamen, sahen wir meinen Bus schon um die Ecke
biegen und zur Haltestelle an der nächsten Kreuzung fahren. Philipp griff nach
meiner Hand. Ich hätte alles dafür gegeben, den Bus zu verpassen, um mit ihm auf
den nächsten warten zu können. Aber er flog mit mir durch die warme Berliner Nacht.
Keine Sekunde zu früh, atemlos, den ungeduldigen Blick des Busfahrers im Nacken,
verabschiedeten wir uns. Philipps Kuss war ungeschickt, zungenlos, aber lang
genug, um den Kaffee auf seinen Lippen zu schmecken.
»Grüß New York von mir«, sagte er.
»Ich mail dir«, sagte ich.
Ich sauste zum Oberdeck. Als der Bus mit einem Ruck losfuhr, stürzte ich zum
Fenster am Busende, um noch einmal Philipp sehen zu können. Aber durch die
Spiegelung in den Scheiben konnte ich kaum etwas erkennen. Verzweifelt suchten
meine Augen nach der orangefarbenen Weste, diesem einen von Billionen
Farbflecken inmitten der leuchtenden Berliner Nacht.
Aber Philipp war verschwunden.
Ich spürte eine Hand auf der Schulter und drehte mich um.
»Überraschung«, sagte Philipp und strahlte mich an.
Ich bekam den Mund nicht zu, was praktisch war, da er mich dann küsste.
Diesmal war es ein langer Kuss. Aber leider irgendwie schlabberig. Ziemlich
enttäuschend. Philipps Zunge war überall, fuhr suchend in meinem Mund herum.
Und seine Lippen saugten sich so fest an meine, dass es fast wehtat. Ich versuchte
seine Zunge mit meiner zu bändigen, aber er kapierte nicht, was ich wollte. Und um
ehrlich zu sein: Obwohl es mir schmeichelte, dass er mich küssen wollte, war mir
schon vorher beim Kuss vor dem Busfahrer ein bisschen unwohl gewesen. Hier im
Bus, vor all den Leuten, war es mir nun richtig peinlich.
Vorsichtig löste ich mich von ihm. Hab ich was falsch gemacht?, fragten seine
Augen. Er tat mir Leid. Schließlich war es nicht seine Schuld, dass ich so genaue
Vorstellungen vom Küssen habe.
»Deine Lippen schmecken gut«, sagte ich, um sein Selbstbewusstsein wieder
aufzupäppeln. »Wie Caffè Latte.«
Philipp lachte erleichtert. Und dann nahm er meine Hand. Und dann schauten
wir uns an. Er sah so gut aus. Einfach umwerfend. Wen kümmerte es schon, dass
seine Zunge noch ein bisschen untrainiert war?
Am Adenauer Platz stiegen wir aus. Ich überlegte, ob er mich wohl noch einmal
küssen würde, bevor er hinunter zur U-Bahn ging. Ich hätte nichts dagegen gehabt.
Vielleicht klappte es ja diesmal besser.
»Danke fürs Begleiten«, sagte ich, als wir vor dem Eingang zur U-Bahn
standen.
»Ist doch klar«, sagte er.
Unsere Augen saugten sich aneinander fest. Zwischen uns und einem neuen
Kuss fehlten nur noch ein paar Zentimeter.
»Habta mal ’n bisschen Kleingeld?«, lallte es da hinter uns.
Es war ein Mann im Wintermantel. Mitten im Sommer. Sicher ein Obdachloser.
Philipp hatte ein paar Cent in der Tasche. Er gab sie dem Mann. Der nickte und ging
dann die Stufen zur U-Bahn hinunter. Sein ranziger Geruch hing noch in der Luft.
Nicht sehr romantisch.
»Also«, sagte Philipp und rümpfte die Nase, »wir sehen uns.«
»Ich schreib dir«, versprach ich.
Am nächsten Morgen beim Frühstück bemerkte ich, wie meine Mutter mich prüfend
ansah. Ich wurde rot. Ahnte sie etwa, was am Abend zuvor passiert war? Mit Philipp?
Wie auch immer, ich schwor mir hoch und heilig: Wenn die Zeit kommt und ich es tun
würde, brauchte ich einen Sicherheitsabstand von mindestens fünfhundert
Kilometern zwischen ihr und mir. Wenn nicht mehr!
Das Klingeln des Telefons zerriss meine Gedanken.
Meine Mutter ging in ihrem Arbeitszimmer ans Telefon. Ich schlürfte weiter
meinen Tee, aber der Ton ihrer Stimme ließ mich aufhorchen. Sie schien besorgt.
Offensichtlich war irgendetwas nicht in Ordnung. Ich stand auf. Mein Herz klopfte so
schnell, dass es schneller an der Zimmertür war als ich.
»Lucy, beruhige dich«, hörte ich sie sagen. »Ich bin sicher, alles wird gut ... Halt
uns auf dem Laufenden.«
Lucy? Nellys Mutter? Was mochte passiert sein? Vielleicht ja nichts. So tough
Lucy auftrat: Passierte mal was, reagierte sie gerne leicht hysterisch.
Meine Mutter legte auf und drehte sich zu mir. »Nelly hatte einen Unfall.«
»Einen Unfall?«, stieß ich hervor und hielt mich an einem Regal fest.
»Nein, nein. Es ist nichts Schlimmes, Liebling.« Meine Mutter legte mir
beruhigend die Hand auf die Schulter und drückte sie. »Nelly ist in Ordnung. Es ist
nur das Bein.«
»Das Bein?«
»Sie hat sich das Bein gebrochen. Beim Fußballspielen. Sie liegt im
Krankenhaus. In New York.«
»Im Krankenhaus?« Nelly war unverwundbar. Wie konnte sie im Krankenhaus
liegen?
»Nur für ein, zwei Tage, Schatz«, sagte meine Mutter beruhigend. »Bis alles
durchgecheckt ist. Aber sie glauben nicht, dass es irgendwelche Komplikationen
gibt.«
»Gott sei Dank«, sagte ich erleichtert.
Wir setzten uns wieder an den Tisch. Ich nahm einen Schluck Tee. Meine
Mutter nahm einen Schluck Kaffee. Ein paar Sekunden vergingen. Und dann –
endlich – begriff ich. Ich sah meine Mutter an. Sie wich meinem Blick aus.
»Und?«, fragte ich.
»Nelly kann nicht zu ihrem Onkel. Es gibt dort keinen Fahrstuhl. Und ihr Zimmer
im Studentenwohnheim ist schon belegt.«
»Was bedeutet das im Klartext?«, fragte ich. Ich ahnte Schlimmes.
Meine Mutter holte tief Luft. »Ich denke, das bedeutet«, sagte sie, die Stimme
ganz leise, »dass deine Reise nach New York leider ausfällt.«
Zweites Kapitel
Nein!
MEINE MUTTER IST eine große Befürworterin des Wortes ja. In ihrem ersten Buch Mein
Leben im Kinderzimmer – dem Versuch, einen ernsthaften Erziehungsratgeber zu
schreiben, bevor sie als Familienhumoristin berühmt wurde – heißt es: Warum sich
ärgern über Kinderärger? Es ist doch angenehmer, wenn Ihr Sohn vor Freude
Luftsprünge macht als vor Wut an die Decke springt. Eine warmherzige Umarmung
macht bestimmt sowohl Ihnen als auch Ihrer kleinen Tochter mehr Spaß als ein
hitziger Streit. Das heißt nicht, dass Sie Ihren Kindern alles erlauben sollen: Aber
gehen Sie unnötigen Konfrontationen aus dem Weg. Wenn Sie nicht ›ja‹ sagen
können, dann vermeiden Sie trotzdem ein definitives ›nein‹. Versuchen Sie das, was
Sie wollen, positiv auszudrücken. Sie glauben vielleicht, ›nein‹ zu sagen sei leichter
als lange Erklärungen. Aber in den meisten Fällen ist genau das der falsche Weg.
Danke, Dr. Mom. Dank dir hab ich jahrelang in der irrigen Annahme gelebt,
dass ich immer alles bekomme, was ich will. Mann, war ich blöd!
»Mama«, habe ich beispielsweise gesagt, »kann ich zu Laura gehen?«
Auf so was hätten die meisten Mütter geantwortet: »Bist du taub? Ich hab dir
doch gesagt, dass du keinen Schritt aus dem Haus machst, bevor die Schularbeiten
nicht erledigt sind!«
Meine Mutter war aber nicht wie andere Mütter. »Aber ja, natürlich, mein
Schatz«, hat sie geantwortet. »Natürlich kannst du zu Laura. Sobald du mit den
Hausaufgaben fertig bist.«
»Ja? Ich darf? Super!«, jubelte ich, stürzte mich auf meine Hausaufgaben und
latschte dann später brav zu meiner Freundin. »Mama«, bettelte ich im
Spielzeugladen. »Kann ich das Puppenhaus da drüben haben? Bitte Mama! Bitte,
bitte!«
Die meisten Mütter hätten gesagt: »Nein, kommt nicht in Frage! Dieser Mist
kostet über hundert Euro!«
Aber meine Mutter pflegte in so einem Fall zu sagen: »Ein Puppenhaus? Na ja,
ich werd’s mir überlegen.«
Und ich wartete glücklich darauf, dass sie es sich überlegte, denn sie hatte ja
nicht nein gesagt, oder?
Aber schließlich kam ich hinter ihre Tricks. Und damit war die Erziehung nicht
mehr ganz so einfach für Dr. Mom. Sorgenfalten erschienen auf ihrer Stirn und
Steine bildeten sich in ihrer Galle. Schwarze Flecken tanzten vor ihren von Migräne
geplagten Augen. Dennoch strengte sie sich an, das N-Wort nicht zu benutzen.
Kompromiss war ihr neues Zauberwort. Auf den Schock, den ihr jüngstes,
unqualifiziertes, unverhältnismäßiges, unerbittliches Nein bei mir auslöste, war ich
deshalb nicht vorbereitet.
»Nein, Renée! Nein! Auf gar keinen Fall! Nein!«, schleuderte sie mir entgegen.
»Aber ...«
»Eine Fünfzehnjährige? Allein in New York? Niemals! Wir sind hier in keinem
Hollywoodfilm! Das ist das wirkliche Leben.«
Wir waren in der Küche. Es war sechs Uhr abends, einige Stunden nach Lucys
Anruf. Meine Mutter, immer noch im Bademantel, bereitete das Abendbrot vor.
»Kannst du es dir nicht doch noch einmal überlegen?«, fragte ich.
Meine Mutter putzte grüne Bohnen. Sie legte das Messer auf den Tisch. »Da
gibt es nichts zu überlegen. New York ist ein gefährliches Pflaster. Vor allem für
Nicht-New-Yorker. Und erst recht für ein so junges Mädchen wie dich. Noch dazu
Ausländerin. Keine Diskussion mehr.« Sie nahm ihr Messer, aber bevor sie mit den
Bohnen weitermachte, setzte sie noch hinzu: »End of story.«
Meine Mutter sagte ständig end of story. Das hatte sie von Lucy und Becky
aufgeschnappt. Es klang so seltsam, wenn sie es sagte, und jetzt, in dieser Situation,
brachte es mich richtig auf die Palme. Vielleicht waren wir wirklich am Ende
angelangt. Und doch wollte ich mich nicht so leicht geschlagen geben. Ich stand da
und überlegte meinen nächsten Schritt.
Den ganzen Nachmittag hatte ich über andere Möglichkeiten nachgedacht.
Viele waren es nicht. Plan A (Renée allein in New York) konnte nicht durchgeführt
werden. Also musste Plan B in Kraft treten.
Ich sah meine Mutter an. Bestimmt hatte sie noch einen Trumpf im Ärmel. Ich
legte die Schalter um. All systems go!
»Du hast wahrscheinlich wirklich Recht«, sagte ich, ging hinüber zur
Besteckschublade und holte ein Messer heraus. »New York ist nicht der richtige Ort
für mich. Allein.« Ich setzte mich an den Tisch und nahm eine grüne Bohne. »Es ist
ja eine gefährliche Stadt.« Ich schnitt die Bohnenenden ab.
»Danke für die Hilfe, Schatz«, sagte meine Mutter. »Aber die Antwort auf deine
nächste Frage ist auch nein.«
»Wovon sprichst du?«
»Nein«, wiederholte sie mit etwas mehr Nachdruck.
»Nein was?« Sie konnte unmöglich wissen, was ich vorhatte.
»Nein, du kannst nicht allein zu Hause bleiben, während ich auf Lesereise
gehe«, sagte sie.
Okay, meine Mutter hat ihren Doktor ja nicht geschenkt bekommen, sie ist alles
andere als blöd. Aber trotzdem: Konnte sie jetzt auch noch Gedanken lesen? Wusste
sie, dass Philipp am Sonntagabend zurückkommen und erst am Donnerstag nach
Spanien fahren würde? Es war schlimm, dass ich mir New York abschminken musste
– aber vier Tage allein mit Philipp, während meine Mutter irgendwo in der Pampa
war, wären eine echte Alternative gewesen.
»Warum nicht?«, wollte ich wissen.
»Da könnte ja was-weiß-ich passieren.«
Yep. Sie konnte Gedanken lesen.
»Du hast kein Vertrauen zu mir!«, sagte ich.
»Darum geht’s nicht!«
»Worum denn?«
Meine Mutter stand auf, ging zum Spülbecken und drehte den Wasserhahn an.
Sie wusch die Bohnen im kalten Wasser und wandte mir den Rücken zu. Ihre
Stimme war betont heiter.
»Ich hab mit Fritzi und Gisela gesprochen. Beide würden sich sehr freuen,
wenn du mit nach Cornwall kämst.«
Ich wusste doch, dass sie mir mit irgendeinem Schwachsinn kommen würde.
»Ich will aber nicht!«, schrie ich. »Wie konntest du sie anrufen, ohne mich zu
fragen?«
Meine Mutter sah mich an. »Fritzi vermisst dich, Schatz.«
»Ist mir scheißegal!« Ich stand auf.
»Du hast ihr Cottage doch immer so gemocht«, sagte meine Mutter leise.
Ich ging aus der Küche. Ein Klumpen aus Tränen saß in meinem Hals. Ich
versuchte ihn zu schlucken, aber er saß fest. Ich ließ mich aufs Bett fallen und
vergrub den Kopf unter dem Kissen.
Etwas später, als der Klumpen aus Tränen so klein geworden war, dass ich ihn
endlich, ohne loszuheulen, schlucken konnte, legte ich die Kings of Prussia auf. So
laut, dass meiner Mutter die Ohren wehtaten, aber mein Trommelfell nicht platzte.
Die Kings of Prussia sind schlicht die beste Band der Welt, machen eine Mischung
aus allem, was gut ist in der Musik: ein bisschen Punk, ein bisschen Ska, eine Prise
Poesie, eine Scheibe Sozialkritik, etwas Swing, ja sogar Liebesballaden. Und jede
Menge Gitarreneinsätze. Von allem nur das Beste. Glaubt mir, die Kings of Prussia
sind nicht königlich – sie sind göttlich!
Meine Mutter grillte auf der Terrasse Schweinekoteletts. Wahrscheinlich wollte sie
mich wegen der verpfuschten Reise trösten. Sie weiß, wie sehr ich Grillkoteletts
liebe, nur Wan-Tan-Suppe mag ich noch lieber. Auf Platz drei kommt Marzipan.
»Ich habe mir überlegt, dass du in der Zeit bei Oma Ulli sein könntest«, begann
meine Mutter, als wir uns zum Essen setzten. »Sie kann wegen Martha nicht
herkommen, weil sie Martha nicht allein in Hannover lassen will.«
Oma Ulli hatte vor ein paar Monaten ihre gebrechliche alte Tante Martha bei
sich aufgenommen, nachdem Martha, die allein lebte, schwer gestürzt war.
»Da gibt’s doch keinen Platz für mich«, sagte ich zu meiner Mutter. Ich liebe
meine Oma Ulli, aber der Gedanke daran, drei Wochen lang bei ihr auf der
Wohnzimmercouch zu schlafen, behagte mir überhaupt nicht.
»Das kommt alles so kurzfristig. Wir haben keine große Wahl«, sagte meine
Mutter. Dann schwieg sie einen Moment und holte tief Luft. »Und was ist mit Alina
und ihrer Mutter? Vielleicht kannst du mit ihnen in den Urlaub fahren.«
»Alina?«, fragte ich ungläubig. »Alina?«
Meine Mutter wusste wirklich nicht mehr weiter. Sie war alles andere als ein
Alina-Fan. Wir hatten letztes Weihnachten sogar einen kleinen Streit wegen ihr. Es
ging um Sex. Wir hatten auch vorher schon über Sex gesprochen. Immerhin ist Dr.
Mom ja Ehrenpräsidentin im Club der Großartigsten Mütter der Welt, und wie jedes
Mitglied dieses Clubs glaubt sie, die Erfindung der Aufklärung ginge ganz allein auf
sie zurück. Doch es war das erste Mal, dass sie sich dabei über mich ärgerte. In
einem schwachen Moment war ich so dumm gewesen und hatte meiner Mutter
erzählt, dass Alina schon mit einem Jungen geschlafen hatte.
»Und Alinas Mutter fand das total in Ordnung«, hatte ich erzählt. »Sie ist so
cool, sie ist sogar mit Alina zum Arzt gegangen, um ihr die Pille verschreiben zu
lassen.«
»Das nennst du cool?«, sagte meine Mutter.
Ich sah meine Mutter erstaunt an, sie war sonst nicht so schnell mit ihrem Urteil.
»Alina ist erst vierzehn«, sagte sie. Sie fühlte sich verpflichtet, mir eine
Erklärung zu geben. »Das ist einfach zu früh.«
»Wer sagt das?«
Die Augen meiner Mutter verengten sich.
»Und wenn sie will?«, setzte ich noch eins drauf.
Nun weiteten sich ihre Augen.
Vielleicht war ich zu weit gegangen.
»Renée, willst du mir damit zu verstehen geben, dass du es willst?«, fragte sie.
Oh nein! Wieso hatte ich dieses Thema überhaupt angeschnitten? Am liebsten
hätte ich mich in Luft aufgelöst. Auf der Stelle. Ich konnte mit ihr nicht über Sex
reden. Mit Alina ja. Und mit Fritzi. Sogar mit Frau Grubmann. Aber nicht mit Dr. Mom!
Ich sah schon die Überschrift ihrer Kolumne vor mir: ›Sex‹, sagte sie!
Fast wollte ich schon klein beigeben – um des lieben Friedens willen, und auch,
um meine Privatsphäre zu schützen, da sagte sie: »Du hast erst etwas davon, wenn
dein Kopf die Entwicklung deines Körpers eingeholt hat. In dem Gebiet kenne ich
mich aus.«
»Ach? Willst du damit sagen, dass du mit vierzehn Sex hattest, aber nichts
davon gehabt hast?«
Sie rollte mit den Augen. »Als ich vierzehn war, hatte ich Ideale. Ich habe meine
Energie da reingesteckt, anderen zu helfen. Ich hab zum Beispiel ehrenamtlich als
Schwesternhelferin gearbeitet.«
»Wow«, sagte ich. »Ich wette, das hat bestimmt mehr Spaß gemacht als Sex.«
Ich hatte das gar nicht komisch gemeint, aber meine Mutter fing an zu lachen.
Sie hatte in letzter Zeit nicht viel gelacht, es hörte sich nett an. Und bevor ich es
begriff, lachte auch ich.
»Oh ja! Ich muss Alina unbedingt davon erzählen«, sagte ich, als wir uns wieder
etwas beruhigt hatten. »Sie wird es bestimmt toll finden, als Schwesternhelferin die
Kacke von fremden Pos abzuwischen.«
Meine Mutter warf ein Sofakissen nach mir. »Du bist absolut respektlos! Raus
mit dir!«, rief sie und hatte schon wieder einen Lachanfall.
Ich grinste und machte meinen Abgang.
Diesmal hatten wir die Kurve gekriegt. Aber wie würde es beim nächsten Mal
sein? Seither haben wir jedenfalls nie wieder über Sex gesprochen. Und auch nicht
mehr über Alina oder ihre Mutter. Umso überraschender, dass ich jetzt plötzlich mit
den beiden in die Ferien fahren sollte.
»Geht nicht«, sagte ich. »Alina verreist nicht mit ihrer Mutter, sondern mit ihrem
Vater und seiner neuen Frau. Nach Sardinien. Ihr Vater möchte gerne, dass die
beiden miteinander vertraut werden. »Ich glaube kaum, dass sie mich dabeihaben
wollen«, sagte ich und nagte einen Kotelettknochen ab.
Meine Mutter stöhnte laut. »Dann bleibt keine andere Wahl als ...«
»Nein!«, rief ich. »Auf gar keinen Fall! Nein!«
»Renée, es gibt keine Alternative. Um dich in einem Ferienlager oder zu einem
Schüleraustausch anzumelden, ist es zu spät ...«
»Nein! Ich will nicht! Ich will nicht! Ich will einfach nicht!«
»Dann fahr mit Fritzi nach England.«
»Nein!«
Ich wollte meine Zeit nicht mit Fritzi und ihren Eltern verbringen. Ihre Sind-wirnicht-eine-glückliche-Familie-Gesichter machten mich krank. Ich wollte auch nicht auf
einer Couch im Wohnzimmer meiner Oma schlafen. Ich wollte nach New York. Oder
allein in Berlin bleiben, mit Philipp. Musste ich jetzt wirklich mit meiner Mutter auf
Lesereise gehen? Wie sollte ich das überleben? Wie sollte ich es überstehen, drei
ganze Wochen mit Dr. Mom zusammengekettet zu sein?
»Renée, sei doch mal ein bisschen offen. Lass dich doch überraschen«, sagte
meine Mutter und nahm sich eine zweite Portion Bohnen. »Du kriegst was von der
Welt zu sehen.«
»Die Welt. Na toll. Schwedt an der Oder. Das war schon immer mein Traum.«
»Okay, es sind auch ein paar Buchhandlungen in Kleinstädten dabei. Aber
einige Großstädte sind auch dabei. Mannheim, Leipzig, München, Hamburg.«
»Mannheim!«, sagte ich und rollte mit den Augen.
»Und die Ostsee, Renée. Der Darß. Es wird dir gefallen. Und eine ganze
Woche in den Alpen, auf Schloss Koppenbach.«
Meine Mutter sprach oft von Schloss Koppenbach. Sie hatte mir mal einen
Zeitungsartikel gezeigt. Ein alter Schulfreund von ihr aus Hannover, Niels Riethmann,
ein intellektueller Typ mit Nickelbrille, hatte den ganzen Schlosskomplex von einem
bayerischen Onkel geerbt. Innerhalb von zwei Jahren hatte er ihn in ein luxuriöses
Wellnesshotel mit gehobenem Kulturprogramm verwandelt. Es gab klassische
Konzerte, Jazzsessions und literarische Abende. Medizinische Koryphäen hielten
Vorträge über die Heilkraft von Pflanzen.
»Klingt echt aufregend«, sagte ich.
Dann zog ich alle Register. Wenn ich zu Hause in Berlin bleiben dürfte,
versprach ich, sie alle zwei Stunden anzurufen. Versprach, mein Handy immer
angeschaltet zu lassen. Schwor, dass kein einziger Junge jemals auch nur den
kleinen Zeh in die Wohnung setzen würde. (Ob ich das Versprechen halten konnte,
wusste ich nicht, aber darüber konnte ich mir ja später einen Kopf machen.) Ich
versprach, mir jeden Tag drei ausgewogene Mahlzeiten zuzubereiten, dreimal mit
Obst und zweimal mit Gemüse dabei. Ich versprach sogar, ihr einen neuen
Frotteebademantel zu schenken.
Doch sie rollte nur mit den Augen und seufzte.
Und dann, als das Essen vorbei war. Das allerschlimmste Horrorszenario.
»Bitte!«, bettelte ich.
»Es reicht, Renée! Es reicht. Nein! End of story!«
Meine Mutter massierte sich leidvoll die Stirn. Geschah ihr nur recht. Warum
war sie so vernagelt? Und warum trug sie um acht Uhr abends immer noch diesen
miefigen Bademantel?
»Wir haben das alles x-mal durchgekaut!« Ungeduldig sprang meine Mutter
vom Tisch auf und räumte die Gläser ab. Dabei schwappte ein Rest Wein auf ihren
Bademantel.
»Warum lässt du dir nichts sagen?«, sagte ich.
Meine Mutter knallte die Gläser auf den Tresen und ich hörte einen Knacks. Sie
drehte sich zu mir. »Ich soll mir etwas sagen lassen? Ich? Und was ist mit dir? Du
bist fünfzehn! Wenn hier jemand etwas gesagt kriegt, dann du! Ich kann dich nicht
allein in der Stadt lassen. Wenn etwas passiert, das würde ich mir nie verzeihen.«
»Was soll schon passieren?«
Sie fuhr herum, stürzte sich auf das Spülbecken und drehte das Wasser an. Mit
einem angefeuchteten Lappen versuchte sie den Weinfleck aus dem Bademantel zu
rubbeln. Dann kam sie wieder zum Tisch, griff sich einen Teller und ging zum
Geschirrspüler.
»Du behandelst mich wie ein Kind!«, schrie ich.
Mit dem Teller in der Hand drehte sie sich wieder zu mir und schrie noch lauter
zurück: »Weil du eins bist!«
»Daddy hätte mir erlaubt, allein hier zu bleiben! Das weiß ich. Das weiß ich
ganz genau!«
Beim Wort Daddy brachen alle Dämme. Ich sprach es so gut wie nie aus. Und
als ich hörte, wie dieses Daddy einfach so aus meinem Mund purzelte, ungebeten,
dachte ich, ich würde zerspringen. Wie das Glas auf dem Tresen. »Warum bist nicht
du gestorben?«, rief ich. »Warum musste er sterben? Warum er? Warum Daddy?«
Meine Mutter erstarrte. Noch immer hielt sie den Teller in der Hand.
Schweineknochen und Fettaugen schwammen in einer Lache rötlicher Soße.
Obenauf lagen eine Gabel und ein Messer. Meine Mutter öffnete den Mund, aber
nichts kam heraus.
Und dann sah ich, dass sie Tränen in den Augen hatte.
Angewidert, wütend, drehte ich mich um und stürmte aus der Küche. Hinter mir
hörte ich, wie Messer und Gabel vom Teller rutschten. Scheppernd landeten sie auf
dem Fliesenboden.
Am nächsten Morgen klopfte meine Mutter an meine Tür. Sie war ungeschminkt, trug
nicht mal Lippenstift, ihr Haar hatte sie zum Zopf geflochten, ihre Augen waren
verquollen. »Ich fahre nach Weißensee«, sagte sie gelassen. »Willst du mit?«
»Nein, danke.«
Sie nickte. Und ging.
Ich setzte mir wieder die Kopfhörer auf. Die Kings of Prussia. Wenigstens
konnte ich jetzt zu ihrem Konzert. Mein Trostpreis.
Ich fahre nach Weißensee. Willst du mit? Das fragte sie mich immer. Und
immer sagte ich nein.
Ich fuhr nie mit nach Weißensee. Thanks, but no thanks – auf Friedhöfe kann
ich gut verzichten. Nach der Andacht bin ich nicht hingegangen. Als der Grabstein
aufgestellt wurde, nicht. Nicht, nachdem meine Mutter von den schönen roten,
goldenen und gelben Blättern dort erzählte, nicht, als sie nach Hause kam und sagte,
es sei dort so friedlich, und still, mit dem frisch gefallenen Schnee, und ganz sicher
nicht, als sie sagte, alles dort grüne und blühe, eine schöne letzte Ruhestätte
eigentlich. Nee nee. Ich war nie dort. Und ich werde nie hingehen. End of story.
Drittes Kapitel
Meine Familie, meine Geister
DIE NORDDEUTSCHE TIEFEBENE flog vorbei. Flaches, graugrünes Land. Ein paar
Bäume und ein vom Regen schmutziger Himmel. Ich machte ein Foto. Komisch: Das
Bild im Display sah genauso aus wie das, was ich zehn Minuten vorher gemacht
hatte. Weniger komisch: Das nächste Foto würde wahrscheinlich genauso aussehen.
Trüb und öde.
Ich gähnte, dann blickte ich den Gang hinunter zu dem Mann im weißen
Leinenanzug, der ein paar Reihen entfernt von uns etwas in seinen Laptop tippte.
Für mich war er viel zu alt, so gegen Ende dreißig, aber er sah sehr gut aus. Gleich
als er in unseren Wagen stieg, war er mir aufgefallen: sein sommerlicher,
zerknitterter weißer Leinenanzug, sein langer schwarzer Pferdeschwanz – The Great
Gatzki hatte auch so einen. Manche Männer sind einfach mit Geschmack gesegnet.
Und mit einer guten Figur. Wie Philipp hatte der Mann im weißen Leinenanzug breite
Schultern und schmale Hüften. Und er war auch ungefähr gleich groß, wobei Philipp
wahrscheinlich noch größer würde.
Der Mann im weißen Leinenanzug hatte meinen Blick wohl gespürt. Er hob den
Kopf und unsere Augen trafen sich.
Ich schaute weg.
Meine Mutter schien heute etwas angespannt. Sie richtete sich auf und schaute
mich über den Rand ihrer Brille an, dann las sie weiter in dem New Yorker, den ich in
Berlin am Bahnhof gekauft hatte. Um sie daran zu erinnern, was sie mir angetan
hatte.
Ich ließ mich in meinen Sitz zurückfallen. Vor dem Fenster immer das Gleiche:
platte, graugrüne Erde, Bäume und ein schmutziggrauer Himmel. Ich sah auf die Uhr.
Genau jetzt war Philipp auf dem Weg nach Barcelona. Wir hatten uns noch nicht
einmal verabschiedet. Jedenfalls nicht richtig.
Ich nahm meinen Discman heraus und legte das dritte Album der Kings of
Prussia, The Garden of Delight, auf.
Ich versenkte mich in meinen Lesestoff: den Tour-Plan meiner Mutter, während
The Great Gatzki Liebesballaden sang.
Sitting by the Sonnenblumen
I try with all my might
To bring back our garden of delight.
Oben auf der ersten Seite stand groß: Dr. Mom liest. Der Plan enthielt alle
Termine: wo sie von wem abgeholt werden würde, die Adressen ihrer Hotels,
Veranstaltungsorte mit Telefonnummern, Zugverbindungen, alternative Routen.
Heute war Donnerstag, Tag fünf. Planmäßig waren wir unterwegs von
Tangermünde nach Stadthagen. In Hannover wollten wir als Zwischenstopp eine
ausgedehnte Mittagspause mit Oma Ulli einlegen und um acht Uhr abends hatte
meine Mutter eine Lesung in ...
Aha! Vielleicht war es das. Oma Ulli! Vielleicht war meine Mutter deshalb so
angespannt.
Meine Mutter spürte meinen Blick und sah auf.
»Was ist?«, fragte sie.
»Du bist so nervös heute Morgen.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Lesereisen sind anstrengend.«
Wem sagte sie das. Die vergangenen vier Tage waren wir die Provinz einmal
rauf und runter getourt, hauptsächlich im Osten, kreuz und quer, von Süd nach Nord
und von Nord nach Süd. Am Sonntag waren wir von Berlin nach Leipzig gefahren.
Am Montag reisten wir dann wieder Richtung Norden nach Magdeburg. Am Dienstag
nahmen wir den Zug und fuhren eine Stunde südwestlich nach Halberstadt. Gestern
waren wir in Tangermünde. Die Reise war eine nicht enden wollende Folge von
größeren und kleineren Städten, Hotels und Bahnhöfen. Gut, dass meine Mutter mir
ihre Kamera gegeben hatte. So wusste ich zumindest immer, wo ich in der Nacht
zuvor gewesen war – wenn ich mich denn erinnern wollte. Ich schloss die Augen, um
mich auf die Kings of Prussia zu konzentrieren.
Lying by the dying Veilchen
I try with all my might
To bring back our garden of delight.
Ich schaute wieder auf den Plan, strich alle Orte durch, in denen wir schon gewesen
waren, und studierte die kommenden. Morgen ging’s nach Mannheim. Dann
Hamburg. Am Sonntag würden wir nach Nordosten fahren, nach Zingst auf dem
Darß. Darauf folgte der bayerische Teil der Reise. München. Und schließlich eine
ganze Woche auf Schloss Koppenbach, eineinhalb Zugstunden von München
entfernt in den Alpen. Im Schloss fand eine Tagung statt, an der meine Mutter
teilnehmen würde. Außerdem hatte sie noch ein paar Lesungen in der näheren
Umgebung.
Ich wickelte einen Big Red aus und schob ihn mir in den Mund.
Wie konnte mir das passieren? Mir, Renée Bella Brody? Wie konnte ich mich
drei ganze Wochen von einem Bummelzug zum nächsten schleppen lassen, der uns
von einer grauen, grässlichen Stadt zum nächsten Kuhkaff brachte. Drei Wochen
lang Koffer ein- und auspacken, marode Hotelbetten, das Schnarchen meiner Mutter,
ihr Atmen in meinem Rücken. Drei Wochen lang mit anhören, wie Dr. Mom
zermürbten Eltern erzählt, wie sie sprechen müssen, damit die Kinder ihnen zuhören,
und wie sie zuhören müssen, damit die Kinder mit ihnen sprechen.
Ich drehte die Musik etwas lauter:
Waiting near the wispy Weiden
I try with all my might
To bring back our garden of delight
Oooh, call in the night.
Ich blickte auf. Der Mann im weißen Leinenanzug sah mich schon wieder an. Ich
schaute runter auf den Tisch und griff nach dem Psychologie-Heute-Heft meiner
Mutter.
Kurze Zeit später stand der Mann im Leinenanzug auf. Meine Augen klebten an
der Zeitschrift.
Als er vorbeiging, roch es heftig nach seinem Eau de Cologne. Meine Mutter las
immer noch im New Yorker.
Ich blickte auf die Uhr. Noch vierzig Minuten bis Hannover.
Jetzt fiel die ganze Band in den Schlussrefrain ein, Arno, Wilko und Jona.
Roaming near the dear red Rosen
I try with all my might
To remember our garden of delight.
Ich starrte aus dem Fenster. Es war schmutzig, die Scheibe von gleichmäßigen
grauen Streifen durchzogen. Offensichtlich hatte jemand mit einem dreckigen
Lappen geputzt.
Obwohl Philipp heute unterwegs nach Spanien war und eh nicht so gern
telefonierte, holte ich mein Handy raus. Philipp vergaß seins ständig, hatte es sogar
bei seinen Großeltern nicht dabeigehabt. Als klar war, dass ich mit meiner Mutter auf
Lesereise gehen musste, hatte ich ihm auf die Mailbox gesprochen. Vielleicht
konnten wir uns ja doch noch vor seiner Abreise treffen? Aber keine Antwort.
Schließlich erreichten wir uns dann am Sonntagabend am Telefon. Ich war bereits in
Leipzig und er gerade von seinen Großeltern zurückgekommen. Er wusste noch nicht
einmal, dass ich angerufen hatte: Sein Akku war leer gewesen und er lud ihn gerade
erst in diesem Moment auf. Das muss man sich mal vorstellen: Mit dem einzigen
sechzehnjährigen Jungen auf der Welt, der keine innige Beziehung zu seinem Handy
pflegt, muss ich etwas haben!
Wahrscheinlich hatte ich insgeheim gehofft, dass Philipp über meine
veränderten Ferienpläne überglücklich sein würde, dass er mich nach meiner Route
fragen und sich unbedingt irgendwo unterwegs mit mir treffen wollte, bevor er nach
Spanien flog. In Magdeburg vielleicht. Oder in Halberstadt. War doch alles möglich.
Aber es kam ihm gar nicht in den Sinn.
»Du bist in Leipzig?«, sagte er. »Schön.«
»Na ja.«
Schweigen.
»Es ist ein bisschen ... also ... einsam«, sagte ich dann. »Meine Mutter muss
die ganze Zeit arbeiten.«
»Verstehe.«
Wieder Schweigen.
»Morgen bin ich in Magdeburg«, sagte ich und hob meine Stimme am Ende wie
zu einer Frage.
»Oh, Magdeburg«, sagte er. »Cool.«
»Ja, ziemlich cool.«
Schweigen.
»Mit dem ICE ist man da von Berlin aus in nur einer Stunde«, sagte ich.
»Ach, wirklich?«
Und das war’s.
Zwei Tage brauchte ich, um meine Enttäuschung zu überwinden. Schließlich
beschloss ich, dass Philipp von seinem Besuch bei den Großeltern völlig ausgelaugt
gewesen sein musste, oder vielleicht waren ja auch seine Eltern im Zimmer, als ich
anrief. Oder ein Freund. Na klar! Ich wette, Philip Eins war gerade da und mein
Philipp wollte nicht, dass der mitbekam, mit wem er telefonierte.
Also verzieh ich ihm und schickte ihm gestern Abend von Tangermünde aus
eine Mail.
Vielleicht lag ihm Schreiben ja mehr.
Das war wirklich zu hoffen.
Fahrende Züge sind für Handys der Tod: Kein Empfang. Dabei wartete ich auf eine
SMS von Alina. Normalerweise simsten wir uns mindestens einmal am Tag.
Am Montag schickte ich ihr »Langeweile in Leipzig«. Sie schrieb zurück »Sex
auf Sardinien«. Es war ein bisschen wie Pingpong. Ich: »Hilfe – Halberstadt!« Sie:
»Männer am Mittelmeer.« Ich: »Magdeburg und Mutterzoff.« Sie: »Irre nach Italos.«
Mann, die hatte echt nur eins im Kopf.
Im Fenster: Noch mehr vom Ewiggleichen.
The Great Gatzki war gerade bei Hugs and Küsse:
Hugs and Küsse because I miss ya
Hugs and Küsse because I need ya.
Ich blätterte in Psychologie Heute. Auf der letzten Seite fand ich eine Anzeige
für die Tagung auf Schloss Koppenbach, Erziehung im neuen Millennium.
»Sind alle auf dem Schloss Psychologen?«, fragte ich meine Mutter und
machte die Musik etwas leiser. »Oder Sozialarbeiter? Und Familienberater?« Der
Gedanke daran ließ mich schaudern.
»Um Gottes willen, nein! Wir sind etwa fünfundsiebzig Tagungsteilnehmer. Aber
die normalen Hotelgäste können auch zu den Veranstaltungen kommen. Niels sagte,
das Hotel sei ausgebucht, also müssen da noch ungefähr zweihundert Leute mehr
sein. Davon hoffentlich viele Eltern, die sich für unsere Arbeit interessieren.«
Ich drehte The Great Gatzki wieder laut und machte eine Kaugummiblase. Sie
platzte auf meiner Oberlippe und ich schob sie mit der Zunge zurück in den Mund.
Mmmm. Meine Lippen fühlten sich seidig, weich und prall an.
Ich zog meinen Taschenspiegel heraus und warf einen Blick hinein. Ja, definitiv:
Meine Lippen sahen viel voller aus. Meine neue Lippenvergrößerungscreme für volle,
sinnliche Lippen war einfach fantastisch. LipLuv. Das Beste, was man für 19,90 Euro
bekam, wenn man nicht gerade Silikon spritzen wollte. Vielleicht liegt es an meinen
Lippen, dass der Mann im weißen Leinenanzug mich anschaut.
Ich legte frischen Lipgloss auf.
Hugs and Küsse because I love ya
Hugs and Küsse because I want ya.
»Wie findest du meine Lippen?«, fragte ich meine Mutter.
»Ach, Renée«, sagte sie und schaute kurz auf meine Lippen. »Sei nicht albern.
Deine Lippen sehen aus wie immer. LipLuv! Wenn etwas so klingt, als sei es zu
schön, um wahr zu sein, dann ist es zu schön, um wahr zu sein.«
Was war das denn schon wieder für ein Spruch – darum ging’s doch gar nicht!
»Wenn etwas so klingt, als sei es zu schön, um wahr zu sein, dann ist es zu schön,
um wahr zu sein«, spottete ich. »Schreib da drüber doch einfach ein Buch.« Ich
schoss hoch, drehte mich um und stieß – Kopf voran – mit einem weißen
Leinenanzug zusammen.
Mist!
»Tschuldigung«, murmelte ich zur Leinenschulter, die nun mit Lipgloss
verschmiert war.
Ich flüchtete mich in Richtung Klo, aber leider nicht schnell genug: »Verzeihen
Sie die Störung«, hörte ich den Mann im weißen Leinenanzug zu meiner Mutter
sagen, »aber ich wollte Ihnen unbedingt sagen, dass meine Frau und ich all Ihre
Bücher haben. Sie haben uns so geholfen, unseren kleinen Sohn besser zu
verstehen.«
O Gott – das war ja oberpeinlich! Meine Mutter hatte wirklich Recht: Ich war
albern.
Ich konnte sein Gesicht jetzt nicht sehen, aber sicher sah der Mann im weißen
Leinenanzug gerade genauso bescheuert aus wie alle, wenn sie sich meiner Mutter
vorstellen. Einfach dämlich. Übereifrig. Wie große, schlabbernde Hunde. Freundlich
bis zum Erbrechen. Kennen dich nicht mal, stürzen sich aber gleich auf dich,
schnüffeln rum, geben Pfötchen, lecken dir mit ihren dicken feuchten Sabberzungen
übers Gesicht, so begeistert sind sie, Dr. Edda Mommsen-Brody, die großartigste
Mutter der Welt, kennen zu lernen.
Ha! Die Vorstellung war einfach grotesk. Die großartigste Mutter der Welt.
Wenn die nur wüssten! Wüssten, wie Dr. Mom mit ihrer Perfektion die eigene Tochter
quält. Mit dem Anschein von Perfektion – denn meine Mutter war alles andere als
perfekt. Wenigstens nicht mehr. Ich meine, man muss ja nur mal an ihren Zustand im
letzten Herbst denken. Nach dem Unfall.
Ich reg mich ja jetzt noch ziemlich über den miefenden Frotteebademantel auf,
den sie tagein, tagaus zu Hause trägt. Trotzdem ist eine Mutter im
Frotteebademantel ein Riesenfortschritt im Vergleich zu einer Mutter, die sich einen
ganzen Monat lang im Bett vergräbt, ohne auch nur einmal die Wäsche zu wechseln.
Ein, zwei Wochen vor Trauer im Bett zu liegen – das kann man ja noch akzeptieren.
Aber meine Mutter brauchte mehr als vier Wochen, um endlich wieder aus dem Bett
zu steigen und zumindest mal den ekligen Bademantel anzuziehen. Aus dem Haus
ging sie aber kaum. Noch nicht mal zum Einkaufen. Vom ersten Tag an machte ich
den Haushalt.
»Aber Renée«, sagte sie und setzte sich in ihrem Bett auf, »das musst du nicht.
Gisela sagte, sie würde das tun.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte ich und räumte ihren schmutzigen Becher weg.
Sie wollte doch ihre Freundin Gisela genauso wenig in der Wohnung haben wie ich.
Sie zuckte mit den Schultern, seufzte, gab mir EC-Karte, Geheimzahl und
schließlich ihre Einkaufsliste: Pfefferminztee, Salzbrezeln und Taschentücher. Das
war’s. Davon lebte sie. Wochenlang. Die Wohnung verließ sie nur alle paar Tage, um
zu einer Kollegin zu gehen, Ingrid Goethe, eine Therapeutin.
»Solltest du nicht vielleicht auch mit jemandem sprechen?«, fragte sie mich.
»Worüber?«, antwortete ich, leerte eine neue Tüte Salzbrezeln in eine Schüssel
und stellte sie auf ihren Nachttisch.
»Es gibt gute Therapeuten, die Erfahrungen mit Jugendlichen in deiner
Situation haben. Die wissen, wie man mit Trauer ...«
»Hör mal, Mama!« Ich erhob die Stimme, um den Klumpen aus Schmerz,
diesen Tränenklumpen, der meine Kehle verstopfte, zurückzudrängen. »Ich hab dir
schon gesagt, es ist alles okay! Ich brauche niemanden. Darf ich dich daran erinnern:
Ich bin diejenige, die jeden Morgen aufsteht. Ich komm schon klar. Allein.«
»Mein Liebes, es ist nicht gut, wenn du es nicht rauslässt.«
»Wenn ich was nicht rauslasse?«
Ich knüllte die hundertste Salzbrezeltüte zu einem Ball zusammen und schmiss
sie Richtung Papierkorb. Dabei öffnete sich der Ball und Krümel und Salzkörner
rieselten auf das Parkett.
»Oh nein«, sagte meine Mutter und ließ sich erschöpft zurückfallen. Salz auf
dem Fußboden war zu viel für sie.
Für mich auch.
Ich stampfte aus dem Zimmer. Unter den dicken Sohlen meiner Stiefel hörte ich
Salz und Krümel knirschen. Die Kratzer im Parkett konnte ich fast vor mir sehen.
Du musst es einfach rauslassen. Ich konnte das nicht mehr hören. Meine
Mutter. Fritzis Mutter Gisela. Oma Ulli. Die Schulpsychologin.
»Kennst du den Unterschied zwischen Schmerz und Trauer?«, fragte mich
Serena Kirschner, unsere Schulpsychologin, und zog an ihrer Zigarette.
Ich antwortete nicht. Sah nur ihre Hände an. Ihre Nagelhaut war rissig und die
Nägel kurz geschnitten. Zu kurz. Bestimmt kaute sie die Nägel und feilte sie ab,
damit es keiner merkte. Außerdem waren ihre Fingerspitzen gelb verfärbt. Entweder
hatte sie Gelbsucht oder es kam vom Nikotin. Eine Schulpsychologin, die Nägel kaut
und raucht. Tolles Vorbild.
»Wenn jemand, den man liebt, fort ist, fühlen wir Schmerz«, sagte Frau
Kirschner und nahm einen weiteren Zug. »Trauern wiederum bedeutet, dem
Schmerz Ausdruck zu verleihen. Ihn rauszulassen. Ihn zu akzeptieren. Sich mit ihm
zu versöhnen. Die Wunde heilen zu lassen.«
Ich sagte nichts. Ich hatte mich an mein Schweigen gewöhnt. Die Menschen um
mich herum ebenfalls.
»Weinen ist eine Art zu trauern«, sagte sie. »Eine der besten. Aber es gibt viele
andere Möglichkeiten. Manche Menschen pflanzen Bäume für ihre Lieben, die nun
tot sind. Andere malen Bilder.« Dann schlug sie vor, ich sollte ein paar Zeilen an
meinen Vater auf einen biologisch abbaubaren, mit Treibgas gefüllten Ballon
schreiben und ihn zum Himmel aufsteigen lassen.
»In Amerika macht man das«, sagte sie.
Superidee: Sonntagfrüh, ich, oben auf dem windigen Teufelsberg mit den
Drachenjunkies. »Hey Dad«, würde ich Richtung Himmel rufen, »hörst du mich? Tut
mir Leid, dass ich mich nicht von dir verabschieden konnte. Aber hier kommt ein
Ballon für dich geflogen, der ist hundert Prozent biologisch abbaubar und es steht
was für dich drauf.«
Thanks, but no thanks.
Ich stand auf. »Sind wir jetzt fertig, Frau Kirschner? Kann ich jetzt gehen?«
Frau Kirschner zog an ihrer Zigarette, dann nickte sie. Und ich ging.
Gisela, Fritzis Mutter, schenkte mir ein Tagebuch. »Da könntest du alles
reinschreiben«, sagte sie. »Ich weiß, dass du gern schreibst.«
»Ich hab genug Hausaufgaben«, sagte ich und beließ es dabei. Aber das in
Hanfleinen gebundene Buch nahm ich trotzdem gern mit. So viel schönes blankes
Papier sollte nicht in irgendeiner fremden Schublade landen.
Herr Trockenbrodt, der Schwimmtrainer, war der Einzige, der mir einen wirklich
vernünftigen Rat gab.
»Schwimm«, sagte er. »Nur das will ich von dir.«
»Schwimmen?«
»Ja. Nur schwimmen.«
Und das tat ich. Herr Trockenbrodt ließ mich Runde um Runde schwimmen. Ich
musste nicht an Wettkämpfen teilnehmen, mich nicht um meinen Stil kümmern, nicht
auf Zeit schwimmen und keine Gruppenspiele mitmachen. Manchmal machte ich mit.
Aber nicht, weil ich gemusst hätte. Ich musste nur zum Training kommen. Und
schwimmen.
Als ich zu meinem Platz zurückkehrte, machte der Mann im weißen Leinenanzug
sich zum Aussteigen fertig. Meine Mutter hatte nun den Laptop vor sich und
knabberte auf einem ihrer Mandelmüsliriegel herum. Als sie letzten Dezember,
rechtzeitig zu Weihnachten, endlich aus dem Bett gestiegen war und wieder etwas
gesündere Mahlzeiten zu sich nahm, hatte ihre Salzbrezelsucht nachgelassen. Dafür
kamen die Mandelmüsliriegel dran.
»Willst du einen?«, fragte meine Mutter und hielt mir einen Müsliriegel hin.
»Igitt«, sagte ich. Also wirklich. Wie kann sie dieses Körnerzeug nur essen?
Ich blätterte wieder in Psychologie Heute. Eine nüchtern aussehende Frau um
die fünfzig lächelte mich angestrengt an. Um den Hals trug sie einen fließenden, rosa
Schal. Dr. Reintraut Mehlitz, las ich, bietet ein außerordentlich effektives
Coachingprogramm für Menschen jeder Alters- und Berufsgruppe zum Thema
Zielsetzung. In Basiskursen führt sie ihre Klienten durch einen leicht verständlichen
Zielsetzungsprozess, die Aufbaukurse dienen dazu, die einmal gesteckten Ziele fest
im Auge zu behalten und weiterzuverfolgen, bis sie erreicht sind.
Gähn. Schnarch. Zzzzz.
Ich schloss die Augen. Wirklich schade, dass ich mir meine Zeit im Zug nicht
ein wenig mit Sammy vertreiben konnte. Sie hätte mich zumindest wach gehalten.
»Was liest du da?«, fragte meine Mutter mit Blick auf ihr Psychologie Heute.
Ich verdrehte die Augen. »Ziele«, sagte ich und ahmte eine
Nachrichtensprecherin nach: »Einer der größten Fehler, den man bei der Verfolgung
seiner Ziele machen kann, ist, sich zu verzetteln. Stattdessen sollte man seine Kräfte
– wie einen Laserstrahl – ausschließlich auf eine Idee, ein Projekt oder ein Ziel
richten.«
Anstandshalber lächelte meine Mutter über meine Parodie. »Reintraut wird
auch bei der Tagung sein. Sie hält einen Vortrag.«
»Oh, lass mich raten: Wie erzeuge ich zielsicher Langeweile?«
»Ich glaube, ich bekomme Kopfschmerzen«, seufzte meine Mutter.
»Wegen Oma Ulli«, neckte ich.
»Also wirklich, Renée!«
»War nur’n Witz.«
Bestimmt war es Oma Ulli.
Meine Mutter wandte sich wieder ihrem Laptop zu. Klickety-klack-klickety-klack
machten ihre Finger auf der Tastatur. Was mochte sie da schreiben? Jedenfalls
keine Kolumne. Normalerweise schrieb sie immer alle sechs Monate zwölf Stück auf
einmal. Die nächsten waren erst wieder im November dran.
Ich schob das Heft weg. Ziele! So’n Quatsch! Wozu Ziele, wenn aus heiterem
Himmel alles in Scherben gehen kann?
Andererseits hat es auch sein Gutes, wenn man weiß, was man will. Ich zum
Beispiel wusste ganz genau, dass ich mit Philipp schlafen wollte, also konnte ich
mich gezielt darauf vorbereiten. LipLuv war der erste Schritt in die Richtung.
Piercings ein weiterer. Die Recherche in Sache Sex (Sammy) lief ja bereits.
Ich schielte auf den Laptop. Meine Mutter beantwortete gerade eine Mail.
Wahrscheinlich schrieb sie an Ulf Krauss, diese Laus, ihren Verleger. Meine Mutter
hat auf der ganzen Welt Freunde, Leute, die sie von Konferenzen kennt, Leute, die
ihre Bücher lesen oder verlegen, und mit allen hält sie Kontakt via E-Mail. Aber von
Ulf Krauss hat sie mit Abstand die meisten. Um die zweihundertzwanzig. Das weiß
ich, weil ich vor einigen Wochen, als mein Computer in der Reparatur war und ich
ihren benutzen durfte, den Ordner im offenen Mailprogramm gesehen habe. Ob sie
ihm wohl genauso viele E-Mails zurückgeschrieben hatte? Ich schaute unter
»gesendet« nach, ordnete die Einträge alphabetisch, und tatsächlich, da waren die
Mails an ihn. Einige Betreffzeilen klangen total langweilig (Re: Buchumschlag, Re:
Lesereise?, Re: No Subject), aber ein paar versprachen mehr (Re: Wow! Mehr!
Sofort!, Re: Wir sehn uns in Hamburg).
Meine Neugierde war geweckt. War Ulf Krauss der Grund, warum sie neulich in
Hamburg übernachtet hatte? Wie konnte sie nur? Nach all dem, was passiert ist? Es
war noch nicht mal ein Jahr her. Und außerdem, Ulf Krauss war sechzig! Und sein
Bauch! Total abtörnend. Wie ein Fußball, aus dem die Luft rausgegangen ist,
schwappt er über seine Hose. Das ist eklig – überhaupt nicht wie bei meinem Vater,
dessen Bäuchlein nur ein klein bisschen wackelte, wenn er lachte. Gott. Meine
Mutter und Ulf Krauss. Dabei hatte sie mir so gut wie hochheilig versprochen, dass
sie nichts mit Männern anfangen würde. Zumindest nicht für lange Zeit.
Vor ungefähr zwei Monaten platzierten Becky und Lucy bei einer Dinner-Party
meine Mutter neben einen geschiedenen Bekannten der beiden – absichtlich,
natürlich. Als ich davon Wind bekam, reagierte ich panisch. Und da sagte meine
Mutter, dass sie alles Mögliche im Kopf hätte, nur keinen neuen Mann.
»Schatz«, hatte sie gesagt, »Es gibt auf der Welt nur sehr wenige Männer wie
deinen Vater. Wenn du einen, nur einen Bo im Leben triffst, kannst du dich glücklich
schätzen. Und das tue ich. Ich habe Glück gehabt. Und du auch, so einen Vater
gehabt zu haben.«
Ich weiß noch, wie sich meine Kehle zusammenzog, als sie das sagte, als ob
ein harter Klumpen in meiner Luftröhre steckte. Aber dann strich mir meine Mutter
über die Stirn, so wie sie es früher immer gemacht hatte, als ich noch klein war und
nicht einschlafen konnte, und es ging mir besser.
»Ich brauche keinen neuen Mann in meinem Leben. Mein Leben ist ausgefüllt.
Ich habe alles, was ich brauche«, sagte sie. »Ich habe dich. Ich habe meine Arbeit.
Ich habe meine Freundinnen ...«
»Deine Freundinnen, die Kupplerinnen«, sagte ich.
Sie lachte. »Ja, meine Freundinnen, die Kupplerinnen. Und ... und ich habe
mehr als genug zum Leben. Genug zu essen ...«
»Salzbrezeln zum Beispiel.«
»Richtig. Meine Salzbrezeln. Und nicht zu vergessen: meine Müsliriegel.«
Und dann lachte ich auch.
Und wir sprachen nie wieder über Männer.
Aber was, bitte schön, hatten zweihundertzwanzig Mails von Ulf Krauss in
ihrem Computer zu suchen? Das wollte ich wissen. Als ich am nächsten Tag ihre
Mails auf ihrem Laptop abrufen wollte, entdeckte ich, dass sie ihr Mailprogramm mit
einem Passwort geschützt hatte. Sie befürchtete wohl einen Eingriff in ihr Privatleben
oder wollte mich einfach nicht in Versuchung führen. Ich schämte mich und hatte ein
schrecklich schlechtes Gewissen, aber ich muss zugeben: Ich hab trotzdem
versucht, das Passwort zu knacken. Ich gab ihren Geburtstag ein, ihren
Mädchennamen, meinen Namen und meinen Geburtstag. Danach versuchte ich es
mit dem Namen meines Vaters – Boris »Bo« Ralph Brody –, und dann tippte ich auch
noch den Namen seines Tonstudios ein: Botown. Nichts funktionierte.
Ich sah über die Schulter meiner Mutter, konnte aber nicht erkennen, ob sie an Ulf
Krauss schrieb oder nicht. Der Zug fuhr langsam. Wir waren kurz vor Wolfsburg. Ich
zog mein Handy raus und sah auf das Display: keine Nachricht. Aber jemand hatte
angerufen, ohne etwas auf die Mailbox zu sprechen. Ich guckte bei den entgangenen
Anrufen nach. Meine Mutter spürte wohl meine Aufregung und drehte sich zu mir um.
Zu meiner großen Enttäuschung stammte der Anruf nicht von Philipp, sondern von
Fritzi. Was wollte die denn? Bei ihrem letzten Anruf, und das war eine Ewigkeit her,
hatte ich gesagt, dass ich keine Zeit hätte und sie zurückrufen würde. Hatte ich zwar
nie getan, aber manche Leute geben eben nie auf.
»Wer war’s?«, fragte meine Mutter.
»Weiß nicht. Wahrscheinlich hat sich jemand verwählt«, sagte ich.
Wir fuhren nun am Gebäudekomplex der Autostadt vorbei. Wolfsburg. Heimat
von Volkswagen. Das war immer mein liebster Teil der Reise von Berlin zu Oma Ulli
gewesen. Ich mochte, wie das blanke, klare Glas und der silberne Stahl der Pavillons
in der Sonne glitzerten, mochte die roten Ziegel der alten Fabrikgebäude, die grüne
Hügellandschaft. Das erinnerte mich immer an die Miniaturstädte, die mein Vater und
ich aus den Platinen und Elektrochips bauten, die wir in seinem Tonstudio „Botown“
fanden.
Eines Tages, ich war ungefähr acht, entdeckte ich in Botown ein kaputtes
Faxgerät, das mein Vater auseinander genommen hatte. Verheißungsvoll glitzernd
lag die Platine vor mir. Ich nahm sie in die Hand. Sie sah aus wie eine Stadt aus der
Vogelperspektive. Wie Los Angeles, wenn man von den Hollywood Hills oder von
einem Hochhaus darauf schaut.
Danach begann ich ausrangierte Geräte auseinander zu nehmen. Dabei bekam
ich leider kaum was über Elektronik mit – was mein Vater gern gehabt hätte –, wurde
dafür aber sehr geschickt mit Werkzeugen. Ich bestaunte die Kabel im Innern der
Maschinen und verflocht sie zu Spaghettischnüren in Knallorange, Bonbonrosa,
Ozeanblau und Sonnengelb. Die seltsamen Strukturen und Pfade auf den Platten,
die Schaltpläne, konnten mich stundenlang fesseln. Für Ingenieure und Elektriker
sind diese Muster wie ein technischer Straßenplan, für mich waren es Wanderwege,
Teiche, Flüsse. Manchmal kratzte ich in die Platinen Straßennamen, wie ich sie aus
den Vororten Südkaliforniens kannte, wo mein Vater aufgewachsen war: Voltage
Valley, Battery Bend, Oscillator Alley, LED Lane.
Als wir damit fertig waren, Teile zusammenzusetzen und neue hinzuzufügen,
sah unsere erste neue Platine tatsächlich aus wie der Fabrikkomplex in Wolfsburg
aus der Vogelperspektive. Ich nannte sie Voltsburg. Die zweite hieß Schaltstadt.
Eines unserer Werke erinnerte mich an den John Wayne Airport in Santa Ana in
Kalifornien, deshalb nannte ich es Aeroporta Santa Analoga. Die letzte Ministadt, die
mein Vater und ich gemeinsam bauten, ähnelte einer dieser südkalifornischen
Retortenstädte wie Rancho Santa Margarita, wo meine Grandma Myrna lebt. In
unserem Rancho Santa Modulator gab es sogar einen Golfplatz.
»Ich bin der Techniker in der Familie«, pflegte mein Vater zu sagen, »deine
Mutter ist die Intellektuelle. Und du bist die Künstlerin. Die Dichterin.«
»Wiedersehen«, rief der Mann im weißen Leinenanzug meiner Mutter zu, als er den
Wagen verließ.”
Meine Mutter lächelte ihm zu. »Er hat erzählt«, sagte sie dann, »dass er mit
seiner Frau bei der Leipziger Lesung war.«
Leipzig. Grrr! Als meine Mutter Bücher signierte, erkannte mich jemand vom
Cover der Mamaprotokolle und wollte doch tatsächlich ein Autogramm von mir. Und
dann noch jemand. Das war unter Garantie die letzte Lesung von Dr. Mom, auf die
ich gegangen bin.
Meine Mutter hatte wie meistens vier Geschichten gelesen, Familienanekdoten.
Ihre Texte sind schon ziemlich witzig, wenn man sie liest, aber wenn Dr. Mom sie vor
Publikum vorträgt, wirken sie noch viel komischer. Selbst langweilige Fragen
beantwortet sie voll Humor und schafft es jedes Mal, die Leute zum Lachen zu
bringen. Es ist schon erstaunlich, wie diese komische Seite vor Publikum zu Tage
tritt. Sie inszeniert sogar die Bühne, ihr Lieblingsrequisit ist eine Vase mit
Leuchttulpen, die mein Vater ihr mal vor langer Zeit geschenkt hat.
Während der Lesung beobachtete ich sie, sah das Strahlen in ihren Augen,
sah, wie lebendig sie war, wie glücklich es sie machte, mit zweihundert Müttern und
Vätern zu scherzen, und ich begriff, wie sehr sie sich seit letztem Herbst verändert,
wie viel sie verloren hatte. Diese Edda wollte ich zurück, die lustige Edda, die uns
zum Lachen brachte, die mich zum Lachen brachte. Nicht die Edda, die den ganzen
Tag in einem ekligen Bademantel herumsaß und Mandelmüsliriegel knabberte.
»Renée?«, hörte ich meine Mutter sagen.
Erschrocken drehte ich mich zu ihr um.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Klar.«
»Du siehst irgendwie ... traurig aus.«
»Bin ich aber nicht«, antwortete ich mürrisch.
Jemand klopfte ans Fenster. Wir fuhren zusammen. Der Mann im weißen
Leinenanzug winkte vom Bahnsteig zum Abschied. Meine Mutter winkte zurück, und
er drehte sich um und verschwand in der Menge.
»Wie kannst du nur?«, sagte ich.
»Du solltest netter zu meinen Lesern sein, Renée«, neckte sie mich. »Denk nur:
Sie finanzieren dir mal dein Studium.«
»Haha!“ machte ich, wobei sie wahrscheinlich sogar Recht hatte. Insbesondere
wenn ich in den USA studieren würde. Und genau das war der Wunsch meines
Vaters. Er wollte, dass ich an eine richtig tolle Universität gehe, wie Berkeley, wo er
selbst Student war und meine Mutter promovierte.
Ich sehe ihn vor mir, wie er sich zu meiner Mutter umdrehte, ihr liebevoll den
Hintern tätschelte und sagte: »Berkeley. Erinnerst du dich, Edda? Da fing es an.«
»Es«, das waren sie, meine Eltern, als Einheit. Und schließlich dann ich.
Boris Ralph Brody, genannt “Bo” gebürtig in Mission Viejo in Südkalifornien, leitete
ein Tonstudio oben im Norden, in San Francisco, als er meine Mutter, eine
Doktorandin mit einem Berkeley-Stipendium, kennen lernte. »Er war witzig, ohne
jemals darum bemüht zu wirken«, erzählte sie mir einmal. »Sogar wenn er ernst war,
brachte er einen zum Lachen. Er war so unbeschwert.«
»Na klar«, sagte mein Vater dann. »Sie hatte diese intellektuellen deutschen
Typen satt. Die großen, blassen Kerle mit den langen, fettigen Haaren, den
Drahtgestellbrillen, den Birkenstocklatschen, den langen, schmutzigen
Fingernägeln.«
Wenn mein Vater das sagte, mussten wir lachen, denn diese Beschreibung
passte haargenau auf seinen besten Freund Arthur Anderson, Fritzis Vater, der
allerdings Engländer war und außerdem kein Uni-Typ. Als Landschaftsgärtner bekam
er die Erde kaum aus den Nägeln. Ganz nebenbei, Birkenstocks trug er nur im
Sommer, in den Ferien in Cornwall.
Aber es stimmt, dass mein Vater anders war als der typische Deutsche. Sein
Haar war dunkel, fast schwarz, lockig und dicht. Und er war nicht sehr groß, ein
wenig rundlich, wie ein freundlicher Bär, mit rötlichen Wangen.
»Ich mag’s, wenn was dran ist«, pflegte meine Mutter zu sagen und kniff ihn in
die Speckröllchen an seinem Bauch.
Edda hingegen hatte nicht eine Fettzelle am Körper.
»Außer vorne oben«, sagte mein Vater.
Ihm zufolge war Edda der Inbegriff des deutschen Fräuleins. Glatte blonde
Haare. Blaue Augen. Groß. Schlank. Außen tough und innen weich. »Und schöne
dicke Möpse.«
»Bo!«, protestierte meine Mutter dann. «Wie kannst du nur in Gegenwart deiner
Tochter so reden? Wenn du schon ordinär sein musst, könntest du nicht wenigstens
›große Brüste‹ sagen?«
»Könnte ich schon, Schatz – wenn du welche hättest. Hast du aber nicht. Du
hast Möpse. Große schöne Möpse. Und ich liebe sie.«
Und dann sagte er zu mir: »Hör mal. Deine Mutter hat ein Superhirn und das
liebe ich auch. Aber das weiß sie schon. Es sind die Möpse, an die ich sie immer
erinnern muss.«
Meine Mutter kicherte, packte mich und sagte: »Hör bloß nicht auf deinen Vater.
Er ist unverbesserlich. Er hängt zu viel mit Rockmusikern rum.«
Zu seiner Ehrenrettung muss gesagt werden, dass mein Vater mit diesen
Sprüchen in meiner Gegenwart irgendwann aufhörte. So vor ungefähr zwei oder drei
Jahren. Ungefähr zu der Zeit, als ich selbst Möpse bekam. Ich meine natürlich
Brüste. Damals hörte er auch damit auf, mich hochzuheben und wie ein wild
gewordener Zirkusartist herumzuschwingen. »Ach«, sagte er, gerührt und mit Tränen
in den Augen, »meine kleine Rebella wird erwachsen.«
Rebella. Das war der Kosename meines Vaters für mich. Seit ich zwei war und
ein richtiger Wirbelwind. Renée Bella. Abgekürzt: Rebella. Auch nach der Trotzphase
blieb der Spitzname an mir kleben. Und ich habe ihn immer geliebt. Rebella. Der
Name erinnerte mich daran, was ich immer war und immer sein werde. Daddys
kleines Mädchen. Rebella.
Als der Zug weiter Richtung Hannover fuhr, setzte ich mir wieder Kopfhörer auf und
hörte Let Me Be Your Heinzelmännchen. Das war einer meiner Lieblingssongs von
der ersten CD Work Through the Night. Der CD, die die Band über Nacht in die
internationalen Charts gebracht hatte.
Let me be your Heinzelmännchen
I can be so fine and handsome
Let me find some wood for you
Light your fire the whole night through
Loving you the whole night through.
Oooo. Oooo.
Mein Vater machte sich über Gatzki und Co. gerne lustig. Ich werde nie vergessen,
wie er eines Abends vor ungefähr fünf Jahren nach Hause kam und zu meiner Mutter
und mir sagte: »Heute waren ein paar Berliner Jungs im Studio. Nennen sich die
Kings of Prussia. Die machen mich krank. Musik wie ’ne Endlosschleife. Immer die
gleichen drei Akkorde und ein paar läppische Na-Na-Na-Harmonien dazu. Kings of
Prussia, wenn ich das schon höre … Königliche Furzkanonen, das würde passen!«
Er zog sich die Schuhe aus. »Und dann musste ich mir den ganzen Tag diese
bescheuerten Texte anhören. Jeder Kirchenchor hat geistreichere Sachen drauf.«
Er lag auf dem Sofa, legte die Füße auf die Polster und den Kopf in den Schoß
meiner Mutter. »Aber die werden wie eine Bombe einschlagen«, sagte er. »Damit
muss ich leben.« Er hob seinen Kopf und sah mich an. »Ihr Grünschnäbel werdet die
Texte für tiefgründig halten.« Er verdrehte die Augen, griff nach der Fernbedienung
und stellte klassische Musik an – zur Beruhigung. Rock und Pop, das war sein Job,
aber zu Hause hörte er nur Mendelssohn Bartholdy, Schumann und Chopin. Er liebte
sie alle. Vor allem Chopin. »Ich kann mich nicht länger konzentrieren«, sagte meine
Mutter und ließ sich in den Sitz zurückfallen. Sie nahm ihre Brille ab und rieb sie mit
einem Tuch sauber.
Ich schloss die Kamera an ihrem Laptop an. Ich wollte für Philipp ein hübsches
Foto von mir aussuchen.
»Hoffentlich ist es keine Migräne«, sagte meine Mutter und rieb Daumen und
Zeigefinger auf ihrer Nasenwurzel. Dann langte sie in ihre Tasche und zog eine
kleine Flasche Mineralwasser und eine Packung Kopfschmerztabletten heraus.
»Vielleicht kann Oma Ulli die Kopfschmerzen wegmassieren«, sagte ich.
Meine Mutter verzog das Gesicht. »Ich wette, sie wird es versuchen.«
Ich wandte mich wieder dem Laptop zu. Staunend sah ich zu, wie ein Foto nach
dem anderen auf dem Bildschirm erschien, ein Wasserfall aus Bildern. Faszinierend.
Die letzten Bilder zeigten eine Kirche, die ich noch nie gesehen hatte, und dann
eine Orgel.
»Wo war das denn?«, fragte ich.
Meine Mutter beugte sich vor. »Der Dom in Magdeburg. Du hattest keine Lust
mitzukommen, erinnerst du dich?«
Das tat ich. Es klingt noch in meinen Ohren, wie ich sagte: »Ich geh doch sonst
nie in die Kirche, warum also in den Ferien?« Während sich meine Mutter als
Freizeithistorikerin im Magdeburger Dom betätigte, war ich auf der Suche nach einer
Lippenvergrößerungscreme gewesen, hatte LipLuv gefunden und ging dann in
unserem Hotelpool schwimmen.
Schließlich fand ich im Laptop ein schönes, ziemlich untypisches Porträt von
mir. In Gedanken versunken sitze ich da, schaue in die Ferne, weder lächelnd noch
ernst. Einfach da. Nachdenklich. Ich mochte es sehr, auch wegen des vielen Rosa
und Rot. Ich trug mein rosa geblümtes rückenfreies Top und die roten
Glitzerohrringe, die Fritzi mir letzten Sommer aus London mitgebracht hatte. Und ich
sitze
vor einem riesigen Erdbeereisbecher. Alles war rosa, sogar meine Wangen. Und
mein Lippenstift. Das Bild haben wir am Donnerstag in einem Café in Halberstadt
gemacht, wo meine Mutter mich praktisch gezwungen hatte, das alte jüdische Viertel
mit ihr anzuschauen.
»Ich hab keine Lust!«, hatte ich im Pensionszimmer protestiert.
»Alte Häuser
anglotzen ist öde.«
»Mensch, Renée, sei nicht so vernagelt! Das ist doch deine Geschichte.«
Und sie meinte nicht die deutsche Geschichte. Sie meinte meine. Die
Geschichte meiner Familie. Ein Teil meiner Ururgroßeltern väterlicherseits, Benjamin
und Alma Nussbaum, stammten nämlich aus Halberstadt.
»Keiner von meinen Freunden muss auf den Spuren seiner Ahnen rumlatschen!
Warum ich?«, widersprach ich. »Du brauchst doch nur Stoff für deine blöden
Kolumnen! Renée buddelt nach ihren Wurzeln oder so was.«
»Unsinn! Du bist einfach nur stur.«
Das stimmt. Ich war stur. Vielleicht, weil sie es so sehr wollte. Weil sie mir keine
Wahl ließ.
Wie auch immer, ich ging mit.
Und eigentlich war es auch gar nicht so übel. Aber gesagt hab ich ihr das
natürlich nicht.
Im Café gab mir meine Mutter eine Nachhilfestunde in Familiengeschichte. Ich sollte
den Nussbaum-Stammbaum in allen Details intus haben und fühlte mich wie bei
einem Prep-Kurs für den PISA-Test.
»Benjamin Nussbaum, oder genauer Dr. Benjamin Nussbaum«, begann sie,
»war Metallurge. Er und seine Frau Alma sind deine Ururgroßeltern väterlicherseits.
Und ihre Tochter war ...?«
»Bella«, sagte ich und erinnerte mich an ein Bild, das bei meiner Grandma
Myrna hängt.
»Genau. Von ihr hast du deinen zweiten Vornamen. Bella. Sie wurde 1898
geboren. Zu der Zeit war Halberstadt eine florierende Stadt, in der viele Juden lebten.
Benjamins Kupferfabrik gehörte zum Beispiel einer jüdischen Familie. Und als die
Inhaber jemanden für die Leitung ihrer neuen Niederlassung in Chicago brauchten,
schickten sie Benjamin rüber. Und wer ging mit?«
Ich verdrehte die Augen. »Seine Frau Alma und die Tochter Bella«, sagte ich.
»Daddys Großmutter.«
»Genau.«
Bestimmt würde es mir leichter fallen, all die Namen zu behalten, wenn ich erst
mal den Ort vor mir sah.
»Bella«, erzählte meine Mutter weiter, »heiratete dann einen Amerikaner. Einen
Juden, der aus Polen eingewandert war. Sydney. Sydney wer?«
»Mama, es reicht, bitte!«
»Sydney Brody. Und deren Sohn, Bella und Sydney Brodys Sohn, war Murray,
dein ...«
»Mama!«
»Er war dein Großvater väterlicherseits«, lachte sie, amüsiert über meine
Ungeduld. »Grandpa Murray. Er starb, bevor du auf die Welt kamst. Der Sohn von
Bella und Sydney. Grandma Myrnas Mann. Daddys Vater.«
Ich stöhnte.
»Interessant«, sagte eine Stimme. Wir sahen hoch. Es war die Kellnerin. Wie
lange stand sie da schon?
Wir lachten und bestellten.
Als die Kellnerin wieder weg war, meine Mutter zog einen Stadtplan von
Halberstadt aus der Tasche. »Westendorf«, sagte sie suchend und nahm die Brille
ab, um besser sehen zu können. »Das Haus der Nussbaums lag an einem Fußweg
namens Plantage. Er führte mitten durch einen Park hinter der Straße Westendorf,
die nur ein paar Minuten von der Mikwe entfernt war.«
Ich wusste, was eine Mikwe war – das rituelle Bad, zu dem jüdisch-orthodoxe
Frauen sieben Tage nach dem Ende ihrer Menstruation gehen. Offensichtlich wollte
Gott, dass sie sich vor dem ersten Sex nach ihren Tagen gründlich reinigten.
»Wusstest du, dass Daddy mit Grandma Myrna hier in Halberstadt war?«, sagte
meine Mutter und suchte mit dem Finger auf der Karte immer noch nach diesem
Westendorf. »Ein paar Jahre nach dem Fall der Mauer. Sie wollten Bellas Haus
finden.«
»Wirklich?«
»Du warst damals drei oder vier. Und du warst krank, deshalb bin ich mit dir zu
Hause geblieben. Aber dein Vater und Myrna sind gefahren. Myrna war ganz erpicht
darauf. Sie sagte, sie hätte ihre Schwiegermutter gern gehabt, und wollte endlich
sehen, wo sie aufgewachsen war. Und Daddy, dieser sentimentale Kerl, wollte
natürlich so gern ... sehen, wo ...«
Die Stimme meiner Mutter brach ab. Sie biss auf ihre Unterlippe und versuchte
die Tränen zurückzuhalten. Oh nee! Das fehlte mir gerade noch. Ich griff nach
meinem Wasserglas. Ihre Tränen fühlte ich jetzt in mir, in meinem Hals. Ich spülte
den Klumpen mit Wasser hinunter. Ein Schluck, noch ein Schluck. Noch einer. Meine
Mutter zog ein Tempo aus ihrer Tasche (sie schleppte das Zeug immer noch
tonnenweise mit sich herum – für alle Fälle) und trocknete sich die Augen. Ich
brauchte kein Taschentuch.
»Daddy erzählte, wie Bella an dem alten Haus gehangen hatte«, sagte meine
Mutter und schnäuzte sich, »dass sie oft von dem Garten sprach. Sie erinnerte sich
an eine riesige Kastanie. Und an den Geruch des Flieders vor ihrem Fenster. Daddy
sagte, sie hätte immer Fliederparfüm getragen. Das war ihr Lieblingsduft. Und seiner
auch.« Meine Mutter sah mich an, ihre Augen waren immer noch feucht. »Weißt du,
bevor du geboren warst, waren wir einmal im KaDeWe ein Geschenk kaufen, ein
Parfüm. Wir testeten dies und jenes, und plötzlich wurde er ganz aufgeregt. ›Das ist
Bella‹, sagte er. ›Ich kann sie riechen! Das ist ihr Parfüm.‹ Er wollte, dass ich es mir
kaufe, aber ich weigerte mich. Der Duft erinnerte mich an die alten Damen in meiner
Kinderzeit, die immer in Cafés herumsaßen und Cognac tranken. Und außerdem,
welche junge Frau möchte so riechen wie die Großmutter ihres Mannes?«
»Glaubst du, der Flieder ist noch da? Und die Kastanie? Das Haus. Das wäre
lustig!«, sagte ich. Jetzt interessierte es mich doch, zu sehen, wie Bella gelebt hatte.
Vielleicht konnten wir ja anklopfen und einen Blick in ihr Haus werfen.
»Das Haus stand damals zwar noch, aber es war eine Ruine. Auch die Altstadt
muss ziemlich trostlos ausgesehen haben. Im Krieg war der Park bombardiert
worden. Was stehen blieb, verfiel später. Die Ostdeutschen waren an der Geschichte
Halberstadts nicht sehr interessiert, jüdisch oder nicht.«
»Auch die Mikwe? Die hätte ich gern gesehen.«
»Dein Vater und Myrna konnten sie nicht finden. ›Ein was?‹, haben die Leute
gesagt. ›Ein jüdisches Badehaus? In Halberstadt? Juden in Halberstadt?‹ Daddy
erzählte, man hätte sie wie Verrückte angeschaut.« Schweigend löffelten meine
Mutter und ich unsere Eisbecher, jede hing ihren eigenen Gedanken nach. Mir fiel
wieder das Foto von Bella ein, das bei meiner Grandma Myrna hängt. Darauf trägt
sie eines dieser formlosen Charleston-Kleider, aber man sieht doch, dass sie drall
war und ziemliche Kurven hatte. Das Bild war aufgenommen worden, kurz bevor sie
mit Murray, meinem zukünftigen Großvater, schwanger wurde. Mit dem Arm um ihren
Mann, Sydney Brody, steht sie vor der Apotheke, die Sydney gerade in San Diego
eröffnet hatte.
»Also, war sie schön? Oder war sie schön?«, hatte mein Vater immer wieder
gesagt.
»Na ja – sie hatte auf jeden Fall große Möpse«, sagte ich.
»Renée!«, rief meine Großmutter schockiert.
Böse sah meine Mutter meinen Vater an. »Da siehst du’s, Bo. Hab ich’s dir
nicht gesagt?«
Mein Vater lachte sich schlapp. Er lachte so sehr, dass ihm die Tränen übers
Gesicht liefen. Er lachte überhaupt viel und gern. Dann musste er immer seine Brille
abnehmen und die Augen mit einem Tuch trocknen. Und mit einem anderen Tuch
putzte er seine Brille. Das Schildpattgestell gab ihm einen intellektuellen Touch.
Überhaupt sah er nicht aus wie die meisten Typen im Musikgeschäft, trug weder
Lederklamotten noch Strubbelhaar noch Gürtel mit Nieten oder Spikes, die mehr wie
Folterinstrumente aus der Spanischen Inquisition aussahen als ein Modeaccessoire.
Klick!
Ich guckte meine Mutter an. Sie hatte gerade einen Schnappschuss von mir
gemacht. Die Komposition aus Rosa und Erdbeereis.
Als meine Mutter und ich zehn Jahre nach meinem Vater und meiner Großmutter
nach Halberstadt kamen, freuten wir uns, dass die paar historischen Gebäude, die
den Krieg und die Vernachlässigung in der DDR überstanden hatten, inzwischen
restauriert worden waren.
»Es sieht gar nicht mehr nach Osten aus«, sagte meine Mutter. Sie hatte Recht.
Wir waren durch kleinere ostdeutsche Städte mit dem Zug gefahren, viele waren
grau und farblos, ganze Stadtteile voll zerfallener Häuser, dunkel, mit ungepflasterten
Straßen, in den Fabriken kein Glas in den Fenstern, stattdessen gähnende Löcher,
wie Augenhöhlen in einem Totenschädel. Genauso sah das Haus von Alma und
Benjamin in der Plantage Nr. 6 aus – das Skelett einer ehemals prächtigen Villa. Kein
richtiger Garten, kein Fliederbusch, keine Spitzenvorhänge. Aber die Kastanie war
noch da. Das zumindest war tröstlich.
Die Altstadt von Halberstadt hingegen glich einem schönen alten Bild: bunt
gestrichene Häuser mit roten Dächern und Fachwerk. Es sah schön aus, wirkte aber
eigenartig verlassen, wie eine Geisterstadt.
»Das passt«, sagte meine Mutter. »Hier gibt’s so viele Geister.«
Wir schlenderten durch die engen Gassen und grüßten die stummen Geister.
Juden wie die Nussbaums, die hier einmal glücklich gelebt und dann glücklich ein
neues Leben in einer neuen Welt begonnen hatten. Juden, die mit ein paar hastig
gepackten Habseligkeiten in Todesangst geflohen waren. Und Juden, die es nicht
mehr geschafft haben, sich zu retten, die man wie Vieh zusammengetrieben und
ermordet hatte. So viele Geister.
Meine Geister. Meine Familie.
Wir haben die Mikwe gefunden! Als im jüdischen Viertel vor ein paar Jahren
Ausgrabungen gemacht wurden, hatte man sie freigelegt und das alte Badehaus zu
einem Museum gemacht. Die Mikwe war eine gigantische Badewanne, fast ein
Schwimmbecken. Als ich so dastand und hineinschaute, ich versuchte mir meine
Ururgroßmutter Alma hier vorzustellen. Sieben Tage nach dem Ende ihrer Regel
tauchte sie ins Wasser. Sauber gewaschen und kurz vor dem Eisprung (die Gesetze
der alten Juden waren gar nicht blöd!), würde sie nach Hause gehen und Sex mit
ihrem Ehemann Benjamin haben. Sie würde Bella bekommen, die wiederum Murray
bekam, der Bo bekam, der wiederum mich zeugte.
Ich muss zugeben, dass ich mich ein wenig seltsam fühlte, als ich so dastand.
Man muss sich das mal vorstellen: Ohne die Mikwe, diese unterirdisch, mit
Harzwasser gespeiste Badewanne, würde es mich heute gar nicht geben.
Was wohl meine Ururgroßmutter gedacht haben mochte, als sie ins Wasser
tauchte? Wusste sie, dass ihr Eisprung bevorstand? Freute sie sich darauf, mit
Benjamin, Dr. Benjamin Nussbaum, dem Metallurgen zu schlafen? Oder biss sie nur
die Zähne zusammen, zog sich aus und ließ es über sich ergehen? Liebte sie ihn?
War sie scharf auf ihn? Ich war fasziniert. Ich meine, wie viele Leute kriegen schon
den Ort zu sehen, wo ihre Ururgroßmutter davon geträumt hat, was sie am Abend mit
ihrem Mann im Schlafzimmer machen würde?
Ein unangenehmes Rascheln riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah meine Mutter
an. Schon wieder ein neuer Müsliriegel! Das war heute ihr zweiter. Sie biss ein Stück
ab. Und kaute. Einmal ... zweimal ... dreimal ... bis hin zu hundertzwölfmal gekaut ...
hundertdreizehn ... Schließlich hörte sie auf zu kauen ... nein, halt! Ihre Zähne
setzten sich noch mal in Bewegung ... und dann ... Schluss.
Pro Riegel musste sie hundertvierzehnmal kauen. Bei mindestens zwei Riegeln
am Tag zweihundertachtundzwanzigmal. Das entsprach
zweitausendzweihundertachtzig in zehn Tagen. In zwanzig Tagen würde sie also
mindestens viertausendfünfhundertsechzigmal Mandelmüsliriegel kauen. Kamen
noch zweihundertachtundzwanzig für Tag einundzwanzig hinzu, das machte genau
viertausendsiebenhundertachtundachtzig – und ich war dazu verdammt, jede
einzelne Kaubewegung mitzuerleben!
»Möchtest du einen?«, fragte meine Mutter.
»Du weißt doch, dass ich Müsliriegel nicht ausstehen kann.« Konnte sie
Gedanken lesen? Das war ja direkt unheimlich.
»Renée, lass uns versuchen, das Beste aus unserer Reise zu machen«, sagte
sie. »Okay? Ich möchte nicht, dass noch einmal so etwas passiert wie gestern in
Tangermünde.«
Tangermünde. Das war gestern. Mittwoch. Am Sonntag waren wir in Leipzig.
Montag Magdeburg. Dienstag Halberstadt. Mittwoch Tangermünde.
Wir kamen mittags an. Die Stadt sah aus wie aus einem Märchenbuch: hohe
Stadttore, kunstvoller gotischer Backstein, gewundene Sträßchen, Fachwerkhäuser.
Ich freute mich darauf, dort herumzuspazieren, die verborgenen Stufen zu einem
Verlies zu entdecken und die mittelalterlichen Folterinstrumente zu fotografieren. Ich
überlegte, ob irgendwo ein Keuschheitsgürtel ausgestellt sein mochte. Das wäre
doch mal was!
Aber dann, als wir in der Touristeninformation waren, entdeckte ich auf einer
Landkarte, dass Berlin keine hundert Kilometer von Tangermünde entfernt war. Ohne
ein Wort zu sagen, packte ich meinen Rucksack und stürmte aus dem Büro, meine
Mutter mir nach.
»Renée, was ist los? Was soll das?«, wollte sie wissen.
Die Wahrheit war, ich hätte es ihr nicht erklären können, selbst wenn ich gewollt
hätte. Jetzt, mit ein wenig Abstand, glaube ich, dass ich mich einfach ärgerte. Und
zwar über mich selbst. Die ganze Zeit hatte ich gehofft, dass Philipp mich einen Tag
besuchen, mich einfach überraschen würde. Wie im Bus in Berlin. Dass er plötzlich
wie ein edler Ritter in goldener Rüstung auftauchen und durch den mittelalterlichen
Burggraben zu meinem Hotel reiten würde. Und als ich dann auf der Karte in der
Touristeninformation sah, dass Berlin nur einen Katzensprung entfernt war, gab mir
das einen richtigen Schlag. Warum war er nicht gekommen? Es wäre so einfach
gewesen. Und dann ging mir auf: Wäre ich nicht so versessen darauf gewesen, dass
er mich besucht, hätte ich draufkommen können, ihn zu besuchen.
Aber dafür war es jetzt zu spät.
»Was ist denn los?«, beharrte meine Mutter.
»Ich will nach Hause«, sagte ich. »Ich fühle mich hier wie eingekerkert.«
»Und ich bin die böse Hexe, die dich eingeschlossen hat, richtig? Ach, Renée«,
sagte sie seufzend. »Das haben wir doch alles schon durchgekaut. Ich will nicht,
dass du in Berlin allein bist. Kannst du die Situation nicht einfach akzeptieren? Am
Sonntag sind wir am Meer. Relax.«
»Du kannst relaxen. Ich gehe jetzt zurück in die Folterkammer.«
»Wie bitte?«
»Ich geh ins Hotelzimmer.«
Auf dem Weg zurück ins Tangermünder Hotel überlegte ich, ob ich nicht
vielleicht doch nach Berlin fahren sollte. Einfach abhauen. Aber dann fiel mir ein,
dass keiner meiner Freunde in der Stadt war. Philipp nicht, Alina nicht. Selbst meine
Exfreundinnen Annika und Laura waren irgendwo unterwegs. Nicht zu vergessen
Fritzi, die mir eine Mail geschickt hatte. Ich hatte sie entdeckt, als ich nachsah, ob mir
irgendjemand (sprich Philipp) geschrieben hatte. Wie immer löschte ich Fritzis Mail,
ohne sie gelesen zu haben. Ich schrieb Philipp: Tangermünde ist unglaublich! Als ob
man in eine Zeitmaschine steigt und im Mittelalter aufwacht. Wünschte, du wärst hier:
An die meisten Typen in dieser Stadt kommt man nämlich nicht ran. Sie tragen alle
Rüstung. Haha.
In Tangermünde standen die Sterne einfach nicht gut für mich: Das Schwimmbad
war hoffnungslos überfüllt.
Nach dem Schwimmversuch döste ich etwas und guckte fern. Gelangweilt griff
ich mir Sammy und las das Kapitel: So wird ein Strip erst richtig hip! Und danach:
Kann Sex allein auch besser sein? Ich probierte ein paar der Tipps aus letzterem
Kapitel aus, döste dann noch ein wenig, holte mir eine doppelte Portion Wan-TanSuppe von einem China-Imbiss und duschte. Als ich rauskam, war der Spiegel vom
Dampf beschlagen. Ich malte ein Herz auf das Glas. Und dann einen Pfeil durch das
Herz. In das Herz schrieb ich Philipp & Renée 4 ever.
Für immer?
Ich strich das ever aus und schrieb now. Philipp & Renée 4 now. Ja, das war
besser. Etwas realistischer. Nur keine zu hohen Erwartungen.
Aber war es denn wirklich für jetzt? Warum war er nicht nach Magdeburg
gekommen? Oder nach Halberstadt?
Ich zog mein Nachthemd an und machte mich fertig fürs Bett.
Als ich mir ein paar Minuten später im Bad die Haare bürstete, waren der
Dampf und mein Herz spurlos in der dünnen Luft von Tangermünde verschwunden.
Am nächsten Morgen wachte ich auf, als meine Mutter ins Bad ging.
»Alles klar?«, rief sie gegen das Rauschen der Dusche an.
Ich sagte nichts, sondern dachte: Nein, nichts ist klar. Philipp hat nicht
angerufen.
»Es scheint heute wieder kühl zu werden«, sagte meine Mutter. »Und denk
dran, wir treffen Oma Ulli zum Mittagessen.« Sie drehte sich zu mir um. »Zieh dir
bitte was Hübsches an.«
»Was soll das denn heißen? Zieh dir was Hübsches an?«
Meine Mutter stellte das Wasser ab und wrang ihr Haar aus. Sie antwortete
nicht gleich. »Renée, ich mein ja nur«, sagte sie dann und stieg aus der
Duschkabine, »du siehst Oma Ulli nicht so oft. Also könntest du ruhig etwas Nettes
anziehen.«
»Hör doch auf! Dir geht’s gar nicht um Oma Ulli. Dir gefällt’s nicht, wie ich mich
anziehe. Hast du Angst, wegen mir aufzufallen?«
Ich sah, wie meine Mutter innerlich bis zehn zählte, bevor sie antwortete. Sie
nahm ihr Handtuch und sagte gelassen: »Warum ziehst du nicht das Seidenkleid an,
das Grandma Myrna dir geschickt hat? Es ist hübsch, und es macht eine gute Figur –
ohne dass du halb nackt dastehst.«
Ich hätte das Kleid noch nicht mal auf die Reise mitgenommen. Meine Mutter
hatte es in ihren Koffer gepackt, für alle Fälle. Es war ein seidenes Hemdblusenkleid,
bedruckt mit grellbunten Blumen. Sehr kalifornisch. Ich sehe darin wie eine
minderjährige Hausfrau aus San Diego aus, die gerade einen Sonntagsausflug nach
Seaworld macht. Im klassischen Sinn war es aber eigentlich ganz hübsch und –
unter uns –, ich hatte es heute ursprünglich für meine Großmutter anziehen wollen.
Hatte ich.
»Ich zieh an, was ich anziehen will«, sagte ich. »Und ganz bestimmt nicht
Grandma Myrnas Kleid.«
Ich stürmte aus dem Bad und schnappte mir meinen Jeansrock. Er war gerade
lang genug, um meinen Hintern zu bedecken – aber kurz genug, dass man zweimal
guckte. Der Saum war ausgefranst, was schön trashig wirkte und super zu meinem
bauchfreien, ärmellosen Che-Guevara-Oberteil passte.
Ich ging zurück ins Bad. »Das ziehe ich an«, sagte ich demonstrativ.
Meine Mutter setzte ihre Brille auf, schaute meinen Rock und das Top an,
zuckte mit den Schultern und begann ihr Haar zu fönen.
Ich drehte mich zum Spiegel, um meine Zähne zu putzen ... und bekam fast
einen Herzanfall!
Direkt vor uns auf dem Badezimmerspiegel waren mein Herz und mein Pfeil:
Renée & Philipp 4 now. Oh nein! Durch den Dampf der Dusche war die Schrift wieder
aufgetaucht! »Scheiße!«, rief ich und griff ein Handtuch. Mit einem Wischer war das
Herz weg. Zurück blieb nur das zweite P von Philipp.
Endlich kam unser Zug in Hannover an. Auf dem Bahnsteig winkte uns Oma Ulli mit
zwei Rosen zu.
»Sie weiß, dass wir nur unterwegs sind, aber sie bringt Blumen«, sagte meine
Mutter und seufzte.
Oma Ulli umarmte mich. Oder besser gesagt: zerquetschte mich. Sie war nicht
groß, aber breit, und ihre Brust war eine echte Waffe.
»Du siehst ja halb verhungert aus«, sagte sie zu mir, öffnete die Arme und
ersparte mir damit einen schrecklichen Erstickungstod. Zu meiner Mutter sagte sie:
»Kriegt das Kind denn nichts zu essen?«
»Mutti, bitte!«, sagte meine Mutter und hob unser Gepäck auf einen Kofferkuli.
Ich zwinkerte meiner Großmutter zu. Weiter so, Oma, dachte ich. Mach ihr die
Hölle heiß!
Oma Ulli zwinkerte zurück. Für eine Siebzigjährige war sie ziemlich stark
geschminkt: Lidschatten, Wimperntusche, Rouge, knallroter Lippenstift. Dazu trug sie
noch jede Menge Modeschmuck: eine ebenso knallrote Kette mit walnussgroßen
Glasperlen und ungefähr zwanzig Armreifen an jedem Handgelenk. Sie klingelten,
als sie mir meine Rose entgegenstreckte.
Ich roch daran. »Mmmm, die duften gut.«
»Von Opas Rosenstrauch aus der Laubenkolonie.«
»Mutti«, sagte meine Mutter angespannt. »Das ist eine nette Geste, aber
zufälligerweise habe ich keine Vase im Koffer.«
»Hast du doch!«, sagte ich und dachte an die Vase mit den Tulpen, die sie auf
der Bühne benutzte.
Meine Mutter schaute ungeduldig zum Himmel. »Das ist eine Bühnenrequisite.
Und außerdem nicht wasserfest.«
Oma Ulli beachtete sie nicht. »Dein Großvater hat den Rosenstrauch am Tag
deiner Geburt gepflanzt«, sagte sie zu mir und hielt meine Hand fest. »Wenn diese
Rose verwelkt ist, dann schneide die Blüte ab und leg sie in ein Buch zum Pressen.
Wenn du dann irgendwann später zufällig auf sie stößt, versuch dich daran zu
erinnern, wie du heute warst und wie sehr du seither gewachsen bist, wie du dich
verändert hast.«
»Ach, Oma«, sagte ich bewegt, »das ist so lieb von dir.«
Ich hatte diese Geschichte schon tausend Mal gehört und kann das mit
mindestens doppelt so viel gepressten Rosen beweisen. Trotzdem war ich gerührt.
Oma Ulli legte ihren Arm um meine Taille, und dann legte ich meinen Arm um
ihre, und wir gingen zusammen zum Fahrstuhl.
»Wie geht’s Tante Martha?«, fragte meine Mutter.
»Den Umständen entsprechend.«
Sie sprachen so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte, obwohl ich unter
meinen Fingern Oma Ullis Stimme vibrieren spürte. Ich sah auf ihren Bauch, aber er
war unter dem Zelt verborgen, das sie trug. Es war eine Art Kaftan aus Polyester mit
langen Schlitzen in den Ärmeln, die etwas Haut sehen ließen. Ein langes, fließendes
blau-weißes Gewand mit griechischen Motiven darauf: der Akropolis, vielen Säulen,
Retsinaflaschen, Ziegen, Weinblättern und ein paar Göttern – Athene, Aphrodite,
Poseidon. Ein bisschen unruhig, nicht? Jedenfalls verbarg der Schnitt dieses
Gewandes das meiste von ihr. Mit Ausnahme ihres Busens – der ließ sich einfach
nicht verstecken. Kurz überlegte ich, wie sie sich BHs kaufte. Gab es ihre Größe im
Laden oder musste sie sich extra welche anfertigen lassen?
Oma Ulli küsste mich auf die Wange. »Ach, ist das schön, dich zu sehen!
»Schhhh!«, schnappte meine Mutter. »Sei doch nicht so laut.«
»Sie hat Kopfschmerzen«, sagte ich.
»Oh, ich werde dich massieren«, sagte Oma Ulli.
Meine Mutter verzog das Gesicht.
Ja, meine Großmutter war laut. Auffallend. Was die Mode betraf jenseits von
Gut und Böse. Aber sie war einfach toll.
»Schön, dass du’s luftig hast«, sagte meine Großmutter und tätschelte meinen
Bauch.
»Du auch«, sagte ich und zeigte auf ihre Ärmel.
Sie zündete sich eine Zigarette an. »Der Trick, meine kleine Schnecke, ist,
immer das richtige Stück Haut zur richtigen Zeit zu zeigen: Wer blutjung ist, kann sich
bauchfrei und Mini leisten, Frauen in den besten Jahren zeigen ihr Dekolleté – und
Alte den Ellenbogen.« Sie hustete.
»Mutti«, sagte meine Mutter mit einem Blick auf die Zigarette.
Meine Großmutter, die als die einzige rauchende Atemtherapeutin der Welt in
die Annalen der Geschichte eingehen wird, musterte jetzt meine Mutter in ihrem
formlosen Leinenkleid und dem langen Chiffonschal. »Du, meine Liebe, bist
eigentlich in der Dekolleté-Phase.«
»Mutti, bitte!«, sagte meine Mutter. »Ich bin auf Lesereise, verstehst du das
nicht?«
Meine Großmutter und ich warfen uns Blicke zu, aber ich hing bald meinen
eigenen Gedanken nach. Der genervte Ton meiner Mutter kam mir bekannt vor. Und
dann ging es mir schlagartig auf. Natürlich. Sie klang genau wie ich.
»Schau dir ihre Augen an, Edda. Das sind die von Papa. Und seine hohen
Wangenknochen hat sie auch.«
Meine Mutter blickte von ihrem Reiseplan auf. »Hmm, ja«, sagte sie, in
Gedanken ganz woanders. Sie sah auf die Uhr an der Wand. »In zwanzig Minuten
müssen wir los, Mutti.«
»Und diese Haare«, sagte meine Oma und fuhr mir durch meine dunklen
Haare. »Solche tollen Haare. Und die ganze Mundpartie. Die Lippen, feine schmale
Lippen, genau wie er.«
»Schmale Lippen!«, schrie ich beleidigt auf. »Du hast doch einen Knick in der
Optik! Ich hab volle Lippen!«
»Ich glaube, Mutti«, sagte meine Mutter, »da bist du ins Fettnäpfchen
getreten.«
»Hältst du dich da bitte raus?«, sagte ich zu meiner Mutter.
Ihre Augen wurden ganz groß. Die meiner Oma womöglich noch größer. Sie
zog mich an sich. Sie roch gut. Wie unser Weichspüler mit Apfelblüten- und
Vanilleduft.
»Renée, du bist eine große Schönheit«, sagte Oma Ulli. »Selbst wenn du
deinem Opa ähnlich siehst, Gott hab ihn selig.«
Oma Ulli sah meine Mutter an.
Meine Mutter schaute weg.
»Vielleicht sollte ich euch zwei allein lassen, damit ihr in Ruhe über mich reden
könnt«, sagte ich.
»Renée«, begann meine Mutter.
»Edda!«, unterbrach meine Großmutter. »Lass mich mal.« Sie zeigte auf
meinen Teller. »Du hast ja kaum was gegessen, Renée.« Sie sah meine Mutter an.
»Edda, isst sie immer wie ein Spatz?«
»Es schmeckt mir nicht, das ist alles«, sagte ich und verzog das Gesicht beim
Anblick des halb verspeisten, von Apfelmus durchweichten und
mikrowellenverstrahlten Kartoffelpuffers.
»Du bist doch nur Haut und Knochen«, sagte Oma Ulli. Sie sah wieder meine
Mutter an. »Habt ihr euch eigentlich ständig in der Wolle?«
Mir war nicht ganz klar, wen sie das fragte.
»Ich wusste, dass du wieder damit anfangen würdest, Mutti«, sagte meine
Mutter. »Überlass das mir. Okay? Uns geht’s gut. Alles im grünen Bereich. Es ist nur
... nur ...« Sie sah mich an. »Es ist nur die Pubertät.«
»Die Pubertät?«, schrie ich auf. »Und was ist mit dir? Vielleicht sind die
Wechseljahre schuld!«
»Hört auf, ihr beiden«, sagte Oma Ulli.
»Mutti, bitte!«, sagte meine Mutter streng.
Oma Ulli achtete nicht auf sie und nahm meine Hände. Ihre waren warm. Und
stark. »Wie geht es dir?«, fragte sie leise, fast flüsternd. Sie sah mich forschend an.
Und plötzlich fühlte ich den harten Klumpen in meinem Hals. Größer als je
zuvor.
»Ach, meine kleine Schnecke«, sagte sie und strich mir über die Wange.
Ich nahm all meine Kraft zusammen, um den Klumpen herunterzuschlucken.
Meine Großmutter schien das zu spüren, denn sie legte mir eine Hand in den Nacken
und drückte mit der anderen vorsichtig auf meinen Brustkorb. »Du musst es
herauslassen. Du musst wieder anfangen zu atmen.«
Ich holte tief Luft – aber nicht, weil sie das wollte, sondern weil ich nur so die
Tränen unterdrücken konnte.
»Renée«, sagte Oma Ulli, »deine Mutter will dich nicht unter Druck setzen, aber
...«
»Hör auf damit!«, fauchte meine Mutter. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich
nicht ...«
»Was hat sie dir erzählt?«, fragte ich meine Oma. »Was?«
»Sie hat mir gar nichts erzählt. Außerdem hätte sie mir nichts erzählen können,
was ich nicht ohnehin schon wüsste.« Meine Großmutter drückte meine Hand.
»Schneckelchen«, sagte sie, »du musst es rauslassen. Wenn du es nicht rauslässt,
wird der Schmerz für immer an deinem Herzen nagen.«